Einander ausgesetzt - Der Andere und das Soziale: Band II: Elemente einer Topografie des Zusammenlebens 9783495817414, 9783495490143


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German Pages [649] Year 2019

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Inhalt Band II
Einleitung: Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen
Teil D: Generativität, Solidarität, Gemeinschaft
Kapitel XV: Generativität, Generationen und generative, intergenerationelle Solidarität. Leben nacheinander, auseinander und füreinander in unabsehbarer Geschichtlichkeit
1. Das polemische Verhältnis zwischen Generationen heute
2. Rückgang von der Generation auf die menschliche Generativität
3. Menschliche Generativität als Archetyp eines verantwortlichen/solidarischen Verhältnisses zwischen Generationen?
Kapitel XVI: Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität
1. Rhetorik der Solidarität und Verlangen nach Solidarisierung
2. Solidarität: Pseudo-Solidität vs. originäre Solidarisierung
3. Zur (De-)Politisierung der Solidarität: Hannah Arendt
4. Apriorische Solidargemeinschaft? Fragen der Begründung
Kapitel XVII: Ausgesetzte Gemeinschaft – unter radikalem Vorbehalt. Zur Kritik jeglicher Vergemeinschaftung
1. Fehlende und verfehlte Gemeinschaft
2. Helmuth Plessners Kritik der Gemeinschaft
3. Innere Grenzen jeglicher Vergemeinschaftung
4. Gemeinschaft als oder aus ›Mitsein‹ ?
5. Indifferentes Mitsein, nicht-indifferente Gemeinschaft
Teil E: Subjektivierung, Dissens und Anderssein
Kapitel XVIII: Menschliche Subjektivität in Praktiken politischer Subjektivierung: Responsivität, Dissens und die prekäre Lebbarkeit menschlichen Lebens
1. Subjekt sein oder subjektiviert werden
2. Immer schon oder neuerdings subjektivierte Subjekte?
3. Von Theorien des Subjekts zu Praktiken der Subjektivierung
4. Zur Übermacht einer ökonomistischen Subjektivierungsform
5. Perspektiven einer politisierenden Subjektivierung
Kapitel XIX: Perspektivität, Pluralität, geteilte Welt: Ästhetik, Politik und menschliche Sensibilisierbarkeit
1. Das Sinnliche in seiner perspektivischen Gegebenheit: Vom kompossiblen Universum zur unaufhebbaren Pluralität einer politischen Welt
2. Was heißt »Aufteilung des Sinnlichen« bei Jacques Rancière?
3. Kunst und Politik – zwei »Sensorien«?
4. Kritischer Ausblick
Kapitel XX: Demokratie, Dissens und Freimut – der Rede und des Zuhörens
1. Zur aktuellen Demokratietheorie
2. Das Geschehen originärer Politisierung als Subjektivierung
3. Die Stimme und der Freimut der Rede (parrhesía)
4. Macht und Freimut des Zuhörens
Kapitel XXI: Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit? Disability und diversity im Kontext einer Kultur der Differenzsensibilität
1. Verschiedenheit und Differenz politisch gesehen
2. Zur »Politik der Differenz«
3. Disability und diversity
4. Exkurs: Fähigkeiten in ontogenetischer Perspektive
5. »Politik der Differenz« und in der Erfahrung von disability liegende Verschiedenheit
6. Das »Recht auf Anderssein«, tatsächliche Lebenspraxis und das Versprechen der Inklusion
Teil F: Vertrauen und Transparenz im Horizont des Politischen
Kapitel XXII: Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen – in historischer Perspektive
1. Prekäres Vertrauen – vor historischem Hintergrund
2. Aussetzen des Vertrauens
3. Vom persönlichen Vertrauen zum Systemvertrauen: eine entmoralisierte Analyse
4. Vertrauen als Gabe
5. Erneut sich aussetzendes Vertrauen
Kapitel XXIII: Transparenz und/oder Vertrauen. Ideen öffentlicher Sichtbarkeit in Zeiten gesellschaftlichen Unfriedens
1. Öffentliche Sichtbarkeit als Politikum
2. Zur metaphorischen Rede von Transparenz
3. Forderungen nach Transparenz nach ruiniertem Vertrauen
4. Vertrauen in Transparenz?
5. Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht?
Kapitel XXIV: Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen – mit Blick auf die Geschichte und Gegenwart des Staates
1. Zum aktuellen historischen Kontext der Thematisierung von Vertrauen
2. Negativität als Ausgangspunkt
3. Vertrauen stiften – eine Art Investition?
4. Zur politisch-institutionellen Dimension des Vertrauens: Vertrauen in Vertrauen?
Teil G: Schuld und Schulden
Kapitel XXV: Schuld – Schulden – Verdanken. Zur Revision des Verhältnisses von Moral und Ökonomie vor aktuellem Hintergrund
1. Moral und Ökonomie, Schuld und Schulden: ursprüngliches, ausdifferenziertes und überkreuztes Verhältnis
2. Schuld als Schulden (ökonomisch) oder Schulden aus Schuld (ethisch)? Friedrich Nietzsche und Emmanuel Levinas
3. Was heißt »schuldig sein«? Zur Ontologie der Schuld
4. Generative, soziale und geschichtliche Schuld im Horizont der Moderne
5. Schuld als nachträglich-responsive Verantwortung
Kapitel XXVI: De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden. Rückfragen nach einem ursprünglichen, wiederherzustellenden oder neu zu etablierenden Verhältnis von Moral und Gesellschaft
1. Gewaltsame Ökonomisierung?
2. Gesellschaftliche Entmoralisierung und Demoralisierung
3. Ein negativistischer Ansatz
4. Schuld versus Schulden, Moral versus Ökonomie
5. Demoralisierung und Remoralisierung
6. Bilanz/Ausblick
Kapitel XXVII: Perspektiven gewaltsamer Ökonomisierung. Schuld(en) zwischen Moralökonomie und Schuldknechtschaft
1. Ausweglose Schuld(en)?
2. Schuld, moralisch
3. Vergesellschaftung und Geld
4. Perspektiven der Schuldknechtschaft
Teil H: Horizonte der Verletzbarkeit. Gewalt, Hass und Kriege heute
Kapitel XXVIII: ›Der‹ Gewalt ausgesetzt. Zum Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik
1. Gewalt in und versus Sprache
2. Alter und neuartiger Gewalt ausgesetzt – ursprünglich und unabsehbar?
3. Sprache als einzige (vergebliche) Hoffnung?
4. Das ›Wort‹ als Ausweg aus dem Krieg?
5. Frieden als ethischer Sinn der Sprache? Eine Moral, die uns nicht zum Narren hält?
6. Resümee
Kapitel XXIX: Andere hassen – Im Horizont weltweiter Vergesellschaftung
1. Hass – eine Absurdität?
2. Hass ›im Schatten‹ weltweiter Vergesellschaftung
3. Hassen – sprachlich-phänomenologisch expliziert
4. Der ›inkonsequente‹ Hass bleibt uns erhalten
Kapitel XXX: Dem ›alten‹ Krieg und ›neuen‹ Kriegen ausgesetzt – im Zeichen des Äußersten. Revision der menschlichen conditio historica im Lichte der neueren Gewaltgeschichte?
1. Der Gewalt und dem Krieg ausgesetzt – wie seit jeher? Rückfragen an die conditio humana
2. In der Nähe des Äußersten
3. ›Alter‹ Krieg – ›neue‹ Kriege?
4. Zur Revision der conditio humana historica
Epilog
Siglen
Nachweise
Literaturverzeichnis
Internetquellen
Namenregister
Sachregister
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Einander ausgesetzt - Der Andere und das Soziale: Band II: Elemente einer Topografie des Zusammenlebens
 9783495817414, 9783495490143

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Burkhard Liebsch

Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale Band II

Elemente einer Topographie des Zusammenlebens

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817414

.

B

Burkhard Liebsch Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Burkhard Liebsch

Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale Band II Elemente einer Topographie des Zusammenlebens

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Burkhard Liebsch Exposed to Each Other – The Other and Sociality Volume II: Elements of a Topography of Communal Living We are »social beings« only thanks to others, but our everyday lives easily let us forget that. This often leads us to assume that we do not need others. This forgetfulness can take the form of an ascetic existence or the form of an abundant wealth that allows one to keep others at bay. All forms of distancing, however, presuppose a prior exposition of one’s own self to others and make the self dependent on them. This exposedness and dependence on others forces the self to accept inherent political demands, even if this implies a certain violence that threatens to ruin human ways of life and the often appraised »openness.« From a historical perspective Liebsch’ two-volume project »Exposed to Each Other« outlines a theory of the social. Liebsch assumes a thick notion of unsublatable alterity which he combines with a complex topography of human ways of living, whereby he tries to make explicit in how far we are from birth onwards exposed to each other and how we are therefore always already within the horizons of vulnerability. Liebsch also considers in great detail how new wars factor into that. Thus his project works toward the »recognition of the actual« (Hegel) without which a critical and sound »comprehension of the reasonable« is not possible. Liebsch attempts to show what social philosophy today can and must deliver.

The Author: Professor Dr Burkhard Liebsch teaches practical philosophy and social philosophy at the University of Bochum. His most recent publications include: In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität (In the Meantime: Leeways of Human Generativity) (2016); Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit (Violence of Time and Time of Violence) (2017); as co-editor: Perspektiven europäischer Gastlichkeit (Perspectives of European Hospitality) (2016); Der Andere in der Geschichte (The Other in History) (2017).

https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Burkhard Liebsch Einander ausgesetzt – Der Andere und das Soziale Band II: Elemente einer Topographie des Zusammenlebens »Sozial« leben wir nur dank Anderer, in einer Normalität, die das weitgehend in Vergessenheit geraten lässt, sodass man sich fragt, ob man nicht auch ohne sie auskommen kann – sei es in Formen weltflüchtigen Daseins, sei es in einem Wohlstand, der sich die Anderen vom Leib hält. Alle Formen der Distanznahme setzen aber eine vorgängige Veranderung des eigenen Selbst voraus, die es Anderen aussetzt und auf sie angewiesen sein lässt. Dieses Ausgesetzt- und Angewiesensein zwingt dazu, die in ihm liegenden Herausforderungen politisch anzunehmen – auch um den Preis einer Gewaltsamkeit, die menschliche Lebensformen und ihre viel gelobte »Offenheit« zu ruinieren droht. Das zweibändige Projekt Einander ausgesetzt entwirft in historischer Perspektive eine Theorie des Sozialen, die von einem starken Begriff unaufhebbarer Alterität ausgeht und diesen mit einer komplexen Topografie menschlicher Lebensformen verschränkt und insofern deutlich macht, wie man einander ausgesetzt ist – von Geburt an und in Horizonten der Verletzbarkeit, die bis hin zu neuen Kriegen detailliert bedacht werden. So dient das Projekt der »Erfassung des Wirklichen« (Hegel), ohne das es ein kritisches »Ergründen des Vernünftigen« nicht geben kann. Es handelt sich um den Versuch zu zeigen, was Sozialphilosophie heute leisten kann und muss.

Der Autor: Professor Dr. Burkhard Liebsch lehrt Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Bochum. Zuletzt hat er veröffentlicht: In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität (2016); Zeit-Gewalt und Gewalt-Zeit. Dimensionen verfehlter Gegenwart (2017); als (Mit-)Hrsg.: Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik (2016); Der Andere in der Geschichte. Sozialphilosophie im Zeichen des Krieges (22017).

https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49014-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81741-4

https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Inhalt Band II Elemente einer Topographie des Zusammenlebens Einführung Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen . . . . . . . .

533

Teil D Generativität, Solidarität, Gemeinschaft Kapitel XV Generativität, Generationen und generative, intergenerationelle Solidarität Leben nacheinander, auseinander und füreinander in unabsehbarer Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

555

1. Das polemische Verhältnis zwischen Generationen heute (556) · 2. Rückgang von der Generation auf die menschliche Generativität (566) · 3. Menschliche Generativität als Archetyp eines verantwortlichen/solidarischen Verhältnisses zwischen Generationen? (577)

Kapitel XVI Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität . . . . . . .

587

1. Rhetorik der Solidarität und Verlangen nach Solidarisierung (587) · 2. Solidarität: Pseudo-Solidität vs. originäre Solidarisierung (590) · 3. Zur (De-)Politisierung der Solidarität: Hannah Arendt (608) · 4. Apriorische Solidargemeinschaft? Fragen der Begründung (614)

Kapitel XVII Ausgesetzte Gemeinschaft – unter radikalem Vorbehalt Zur Kritik jeglicher Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . .

624

1. Fehlende und verfehlte Gemeinschaft (624) · 2. Helmuth Plessners Kritik der Gemeinschaft (633) · 3. Innere Grenzen jeglicher Vergemeinschaftung (639) · 4. Gemeinschaft als oder aus ›Mitsein‹ ? (643) · 5. Indifferentes Mitsein, nicht-indifferente Gemeinschaft (647)

VII https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Inhalt Band II

Teil E Subjektivierung, Dissens und Anderssein Kapitel XVIII Menschliche Subjektivität in Praktiken politischer Subjektivierung: Responsivität, Dissens und die prekäre Lebbarkeit menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 1. Subjekt sein oder subjektiviert werden (655) · 2. Immer schon oder neuerdings subjektivierte Subjekte? (660) · 3. Von Theorien des Subjekts zu Praktiken der Subjektivierung (668) · 4. Zur Übermacht einer ökonomistischen Subjektivierungsform (683) · 5. Perspektiven einer politisierenden Subjektivierung (689)

Kapitel XIX Perspektivität, Pluralität, geteilte Welt: Ästhetik, Politik und menschliche Sensibilisierbarkeit . . . . . .

704

1. Das Sinnliche in seiner perspektivischen Gegebenheit: Vom kompossiblen Universum zur unaufhebbaren Pluralität einer politischen Welt (705) · 2. Was heißt »Aufteilung des Sinnlichen« bei Jacques Rancière? (709) · 3. Kunst und Politik – zwei »Sensorien«? (723) · 4. Kritischer Ausblick (731)

Kapitel XX Demokratie, Dissens und Freimut – der Rede und des Zuhörens . . . . . . . . . . . . . . . . . .

738

1. Zur aktuellen Demokratietheorie (738) · 2. Das Geschehen originärer Politisierung als Subjektivierung (748) · 3. Die Stimme und der Freimut der Rede (parrhesía) (756) · 4. Macht und Freimut des Zuhörens (762)

Kapitel XXI Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit? Disability und diversity im Kontext einer Kultur der Differenzsensibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

767

1. Verschiedenheit und Differenz politisch gesehen (767) · 2. Zur »Politik der Differenz« (773) · 3. Disability und diversity (780) · 4. Exkurs: Fähigkeiten in ontogenetischer Perspektive (782) · 5. »Politik der Differenz« und in der Erfahrung von disability liegende Verschiedenheit (784) · 6. Das »Recht auf Anderssein«, tatsächliche Lebenspraxis und das Versprechen der Inklusion (788)

VIII https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Inhalt Band II

Teil F Vertrauen und Transparenz im Horizont des Politischen Kapitel XXII Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen – in historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

799

1. Prekäres Vertrauen – vor historischem Hintergrund (799) · 2. Aussetzen des Vertrauens (805) · 3. Vom persönlichen Vertrauen zum Systemvertrauen: eine entmoralisierte Analyse (813) · 4. Vertrauen als Gabe (821) · 5. Erneut sich aussetzendes Vertrauen (827)

Kapitel XXIII Transparenz und/oder Vertrauen Ideen öffentlicher Sichtbarkeit in Zeiten gesellschaftlichen Unfriedens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

831

1. Öffentliche Sichtbarkeit als Politikum (833) · 2. Zur metaphorischen Rede von Transparenz (839) · 3. Forderungen nach Transparenz nach ruiniertem Vertrauen (843) · 4. Vertrauen in Transparenz? (847) · 5. Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht? (850)

Kapitel XXIV Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen – mit Blick auf die Geschichte und Gegenwart des Staates . . . .

860

1. Zum aktuellen historischen Kontext der Thematisierung von Vertrauen (863) · 2. Negativität als Ausgangspunkt (869) · 3. Vertrauen stiften – eine Art Investition? (876) · 4. Zur politisch-institutionellen Dimension des Vertrauens: Vertrauen in Vertrauen? (879)

Teil G Schuld und Schulden Kapitel XXV Schuld – Schulden – Verdanken Zur Revision des Verhältnisses von Moral und Ökonomie vor aktuellem Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

887

1. Moral und Ökonomie, Schuld und Schulden: ursprüngliches, ausdifferenziertes und überkreuztes Verhältnis (887) · 2. Schuld als Schulden (ökonomisch) oder Schulden aus Schuld (ethisch)? Friedrich Nietzsche und Emmanuel Levinas (892) · 3. Was heißt ›schuldig sein‹ ? Zur Onto-

IX https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Inhalt Band II

logie der Schuld (901) · 4. Generative, soziale und geschichtliche Schuld im Horizont der Moderne (905) · 5. Schuld als nachträglich-responsive Verantwortung (910)

Kapitel XXVI De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden Rückfragen nach einem ursprünglichen, wiederherzustellenden oder neu zu etablierenden Verhältnis von Moral und Gesellschaft

919

1. Gewaltsame Ökonomisierung? (919) · 2. Gesellschaftliche Entmoralisierung und Demoralisierung (922) · 3. Ein negativistischer Ansatz (924) · 4. Schuld versus Schulden, Moral versus Ökonomie (929) · 5. Demoralisierung und Remoralisierung (935) · 6. Bilanz/Ausblick (939)

Kapitel XXVII Perspektiven gewaltsamer Ökonomisierung Schuld(en) zwischen Moralökonomie und Schuldknechtschaft . .

947

1. Ausweglose Schuld(en)? (947) · 2. Schuld, moralisch (953) · 3. Vergesellschaftung und Geld (957) · 4. Perspektiven der Schuldknechtschaft (962)

Teil H Horizonte der Verletzbarkeit Gewalt, Hass und Kriege heute Kapitel XXVIII ›Der‹ Gewalt ausgesetzt Zum Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik . . . . . . . .

971

1. Gewalt in und versus Sprache (971) · 2. Alter und neuartiger Gewalt ausgesetzt – ursprünglich und unabsehbar? (975) · 3. Sprache als einzige (vergebliche) Hoffnung? (981) · 4. Das ›Wort‹ als Ausweg aus dem Krieg? (984) · 5. Frieden als ethischer Sinn der Sprache? Eine Moral, die uns nicht zum Narren hält? (990) · 6. Resümee (1000)

Kapitel XXIX Andere hassen – Im Horizont weltweiter Vergesellschaftung . . . . . . . . . . . 1005 1. Hass – eine Absurdität? (1005) · 2. Hass ›im Schatten‹ weltweiter Vergesellschaftung (1010) · 3. Hassen – sprachlich-phänomenologisch expliziert (1014) · 4. Der ›inkonsequente‹ Hass bleibt uns erhalten (1029)

X https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Inhalt Band II

Kapitel XXX Dem ›alten‹ Krieg und ›neuen‹ Kriegen ausgesetzt – im Zeichen des Äußersten. Revision der menschlichen conditio historica im Lichte der neueren Gewaltgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1032 1. Der Gewalt und dem Krieg ausgesetzt – wie seit je her? Rückfragen an die conditio humana (1032) · 2. In der Nähe des Äußersten (1037) · 3. ›Alter‹ Krieg – ›neue‹ Kriege? (1048) · 4. Zur Revision der conditio humana historica (1054)

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1075 Nachweise

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087 Namenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1163

XI https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Einleitung Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen Die Philosophie bietet uns ihre Begriffe in einer zu starr festgelegten Ordnung, als daß wir uns, wie es der Phänomenologe tun muß, unaufhörlich immer wieder von neuem in eine Ausgangslage versetzen könnten. Gaston Bachelard 1 Ein philosophisches Problem hat die Form: »Ich kenne mich nicht aus.« Ludwig Wittgenstein 2 Maps of history have always been less honest. Terra cognita and terra incognita inhabit exactly the same coordinates of time and space. The closest we come to knowing the location of what’s unknown is when it melts through the map like a watermark, a stain transparent as a drop of rain. Anne Michaels 3

Längst geht das Soziale nicht mehr in einer ›georteten‹, klar nach außen abgegrenzten Lebensform (bíos) auf, wie es sich manche NeoAristoteliker gelegentlich noch unter Berufung auf den Stagiriten anachronistisch vorstellen, der in seiner Politik allerdings gar nicht vom Sozialen spricht. Die Begriffsgeschichte hat hinlänglich gezeigt, wie bereits mit der lateinischen Übersetzung des Attributs ›politisch‹, das zunächst ganz und gar auf eine lokale Lebensform zugeschnitten war, durch socialis eine Entgrenzung zur universalis civilitas humani generis (Dante) einherging, insofern sie keinen Bezug auf eine bestimmte politische Ordnung mehr zu implizieren schien. Hobbes’ G. Bachelard, Poetik des Raumes, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975, S. 266. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1977, S. 82 (Nr. 123). 3 A. Michaels, Fugitive Pieces, London 1998, S. 137. 1 2

533 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Einleitung

politische Theorie lässt dieses Problem schonungslos offenbar werden: Ihr zufolge ›gibt es‹ überhaupt keine soziale oder politische Ordnung, die nicht eigens eingeräumt, eingerichtet und aufrechterhalten werden müsste. Hegel knüpfte daran an, wo er feststellte, dass die moderne »Persönlichkeit« im »heimischen Geist« einer lokalen politischen Ordnung (politeía) keine »sittliche Heimat« mehr finden kann. Die angeblich »schöne Sittlichkeit« der griechischen Antike lässt sich nicht mehr wiederholen. 4 Seit dem Anbrechen der Moderne müssen sich die Menschen insofern als politisch Heimatlose begreifen, die allenfalls als solche noch im Rahmen partikularer, aber niemals hermetisch abzuschließender Lebensformen einen ›Ort zum Leben‹ finden können. 5 Allerdings wollte sich Hegel damit nicht abfinden, sondern entwarf das grandiose Szenario einer den hobbesianischen Naturzustand überwindenden und darüber hinaus durch die »Arbeit des Negativen« in der Auseinandersetzung mit ihren inneren Widersprüchen sich nach und nach steigernden, in sozialer, politischer und rechtlicher Hinsicht differenzierten 6 Vergesellschaftung, an deren finalem vernünftigem Sinn ihn auch die »ungeheuersten Opfer« nicht zweifeln ließen, die die »Vernunft in der Geschichte« schon gekostet hatte und seiner Erwartung nach gewiss auch weiterhin noch kosten würde. 7 Daran hält bis heute im Wesentlichen ein gesellschaftskritisches Denken fest, welches das hobbesianische Ordnungsproblem nur durch eine an zukunftsweisenden Idealen einer von aller Gewalt befreiten Vergesellschaftung glaubt überwinden zu können. Manche gehen dabei so weit, sich das mit der Gesellschaft offenbar gleichgesetzte Soziale als »vollständig normativ« regelbar vorzustellen. 8 Man gibt zwar zu, dass das Soziale seit dem Anbruch der Moderne als rückhaltlos verzeitlicht begriffen werden muss, ohne dass man sich noch Vgl. F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, Berlin 2010, S. 256 f. Mit Blick auf die politische Gegenwart habe ich das an anderer Stelle ausführlich zu zeigen versucht; Vf., »Heimat für Heimatlose? Politische Überlegungen zur Literatur der Verlassenheit«, in: U. Hemel, J. Manemann (Hg.), Heimat finden – Heimat erfinden. Politisch-philosophische Perspektiven, Paderborn 2017, S. 113–132. 6 Vgl. M. Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1969, S. 81 ff., 98 f. 7 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1994, S. 80. 8 A. Ferrara, »Das Gold im Gestein. Verdinglichung und Anerkennung«, in: R. Forst, M. Hartmann, R. Jaeggi, M. Saar (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt/M. 2009, S. 40–63, hier: S. 40. 4 5

534 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen

auf eine der Zeit entzogene archäologisch-teleologische Bestimmung seines Sinns stützen könnte; aber daraus soll nicht folgen, dass es sich nicht in kritischer Auseinandersetzung mit seinen Defiziten und Pathologien – durch bestimmte Negation – wenigstens nachträglich immer von neuem auf das Kommen des Besseren auszurichten vermag, um auf diese Weise realen gesellschaftlichen Fortschritt zu erzwingen, früher oder später, zunächst lokal, dann global mit Blick auf eine endlich pazifizierte Welt-Bürger-Gesellschaft. Auf diese Weise wird auch die Philosophie des Sozialen selbst im Ganzen geschichtsphilosophisch finalisiert. Dagegen wird energisch Einspruch erhoben – nicht nur von Kritikern der klassischen Geschichtsphilosophie, die immerzu Gefahr läuft, selbst radikalste und exzessivste Gewalt mit Blick auf eine ungeachtet aller Zweifel ›fortschrittliche‹ Geschichte zu rationalisieren und zu rechtfertigen, sondern auch unter Hinweis darauf, dass das Soziale niemals in seiner normativen Regelung aufgehen kann. Was solcher Regelung überhaupt bedarf, ist nicht von sich aus schon normativ verfasst und ruft gerade deshalb eine Normierung, Normativierung oder auch Normalisierung auf den Plan, die normiert, normativiert oder normalisiert, was nicht ›immer schon‹ auf derartige Möglichkeiten zugeschnitten ist. Noch weiter gehen Autoren wie Niklas Luhmann, Michael Hardt, Antonio Negri, Bruno Latour, Jürgen Link, Bernhard Waldenfels und Kurt Röttgers, die auf einer gewissen Widersetzlichkeit des Sozialen gegen jegliche Normierung, Normativierung und Normalisierung insistieren. Spottet nicht in der Tat die inzwischen möglich gewordene weltweite virtuelle Kommunikation jeder Vorstellung einer »vollständig normativen« Regelung? Tatsächlich können diverse neo-aristotelische, kommunitaristische und tugendethische Ansätze so wenig wie bloß konservative Versuche einer Rehabilitierung ›der‹ Religion, gemeinschaftlicher Gesinnungen, des Ethnischen und Nationalen oder einer ›substanziellen‹ Wirklichkeit des Staates darüber hinwegtäuschen, dass sich das ubiquitär 9 begegnende Soziale in keiner Ordnung mehr bändigen bzw. aufheben lässt, mit der man es zu regeln und zu normieren hofft. Überall findet das Soziale ›zwischen uns‹ statt; es ist geradezu das universale Milieu dieses ›Zwischen‹, das sich unserer Verfügung entzieht und das wir immer schon in Anspruch nehmen müssen, wenn 9 D. Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 249.

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Einleitung

wir auch nur den Versuch unternehmen, uns an Andere zu wenden, wie direkt und real oder indirekt, technisch-virtuell vermittelt, lokal oder grenzüberschreitend, situiert oder deterritorialisiert, solidarisch oder misstrauisch, hilflos oder gewaltsam auch immer. Nicht zuletzt diese Ubiquität des Sozialen hat dazu geführt, dass sich Sozialphilosophen darauf besannen, was im ›zwischen uns‹ Geschehenden auf dem Spiel steht: 10 etwa nur dass man überhaupt aneinander anknüpfen, in Verbindung treten und bleiben kann, wie dürftig auch immer? Genau das verneint entschieden Emmanuel Levinas, wenn er behauptet, dass die »soziale Beziehung die Erfahrung schlechthin« sei. 11 Das soll besagen, dass »vom Antlitz aus […] die Sozialität bedeutet« werde. 12 So erhält das Soziale vom Anderen her gewissermaßen ein unauslöschliches ethisches Vorzeichen (wie Levinas hofft); aber es wird keineswegs auf die Erfahrung ›von Angesicht zu Angesicht‹ reduziert. So sehr Levinas darum bemüht ist, die Alterität des Anderen jeglicher definitiven Verortung in der Immanenz – und auf diese Weise jeglichem gewaltsamem Zugriff – zu entziehen, um sie einem »Nicht-Ort« (non-lieu 13) vorzubehalten, so sehr er sozialphilosophisches Denken infolgedessen ins Atopisch-Unverfügbare ausscheren lässt, das sich zwischen uns ereignet, so sehr sieht schließlich auch er sich dazu genötigt, zuzugeben, dass das Soziale der »relativen Autonomie des Politischen« 14 in der Form irdisch-verorteter Lebensformen und mehr oder weniger abgegrenzter staatlicher Strukturen bedarf, welche der Gleichheit und der Gerechtigkeit verpflichtet sein müssen. Ob sich in diesem Sinne auch ein Welt-Staat – unter Beibehaltung subsidiärer rechtsstaatlicher Strukturen – denken ließe, bleibe dahingestellt. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, wie Levinas das Soziale einerseits von der unaufhebbaren und atopischen »Exteriorität« des Anderen her versteht und es in der Perspektive Ungeachtet aller Differenzen im Einzelnen konvergieren in dieser Perspektive m. E. die Ansätze zur Auslotung jenes ›Zwischen‹, wie sie von Arendt über Levinas und Waldenfels bis hin zu Nancy vorliegen. 11 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 151. 12 E. Levinas, »Über die Intersubjektivität«, in: A. Métraux, B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, S. 48– 55, hier: S. 53. 13 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 110. 14 E. Levinas, Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Berlin, Zürich 2007, S. 190 f. 10

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Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen

einer politisch-räumlichen Institutionalisierung denkt, die niemals das anarchische Geschehen des Sozialen in sich aufzuheben vermag. Damit lenkt er den Blick auf eine weitläufige Topografie des Sozialen, in der sich, unter dieser Bedingung, an unübersehbar vielen Orten und auf vielfältigste Art und Weise zeigt, ob und wie Verhältnisse zu Anderen Gestalt annehmen – von der ›Vorgeschichte‹ der Geburt an, durch die ein ›passageres‹, diachrones, von Anfang an verandertes Leben zur Welt kommt, dessen Spuren sich im Tod verlieren werden, über solidarische, gemeinschaftliche, zugleich von Liebe und Hass geprägte Beziehungen zu Dritten bis hin zu responsiven und differenzsensiblen gesellschaftlichen, zwischen Vertrauen erfordernden und Misstrauen hervorrufenden Verhältnissen, die niemals endgültig stabil werden können, nicht einmal in der gerechtesten, die égaliberté/ equaliberty 15 aller Beteiligten so weit wie nur möglich realisierenden Sozialstaatlichkeit, die im Weltmaßstab bislang Utopie bleibt. Dass sich viele Gesellschaften gegenwärtig mehr und mehr von einem solchen Ideal sogar entfernen, ist kaum zu bestreiten. Dabei muten sie ihren Mitgliedern vielfach Erfahrungen der Entsicherung zu, die so weit gehen, die eigene soziale Existenz der Betroffenen als rückhaltlos ›prekär‹ erscheinen zu lassen und sie dazu zwingen können, die eigene Zukunft täglich zu verpfänden in der verzweifelten Suche nach Möglichkeiten schieren Überlebens. 16 Auch dabei ist »der entscheidende Schauplatz […] das menschliche Terrain« 17, das jeder Andere auf unvorhersehbaren Trajektorien von der Geburt an bis zum Tod ›zwischenzeitlich‹ durchquert, sei es in einem guten Leben, sei es in schierem Überleben. Letzteres gilt für die infolge technischer Rationalisierungsprozesse nicht mehr ›Gebrauchten‹, die man auch die »Überflüssigen« genannt hat, für ökonomisch Marginalisierte und Verarmte ebenso wie (unter nicht ohne weiteres vergleichbaren Umständen) für Staatenlose (sans papiers), Flüchtlinge und Migranten

É. Balibar, Die Grenzen der Demokratie, Hamburg 1993. Z. Bauman, Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin 22016. 17 S. D. Beebe, M. Kaldor, Unsere beste Waffe ist keine Waffe. Konfliktlösungen für das 21. Jahrhundert, Berlin 2012, S. 131. Dieses Konzepts bedient sich allerdings auch ein militärisches human terrain mapping (ebd., S. 139 f.), das gar nicht auf die Begriffe selbst abstellt, die im Folgenden als Elemente einer Topografie des Sozialen heranzuziehen sind. 15 16

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sowie für ›Illegale‹ und homines sacri jeglicher Couleur, deren imaginäre »Weltkarten […] mit Blutfähnchen besteckt und mit Hungerfarbe gesprenkelt« sein mögen. 18 Ihnen allen droht in der einen oder anderen Weise eine Depolitisierung, die sie auch um ihre soziale Existenz bringt, wenn es dazu kommt, dass sie sich an niemanden mehr wenden und kein Gehör mehr finden können. 19 Jacques Rancière hat Recht, wenn er gegen Aristoteles einwendet, die entscheidende Grenze, auf die es in dieser sozialen und politischen Hinsicht ankommt, verlaufe nicht zwischen nur mit einer Stimme (phoné) ausgestatteten Lebewesen einerseits und mit Vernunft (lógos) begabten andererseits, sondern zwischen denen, die gehört werden, und jenen, denen das versagt bleibt. 20 Letztere laufen Gefahr, sozial und politisch überhaupt nicht mehr zu existieren, wenn es denn stimmt, was von Jean-Paul Sartre, Roland Barthes, Tzvetan Todorov und vielen anderen immer wieder behauptet wurde: dass wir menschlich nur als von Anderen wahrgenommene (nicht nur ›registrierte‹) und bezeugte Wesen existieren. Nichts anderes würde demnach unsere ›zwischenzeitliche‹ Existenz derart bezeugen wie das Gehör-schenken Anderer, in dem man erfährt, sich verlässlich auf Erwiderung hin an sie wenden zu können. Durch neue, ›prekäre‹ Lebenslagen wird das gegenwärtig aufs Neue einschneidend bewusst; doch darin offenbart sich letztlich eine immer schon virulente Grundfrage: Existieren wir überhaupt im Verhältnis zu Anderen und diese durch uns? Keineswegs wird das ein für alle Mal durch die Geburt eines jeden verbürgt, die uns doch nur ›bis auf weiteres‹ zur Welt kommen lässt 21, aus der aber jeder wieder verstoßen werden kann, der kein Gehör mehr findet. Alles spricht dafür, dass soziale und politische Verhältnisse, in denen das ›normalerweise‹ mehr oder weniger der Fall ist, erst brüchig werden oder ganz zerM. L. Kaschnitz, Tage, Tage, Jahre. Aufzeichnungen, Frankfurt/M. 1968, S. 341. Vgl. Vf., »Soziale Gastlichkeit: radikal, selbstverständlich, angefeindet«, in: U. Link-Wieczorek (Hg.), Gastlichkeit, Leipzig 2018, S. 29–54.. Allerdings ist vor dem Missverständnis zu warnen, auf diejenigen, die ständig und unüberhörbar beklagen, nicht gehört, übersehen und missachtet zu werden, treffe dies auch wirklich immer zu. 20 Aristoteles, Politik, Reinbek 1994, 1253a, S. 47; M. T. Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), Stuttgart 2003, S. 49; J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002; ders., »Die ethische Wende der Ästhetik und der Politik«, in: ders., Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007, S. 125–153. 21 Wohlgemerkt: nicht auf die Erde, sondern zur mit Anderen geteilten politischen Welt. 18 19

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brechen müssen, um jene Frage schonungslos aufkommen zu lassen. Gewiss: wir sind Geborene, von Anderen mehr oder weniger gastlich Aufgenommene, für die man gesorgt hat, wie unzulänglich auch immer. Aber vor idyllischen Bildern eines heimatlichen Eingebettetseins in partikulare Lebensformen, die uns nicht nur Kommunitaristen als im Innern weitgehend homogenisierte ans Herz legen wollen, ist zu warnen. 22 Vielfach lässt die Fürsorge Anderer die ›Nachkommen‹ nur gerade so überleben; und wenn, dann oft nur um den Preis eines Verstummens, von dem eine reichhaltige Literatur Zeugnis ablegt. Als nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst Fremde sind sie darauf angewiesen, sich ›zwischenzeitlich‹ am und im Sozialen zu orientieren, v. a. vermittels der Resonanz Anderer, ihres Widerstands und angesichts der Gewalt, die sie heraufbeschwören. Nur so werden sie nach und nach erfahren können, wer sie sind – von Anderen her, die sie zur Welt kommen ließen, und auf Andere hin, die sie überleben werden, in einer Zwischenzeit also, die als soziale keineswegs nur eine lineare Ordnung (vorher/nachher) und nur drei Dimensionen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) aufweist. 23 ›Zwischenzeitlich‹ leben wir als gezeugte und generative Wesen angewiesen auf die Solidarität und Gemeinschaft Anderer, ohne dabei zu wissen, wie die Kernfrage sozialer Zeit zu beantworten sein soll, ob und wie sie als gemeinsam geteilte überhaupt möglich ist und gegebenenfalls auch gelingen kann. In der Dimension der ›Zwischenzeitlichkeit‹ verstricken wir uns in Liebe und Hass, Vertrauen, Intransparenz und Misstrauen, Dissens und Differenzen, Schuld und Schulden, ohne in dieser »Landschaft der Praxis« 24 je über eine fertige Landkarte zur Orientierung zu verfügen. Man lernt diese Landschaft nur kennen, indem man sie als leibhaftig in ihr situiertes Subjekt begeht und durchläuft, so dass man auf unerwartete Hindernisse stößt und zu Umwegen gezwungen wird, von denen niemals im Vorhinein sicher C. Taylor, »The Moral Topography of the Self«, in: S. Messer, L. A. Sass, R. L. Woolfolk (Hg.), Hermeneutics and Psychological Theory, New Brunswick, London 1988, S. 298–320; B. Honig, Political Theory and the Displacement of Politics, Ithaca, London 1993. 23 Zur Unterscheidung linearer und dimensionaler Zeit vgl. M. Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/M. 1991. 24 Ein Ausdruck M. Merleau-Pontys in: Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1975, S. 241. Diese Metapher hat längst auch in die Sozialpsychologie Eingang gefunden, wenn auch z. T. in gänzlich anderer Bedeutung (etwa kognitivistisch aufgefasster mental maps); vgl. J. S. Bruner, Actual Minds, Possible Worlds, Cambridge, London 1986, S. 14. 22

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ist, ob sie je eine Rückkehr zum Ausgangspunkt erlauben – zumal unterdessen die Zeit stets auch ›abläuft‹. 25 Diese Landschaft kann schon deshalb kein Paradies sein. Sie ›zwischenzeitlich‹ zu ermessen ›kostet Zeit‹, nicht nur unsere eigene, sondern auch die Zeit Anderer, die man als gemeinsam geteilte womöglich trotz aller Anstrengungen verfehlt. Das kann auch daran liegen, dass auch die begriffliche Orientierung in ihr komplizierte ›topografische‹ Schwierigkeiten aufwirft, die sich keineswegs darin erschöpfen, von einem objektiven ›Raum‹ sozialer Koexistenz gleichsam ›von oben‹ eine sie bloß abbildende Karte zu entwerfen. Jeder begriffliche Orientierungsversuch, der nur möglich ist, wenn man das Soziale auch durchquert, ist vielmehr selbst schon darauf angewiesen, Wege überhaupt erst zu bahnen und für neue ›Sichtweisen‹ Platz zu schaffen, die ›nahe liegende‹, ›benachbarte‹ und ›fernere‹ Probleme und Hindernisse, aber auch Abwege, Aporien, Gefälle und Abgründe zu ›orten‹ erlauben. Letztere sind gewiss weder einfach ›an Ort und Stelle‹ vorzufinden noch auch bloß zu konstruieren in der Leere eines sozialen spatium. Vielmehr trägt die sozialphilosophische Orientierung dazu bei, wenigstens nachträglich von einer vorgängigen, weitgehend allerdings intransparenten leiblichen Verstrickung in eine komplexe diachrone Topografie Rechenschaft abzulegen und diese insofern zu ›realisieren‹. 26 Dabei handelt es sich um Versuche eines spacing, tracing und situating, die, indem sie vom espace perçu des Sozialen ausgehend ›stattfinden‹, zugleich ›Platz schaffen‹ für das, was sich der zweifelsfreien Ortung, Situierung, Einräumung und Einhegung entzieht – wie schon die Antwort auf die Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen in einem ›passageren‹, diachronen Leben von anonymen Anderen her und auf unbekannte Nachkommen hin. Zu sozialer Klaustrophobie besteht insofern ebenso wenig Anlass 27 wie zum Überdruss an einem oft beschworenen spatial turn, Insofern liegt es nahe, die fragliche Topografie des Sozialen von Anfang an chronotopisch zu entfalten – vorausgesetzt, man legt sich damit nicht von vornherein auf einen linearen Zeitbegriff fest, der weder von einem außerordentlichen kairós etwas ahnen lässt noch auch eine Spur von der temporalen Alterität einer Diachronie verrät, die uns nur von Anderen her und auf Andere hin den ›Raum‹ des Sozialen transitorisch durchleben lässt. 26 Zum zwischen-leiblichen »espacement« oder »spacing [that] makes room for existence« und sich nicht etwa nur nachträglich in einen bereits eröffneten Raum einfügt, vgl. J.-L. Nancy, Corpus (frz./amerikan.), New York 2008, S. 14 f., 90 f. 27 Dies war schon für Karl Jaspers eine der großen »Fragen der Sorge«: ob uns bald »kein Ausweg, keine Ferne […] mehr offen« steht, so dass man sich »nur noch im 25

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der ›den Raum‹ über die unglückliche und katastrophale Zeitlichkeit der Moderne triumphieren lassen sollte. So einfach wird man die diachrone und passagere Dimension eines existenziell situierten, leibhaftigen Lebens ›an Ort und Stelle‹, ›im Rahmen‹ lokal bestimmter, aber im globalen Horizont benachbarter und durchlässiger Lebensformen gewiss nicht los 28, wenn es denn stimmt, dass sich aus dem Geborensein eines jeden Neulings auf der Erde direkt die Verantwortung Anderer für ihn als das ›naheliegendste‹ Problem ergeben muss (wie Hans Jonas argumentiert) und wenn sich daraus eine weit ausstrahlende Verantwortung für ›nahestehende‹ und ›fernere‹ Dritte (ein Grundproblem der Sozialphilosophie von Emmanuel Levinas) im ›espace‹ sociétaire eines auf das Gute und Gerechte ausgerichteten Zusammenlebens (eine Leitfrage Paul Ricœurs) ergibt, das sich ohne eine welt-weite und weltliche (mondain; mondial) Zeitlichkeit nicht denken lässt (wie Jean-Luc Nancy meint). 29 Dieser hier nur anzudeutenden hyperkomplexen sozialphilosophischen Konfiguration ist weniger denn je mit klassischen Formen von theoría beizukommen – weder mit sokratischen Gesprächen noch mit platonischen Dialogen allein, weder bloß mittels kynischer Souveränität noch mit existenzieller Essayistik, weder mittels einer bis an den Himmel reichenden, das bloß Rhapsodische, Fragmentarische und Aggregierte verachtenden Architektonik 30 noch auch im Rahmen eines auf unerschütterKreise drehen« kann; K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Frankfurt/ M., Hamburg 1955, S. 141. 28 Leibhaftige Wesen können niemals ›ins Internet gehen‹, wie es eine gedankenlose Redeweise nahelegt. Sie bleiben auf ein Leben ›an Ort und Stelle‹ vital angewiesen, auch wenn dieses in beschleunigten Gesellschaften viele Ortsveränderungen erforderlich macht. Beweglichkeit, Temporalisierung und de-zentrierte, quasi »ortspolygame« (U. Beck), ›nomadische‹ Aufgeschlossenheit für viele heterogene Orte führt jedoch streng genommen niemals zur völligen De-Lokalisierung oder Ortlosigkeit. Wenn dieser Begriff eine Zerstörung oder Aufhebung jeglicher Situierung ›verbindlichen‹ Zusammenlebens meint, läuft er auf eine soziale Pathologie hinaus. Die Frage, »was ›Örtlichkeit‹ eigentlich bedeutet« unter heutigen Bedingungen, erscheint vielen Gegenwartsdiagnostikern zunehmend rätselhaft; vgl. die Beschreibungen von Arjun Appadurai, Andrew Kirby, Joshua Meyrowitz, Roland Robertson u. a. in U. Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/M. 1998. Das Zitat findet sich auf S. 24; ders., Was ist Globalisierung?, Frankfurt/M. 1997, S. 127 ff. 29 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 31982; Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 308 f.; P. Ricœur, Le Juste, Paris 1995; ders., Le Juste II, Paris 2001; J.-L. Nancy, Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin 2003. Siehe auch den Epilog zu diesem Band. 30 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, A 832/B 860.

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liche Prinzipien gegründeten und Begriffe wie Steine zusammenfügenden Systems 31, das sich über jegliche »uneinheitliche Mannigfaltigkeit« hinwegsetzt. Gefordert ist vielmehr eine konzertierte, von niemandem mehr zu beherrschende theoría, die sich dem Sozialen vor allem dort, wo es schmerzhaft unter die Haut geht, rückhaltlos aussetzt, um von der dunklen Lichtung dieser Negativität aus zu denken zu geben, wie wir uns das Soziale ›positiv‹, als nicht nur erträgliches, sondern womöglich bejahbares, vorstellen können – wobei dieses ›Wir‹ stets problematisch bleibt. Wer sich in einem Raum des Sozialen, den wir niemals ganz aus eigener Kraft eröffnen können, dazu zählen kann, wird sich allenfalls zeigen, wenn das zu denken Gegebene rückhaltlos Anderen überlassen wird. Insofern hat das hier bedachte Soziale unvermeidlich auch einen ›performativen‹ Aspekt: es bewährt sich nur im Verzicht auf jegliches Ansinnen, das Beschriebene souverän selbst im Griff behalten zu wollen – im Gegensatz zu einer fragwürdigen, quasi kartographischen Überblicksliteratur, die den Eindruck erweckt, die jeweiligen AutorInnen seien gar nicht darauf angewiesen, sich in jener Landschaft der Praxis wirklich zu bewegen, auf die Gefahr hin, in deren Gewaltsamkeit den Verstand zu verlieren. 32 Diese Gefahr kommt im Folgenden erst am Schluss zu Wort. Sie bestimmt hintergründig aber von Anfang an die Frage, wie es möglich ist, nicht nur irgendwie an Andere anzuknüpfen, kommunikativ ›in Verbindung zu treten‹ und sich mit ihnen zu ›vernetzen‹, sondern dabei Hass und Liebe, Misstrauen und Vertrauen, Vergemeinschaftung und Solidarität zu riskieren, wobei es sich als unvermeidlich erweist, sich in Schuld und Schulden, in vielfachen Widerstreit, in Dissens und gewaltsame Konflikte bis hin zum Krieg in alten und neuen Formen zu verstricken. 33 Die sich hier anschlieB. Casper, Das Dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber. Um einen Exkurs zu Emmanuel Levinas erweiterte Neuausgabe, Freiburg i. Br., München 32017, S. 150 f. 32 Ganz ähnlich, ebenfalls mit Hilfe kartografischer bzw. topografischer Metaphorik, setzen andere an; bspw. G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, S. 235 ff., und G. Gamm, Verlegene Vernunft. Eine Philosophie der sozialen Welt, Leiden et al. 2017, S. 7–28. 33 Das wirft die Frage auf, ob man nicht zumal angesichts der europäischen, bis heute nicht durchgreifend pazifizierten, insofern noch immer dem Kantischen Naturzustand entsprechenden Geschichte von vornherein mit der Topografie einer Kriegslandschaft einsetzen sollte, um in deren Profile alles andere einzutragen. Damit meine ich nicht, was der »Feldartillerist« Kurt Lewin während des Ersten Weltkriegs in 31

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ßenden Studien (Kap. XV–XXX) loten das Einanderausgesetztsein in diesen Fragenkomplexen sowohl eingedenk unaufhebbarer, atopischer Alterität des Anderen als auch in Anbetracht niemals zureichender normativer Institutionalisierbarkeit einer Anarchie des Sozialen aus, die das ständige Geschehen unseres von Anfang an ›veranderten‹, auf Andere angewiesenen, aber auch vor ihnen sich in Acht nehmenden, verletzbaren Lebens bestimmt. Das macht jedenfalls ein sozialphilosophisches Vorgehen deutlich, das diesen ›Anfang‹ dort lokalisiert, wo menschliches, vorübergehendes Leben anhebt, das aus Anderen entsteht: in der Geburt und in einer Generativität, die uns zu einem Leben nicht nur nacheinander, sondern auseinander und füreinander in unabsehbarer Geschichtlichkeit bestimmt, ohne dabei rein biologisch festzulegen, wer diese Anderen jeweils sind und auf welche künftigen Anderen hin wir leben. Mit der angedeuteten topografischen Metaphorik stehe ich keineswegs allein. Ganz abgesehen von ihren Ursprüngen im ›topischen‹ Denken der Antike, das u. a. in die klassische Rhetorik mit ihren Topoi, Fundorten der Erörterung, eingemündet ist, und abgesehen von ontologischen Topologien, wie man sie bei Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty antrifft, spricht bspw. Gilles Deleuze in seinem Kommentar zu Jacques Donzelot im Jahre 1977 von einer »Karte des Sozialen« 34, das mit seinen Atopien, Dystopien und Heterotopien 35 allerdings von der Pseudo-Vertrautheit einer von Autochthonen exklusiv zu beanspruchenden Landschaft 36 weit entfernt ist, zumal es vielfach auf grenzüberschreitende, hybride Verflechtungen mit Fremden und auf »multizentrische Netzwerke« verweist, die wiederum auf »umfassendere ›Landschaften‹ [scapes] wie die Finanzeinem berühmten sozialpsychologischen Aufsatz zur Ausnahmesituation der Front geschrieben hat (»Kriegslandschaft«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie Nr. 12, [1917], S. 440–447), sondern die geschichtliche Sedimentierung extremer und radikaler Gewalt in der von den Europäern bis heute durchlebten, aber vielfach verkannten Szenerie ihres weitgehend selbstverständlich hingenommenen Lebensmilieus. Es bedarf schon der historischen Sensibilität eines Georges Didi-Huberman, um diesen Zusammenhängen topografisch auf die Spur zu kommen. Vgl. Kap. III, 3. 34 G. Deleuze, »Der Aufstieg des Sozialen«, in: J. Donzelot, Die Ordnung der Familie, Frankfurt/M. 1980, S. 244–252, hier: S. 246. 35 Vgl. u. a. M. Foucault, »Andere Räume«, in: K. Barck, P. Gente, H. Paris, S. Richter (Hg), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1991, S. 34–46. 36 S. Kracauer, Das Ornament der Masse [1963], Frankfurt/M. 1977, S. 81–105; B. Waldenfels, Topographie des Fremden, Frankfurt/M. 1997, S. 11 f.

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welt« verweisen, wie Jan Nederveen Pieterse feststellt. 37 Auch im Denken des Sozialen haben vielfältige, niemals auf ›das Fremde‹ im Singular reduzierbare Fremdheiten ihren Ort – nicht aber, ohne uns mit Aporien, Ausweglosigkeiten 38 und ungastlichen, ariden Terrains zu konfrontieren, wo die beste Orientierung nicht mehr weiterhilft. Ohnehin kann aber das Soziale allenfalls arg verkürzt in den Blick kommen, wenn man gewissermaßen zu gut orientiert ist, statt sich einzugestehen: »ich kenne mich nicht [mehr] aus« – womit lt. Ludwig Wittgenstein ein genuin philosophisches ›Problem‹ doch überhaupt erst anhebt. 39 Genau dieses Eingeständnis steht denn auch hier gleichsam am Eingang der folgenden Untersuchungen: ›Ich weiß nicht‹, ob und wie es möglich ist, eine »Bejahung der Exteriorität des Anderen« oder seiner »Exotopie« (Michail Bachtin), wie sie uns Todorov zufolge 40 Levinas abverlangt, mit einer Orientierung in der Topografie sozialer Zeit zu verbinden, wo es darauf ankommt, sich gleichsam zwischen Dissens und Differenz, Vertrauen und Misstrauen, Liebe und Hass, Gewalt und Befriedung hindurchzubewegen, um all dem nicht derart verhaftet zu bleiben, dass sich keine freie Bewegung mehr aufeinander zu und gegebenenfalls auch voneinander weg vorstellen lässt, wenn es darum geht, radikale Konflikte zu entschärfen. Woraus solJ. Nederveen-Pieterse, »Der Melange-Effekt. Globalisierung im Plural«, in: U. Beck (Hg.) Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 87–124, hier: S. 96. 38 Ebd., S. 184 ff. Zu warnen ist hier vor dem Missverständnis, eine Topografie des Sozialen befasse sich womöglich nur mit sozialen Räumen oder ›verräumliche‹ das Soziale auf Kosten der Zeit usw. Es geht gerade darum, eine Art Landschaft der Praxis, in der man sich nur zeitlich und räumlich bewegen kann, theoretisch abzubilden in einer Topografie, in der man nicht im Vorhinein weiß, welche Erfahrung, welcher Begriff, welches Ziel wo liegt und in welcher Nachbarschaft, zu der mehr oder weniger gangbare oder erst zu bahnende Wege führen mögen. Mit topografischer Metaphorik arbeitet auch Michel de Certeau in Kunst des Handelns, Berlin 1988, wobei er in seinen Beschreibungen der Taktiken und Praktiken, mittels derer man sich in einer Landschaft der Praxis bewegen kann, zwischen terranen und maritimen Assoziationen schwankt. Es ist ein Desiderat, dieses Schwanken sozialphilosophisch eigens zu bedenken (s. ebd., S. 35). 39 S. o. Anm. 2. Ob das Telos eines solchen ›Orientierungsproblems‹ grundsätzlich die sichere Reorientierung sein muss, wie sie in gewissen Spielen möglich ist, deren Regeln allen bekannt sind, erscheint fraglich, denn in einer solchen Perspektive gibt es keine unaufhebbare ›Irre‹ ; vgl. dazu W. Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin 2008, S. 164 f., 641. 40 T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt/M. 1985, S. 295. 37

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Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen

che Konflikte entstehen und ›wohin sie führen‹, wie wir in einer gleichfalls ›topologischen‹ Ausdrucksweise sagen, ist in der Regel vorab nicht zu erkennen. Auch in deren theoretischer Erkundung begibt man sich auf teils noch fremde ›Denkwege‹, die unversehens ins Aporetisch-Weglose münden können – und vielleicht müssen, wenn es denn stimmt, dass sich zumindest eine gastliche soziale Welt allemal nur in einer »Wüste des Sinns« 41 einrichten und aufrechterhalten lässt, in der sie jederzeit wieder zur terra incognita 42 werden kann, wo man jede Orientierung einbüßt. Es mag sein, dass die Erde (abgesehen von den Meeren) bzw. ihre reale Oberfläche topografisch weitgehend erkundet ist, wie nach den Entdeckungsreisen James Cooks schon Georg Forster Ende des 18. Jahrhunderts meinte. 43 Und es mag zutreffen, dass sich v. a. ökonomische, ›exterritoriale‹ Mächte weitgehend ungehindert über sie ausbreiten können. Aber dass beispielsweise Zygmunt Bauman daraus schließen konnte, wir seien »Zeugen des Endes der Geografie: Entfernungen spielen keine Rolle mehr« 44, weist nur darauf hin, dass die phänomenologische Topografie unserer Welterfahrung, die wir nur als ›irdische‹, in ihr situierte, leibhaftige, auf Nähe und Ferne verwiesene und angewiesene, ›vorübergehende‹ Subjekte machen können, trotz vieler Vorarbeiten von Michael Bachtin über Kurt Lewin, Carl Schmitt und Maurice Merleau-Ponty bis Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu, Kitaro Nishida, Michel Serres, Jeff Malpas, Edward S. Casey und Marc Augé 45 sozialphilosophisch noch in den Anfängen 41 G. Bataille, Die Freundschaft und Das Halleluja (Atheologische Summe II), München 2002, S. 197, 256; M. Blanchot, Der Gesang der Sirenen, Frankfurt/M. 1988, S. 111, 113; M. Hart, A. Negri, Empire, Cambridge, London 2000, S. 145, 207, 362, 378, 380. 42 Wie, das zeigen in ausgezeichneter Weise Autorinnen wie Anne Michaels in ihrem Roman Fugitive Pieces, Dt. Fluchtstücke, Berlin 31997; vgl. bspw. S. 69, 150, 169, sowie Autoren wie Peter Weiss in seiner Ästhetik des Widerstands, Frankfurt/M. 2005, und Winfried G. Sebald in Austerlitz, München, Wien 2001. Bei Michaels ist m. E. gerade kein privativer Begriff des nicht Bekannten gemeint. Schließlich rührt der Fleck, der auf die Spur jener terra führt (s. Anm. 3), vermutlich von einer Träne her … 43 G. Forster, »Cook, der Entdecker«, in: Ausgewählte Schriften, Warendorf 2003, S. 7–176, hier: S. 67 f. 44 Z. Bauman, »Zerstreuung der Macht«, in: Die Zeit 47 (1999), S. 14. 45 M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989; K. Lewin, Werkausgabe Bd. IV, Stuttgart 1981; C. Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung [1942], Stuttgart 62008; M. MerleauPonty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966; E. S. Casey, Getting back

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steckt. 46 Erst recht gilt das für die begriffliche Topografie, die im Folgenden ausgeleuchtet wird – ausgehend von dem Grundgedanken, dass das Spannungsverhältnis zwischen dem Anderen und dem Sozialen konkret Gestalt in Lebensformen annimmt, die sich zumal als generative unvermeidlich in Probleme der Solidarisierung, fragwürdiger Vergemeinschaftung, des Vertrauens und Misstrauens, des Dissenses, des Hasses und kriegerischer Gewalt verstricken, um nur einige buchstäblich elementare bzw. ›elementale‹ 47 zu nennen. Davon, wie diese ›Probleme‹ auseinander hervorgehen und untereinander zusammenhängen, d. h. wie sie topografisch zu konfigurieren sind, vermittelt uns bislang, so weit ich sehe, keine Theorie des Sozialen auch nur annähernd eine zureichende Vorstellung. An dieser Stelle macht sich denn auch empfindlich das (auch hier keineswegs eingelöste) Desiderat sozialphilosophischer Theoriebildung bemerkbar, Konzeptionen sozialer Topografie in kritisch-metaphorischer Perspektive zu beleuchten. Es mag ja sein, dass »der Mensch […] ein Landtier, ein Landtreter« ist, wie Carl Schmitt feststellte. Aber selbst ihm, der sich fragte, ob »das menschliche Dasein und menschliche Wesen in seinem Kern rein erdhaft und nur auf die Erde bezogen« ist, und vor militanten Schlussfolgerungen nicht zurückschreckte, kamen erhebliche Zweifel daran. Gibt es nicht neben »›authochtonen‹, d. h. landgeborenen, auch ›autothalassische‹, d. h. rein vom Meer bestimmte Völker« 48 wie etwa die Seenomaden des Pazifiks? Sind damit schon alle topografischen Grundorientierungen erschöpft? Sind nicht auch die Autochthonen embarqué (Pascal) 49 auf dem Raumschiff Erde, das allerdings im freien Fall unterwegs ist, aber nicht schwimmt? into place, Bloomington 1993; M. Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/M. 1994. 46 Vgl. R. Maresch, N. Werber (Hg.), Raum. Wissen. Macht, Frankfurt/M. 2002; S. Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007; ders. (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt/M. 2009; A. Drost, M. North (Hg.), Die Neuerfindung des Raumes. Grenzüberschreitungen und Neuordnungen, Köln – Weimar – Wien 2013; S. Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt/M., New York 2013; A. Schlitte, T. Hünefeldt, D. Romić, J. v. Loon (Hg.), Philosophie des Ortes. Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2014. 47 Anspielend auf den Begriff eines Elements, in dem wir uns bewegen. Die genannten Leitbegriffe stehen in diesem Sinne für Elemente des Sozialen. 48 Schmitt, Land und Meer, S. 10. 49 B. Pascal, »Preuves par discours I«, http://www.penseesdepascal.fr/II/II1-moderne. php.

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Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen

Ich deute diese metaphorisch-kritischen Rückfragen hier nur an, um deutlich zu machen, dass sich weder die Phänomenologie unseres räumlich situierten, leibhaftigen Lebens noch auch die Idee einer begrifflichen Topografie sozialen Denkens unverfänglich an terrane oder maritime Metaphern (oder an deren Verknüpfung wie in JeanFrançois Lyotards Bild des Archipels oder in Jacques Derridas Rede von Gestaden [parages] 50) anlehnen kann bzw. sollte, da sich die entsprechende Ikonologie in metaphorologisch-kritischer Perspektive als politisch höchst brisant herausgestellt hat. Carl Schmitt ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Der in Jahren der radikalen Entwurzelung und der Verlassenheit vielfach bezeugten Erfahrung, wie auf einem Meer der Zeit 51 ausgesetzt zu sein, ohne feste Orientierung und ohne Aussicht auf ein rettendes Ufer oder auf einen Hafen, von wo aus die ›Einheimischen‹ die Schiffbrüche Anderer beobachten können, um sich der eigenen Erhabenheit zu versichern (wie es sich Kant vorgestellt hat 52), kann man mit Schmitt jedenfalls nicht gerecht werden. Aristoteles glaubte, alles Seiende habe einen bzw. seinen, ihm eigenen, natürlichen Ort. 53 Doch wir, die wir uns nach der Geburt überhaupt erst mit der Hilfe Anderer ›verorten‹ müssen (wie man heute sagt), ohne je in einem Leben ›an Ort und Stelle‹ aufgehen zu können, gehören in diesem Sinne überhaupt nirgendwo hin. Mit einem Ort, der uns erst von Anderen eingeräumt wurde oder den wir einnehmen, um von ihm auszugehen, können wir niemals schlicht identisch sein – wie es Apologeten des Autochthonen, des ethnischen und national Identitären mit geo-politischen Ambitionen glauben machen. Und wir können physisch und imaginär anderswohin aufbrechen, auch über das Utopische hinaus, das schließlich, dem Wortsinn nach, nirgends zu finden ist. Sowohl der Ort, an dem wir leben, als auch der Raum, den wir dabei in Anspruch nehmen und Anderen einräumen, gibt es als solchen, sozialen, nur durch eine leib-

J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 21989, S. 217 ff.; J. Derrida, Gestade, Wien 1994, S. 68, 180. 51 Weiss, Ästhetik des Widerstands, 844 f.; Sebald, Austerlitz, 49; Michaels, Fugitive Pieces, 22. 52 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd. X (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1974, § 28; H. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 31988. 53 Aristoteles, Physikalische Vorlesung, Paderborn 1956, S. 104. 50

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Einleitung

haftige Praxis der Situierung 54, die sich mittels eines homogenisierten Raumbegriffs, der wie in der Physik nur Stellen und objektive Distanzen kennt, nicht verstehen lässt. 55 Ein sozialer Ort ist kein Punkt; und ein sozialer Raum kein Behälter. Orte und Räume werden uns eingeräumt und können, mangels einer solchen Praxis, ohne weiteres wieder ganz und gar verschwinden. Wie aber soll man sich von der existenziellen Topografie, die allein durch unser soziales Leben Gestalt annimmt und die wir durchleben, eine angemessene Vorstellung machen – ohne Begriffe, die dazu dienen müssten, sich in ihr zu orientieren? Macht nicht auch der wiederholte Gebrauch von erprobten Begriffen auf seine Weise blind? Gehen wir – statt wie im neuzeitlichen Atomismus vom isolierten, nur an der eigenen Selbsterhaltung interessierten Individuum – wieder vom ›Topos‹ des Anderen aus, der mit seiner unaufhebbaren Alterität nirgends eindeutig zu orten ist, so liegt es wie gezeigt nahe, zur Verantwortung, zum Dritten, zum Gerechten im gesellschaftlichen Kontext und schließlich zum Weltweiten überzugehen 56 – so als wären diese theoretischen ›Topoi‹ gewissermaßen konzentrisch umeinander gelagert. 57 Wenn wir aber den Anderen von Anfang an als einen künftigen Weltbürger aufnehmen, wie es Kant verlangt hatte, und wenn dabei eine ›Weltlichkeit‹ (J.-L. Nancy) im Spiel ist, die Levinas spricht vom »prä-geometrischen Wesen des Raumes«, das darin liegen soll, »daß er durch den Anderen bewohnt wird«; Jenseits des Seins, S. 264. 55 Vgl. Bachelard, Poetik des Raumes, Kap. IX. 56 Erst in einem meta-topografischen Vergleich könnte sich zeigen, wie weitgehend eine im Zeichen unaufhebbarer Alterität des Anderen skizzierte und an der Ontogenese orientierte Topografie von klassischen Vorbildern abweicht – v. a. von Hobbes, der vom isolierten Einzelnen aus das souveränitätstheoretische Ordnungsproblem aufwirft, das Institutionen als sog. sekundäre Systeme laut Hans Freyer nur so lösen können, dass sie dabei Gefahr laufen, totalitär zu werden; vgl. H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 53 ff., 170. Eben diese Theorie hat aber nicht von Anfang an einen anti-totalitären Ansatzpunkt, wie ihn eine historisierte Sozialphilosophie heute, vor dem einschlägigen geschichtlichen Hintergrund, haben muss. 57 Vgl. als rezentes Beispiel: V. Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden, Berlin 2016, S. 81. Wie will man aber so einer permanenten grenzüberschreitenden »Selbsterzeugung des Sozialen« (unter Beibehaltung subsidiärer politischer Strukturen) Rechnung tragen, die sich in mannigfaltig Globales und Lokales vernetzenden und vermischenden Sozio-Sphären ausprägen? Vgl. Albrow, Das Globale Zeitalter, S. 257, 261, und zur angeblichen DeTerritorialisierung des Sozialen L. Pries, Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Spielräume jenseits von Nationalgesellschaften, Frankfurt/M. 2008, Kap. 3. 54

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Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen

nur aus gastlichem Verhalten entspringen kann, das Anderen einen niemals völlig zu schließenden, auf Dritte und Fremde hin geöffneten ›Raum zum Leben‹ einräumt, erweist sich dann nicht die Peripherie einer solchen imaginären theoretischen Topografie des Sozialen engstens mit deren Zentrum verknüpft, das zunächst ›der Andere‹ markierte? Erweist sich so gesehen die Vorstellung einer konzentrischen Topografie nicht als viel zu schlicht? 58 Besteht andererseits die geringste Aussicht darauf, mittels einer komplexeren topografischen Repräsentation des Sozialen das soziale Leben umfassend gleichsam abbilden zu können? Der Begriff der Topografie kann sowohl das Abzubildende als auch dessen bildliche Repräsentation meinen. Beides steht aber keinesfalls in einer mathematisch ein-eindeutigen Relation zueinander. Deshalb gibt es Topografien des Sozialen, aber nicht die Topografie des Sozialen. Wie jede Landkarte, so bildet auch eine begriffliche Topografie das Abzubildende stets einseitig ab. 59 Im Übrigen zwingt die unvermeidliche Linearisierung durch das Medium der Schrift dazu, von einem Ansatzpunkt zu theoretisch gleichsam ›benachbarten‹ selektiv überzugehen, wie es auch im Folgenden geDie Gegenprobe könnte man mit Hilfe von Alfred Schütz’ Sozialphänomenologie machen, die m. E. eindeutig vom Modell einer konzentrischen Topografie ausgeht; und zwar sowohl mit Blick auf leibhaftiges Leben als auch mit Blick auf dessen begriffliche Orientierung in und an der sozialen Welt; u. a. in: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/M. 1974. Hier müsste man weiter denken in Richtung auf eine kritische Theorie der Metaphorizität bzw. einer Bildlichkeit, die gewissermaßen ›begriffliche Landkarten‹ zu entwerfen erlaubt, welche ihrerseits metaphorisch zu verstehen sind. D. h. auch, dass das, was ›bildlich‹, in diesem Falle topografisch beschrieben wird, andere ›Bilder‹ zulässt. Vgl. B. H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie, Frankfurt/M. 2004. 59 D. h. auch: mit Momenten untilgbarer Kontingenz, die aber nicht mit bloßer Arbitrarität zu verwechseln ist. Das könnte ein detaillierter Vergleich mit der ausdrücklich als sozialphilosophisch bezeichneten ontologischen Topografie Eugen Finks zeigen. Wo dieser auf eine unmittelbare »Zeugenschaft des menschlichen Daseins« für sich selbst vertraut, möchte ich gerade diesem Begriff sein unverzichtbares historisches Profil im Sinne einer historisierten Sozialphilosophie zurückgeben, die sich mit enthistorisierten Begriffen wie pólemos (für Krieg jeglicher Art), Spiel, Tod, Herrschaft und Arbeit nicht zufriedengeben kann, die gleichsam Finks ontologisches Terrain abstecken, ohne dass deutlich würde, wie radikal sie ihrerseits als geschichtlich infragegestellt begriffen werden müssen. Das zeigt sich, wenn man die fragliche Zeugenschaft als Zeugenschaft angesichts Anderer und für Andere reinterpretiert, wie ich es an anderer Stelle wiederholt versucht habe. Vgl. E. Fink, Grundphänomene des menschlichen Daseins, Freiburg i. Br., München 1979, S. 41, 56, sowie die Hinweise in Kap. VIII, Anm. 90. 58

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Einleitung

schehen wird. Das steht dem aber nicht entgegen, daran sich anschließende ›Denkwege‹ in mehreren Richtungen zu durchlaufen, so dass sich deren Verzweigungen in Haupt- und Nebenwege und Überkreuzungen abzeichnen können – wie im Begehen einer Landschaft oder in der Exploration einer unübersichtlichen Küste, die man nur kennen lernt, wenn man sie in verschiedenen Richtungen erkundet, ohne sich je dessen sicher sein zu können, ob sie in veränderten Perspektiven nicht wieder gänzlich unvertraut erscheinen wird. Keineswegs steht zu erwarten, dass sich das befremdliche Eingeständnis, sich nicht auszukennen, das die in menschlichen Lebensformen Gestalt annehmende Spannung zwischen dem Anderen und dem Sozialen überhaupt erst zum philosophischen ›Problem‹ werden lässt, am Ende erledigen wird. Liegt schon die eigentliche Freiheit des Anderen in seiner Fremdheit, wie Levinas gelehrt hat, um so das Soziale der Alterität des Anderen auszusetzen, so reichert sich diese Fremdheit im Horizont Dritter und schließlich einer weltweiten Vergesellschaftung noch derart durch mannigfaltige Fremdheiten an, dass wir keinerlei Aussicht haben, uns das Soziale umfassend verständlich und vertraut zu machen. Zwar wurde schon oft befürchtet, es gebe überhaupt »kein Draußen« mehr 60, nachdem die Erde und die Welt umfassend erkundet 61 worden zu sein und nachdem das Soziale auch begrifflich alles erfasst zu haben scheint, doch die Phänomenologie der Fremdheit belehrt uns eines Besseren: Im ›Innern‹ des Sozialen sind wir längst uns selbst fremd geworden, nicht zuletzt angesichts der Gewalt, die man gegeneinander verübt, so dass es als grobe Fahrlässigkeit erscheint, mit dem seit alters her überlieferten Diktum unbedacht zu behaupten, »nichts Menschliches ist mir fremd«. 62 Wenn daran etwas Wahres ist, so bedeutet es gerade nicht, dass uns restlos alles ›Menschliche‹ bzw. auf Menschen Zurückzuführende vertraut wäre, sondern umgekehrt, dass wir darin das entdecken, was im Menschlichen unaufhebbar fremd bleibt – wie nicht zuletzt das im leibhaftigen Einanderausgesetzt- und Ausgeliefertsein erfahrene Inhumane bzw. Unmenschliche, das jenes Diktum keineswegs einfach einschließen kann. Daraus mag die Versuchung entstehen, sich auf dem Wege imaginärer Flucht und der Einbildung dem Sozialen, in 60 61 62

Vgl. Bd. I, Kap. I, Anm. 1, 15. Vf., Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg i. Br., München 2008, Kap. II, 1. Cicero, De officiis, S. 29; vgl. Bd. I, Kap. VIII, 4.

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Zur ›zwischenzeitlichen‹ Topografie des Sozialen

dessen Befremdlichkeit man sich eigentümlich de-platziert vorfindet, entziehen zu wollen, sei es vorläufig in einer geschützten Zuflucht, sei es als ohnehin ›vorübergehend‹ Lebender im Anderen der Zeit. Zwischenzeitlich aber bleibt man so oder so auf eine verlässliche Bleibe angewiesen, die weder ihre innere Fremdheit je loswird noch auch sich in radikaler Ungastlichkeit nach außen jemals ganz wird abschließen können, wenn sie nicht eben dadurch unbewohnbar werden soll. Genau diesen Gedanken räumen die folgenden Untersuchungen ein, indem sie ihn dem Sozialen einschreiben, auf das jeder Andere auf der Suche nach einem wirklich lebbaren Leben angewiesen und dem jeder rückhaltlos ausgesetzt bleibt.

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Teil D Generativität, Solidarität, Gemeinschaft

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Kapitel XV Generativität, Generationen und generative, intergenerationelle Solidarität Leben nacheinander, auseinander und füreinander in unabsehbarer Geschichtlichkeit In weiter Natur [ist] kein Wesen zu finden, Das nur einzig in [seiner] Art, nur einzig entstehet und aufwächst: Immer gehört es zu einem Geschlecht, und eben der Art sind Mehrere da. Lukrez 1 Il semblerait que la vie est une sorte de substitution qui doit passer de race en race. Jean-Jacques Rousseau 2 Die Ohnmacht des Lebens zeigt sich aber […] darin, daß, was anfängt, und was Resultat ist, auseinanderfallen [:] Produkt des einen Individuums und Anfang des anderen. Georg W. F. Hegel 3

Laut Kants, an den französischen Naturforscher Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon (1707–1788) anschließender Schrift Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775) »gehören alle Menschen auf der weiten Erde zu einer und derselben Naturgattung, weil sie durchgängig mit einander fruchtbare Kinder zeugen, so große Verschiedenheiten auch sonst in ihrer Gestalt mögen angetroffen werden«. 4 Demnach liegt in der Generativität das, was durch eine »unabsehliche Reihe von Zeugungen« die menschliche Gattungsgeschichte hervorbringt – im Horizont von ›Vorfahren‹ und ›Nachfahren‹, deren Vergangenheit und Zukunft sich jenseits einer Schwelle von drei Generationen in der Regel weitgehend im Anonymen Lukrez, Von der Natur der Dinge, Frankfurt/M. 1960, II, 1077 f., S. 78. J.-J. Rousseau, Julie, ou la Nouvelle Héloïse, Paris 1925, VI, 4. 3 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 61994, S. 72, 58. 4 I. Kant, »Von den verschiedenen Rassen der Menschen«, in: Werkausgabe (= WA), Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 9–30, hier: S. 11. 1 2

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XV · Generativität, Generationen und intergenerationelle Solidarität

verliert. Gleichwohl sollten sie alle miteinander dadurch verbunden sein, dass sie den jeweils nachfolgenden ihr Vernunfterbe überliefern 5 und infolgedessen auch in Erinnerung bleiben. Darin, so scheint es, läge eine weltgeschichtliche Solidarität aller Menschen. Dieser bei Kant nur angedeutete Zusammenhang von Generativität, Generationen und generativer, intergenerationeller Solidarität erscheint heute ganz und gar zerrissen. Jedenfalls ist er in keiner Weise mehr unbedacht vorauszusetzen. Ohne dabei bloß restaurative Absichten zu verfolgen, werfe ich im Weiteren die Frage auf, ob und wie dieser Zusammenhang heute neu zu denken sein könnte. Dabei wird sich zeigen, wie die Leitbegriffe, an denen ich mich hier orientiere, in einer subtilen Wechselbeziehung zueinander stehen: Jene Solidarität setzt Generationen voraus, und diese beruhen auf menschlicher Generativität; umgekehrt liegt in generativer Zeiterfahrung auch schon die Öffnung auf ein Leben von Anderen her und auf Andere hin, das von Anfang an die Frage aufwirft, ob es nicht in Horizonten einer letztlich anonymen Geschichtlichkeit zahlloser Generationen solidarische Formen annehmen müsste. Kaum eine Spur davon verrät allerdings der vielfach polemische Diskurs über heutige Generationenverhältnisse, von dem ich zunächst ausgehe (1), um sodann nach einer Generativität zurückzufragen (2), die nach generativer und intergenerationeller Solidarität 6 einer nur menschlich zu verbürgenden Welt zu verlangen scheint (3).

1.

Das polemische Verhältnis zwischen Generationen heute

»Uns allen [ist] das Gift des Werdens tödlich eingespritzt«, lesen wir bei Epikur. 7 »Sobald ein Mensch zum Leben kommt, sogleich ist er alt genug zu sterben«, heißt es scheinbar gleichsinnig im Ackermann I. Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« [1784], in: WA XI, S. 31–50, hier: S. 35. 6 Deren konkrete Ausbuchstabierung würde allerdings den Rahmen dieses Kapitels bei weitem sprengen, so dass ich mich auf einige grundbegriffliche und ideengeschichtliche Klärungsversuche beschränken muss. Ich knüpfe hier im Übrigen an Vorstudien an, welche die menschliche Generativität gerade nicht auf eine Biologie von »Zeugungen« reduzieren (wie es die einleitend zitierten Worte Kants zumindest auf den ersten Blick nahelegen). 7 Epikur, Briefe. Sprüche. Werkfragmente (griech./dt.), Stuttgart 1985, S. 87, Nr. 30. 5

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Das polemische Verhältnis zwischen Generationen heute

aus Böhmen (um 1400–3). 8 Der spätmittelalterliche Autor Johannes von Tepl hatte dabei aber keine Binsenweisheit, sondern die Pflicht eines jeden im Sinn, das ihm ›gegebene‹ Leben zurückzugeben. Und diese moralische Ökonomie sollte über den schmerzlichen Verlust einer ›unersetzlichen‹ Anderen hinwegtrösten. Das gerät in einer ontologischen Interpretation ganz aus dem Blick, die aus dem Zitierten ableitet, der Tod sei als »Sein zum Ende« von Anfang an in unserem Dasein gegenwärtig. 9 Insofern scheint wenn nicht »für alle endlichen Dinge«, so doch für alle endlich Existierende gelten zu müssen, dass »die Stunde ihrer Geburt schon die Stunde ihres Todes« ist. 10 Doch wenn Geburt und Tod nicht unmittelbar zusammenfallen, ergibt sich daraus, dass letzterer allemal später eintritt – bekanntlich ohne dass man wissen könnte wann und wodurch. 11 Dessen ungeachtet besagen historisch kontingente Vorstellungen von menschlicher ›Normalsterblichkeit‹, zu der sich eine mehr oder weniger hohe oder niedrige Kindersterblichkeit wie die Ausnahme zur Regel verhält, dass die Jüngeren nach den Älteren sterben werden, aus denen sie hervorgegangen sind. Umgekehrt bedeutet das, dass letztere ihre Nachkommen normalerweise nicht überleben werden. Das ruft, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes schreibt, die »Rührung« der Eltern »gegen ihre Kinder« in dem Wissen hervor, deren »Fürsichsein« in ihnen werden zu sehen, »ohne es zurückzuerhalten«. Es bleibe »eine fremde, eigene Wirklichkeit«, in der umgekehrt die Kinder angesichts ihrer Eltern mit Rührung realisieren, ihr Werden »einem anderen Verschwindenden« zu verdanken und ihr »Fürsichsein und eigene[s] Selbstbewußtsein zu erlangen nur durch Trennung von dem Ursprung – eine Trennung, worin dieser versiegt«. 12

J. v. Tepl, Der Ackermann aus Böhmen, Stuttgart 1970, S. 62. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984, S. 245. 10 H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt/M. 1979, S. 197. 11 Schon Rousseau realisierte: »die Verhältnisse ändern sich ständig, der Geist des Jahrhunderts ist unruhig und stürzt von Generation zu Generation alles um«. Dabei gehe es nicht darum, möglichst lange zu leben, sondern darum, wirklich zu »existieren«. »Mancher wird mit hundert Jahren begraben, der bei seiner Geburt gestorben war.« Andere betrügt man um ihr wirkliches Leben, indem man sie durch Vergesellschaftung versklavt. J.-J. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Paderborn 61983, S. 15 f. 12 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 41980, S. 336. 8 9

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XV · Generativität, Generationen und intergenerationelle Solidarität

So bringt der Philosoph eine Generativität zur Sprache, die nicht nur besagt, dass Eltern und Kinder normalerweise nacheinander leben, sondern dass letztere aus ersteren durch Trennung hervorgehen. 13 Die in der Weise der Abschiedlichkeit realisierte Trennung voneinander besiegelt schließlich den Untergang des leibhaftigen Ursprungs der Kinder, deren Erinnerung stets im Verzug sein wird. Unvermeidlich zu spät realisieren sie ihren mehr oder weniger unverstandenen generativen Ursprung, der sich ihnen infolge ihrer gleichsam diachron versetzten Lebenszeit immer schon entzogen hat. So kommt es zu einem »Wechsel der sich fortwälzenden Geschlechter«, der, wenn es nach Hegel geht, »Bestand« nur in der Sittlichkeit eines Volkes haben kann. Im »Hause der Sittlichkeit« aber zählt am Ende überhaupt »nicht dieser Mann, nicht dieses Kind, sondern ein Mann, Kinder überhaupt«, d. h. das »Allgemeine«, worauf sich auch die »Verhältnisse des Weibes« gründen sollen. 14 Das musste seinerzeit spätestens dann klar werden, wenn man von den Frauen verlangte, kriegstaugliche Nachkommen in ausreichender Zahl als biopolitisches Potenzial des Staates zu gebären. 15 Im Horizont des vom Staat repräsentierten Allgemeinen verschwindet infolge der Zeugungen, welche aus Männern und Frauen immerzu die – scheinbar ersetzbare – Nachkommenschaft neuer Kinder, künftiger Mütter und Väter hervorgehen lassen, die Singularität eines jeden. Dass Kant in diesem Zusammenhang treffend von Zeugungen spricht, erinnert immerhin noch daran, dass es Geschlechter oder Generationen nur auf der Basis einer Generativität gibt, aus der allein sie hervorgehen können. Doch ›abstrahiert‹ die Vorstellung von einem Wechsel von Geschlechtern oder Generationen genau davon. 16 Vgl. C. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt/M. 1984, S. 498, 515 ff. 14 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 337. 15 Vgl. P. Berghoff, Der Tod des politischen Kollektivs. Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse, Berlin 1997. 16 Lt. dem Duden. Bd. 7. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim, Wien, Zürich 1963, S. 210, 215, wurden beide Begriffe zeitweise synonym gebraucht für die »Gesamtheit aller etwa zur gleichen Zeit geborenen Menschen« bzw. für die »Gesamtheit der gleichzeitig lebenden Menschen«. Dabei wurde vielfach unbesehen vorausgesetzt, dass es derartige Gleichzeitigkeit in einem nicht bloß chronologischen Sinne nur geben kann, wo sie sich auf einen synchronen Erfahrungsraum bezieht. Vgl. bspw. G. Forster, »Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit« [1793], in: Ausgewählte Schriften, Warendorf 2003, S. 321–362, hier: S. 354 f. – Das eingangs angeführte Rousseau-Zitat findet sich dt. 13

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Das polemische Verhältnis zwischen Generationen heute

Sie impliziert eine anonyme Vielzahl Älterer und eine anonyme Vielzahl Jüngerer, die jeweils annähernd gleichzeitig leb(t)en, und schließt ggf. alle gleichzeitig Lebenden mit ein. Dabei sieht sie davon ab, wer genau kraft »stetiger Zufuhr von Andersheit« 17 von wem abstammt in ständig stattfindender ›Ersetzung‹ bzw. ›Substitution‹ 18 der Älteren durch deren Nachfahren, und führt Markierungen in die historische Zeit ein, die nicht nur fragwürdig homogenisierte 19 Kohorten von Älteren und Jüngeren voneinander trennen, sondern auch mannigfaltige Ungleichzeitigkeiten 20 sowie allmähliche Übergänge ausblenden, die sich aus der Überschneidung der Lebenszeiten der Jüngeren und der Älteren ergeben. (So konnten David Hume und Auguste Comte erwägen, ob nicht eine Generation die jeweils vorangehende quasi mit einem Schlag ersetzen könnte. 21) Andererseits bereichert der Begriff der Generation die heute meist biologisch und nicht sozial oder sittlich aufgefasste Generativität durch eine historische Dimension 22: die jüngeren Generationen gehen geschichtlich aus den älteren hervor, indem sie sich auf letztere erinnernd zurückwenden, sei es, um dankbar ihr Erbe anzutreten, sei es, um sie zu über-

so übersetzt: »Es könnte scheinen, als wäre das Leben ein Gut, das man nur unter der Bedingung erhält, es weiterzugeben, eine Art Stellvertretung, die von Geschlecht zu Geschlecht weitergehen muß […].« J.-J. Rousseau, Julie oder Die neue Héloïse, München 1988, S. 691. In der engl. Übersetzung steht generation anstelle von race bzw. »Geschlecht« (Rousseaus Collected Writings, vol. 6, Hannover, N. H., S. 539). Zum Einsickern des Wortes generatio ins Deutsche seit dem 16. Jahrhundert vgl. A. Demandt, Zeit. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015, S. 446 f. 17 H. Jonas, Medizin, Technik und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt/M. 1987, S. 160. 18 J. Derrida, »Hostipitality«, in: G. Anidjar (Hg.), Jacques Derrida: Acts of Religion, New York, London 2002, S. 356–420, hier: S. 413, 417. Von der auch Levinas’ Werk umtreibenden Frage, ob nicht gerade nicht-substituierbare Andere nach einer ›Stellvertretung‹ verlangen, sehe ich hier ab. 19 W. Dilthey sprach von der Generation als einem »homogenen Ganzen«; vgl. M. Riedel, »Generation«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 274–277. 20 W. Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas [1926], München 1961, S. 41; E. Bloch, »Der Faschismus als Erscheinungsform der Ungleichzeitigkeit«, in: E. Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, Königstein/Ts. 61984, S. 182–204. 21 K. Mannheim, »Das Problem der Generation«, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie VII, München, Leipzig 1928, S. 157–185, 309–330. 22 Das hebt P. Ricœur hervor in Zeit und Erzählung III, München 1991, S. 173 ff.

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winden, sei es auch, um sie zu vergessen. 23 Auch das ist eine Weise des Anknüpfens. 24 Diese Alternativen stellen sich allerdings erst in dem Moment, wo der geschichtliche Rückbezug als solcher thematisch wird, durch den spätere Generationen überhaupt erst eine nicht-biologische Kontinuität zu vorangegangenen Generationen herstellen können. Jene »Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert«, wie Kant in seiner Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht meinte (s. o., Anm. 5), kann keine geschichtliche Kontinuität sicherstellen, wenn die nachfolgenden Generationen sich nicht auch ausdrücklich historisch zu den ihnen jeweils vorangegangenen verhalten. 25 Hermeneutisch gesehen ist die Überlieferung stets eine Form erinnernder »Wiederholung« des Vergangenen, das auf diese Weise überhaupt erst geschichtlich bedeutsam wird – und zwar in praktischer bzw. pragmatischer Absicht, wenn es nach Kant geht, der glaubte, »unsere späten Nachkommen« würde noch »nach einigen Jahrhunderten«, wenn die »Urkunden« der »ältesten Zeit […] längst erloschen sein dürften«, letztlich allein interessieren, »was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben« (WA XI, S. 50). Sehr »befremdend« bleibe es in dieser Perspektive allerdings, »daß die ältern Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben« – unabsichtlich übrigens, wie Kant ausdrücklich annimmt. Nur die späteren (oder spätesten) Generationen könnten demnach davon profitieren, »woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren […] ge-

So beschreibt E. Delacroix (1853) »enterbte Massen«, die sich nicht mehr darum kümmern, woher sie kommen und wohin sie gehen, in: Dem Auge ein Fest. Aus dem Journal 1847–1863, Frankfurt/M. 1988, S. 154, 287. 24 Vgl. C. Castoriadis, Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt/M. 1983, S. 45; F. Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M. 1993, S. 474, 476. 25 Wie das möglich wurde, hat sehr gut R. Koselleck gezeigt in: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989. Die Gliederung vergangener Zeiten nach Generationen ist zwar uralt, doch erschöpft sie sich lange in einer chronologischen Sukzession, aus der nicht hervorgeht, wie sich Generationen zu ihrem Auseinanderhervorgehen historisch verhalten. Vgl. Demandt, Zeit, S. 310 f., 332. Eine noch von Freud in quasi lamarckistischer Manier angenommene »Vererbung psychischer Dispositionen« ist bis heute reine Spekulation geblieben; S. Freud, »Totem und Tabu« [1912], in: ders., Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt/M. 51989, S. 287–444, hier: S. 441. 23

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arbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können« (WA XI, S. 37). 26 In kosmopolitischer Perspektive mussten für Kant letztlich alle Menschen, die früher gelebt haben, zu »Vorfahren« derer werden, die später leb(t)en. Die »Absicht«, jenes Glück als ein für alle dereinst Lebenden zu genießendes zu zeitigen, schrieb er der Natur zu, die es mit der menschlichen Gattung von Anfang an darauf anlege, das Vernünftige wirklich werden zu lassen, wenn auch nur durch eine antagonistische ungesellige Geselligkeit, welche die Menschen unvernünftigerweise gegen die finale Bestimmung ihrer Gattung handeln lässt, und zugleich mit der »gnadenlosen Konsequenz«, das Leben der früher Lebenden letztlich für das der später Lebenden zu opfern, wie manche Interpreten meinen. 27 Genau dagegen haben sich spätere Generationen verwahrt und ihrerseits die ihnen vorangegangenen geradezu verworfen, um sich der ganzen Last eines geschichtlichen Erbes zu entledigen, das sie dazu zu verurteilen schien, nur umwillen eines Besseren mediatisiert zu werden, das allemal erst jenseits ihres Todes, wenn überhaupt, wirklich würde. Das eklatanteste, aber beileibe nicht das einzige Beispiel 28 hierfür ist gewiss der dem italienischen Faschismus zeitweise sehr nahestehende Futurismus 29, der programmatisch alle Versuche konterkarierte, zwischen den Generationen und über sie hinweg neue Formen der Verbindlichkeit zu etablieren, welche durch die sich ständig beschleunigende und zunehmend diskontinuierliche Geschichtlichkeit der Moderne immer mehr in Frage gestellt wurde, die schließlich überhaupt nichts Substanzielles oder Verbindliches mehr bestehen lassen würde, wie es das Kommunistische Manifest (1847/8) bereits prophezeit hatte. 30 Die derart dynamisierte Geschichte musste die berühmte »soziale Frage« aufwerfen, die mit der biopolitischen Ähnlich: Forster, »Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit«, S. 354 f. 27 T. Miklós, Der kalte Dämon. Versuche zur Domestizierung des Wissens, München 2016, S. 63, 116, 133; vgl. dagegen H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M. 21986, S. 215 f., 241. 28 H. Mommsen, »Generationskonflikt und Jugendrevolte in der Weimarer Zeit«, in: T. Kroebner, R.-P. Janz, F. Trommler (Hg.), »Mit uns zieht die neue Zeit.« Der Mythos Jugend, Frankfurt/M. 1985, S. 50–67. 29 H. Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte. Ästhetik, Dokumente, Reinbek 2009. 30 K. Marx, »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: ders., Die Frühschriften, Stuttgart 1971, S. 525–560, hier: S. 529; M. Berman, All that is solid melts into air. 26

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Sorge um ganze Bevölkerungen und deren Zukunft verknüpft wurde. 31 Diese Zukunft aber wurde in Generationen gedacht, deren unerhörten Verschleiß man im Zuge einer rücksichtslosen Industrialisierung zu akzeptieren bereit war. So kritisierte der irische Sozialist George Bernard Shaw im Jahre 1914 in seiner Schrift Die Umverteilung des Einkommens eine »Manchester-Tradition«, die »neun Generationen in der Zeitspanne einer einzigen Generation verbrauche« 32. In diesem Zusammenhang konnte keine Rede mehr davon sein, alle Generationen würden wenigstens zugunsten der späteren ihren Teil zu einer fortschrittlichen Geschichte beitragen. Ihr generativer Zusammenhang drohte gewaltsam ganz und gar zu zerreißen, wenn nicht biologisch, so doch in historisch-hermeneutischer Hinsicht. Das mag erklären, warum man sich um ganz neue, in keiner Weise mehr »naturwüchsig« verbürgte Strukturen intergenerationeller Verbindlichkeit bemühte. Dafür ist der bereits 1928 konzipierte und seitdem immer wieder neu interpretierte, kürzlich aber als »die älteste Übereinkunft der Menschheit« bezeichnete »Generationenvertrag« (Heinrich Imbusch) 33, der eine »Ökonomie der materiellen und symbolischen Tauschvorgänge zwischen den Generationen« 34 voraussetzt, gewiss das bezeichnendste Beispiel. Dass nach der Beobachtung einiger Sozialkritiker der Idee einer vielfach leerformelhaft zitierten »Generationengerechtigkeit« inzwischen geradezu hegemonialer Einfluss zukommt 35, ändert wenig daran, dass von einem normativ geklärten und geregelten Verhältnis zwischen den Generationen ungeachtet dessen nach wie vor kaum die Rede sein kann. So The experience of modernity, Harmondsworth 1988; R. Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2003, Abschnitt II. 31 J. Donzelot, Die Ordnung der Familie, Frankfurt/M. 1980, S. 88. 32 G. B. Shaw, Der Sozialismus und die Natur des Menschen, Frankfurt/M. 1973, S. 155. 33 G. A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, S. 135; vgl. »Das Generationen Manifest«, in: Die Zeit 38 (2017), S. 50. 34 P. Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 21997, S. 298. 35 S. Lessenich, Theorien des Sozialstaats zur Einführung, Hamburg 2012, S. 126, 123. Wie die auf den ersten Blick moralisch so überaus honorig sich ausnehmende Rhetorik, die sich dieses Begriffs bedient, in eine mehr oder weniger neoliberale Programmatik der Entmachtung des Sozialstaats eingehen kann, zeigt C. Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaats, Wiesbaden 52014, S. 350 f.; ders., B. Lösch, R. Ptak, Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 32017, S. 275. Dabei wird auch deutlich, wie sich diese Rhetorik zu Lasten der nachwachsenden Generationen auswirkt.

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wenig jedenfalls, dass es andere nicht für unangebracht halten, einen regelrechten »Krieg zwischen den Generationen« heraufzubeschwören, der angeblich vor allem dadurch droht, dass Ältere zunehmend auf Kosten der Jüngeren ein langes, allzu langes Leben leben (wollen oder auch müssen). Laut Francis Fukuyama ist dabei »am schlimmsten […], daß sie sich einfach weigern, den Weg für ihre Kinder – ja auch für ihre Enkel und Urenkel freizumachen« 36 – wie es Peter Kropotkin zufolge russische Bauern einst ganz selbstverständlich getan zu haben scheinen, indem sie erklärten: »Ich lebe anderen das Leben weg: es ist Zeit zu gehen.« 37 Wenn der ehemalige amerikanische Regierungsberater Fukuyama Recht hat, dann geht es im inzwischen derart polemisch zugespitzten Verhältnis zwischen den Generationen längst nicht mehr bloß darum, dass die Jüngeren aufgrund einer naturgegebenen Ordnung generativen Lebens ihren Geburtsdaten entsprechend früher oder später den Älteren in den Tod nachfolgen, oder um die sittliche Vorstellung, dass Kinder ihren Eltern etwas zu Pietät Verpflichtendes (oder gar ihr Leben als Geschenk) zu verdanken haben, wie es sich manche nach wie vor vorstellen. 38 Vielmehr hat es nunmehr den Anschein, als seien die Älteren den Jüngeren einen rechtzeitigen, ökonomisch vertretbaren und nicht über alle Maßen hinausgezögerten Tod schuldig – einen Tod mithin, der als solcher nun gerade nicht mehr in der Geburt bereits beschlossen liegt. 39 Das wird im beliebten Rekurs auf v. Tepls Diktum in der Regel gar nicht bedacht. Gewiss: es ist kein neuer Gedanke, dass wir der Natur oder Gott »einen Tod schuldig« sein sollen, wie es William Shakespeare und noch Sigmund Freud formulierten. 40 Aber dieser Gedanke erhält nun doch eine ganz andere Wendung, wenn man ihn in eine (allerF. Fukuyama, Das Ende des Menschen, München 2004, S. 101 f., 141, 23. P. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt [1902], Berlin, Frankfurt/M., Wien 1975/6, S. 107. 38 J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg i. Br. 2011, S. 295. 39 Wie es bereits Heraklit nahelegt, von dem bei Clemens von Alexandria die Worte überliefert sind, »einmal geboren, wollen sie [die Menschen] leben, und das heißt: Todeslose haben, oder vielmehr ausruhen; und sie hinterlassen Kinder, damit neue Todeslose geboren werden«. Lt. Plutarch nahm Heraklit Generationen von je dreißig Jahren an; »in dieser Zeit lasse der Erzeuger das von ihm Gezeugte zeugend sein«; zit. n. J. Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker (griech./dt.), Stuttgart 1987, S. 281. 40 Im Grunde klingt dieser Gedanke schon bei Anaximander an; vgl. ebd., S. 73; W. Shakespeare, Heinrich IV, V, 1; S. Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902, 36 37

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dings nicht vollstreckbare) Forderung der Jüngeren gegen die Alten transformiert – mit der absehbaren Folge, dass sich die von den Stoikern über Martin Heidegger bis hin zu Michel Foucault bedachte Sorge um den je-meinigen Tod in die Furcht davor verkehrt, in den Augen Anderer zu lange zu leben. Es liegt zweifellos nahe, dass sich eine zunehmend geringere Achtung des Lebens der Älteren im Allgemeinen daraus ergeben kann, dass man es primär oder ausschließlich als massiven Kostenfaktor in einer virtuellen ökonomischen Bilanz zwischen den Generationen in Rechnung stellt. Die hier sehr gedrängt und zweifellos verkürzend skizzierte Lage der in diesem Sinne polemischen Diskussion um den Begriff der Generation lässt dabei leicht das Folgende vergessen: Es gibt menschliche Generativität, die keine Generationen hervorbringt, insofern sie sich nicht auf generationenspezifische Erfahrungen bezieht 41; aber es gibt keine Generation (und kein Missverhältnis zwischen verschiedenen Generationen) ohne eine vorgängige Generativität, die in unterschiedlichen Generationen gegebenenfalls ein historisch differenziertes Profil annimmt. Verliert man diesen Zusammenhang ganz aus dem Auge, so hat es den Anschein, als würde sich menschliches Leben in historischer Perspektive in einem »Sichfortwälzen von Geschlechtern« erschöpfen, die nacheinander ins Sein gestoßen und wieder aus ihm verdrängt werden, wenn es sein muss auch mit moralisch-eugenischem Nachdruck der Jüngeren, die ihre Lebenschancen beeinträchtigt sehen, alsbald aber ihrerseits damit rechnen müssten, ein zu langes, womöglich »unproduktives« Leben 42 vorgehalten zu bekommen. Derart polemisch gestalten sich heute Generationenverhältnisse, in denen die jeweils früher Lebenden jederzeit dem Vorwurf ausgesetzt werden können, ›auf Kosten‹ derer zu leben, die aus ihnen hervorgegangen sind oder noch hervorgehen werden. Diese Kosten könnten sie allerdings senken: indem sie weniger verbrauchen – vor Hamburg 1962, S. 237; P. Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/M. 1974, S. 337 ff. 41 Zu weit geht es wohl, vorauszusetzen, dass es sich hierbei um ein historisches Interpretament handelt, welches erst im Zuge der Durchsetzung eines modernen Geschichtsbewusstseins wirksam werden konnte. Doch ist es kaum zu bestreiten, dass besonders moderne Beschleunigungserfahrungen mit Bezug auf historische Zeitdifferenzen von Generationen gedeutet wurden. Darauf stellt v. a. Koselleck ab in: Zeitschichten, S. 107, 195, 268. 42 S. Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen, Bielefeld 2008, S. 110 ff.

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allem unwiederbringlich verlorengehende fossile Energie –, indem sie generell weniger die Zukunft der ihnen Nachfolgenden mit Hypotheken belasten, für die sie selbst gar nicht aufkommen können, und schließlich schlicht dadurch, dass sie nicht zu lange leben und die Sozialkassen über Gebühr strapazieren. In dergleichen Vorwürfen hat man schon einen gegen das Alter als solches gerichteten Rassismus vermutet, gegen den sich rechtzeitig ein sog. Methusalem-Komplott zur Wehr setzen soll, wenn es nach publizistisch zeitweise sehr erfolgreichen Autoren geht, die im Verhältnis der Generationen vor allem eines sehen: einen mit polemischer Verve geführten Kampf um Herrschaft. Die Frage ist dann nur noch, wer wen beherrscht: ob der »Wahn« der Jungen die Alten unterjocht oder ob deren Gerontokratie triumphiert. Wie man es auch dreht und wendet, solche Vorwürfe zeigen vor allem eines an: wie weitgehend man sich die Generationen voneinander entkoppelt vorstellt, bis hin dazu, dass man sich nur noch einen Kampf der einen gegen die andere, auf deren Kosten, vorstellen kann. So gesehen haben wir es hier nur mit einem weiteren Anzeichen unter vielen anderen zu tun, die für eine weitgehende Entsolidarisierung des Sozialen sprechen, das sich am Ende nur noch in einem Miteinander im Modus des Gegeneinander manifestiert. Dabei kann es Generationen nur auf der Grundlage einer vorgängigen Generativität geben, kraft derer jeder von Anderen her und auf Andere hin lebt, ob im Rahmen einer weit verzweigten leiblichen Genealogie oder im Sinne geschichtlicher Wahlverwandtschaften. Generatives Leben ist in diesem Sinne stets und unvermeidlich zwischenzeitliches Leben, das über die eigene Geburt und über den eigenen Tod hinaus auf das vorangegangene und auf das nachfolgende Leben von Anderen hin geöffnet ist, von denen jeder als ›singulär‹ und nicht ›substituierbar‹ gelten muss. Fraglich ist allerdings, ob darin auch schon Ansatzpunkte einer diachronen Solidarität anzutreffen sind, die aus der menschlichen Generativität hervorgehende Generationen davor bewahren könnte, sich in polemischen Auseinandersetzungen absurderweise nur noch gegeneinander behaupten zu wollen; absurderweise deshalb, weil sie dabei völlig zu ignorieren scheinen, dass verschiedene Generationen nur auseinander hervorgehen können. Tatsächlich sind Generationen niemals wirklich historische Subjekte derart polemischen Verhaltens. Dieser Anschein wird nur erweckt in Beschreibungen von Generationenverhältnissen, die weitgehend vergessen lassen, dass letztere in einer vorgängigen Generativität fundiert 565 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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sind 43, ohne deren solidarische politische Gestaltung sie überhaupt keinen Bestand haben können. Statt nun weiter an derartige polemische Beschreibungen anzuknüpfen, die den inneren Zusammenhang von Generativität und Generation ganz und gar verkennen lassen, frage ich im Folgenden, inwieweit wir in menschlicher Generativität möglicherweise auf Spuren einer intergenerationellen Solidarität stoßen, die sich bloß polemischen Generationenverhältnissen widersetzen müsste.

2.

Rückgang von der Generation auf die menschliche Generativität

Der Begriff der Generation leitet sich vom lateinischen generatio ab, das etymologisch von genesis (griech.) stammt, was in bezeichnender Vieldeutigkeit Entstehung, (Er-)Zeugung, auch Schöpfung bedeutet. 44 Normalerweise – von einer nicht zu verstehenden creatio ex nihilo abgesehen – handelt es sich um ein Schema dieser Art: x wird durch G zu z. Bei x und bei z muss es sich gemäß der im Okzident von den Griechen der Antike geerbten Ontologie um etwas handeln. Z ist im Vergleich zu x ›etwas anderes‹, möglicherweise sogar etwas ›ganz anderes‹ – zumindest morphologisch bzw. phänomenal. Durch G wird x in z überführt, verwandelt oder transformiert, ohne dass x und z einander äußerlich ähnlich sein müssten. (Man denke nur an die DNS, eine Säure, an die verschiedenen Phasen der Embryogenese und an das Kind, das schließlich aus ihr hervorgeht.) So kann es den Anschein haben, was entstanden, gezeugt, erzeugt und/oder geschaffen worden ist, habe nichts gemeinsam mit dem, woraus es entstanden ist. Radikal wird das der Fall sein, wenn es sich um eine veritable Schöpfung handelt, die z aus x wie aus Nichts hervorbringt. Ob es sich um einen Trick, um Zauberei und verblüffende Magie oder um ein zu bestaunendes, nur vorläufig noch nicht zu begreifendes Wunder handelt, bleibe dahingestellt. (Auch die kausale Abwicklung eines präformierten genetischen Programms kann als ein zu bestaunendes

So formuliert bereits E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, Den Haag 21962, S. 256; siehe auch ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921–1928. Husserliana XIV, Den Haag 1973, S. 171 f. 44 S. Weigel, Genea-Logik, München 2006, S. 11. 43

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Rückgang von der Generation auf die menschliche Generativität

Wunder erscheinen.) In jedem Falle bringt die Genesis oder Generation etwas anderes hervor; und zwar aus Anderem, das nachträglich die Frage aufwirft, wie es scheinbar aus eigener Kraft (unter geeigneten Umständen etc.) etwas aus sich hervorgehen lassen konnte, das ihm am Ende gar nicht mehr ähnlich sieht, so dass wir darüber nur staunen können. In diesem Sinne schreibt der französische Molekularbiologe François Jacob in seinem Bericht über den Stand der modernen Genforschung: »Die geschlechtliche Fortpflanzung ist letztlich eine Maschine zur Erzeugung von Anderem. Anderem als die Eltern. Anderem als alle Individuen der Gattung.« 45 Bringt auch die menschliche Generativität aber nur etwas anderes hervor? Geht nicht aus dem seit Mitte der 1950er Jahre bekannten, DNS genannten Substrat infolge hochkomplizierter epigenetischer Prozesse über ein körperlich voll entwickeltes Lebewesen (also ›etwas‹) hinaus jemand hervor: eine Andere oder ein Anderer, der bzw. die sich ontologisch überhaupt nicht (zureichend) als ›etwas‹ begreifen lässt? Nach jemand anderem fragen wir primär nicht mit der Frage, was er sei, sondern wer er sei. Und diese Frage zielt auf den Anderen als Selbst, nicht auf die Selbigkeit von etwas. Doch kann es die Selbstheit von jemandem nicht allein auf der Basis der Selbigkeit eines biologischen Substrats geben, das es wenigstens zulassen muss, dass sich aus etwas (DNS, Zellhaufen, Prä-Embryo etc.) jemand ›entwickelt‹ ? Wie das geschehen kann, ist bis heute ein Rätsel. Gleichwohl kursiert die Vorstellung, man könnte eines Tages in unsere Biologie derart eingreifen, dass es möglich wird, Andere vorzuprogrammieren – vorausgesetzt, in biologischer Substanz steht quasi wie in einem redigierbaren Buch geschrieben, was und wer aus ihr hervorgehen soll. 46 Dagegen wurde schon häufig eingewandt: jeder von uns sei als personales Wesen, als psychisches Individuum oder als einzigartiges Selbst überhaupt nicht nach dem Vorbild der Selbigkeit, der Reproduktion und der Reidentifizierbarkeit von etwas zu verstehen, insofern wir auf der Grundlage von etwas, nämlich unseres Körpers, nicht nur etwas anderes und anders, sondern jemand anders bzw. Andere geworden seien, deren nur im Verhältnis zu Anderen zu begreifende 45 F. Jacob, Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genforschung, Berlin 1998, S. 136. Ich komme darauf zurück. Siehe auch S. 481 in Bd. I. 46 H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1986; L. E. Kay, Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code?, Frankfurt/M. 2005.

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Anderheit sich überhaupt nicht darauf reduzieren lässt, was wir sind und woraus wir biologisch hervorgegangen sind. Demnach wird in ontogenetischen Prozessen aus etwas (x) etwas radikal anderes (z), nämlich jemand, der gar nicht (zumindest nicht ›zureichend‹) als etwas fassbar ist. Darüber hinaus ist nicht nur jeder in unbestimmter Weise ›jemand anderes‹, sondern ein Anderer in dem starken Sinne, den die Alteritätsphilosophie des 20. Jahrhunderts diesem Begriff beilegt. Demnach ist jeder nicht nur irgendwie und vergleichsweise ›anders‹ 47, sondern in unaufhebbarer Art und Weise ein(e) Andere(r) – auch im Verhältnis zu sich selbst. Jedes Selbst ist ein Anderer (autre), heißt es deshalb bei Paul Ricœur. 48 Und niemand ist nur der Andere anderer, insistiert darüber hinaus Jacques Derrida antidialektisch. 49 Viele Autoren haben herauszuarbeiten versucht, warum es sich so verhält: jemand, auf den wir uns mit der Wer-Frage beziehen, ist eine Person, ein Selbst, eine Andere bzw. ein Anderer, der oder die aus sich heraus lebt: und zwar so, dass die Betreffenden selbsthaft und geschichtlich existieren, ohne einfach reidentifizierbar zu sein wie Dinge, die sich gleich bleiben und als verschiedene vergleichbar sind. Wie es möglich ist, dass ein biologisches Substrat etwas derart anderes hervorbringt (ein menschliches Selbst, das geschichtlich existiert, nichts bloß Selbiges, das man gemäß äußerlicher Kriterien wieder erkennen kann usw.), wird noch lange ein Rätsel oder Geheimnis bleiben, so dass wir zwar sagen können: aus einem biologischen Substrat geht ein Anderer hervor; aber wir wissen nicht im Geringsten, wie aus etwas jemand anderes oder ein Anderer werden kann – »an other that is not mine, my hôte, my other, not even my neighbor or my brother« 50 oder ›mein‹/›unser‹ Kind, ›mein‹/›unser‹ Sohn, ›meine‹/›unsere‹ Tochter. Bislang kommt die Entstehung (genesis, generatio) von Anderen insofern einem Wunder gleich, auch wenn man an dieser Stelle nicht von Schöpfung (ex nihilo) sprechen möchte. Noch erstaunlicher verhält es sich, wenn man bedenkt, dass auch das biologische Substrat seinerseits aus Anderen hervorgegangen ist, nämlich aus der normalerweise heterosexuellen Vereinigung von Vgl. dazu die Kap. VIII und XXI. Dem im Übrigen alles daran liegt, Selbstheit und Selbigkeit miteinander verschränkt zu denken, was hier nicht im Einzelnen nachzuvollziehen ist. P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996. 49 Derrida, »Hostipitality«, S. 362. 50 Ebd., S. 363. 47 48

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Eltern. Sie zeugen als im Verhältnis zueinander Andere etwas, das auf vollkommen rätselhafte und geheimnisvolle Art und Weise jemand anderes, einen Anderen oder eine Andere zeitigen kann. Es stimmt demnach nicht ganz, was man unter Berufung auf Aristoteles seit Jahrtausenden kolportiert: dass »der Mensch einen Menschen zeugt«. 51 Zwei, die füreinander Andere sind, zeugen vielmehr ein(e) Dritte(n) vermittels eines biologischen Substrats, das nur etwas ist, aber auf unvorhersehbare Art und Weise (keineswegs ganz allein aus sich selbst, sondern dank der Fürsorge Anderer) jemanden aus sich hervorgehen lässt. So ›entstehen‹ künftige Andere indirekt aus Anderen, die ihnen vorausgehen und die sie überleben müssen, wenn nicht äußere Gewalt oder Krankheiten und Tod die Reihenfolge durcheinanderbringt, so dass »zuerst weggeht, wer zuletzt gekommen war« (Francesco Petrarca). 52 So ist es wohl zu verstehen, was Alfred Schütz in einer Arbeitsnotiz des Jahres 1958 schrieb: »In der Problematik des Überlebens […] des Anderen dürfte die phänomenologische Aufklärung des Generationenproblems zu suchen sein.« 53 Doch worin liegt diese »Problematik« bzw. dieses »Problem« genau? Gewiss nicht allein in der Frage, ob der Andere überhaupt überlebt (länger lebt, Krankheiten und Gewalt wie auch immer übersteht und in diesem Sinne bis auf weiteres davonkommt). Würde sich die Frage des Überlebens darauf reduzieren, so würde es vollkommen ausreichen, sie unter Hinweis auf unterschiedlich lange, nur teilweise parallele Lebenszeiten von Individuen zu beantworten, die auseinander hervorgegangen sind und infolgedessen nacheinander leben. Dafür würde ein linearer, chronologischer Zeitbegriff ausreichen, mit dessen Hilfe man Zeitpunkte (Geburt und Tod) sowie Zeitstrecken einander zuordnen könnte, um zu bestimmen, wer wen wie lange überlebt. 54 Mittels eines solchen Zeitbegriffs ist nun aber gerade nicht zu klären, was es bedeutet, dass die fraglichen Wesen auseinander hervorgegangen sind – sei es physisch, sozial und kulturell (a) durch ReK. Oehler, Ein Mensch zeugt einen Menschen, Frankfurt/M. 1963. F. Petrarca, »Brief an Giovanni Boccaccio«, in: J. v. Stackelberg (Hg.), Humanistische Geisteswelt. Von Karl dem Großen bis Philip Sidney, Baden-Baden 1956, S. 117– 134, hier: S. 121. 53 A. Schütz, »Viertes Notizbuch aus Minnewaska – New York, 26. 10.–9. 11. 1958«, in: ders., T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt/M. 1984, S. 343– 381, hier: S. 343. 54 Vgl. W. Kaempfer, Die Zeit und die Uhren, Frankfurt/M. 1991, S. 83. 51 52

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produktion, die etwas Vorheriges bloß wiederholt 55, sei es (b) durch évolution créatrice, die das aus ihr Entstandene als auf die Bedingungen seines Entstehens irreduzibel erscheinen lässt und insofern etwas Neues zeitigt, sei es (c) auf dem Wege einer generativen Filiation von Anderen 56, die nur auf geschichtliche Art und Weise, d. h. nur nachträglich realisieren können, wer (nicht: was) sie sind im Verhältnis zu Anderen, die ihnen vorausgegangen sind und sie zur Welt kommen ließen. Im Gegensatz zur Reproduktion und Evolution von etwas, das als Selbiges einfach vor oder nach anderem chronologisch einzuordnen ist, kann sich der Sinn einer Filiation nur im geschichtlichen Leben Anderer erweisen, die als solche rückfragen werden, wie es möglich und zu verantworten war, dass (und wie) man sie hat zur Welt kommen lassen. Emmanuel Levinas bezeichnet das als den »grand scandale de la condition humaine«: »que nous n’avons pas choisi notre naissance« 57; und er bringt diese Erfahrung mit Heideggers »Geworfenheit« in Verbindung (TU, S. 203, 209). Wir sind aber nicht in die Welt geworfen, sondern geboren worden, wie man u. a. mit Berufung auf Hannah Arendt immer wieder gegen Heidegger eingewandt hat. Im Lichte dieses elementarsten Befundes, den all unser späteres Leben voraussetzt, zieht die Erfahrung der Kontingenz des eigenen Daseins Fragen an die Adresse Anderer nach sich, deren Generativität die Verantwortung für das Leben bedeutet, das aus ihr hervorgehen wird. Wie auch immer unser individuelles Leben als kontingent, unbegründet bzw. grundlos und sogar als beliebig und insofern als geradezu willkürlich in die Welt geworfen erfahren werden mag: die kausale und ethische Verantwortung für sein Dasein liegt direkt bei jenen, ohne deren Generativität es nicht ›da‹ wäre. Niemand anderem hat es sein Leben zu ›verdanken‹ als eben jenen, aus denen es hervorgegangen ist, ohne dass es dafür je zureichende Ursachen oder Gründe geben könnte. Weder lässt sich das Dasein von Nachkommen J. Starobinski, Aktion und Reaktion. Leben und Abenteuer eines Begriffspaares, Frankfurt/M. 2003, S. 63, 75. 56 E. Levinas, Carnets de captivité. Œuvres 1, Paris 2009. Noch auf den Spuren von Henri Bergson versucht der frühe Levinas, die Zeitlichkeit der Filiation als eine Form der Dauer (durée) zu deuten; ebd., S. 175, 218 f., 265. Später tritt an die Stelle der Dauer die Diachronie, die ohne eine Unterbrechung generativer Zeitlichkeit nicht zu denken ist. Vgl. E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 414 (= TU). 57 E. Levinas, Parole et silence. Œuvres 2, Paris 2009, S. 109, 156. 55

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Rückgang von der Generation auf die menschliche Generativität

lückenlos kausal aus dem Leben sogenannter Erzeuger ableiten, noch findet es in diesem Leben wenigstens nachträglich zureichende Gründe. Unvermeidlich unzureichend ›begründet‹ 58, muss es deshalb die erst in seinem späteren Leben auftauchende Frage aufwerfen, warum, wie und mit welchen Folgen man es hat ungefragt zur Welt kommen lassen. Daraus ergab sich für Kant unmittelbar die Forderung, Nachkommen so gut wie möglich genau damit »zufrieden« zu machen. 59 Der englische Utilitarist John Stuart Mill ging noch einen Schritt weiter und bezeichnete es als moralisches Verbrechen, »wenn jemand ein Kind in die Welt gesetzt und doch nicht imstande ist, Nahrung für den Leib und Unterweisung und Ausbildung für die Seele zu bieten«. Notfalls müsse der Staat ersatzweise einspringen und die Erziehung »auf Kosten der Eltern« übernehmen. 60 Für Kant war klar, dass sich aus der Kontingenz eines niemals zureichend zu begründenden Lebens von Nachkommen direkt die Pflicht ergeben muss, für ihr Leben angemessen zu sorgen. Das ist man – allen voran diejenigen, die die Existenz von Nachkommen unmittelbar zu verantworten haben – ihnen schuldig; und die entsprechende Verantwortung erstreckt sich weit über die ersten Jahre der Fürsorge für sie hinaus – bis in das eigene, selbst gelebte Leben künftiger Anderer hinein, in dem die Frage, ob sie mit ihrem nicht-notwendigen Dasein »zufrieden« oder ausgesöhnt sein können, für unabsehbare Zeit dahinstehen wird. Bis zu ihrem Tod und den Umständen seines Eintretens werden die Nachkommen diese Frage nicht endgültig beantworten können. Niemand kann vor seinem Tod ›endgültig‹ glücklich genannt werden, zitierte schon Aristoteles ein Diktum Solons. 61 So wird auch niemand vor seinem Tod ›in letzter Instanz‹ sagen können, ob er oder sie das ihm/ihr zugemutete Leben nicht im Nachhinein zurückweisen und verwerfen muss. Kriege, Völkermorde, Vergewaltigung und Folter drohen vielerorts bis zum Schluss. Prinzipiell bleibt jeder bis in den Tod hinein einer Gewalt ausgesetzt, die jedes Versprechen Anderer, Nachkommen mit ihrem weltlichen Dasein zufrieden zu machen oder auszusöhnen, als übermäßig, fahrlässig und von vornherein unglaubwürdig erscheinen lassen kann. Die »Problematik des Überlebens« (A. Schütz) liegt so ge58 59 60 61

R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch, Reinbek 1983, S. 35, 133 ff. Kant, Die Metaphysik der Sitten, WA VIII, S. 394. J. S. Mill, Über die Freiheit, Leipzig, Weimar 1991, S. 142. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, Abschnitt 11.

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XV · Generativität, Generationen und intergenerationelle Solidarität

sehen gewiss nicht allein darin, ob Andere überhaupt überleben bzw. vorläufig nicht umkommen, sondern darüber hinaus darin, ob und wie sie ihr Leben, das sie Anderen zu verdanken haben, überhaupt als ›lebbar‹, ›annehmbar‹ und ›bejahbar‹ erfahren können. Nichts davon steht in der Macht derer, die dieses Leben als erzeugtes zu verantworten haben. Ob ihr Versprechen im Geringsten als glaubwürdiges bzw. später als wirklich gehaltenes gelten kann, wird allein von denjenigen zu beantworten sein, deren unvermeidlich unzureichend ›begründetes‹ Dasein allerdings niemals ohne dieses Versprechen und seine wie auch immer prekäre Einlösung als wirklich lebbar, annehmbar und bejahbar zu erfahren ist. Dieses Versprechen müssen diejenigen wenigstens implizit geben, die für die Existenz von Nachkommen verantwortlich sind. In der Schuld, für dieses Versprechen zu bürgen, stehen grundsätzlich alle, die ungefragte Neugeborene bei sich aufnehmen, welche ihrerseits niemandem ›Schuld geben‹ oder zur Verantwortung für sie aufrufen können. Als infans bestimmt vielmehr gerade das sprachlose Kind Andere zu einem Leben, das ihm gerecht zu werden versprechen muss. Es begegnet uns nicht zuerst als ethisches Nichts, das dann im Nachhinein die Frage aufwerfen würde, ob man ihm gegenüber irgendwelche Pflichten oder eine gewisse Verantwortung ›hat‹. Genauso wenig steht von Anfang an fest, was genau man ihm schuldet. Generatives Leben, so wie wir es kennen, lässt sich nur nicht denken ohne die radikale Frage, was wir ohne vorherige Einwilligung »auf die Welt herübergezogenen« Anderen schulden. 62 Wer nicht wenigstens in der Schuld dieser Infragestellung steht, den wird weder eine moralische Deontologie noch eine Ethik der Verantwortung dazu bewegen, generatives Leben als ein von Anfang an gegenüber Anderen, die zur Welt kommen, wenigstens nicht indifferentes anzuerkennen. Nach dem Gesagten liegt die »Problematik des Überlebens« also zunächst in dessen Nicht-Indifferenz, die sich von Anfang an die Frage zuzieht, wie man Andere mit ihrem notorisch unzureichend begründeten Leben aussöhnt und was man ihnen schuldet bzw. was man ihnen versprechen muss, soll sich ihnen ihr Leben später als wirklich lebbares, annehmbares und bejahbares darstellen können. Jedes Versprechen, in diesem Sinne für sie zu sorgen, muss sich allerdings auf eine unabsehbare Zukunft hin öffnen, in der es auch von Dritten abhängen wird, ob es zu halten sein wird. Nicht zuletzt ist 62

Zu diesem Begriff des Schuldens vgl. das Kap. XXV.

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Rückgang von der Generation auf die menschliche Generativität

dieses Versprechen auf den Kontext einer liberalen, demokratischen Lebensform angewiesen, die institutionalisierte Rahmenbedingungen eines freien und möglichst gerecht geregelten Lebens unter Gleichen bereitstellt – Bedingungen mithin, die niemand allein aus eigener Kraft garantieren oder gar ohne weiteres neu erzeugen kann, derart anspruchsvoll sind die geschichtlichen Voraussetzungen der Institutionalisierung einer solchen Lebensform, die zwar schnell zerstört, aber allenfalls mit der Mühe mehrerer Generationen wieder aufgebaut werden kann. Menschliche Generativität, aus der verschiedene Generationen hervorgehen, erschöpft sich so gesehen keineswegs in familialen Verhältnissen der Mutter-, Vater- und Kindschaft. Was der tschechische Phänomenologe Jan Patočka »Generationszusammenhang der Filiation« genannt hat 63, reduziert sich weder auf eine bloße Reproduktion von Eltern in der Form von Nachkommen bzw. in einer Wiederholung des Selben (etwa ihres »Erbguts«) noch auch in einer Transsubstantiation, die, wenn es nach Levinas geht 64, Andere unvermittelt aus Anderen hervorgehen lässt, ohne sich dabei auf die Selbigkeit irgend eines Substrates oder auf eine Selbstheit zu stützen, die sich im Modus der Narrativität und der Selbst-Bezeugung geschichtlich zu Anderen verhalten könnte. 65 Ein solcher Zusammenhang lässt auch nicht ganz und gar kontextlos und geschichtslos künftige Andere (Töchter, Söhne) aus Anderen (Eltern) hervorgehen, wie es immer wieder bei Levinas den Anschein hat, der sich nirgends terminologisch eines Begriffs wie Lebensform bedient. 66 Ein generativer Zusammenhang zwischen Eltern und Kindern muss aber eine familiale oder quasi-familiale Form gemeinsam geteilten Lebens annehmen, um sich als verlässlich erweisen zu können, d. h. um gewährleisten zu können, was ein solcher Zusammenhang ›versprechen‹ muss, nämlich ungefragten Nachkommen Spielräume eines für sie wirklich lebbaren, annehmbaren und womöglich zu bejahenden Lebens zu eröffnen und dauerhaft zu sichern. Dieses Versprechen ist überdies (wenn überhaupt) nur zu halten, wenn familiale und quasi-familiale Lebensformen strukturell in eine freiheitliche demokratische LebensJ. Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1988, S. 44. Levinas, Parole et silence, S. 317. 65 Zu diesen beiden Modi des Selbstseins vgl. Vf., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012. 66 Allerdings sind Levinas’ Überlegungen zur Ökonomie einer Bleibe (demeure) in diesem Zusammenhang nicht zu übersehen. 63 64

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form eingebettet sind, deren institutionelle und öffentliche Grundstruktur sie nicht aus eigener Kraft schaffen können, auf die sie sich vielmehr umwillen solcher Spielräume verlassen müssen. Das hat Levinas kaum im Blick, wo er einen familialen Generationszusammenhang der Filiation unter dem Aspekt seiner Fruchtbarkeit (fécondité) zur Sprache bringt (TU, S. 390 ff.). Allenfalls en passant verknüpft er sie mit Überlegungen zur politischen und geschichtlichen Struktur menschlicher Lebensformen. Weit mehr zeigt er sich an einer »erotischen« Fundierung menschlicher Generativität interessiert, die sich, wie er meint, auf die nicht antizipierbare Diachronie einer Zeit des Anderen hin öffnen muss, der aus ihr hervorgeht. In dieser Diachronie haben Eltern ein »anderes Schicksal« (TU, S. 411), dem sie in keiner Weise vorgreifen können und das sich normalerweise erst erfüllt, wenn sie nicht mehr leben, d. h. wenn die Quelle ihres Lebens versiegt ist. Auf diese Weise verschränkt sich die geschlechtliche Alterität von Müttern und Vätern in ihren Verhältnissen zu einander 67 mit der unaufhebbaren geschichtlichen Alterität, die sie einer Diachronie überantwortet, in der sich das Leben Dritter, ihrer Kinder nämlich, entfaltet, die ihrerseits in generativer Alterität als radikal Andere und nicht als bloße Reproduktionen ihrer ›Erzeuger‹ aus diesen hervorgehen. Levinas spricht in diesem Zusammenhang von einer Veranderung (altération 68), die er »durch die Diskontinuität der Generationen hindurch« geradewegs in eine »unendliche Zeit«, in die »Zeit des absolut Anderen«, münden sieht. Auf diese Weise droht seine phänomenologische Sozialphilosophie, die allenfalls von einem radikal Anderen, niemals aber von einem absolut oder »ganz Anderen« handeln kann, nicht nur in Theologie umzuschlagen; sie überspringt auch den historischen Begriff der Generation, ohne den man nicht auskommt, wenn man verstehen möchte, Levinas beschreibt diese Verhältnisse nicht nur als reziprok asymmetrische, sondern so, dass die vorrangige Alterität immer die des Weiblichen zu sein scheint. Zunächst heißt es: »das absolut Andere ist der Andere«; dann aber soll »der Andere […] die Frau« sein (TU, S. 44, 222). Dagegen wird die Generativität praktisch nur im Sinne der Vaterschaft gedeutet, in der nur »der Sohn« zur Sprache kommt (ebd., S. 310, 364). Infolgedessen kann Levinas aber die Alterität der (weiblichen) Anderen nicht nutzen, um die generative Alterität verständlich zu machen, die er immer wieder anhand des Vater:Sohn-Verhältnisses erläutert. Die Frage, wie der Mann bzw. der Vater Anderer für die Andere, die Frau bzw. Mutter, sein kann, bleibt auf diese Weise ebenso offen wie die Verschränkung geschlechtlicher Differenz mit generativer Differenz (Vater:Tochter; Mutter:Sohn). 68 Levinas, TU, S. 394; Totalité et infini. Essai sur l’extériorité, Haag 1971, S. 301. 67

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Rückgang von der Generation auf die menschliche Generativität

wie das in sozialer Filiation und Fruchtbarkeit liegende Versprechen auf Horizonte künftiger Zeit verweist, in denen diejenigen, ›die nach uns kommen‹, wie man sagt, darauf angewiesen sein werden, Bedingungen eines für sie lebbaren, annehmbaren und zu bejahenden Lebens anzutreffen. An der Frage, wie dieser Zusammenhang genau zu verstehen ist, scheiden sich allerdings die Geister. Aus dem kaum zu bestreitenden Angewiesensein künftig Lebender auf solche Lebensbedingungen folgt ohne weiteres und mindestens, dass diese nicht im Vorhinein aufs Spiel gesetzt oder gar ruiniert werden sollten. Handelt es sich hier aber um ein deontologisches Sollen, d. h. um eine Pflicht? Wenn ja, wer ›hat‹ sie wem gegenüber? Und warum eigentlich? Und wie weit reicht sie? Folgt etwa aus der menschlichen Generativität eine Verantwortung oder Verpflichtung künftigen Generationen gegenüber, wie es oft in bezeichnender Unbestimmtheit heißt? Gestattet die Allgemeinheit dieses oft beschworenen Zusammenhangs überhaupt eine gewisse Konkretisierung? 69 Muss es sich, wenn die Reichweite dieses Begriffs nicht bestimmt wird, bei ›künftigen Generationen‹ nicht letztlich um alle Menschen (und sogar um post-humane, von Menschen selbst hervorgebrachte und sie eines Tages vielleicht hinter sich lassende Lebewesen) handeln, die auf der Erde noch leben werden? Kann jetzige Verantwortung oder Verpflichtung, die ›wir‹ allen noch Ungeborenen schuldig wären, wirklich so weit reichen? Wie können wir überhaupt noch nicht bereits Existierenden gegenüber in einer gewissen Schuld stehen? Und wer ist ›wir‹ ? Handelt es sich ohne Einschränkung um alle, die jetzt leben, einschließlich derer, die gar keine Nachkommen haben oder haben wollen – etwa deswegen, weil sie die Aussicht auf eine wie bisher weitergehende Gattungsgeschichte mit Schrecken erfüllt, den sie gewiss keinen Nachkommen zumuten wollen? 70 Was geht sie das Schicksal derer an, die Andere ungefragt zur Welt kommen lassen, ganz gleich, wie schlecht es um deren Überlebensmöglichkeiten bestellt ist? Vor allem an Levinas anschließendes sozialphänomenologisches Denken hat sich derart auf das Geschehen der geschlechtlichen und

69 Vgl. dazu exemplarisch D. Birnbacher, Verantwortung für künftige Generationen, Stuttgart 1988; C. Lienkamp, »Menschenrechte zukünftiger Generationen?«, in: fiphJournal 16 (2010), S. 1, 3–4. 70 Vgl. U. Horstmann, Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Wien, Berlin 1983.

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generativen inneren Veranderung von Generationenverhältnissen durch die menschliche Generativität selbst konzentriert, dass es Gefahr läuft, den Begriff der Generation um sein historisches Profil zu bringen; mit der Folge, dass ihm auch künftige Generationen kaum in den Blick kommen. Dabei ist der im 18. Jahrhundert eingedeutschte lateinische Begriff generatio schon früh historisch aufgefasst worden. So fragte sich der Religionsphilosoph und Pädagoge Friedrich D. E. Schleiermacher, was eine Generation mit der nächsten erzieherisch anfangen will. 71 In der Kunstgeschichte (Wilhelm Pinder), in der Soziologie (Karl Mannheim) und schließlich in der Sozialphänomenologie (Alfred Schütz) ist der Begriff Anfang des 20. Jahrhunderts längst etabliert und dient zur Explikation der Grundstrukturen historischer Zeiten, die unzählige Individuen gemeinsam durchleben. Darunter auch solche, die paradoxerweise wie die Generation der Futuristen jegliche sie bindende Überlieferung wie eine lästige Last abwerfen wollen und sich zu einer geschichtlich rückhalt- und rücksichtslosen Freiheit bekennen. Die Exzesse einer derart aufgefassten Freiheit bedeuteten aber keinen Fortschritt, wie ihn die Futuristen erwarteten, sondern mussten sich gegen die künftig Lebenden kehren. Unverkennbar ist das dort geschehen, wo atomare und chemische Verseuchung auf Jahre hinaus ganze Ökologien unbewohnbar gemacht und diejenigen, die sie aus Gründen der Armut oder mangelnder praktischer Alternativen nicht verlassen konnten, dazu verurteilt hat, für unabsehbare Zeit unter ihnen zu leiden. Das zeigte sich in Hiroshima und Nagasaki, im mit Entlaubungskampfmitteln wie Agent Orange bis heute verseuchten Vietnam, im radioaktiv verstrahlten ukrainischen Tschernobyl und in Fukushima, so dass sich unvermeidlich die Frage stellt, wie ein Leben zu beurteilen ist, das für Andere, gleichzeitig oder später Lebende in erwartbarer Art und Weise solche Folgen hat bzw. haben kann und mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit solche Folgen in Zukunft haben wird. Von den entsprechenden technischen Erfindungen an über deren technologische Implementierung ohne oder mit bewusster Technikfolgenabschätzung, Risiko- und Gefahrenanalyse bis hin zu weltweit und zukünftig erwartbaren, womöglich irreversiblen Wirkungen erstrecken sich sowohl räumlich als auch zeitlich unermessliche Horizonte menschlicher Verantwortung, in denen sie früher 71 F. Schleiermacher, »Vorlesungen aus dem Jahre 1828«, in: Pädagogische Schriften, Bd. 1, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1983, S. 1–406, hier: S. 9.

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Menschliche Generativität als Archetyp

oder später jegliche konkretisierbare Struktur einbüßt. So wird die enorme Halbwertszeit nuklearer Abfallprodukte, die weltweit hunderte von Atommeilern hinterlassen werden, ohne dass die Frage der Endlagerung auch nur annähernd als geklärt gelten dürfte, noch Jahrtausende für die menschliche Gattung ein außerordentliches Problem bleiben (vorausgesetzt, sie existiert dann noch), nachdem längst alle im engeren Sinne Verantwortlichen das Zeitliche gesegnet haben. So reicht die Verantwortung in temporale Horizonte hinein, in denen niemand mehr da sein wird, der etwas zu verantworten hat, so dass jegliche nachträgliche Zurechnung ins Leere läuft: einst Verantwortliche werden sich vor niemandem mehr verantworten müssen. Und die Rückfrage, ob sie sich zuvor je für etwas oder jemanden verantwortlich gefühlt haben, wird keinen Adressaten mehr haben, so dass sich jegliche konkrete Struktur der Verantwortung auflöst. 72 So liegt es nahe, die Frage nach ihrem Zukunftsbezug von dort her aufzuwerfen, wo er in konkretester Art und Weise originär ins Spiel kommt. Und das ist selbst für Philosophen wie Hans Jonas, die von unserer Verantwortung für das künftige Dasein der menschlichen Gattung selbst in fernster Zukunft überzeugt sind, nichts anderes als die Erfahrung der Elternschaft bzw. menschlicher Generativität. 73

3.

Menschliche Generativität als Archetyp eines verantwortlichen/solidarischen Verhältnisses zwischen Generationen?

Hans Jonas rekurriert auf das Paradigma der elterlichen Verantwortung im Rahmen einer ontologischen Verantwortung für künftiges menschliches Dasein, um zu klären, wie diese sich in die Zukunft hinein erstreckt. Wir haben aber keine Verpflichtung im Hinblick auf künftige Mitglieder der menschlichen Gattung, die deren Dasein für alle Fälle sicherzustellen hätte. Umgekehrt: wenn sie schon da sind oder feststeht, dass sie künftig da sein werden, erscheint es als unverantwortlich, sich nicht darum zu scheren, ob sie Bedingungen

Antizipierbar ist allerdings die Fassungslosigkeit künftig Lebender angesichts dieser Lage, wenn sie realisieren müssen, dass man ihnen etwa nicht zu verantwortende, aber konkret absehbare Folgen ökologisch ruinösen Wirtschaftens zugemutet hat. 73 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 31982, S. 88–91, 234–241. 72

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eines für sie lebbaren Lebens antreffen werden. Sich nicht darum scheren heißt: zu glauben, ihnen nichts schuldig zu sein, nicht einmal elementare Bedingungen eines für sie ›akzeptablen‹ bzw. ›lebbaren‹ Lebens und nicht einmal die Frage, ob man ihnen irgendetwas schuldig ist und was gegebenenfalls genau. Für Jonas handelt es sich bei elterlicher Verantwortung um deren eigentlichen Archetyp bzw. um deren »zeitloses Urbild«, nicht nur um ein Paradigma. Mit »unmittelbarer Evidenz« geht demnach vom Sein des Kindes ein ihm immanenter Anspruch aus, der seinen Adressaten in ein »unwidersprechliches« Antwortverhältnis zu ihm versetzt. Dieser Anspruch impliziere ein Sollen, nämlich dem Dasein des Kindes verantwortlich gerecht zu werden. Die in diesem Sinne übernommene Verantwortung ist die praktische Antwort, nach der jener Anspruch verlangt, den Jonas wiederum als »innere[s] Recht des Gegenstandes« der Verantwortung begreift. 74 Sein und Sollen fallen hier insofern zusammen, als es laut Jonas genügt, hinzusehen, um zu wissen, dass man sich speziell des Neugeborenen annehmen soll. In seinem bloßen Dasein soll schon diese Aufforderung liegen, ohne allerdings an jemanden im Besonderen gerichtet zu sein und ohne anzuweisen, was denn konkret zu tun ist, um das Neugeborene »anzunehmen«. Wer sich im Anspruch des Kindes ›gemeint‹ glaubt, so dass er zu einer verbindlichen Aufforderung wird, und was dem entsprechend zu tun ist, sind gegenüber dem Anspruch selbst sekundäre Fragen. Dieser kann, wie auch Jonas weiß, »auf Taubheit stoßen«, ignoriert und auch rigoros zurückgewiesen werden, wie es bei manchen Formen der Kindstötung und der Aussetzung der Fall ist. Aber »an der Unwidersprechlichkeit des Anspruchs als solchen und seiner unmittelbaren Evidenz ändert dies nichts«. 75 Es handelt sich auch weder um eine Bitte an die Umwelt (›nehmt euch meiner an‹), denn der Säugling kann noch nicht sprechen, noch auch um eine Frage familialer Liebe und Verwandtschaft. 76 Im schieren Dasein des auf die Verantwortung Anderer Angewiesenen allein liegt, dass diese, wer auch immer sie seien, sich den Anspruch zuziehen, sich des NeuEbd., S. 234. Ebd., S. 235. 76 Nicht weil wir generative Wesen sind und Nachkommen zeugen, sind wir demnach im engen Generationszusammenhang einer leiblichen Filiation verantwortlich; vielmehr verhält es sich umgekehrt: Verantwortung bestimmt uns in einem solchen Zusammenhang zur Fürsorge; und zwar auch dann, wenn keine leibliche Verwandtschaft vorliegt. 74 75

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Menschliche Generativität als Archetyp

geborenen anzunehmen. Dazu müssen sie es weder selbst gezeugt haben noch verwandt mit ihm sein oder es lieben, wie und aus welchen Gründen auch immer. 77 Der seinsimmanente Imperativ, als den Jonas den Anspruch des Säuglings auffasst, bedeutet rein ethisch: nimm dich meiner an. 78 Dass dieser Anspruch normalerweise primär die Eltern betrifft, versteht sich für ihn von selbst. Grundsätzlich liegt ein solcher Anspruch aber auch dann vor, wenn irgendjemand zufällig auf ein ausgesetztes, sich selbst überlassenes (oder unbegleitet auf der Flucht befindliches) Kind trifft, um es dann in die Obhut Dritter zu geben, die sich dann ebenfalls dessen Anspruch zuziehen. (Man denke an sog. »Babyklappen«, wo Säuglinge anonym abgegeben werden können, aber auch an Auffanglager für Minderjährige, die aus Afrika oder aus dem Nahen und Mittleren Osten die Flucht nach Europa gewagt haben.) Jonas argumentiert ausdrücklich nicht von einer von irgendwo her vorgegebenen Norm allgemeiner Verantwortung her, die im ›Einzelfall‹ nach einer Konkretisierung verlangt. Und er spricht ausdrücklich nicht von einer »Beurteilung der Würdigkeit« des Neugeborenen, die es gegebenenfalls erst zu rechtfertigen hätte, dass man sich um es kümmert. Vielmehr handelt es sich um dieses Kind in seiner absolut kontingenten Einzigkeit. Sie allein soll genügen, um vor jeglicher Beurteilung oder Wertschätzung, vor jeglichem Vergleich mit dem Schicksal Anderer und unabhängig von jeglichem Vertrag Andere zur Verantwortung zu bestimmen für ein Wesen, das in seiner gegenwärtigen Faktizität in äußerster Fragilität begegnet. Fragilität bedeutet: das Kind ist rückhaltlos nicht nur der Vergänglichkeit anheimgegeben, sondern auch »vom Verderb bedrohtes Sein«; und zwar derart, dass es von unabweisbarer Dringlichkeit ist, sich bei Bedarf sofort und darüber hinaus auch verlässlich um es zu kümmern. Ermangelt es dauerhaft übernommener Verantwortung, so kann das Kind nicht überleben. Doch geht die Verantwortung weit über die Sicherstellung physischen Überlebens hinaus. Sie muss versprechen, das betreffende Kind so weit wie nur möglich vor Gewalt in Schutz zu nehmen, es sozial zu fördern und zu stärken, um ihm einen individuellen Lebensweg zu eröffnen, auf dem sich zeigen wird, dass es sich nicht als bloße Reproduktion von etwas Anderem oder als Wiederholung des DaVgl. Marion, Das Erotische, § 39. H. Jonas spricht in Dem bösen Ende näher (Frankfurt/M. 1993, S. 73) auch von einer »Urschuld«.

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seins substituierbarer Erzeuger verstehen lässt, sondern gerade als Anderes, das anderswohin aufbricht, wohin auch immer. Die archetypische Verantwortung wird nicht für etwas Selbiges, das man reidentifizieren und reproduzieren kann, sondern für ein künftiges Selbst übernommen, d. h. für das Leben eines bzw. einer Anderen, die oder der selbst herausfinden muss, wie dieses Leben in seinem Fall überhaupt ›lebbar‹ sein kann. Die Verantwortung, die uns das neugeborene Kind ›gibt‹ und uns dazu bestimmt, sich seiner anzunehmen, kann ihrerseits allenfalls versprechen, im Rahmen des Möglichen (sozialer, politischer und ökonomischer Randbedingungen) alles dafür zu tun, dass es ein eigenes Leben überhaupt beginnen und fortsetzen kann. Doch riskiert dieses Versprechen nicht nur von Anfang an, aufgrund seiner Übermäßigkeit gebrochen zu werden (und infolgedessen im Nachhinein als unglaubwürdig zu erscheinen, da es auf die politische Verlässlichkeit eines institutionellen Rahmens gemeinsam geteilten Lebens zählen muss, für die es selbst niemals zureichend bürgen kann); es bezieht sich auch auf die Zukunft eines/r Anderen, die es überhaupt nicht zu antizipieren vermag. Das betrifft nicht nur die Trivialität einer im Einzelnen unvorhersehbaren Zukunft, sondern auch die Tatsache, dass das Kind seinerseits ein generatives Wesen ist, aus dem wiederum ›Andere‹ hervorgehen können, die es in die gleiche Intrige 79 der Verantwortung verstricken und infolgedessen die Frage aufwerfen werden, ob das Versprechen zu halten sein wird, das in übernommener Verantwortung liegt. Als ein solches generatives Wesen ist das Kind eines, aus dem wiederum künftige Andere hervorgehen können, die ihrerseits eine generative, nicht vorwegzunehmende Zukunft mit sich bringen. Hierbei handelt es sich keineswegs nur um eine kognitive Iteration generativer Relationen, die sich theoretisch endlos in die Zukunft hinein erstrecken können. Vielmehr ist kraft der Gegenwart von Kindern deren generative Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder bereits leibhaftig mitgegenwärtig; aber als eine, die als Zukunft künftiger Anderer gerade nicht vorwegzunehmen ist. 80 So reicht die für sie Im Sinne des »Einfädelns einer [narrativen] Intrige«, wie es P. Ricœur beschrieben hat; u. a. in Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen 1986, S. 12 f.; »Life in quest of a narrative«, in: D. Wood (ed.), On Paul Ricœur. Narrative and Understanding, London, New York 1991, S. 20–33. 80 Das sieht Sartre nicht, der behauptet, »zunächst« sei das Kind nur »Objekt«, das nur die Zukunft der Anderen habe, so dass es Gefahr laufe, nur diese, von Anderen bereits »definierte«, aber kein eigenes Leben zu realisieren; J.-P. Sartre, Entwürfe für 79

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zu übernehmende Verantwortung indirekt unvermeidlich weit über den Lebenshorizont derer hinaus, die gegenwärtig da sind. So zweifelhaft es erscheinen mag, wie jenes Versprechen überhaupt zu halten sein soll, so klar ist doch, dass es zum Mindesten erfordert, nichts zu tun, was dem Sinn der Annahme und Aufnahme eines Kindes als eines seinerseits generativen Wesens von vornherein zuwiderlaufen muss – angefangen bei physischer und seelischer Vernachlässigung über Gleichgültigkeit angesichts unzuträglicher und gewaltträchtiger Lebensumstände bis hin dazu, dass es im Horizont seiner eigenen generativen Zukunft von vornherein dazu verurteilt wird, nur noch an destruktiven Folgen des Lebens Anderer zu tragen, so dass ihm und seinen Nachkommen Spielräume eines eigenen Lebens verbaut oder gar nicht erst eröffnet werden. Für letzteres liefern die internationale Schuldenkrise, die längst die ganze Weltwirtschaft und keineswegs nur südeuropäische Staaten wie Griechenland, Portugal, Spanien und Italien erfasst hat, und der globale Klimawandel Belegmaterial zuhauf, das deutlich macht, dass sich die in menschlicher Generativität liegende Verantwortung nicht auf Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern reduzieren lässt. In die mehr oder weniger förderlichen und verlässlichen Lebensumstände, für die in erster Linie die älteren Generationen bürgen müssen, greifen vielfach historisch weit zurückreichende laterale soziale, politische und ökonomische Einflüsse ein, die sie ursächlich nur zum Teil oder gar nicht zu verantworten haben, die aber doch in ihre eigene generative Verantwortung eingehen. Das wird deutlich, wenn man die radikale Rückfrage von Nachkommen antizipieren muss, wie man sie unter für sie womöglich untragbar gewordenen Bedingungen überhaupt zur Welt kommen lassen konnte. War es nicht von vornherein absehbar, dass sie keine oder allenfalls gewaltsam deformierte Bedingungen eines akzeptablen eigenen Lebens vorfinden würden? Vor diesem Vorwurf ist überhaupt keine für- und vorsorgend übernommene Verantwortung grundsätzlich geschützt. Heute wissen wir, dass es teils Zufällen, teils Kontingenzen wie dem glücklicherweise befehlswidrigen Verhalten russischer Offiziere

eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, S. 44, 112. Zur entsprechenden Furcht vor einer bloßen Wiederholung der Vergangenheit Anderer s. a. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992. Dieser Autor flüchtet sich schließlich, ähnlich wie Sartre, in eine zwanghafte »Selbsterschaffung«, um den Vorgaben der Geschichte Anderer zu entgehen.

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während der Kuba-Krise und während des NATO-Großmanövers Able Archer im Herbst des Jahres 1983 zu verdanken war, dass die Menschheit nicht schon damals in einen Dritten Weltkrieg gestürzt ist, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zum atomaren showdown zwischen den damaligen Supermächten geführt hätte. Apokalyptische Untergangsszenarien, in denen trotz allem Überlebende sich nachträglich fragen müssen, wie es diejenigen, die sie überlebt haben, überhaupt glaubten verantworten zu können, Nachwuchs zu zeugen, sind seitdem literarisch und in den visuellen Medien vielfach durchgespielt worden. Ohne den von ihnen fiktiv ausgemalten düsteren Erwartungshorizont lassen sich bis heute weitgehend ungelöste Probleme wie das der atomaren Endlagerung, der atomaren Abrüstung, aber auch der globalen Verschmutzung der Ökosphäre sowie ihrer fortgesetzten Erwärmung infolge dramatisch gesteigerter Verbrennungsprozesse und der biologischen Manipulation des Erbgutes von Pflanzen, Tieren und Menschen kaum mehr diskutieren. So stehen denn auch schon Hans Jonas’ Überlegungen zum künftigen »Verhältnis des Menschen zur Natur« unter der bezeichnenden Überschrift: Dem bösen Ende näher. Ob (bzw. wann) es infolge bewaffneter Gewalt oder technischer, ökologischer und biologischer Desaster eintreten wird und wie ›nahe‹ man dem bereits gekommen ist, kann hier dahingestellt bleiben. Entscheidend ist, dass sich die direkte ›archetypische‹ Verantwortung, die bereits angesichts der diachronen Zukunft eines/r Anderen ›übermäßig‹ zu sein scheint, mit indirekter Verantwortung für förderliche Lebensbedingungen und angesichts künftiger Aussichten der Tragbarkeit dieser Verantwortung unvermeidlich mischt. So müssen wir paradoxerweise eine Diachronie der Verantwortung angesichts der nicht antizipierbaren Zukunft jedes einzelnen und einzigartigen Anderen im geschichtlichen Horizont dieser Aussichten situieren. Und umgekehrt: wir müssen bedenken, dass sich die heute so überaus kritisch zu bewertenden ökologischen und politischen Aussichten eines wirklich lebbaren Lebens auf Andere beziehen, die in unvorhersehbarer Art und Weise ihr eigenes Leben leben werden – und darauf einen originären Anspruch haben. Wird nicht wirklich alles unterlassen, was ihre Lebensmöglichkeiten von vornherein empfindlich einschränkt, gewaltsam deformiert oder ruiniert, so werden sie später das Problem einer Verantwortung aufwerfen, unter deren Mangelhaftigkeit sie zu leiden haben werden, ohne sich aber noch an direkt dafür Verantwortlichen schad582 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Menschliche Generativität als Archetyp

los halten zu können. Vor später Lebenden oder ›künftigen Generationen‹, wie man oft in stereotyper Manier sagt, können gegenwärtig Lebende sich nur virtuell verantworten, wenn sie eine nachträgliche Rechenschaftsverantwortung antizipieren, der sie allerdings in der Regel entgehen werden. Diese Rechenschaftsverantwortung kommt keineswegs nur kontingenterweise etwa als Ausdruck des ›schlechten Gewissens‹ derer ins Spiel, die genau wissen oder wissen müssten, wie sie sich an den Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen vergangen haben. Vielmehr ruht diese Rechenschaftsverantwortung ihrerseits auf der uns vom Anderen her immer schon gegebenen Verantwortung auf. Denn die Verantwortung, die jeder mit der Annahme und Aufnahme eines Kindes übernimmt, kann gar nicht umhin, als sich so oder so zu einem/r künftigen Anderen zu verhalten, der bzw. die wiederum eine eigene generative Zukunft hat, in der Nachkommen (»Kindeskinder«, »Enkel« etc.) werden rückfragen können. Ein (sei es leibliches, sei es ein Pflege- oder Adoptiv-) Kind bei sich aufzunehmen heißt, kraft dieses Tuns (das keiner expliziten Erklärung bedarf) zu sagen: ich werde für dich verantwortlich sein; und zwar im Horizont einer künftigen, nachträglichen Verantwortung, in dem du und später deine Kinder, Kindeskinder und Andere werden rückfragen können, wie es möglich war, dass wir selbst gut, besser oder bestens gelebt haben unter billigender Inkaufnahme der Beschädigung der Lebensmöglichkeiten derer, die nur infolge unserer Generativität an ihnen zu leiden haben werden. So liegt in gegenwärtiger generativer Verantwortung für eine(n) einzige(n) Andere(n) bereits der Sinn nachträglicher Verantwortung vor einer Vielzahl unbestimmter und unbekannter Anderer, welche diejenigen, die ihnen vorausgegangen sind, in aller Regel jedoch nicht mehr werden belangen können, so dass das künftige ›Wovor‹ der Verantwortung (die antizipierbare Retrospektive der später Lebenden) und das gegenwärtige ›Wofür‹ der Verantwortung unvermeidlich auseinanderfallen. So wie jedes generative Wesen unvermeidlich von Anderen her lebt, deren physisches, soziales, politisches, ökonomisches, kulturelles und geschichtliches Erbe es auf seine Weise antritt, ohne je keine Vergangenheit gehabt zu haben, die, im Guten oder im Schlechten, persönlich Bekannten, aber auch unzähligen Unbekannten ambivalent zu verdanken ist, so lebt jedes generative Wesen auf Andere hin: Nicht bloß aufgrund leiblicher Verwandtschaft, um sich in Nachkommen gewissermaßen ersatzweise wiederzufinden, sondern kraft einer nicht-biologischen Fruchtbarkeit, die künftig Lebenden im besten 583 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XV · Generativität, Generationen und intergenerationelle Solidarität

Falle Wege eines neuen, eigenen Lebens eröffnet und sie vor einer Wiederholung des Selben bewahrt. So handeln Autoren wie Jonas, Derrida und Levinas von einer ›kreativen‹ Zeitlichkeit, die Spielräume künftigen Anderswerdens freigibt. Letzterer fürchtet jedoch nichts so sehr wie die Auslieferung eines jeden an das viel zitierte »Urteil der Geschichte« 81, in der vom Leben Anderer nur noch eine Art Nekrolog bleibt, und beschränkt sich deshalb auf Beschreibungen einer diachronen Zwischenzeit, die ihre Grundlage in einer erotischen Sozialität haben soll. Demnach zeugen Menschen Andere, deren ›authentische‹ Zukunft in keiner Weise reduzierbar sein soll auf das, was ihr vorausgegangen und sie möglich gemacht hat. Generativ ›möglich gemacht‹ wird gerade ein künftiges Leben, das sich jeglicher intendierten Ermöglichung entzieht und deshalb niemals technisch hervorzubringen bzw. zu produzieren sein wird. Wo Levinas in diesem Verständnis von menschlicher Generativität spricht und sie als Fruchtbarkeit charakterisiert, entfaltet er deren geschichtliche Horizonte allerdings meines Wissens nirgends über eine zwei Generationen umfassende Filiation hinausgehend. Infolgedessen übersieht er, dass und wie es im Horizont einer mehr oder weniger bedrohlichen Zukunft ökonomisch, ökologisch und politisch auch wirklich ums Überlebenkönnen geht und welche Rolle es in generativer Hinsicht spielen muss, ob die generative Verantwortung für Andere mit dem Versprechen zu verknüpfen ist, ihnen nicht nur einmal (anlässlich ihrer Geburt), sondern dauerhaft und im Kontext einer komplexen Koexistenz mit unzähligen Anderen und ihrer generativen Zukunft dadurch gerecht zu werden, dass man sich zu ihnen auch dann verantwortlich verhält, wenn man später nicht mehr ›zur Verantwortung gezogen‹ werden kann. Darin käme nach dem hier entwickelten Verständnis so etwas wie generative Solidarität zum Ausdruck – nicht als generöse »Bereitschaft […], das Schicksal des anderen zu teilen« 82, sondern im Sinne der Aufgeschlossenheit für das Schicksal künftiger Anderer, das gegenwärtig Lebende gerade nicht mehr werden ›teilen‹ müssen. Diese Aufgeschlossenheit, die dennoch Anteil nimmt an einer nicht

Vgl. Levinas, TU, S. 266, 332, 353, 357 f., 368. Jean Cohen u. Andrew Arato, zit. n. R. Zoll, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt/ M. 2000, S. 199. 81 82

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Menschliche Generativität als Archetyp

zu teilenden Zukunft jenseits des ›Möglichen‹ 83, stellt sich keineswegs als bloßer Ausdruck einer aus freien Stücken Anderen entgegengebrachten Solidarität dar, wenn man bedenkt, wo sie ihre Wurzel hat: in der generativen Zeiterfahrung nämlich, die in unserem gegenwärtigen Leben bereits die authentische Zukunft Anderer und ihrer Nachkommen mitgegenwärtig sein lässt, ob wir es wollen oder nicht. Insofern diese Zukunft kraft Anderer, uns Nachfolgender, immer schon bereits eröffnet ist, können wir nicht umhin, als uns paradoxerweise nur nachträglich zu ihr zu verhalten, denn jene Mitgegenwart einer den gegenwärtig Lebenden entzogenen Zukunft ist von Anfang an in der menschlichen Generativität auszumachen. Sie wird aber vergessen in Vorstellungen bloßer Abfolge von Generationen, die seriell spätere zeitigen, auf deren Kosten sie da zu sein scheinen, bis sie von ihnen von der geschichtlichen Bühne verbannt werden, ohne dass noch erkennbar wäre, ob und wie Generationen nicht nur nacheinander in der historischen Zeit vorkommen, sondern auseinander hervorgehen und dazu bestimmt sein könnten, im Horizont unabsehbarer Zukunft füreinander da zu sein – in der generativen Asymmetrie ihrer gegeneinander versetzten Lebenszeiten, welche die Geburten der einen und die Tode der anderen kaum je zusammenfallen lassen. In der Diachronie eines zwischenzeitlichen generativen Lebens von Anderen her und auf Andere hin beschränkt sich dieses nicht auf die »je-meinige« Geburt und auf den »je-meinigen« Tod, um sich in der eigenen Endlichkeit zu erschöpfen; es reicht vielmehr in offenen Vergangenheits- und Zukunftshorizonten bis in eine anonyme Sterblichkeit und Natalität Anderer, auch gänzlich fremd Bleibender, hinein. Wenn wir aber in diesen schier endlosen geschichtlichen Horizonten nur noch Generationen glauben aufeinander folgen zu sehen, die hunderttausend-, millionen- und schließlich milliardenfach Wesen hervorbringen und wieder aus dem Sein verdrängen, deren vorherige, ohnehin kaum vorstellbare Zustimmung dazu, zu einem solchen »Sichfortwälzen« der Geschlechter beizutragen, niemand je einholen kann, gerät deren prekäres ›Sinnesfundament‹ (Husserl) aus dem Blick, das sie letztlich allein in der menschlichen Generativität haben können.

Entsprechend definiert Levinas geradezu die menschliche Fruchtbarkeit; TU, S. 392.

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XV · Generativität, Generationen und intergenerationelle Solidarität

Sich von ihr eine im Prinzip auf alle künftigen Generationen sich erstreckende Solidarität zu versprechen, die jetzt Lebenden im Vorhinein ausnahmslos eine maßlose Verantwortung für deren Zukunft aufbürden würde, erscheint allerdings als überspannter Anspruch. Nicht umsonst hat Kant es als »Anmaßung« bezeichnet, jemanden »eigenmächtig« und ohne entsprechende Einwilligung der Welt zu überantworten (WA VIII, § 28 f.) – einer Welt, an deren verfehlter Einrichtung und Gewalt kein Neugeborenes die geringste Mitschuld trägt und der es gar nicht gewachsen sein kann. Im ungefragten ZurWelt-kommen liegt nur eine unvermeidliche, aber stets problematisch bleibende Öffnung generativer Zeiterfahrung auf vorangegangene und zukünftige Generationen hin; nicht aber bedeutet es, dass die Frage, wie intergenerationelle Solidarität faktisch möglich werden und wie sie konkret Gestalt annehmen kann, damit bereits beantwortet wäre – etwa im Sinne einer maßlosen Verantwortung, wie sie manchen Beschwörern der Zukunft der menschlichen Gattung offenbar vorschwebt. Nur diese Frage ist unvermeidlich von Anfang an vermittels menschlicher Generativität im Spiel. Wenigstens daran sich zu erinnern hat man allerdings allen Grund, wenn der Verdacht mit Recht besteht, der sinngenetische Zusammenhang zwischen Generativität und Generationen sei derart weitgehend in Vergessenheit gefallen, dass es nunmehr den Anschein hat, als sei ein indifferentes, ganz und gar unsolidarisches, bloß serielles Nacheinanderleben der Normalfall, in dem inzwischen angeblich allzu viele allzu lange auf Kosten Anderer ihr zwischenzeitliches Dasein genießen wollen. Die Negativität dieses Denkens ist gewiss ein triftiger Anlass dazu, sich auf den ›vergessenen‹ inneren Zusammenhang von Generativität, Generationen und intergenerationeller Solidarität zurück zu besinnen. An diesen Begriff schließt deshalb das folgende Kapitel an.

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Kapitel XVI Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität Die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen [besteht] in dessen Ablehnung. Robert Musil 1

1.

Rhetorik der Solidarität und Verlangen nach Solidarisierung

Nach einem »Jahrhundert des Verrats« (Margret Boveri) an allem, was im Zeichen der Aufklärung als höchster Sinn des Politischen ausgegeben worden ist, gehört Solidarität zweifellos zu den besonders strapazierten und missbrauchten politischen Kampfbegriffen und Parolen, die an eine finstere Geschichte anknüpfen. Im Namen der Brüderlichkeit hat man eine mörderische Solidarisierung gegen sogenannte Volks-, Klassen- und Staatsfeinde betrieben. Als rhetorische Waffe ist das Wort in einer weltweiten Konfrontation zum Einsatz gekommen, die ohne weiteres in einen Dritten Weltkrieg hätte münden können auf einem blutigen Weg der Vernichtung politischer Feinde, gegen die man unablässig »internationale Solidarität« beschwor. Es fragt sich, ob sich die politische Sprache je wieder erholen wird von diesen Exzessen rhetorischen Missbrauchs eines Wortes, dessen man sich allzu oft nur bediente, um eine polemische Gesinnung gegen Dritte herbeizureden, so dass die beschworene solidarische Verbundenheit der einen eine tiefgreifende Verfeindung mit anderen implizierte, gegen die man die Rhetorik der Solidarität ins Feld führte. Diese weltgeschichtliche Folie ›kosmopolitischer‹ Solidarität ist heute verblasst. Doch zeichnet sich eine erneute Karriere des Begriffs ab. Diesmal im Zeichen einer entfesselten ›liberalen‹ Ökonomie, die weltweit tiefe moralische Wunden schlägt. Auch gegen den Versuch, dagegen eine erneuerte Solidarität aufzubieten, richtet sich der Verdacht eines fortgesetzten Missbrauchs politischer Sprache in einer polemischen Rhetorik (die politische Gegner dessen bezich1

R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch, Reinbek 1983, S. 26.

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XVI · Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität

tigt, Andere indifferent ihrem Schicksal zu überlassen). Doch können wir das politische Vokabular so wenig einfach auswechseln wie die Erfahrung, die zur Sprache zu kommen verlangt. Den Begriff der Solidarität als ›bloße Rhetorik‹ abzutun und zu verwerfen, würde womöglich ebenfalls auf eine Art Verrat hinauslaufen: diesmal am Verlangen nach Solidarität, das sich als Forderung artikuliert, Andere zumal in lebensbedrohlichen Lagen des Angewiesenseins auf Hilfe nicht im Stich zu lassen. Das Verlangen nach Solidarität entzündet sich vor allem an dieser Erfahrung. 2 So gesehen empfiehlt es sich, in einer negativistischen Perspektive den Begriff der Solidarität vom Geschehen einer originären Solidarisierung her zu verstehen, das von negativen Erfahrungen des Angewiesenseins auf Andere herausgefordert wird. In einem solchen Geschehen werden diejenigen allererst solidarisch, die nicht immer schon – etwa kraft einer ontologischen Zugehörigkeit oder einfach deswegen, weil sie von Anderen ungefragt ›auf die Welt gebracht‹ wurden – solidarisch sind. An der Frage, wie diese Erfahrungen in eine Sprache der Solidarität gleichsam zu übersetzen und damit zu politisieren sind, entzündet sich bis heute anhaltender Streit. Notorisch unklar ist, ob es sich im Angewiesensein auf die Hilfe Anderer um ein gesetzlich zu regelndes Problem demütigender Barmherzigkeit, ethischer Solidarität oder moralischer Gerechtigkeit handelt. 3 Der Streit offenbart nicht nur tiefgreifenden Dissens in der Frage, inwieweit das Angewiesensein auf die Hilfe Anderer überhaupt eine sozialstaatliche und -politische Aufgabe ist; er weist auch eine performative Dimension auf, die kaum weniger bedeutsam ist als das, worum gestritten wird. Es hat den Anschein, als zeige sich gerade in der Auseinandersetzung um Solidarität eine Resolidarisierung derer, die (ungeachtet ihrer heterogenen Standpunkte) nicht nur um den Zusammenhalt der westlichen Sozialstaaten, sondern auch der Menschheit weltweit besorgt sind. Andererseits nimmt die Auseinandersetzung nicht selten wiederum eine polemische Wendung, wenn sie auf diejenigen abzielt, die der Desolidarisierung beschuldigt werden: Ihnen wird zum Vorwurf gemacht, sich zu der Frage völlig gleichgültig zu verhalten, was es politisch bedeutet, dass wir im Sinne der Hilfsbedürftigkeit aufeinander (teils einseitig, teils gegenseitig) angewiesen sind. Während die Aber kann es sich auch auf Hilfe zum schieren Überleben beschränken? Auf diese Frage komme ich weiter unten zurück. Vgl. Anm. 55. 3 Vgl. N. Blüm, »Wenn der Billigste gewinnt«, in: Die Zeit 14 (2005), S. 12. 2

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Rhetorik der Solidarität und Verlangen nach Solidarisierung

einen die Position verfechten, nur die Annahme der Herausforderung dieser Frage mache einen sozialen, d. h. menschlichen Staat aus, verweisen die anderen mit Blick auf die sogenannte Globalisierung darauf, der Sozialstaat sei ein historisch überholtes Modell, das auch inter- oder transnational keinesfalls zu erneuern sei. Die Idee des Sozialstaats wäre demnach nichts als weltfremde Sozialromantik, die mit dem politischen Realitätsprinzip in Konflikt geraten muss, das (angeblich) unnachsichtig verlangt, sie uns in der Unterwerfung unter die ›Gesetze‹ des Weltmarktes auszutreiben. 4 Wer aber ist ›wir‹ ? Handelt es sich nur um eine rhetorische Fiktion? Während die einen sich strikt weigern, von einer Rhetorik der Ersten Person Plural vereinnahmt zu werden, um sich jeglicher Eingemeindung in ein Wir zu entziehen, das sie womöglich mit Solidaritätspflichten belasten würde, behaupten die radikalsten Kontrahenten dieser Strategien, ›immer schon‹ gehe uns der Andere, sogar als Fremder, unabhängig von jeglicher ethnischen Zugehörigkeit oder politischen Mitgliedschaft, ethisch etwas an; und zwar gerade als Herausforderung zum Beistand, wie sie das Samariter-Gleichnis vor Augen führt. Diese Herausforderung begründet keine soziale Gemeinschaft, wohl aber eine ursprünglich nicht a priori begrenzte Affizierbarkeit durch den Anspruch des Anderen auf Hilfe und Beistand. Während dieser Position vorgehalten wird, angesichts zahlloser Anderer eine absolute Überforderung derer heraufzubeschwören, die zur Solidarität herausgefordert sind, erhebt sich gegen den ersten Standpunkt die Kritik, auf eine radikale ethische DesolidarisieDemnach wäre auch eine im europäischen Rahmen angedachte Solidarität nichts als weltfremd. Unter Berufung auf ein institutionell angeblich »nunmehr geeintes Europa« (wie es im Entwurf des EU-Verfassungsvertrags heißt; vgl. kritisch dazu Vf., »Über einige Schwierigkeiten, Europas Europäisierung(en) zu denken«, in: Eurostudia. Transatlantische Zeitschrift für Europaforschung 2 [2006], Heft 1) argumentiert man für die Notwendigkeit, es durch die »Identität einer Wertegemeinschaft« zu fundieren, in der sich die Solidarität aller Europäer manifestieren soll; und zwar umwillen des Wohls der Schwächsten. Während sich die Eurokraten längst einer technischen Sprache sozialer Kohäsion bedienen und eine Rhetorik der Solidarität offenbar für weitgehend entbehrlich halten, steht der Werte-Diskurs im Verdacht, eine Solidarität kompensatorisch herbeizureden, die womöglich tiefgreifende Erfahrungen der Desolidarisierung kaschiert, wie sie mit der gegenwärtig sich verschärfenden Krise des Sozialstaats, aber auch mit der sog. Globalisierung einhergehen. Es wäre jedenfalls fahrlässig, in politisch sensibilisierten Bewegungen der Solidarisierung nur den Prozess der Formation einer europäischen Identität erkennen zu wollen, die mit gewissen Werten nur die bereits vorgezeichnete Einheit auszustaffieren hätte. Ob unverhoffte Resolidarisierungsprozesse ein anderes Europa zeitigen werden, steht dahin.

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XVI · Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität

rung der Menschen hinauszulaufen. Wer von der Warte ethischer Indifferenz aus fragt: ›was geht mich der Andere überhaupt an?‹, scheint sich jeglicher unbedingten ethischen Ansprechbarkeit entziehen zu wollen. Aber steht nicht der, der so fragt, immer schon in einem vorgängig eröffneten Verhältnis zum Anderen? Wohin führt uns andererseits diese Überlegung, wenn es darum geht, unvermeidlich begrenzte, niemals alle Anderen gleichermaßen einschließende politische Ordnungen als solidarische zu denken? Vor dem Hintergrund des angedeuteten radikalen Dissenses, der sich gewissermaßen als Gravitationspunkt der Debatte um Solidarität abzeichnet, schlage ich im Folgenden vor, diesen Begriff von einem originären Geschehen der Solidarisierung her zu verstehen, das sich in verschiedenen Formen manifester Solidarität ausdifferenziert (2.), um dann unter Rückgriff auf Hannah Arendt nach der politischen Qualität der Solidarisierung zu fragen (3.). Im Anschluss daran gehe ich auf aktuelle Diskussionen um die Begründbarkeit politischer Solidarität ein (4.). Im Gegensatz zu Positionen, die sogleich mit der Frage der Begründung einsetzen, plädiere ich dafür, sich zuvor des eigentlich zu Begründenden zu versichern; und zwar auf der Spur originärer Solidarisierung als Antwort auf ein Verlangen nach Solidarität. Sich auf diesen grundlegenden Zusammenhang zu besinnen, scheint mir erforderlich angesichts einer kaum mehr zu überschauenden Ausdifferenzierung der Solidarität, deren schillernde und des erneuten polemisch-rhetorischen Missbrauchs nach wie vor nicht unverdächtige Erscheinungsformen nur selten eine gedankliche Verbindung erkennen lassen.

2.

Solidarität: Pseudo-Solidität vs. originäre Solidarisierung

Wären die zwischenmenschlichen Verhältnisse von sich aus stabil, verlässlich und insofern solide, so bedürften sie der Solidarität gar nicht. 5 Solidarität ist als Geschehen der Solidarisierung stets die Antwort auf erfahrene Instabilität, Unzuverlässigkeit, Zerbrechlichkeit, Ich gebe dem Zwischenmenschlichen hier die weite Bedeutung, wie sie ihm bei Hannah Arendt zukommt, die den Begriff keineswegs auf intime oder enge Beziehungen beschränkt, sondern auf den sog. Erscheinungsraum Anderer bezieht, die nicht von vornherein einander zugehören oder Mitglieder derselben Lebensform sein müssen.

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Solidarität: Pseudo-Solidität vs. originäre Solidarisierung

der sie eine wiederherzustellende Solidität entgegenzusetzen verspricht. Aber selbst die solideste Solidarität kann niemals unverbrüchliche Stabilität, absolute Verlässlichkeit auf Dauer und Unzerbrechlichkeit der zwischenmenschlichen Verhältnisse bewirken – schon gar nicht, wenn es stimmt, dass wir seit dem Anbruch der Moderne in einer immerfort alles Beständige und Verlässliche auflösenden, buchstäblich ›liquidierenden‹ oder gar ›verdampfenden‹ Zeit leben, wie von Karl Marx über Hannah Arendt und Marshall Berman bis hin zu Zygmunt Bauman behauptet wurde. In einer solchen Zeit scheint Solidarität etwas zu versprechen, Solidität nämlich, was sie prima facie unmöglich halten kann. Doch hat sich der Sinn des Begriffs nicht signifikant geändert im Vergleich zur im 17. und 18. Jahrhundert etwa in Frankreich noch festzustellenden Synonymität von solidarité und solidité? Diese Synonymität konnte in dem Maße nicht mehr überzeugen, wie man Solidarität als solidarisierendes Geschehen begriffen hat, das die Herausforderung nicht aufhebt, auf die es Antwort gibt. Solches Geschehen verspricht Zusammenhalt, Einheit, Verbundenheit, Zusammengehörigkeit wiederzugewinnen und soweit wie möglich auf Dauer zu sichern, ohne das, was all dies gefährdet, aus der Welt schaffen zu können. Solidarität gibt es so gesehen nicht anstelle eines Lebens in der Gefährdung von Zusammenhalt, Einheit, Verbundenheit und Zusammengehörigkeit, sondern nur in der Zerbrechlichkeit des Zwischenmenschlichen und der institutionellen Formen, in denen man ihm verlässliche Dauer zu verleihen sucht. 6 Gerade deren andauernde Verlässlichkeit kann aber die Zerbrechlichkeit dieser Formen ebenso wie die Solidarität, die sie hervorgebracht haben 6 Vgl. N. Stehr, Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Weilerswist 2000. Hier wird die Zerbrechlichkeit in wissenssoziologischer Perspektive allerdings primär als ›vertikales‹ Problem der Beherrschbarkeit aufgefasst, nicht als innere Fragilität sozialer und politischer Lebensformen selber. Diesen Begriff sozialphilosophisch zu revidieren, bleibt eine uneingelöste Herausforderung. Ricœur hat in seiner intellektuellen Autobiografie deutlich gemacht, wie zentral er für ihn war, doch vermisst man eine begriffliche Revision. So evoziert Ricœur weiterhin eine Logik der Totalität, die gerade der Erfahrung der Fragilität nicht gerecht wird. Lässt sich diese wirklich nur von einem ge- oder zerbrochenen oder von drohender Brüchigkeit gezeichneten Ganzen her verstehen, so wie das Subjekt, das »vor Zerbrechlichkeit zittert und gegen sie revoltiert«, um sich nach dem verlorenen Ganzen zu sehnen? Vgl. P. Ricœur, Vom Text zur Person. Hermeneutische Texte (1970–1999), Hamburg 2005, S. 20 ff.; P. Lacoue-Labarthe, J.-L. Nancy, »Noli me frangere«, in: L. Dällenbach, C. L. Hart Nibbrig (Hg.), Fragment und Totalität, Frankfurt/M. 1984, S. 64–76.

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XVI · Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität

mag, derart in den Hintergrund der Aufmerksamkeit rücken lassen, dass man sich fahrlässigerweise in einer trügerischen Pseudo-Solidität bequem einrichtet, die den Sinn für das Angewiesensein auf Solidarität verkümmern lässt. Wo das, was die Menschen auf verlässliche Weise verbindet, ungebrochen funktioniert, bedarf es einer besonderen Solidarisierung scheinbar gar nicht. Nach Solidarisierung wird nur dann verlangt, wenn es ein brüchig gewordener Zusammenhalt als mehr oder weniger dringlich erscheinen lässt. Nicht die überhaupt nicht auszuräumende Zerbrechlichkeit zwischenmenschlichen Lebens, sondern ihre akute Virulenz ruft das Verlangen nach Solidarität auf den Plan 7, die ihre Solidität stets erst in Belastungsproben erweisen kann 8; und zwar in höchst unterschiedlichen Formen des Füreinander-Eintretens, des Sich-für-einander-Einsetzens, des Für-einander-Daseins, aber auch des Sich-Verbündens gegen Dritte, usw. Als Herausforderung zur Solidarität kommt grundsätzlich alles in Betracht, was Menschen in die Lage versetzen kann, unumgänglich auf den Beistand Anderer (ein- oder gegenseitig) angewiesen zu sein – sei es aufgrund einer widrigen Natur, die mit ihrer Ungastlichkeit das menschliche Überleben bedroht, sei es aufgrund von menschlicher Gewalt, Krankheit oder seelischem Leid. Im Fahrwasser des modernen Evolutionismus haben Autoren wie Peter Kropotkin darüber spekuliert, wie alt menschliche Solidarität in diesem Sinne sein mag. 9 Es überrascht nicht, dass man in dieser Perspektive schließlich beim Nepotismus der sog. Urhorde anlangte, die Neugeborenen und Müttern schon im Interesse der Selbsterhaltung zur Seite stehen musste. 10 Bis heute hat sich, nicht zuletzt auf der Grundlage dieses Nur als Desiderat kann ich an dieser Stelle die Aufgabe nennen, diesem Verlangen auch in historischer Perspektive Rechnung zu tragen. Dabei käme gewiss mehr zum Vorschein als nur versagte Gerechtigkeit, worauf gegenwärtig vielfach die Herausforderung zur Solidarität verengt wird. Man denke nur an den sog. »Bürgerverrat« (E.-W. Böckenförde), durch den hierzulande gleich zu Beginn der NS-Zeit das solidarische Gewebe des Rechtsstaats zerrissen ist. Diese historische Dimension ist in den aktuellen Diskussionen um die solidarische Dimension der staatlichen Finanzen, der Besteuerung, der sozialen Sicherungssysteme usw. kaum präsent. 8 Deshalb muss auf Solidarität vertraut werden. Ob das Vertrauen gerechtfertigt ist bzw. war, zeigt sich oft genug erst dann, wenn es enttäuscht wurde. Bevor sich das herausstellt, bleibt Solidarität ein empirisch weitgehend ungreifbarer Gegenstand. 9 P. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt [1902/1914], Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975/6, S. 10. 10 Kropotkin selbst mochte sich in evolutionärer Perspektive freilich nicht auf die Phylogenese der Hominiden beschränken. Das kann hier aber außer Betracht bleiben. 7

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Solidarität: Pseudo-Solidität vs. originäre Solidarisierung

evolutionären Paradigmas, das Vorurteil gehalten, Solidarität sei im Wesentlichen die Angelegenheit Dritter, die Anderen beistehen müssen im Rahmen einer Lebensform, deren Zusammenhalt nur durch immer wieder abrufbare, aber nie garantierte Solidarität möglich scheint. Ohne weiteres ließe sich ausführlich belegen, wie stark dieses Vorurteil, das Solidarität von vornherein auf einander Zugehörige beschränkt, bis in die heutige politische Diskussion hinein wirksam ist, wo man annimmt, dass vor allem (wenn nicht ausschließlich) Solidarität die Integration politischer Lebensformen gewährleistet, in denen die ihnen Zugehörigen bzw. Mitglieder in der Rolle Dritter (nicht aber in der Rolle eines vom Anderen von Angesicht zu Angesicht angesprochenen Du) füreinander zu handeln haben, wenn sich die jeweilige Lebensform als beständig erweisen können soll. Nun haben speziell die politischen Lebensformen in der Geschichte mannigfaltige Veränderungen durchgemacht – bis hin zu modernen, demokratischen Lebensformen, die jenseits von êthnos, Verwandtschaft und nationaler Zugehörigkeit Solidarität zwischen einander persönlich Unbekannten gestiftet haben. Neben neuen, nicht familial, genealogisch oder ethnisch reduzierbaren Formen der Solidarität sind auch neuartige Erfahrungen der Zerbrechlichkeit sozialen und politischen Lebens auf den Plan getreten. Als die spezifisch moderne Form der Solidarität gilt der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat, der in dem Maße, wie er sich nun als zerbrechlich erweist, auch neuartige Erfahrungen des Angewiesenseins auf Andere nach sich zieht; vor allem dort, wo die mit dem Sozialstaat einhergehenden Prozesse der Verrechtlichung institutionalisierter Solidarität ältere, meist als ›traditional‹ eingestufte Formen des Sichverlassenkönnens auf den Beistand Anderer verdrängt haben. Fraglich erscheint nun, ob diese Formen je wieder verfügbar sein werden, wenn der Staat sich unter neo-liberalem Druck aus seiner Verpflichtung auf gesellschaftliche Solidarität zurückzieht, und ob sich womöglich ganz neue Formen der Solidarität in statu nascendi abzeichnen. 11 In dieser Lage ist nicht nur eine stark ausgeweitete Anwendung des Begriffs der Solidarität (über den engen Rahmen partikularer Lebensformen hinaus), sondern auch eine nachdrückliche Radikalisierung der Befragung der zentralen Begriffe festzustellen, die dabei zum Tragen kommen. Das betrifft besonders die gemeinschaftliche Vgl. die hilfreiche Situationsbeschreibung bei R. Zoll, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt/M. 2000.

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XVI · Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität

oder gesellschaftliche Zugehörigkeit, die sich in Formen der Solidarität manifestieren soll, das identitäre Selbstverständnis derer, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit angeblich wissen, wer sie (im Verhältnis zueinander) sind; und schließlich die damit angeblich deutlich gezogene Grenze zu denen, die der jeweiligen solidarischen Lebensform nicht zugehören bzw. nicht Mitglied sind. Ist der ›solidarische‹ Zusammenhang von Zugehörigkeit und Identität etwa so zu konzipieren, dass Solidarisierungen allemal nur zwischen denen erfolgen können, die sich diesseits einer solchen Grenze aufhalten – in einer »Topografie«, die festlegt, dass Beistand nur ihnen selbst gewährt wird? 12 Lassen sich also Solidarisierungen, die Grenzen der Zugehörigkeit und der Identität überschreiten, um Fremde einzubeziehen (wie es bei Richard Rorty angedacht ist 13), gar nicht denken? Gerade an dieser Stelle gehen die Meinungen derart auseinander, dass man sich fragen muss, ob ein und derselbe Begriff nicht auf Gegensätzliches Anwendung findet. Deskriptive und normative Momente im jeweiligen Solidaritätsbegriff lassen sich zudem kaum mehr voneinander unterscheiden. Was als Erfahrung der Solidarität rekonstruiert wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen oft derart von begrifflich-normativen Vorentscheidungen präformiert, dass kaum noch eine Verständigungsbasis mit anderen Positionen auszumachen ist. Das gilt im besonderen Maße für Reduktionen der Solidarität auf den exklusiven Kontext partikularer Lebensformen einerseits und für Positionen andererseits, die eine speziell in der Moderne festzustellende Solidarisierung mit Fremden behaupten. Was in diesem Fall gerade als Spezifikum der Moderne gilt – eine originäre Solidarisierung, die eine neuartige, nicht zuvor schon mögliche Solidarität mit und unter Fremden überhaupt erst zeitigt –, muss im Lichte der ersten Position als von vornherein ausgeschlossen und unmöglich erscheinen. Ob in dieser Lage etymologische und begriffsgeschichtliche Befunde wirklich weiterhelfen, ist zweifelhaft. C. Taylor, »The Moral Topography of the Self«, in: S. Messer, L. Sass, R. Woolfolk (Hg.), Hermeneutics and Psychological Theory, New Brunswick 1988, S. 298–320, sowie Vf., Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit – Differenz – Gewalt, Berlin 2001, Kap. 2, wo auch eine Revision des Begriffs der Zugehörigkeit vorgenommen wird. 13 Bei näherem Hinsehen muss man allerdings zweifeln, ob Rorty nicht stets nur eine erweiterte Eingemeindung Fremder in ein ausgeweitetes ›Wir‹ meint. Einen Begriff radikaler, nicht aufzuhebender Fremdheit kennt Rorty jedenfalls nicht; R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, Kap. 9. 12

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Solidarität: Pseudo-Solidität vs. originäre Solidarisierung

In der Geschichte politischer Ideen hat der Begriff der Solidarität noch kein hohes Alter. Die vielschichtige Wirklichkeit, auf die er sich bezieht, ist indessen nicht so neu wie der Begriff, der sie bezeichnet. Hans-Georg Gadamer geht so weit, Freundschaft und Solidarität synonym zu setzen, was es ihm ermöglicht, letztere in das älteste politische Denken zu projizieren. Demnach bezeichnet Solidarität ein Ethos im aristotelischen Sinne, d. h. eine Form der Freundschaft als »Form der Welterfahrung und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die man nicht machen, die man nicht durch vergegenständlichende Bemächtigung planen und durch künstliche Institutionen herbeiführen kann«. 14 Nun kannte Aristoteles aber keinen Begriff der Gesellschaft, so wie er seit Hegel im politischen Denken der Moderne vorherrschend geworden ist. 15 Und Gesellschaft und Freundschaft gehen für uns, die wir unter Bedingungen weitgehender Anonymität politischer Zeitgenossenschaft leben, nicht mehr so leicht zusammen. 16 Dennoch glaubt Gadamer, wie zu Aristoteles’ Zeiten liege Solidarität auch heute noch »allem möglichen Gelten und Wirken von Institutionen, von Wirtschaftsordnungen, Rechtsordnungen, gesellschaftlichen Sitten voraus«, trage sie und mache sie möglich. 17 Solidarität würde demnach auch heute noch das Ethos einer Lebensform (bíos) bezeichnen – und sie wäre entsprechend beschränkt zu denken. Die Griechen kannten überhaupt keinen Begriff der Freundschaft bzw. ›freundschaftlicher‹ Solidarität im politischen Sinne, der auch auf Fremde anwendbar gewesen wäre. Eine Solidarität mit oder unter Fremden käme insofern erst gar nicht in Betracht. Darüber hinaus dachte sich Aristoteles die Freundschaft als gelebte Solidarität (wenn wir Gadamer folgen) um des Guten willen. Jenseits einer solchen Teleologie konnte er sich keine Solidarität und keine Politik vorstellen, die ihren Namen verdient hätten. In einer Auseinandersetzung, die das Gute anficht, kann man nicht mehr ›eines Sinnes‹ sein, wie es Aristoteles politischem Zusammenleben unter dem schützenden Dach des Guten abH.-G. Gadamer, »Die griechische Philosophie und das moderne Denken«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 6, Griechische Philosophie, Tübingen 1985, S. 3–8, hier: S. 6. 15 Was keineswegs bedeutet, das Gesellschaftliche sei dem ihm historisch vorausliegenden Staat zu verdanken. Martin Albrow wendet sich mit Recht gegen diese These in: Das Globale Zeitalter. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/M. 2007, S. 79. 16 J. Derridas Buch Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2002, zum Trotz; vgl. S. 27, 249, 267–273, 370, 430. 17 Gadamer, »Die griechische Philosophie und das moderne Denken«, S. 6. 14

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XVI · Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität

verlangte. 18 Folgt man dem aristotelischen Denken, so scheint es keine Solidarität im Streit geben zu können, der über polemogene Wortgefechte hinaus eskaliert und manifesten (Bürger-)Krieg heraufbeschwört, welcher die Lebensform zu ruinieren droht, an der er sich entzündet hat. Die Solidarität als Ethos wäre strikt auf den Kontext partikularer Lebensformen im Rahmen eines nicht angefochtenen Guten beschränkt zu denken. Nun ist es aber eine begriffsgeschichtlich unbestreitbare Tatsache, dass sich die Semantik an diese Vorgaben nicht gehalten hat. Während Philosophen wie Alasdair MacIntyre in seinem Buch After Virtue nur den Verlust eines ehemals integralen Zusammenhangs von Sprache und Lebensform beklagen (einen Verlust, nach dem die Sprache angeblich expressiv leerläuft 19), betonen andere, vielfach im Anschluss an Emile Durkheim, dass eine neue, erst der Moderne zu verdankende Sprache der Solidarität auch neue Phänomene und Spielräume der Solidarisierung (und Entsolidarisierung) erschlossen habe – jenseits des engen Rahmens partikularer Lebensformen. Gemeint sind hier nicht nur die noch im nationalstaatlichen Rahmen aufgehobenen Formen »organischer Solidarität«, wie sie nach Durkheims Beobachtung mit neuen Formen der Arbeitsteilung einhergingen. 20 Gemeint sind auch grenzüberschreitende Formen der Solidarität, wie sie Rorty in seinem Kontingenz-Buch beschrieben hat. Wie MacIntyre von Ludwig Wittgenstein inspiriert, bestreitet Rorty hier, dass die Sprache schicksalhaft auf den partikularen Kontext lokaler Lebensformen ein für alle Mal beschränkt sein muss. Vielmehr propagiert er den Sinn einer fortgesetzten Revision unseres Vokabulars mit dem Ziel, auf diesem Weg die sensible Erfahrung einer weiteren, die eigene Lebensform überschreitenden Wirklichkeit zu erschließen. In diesem Projekt nimmt der Begriff der Sensibilität eine Schlüsselstellung ein. Er steht für die nicht zuletzt sprachlich angeleitete Sensibilisierung für Erfahrungen der Demütigung und zugefügten Schmerzes, vor denen »wir« – so wie »wir« nun einmal sozialisiert sind – möglichst jeden bewahrt sehen wollen. 21 Rorty unterstellt daAristoteles, Nikomachische Ethik, Stuttgart 1969 (Buch IX, 1167a), 254 f. A. MacIntyre, After Virtue, Notre Dame, Indiana 21984. 20 Vgl. A. Göbel, E. Pankoke, »Grenzen der Solidarität. Solidaritätsformeln und Solidaritätsformen im Wandel«, in: K. Bayertz (Hg.), Solidarität. Begriff und Phänomen, Frankfurt/M. 1998, S. 463–494, hier: S. 486 ff. 21 Möglichst jeden, der »uns« hinreichend ähnlich zu sein scheint, fügt Rorty ergänzend hinzu. Eine sensible Solidarisierung mit Anderen, die uns fremd bleiben, scheint 18 19

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bei ein zentrales Interesse daran, solche Erfahrungen abzuwenden oder wenigstens zu mildern; und zwar auch für den Fall, dass diese Anderen nicht zu »uns« gehören, so dass sie »uns« insofern fremd sind. Die derart allerdings nicht mit einem Schlag alle Menschen erfassende, sondern nur nach und nach zu erweiternde Sensibilität fragt nicht: ›was geht mich das an?‹ Vielmehr wird sie nolens volens von solchen Erfahrungen herausgefordert – und zwar zu einer originären Solidarisierung mit Anderen, die uns fremd sind, mit denen wir keine gemeinsame Lebensform teilen. Eine solche Solidarisierung riskiert selbst die Gefahr, mit der politischen Lebensform in Konflikt zu geraten, in deren Rahmen sie sich über das Anderen angetane Leid empört. Müsste sich eine solche Form der Solidarisierung nicht gerade in der Auseinandersetzung darum bewähren, was uns Andere an den Grenzen einer relativ beschränkten, allerdings zu erweiternden, sensibilisierten Solidarität anzugehen haben? Weiter könnte man sich auf den ersten Blick kaum von der Position Gadamers (bzw. Aristoteles’) entfernen. Während die Solidarität zunächst in der Form eines praktischen Ethos mit der politischen Wirklichkeit einer Lebensform zusammenzufallen schien, tritt die Solidarität als Solidarisierung mit Fremden bei Rorty in einen deutlichen Gegensatz zu jeder beschränkten politischen Ordnung. Wenn eine solche, nicht nur politische Grenzen, sondern womöglich auch die Grenzen des Politischen überschreitende, am Ende transpolitische Solidarität bewirken kann, dass uns selbst gänzlich Fremde als Gedemütigte ›etwas angehen‹ (und zwar so, dass es zu einem vordringlichen Anliegen werden muss, ihr Leid abzuwenden), muss sie dann nicht notorisch jede politische Ordnung überfordern, in der doch stets nur einander Zugehörige bzw. Mitglieder desselben Gemeinwesens ihr Zusammenleben gut oder gerecht 22 zu regeln versuchen? 23 ihm nicht vorzuschweben; vgl. R. Rorty, Philosophie & die Zukunft, Frankfurt/M. 22001, S. 173 f. Zur aktuellen, dringlichen Revision des hier unterstellten Zusammenhangs von Sensibilität und (nicht selten rassistisch vorausgesetzter) Ähnlichkeit vgl. Vf. (Hg.), Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte. Sonderband der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg 2018. 22 Ich sehe hier von der ausgedehnten Diskussion um die Frage ab, ob die Frage nach Gerechtigkeit nicht an die Stelle der – für viele notorisch uneindeutigen – Frage nach den Guten treten muss. 23 Zu warnen ist an dieser Stelle allerdings davor, hier nur mit einem privativen Verständnis von Überforderung zu operieren. Am Schluss werde ich auf die Frage zurückkommen, ob es für eine nicht ›partikular beschränkte‹ Solidarität wesentlich ist,

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Gewiss kann man sich fragen, ob eine solche grenzüberschreitende Solidarität ihren Namen überhaupt verdient, ob sie ihn nicht in irreführender Weise einem politischen Kontext entlehnt, in dem die Rede von Solidarität nach der unveränderten Überzeugung vieler allein Sinn hat. Depolitisiert die Rede von jener grenzüberschreitenden Solidarität nicht den Begriff? Oder lässt sie sich als transpolitische rechtfertigen, die in unsere allemal beschränkten politischen Ordnungen hineinwirkt und wenigstens auf diese Weise völliger Depolitisierung (etwa zu einem bloß supererogatorischen Phänomen) entgeht? Zwischen einer begrenzten, quasi-freundschaftlichen Solidarität, die im Kontext partikularer Lebensformen aufgeht, einerseits und einer entgrenzten Solidarität 24 mit Fremden andererseits ist eine unproblematische Kongruenz von Wirklichkeit und Begriff jedenfalls nicht mehr verfügbar. Weder wirklicher Erfahrung von Solidarität noch der Begriffsgeschichte ist eindeutig zu entnehmen, wie von Solidarität im angedeuteten Spannungsfeld sinnvoll zu reden ist. So ist das Reden von Solidarität – wie auch die Abwehr eines Herbeiredens von Solidarisierungen, deren verpflichtenden Charakter man unter Hinweis auf den notorisch überfordernden Charakter einer entgrenzten Solidarität in Abrede stellt – unvermeidlich Teil einer polemischen politischen Wirklichkeit, in der mit zunehmender Radikalität darum gestritten wird, worum es uns im politischen Zusammenleben überhaupt gehen soll. Die Frage nach Solidarität heute mündet so gesehen in radikalen Dissens, der faktisch auf keinerlei Vorverständigtsein in dieser Sache mehr bauen kann, allen Neo-Aristotelikern zum Trotz. Die Radikalität des Dissenses ist weniger an der Lautstärke zu erkennen, mit der er hier und dort ausgetragen wird. Vielmehr ist es die Art des Fragens, die radikal beunruhigt. Man beschränkt sich nicht darauf, in Zweifel zu ziehen, dass uns Fremde im Sinne des Angewiesenseins auf Hilfe irgendetwas ›angehen‹ (so dass auch Solidarität in jedem Fall auf den Kontext gewisser politischer Lebensformen zu beschränken wäre, in dem wir selbst exklusiv die Nächsten Anderer zu sein hätten). Man fragt auch: warum gehen uns Andere als Nächste etwas an; wer ist überhaupt der Nächste – eine allemal beschränkte Praxis der Solidarität zu mehr Solidarität herauszufordern – durch eine Über-Forderung, die die Solidarität davor bewahren müsste, sich auf eine wie auch immer rationalisierte Form von Nepotismus zu reduzieren. 24 Ob eine gewisse Entgrenzung der Solidarität (im Sinne der Überschreitung ihrer bisherigen Grenzen) geradewegs in eine ›grenzenlose‹ Solidarität münden kann, scheint allerdings zweifelhaft. S. u.

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bloß der Folgende in einer Serie oder der zufällige (vielfach unbekannte) Nachbar, der sog. ›Nebenmensch‹, der raum-zeitlich kontingent auftritt? Gerade diese Fragen gehören zweifellos zu den ältesten Herausforderungen sozialethischen Denkens. Ironischerweise zwingt aber der jüngste radikale Streit dazu, Spuren einer Ausweitung der Frage nach dem Anderen als Nächstem und Fremdem nachzugehen, die in einer langen Geschichte probater Antworten immer wieder verdeckt worden sind. Davon ist auch das aristotelische Denken mit seiner Beschränkung des Politischen auf die Binnenverhältnisse zwischen ›Freunden‹, die im Guten ›eines Sinnes‹ sind, nicht freizusprechen. Die Prämisse dieser Beschränkung überzeugt jedenfalls nicht mehr ohne weiteres. Dafür steht in der jüngeren politischen Diskussion der Begriff des Dissenses. Er bezeichnet nicht etwa eine bloße Meinungsverschiedenheit bzw. Urteile, die im Streit nicht auf einen Nenner zu bringen sind, sondern bezieht sich auf die elementarste Strittigkeit selbst dessen, worum sich politische Auseinandersetzungen überhaupt drehen oder drehen sollten. Für Aristoteles gehört zu den elementaren Voraussetzungen politischen Streits, dass die Kontrahenten sprechende und vernunftbegabte Lebewesen sind. Aber nicht jeder, der sprechen kann, findet politisch Gehör. Wer wie die Sklaven politischer Rede angeblich nicht mächtig (áneu lógou) ist, ›zählt‹ nicht. 25 Was als Rede zählt, ist eine politisch eigens zu bedenkende Frage, wie Jacques Rancière betont. 26 Unter Umständen geht mich der Nächste selbst dann nichts an, wenn er mich direkt anspricht. Wenn ihm nämlich keine politische Rede zuzutrauen oder zuzubilligen ist und wenn er insofern nicht zählt, kann und brauche ich mich nicht politisch zu ihm zu verhalten. Mitnichten ist die Frage, wer (als Mensch) politisch zählt, unter Rekurs auf anthropologische Argumente zu entscheiden. Wer zählt, das hängt demnach von den Umständen der jeweiligen partikularen Lebensform ganz und gar ab. 27 Dieser unnachsichtigen Beschränkung jener Frage nach dem Anderen widersetzt sich die bekannte, auf das Samariter-Gleichnis zurückgehende Antwort: wir sind potenziell die Nächsten jedes beliebigen Anderen; und zwar unabhängig von jeder ethnischen, religiösen 25 Vgl. Kap. XX, 3 sowie H. Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 2003, S. 40. 26 Siehe Kap. XIX. 27 Vgl. R. Rorty, Solidarität oder Objektivität?, Stuttgart 1988, S. 28.

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oder politischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft in einer gemeinsamen Lebensform. Als Maßgabe dessen, dass ich grundsätzlich jederzeit Nächster irgendeines Anderen werden kann, gilt allein, dass sein Anspruch mich erreicht. 28 So aber wird jeder exklusive und selektive Bezug auf eine Ordnung politischen Zusammenlebens (wie etwa eine Lebensform) radikal in Frage gestellt. Wie dem Anspruch praktisch gerecht zu werden ist, wenn er in eine Form menschlichen Zusammenlebens inspirierend oder störend hineinwirkt, lässt sich allerdings unter Umgehung jedes Bezugs auf Lebensformen überhaupt nicht angeben. Auf den ersten Blick läuft eine Ethik im Zeichen des Nächsten, die sich ganz und gar dem singulären Anspruch des Anderen verpflichtet, auf eine gänzliche Depolitisierung des Verhältnisses zum Anderen hinaus. 29 Erneut stehen wir hier vor dem Gegensatz zwischen rigoros beschränkter Politik und kompromisslos entschränkter Ethik, die sich letztlich nicht (wie in der politischen Diskussion zumeist) allein auf den ethnisch Fremden, sondern gerade auf den Anderen als Fremden bezieht, ganz gleich, ob er jemandem verwandtschaftlich, ethnisch oder anders nahe steht oder nicht. Zwar findet diese Ethik älteste Ansatzpunkte in jenem Narrativ, doch folgt daraus kein exklusiver religiöser Besitzanspruch einer Tradition, die das Erbe jenes ethischen Denkens im Zeichen des Nächsten bzw. des Anderen als des Fremden für sich in Anspruch nimmt; zumal dann nicht, wenn das Gleichnis die ethische Affizierbarkeit eines 28 W. Schulz, R.-E. Schulz, »Der Nächste«, in: W. Jens (Hg.), Der Nächste. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter heute gesehen, München 1984, S. 75–82, hier: S. 82. 29 Gewiss ist caritas, die im Samariter-Gleichnis ihr Vorbild hat, noch kein politisches Verhalten, sondern kann dazu nur werden im Zuge einer solidarisierenden Politisierung, die die Hilfe, die einem Anderem oder vielen Anderen zuteil werden soll, zur (öffentlichen) Angelegenheit vieler, wenn nicht aller Menschen werden lässt, wie es Kosmopoliten der Moderne verschiedenster Couleur behauptet haben. Potenziell käme demnach als Anderer, der der Solidarität bedarf, jeder in Betracht; und jedermann wäre potenziell der Nächste des Anderen. Auf diese Weise kann das ursprüngliche Geschehen der Solidarisierung mit dem Anderen, die sich in der Begegnung mit ihm vollzieht, sehr leicht übersprungen und zur allgemeinen Forderung Dritter werden. Während das Gleichnis im Akt des solidarischen Beistands überhaupt keinen Dritten auftreten lässt, besetzt er in der politischen Rhetorik einer kämpferischen Solidarität scheinbar allein das Feld. Ist die Rede des Dritten nicht Rhetorik ›in der Abwesenheit des Nächsten‹, wie Levinas meint? Bringt die politische Sprache die ursprüngliche Herausforderung zur Solidarisierung mit dem Anderen unweigerlich zum Verschwinden? Oder kommt der politischen Solidarisierung nicht vielmehr ein vom zunächst a-politischen Gleichnis her nicht erkennbarer originärer Sinn zu?

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Fremden (des Samariters) angesichts eines seinerseits völlig Fremden zur Sprache bringt. Dem Gleichnis ist ja keineswegs zu entnehmen, dass der Samariter als religiöser Mensch handelt. Vielmehr ist er irgendwer, der sich von einem ihm völlig Unbekannten zu einer singulären Solidarität herausfordern lässt. Jeglicher religiösen Vereinnahmung des Gleichnisses wird dadurch im Grunde der Weg verbaut. 30 Allzu einfach wäre es auch, einen gattungsgeschichtlichen Fortschritt von der Partikularität beschränkter Lebensformen, die sich zu Fremden indifferent verhalten, hin zu einer radikal angesichts des Fremden nicht-indifferenten Ethik anzunehmen. Nach diesem Schema ist gelegentlich auch die Geschichte der Solidarität gedeutet worden: von der (›aristotelischen‹) Solidarität unter ›Freunden‹ zur Solidarität ›unter Fremden‹ – wobei angeblich Fremde an die Stelle der Freunde getreten sein sollen, was dazu verführt, nun umgekehrt die Fremden quasi zu Neo-Freunden zu erklären, so dass sich die Frage stellt, ob sich die vorherrschende Denkform wirklich geändert hat. 31 Viel mehr spricht für ein seit jeher virulentes Spannungsverhältnis zwischen politisch beschränkter und ethisch entgrenzter Solidarität, das aber in verschiedenen Zeiten unterschiedlich zur Austragung kam. So wäre der Geschichte Rechnung zu tragen, wie es auch diejenigen fordern, die die Modernität der Solidarität betonen. Im Vergleich zur Solidarität, wie sie im Ethos beschränkter LeFür Herbert Braun handelt es sich um einen Fall »reiner Profanität«, vgl. H. Braun, »Eine Verleitung zu christlich ungewöhnlichen Gedanken«, in: Jens (Hg.), Der Nächste, S. 39–51, hier: S. 44. Ricœur spricht im gleichen Zusammenhang von der Erfindung der »direkten Beziehung von Mensch zu Mensch« – ohne Vermittlung von Institutionen, aber auch ohne Intervention von Kategorien; Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 111. Nicht weniger bedeutsam ist, dass sich die Beziehung zum Nächsten in die Perspektive Dritter nicht bruchlos einfügen lässt. Zwischen dem Widerfahrnis des Verlangens nach Solidarität angesichts eines Anderen und der von Dritten geforderten, allgemeinen Solidarität liegt eine untilgbare Differenz. Gleichwohl kann die Beziehung zum Anderen von letzterer gefördert (aber auch geradezu erstickt) werden. Mit Recht schreibt Ricœur: »Zuweilen führt die persönliche Beziehung zum Nächsten über die Beziehung zum Sozius [zum Anderen in der Rolle des Dritten]; zuweilen entsteht sie am Rande; dann wieder stellt sie sich gegen die Beziehung zum Sozius.« Allerdings depolitisiert Ricœur das Verhältnis zum Nächsten (bzw. des Nächsten, der wir als zur Solidarität Aufgerufener angesichts des Anderen selbst sind) allzu sehr, indem er es in pure Barmherzigkeit münden lässt. Ebd., S. 118, 122 f. Den Begriff des Sozius entnimmt Ricœur der genetischen Sozialpsychologie James Mark Baldwins; vgl. J. M. Baldwin, Social and Ethical Interpretations in Mental Development. A Study in Social Psychology, New York 1899, S. 32, 35. 31 Vgl. H. Brunkhorst, Solidarität unter Fremden, Frankfurt/M. 1997. 30

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bensformen praktiziert worden ist, und im Vergleich zur außer-ordentlichen Solidarität angesichts singulärer Fremder stellt speziell die wohlfahrtsstaatlich institutionalisierte und verrechtlichte Solidarität gewiss etwas Neues dar, insofern sie ausdrücklich anonyme Fremde im nationalstaatlichen Rahmen einbezieht. Die Zeit dieser Solidarität scheint allerdings nunmehr in den Augen einiger Beobachter endgültig abgelaufen zu sein. Ihnen gilt sie als ein luxuriöses Relikt aus Zeiten ökonomischer Prosperität, keineswegs aber als ursprüngliches Moment der Integration menschlicher Lebensformen oder gar als transpolitische Herausforderung, die von außen an sie herantritt oder sich in ihrem Innern Geltung verschafft. Demnach treten nicht nur an die Stelle des ältesten Zusammenhangs von Solidarität und Lebensform neue (etwa ›organische‹) Formen der Solidarität in modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften; nicht nur ersetzen neue Formen jene alten (wie mehrfach im Zuge einer fragwürdigen empirischen Generalisierung behauptet wurde 32); vielmehr treten nicht-solidarische Formen sozialer Integration wie die Luhmann’sche Inklusion oder die Vernetzung à la Latour an die Stelle der Solidarität überhaupt. 33 So würde am Ende nicht nur die Erfahrung der Solidarität theoretisch obsolet; auch der Begriff würde als moralischer Anachronismus liquidiert. Eine solche Theorie kann aber nicht geltend machen, nur festzustellen, was ohnehin stattfindet. Wer den Begriff der Solidarität als theoretisches Konzept preisgibt, beschreibt nicht nur, sondern affirmiert auf diese Weise eine Entwicklung, die von Anderen vehement angefochten und kritisiert wird. Überdies gehen die Beschreibungen, die eine solche Theorie liefert, ihrerseits in eine strittige soziale und politische Wirklichkeit ein, in der nun gerade durch mannigfaltige Erfahrungen der Entsolidarisierung radikal fraglich wird, worum es im sozialen und politischen Leben überhaupt geht bzw. gehen soll. Noch nie war diese Frage einfach unter Hinweis auf reales Funktionieren sozialen und politischen Lebens zufriedenVgl. T. Meyer, Die Transformation des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 66, 254. Brunkhorst sieht »höherstufige« Solidarität dadurch entstehen, dass »der diffuse Wärmestrom der Gefühle und Gewohnheiten«, wie sie angeblich mit Formen »naturwüchsiger Vergemeinschaftung« einhergehen, »erhitzt und zum Verdampfen gebracht« wird; vgl. seinen Aufsatz »Solidarität unter Fremden«, in: A. Combe, W. Helsper (Hg.), Pädagogische Professionalität, Frankfurt/M. 1996, S. 340–367, hier: S. 346 f. 33 N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt/M. 1980, Kap. 1. 32

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stellend zu beantworten. Deshalb wird bis heute immer wieder der Versuch unternommen, menschliches Zusammenleben unter der Voraussetzung einer ihm innewohnenden Teleologie zu beschreiben. Auf eine von Natur aus feststehende Teleologie menschlicher Lebensformen können wir uns zwar nicht mehr stützen. Genauso wenig vermögen aber bloße Funktionsbeschreibungen als Surrogate zu befriedigen. 34 Zusätzlich verkompliziert sich die Frage nach Solidarität heute dadurch, dass sie gleichsam ihren angestammten Ort verlassen hat, ohne dass sich ihr vorerst eine neue, eindeutige Verortung anbieten würde. 35 Nicht mehr im Ethos partikularer Lebensform, sondern in den Institutionen des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates sollte sie zuhause sein. Aber dieser wird wie gesagt immer häufiger als historischer Luxus denunziert, den man sich nicht mehr leisten könne. Empfänger solidarischer Leistungen dürften sich, wenn sich diese Denkweise durchsetzt, allenfalls noch vorübergehend als solche geduldet wissen, bis ihre volle Marktfähigkeit wiederhergestellt wird. Schließlich sei jedes staatlich formierte Gemeinwesen so wie jeder Einzelne nur für den Markt da, argumentieren die ›Liberalen‹. 36 Jede Inanspruchnahme solidarischer Leistungen durch gesellschaftliche und staatliche Institutionen gerät auf diese Weise unter den Generalverdacht einer womöglich zu weit gehenden Überbeanspruchung kollektiver Solidarität, des Missbrauchs, ja des Parasitentums. 37 Und dem Verlangen nach Solidarität begegnet man mit dem generellen Vorbehalt, dass Vgl. etwa M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987, S. 22 ff. 35 R. Münch, »Demokratie ohne Demos. Europäische Integration als Prozess des Institutionen- und Kulturwandels«, in: W. Loth, W. Wessels (Hg.), Theorien europäischer Integration, Opladen 2001, S. 177–203. Hier wird Solidarität gleichsam bodenlos; sie muss »ohne Zusammengehörigkeitsgefühl« und »ohne demos« auskommen; ohnehin gebe es »keinen zentralen Ort der Politik mehr«. Auch die Solidarität muss sich demnach in vielen regionalen Zonen und auf verschiedenen Ebenen unumkehrbar diversifizieren. 36 W. Kersting, »Internationale Solidarität«, in: Bayertz (Hg.), Solidarität, S. 411– 429, hier: S. 425. Man fragt sich indessen: für welchen Markt? Steht der gegenwärtige Welt-Markt nicht im Verdacht, Quelle massivster De-Solidarisierungen zu sein? Lässt er nicht gerade deshalb unverhofft nach Resolidarisierung derer verlangen, die sich rückhaltlos vermarkten sollen? 37 Speziell dieser Verdacht trifft aber auch die ›Reichen‹, die sich kraft ihrer ökonomischen Überlegenheit auf keinerlei Solidarität angewiesen sehen und jede Zumutung, sich in eine Form sozialstaatlicher (vermeintlich nur Anderen zugute kommender) Solidarität einbinden zu lassen, als ungerechtfertigten Zwang zurückweisen. Zu einer 34

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man sie sich im globalen ökonomischen Konkurrenzkampf leisten können muss. Wer sich dem bereits mit der ersten Inanspruchnahme von Solidarleistungen einhergehenden Verdacht, sich auf Kosten Anderer parasitär zu verhalten, gar nicht erst aussetzen will, wird zunehmend auf Formen subsidiärer Solidarität setzen müssen. Während der deutsche Staat insbesondere durch die sog. Hartz-IV-Reform und durch die seit langem absehbare demografische Entwicklung weitgehend das sog. System-Vertrauen 38 in eine langfristig von ihm zu garantierende soziale Sicherheit eingebüßt hat, beginnen die nachwachsenden Generationen langsam Gestaltungsspielräume der Solidarität wieder zu entdecken. 39 So verlagert sich die Solidarität teilweise in Zonen der Subsidiarität zurück. 40 In massiv geschwächter Form bleibt sie bis auf weiteres allerdings Angelegenheit des Staates, der sich als Sozialstaat nur noch unter dem Vorbehalt seiner Bewährung vor dem Weltgericht des Weltmarkts verstehen soll; darüber hinaus arbeitet man an neuen, internationalen Formen der Solidarität, der sich auch die EU definitiv, allerdings auf der Stufe höchster Allgemeinheit, verpflichtet hat. Darüber hinaus behaupten sich nach wie vor anarchische Formen der Solidarisierung mit Fremden, die sich spielend über die Grenzen nationaler und internationaler Institutionen hinwegsetzen, um auf kürzestem Wege Beistand zu leisten oder,

unbezahlbaren Solidarität hat eine solche Position scheinbar kein Verhältnis. Aber auch der Staat kann sie nicht gewährleisten. 38 N. Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 31989. 39 Wie sie im vorgerückten Alter allgemein zu etablieren sein sollen, weiß freilich niemand. Schon jetzt müssen die Zustände in den weitaus meisten Altenheimen als menschenunwürdig gelten. Ich beziehe mich auf mündliche Auskünfte des Sozialpsychiaters Klaus Dörner. Die Vorstellung mancher Begüterter, sich ein gut versorgtes Alter am Zusammenbruch kollektiv institutionalisierter Solidarität vorbei durch Geld erkaufen zu können, scheitert schon heute vielfach. Auch aus dem benachbarten östlichen Ausland sind preisgünstige Pflegekräfte, die man als Gastsozialarbeiter glaubt einsetzen zu können, kaum mehr zu bekommen. In ihrer generellen Form scheint die Behauptung Durkheims falsch zu sein, dass die Beziehungen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft immer dichter und persönlicher werden. Vielmehr hat man sich zunehmend der Illusion hingeben können, auf die Solidarität Anderer in einer ökonomisch gesicherten Position gar nicht mehr angewiesen zu sein. Gerade die Erfahrung des Alters mag demgegenüber den Sinn für das Aufeinanderangewiesensein als Herausforderung zur Solidarität wieder auf den Plan rufen, wenn die demografische Entwicklung wie erwartet eintreten wird. 40 Vgl. Göbel, Pankoke, »Grenzen der Solidarität«, Abschnitt IV, S. 477 ff.

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anstelle Anderer, die für sich nicht sprechen können, Beistand einzufordern. In dieser unübersichtlichen, überkomplexen Lage gerät nun paradoxerweise das, was Solidarität eigentlich ausmacht, weitgehend aus dem Blick. So wie Sozialpolitik in ihren zahllosen Verästelungen scheinbar kein »einigendes gedankliches Band« mehr erkennbar werden lässt 41, so hat auch die Ausdifferenzierung der Solidarität eine Disparatheit nach sich gezogen, in der sie jede klare Kontur einzubüßen droht. Gewiss passen die vielfältigen Formen der Solidarität nicht mehr ins Bild eines politischen Kosmos, das noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder als Vorbild sozialer Integration bemüht worden ist. 42 Und es kann keine Rede davon sein, heterogene Formen der Solidarität fügten sich zu einem ›harmonischen‹ Zusammenspiel, wie es sich Durkheim vorstellte. 43 Zwischen einem generellen Rückzug der Solidarität ins Subsidiäre, Schwächung sozialstaatlich institutionalisierter Solidarität, internationaler Solidarität und Überschreitung institutionalisierter Solidarität in einer transpolitischen Zuwendung zu Fremden zeichnen sich vielmehr komplexe Netze von Solidaritäten ab, die nicht selten in Widerstreit miteinander geraten, ohne dass auf eine übergreifende Einheit zu hoffen wäre. Solidarität als tätige Anteilnahme oder Hilfsbereitschaft sieht sich oft genug mit tragischen Entscheidungen konfrontiert: Solidarität mit den einen geht unmittelbar auf Kosten der Solidarität mit anderen, was besonders dann als unannehmbar gilt, wenn mangelnde Solidarität das Leben derer gefährdet, die der Hilfe bedürfen. Pragmatische Beschränkung auf eine Art Notfallsolidarität bewahrt kaum vor der Erfahrung eklatanten Versagens. Umso verständlicher und naheliegender ist es, sich angesichts einer kaum mehr überschaubaren Diversifizierung von Solidaritätsformen auf die Frage zurückzubesinnen, was Solidarität im Kern ausmacht und wie sie sich wenigstens manifestieren sollte. Im Lichte des bisher Gesagten lassen sich zusammengefasst folgende Kernpunkte angeben: Solidarität ist die praktische Antwort auf

Siehe Anm. 8 zu Kap. II. F.-X. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, Frankfurt/M. 2003, S. 32, 154. 43 Auch Durkheim freilich reflektierte schon einen »moralischen Polymorphismus« und eine »moralische Dezentralisierung« der Gesellschaft, die die Erfahrung unaufhebbaren praktischen Widerstreits heraufbeschwört; vgl. seine Physik der Sitten und des Rechts, Frankfurt/M. 1992, S. 17 f. 41 42

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die Herausforderung des Angewiesenseins Anderer auf die Hilfe Dritter, die sie sich zu eigen machen (1); und zwar zunächst in Kontexten partikularer Lebensformen, auf die sich Solidarität aber nicht beschränken lässt (2), wie sich in Formen originärer Solidarisierung mit Fremden zeigt, die die Grenzen politischer Lebensformen einschließlich des Nationalstaats überschreiten, um uns zu Nächsten der Fremden zu machen (3). 44 Im Zuge daraus folgender Ausdifferenzierung vielfältiger Solidaritätsformen und -ebenen, die teilweise miteinander vernetzt sind und sich überlagern, geraten sie miteinander in Widerstreit und in Konflikt mit jeder beschränkten Solidarität (4). Originäre Solidarisierungen überfordern die beschränkte Ordnung politischer Lebensformen; inspirieren sie aber auch, um sie zu mehr Solidarität herauszufordern, wo danach verlangt wird. So gesehen integriert Solidarität nicht nur politische Ordnungen; sie gefährdet sie auch. Sie kann aber nur dadurch die Kraft originärer Solidarisierung bewahren, die sich nicht in einer gleichsam geronnenen, pseudo-soliden Solidarität erschöpft (5). So gesehen muss es als eine regressive und unterkomplexe Strategie erscheinen, wenn Solidarität defensiv auf den partikularen Kontext etablierter Lebensformen beschränkt wird. 45 Genauso fragwürdig erscheint aber auch eine unbedachte Entgrenzung der Solidarität, die den Eindruck erweckt, am Ende könnte sich jeder mit allen effektiv als solidarisch erweisen. Während die erste Strategie die Kraft originärer Solidarisierung im Kontext gegebener Lebensformen beschneidet und womöglich verkümmern lässt, entzieht ihr die zweite Strategie jeden Anhalt an konkreten politischen Ordnungen, die unvermeidlich nur in endlicher und beschränkter Art und Weise Solidarität geregelt auf Dauer stellen und institutionalisieren können, wie es eine verlässliche Solidarität unumgänglich erfordert, die sich nicht in einer vorübergehenden Beruhigung des eigenen Gewissens derer

Nur en passant möchte ich darauf aufmerksam machen, wie unterbestimmt der Begriff des Fremden in der Solidaritätsdebatte vielfach bleibt. Bei Habermas etwa, der in Faktizität und Geltung (Frankfurt/M. 1998) von einer »Solidarität unter Fremden« spricht, die füreinander Fremde bleiben (S. 374), reduziert sich die Fremdheit scheinbar auf ein Nicht-Kennen im Horizont unpersönlicher gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen die Solidarität sich allein auf kommunikativem Wege einstellen soll. 45 Vgl. P. Braitling, W. Reese-Schäfer (Hg.), Universalismus, Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen, Frankfurt/M. 1991. 44

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erschöpft, die, bestürzt angesichts natürlicher und menschlicher Gewalt, die Anderen widerfährt, gewisse Beträge spenden, um dann rasch wieder das Interesse zu verlieren oder ihre Augen und Ohren anderswohin zu wenden, wie es die Meldungen der Agenturen unnachsichtig verlangen. Auch in der Weise einer originären Solidarisierung mit Fremden aber bedarf praktische Solidarität allemal eines solchen Anhalts. Die die politischen Lebensformen im Sinne des Beistands für Andere zugleich inspirierende und überfordernde Kraft originärer Solidarisierung ist ihrerseits auf eine pragmatische Beschränkung angewiesen, soll sie in verlässlicher Weise wirksam werden. Jedoch beschränkt eine solche Beschränkung, was nicht a priori beschränkt ist und, solange jene Kraft nicht erschöpft ist, auch niemals ganz und gar beschränkt werden kann. Zwischen das sensible Angesprochenwerden ›Nächster‹ vom Angewiesensein Anderer auf Hilfe einerseits und die konkrete Lage, in der letztere sich wirklich befinden, tritt der Bezug auf eine politische Ordnung im Sinne pragmatischer Beschränkung, die nie ganz gelingt und nie ganz gelingen darf, wenn die schließlich etablierte, womöglich institutionell gesicherte Solidarität nicht jeden fruchtbaren Spielraum einer über sie hinausweisenden Solidarisierung einbüßen soll. In diesem Falle wäre eine Degeneration der Solidarität zur Pseudo-Solidität, der keine Kraft originärer (potenzieller) Solidarisierung mehr zuwächst, die unvermeidliche Folge. Nur in dem Maße, wie dieser – zweifellos höchst ambivalente – Ordnungsbezug im Spiel bleibt, lässt sich Solidarität als ein politisches Phänomen verstehen. Sowohl die uferlose Ausweitung einer Solidarität mit Fremden, die an keine konkrete Situierung derer mehr rückgebunden scheint, die sie üben sollen, als auch die Verkürzung der Solidarität auf eine mitleidige oder barmherzige Hilfe, die man einzelnen Anderen zukommen lässt, verkürzt die Solidarität um ihre politische Dimension. 46 Auf dieses Problem der (De-) Politisierung der Solidarität möchte ich im Folgenden im Ausgang von Hannah Arendt zunächst aufmerksam machen, um dann zu fragen, ob ihm im Rahmen einer auf Kant sich stützenden Sozialphilosophie gerecht zu werden ist.

46

Vgl. J. Habermas, Texte und Kontexte, Frankfurt/M. 1991, S. 112.

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3.

Zur (De-)Politisierung der Solidarität: Hannah Arendt

Ohne so weit zu gehen, alte, im Ethos partikularer Lebensformen realisierte Formen der Solidarität für gänzlich überholt zu halten oder ganz andere Formen sozialer Integration an deren Stelle treten zu lassen (wie es Luhmann mit seinem Begriff der Inklusion getan hat), insistierte Arendt doch auf der Eigenständigkeit und eindeutigen Abgrenzung politischer Solidarität. Bemerkenswert sind ihre Überlegungen zu diesem Begriff vor allem deshalb, weil sie die Aufmerksamkeit auf Übergriffe lenken, die sich an den Grenzen politischer Solidarität abzeichnen und ihren Sinn zu ruinieren drohen. Die Frage ist, ob dieses Problem aus der Welt zu schaffen ist oder ob es eine spezielle, nicht auszuräumende Brisanz der Solidarität selbst ans Licht bringt. Mit Verve hat sich Arendt gegen eine Überforderung jeder Politik, ja des Politischen überhaupt gewandt, die sie auf eine im Grunde sentimentale Politisierung des Mitleids zurückführte. Zwar anerkannte sie eine »echte Leidenschaft des Mitleidens«; doch müsse diese »im Politischen, wo wir es mit den Vielen zu tun haben, immer scheitern […]; nur das Gefühl des Mitleids, das sich in gefühlsseliger Distanz zu seinem Objekt hält, kann sich einer Menge mitteilen und im Raum der Öffentlichkeit erscheinen, um dann als der demagogisch gefährlichste Konkurrent der Solidarität überall da aufzutreten, wo die Unterdrückten und Enterbten die Mehrheit ausmachen«. 47 Ein politisiertes Mitleid maskiere sich gleichsam als eine Form der Solidarität, die deren Grenzen aber überschreite und im Übrigen die politischen Affekte manipuliere. In Wahrheit appelliere eine Politisierung des Mitleids stets an die Gefühle Anderer, die sie opportun zu vereinnahmen suche. Als ›echtes‹, nicht durch Politisierung verdorbenes Gefühl gelte das Mitleid dagegen immer einem Einzelnen in seinem individuellen Unglück. Es kenne daher nicht »das Allgemeine« und sei außerstande, der ungleichen Lebenslage Anderer auf gerechte Art und Weise Rechnung zu tragen (ÜR, S. 108). Das vermöge erst die Klugheit einer politischen Urteilskraft, die sich niemals vom Mitleid, »das in seinem eigenen Gefühl schwelgt«, oder vom MitLeiden, »das leidenschaftlich seiner selbst vergißt«, überwältigen lassen dürfe (ÜR, S. 113). Das Reich der Urteilskraft ist die Pluralität vieler Einzelner im Lichte ihrer rechtlichen Gleichheit. Vom Mitleid 47

H. Arendt, Über die Revolution, München, Zürich 41994, S. 113 (= ÜR).

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gespeiste Pseudo-Solidarität, wie sie vielfach den Armen gilt, ruiniere aber die Urteilskraft und das Politische in einem Zuge. Denn sie vernichte geradezu die Pluralität und mache »aus den Vielen so etwas wie Eines« (ÜR, S. 120). Sie erzeuge schließlich Stimmungen, »welche der Solidarität zum Verwechseln ähnlich sehen«, so dass »das Mitleid mit einem leidenden Kollektiv so leicht für echtes Mitleiden gehalten werden kann, das nur einem Einzelnen gegenüber möglich ist, eben weil sein Objekt scheinbar ein Singular ist, aber ein so ungeheuer großer, daß nur ein maßlos gesteigertes Gefühl ihm entsprechen kann« (ÜR, S. 120). Demgegenüber dürfe aber die politische Urteilskraft weder von irgendeinem Gefühl getrübt werden, noch dürfe sie sich überhaupt mit Singularität als solcher aufhalten. Politisch in Betracht kommen dürfe nur eine plurale Singularität, die ohne einen (möglichst gerechten) Vergleich vieler Einzelner nicht zu denken sei. Man sieht, dass Arendt zweierlei als Überforderung (oder bedenkliche Perversion) des Politischen abwehrt: zum einen ein im Grunde apolitisches Mit-Leiden, das seinen »ursprünglichen Sinn« eines »ertragenden, ausstehenden Leidens« nur diesseits des Politischen bewahren könne; und zum anderen, als Objekt dieses Mit-Leidens, die Singularität des Anderen. Dass sich auch die gelobte Pluralität im Politischen nur als eine Pluralität singulärer Anderer denken lässt, kommt jedoch kaum in Betracht, so sehr dominiert die Sorge, dass die Konturen des Politischen verwischt werden könnten. Dafür, die Reinheit des Politischen wahren zu wollen, bezahlt Arendt einen hohen Preis. Sie hegt keine Bedenken, selbst darüber zu befinden, was zum zu Ertragenden, als menschliche Schicksalhaftigkeit, gehört. In diesem Zusammenhang nennt sie ohne weitere Spezifizierung die Armut. Für Arendt gehört die Armut zur schieren Notwendigkeit der Fristung menschlichen Lebens, die, wann immer sie politisiert wird, den Freiheitsspielraum des Politischen bedrohe. Für Arendt ist es generell eine »Anmaßung«, die Armut zum Verschwinden bringen zu wollen. Der Politik, die sich dieser Aufgabe im Zeichen einer Kritik von Ausbeutung oder Entfremdung annimmt, wirft sie vor, sich von der Welt überhaupt abzuwenden, um sich dem »Leben« und dem so überaus flüchtigen Glück zu verschreiben, das nur dann und wann in ihm zu finden sein mag. Nicht nur dem Marxismus, auch jeder anderen sozialstaatlichen Politik, welche die ›soziale Frage‹ ernst nimmt, hält sie vor, der »verderblichsten Lehre der Moderne« anzuhängen, »daß das Leben der Güter höchstes ist« (ÜR, S. 79). Diese Kritik ist verfehlt. Denn die Kritik von Ausbeutung und 609 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XVI · Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität

entfremdeter Arbeit erschöpfte sich ja nicht darin, eine Utopie gänzlicher Befreiung von der Herrschaft alles angeblich schicksalhaft zu Ertragenden zu entwerfen. Vielmehr richtete sie sich gegen bestimmte Arten und Weisen, vor allem industrialisierte Arbeit zu organisieren. Auch diese Formen der Arbeit generell einfach zum zu Ertragenden zu schlagen, läuft letztlich auf die indifferente Hinnahme, wenn nicht Rechtfertigung von Menschen zu verantwortender Gewaltverhältnisse hinaus. Arendt glaubt, das Politische mittels einer Strategie der Gegenstandsbegrenzung in seiner Reinheit aufrechterhalten zu können. Aber sie hält diese Strategie selbst nicht durch. Schließlich würdigt sie auch das leidenschaftliche Mitleid als Quelle einer genuin politischen »Empörung über die Ungerechtigkeit der bestehenden Verhältnisse« (ÜR, S. 286). Mit Recht verlangt sie zwar auch der politischen Empörung ab, sich durch eine kluge Urteilskraft läutern zu lassen. Aber warum sollte dieser Affekt sich nicht auch gegen ungerechte Arbeitsverhältnisse (oder gegen Arbeitslosigkeit) richten, die Ungezählte der Armut überantworten? Das mag ein zwiespältiges Unterfangen sein, wenn schließlich alle »Schranken des Ertragens, mit denen der Mensch sein Leiden im Zaum hält«, niedergerissen werden und infolgedessen »die verheerenden Gewalten des Unglücks und der Not« befreit werden (ÜR, S. 142). Aber soll man darum im Ernst jedes Ansinnen aufgeben, Armut als Form der Ungerechtigkeit zu bemängeln und politisch dagegen vorzugehen? Auf merkwürdig dogmatische Art und Weise zieht Arendt politischer Solidarität eine ihres Erachtens nur gewaltsam zu überschreitende Grenze. Dabei übersieht sie, dass der in der politischen Empörung sich artikulierende Sinn für Ungerechtigkeit durchaus variable Grenzen kennt zwischen Unglück und Unrecht, wie Judith Shklar, Emmanuel Renault und andere deutlich gemacht haben. 48 Darüber hinaus wäre zu fragen, ob Solidarisierung gegen Schicksalhaftes tatsächlich überhaupt keinen Sinn hat. Jedenfalls ist unklar, wo jeweils die Grenze verläuft zwischen natürlichem Widerfahrnis, Schicksal, Unglück und von Menschen gemachtem und zu Vgl. I. Kaplow, C. Lienkamp (Hg.), Sinn für Ungerechtigkeit. Ethische Argumentationen im globalen Kontext, Baden-Baden 2005, sowie Vf., H. Bajohr (Gasthrsg.), »Judith N. Shklars politische Philosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62, Nr. 4 (2014), S. 626–746, und E. Renault, L’Expérience de l’injustice, Paris 22017. Schon Durkheim spricht von einem Sinn für Solidarität, ein Begriff, der vergleichbare Probleme aufwirft wie der genannte Sinn für Ungerechtigkeit. In beiden Fällen kann es sich nicht um ein sentiment direct oder um ein bloß sinnliches Vermögen handeln.

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verantwortendem Leid. Infolgedessen lässt sich der Bereich genuin politischer Solidarität kaum von einem Gegenstand her bestimmen oder negativ abgrenzen. Gerade das Beispiel der Armut macht diese Schwierigkeit unübersehbar deutlich. Die Grenze zwischen Solidarität und Nicht-Solidarität verläuft auch nicht einfach zwischen Pluralität und Singularität. Denn auch die politische Solidarität im Horizont der von Arendt so sehr gelobten Pluralität verdankt sich allemal einer Solidarisierung, die zunächst von Einzelnen ausgeht, um Andere einzubeziehen, ohne darum die Singularität eines jeden in der Pluralität Anderer zum Verschwinden bringen zu müssen. Wäre das der Fall, dann ließe sich die Pluralität nur als eine gegenüber der Singularität jedes Einzelnen indifferente, schiere Vielzahl verstehen – pointiert gesagt: als Pluralität ohne Singularität. Demgegenüber wäre die Politisierung, um die es Arendt auch im Fall der Solidarität zu tun ist, als Pluralisierung der Singularität selbst zu denken, d. h. so, dass im Politischen nicht einfach eine unverrechenbare Singularität zum Verschwinden gebracht wird, sondern Singularität im Plural vorliegt. 49 Die Frage wäre dann, wie viele, die einander kaum kennen, so solidarisch zusammenwirken können, dass sie ihre Singularität nicht ›vergessen‹, d. h. so, dass sie gerade nicht ein in sich homogenisiertes, jegliche Singularität tilgendes Wir formieren. Mit Recht wendet sich Arendt gegen eine von kluger Urteilskraft nicht angeleitete, d. h. sentimentale Auffassung der Solidarität und besteht auf dem eigenständigen Sinn ihrer ›Politizität‹. Aber diesen Sinn verdankt Solidarität weder einem bestimmten Gegenstand (oder dem Ausschluss eines Gegenstandes wie der Armut) noch auch der Vorherrschaft einer bloßen Kategorie wie der Pluralität. Vielmehr ergibt sich das Politische der Solidarität daraus, wie im Kontext einer Ordnung des Zusammenlebens (die wir als Lebensform bezeichnen 50) eine plurale Singularität konkret zur Hilfe herausfordert, die Dritte Anderen auch als Fremden zugutekommen lassen, also gerade dann, wenn sie sie nicht kennen und wenn sie nichts mit ihnen zu verbinden scheint. Diese Herausforderung steht und fällt aber damit, dass sie als solche überhaupt wahrgenommen wird. Dass es Andere gibt, die in ihrer jeweiligen konkreten Lebenslage der Hilfe bedürfen, in 49 Vgl. B. Waldenfels, Deutsch-Französische Gedankengänge, Darmstadt 1996, Kap. 18. 50 Wobei es aber entscheidend ist, aktuelle Revisionen des Ordnungsbegriffs in Rechnung zu stellen; vgl. B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt/M. 1987.

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welcher Hinsicht, unter welchen Umständen und im Rahmen welcher Möglichkeiten dem Rechnung zu tragen ist, all das ist Sache einer sensiblen Wahrnehmung und politischen Artikulation, die allererst zur Sprache zu bringen hat, worin die Herausforderung im Einzelnen liegt. Das aber lehrt uns keine allgemeine Theorie; auch kein aristotelischer Essentialismus, der sich anheischig macht, in einer simplen Liste von Grundgütern anzugeben, was ein jeder nicht nur zum Überleben, sondern auch zum guten Leben braucht. 51 Gewiss lassen sich – um den Preis einer gewissen Abstraktheit – minimale Bedingungen menschenwürdigen Lebens etwa angeben, die, wenn sie nicht erfüllt sind, die Solidarität Anderer provozieren müssten. Selbst ein streng deontologischer Ansatz, der unter Rekurs auf Kant nach Begründungen dafür sucht, weshalb diese Solidarität in einem solchen Fall in der Pflicht eines jeden liegt, kommt aber ohne die Vermittlung einer sensiblen Wahrnehmung und politischen Artikulation dessen, was nach Solidarität überhaupt verlangt, nicht aus. Angeblich genügt bereits die biologische Existenz eines jeden, um ihn kategorisch unter den Schutz einer universalen Moral zu stellen. Doch selbst wenn mit Kant eindeutig anzugeben wäre, wer ihr denn im Sinne der Vernunftbestimmung des Menschen biologisch entspricht, lässt sich keineswegs eindeutig aus ihr ableiten, was jeder zum Überleben, zum guten oder besseren Leben braucht (von einem Mehr-als-nur-Leben ganz zu schweigen); und noch weniger, inwiefern dieses im Kontext partikularer Lebensformen für Andere, die einem zugehören, oder gar für Fremde (wie weit sie auch entfernt sein mögen) maßgeblich sein muss und wie dem praktisch gerecht zu werden wäre. Erst in einer sensiblen Konstellation von Antworten auf diese Fragen ergibt sich aber ein konkretes Problem der Solidarität. Unter Rekurs auf Kant allein ist ein politisch hinreichend konkretisierter Begriff der Solidarität nicht plausibel zu machen. 52 Nun könnte man argumentieren, dass die angesprochenen Fragen Probleme der sensiblen Wahrnehmung und Umsetzung von Solidaritätspflichten, nicht aber deren universale moralische Substanz betreffen. Vgl. M. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1999, S. 49 ff., 122 ff., 178 ff. Von einer weiteren Diskussion um sog. Nichtverminderungsgüter, Zuwachsgüter usw. sehe ich hier ab. 52 Es liegt zum nicht geringen Teil an einem mangelnden Bezug auf konkrete Lebensformen und politische Ordnungen, dass die Diskussion um absolute Standards, um minimale Rechte und das Rawls’sche Differenzprinzip, das verlangt, das Los der Schlechtestgestellten zunächst zu verbessern, über weite Strecken sehr abstrakt wirkt. 51

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Zur (De-)Politisierung der Solidarität: Hannah Arendt

Genau das ist aber fragwürdig. Für eine solche, fein säuberliche Unterscheidung von moralischer Substanz einerseits und politischen Aspekten der Kontextualisierung solidarischen Verhaltens andererseits muss man einen hohen Preis zahlen: den Preis der Abstraktheit des zur Solidarität verpflichteten moralischen Wesens, das man sich kaum mehr situiert in politischen Lebensformen vorzustellen vermag. Von Maurice Merleau-Ponty bis Charles Taylor richtete sich die philosophische Kritik immer wieder gegen ein gewissermaßen weltloses, noumenales Subjekt, das seine weltlich scheinbar unanfechtbare Subjektivität mit einer gewaltsamen Abstraktion von allen Bindungen an endliche Lebensformen bezahlt und das infolgedessen bestenfalls nachträglich zum Anderen in Beziehung tritt. Wenn es Anderen Solidarität schuldet, so offenbar nur deshalb, weil diese aus Gründen der Vernunft folgt, gerade nicht aber, weil ein (mit Kant als »pathologisch« einzustufender) Anspruch irgendeines leibhaftigen Wesens zu ihr herausfordert. Nun folgt aus einem solchen Anspruch gewiss nicht umgekehrt, dass man irgendwelche Pflichten unmittelbar auf ihn gründen könnte. Aber steht der Begriff der Solidarität nicht gerade für die in Feldern pluraler Koexistenz zwischen den Ansprüchen singulärer Anderer einerseits, ethischen und moralischen Forderungen andererseits vermittelnden Fragen, wie man ihnen in der Weise der Hilfe politisch gerecht werden soll? Wenn jene Singularität im Plural politisch in Lebensformen Gestalt annimmt, dann ist die Frage, wie im Modus der Solidarität Hilfe gewährt werden soll, weder allein auf der Basis einer Ethik dieser Singularität (wie sie Levinas entworfen hat) noch auf der Basis einer Moral universaler Pflichten lösbar, die allein angibt, worin die Pflichten eines jeden angesichts jedes beliebigen Anderen bestehen. Ungeachtet ihrer höchst ambivalenten Inspiration und Überforderung durch eine potenzielle originäre Solidarisierung mit Fremden muss die Solidarität politisch begrenzte Formen annehmen. Wie dies aber geschehen kann, wem gegenüber, in welcher Hinsicht, unter welchen Umständen und Bedingungen, für wie lange (und auf Kosten welcher möglicherweise widerstreitenden Solidaritäten) usw. ist kein speziell ethisches oder moralisches Problem, sondern darüber hinaus eine Frage der klugen Abwägung im Kontext der jeweiligen Lebensformen. Das bedeutet nicht, dass wir nun auf eine in deren Kontexten aufgehende Sittlichkeit zurückgeworfen werden. Das zu meinen, würde alles ignorieren, was über jene Kraft originärer Solidarisierung 613 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XVI · Originäre Solidarisierung und politische Sensibilität

an der Grenze politischer Lebensformen und an der Grenze des Politischen selbst gesagt worden ist. Erneut würde sich die Solidarität infolgedessen auf die Integration von Mitgliedern der eigenen Lebensform beschränken, aber die Beschränkung wäre als Beschränkung gar nicht mehr kenntlich, wenn der Sinn der Solidarität von vornherein genau in dieser Integration und in nichts sonst läge. Aber ein solcher Standpunkt widerspräche gerade jener originären Solidarisierung mit Fremden, die wir als (ein nicht nur ›modernes‹) Phänomen ernst zu nehmen haben. Worauf es hier aber mehr noch ankommt, ist, dass sich die als Problem politischer Lebensformen herausgestellte Solidarität als Angelegenheit einer klugen Konstellation der genannten Fragen keinesfalls auf ein Problem der Anwendung einer Moral universaler Verpflichtung etwa (oder einer Ethik singulärer Ansprüche Anderer) reduzieren lässt. Um dies zu untermauern, gehe ich im Folgenden auf einen Ansatz ein, der genau das zu implizieren scheint, indem er sich ganz und gar auf die Frage der Begründung einer apriorischen Solidargemeinschaft konzentriert, aus der sich alle wesentlichen Aspekte der Solidarität ergeben sollen.

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Apriorische Solidargemeinschaft? Fragen der Begründung

Wer fragt, ob Solidarität »taugt« als universalistisches ethisches Konzept, hat mit dem Begriff kein praktisches Problem (wie diejenigen, die nach solidarischer Besteuerung, sozialen Sicherungssystemen oder nach globaler Solidarität usw. fragen); vielmehr hat sozusagen die Solidarität ein Problem; und zwar ein theoretisches Problem der Rechtfertigung im Lichte eines universalen Begründungsanspruchs. (Das legt die Gegenprobe nahe: Wie wäre es um die Solidarität bestellt, wenn sie diesem Anspruch nicht genügen würde?) Angesichts vielfach ultimativen Verlangens nach Solidarität im Sinne unaufschiebbarer Nothilfe könnte es fast obszön erscheinen, noch eigens nach Begründungen zu suchen. Liegt es angesichts von annähernd einer Milliarde Menschen, die in absoluter Armut leben, nicht auf der Hand, was zu tun ist? Leider verhält es sich keineswegs so. Es ist durchaus fraglich, ob die Dringlichkeit, die das theoretische Denken geradezu zu ersticken droht, überhaupt der jetzt geforderten Solidarität zugutekommt. Bekanntlich gibt es viele, zwar gut gemeinte, praktisch aber kontraproduktive Formen der Hilfeleistung. Man denke nur an den massiven Import von Hilfsgütern, der die Fähigkeit zur 614 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Apriorische Solidargemeinschaft? Fragen der Begründung

Selbsthilfe gefährdet, wenn er zugleich lokale Märkte ruiniert. Solidarität bedarf nicht nur praktischer Angemessenheit und Klugheit in der Umsetzung. Sie bedarf auch der Abwägung und Begründung ihrer Formen und sogar der Rechtfertigung ihres Sinns. Ein Universalist gibt sich nicht damit zufrieden, diese Frage etwa auf einen praktisch opportunen Zweck zu beschränken oder zu fragen, wem gegenüber und in welcher praktischen Art und Weise wir solidarisch sein sollen, die den Sinn der Solidarität nicht derart konterkariert wie eine bloß sentimentale Hilfsleistung. Er fragt nicht, ob es nützlich oder gut ist, Solidarität so oder anders zu üben. Vielmehr will er wissen, ob wir überhaupt zur Solidarität bestimmt sind und solidarisch sein müssen. So zu fragen suggeriert, dass sich der Fragende in einer Position befindet, in der es sich keineswegs von selbst versteht, dass er, wir oder überhaupt irgendjemand zu solidarischem Verhalten herausgefordert ist. Praktisch Engagierten mag das zunächst befremdlich erscheinen, für die genau das gar keiner Begründung bedarf. Allerdings befinden sie sich in der misslichen Lage, womöglich nicht zu wissen, was sie genau tun, wenn sie sich solidarisch verhalten. Denn »partikulare Solidaritätsformen« sind angeblich »erst vor dem Hintergrund eines universalistischen Begriffsverständnisses« überhaupt als solche zu identifizieren. Wer einen solchen Begriff in Aussicht stellt, hat aber selbst das Problem, sich erst einmal dessen vergewissern zu müssen, was überhaupt als zu Begründendes vorliegt. Und da ist sich Christoph Hübenthal, auf den ich mich hier beziehe, nicht sicher, ob es sich bei dem, was er Solidarität nennt, »wirklich« um Solidarität handelt. 53 Diese Ratlosigkeit zwischen Wirklichkeit und Begriff wird freilich gleichsam links liegen gelassen, um den Weg frei zu machen in Richtung einer »apriorischen Solidargemeinschaft« aller Menschen, die begründet werden soll. Die naheliegende Frage, was der Begriff der Gemeinschaft hier besagen soll, wodurch sie besteht, welche Grenzen sie hat, wird kurz entschlossen beantwortet mit Hinweis auf die Idee einer »Rechtsgemeinschaft«, die offenbar ebenfalls ›von vornherein‹ alle Menschen (bzw. alle, die man als solche ›gelten lässt‹ und ›zählt‹) einschließen soll; und zwar Gleichwohl soll es sich im Falle »empirisch vorfindlicher Solidargemeinschaften« tatsächlich um partikulare Erscheinungsformen der einen Solidarität handeln, die Hübenthal zu rekonstruieren unternimmt. Ob es sich hier auch um einen hermeneutischen Zirkel handelt, wird nicht erörtert. Vgl. C. Hübenthal, »Taugt Solidarität als ein universalistisches ethisches Konzept?«, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 48 (2007), S. 121–142.

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als rechtsfähige Subjekte, die als solche mindestens eines auszeichnet: freies Handlungsvermögen (dessen Zerstörung man nicht wollen könne, ohne in Widerspruch mit der eigenen Freiheit zu geraten). 54 Sodann werden Freiheit und Wohlergehen als notwendige Bedingungen des Handelns (bzw. des Handelnkönnens) interpretiert. Diese Bedingungen sollen im Sinne eines universalen Rechts (von Menschen als Menschen) in jedem Falle erfüllt sein. 55 Ihr faktisches Nichtgege54 Gewiss zu weit geht der Ansatz, mit dem Handelnkönnen (bzw. mit agency) ›das Menschliche‹ geradezu zu identifizieren (vgl. P. Ricœur, Wege der Anerkennung, Frankfurt/M. 2006, S. 174 f.), denn auf diese Weise wäre die Menschlichkeit derer, die aufgrund irgendeiner Behinderung nicht (mehr) handeln können, allenfalls noch privativ zu verstehen. 55 Aber was gehört denn, wenn man das substanziell deuten will, wesentlich dazu? Wie weit reicht etwa der Horizont einer verlässlichen Zukunft, in die hinein man praktisch Erwartbares entwerfen kann? Gehört zum elementarsten Handelnkönnen, das wir weltweit solidarisch zu garantieren hätten, etwa nur, dass man auf absehbare Zeit (wie lange wäre das?) sicher sein kann, sich etwas zu essen beschaffen zu können? (Das wäre gewiss wenig, aber doch kein zu verachtendes Ziel, wenn man bedenkt, dass viele die Bekämpfung absoluter Armut für die vorerst dringlichste Aufgabe globaler Solidarität halten.) Oder gehört zur Freiheit vernünftiger Personen, der eine universale Solidarität verpflichtet sein muss, beispielsweise auch die Möglichkeit der Elternschaft, die eine sich weit über den morgigen Hunger hinaus erstreckende praktische Verlässlichkeit des sozialen und politischen Lebens erfordert? Wie wäre dafür solidarisch zu sorgen, dass man dort, wo heute noch der Hunger unumschränkt herrscht, auf die Zukunft zu vertrauen beginnt, statt nur darauf zu hoffen, dass man überhaupt am Leben bleibt? Müsste ein vorausschauendes Sorgetragen nicht weit über die Gewährleistung eines Minimums hinausgehen, das zum schieren Überleben erforderlich ist? Folgt aus einer universalen Solidarität die Pflicht, für das Überleben, für besseres oder gutes (menschliches oder bürgerliches) Leben Anderer – am Ende im Wohlstand? – Sorge zu tragen? Wie weit in die Zukunft müsste diese Pflicht reichen, wenn die Solidarität nicht etwa nur reaktiv im Sinne der Nothilfe, sondern vorausschauend praktiziert werden sollte? Ohne eine gewisse Konkretisierung dieser Fragen bleibt auch der rigoroseste Begründungsversuch einer universalen Solidarität ebenso allgemein wie leer im Besonderen. Sobald wir dagegen den Zukunftshorizont konkreter zu beleuchten versuchen, ohne den sich ein halbwegs anspruchsvoller Begriff menschlichen Handelnkönnens kaum denken lässt, melden sich Zweifel an einer bloß auf allgemeine Pflichten gestützten Begründung. Zur solidarischen Gewährleistung einer verlässlichen Zukunft gehört gewiss weit mehr als nur ein pflichtgemäßes Handeln der Solidarischen. Es scheint mir grundsätzlich als zweifelhaft, ob die praktische Wirklichkeit solidarischen Verhaltens unter Rekurs auf eine Pflicht allein, in der sie ihre letzte und von niemandem ernsthaft zu bestreitende Begründung erfahren soll, überhaupt zu erfassen ist. Lässt sich eine effektive Solidarisierung mit konkreten Anderen tatsächlich im Rückgriff auf eine Pflicht verständlich machen, die ich gerade unabhängig vom konkreten Anderen gegenüber jedem beliebigen Menschen zu erfüllen hätte? Zu einer ›effektiven Handlungsorientierung‹ trägt eine solche Pflicht bes-

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Apriorische Solidargemeinschaft? Fragen der Begründung

bensein soll die Verpflichtung nach sich ziehen, für ihre Erfüllung Sorge zu tragen. Praktische Solidarität mit Anderen, die vorläufig tatsächlich nicht frei handeln können, soll darüber hinaus, wie mit Alan Gewirth angenommen wird, die bloß formale Rechtsgemeinschaft in eine Gemeinschaft verwandeln, in der die Rechte tatsächlich durchgesetzt sind. Hier kommt dem Begriff der Gemeinschaft also ein zweiter, eher politischer Sinn zu, der im Konzept der Rechtsgemeinschaft aller Menschen noch nicht enthalten ist. Letztere verlangt nach Solidarität, die, wenn sie praktisch realisiert wird, eine Solidargemeinschaft konstituiert. So wie aber die Rechte nur die Rechte von Menschen als Menschen sind (und mit allen Schwierigkeiten behaftet sein müssen, die sich aus dem noumenal-phänomenalen Zwitterstatus des Menschen bei Kant ergeben), so wäre diese Gemeinschaft wiederum nur eine Gemeinschaft von Menschen als Menschen – und gerade nicht das, was man sich gewöhnlich unter einer (wie auch immer selektivexklusiven) sozialen oder politischen Gemeinschaft vorstellt. Sobald man hingegen auf die Ebene solcher, wirklicher Gemeinschaften 56 gleichsam absteigt, besteht die »universale« Solidarität plötzlich gar nicht mehr zwischen allen Menschen, sondern nur zwischen Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaft, nicht also mit Anderen, die ihr nicht zugehören. Während innerhalb der Gemeinschaft nun gelten soll, dass wirklich »jeder Handlungsfähige […] für alle übrigen Mitglieder der Gemeinschaft ebenso notwendig einstehen wollen [muss], tenfalls einen Teil bei. Gewiss lehrt sie uns jedenfalls nicht, wem gegenüber wie auch immer praktisch beschränkt wir etwa für eine verlässliche Zukunft Sorge zu tragen hätten. Ich sehe hier ganz von der in anderen Kontexten viel diskutierten Frage ab, wie sich Solidarität und Gerechtigkeit (und noch dazu das Recht) zusammen denken lassen. Derrida widersetzt sich strikt der Identifikation von Gerechtigkeit und Recht. Und für Habermas stellt Solidarität neben Recht und Gerechtigkeit eine dritte, unabhängige Quelle sozialer Integration dar. Dabei hat auch er mehr im Blick als nur Rechte, die uns auf die Etablierung von gerechten Verhältnissen verpflichten. Von einem Kurzschluss der Solidarität mit Gerechtigkeitsfragen (die ihrerseits vielfach auf Probleme der Distribution von Gütern beschränkt werden) sind wir in beiden Fällen weit entfernt. Vgl. J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 21997, S. 289. 56 In denen Menschen einander gewiss vielfach im Modus des Gegeneinander zugehören, aber auch sich im Guten verbunden wissen, das Streit nicht ausschließt. Vielfach manifestiert sich Gemeinschaft gerade im Streit und löst sich auf, wenn man sich nicht mehr ›auseinandersetzt‹. In jedem Falle ruht keine gemeinschaftliche Verbundenheit, Bindung oder Zugehörigkeit allein darauf, dass es sich um Menschen handelt.

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wie diese ihm gegenüber zur Erfüllung der jeweiligen Beistandspflichten gewillt sind« 57, hat diese innere Solidarisierung nun offenbar eine praktische Desolidarisierung mit allen zur Folge, die der jeweiligen Gemeinschaft nicht zugehören. Wie ist das aber zu rechtfertigen? Gewiss nicht durch Rechte, die doch eine ausnahmslose Solidarität implizieren. So ist in sog. partikularer Solidarität aber gar nichts Positives, sondern nur eine Privation universaler Solidarität zu sehen, zu der wir eigentlich aufgefordert wären. Achselzuckend wäre nur einzugestehen, dass wir eben faktisch so oder so vergemeinschaftet sind, so dass wir mit Beschränkungen universaler Solidarität zu rechnen haben. Und die schiere Faktizität vorliegender Vergemeinschaftungen hätte zur Folge, dass die Solidarität nicht sein kann, was sie sein soll: universal nämlich. Angesichts dieser Misslichkeit wären wir aber gewissermaßen entschuldigt, da uns keine andere Wahl zu bleiben scheint, als das in Rechnung zu stellen. So universal die Forderung nach unbegrenzter Solidarität, so bequem wäre ein Sicharrangieren mit partikularer Solidarität möglich, ohne dass sich die oben skizzierten Grenzprobleme einer zugleich inspirierten und überforderten Kraft originärer Solidarisierung ergeben müssten. Unter Hinweis auf faktische Bedingungen der Vergemeinschaftung wäre das Problem originärer Solidarisierung auf diese Weise erheblich zu entschärfen. Fremde, die der eigenen Lebensform nicht zugehören, bräuchten uns nur ›von Rechts wegen‹, aber nicht (unbedingt) in unserer lebenspraktischen Wirklichkeit etwas anzugehen. 58 De jure wäre jeder im Verhältnis zu jedem beliebigen Anderen zur Solidarität bestimmt (wenigstens im Hinblick auf sog. Grundgüter, an denen es unter keinen Umständen fehlen darf). Dieser Entgrenzung der Solidarität stünde ihre mehr oder weniger rigorose faktische Beschränkung auf den Kontext partikularer Lebensformen gegenüber, die verhindern, was eigentlich Solidarität begründen sollte: eine universale Gemeinschaft aller Menschen, die einander wenigstens in der Not Hübenthal, »Taugt Solidarität als ein universalistisches ethisches Konzept?«, S. 128. 58 Die Frage nach Anderen, die mir innerhalb der eigenen Lebensform fremd sind oder denen ich fremd bin, stellt sich in dieser Perspektive scheinbar nicht, da über die Frage der Fremdheit einfach nach Maßgabe der Zugehörigkeit entschieden wird; wie bei Rorty auch, der glaubt, die soziale und politische Welt werde durch Kategorisierungen strukturiert, die mehr oder weniger selektiv-exklusiv zwischen Fremden und ›uns‹ zu unterscheiden erlauben. Eine Fremdheit, die sich solcher Kategorisierungsmacht entzöge, taucht bei Rorty nicht auf. 57

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Apriorische Solidargemeinschaft? Fragen der Begründung

oder im Sinne der Gewährleistung bestimmter Grundgüter beistehen müssten. In realer politischer Gestalt gibt es eine solche ›Gemeinschaft‹ nicht. Damit stellt sich die Frage nach faktischer Solidarität im Hinblick auf eine die jeweiligen Grenzen überschreitende (aber niemals gänzlich aufhebende) originäre Solidarisierung, die besagt, was gehen mich/uns Fremde im Sinne der Herausforderung zur Hilfe an? An dieser Stelle genügt es nicht, zu sagen: es handelt sich um Rechtssubjekte, die möglichst uneingeschränkt handeln können sollten. Diese Forderung mag gut begründet sein. Indessen erscheint sie allzu weit und leer zugleich. Solidarität kann vor einer solchen Ausweitung und Entleerung nur bewahrt werden, wenn sie konkret anknüpft an die Wahrnehmung und Artikulation der Situation derer, die nach ihr verlangen oder ihrer bedürfen. Gegebenenfalls muss eine advokatorische Solidarisierung anstelle Anderer einspringen, wenn sie selbst ihre Stimme überhaupt nicht bzw. nicht dort erheben können, wo sie Gehör finden sollte. Selbst wenn eine solche Solidarisierung sich nur auf die Verletzung elementarer Rechte oder darauf bezieht, dass anderen die wichtigsten Grundgüter verwehrt sind, die sie zum Leben brauchen, muss sie doch vielfach gerade das erst einmal ›sehen lassen‹. Weder in vermeintlich eindeutigen noch auch in anspruchsvolleren Fällen, die nach Solidarität verlangen, ist das Erfordernis, sie als solche erkennbar werden zu lassen, einfach zu überspringen. Von Anfang an muss sichergestellt werden, dass die Solidarisierung nicht einseitig erfolgt und etwa diejenigen, denen sie eigentlich zugutekommen soll, bevormundet. Die Gefahr eines ethischen oder moralischen Paternalismus ist nicht von der Hand zu weisen, solange man nicht auch die vermeintlich elementarsten Herausforderungen zur Solidarität im Anschluss an die wirkliche Lage der Betroffenen als solche erhärtet. Auch die ethische oder moralische Theorie muss sich in diesem Sinne dem Dialog aussetzen, denn bei dem, was sie als Herausforderung zur Solidarität beschreibt, kann es sich nur um Deutungsangebote handeln, die kein letztes Fundament haben. 59 Eben deshalb ist Letztlich ist nicht einmal zwingend und nicht-zirkulär zu begründen, dass wir freie, zur Vernunft bestimmte Personen sind, deren Würde unbedingt zu achten ist, woraus das Recht darauf abzuleiten wäre, nicht verletzt zu werden und als frei Handelnde auch wirklich Achtung zu erfahren. (In diesem Punkt stimme ich Rorty, allerdings nicht ohne Vorbehalte, zu.) Selbst wenn sich das ›in letzter Instanz‹ beweisen ließe, wäre noch nicht klar, ob es überhaupt vernünftige Gründe dafür gibt, sich an dieser

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originäre Solidarisierung möglich, in der Menschen solidarisch werden, ohne immer schon, wenigstens de jure, solidarisch zu sein. Vielleicht ist es gerade der verzweifelten Suche nach verlorener Gewissheit in der Frage geschuldet, was wir im Angewiesensein auf Andere einander angehen, dass man die Solidarität als von Rechts wegen verbürgte Solidität der menschlichen Verhältnisse zu deuten versucht, d. h. so, dass jede echte Solidarisierung eigentlich entbehrlich würde. Statt nur den Blick auf statische Formen der Solidarität zu richten, die uns womöglich eine trügerische Solidität der politischen Verhältnisse vorspiegeln, sollten wir uns so gesehen mehr für das Geschehen einer originären Solidarisierung interessieren, die in dem Maße Unruhe stiftet, wie sie uns gerade darin verunsichert, wem gegenüber wir in neuer Form Solidarität zu üben hätten und wie sich Antworten auf diese Fragen erst aus der Auseinandersetzung mit Anderen ergeben könnten. Erst in einem solchen Prozess kann sich auch herausstellen, ob die Solidarität, nach deren Begründung der Universalist sucht, überhaupt ihr Prädikat ›politisch‹ verdient oder ob es sich etwa um eine apolitische Sentimentalität handelt. Während in einer apriorischen Rechtsgemeinschaft jeder zur Solidarität gegenüber jedem Anderen verpflichtet wäre, steht faktisch niemals jeder mit jedem in Beziehung. Immer ist infolgedessen die Frage im Spiel: wer geht mich/uns im konkreten Kontext der jeweiligen Lebensformen im Sinne des Angewiesenseins auf Hilfe etwas an? Im Fall einer originären Solidarisierung mit Fremden bringt praktische Solidarität als Antwort auf die Herausforderung, die in ihrer prekären Situation liegt, etwas zur Sprache, was gar nicht ohne Vernunftbestimmung auch wirklich zu orientieren. Hier geraten wir alsbald ins Bodenlose eines endlosen Regresses oder der Grundlosigkeit. Auch der vermeintliche Ausweg, in die menschliche Freiheit selbst (sofern sie ›vernünftig‹ ist) eine Bestimmung zur Solidarität hineinzuinterpretieren, scheint nicht recht weiter zu führen. Demgegenüber beschönigt Rorty nicht die Kontingenz der Ausgangssituation, in der wir uns finden, wenn wir mit Begriffen wie den genannten Selbstbeschreibungen plausibel zu machen versuchen, was uns und Anderen wenigstens zusteht, welche Rechte und Pflichten wir haben, usw. Diese Kontingenz macht die Suche nach guten Gründen für unsere auf diese Begriffe gestützten Überzeugungen gewiss nicht obsolet. Aber es steht nicht zu erwarten, dass sie irgendjemanden letztlich auf rein argumentativem Wege dazu zwingen könnten, sie zu übernehmen. Das gilt auch für Begriffe und Überzeugungen, die manche für ›unsere‹ basalsten überhaupt halten, etwa die, dass wir Personen sind, die handeln können. Wie dagegen der Begriff der Person in Zweifel zu ziehen ist, zeigt R. Esposito, Person und menschliches Leben, Berlin, Zürich 2010, S. 29–62.

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weiteres einsichtig ist: wer oder was mich bzw. uns etwas anzugehen hat. Ohne die fällige Wahrnehmung der Situation Anderer und ohne die Artikulation ihrer Lage als Herausforderung zur Solidarität kann auch keine universale Pflicht zum Zuge kommen. Mehr noch: das Geschehen originärer Solidarisierung selber kann nicht zur Pflicht gemacht werden. 60 Es hat Widerfahrnischarakter, obgleich gewiss nicht in derselben Weise wie ein Naturereignis; denn ob wir überhaupt wahrnehmen, wer oder was zur praktischen Solidarität herausfordert, ist durchaus auch eine Angelegenheit der Aufmerksamkeit, für die zu sorgen teilweise bei uns liegt. Die Aufmerksamkeit wird zu einer Quelle politischer Solidarität erst, wenn ihr Gegenstand zur Angelegenheit vieler, wenn nicht aller werden kann. Die Frage, ob es sich aber so verhalten sollte, muss unvermeidlich Dissens in die eigene Lebensformen hineintragen, wenn sich die Aufmerksamkeit an den Grenzen etablierter Solidarität bewegt und die Kraft einer originären Solidarisierung zum Vorschein Und es lässt sich auch nicht in letzter Instanz rechtfertigen. Die Frage, was im Hinblick auf Solidarität überhaupt der Begründung bedarf – was wäre gewonnen mit einer universalistischen Begründung – und was wäre verloren ohne sie? –, möchte ich so beantworten: Was überhaupt nicht der Begründung bedarf, ist das, was ich das Geschehen originärer Solidarisierung genannt habe, das sich am Verlangen nach Solidarität entzündet. Wenn dieses Verlangen nicht nur wahrgenommen, sondern politisch artikuliert und zur Angelegenheit nicht bloß eines ›Barmherzigen‹, sondern vieler wird, nimmt die Solidarität konkrete Formen an, von denen ausgehend man sich fragt, ob Solidarität nicht auch Fremden zusteht. Erst hier wird Solidarität zur zu begründenden Forderung (mit der Kehrseite der Abwehr von Überforderungen). Ausgehend von diesen konkreten Formen, die wir kritisieren, modifizieren, erweitern und (kulturell) relativieren können, eröffnet sich die Perspektive einer »lateralen Universalität« (Merleau-Ponty, Levinas), in der universalisiert wird, was nicht immer schon universal ist. Der Prozess der Universalisierung bezieht Fremde mit ein, die nicht immer schon einbezogen waren. Insofern vollzieht sich auch in diesem Prozess genau das, was ich originäre Solidarisierung genannt habe, die sich im Kern um die Frage dreht: was gehen uns Andere im Sinne des Angewiesenseins auf Hilfe überhaupt an? Ich möchte zu bedenken geben, ob es weit führt, an dieser Stelle auf ein weltloses Rechtssubjekt zu rekurrieren, dem es zunächst bloß um ein sehr abstraktes Handelnkönnen (und nicht etwa auch um die eigentümliche Passivität seiner Affizierbarkeit) geht – dem es sekundär dann auch im Hinblick auf beliebige Andere gerecht werden soll; wobei die konkreten Formen, in denen das geschehen könnte, womöglich nur im Vergleich zur geforderten Universalität als defizitär erscheinen. Ausgehend von einem solchen Rechtssubjekt ist (wenn überhaupt) wohl nur sehr allgemein und formal, ohne jede Rücksicht auf konkrete Formen politischer Solidarität, die Frage zu beantworten, ob wir uns solidarisch verhalten sollten. Ein letzter Beweis ist dafür vermutlich nicht zu führen. Aber was würden wir verlieren, wenn das zuträfe?

60

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bringt. Denn in diesem Falle versteht es sich nicht mehr von selbst, dass diejenigen, die uns als Herausforderung zur Solidarität etwas angehen, nur ›Zugehörige‹ sind, wie offenbar diejenigen meinen, die sich weigern, der Solidarität eine über den Kontext partikularer Lebensformen hinausweisende Bedeutung zuzuerkennen. Der aufbrechende Dissens in dieser Frage trägt nicht unbedingt zur inneren Integration bei; er unterbricht im Gegenteil die normalerweise fungierende Solidarität durch aktive Solidarisierung mit Anderen. Er verschärft u. U. Interessengegensätze dadurch, dass nun Andere, Fremde ›zählen‹ sollen. Wer zum maßgeblichen ›Wir‹ zählt, ergibt sich eben nicht aus einer angeblich alternativlosen Verstrickung, wie es in einem ontologischen Solidarismus vorgesehen ist. Lebensformen bilden keinen schieren Schicksalszusammenhang, aus dem kein Entkommen wäre. Und wer dazugehört, ist durch keine natürliche Eigenschaft, Verwandtschaft oder Zugehörigkeit eindeutig vorgegeben. Das gilt auch im ›globalen‹ Horizont: diejenigen, die sich als Nächste solidarisch zu ganz und gar Fremden verhalten, sind an keiner Eigenschaft zu erkennen. Zu ›Nächsten‹ werden wir je nur im Geschehen einer originären Solidarisierung, das einsetzt mit der Herausforderung zur Solidarität, auf die im Prozess der Solidarisierung Antwort gegeben wird. Dieser Prozess gibt gewissermaßen die zu begründende Materie der Solidarität vor, die in ganz unterschiedlichen Formen praktiziert wird. Diese Formen beziehen sich praktisch stets nur auf einige oder viele Andere, nicht auf alle Menschen. In diesen Formen wäre ein nicht nur privativer Sinn verschiedener Solidaritätsformen aufzuweisen, die ungeachtet ihrer relativen Beschränkung jedoch nicht als a priori und endgültig limitiert zu verstehen sind. Zu einer möglichen Ausweitung, in der sich die Solidarischen dazu aufgerufen fühlen, »noch mehr und Besseres zu tun« 61, kann es gerade deshalb kommen, weil das Geschehen originärer Solidarisierung ganz und gar vom Verlangen nach Hilfe her zu denken ist. Von vornherein können wir aber nicht wissen, von woher und wie es uns jeweils erreicht. Darin liegt mögliche Überforderung und Inspiration zugleich. (Inspiration lässt sich ohne Überforderung gar nicht denken. Insofern gibt es Inspirierte nur als Überforderte.) Und nur wenn die Solidarität als zwar endliches, sich aber doch ständig überschreitendes Geschehen der Solidarisierung gedacht wird, reduziert 61 Vgl. E. Denninger, »Verfassungsrecht und Solidarität«, in: Bayertz (Hg.), Solidarität, S. 319–344, hier: S. 336.

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sie sich nicht auf eine Pseudo-Solidität, der kaum zu vertrauen ist. Im Gegensatz zu etablierter Solidarität ist das Geschehen der Solidarisierung, dem sie entspringt, als ein im Hinblick auf die Anderen, die die Solidarischen etwas anzugehen haben, wesentlich offenes zu verstehen. In diesem Sinne wird nie endgültig anzugeben sein, wem die fragliche Solidarität zugutekommen soll. So wie man Andere einbeziehen oder ausschließen kann, so hat man sog. Exit-Optionen. Freilich nicht jeder in gleicher Weise. Gegenwärtig sind wir Zeugen eines massiven Opportunismus von Betrieben und Konzernen, die sich allein nach ihrem eigenen ökonomischen Vorteil richten und ggf. noch parasitär von anderswo etablierten Solidarsystemen profitieren, sich aber hier wie dort jeglicher Solidarität entziehen. Die in unserem, noch immer wohlfahrtsstaatlichen System gleichsam sedimentierte, aber stets prekäre Solidarität wird aufgekündigt und gefährdet langfristig den Bestand des Systems selbst. Vorläufig mag als Motor einer zu erneuernden Solidarisierung noch die Auseinandersetzung um Solidarität selbst gelten. Aber bleiben in der Diskussion nicht die ›moralischen Kräfte‹ unter sich, ohne diejenigen, die die verlangte Solidarität vernachlässigen, auch nur zu erreichen? Auch in der philosophischen Debatte macht sich der Druck der ökonomischen Desolidarisierung bemerkbar. Manchen Autoren geht es offenbar weniger darum, die Herausforderungen zur Solidarität und ihre Zukunft zu bedenken, als vielmehr darum, den Solidaritätsmissbrauch sogenannter Trittbrettfahrer und Parasiten zu brandmarken – unter Hinweis auf die nunmehr weltweit herrschenden ›Gesetze des Marktes‹, denen sich allzu viele schon kampflos ergeben haben, als ob es sich um Naturgesetze der Gattung handeln würde, denen man glaubt entnehmen zu können, dass nicht der Markt für uns, sondern wir für den Markt da sind. Solidarität könnte es demnach nur noch im Rahmen des Marktes geben, nicht aber im Widerstand gegen die Herrschaft seiner ›Gesetze‹ – etwa als Hilfe zur Selbsthilfe, die denen zugutezukommen hätte, die daran gehindert sind, ökonomisch auf eigenen Füßen zu stehen. Werden solche angeblichen Gesetze nicht als anfechtbare und modifizierbare Regeln gedacht, sondern ganz und gar enthistorisiert, so gerät die Solidarität unter das Diktat einer zur Gattungsnatur hypostasierten Ökonomie, die ihrerseits von allen moralischen Ansprüchen und Pflichten entbunden scheint. Man fragt sich, ob die Debatte um Solidarität anderes bewirken wird, als dies zu beschönigen.

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Kapitel XVII Ausgesetzte Gemeinschaft – unter radikalem Vorbehalt Zur Kritik jeglicher Vergemeinschaftung ›Wir‹, ›die Unseren‹, grundsätzliche Wörter der Sprache aus Holz, aus dem man die Scheiterhaufen errichtet und die Guillotinegerüste anfertigt. Jorge Semprún 1 Wir müssen uns des-identifizieren von aller Art des ›Wir‹, das Gegenstand seiner eigenen Repräsentation ist […]. Jean-Luc Nancy 2 Nichts ist, alles koexistiert. Fernando Pessoa 3

1.

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Vom Sozialen handeln wir bis heute in dem Maße, wie es jegliche Selbstverständlichkeit eingebüßt hat – vor allem in historischer Perspektive. Gerade weil wir in soziale Beziehungen und Verhältnisse nicht unproblematisch und solidarisch ›eingelebt‹ sind – und, historisch aufgeklärt, vielleicht nie wieder sein werden –, haben wir Anlass, vom Sozialen zu sprechen; und zwar umso mehr, je tiefer und nachhaltiger es in Frage gestellt erscheint – bis zu einem Punkt, wo es naheliegt zu sagen, ursprünglich oder letztlich verbinde uns nichts mit Anderen. Radikale Gewalt ist es, was uns dahin bringt. 4 Sie J. Semprún, Was für ein schöner Sonntag!, München 2007, S. 237. J.-L. Nancy, singulär plural sein, Berlin 2004, S. 112 (= sps). 3 F. Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt/ M. 2006, S. 416. 4 Solange man sich einer substanziellen Verbundenheit gewiss war, brauchte man über soziales Leben kein Wort zu verlieren. Nur anlässlich eines Eintritts oder Austritts (bzw. des Verstoßenwerdens) aus einer Lebensform wurde diese als solche zum 1 2

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scheint alles aufzulösen, was Menschen miteinander verbinden könnte. Und in dem Maße, wie ihr das gelingt, liegt der Schluss nahe, nichts verbinde uns, was nicht aufgelöst werden oder der Zerstörung sich widersetzen könnte. Aber zeigt sich nicht gerade in derartiger Gewalt die intensivste Verstrickung mit Anderen? Bleibt im Resultat der Zerstörung nicht die Spur des Zerstörten erkennbar? 5 So genannte natürliche Feinde verhalten sich niemals aus Feindschaft zu ihren Opfern. Sie töten und verzehren sie, um sich dadurch selbst am Leben zu erhalten, aber niemals, um ihnen Gewalt anzutun. Deshalb fallen die Opfer ihren natürlichen Feinden nicht in deren Erinnerung zur Last. Indem diese ihre Beute verzehren, verschwindet sie spurlos in Prozessen der Verdauung oder Verwesung von Resten. Tiere können, von gewissen Grenzfällen abgesehen, deren »bizarre Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam ›vorspielen‹«, wie Friedrich Nietzsche meinte 6, keinen Mord und keinen Genozid verüben. Das ist ein negatives Privileg von Menschen, deren engste Verbundenheit und gleichgültigste Indifferenz unter bestimmten Umständen in intensivste, ein- oder gegenseitige Gewalt umschlagen kann. In der Deutung dieser Möglichkeit entzweien sich die Geister: Wird hier der Abgrund oder vielmehr der Gipfel des Sozialen erreicht, wie es manche Überlegungen von Nietzsche und Carl Schmitt suggerieren? So oder so aber kommt das Soziale im Lichte seiner Zerstörung zum Vorschein, die zu beweisen scheint, ursprünglich oder letztlich verbinde uns nichts miteinander, nichts außer der absoluten Zerstörbarkeit des Sozialen, dessen Spur aber niemals gänzlich getilgt werden kann. Das scheint die Gewalt, die wir menschlichen Subjekten zuzuschreiben haben, grundsätzlich von einer Vernichtung zu unterscheiden, die in der Flora und Fauna spurlos geschieht.

Problem; und zwar allein für diejenigen, die ihrer entbehrten oder fürchten mussten, nicht aufgenommen oder ausgeschlossen zu werden. Wie weit es mit jener Gewissheit wirklich her war, bedürfte allerdings genauerer Untersuchung. Sich hier nur an der philosophischen Überlieferung zu orientieren, führt in die Irre, wie schon das prominente Beispiel der von Thukydides berichteten Ereignisse auf Kerkyra zeigt, die hier nur stellvertretend genannt seien. Vgl. Anm. 9 zu Kap. III. 5 M. Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 66. 6 In diesem Punkt geben Ethologen Nietzsche inzwischen Recht; vgl. »Zur Genealogie der Moral«, in: F. Nietzsche, Sämtliche Werke, B. 5 (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, S. 302, Nr. 6.

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Denkt man das Soziale so von seiner Zerstörbarkeit her, durch die es (sei es aktuell, sei es in historischer Perspektive) seine normale Selbstverständlichkeit ganz und gar einbüßt, dann ist es plausibel, die moderne Sozialphilosophie, abgesehen von Etymologie und Begriffsgeschichte, eng mit Hobbes’ Namen 7 verbunden zu sehen. Hobbes war es, der systematisch jegliche Illusion zerstreute, die Menschen seien einander substanziell verbunden, sei es durch affektive, genealogische oder ethnische Zugehörigkeit, sei es durch politisch-rechtliche Mitgliedschaft in einem Gemeinwesen. 8 Eine solche, gegebene Verbundenheit hatte man zuvor immer vorausgesetzt, auch wenn man wie schon in der Politischen Philosophie der Antike in Rechnung stellte, dass sie unterschiedliche Formen und Grade der Nähe zulässt und im Dissens, Streit und Bürgerkrieg in eine polemogene Feindschaft umschlagen kann, die am Ende jegliche positive Verbundenheit ruinieren muss. 9 Nach Hobbes setzt sich freilich die Zerstörung des Substanzdenkens endgültig durch. Was uns verbindet (und selbst in der prima facie restlosen Zerstörung jeglicher Beziehung noch erkennbar bleibt), ist – wenn wir Philosophen wie Roberto Esposito und JeanLuc Nancy folgen, die zuletzt die daraus zu ziehenden Konsequenzen vor Augen geführt haben – keine unanfechtbare Substanz, kein unzerstörbares Wesen und keine ontische Eigenschaft, die uns ein für alle Mal zu sozialen Tieren machen würde, sondern die ontologische Dimension eines Mitseins, deren Spur auch in der extremen, vernichtenden Gewalt noch erkennbar bleibt. Von Heidegger her ist von Derrida über Esposito bis hin zu Nancy so von einem être-en-commun 7 Vgl. Vf., »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Sozialphilosophie, München, Freiburg i. Br. 1999, S. 9–45. Vom historischen Kontext der sog. Deteleologisierung und Mechanisierung sehe ich hier ebenso ab wie von der Frage, ob Hobbes nicht nur die Konsequenzen einer weiter zurückreichenden Entwicklung zieht. 8 So steht man einander genealogisch-verwandtschaftlich, ethnisch und/oder politisch nahe. Und vielfach werden diese Kategorien miteinander kontaminiert, so dass es bspw. den Anschein haben kann, als begründe verwandtschaftliche Zugehörigkeit politische Mitgliedschaft oder letztere sei ihrerseits nur ein anderer Ausdruck für ethnische bzw. genealogische Verbundenheit. Diese wiederum galt lange als Inbegriff einer ›substanziellen‹ Verbindung, die von Geburt an, durch gemeinsame Geschichte oder geteilte Sorge besteht (oder nicht besteht), die aber nicht jedes Mal neu hergestellt werden muss. Vgl. J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 136 ff. 9 Vgl. N. Loraux, L’invention d’athènes, Paris 1993; E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, Tübingen 2002, S. 30–40.

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oder être avec 10 die Rede, das empirisch in allen möglichen, negativen, positiven und gemischten Variationen anzutreffen ist – auch als ein »Miteinander im Modus des Gegeneinander«, das sich schismogen bis zum scheinbar ›restlosen‹ Zerwürfnis und zum Vernichtungskrieg steigern kann, in dem Gegner, Täter und Opfer absolut nichts mehr miteinander verbindet – nichts, bis auf die Zerstörung einer vorgängigen Verbundenheit, die als zerstörte auch in der extremen Gewalt noch zu erkennen ist. Ohne diesen ›Rest‹ jenes Mitseins wäre die Zerstörung nicht einmal als Zerstörung verständlich (auch denjenigen nicht, die sie als eine endgültige Endlösung konzipieren, die von einer vorgängigen Verbindung zu ihren Opfern keinerlei Spur mehr erkennen lassen sollte). So gesehen ist auch die Zerstörung des Sozialen noch eine Variation des Mitseins, selbst dann, wenn sie jegliche Verbindung oder Verbundenheit mit Anderen leugnet – woraus auch immer diese abgeleitet wird: sei es aus einer genealogisch-ethnischen Zugehörigkeit zu Verwandten oder zur gleichen Lebensform, in der man sich nach Maßgabe einer geteilten Sprache, Kultur und Geschichte versteht; sei es aus einer scheinbar von Natur aus festgelegten und von Geburt an gemeinsamen Orientierung auf das Gute hin, die sich in kollektiver Sorge für ein gerecht geregeltes Zusammenleben und insofern in politischer Mitgliedschaft ausprägen kann. Beides: das Verstehen und die Sorge konnten im traditionellen Denken des Sozialen – d. h. solange es nicht radikal im Lichte seiner Zerstörbarkeit als fragwürdig erschien – durchaus als mangelhaft ausgeprägt vorgestellt werden, so wie es bereits Aristoteles in einer Typologie verschiedener Pathologien politischer Verfassungen getan hatte. Aber das änderte nichts daran, dass man sich den Sinn des Sozialen als substanziell vorgegebenen dachte. Nur innerhalb einer gemeinschaftlichen, von Natur aus und teleologisch vorgegebenen Orientierung am Guten und Gerechten vermochte man überhaupt Formen der Abweichung oder des Abfalls von ihr verständlich zu machen. So setzte die soziale und politische Pathologie das substanziell gemeinschaftlich Normale immer voraus, das nicht eigens hergestellt zu werden brauchte. Hobbes dagegen befand, ursprünglich verbinde uns, die wir »wie Pilze aus dem Boden geschossen« zu sein scheinen, nichts miteinan-

10 Siehe unten, Anm. 18/9, sowie J.-L. Nancy, R. Schérer, Ouvertüren. Texte zu Gilles Deleuze, Berlin 2008, S. 23.

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der 11 – nichts bis auf die Furcht voreinander, zu der die Antizipation äußerster Gewalt Grund gibt, die wir von Anderen zu gewärtigen haben. Deshalb können wir auch nicht ›positiv‹ aufeinander bauen und müssen uns angeblich gegeneinander sichern mit Hilfe politischer Souveränität, die wir über uns herrschen lassen und die wir als Form der Herrschaft selbst herzustellen haben, um uns gegen eine totale Entsicherung der politischen Lebensverhältnisse zu wappnen, die wir selbst heraufbeschwören. So tritt die Technik künstlicher Vergesellschaftung an die Stelle der substanziellen Gemeinschaft, die originärer Vergemeinschaftung scheinbar gar nicht bedarf. Seitdem steht der Gemeinschaftsbegriff notorisch unter dem Verdacht, hinter die hobbesianische Formulierung des zentralen Problems des Sozialen, die Gewährleistung allgemeiner Sicherheit angesichts der Gewalt, zurückzufallen und anachronistische Anleihen bei einer substanziellen, naturalen oder teleologischen Vorgegebenheit menschlicher Verbundenheit zu machen. Und im Gegenzug wird seitdem immer wieder suggeriert, das technische Denken künstlicher Vergesellschaftung könne und müsse ohne all das auskommen. Für lange Zeit wird auf diese Weise ein dritter Denkweg verbaut, auf dem sich die nach wie vor virulente Frage stellt, wie Gemeinschaften (falls es sich nicht ohnehin um im Grunde anachronistische soziale Gebilde handelt, die wie ein substanzielles Denken des Sozialen längst zum Untergang verurteilt sind) originär aus Prozessen der Vergemeinschaftung entstehen, die weder als natürlich oder teleologisch vorgegebene noch als technisch herzustellende zu verstehen sind. Heute findet sich kaum noch jemand, der den Gemeinschaftsbegriff ernsthaft als ›substanziellen‹ verteidigen würde. Vielmehr reflektieren Diskussionen um diesen Begriff historische Prozesse der Erosion traditionaler Gemeinschaften durch eine massive und angeblich irreversible Temporalisierung, Industrialisierung, Monetarisierung und Individualisierung der Lebensverhältnisse, die kein für nennenswert lange Zeit stabiles und wie ehemals im sog. Ganzen Haus drei Generationen übergreifendes Zusammenleben zuzulassen scheinen. Ob und inwieweit die empirische Befundlage solche Einschätzungen wirklich zu erhärten vermag, bleibe hier dahingestellt. 12 In der theoretischen Reflexion des Gemeinschaftsbegriffs, um die es hier 11 T. Hobbes, Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen. Lehre vom Bürger, Leipzig 1949, S. 162. 12 Vgl. die Diskussionsbilanz bei O. G. Oexle, »Soziale Gruppen in der Ständegesell-

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vor allem geht, erscheinen relativ dauerhafte Lebensformen nur noch als Sonderfälle, die in Wahrheit aus einem ständigen Geschehen der Vergemeinschaftung erklärt werden müssten. Demnach ›bestehen‹ Gemeinschaften niemals ›substanziell‹ ; sie verfügen über keinen sozial-ontologischen Bestand sui generis. Was ihr Bestehen erklärt, sind dauerhafte Formen originärer Vergemeinschaftung, in denen immerfort vergemeinschaftet wird, was nicht von sich aus und ›immer schon‹ die Form einer Gemeinschaft hat und in dieser Form auch nicht herzustellen ist. Demnach mag es zwar noch Gemeinschaften geben (im Gegensatz zu so mancher Einschätzung, die darauf hinaus läuft, diesen Begriff mit Blick auf die temporalisierten und individualisierten Lebensverhältnisse der Gegenwart für ganz und gar obsolet zu halten); doch würde uns ihr Bestehen nur darüber hinwegtäuschen, dass sie sich immerfort aus einem Geschehen der Vergemeinschaftung bilden, das vergemeinschaftet, was nicht von sich aus, von Natur aus oder seinem teleologischen Sinne nach vergemeinschaftet ist und niemals ›restlos‹ in einer Vergemeinschaftung aufgehen kann. So hat sich die theoretische Diskussion über den Begriff der Gemeinschaft nachhaltig verlagert, um sich der Frage zuzuwenden, was Prozesse der Vergemeinschaftung wenigstens voraussetzen, woran sie anknüpfen, wodurch sie in empirisch höchst verschiedenen Formen möglich werden, etc. – allem voran die Möglichkeit, sich überhaupt an Andere zu wenden, sei es, um ihnen etwas zu versprechen, sei es, um ihnen ihr Wort abzunehmen. Auch Hobbes hatte dieses Minimum in seiner technischen Beschreibung der Einrichtung souveräner Herrschaft vorausgesetzt 13: dass man im Zeichen der Furcht voreinander verbindlich etwas zuschaft: Lebensformen des Mittelalters und ihre historischen Wirkungen«, in: ders., A. C. Hülsenesch (Hg.), Die Repräsentation der Gruppen, Göttingen 1998, S. 9–44. 13 Insofern glaube ich nicht, dass Hobbes’ Name für den Übergang von der communitas zur immunitas steht. Letztere versteht Esposito als Zurückweisung jeglicher Verbundenheit im Modus der Pflicht, der Schuld oder der Herausforderung zur Erwiderung, wie sie in Theorien der Gabe seit Marcel Mauss gedacht wird. (R. Esposito, Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004.) Den Verbindlichkeit stiftenden Charakter des gegebenen Wortes setzt auch Hobbes voraus, obwohl er offenbar glaubte, nichts sei brüchiger als gerade das Versprechen. Ein ganz anderes, nicht auf fragwürdige epochale, aber nur mit einem Namen (Hobbes) verknüpfte Diagnosen sich stützendes Bild des ›Überlebens‹ sozialer Verbindlichkeit skizziert M. Hénaff in Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt/M. 2009. Vgl. die Rezension d. Vf. im Philosophischen Literaturanzeiger 64 (2011), Nr. 1, S. 52–61.

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sagen kann, um sich nicht aufgrund dieser Furcht zu Gewalt gegeneinander hinreißen zu lassen. Nur unter dieser Voraussetzung kann auch ein Vertrag, als gegenseitiges Versprechen, glaubhaft erscheinen, durch den politisch souveräne Herrschaft installiert werden soll. Wenn man in diesem Sinne einander Gewalt-Verzicht kollektiv (in vertraglicher Form) verspricht, so setzt das wiederum voraus, dass man einander auf Erwiderung hin verbindlich ansprechen kann. In diesem Verständnis ist man mit Anderen nicht ›immer schon‹ verbunden, es sei denn dadurch, dass man einander auf Erwiderung hin ansprechen und in Anspruch nehmen kann. Das setzt jedes Versprechen, jeder Vertrag und jedes weitere Zusammenleben in (wenn auch fiktiv) vertraglich geregelten Verhältnissen voraus. Dieses Minimum muss jede Gemeinschaft letztlich voraussetzen, auch wenn eine gemeinschaftliche Verbundenheit im Einzelfall dann weit darüber hinausgeht in Formen eingespielter, vertrauter, gegen- oder auch vielseitiger Ansprechbarkeit, die nicht jedes Mal radikal auf dem Spiel zu stehen scheint. Ihr mehr oder weniger fragiler Bestand müsste sich daraus erklären lassen, dass sich ständig Arten und Weisen der Vergemeinschaftung (oder der Wiedervergemeinschaftung) ereignen und miteinander verflechten, die einer Gemeinschaft erst eine grundsätzlich prekäre Beständigkeit verleihen. Diese Formen der Vergemeinschaftung würden demnach durch Anspruch und Anrede Verbindung und Verbundenheit bewirken und so bezeugen, wer man im Verhältnis einander Nahestehender oder Zugehöriger ist. Obgleich sich die medialen Bedingungen der Ansprechbarkeit Anderer durch globale Prozesse technischer Vernetzung tiefgreifend gewandelt haben, scheint grundsätzlich das Gleiche selbst für virtualisierte soziale Beziehungen gelten zu müssen, die man als Mobs, Herden und Schwärme von weitgehend entweder anonymen oder doch nicht persönlich bekannten Usern des Internet bezeichnet. 14 Bedenkt man, wie sehr der Gemeinschaftsbegriff in der So galt bislang: auch wer keine Antwort gibt, nimmt im Modus der Indifferenz oder im Sinne der Verweigerung einer Antwort immer noch – nolens volens – zum Angesprochenwerden Stellung, ohne sich dem entziehen zu können. Auch das Ausbleiben einer Antwort wird sozial unweigerlich verbindlich bedeutsam, sobald ein Anspruch nach ihr verlangt hat. Und jede gegebene Antwort bezieht so oder so Stellung: man kann an sie erinnert werden und muss sich fragen lassen, ob sie noch gilt. Wer in Abrede stellen wollte, sich wenigstens nachträglich verbindlich zum Gesagten oder Getanen verhalten zu müssen, dessen Reden und Tun wäre demnach nicht von jeglicher gemeinschaftlichen Verbundenheit entbunden. Dagegen kann man im Me-

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Diskussion um den Kommunitarismus und um die Rehabilitierung einer politischen Tugendethik notorisch auf lokale und buchstäblich überschaubare Lebensformen gemünzt worden ist, so muss es erstaunen, dass er, allerdings in radikal gewandelter Form, auch im Horizont einer medial extrem ausgeweiteten und virtualisierten Ansprechbarkeit zahlloser Anderer Verwendung findet. 15 Vor diesem Hintergrund lancieren Michael Hardt und Antonio Negri den Begriff der multitude 16 wie eine Erneuerung des Versprechens einer kommunistischen Vergemeinschaftung; Giorgio Agamben favorisiert dagegen den Begriff einer im ständigen Advent befindlichen comunità 17, Roberto Esposito den scheinbar antiquierten, tatsächlich aber gewiss nicht mehr substanzialistisch zu verstehenden Begriff der communitas 18; Maurice Blanchot und Jean-Luc Nancy bedenken das Konzept einer communauté 19, das womöglich für ein neues, auch politisch viel versprechendes Gemeinschaftsdenken stehen soll, in dessen Licht Gemeinschaften als temporäre und fragile Formen der Verbindung zwischen paradoxerweise im Plural auftretenden singulären Wesen oder Unwesen erscheinen, die jeglicher sozialen Substanz entbehren. Demnach ›gibt es‹ überhaupt keine Gedium virtueller Kommunikation vielfach weder wissen, ob jemand anders überhaupt eine elektronische Nachricht oder Anfrage erhalten hat, ob er sie indifferent übergeht oder ignoriert, noch kann man von vornherein wissen, ob sich hinter elektronischen Antworten überhaupt jemand verbirgt, der sich ggf. verbindlich auf Angefragtes oder Mitgeteiltes festlegen ließe. Wenn das stimmt, so tangieren die virtuellen Medien den Kern des überlieferten Verständnisses sozialer Beziehungen. Und daraus erwachsen der Beschreibung und Theoretisierung gegenwärtig ablaufender Prozesse der Vergemeinschaftung und der Vergesellschaftung ganz neue Herausforderungen. Während manche unverdrossen Sozialforschung und Gesellschaftstheorie betreiben, ohne diese Herausforderungen auch nur zu benennen, gehen andere so weit, die Rede von Gemeinschaft und/oder Gesellschaft schon für überholt zu halten. Vgl. N. Werber, »Die Realität der Telematik«, in: Merkur 51, Nr. 9/10 (1997), S. 890–901. 15 Vgl. den Begriff des netoyen (als Bürger einer virtuellen Welt-Gesellschaft) bei E. Altvater, B. Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, Münster 41999, S. 322, sowie R. Hitzler, A. Honer, M. Pfadenhauer (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen, Wiesbaden 2008. 16 M. Hardt, A. Negri, Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, London 2004. 17 G. Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003. 18 R. Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin 2004. 19 M. Blanchot, La communauté inavouable, Paris 1983; J.-L. Nancy, La Communauté désœuvrée, Paris 21990; ders., »Das gemeinsame Erscheinen«, in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 167–207; J.-L. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Berlin 2007.

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meinschaften als gleichsam substanzielle Gebilde, sondern nur ein unaufhörliches Geschehen versuchter Vergemeinschaftungen, die sich an einer Singularität im Plural abarbeiten, ohne je zum Ziel einer durchgängigen bzw. restlosen Gemeinschaft zu gelangen. Niemals überwinden sie das ursprüngliche »Fehlen« von Gemeinschaft. Stets, so wird behauptet, bleibt etwas (oder jemand) draußen – auch im Inneren jeder noch so integrierten Gemeinschaft – als unaufhebbar Anderes oder Befremdliches, das sie unterhöhlt und sich ihnen entzieht. Weit entfernt aber, darin nur einen Mangel an Vergemeinschaftung zu erkennen, insistiert man zunehmend auf diesem Anderen oder Fremden als einer Exteriorität, die sowohl Gemeinschaften als auch Gesellschaften davor zu bewahren verspricht, in einer totalen oder totalitären Ordnung das Soziale letztlich zu ruinieren – vorausgesetzt, jenes ursprüngliche Fehlen von Gemeinschaft wird in jeder nachträglichen Vergemeinschaftung bewahrt und nicht etwa überspielt, liquidiert oder dialektisch aufgehoben. Das Soziale wird dem entsprechend von Anfang an als Widerstand gegen seine Aufhebung in Formen sozialer oder politischer Ordnung gedacht. Wo das unaufhebbar Andere oder Fremde nicht in seiner Unaufhebbarkeit gedacht wird, da droht demzufolge eine ›restlose‹ Eingemeindung in die eine oder andere Art der Ordnung, aus der es am Ende kein Entkommen mehr zu geben scheint. So steht das Denken des Sozialen unter Unaufhebbarkeitsvorbehalt. Was sich in überhaupt keiner Gemeinschaft (oder auch Gesellschaft) je aufheben lässt, kommt nun aber mit solcher Wucht und derart einseitig zur Geltung, dass nur noch schwer zu erkennen ist, welche Formen der Vergemeinschaftung wir vielleicht vorziehen und vor welchen wir gewarnt sein sollten. Das radikalisierte Bedenken der Prozesse originärer Vergemeinschaftung lässt ironischerweise wichtige Differenzen in den Ergebnissen dieser Prozesse ganz und gar in den Hintergrund treten. Und das, obwohl vor einem Liebäugeln mit bestimmten Ergebnissen immer wieder suggestiv gewarnt wird. Liegen etwa »die dreißiger Jahre« wieder vor uns? Mit diesen, nichts Gutes verheißenden Worten legt uns Nancy in einem Text über den »Sinn des Politischen« 20 die Überlegung ans Herz, dass heute erneut eine Sehnsucht nach Wiedervergemeinschaftung um sich greifen könnte, die in dieselben, »faschistoiden« Versuchungen zu münden drohe, J.-L. Nancy, »Der Sinn des Politischen«, in: W. Pircher (Hg.), Gegen den Ausnahmezustand. Zur Kritik an Carl Schmitt, Wien 1999, S. 119–140, hier: S. 139.

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wie sie uns jene Zeit vor Augen geführt habe. 21 Zugleich suggeriert er auf diese Weise, jede heute erfolgende radikale Revision des Gemeinschaftsbegriffs müsse als Intervention in aktuellen politischen Feldern begriffen werden, in denen es dieser Sehnsucht zu begegnen gelte. Ist aber die suggerierte Zeitdiagnose zutreffend? Und verspricht die Arbeit an dieser Revision, einer derartigen Intervention zugutezukommen? Vor allem dieser skeptischen Frage werde ich mich im Folgenden im Rückgang auf Helmuth Plessner zuwenden, der in seiner mittlerweile klassischen Kritik des Gemeinschaftsdenkens bereits jenen Unaufhebbarkeitsvorbehalt geltend gemacht hatte. Wenn wir diese Kritik mit der aktuellen Diskussion um den Begriff der Gemeinschaft bei Nancy verknüpfen, wird deutlich, dass sie die Frage nach alternativen Gemeinschaften aufwirft, die bei diesem Autor gerade durch ein radikales Denken unaufhebbarer Unmöglichkeit der Vergemeinschaftung aus dem Blick gerät. Heute hat der Gemeinschaftsbegriff viel von seinem ›faschistoiden‹ Schrecken verloren, den Nancy heraufbeschwört. Ironischerweise droht aber gerade die radikale, im Zeichen des Politischen erfolgende philosophische Revision dieses Begriffs fragwürdigsten politischen Aneignungen in die Hände zu spielen, insofern sie konkrete politische Perspektiven vielfach vermissen lässt. Das ist Grund genug, sich noch einmal auf Plessners Kritik des Gemeinschaftsbegriffs zurückzubesinnen, um im Vergleich zu ihr zu ermitteln, ob uns die in jüngster Zeit wieder energisch vorgetragenen Revisionen des Gemeinschaftsbegriffs weiterführen.

2.

Helmuth Plessners Kritik der Gemeinschaft

Zweifellos hat Plessner dem kulturwissenschaftlichen Gemeinschafts- und Gesellschaftsdenken wie kaum ein anderer jenen Vorbehalt ins Gewissen geschrieben – besonders in seiner Schrift Die Freilich haben nicht erst die 1930er Jahre die radikale Kritik an einem tendenziell totalitären Gemeinschaftsdenken hervorgebracht. In seinem »Die Straße« übertitelten Brief an Franz Blei vom 20. 12. 1918 stellte bspw. Herrmann Broch fest, »radikal genommen«, sei »jede Gemeinschaft eine menschliche Entartung«, wobei er sich der Problematik dieses Begriffs nicht bewusst gewesen zu sein scheint. Vgl. H. Broch, »Die Straße«, in: Die Idee ist ewig. Essays und Briefe, München 1968, S. 27–30, sowie die Einleitung von P. M. Lützeler in: H. Broch, Menschenrecht und Demokratie. Politische Schriften, Frankfurt/M. 1978, S. 7–30.

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Grenzen der Gemeinschaft, die bei genauerem Hinsehen zugleich einem Denken restloser Vergesellschaftung Grenzen zieht, obwohl sie, zweifellos in polemischer Absicht, zunächst suggeriert, an der Alternative Gemeinschaft versus Gesellschaft »scheiden sich die Geister«. 22 Tatsächlich schien es sich seinerzeit um einander ausschließende Bestimmungen dessen zu handeln, was die in Wahrheit »dem Menschen« angemessene Form sozialen Lebens sei. Nur gegen den als einzig angemessene Antwort auf diese Frage ausgegebenen Begriff der Gemeinschaft wendet sich Plessner zunächst. Darüber hinaus ist aber seine Schrift bis heute gerade darin unvermindert aktuell, wie sie eine Überwindung jener schlechten Alternative nahelegt. Auf den ersten Blick liest sich Plessners Schrift heute als zeitbedingtes Dokument der Warnung vor einer theoretischen Fehlentwicklung weniger in den Kultur- und Geisteswissenschaften, als vielmehr im politischen Leben nach der Jahrhundertwende, das sich einer höchst fragwürdigen »Gemeinschaftsgesinnung« überantworte (GG, S. 31). Diese offenbare ihre ideologische Denkweise durch die Apologie eines besinnungslosen Sichverschenkens an Gemeinschaften, in denen »das Gesetz des Abstandes« nichts mehr gelte (GG, S. 26). Muss eine geradezu abstandslose Vergemeinschaftung nicht auf eine Art Verschmelzung und insofern ironischerweise geradezu auf eine Auflösung des Sozialen hinauslaufen? Jenes »Gesetz« kann Plessner zufolge offenbar nur in einer Gesellschaft durchgängig respektiert werden. In Wahrheit dürfe aber auch keine Gemeinschaft darauf aus sein, die fragliche Distanz zwischen ihren Mitgliedern tilgen zu wollen. Hier liegt bis heute eines der wichtigsten Desiderate, die uns Plessner zu bedenken gegeben hat: Wie ist ein unaufhebbarer Abstand zum Anderen selbst in der intimsten bzw. engsten Gemeinschaft vorzustellen? Warum erweist sich jede Gemeinschaft als Gemeinschaft auf diese untilgbare Distanz geradezu angewiesen? 23 Und H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924, S. 30 (= GG). 23 Blanchots Analyse »uneingestehbarer« (inavouable) Gemeinschaft kann als direkte Antwort auf diese Frage aufgefasst werden. Für ihn liegt die radikalste Vergemeinschaftung aber gerade dort vor, wo man durch »grenzenlose Preisgabe« in ihr ganz und gar »außer sich« gerät, so dass nicht etwa jeder Abstand aufgehoben, sondern die Trennung vom Anderen am radikalsten verwirklicht wird. So aber wird eine ›integrierte‹ Vergemeinschaftung unmöglich (Die uneingestehbare Gemeinschaft, S. 31). In seiner Analyse von M. Duras’ La Maladie de la mort deutet Blanchot die Preisgabe 22

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Helmuth Plessners Kritik der Gemeinschaft

wie kann eine Gemeinschaft dem fraglichen Abstand anders gerecht werden als eine Gesellschaft, die prima facie jenes »Gesetz« ohne weiteres in einem Ethos der Distanz respektiert, das allseits Verhaltenheit, Maßhalten, die Tugend der Zivilität und Rücksicht statt Rückhaltlosigkeit verlangt (GG, S. 37)? Sollte nicht auch eine Gemeinschaft in ihrem Innern von Rücksicht aufeinander geprägt sein? Oder muss eine Gemeinschaft qua Gemeinschaft ein »Preisgeben der Würde« an die in ihr gepflegte »Brüderlichkeit« abverlangen (GG, S. 29)? Wäre in diesem Fall nicht jegliche Gemeinschaft besser zu verwerfen? Plessner ist auf den ersten Blick derart mit einer Rechtfertigung des Gesellschaftlichen als Hort der Zivilität beschäftigt, die den Menschen nicht eine sozial destruktive Nähe abverlangt, dass ihm selbst diese in Richtung auf ein anderes Gemeinschaftsdenken weisenden Fragen verborgen zu bleiben scheinen. So spricht er sich für eine rückhaltlose Bejahung der Pflichtenlast einer zivilisierten Gesellschaft aus und widersetzt sich der Proklamation eines Modells der communio als »ausschließlich menschenwürdige[r] Form des Zusammenlebens« (GG, S. 38). Er redet darüber hinaus der Sehnsucht nach einem maskierten Leben das Wort, das darauf angelegt sei, Anderen wenn nicht ganz verborgen zu bleiben, so doch nicht gewaltsam seiner Privatheit beraubt zu werden in einer Nötigung zur Distanzlosigkeit. Wo diese drohe, müsse eine »Lösung aus Gemeinschaft« möglich sein, um wieder einen Abstand wahren zu können, ohne den es in Wahrheit kein soziales Leben geben könne. Während die Regeln gesellschaftlichen Lebens mit ihrer Indifferenz gegen individuelle Lebenswirklichkeit und mit ihrer Widersetzlichkeit gegen jegliche Vergemeinschaftung des Gesellschaftlichen »eine sozialformende Macht ersten Ranges« zu sein scheinen (GG, S. 49, 51), die jede Gemeinschaft zwinge, sich von ihr abzuheben, laufe letztere ständig Gefahr, das Opfer des individuellen Selbst zu ihren Gunsten abzuverlangen. Völliger Einklang sei aber ohnehin unmöglich. Weil »die Seelen« mehr seien, »als was sie wirklich sind«, trage jede Form des Zusammenlebens deshalb den »Keim des Aneinandervorbeilebens« in sich (GG, S. 53 f.). So gesehen kann man in Wahrheit gar nicht umhin, als in einem unaufhebbaren Abstand zuals ein besonderes, vor allem erotisches Verhalten, an anderer Stelle aber suggeriert er auf den Spuren von Levinas ein unvermeidliches Preisgegebensein im Zeichen »unendlicher Andersheit« (ebd., S. 34, 71, 76), die gewiss nicht der Liebe vorbehalten ist.

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einander zu leben. Ob man aneinander vorbei lebt, entscheidet sich demnach erst im Verhalten zu diesem Abstand und in ihm. Darüber hinaus aber treibe die Individualisierung die Menschen zu einer Distanz, die erst durch Distanzierung gewonnen und aufrechterhalten werden kann (GG, S. 55). Auf dem Weg der Individualisierung realisiert der Einzelne »unsagbare Möglichkeiten des Andersseins«, die er weder in einer Gemeinschaft noch im gesellschaftlichen Leben zu erkennen geben, sondern »ungekannt wissen« wolle. Nur so, suggeriert Plessner, könne er sich »aufbäumen gegen ein verendlichendes Bild«, das ihn hier und dort auf eine starre Identität festzulegen drohe (GG, S. 54 f.). Immerhin könne es aber eine Gesellschaft zulassen, dass sich jemand in seinem Anderssein als Person gleichsam maskiert zeige und so nur dem ersten Anschein nach »auf Achtung der Individualität verzichte« (GG, S. 75). Buchstäblich unerkannt, inkognito, müsse sich jeder in einer Gesellschaft bewegen, der es einerseits gerade nicht darauf ankomme, jeden als individuellen Anderen zu beachten und zu würdigen, die andererseits aber durchaus zulassen könne, dass man sich jenseits der primär wahrzunehmenden Maskierung als »anders« wahrnimmt. Wenigstens so, indem es nämlich maskiert auftreten darf, finde das individuelle Selbst im gesellschaftlichen Leben einen Rückhalt, wohingegen gemeinschaftliches Leben die Illusion nähre, es sei ein Zusammenleben ohne jegliches ›Aneinandervorbei‹ und bar jeglicher Distanz zu einem unaufhebbaren Anderssein möglich, das es wohl zu unterdrücken, aber niemals aus der Welt zu schaffen vermöge. So erscheint Gemeinschaft bei Plessner als ein gewaltsames Phantasma, nicht als reale Möglichkeit, praktisch einzulösen, was der Begriff in Aussicht stellt. Gemeinschaft ist nicht die traditionale historische oder logische Voraussetzung der Gesellschaft, Gesellschaft keine Pluralität von Gemeinschaften und erst recht nicht ihrerseits eine Art der Gemeinschaft. Alle drei (noch heute diskutierte 24)

Alles hängt hier davon ab, was man unter Gemeinschaft versteht. Von John Dewey bis David Held hat sich eine Auffassung von Gesellschaft als Gemeinschaft durchgehalten, wohingegen John Rawls sie ablehnt, insofern eine Gemeinschaft durch eine »umfassende Lehre« menschlichen Lebens bestimmt ist; J. Dewey, The Public and its Problems, New York 1927, S. 148; D. Held, »Die Globalisierung regulieren?«, in: M. Lutz-Bachmann, J. Bohmann (Hg.), Weltstaat oder Staatenwelt?, Frankfurt/M. 2002, S. 104–124, hier: S. 114; J. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 2003, S. 111 ff.

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Deutungen verwirft Plessner in einem Atemzug, indem er den Begriff der Gemeinschaft als ein Phantasma zu deuten nahelegt, das mit der Tilgung einer immer schon im Anderssein Anderer und in ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Individualität gegebenen Distanz liebäugeln lässt; und zwar in einer regressiven Reaktion auf die Erfahrung einer durchgreifenden Vergesellschaftung, die ›distanziertes‹ Leben zu einer unabdingbaren Voraussetzung dessen gemacht hat, was man gewöhnlich als soziale und politische Integration bezeichnet. Tatsächlich aber verwirft Plessner den Begriff der Gemeinschaft keineswegs. Mit den Leitbegriffen Würde, individuelles Anderssein, das stets nur einen ambivalenten Ausdruck finden kann, und Zivilität bringt er vielmehr ein Ethos des gesellschaftlichen Lebens zur Sprache, dem ein Ethos gemeinschaftlichen Lebens entspricht, sofern dieses sich nur an den gleichen Maßstäben, freilich im Umkreis namentlich bekannter Mitmenschen, ausrichtet. Auch in einer privaten Gemeinschaft soll niemand auf ein ihn »verendlichendes Bild« reduziert werden; auch hier soll eine Art (bzw. Vorform) der Zivilität, nämlich ein respektvoller Umgang miteinander vorherrschen, auch hier niemand gezwungen werden, die im Ausdruck gewahrte Distanz, wie sie ein gesellschaftlich maskiertes Leben gestattet, gewaltsam preiszugeben. 25 Gemeinschaften und Gesellschaften müssen mit diesen Maßstäben nur jeweils anders umgehen; und zwar schon deshalb, weil letztere es unvermeidlich mit weit überwiegend anonymen Zeitgenossen zu tun haben, denen ein indifferentes Aneinandervorbeileben-können gerade zum Vorteil eines von nachbarschaftlichen, verwandtschaftlichen und ethnischen Zwängen befreiten eigenen Lebens gereicht, wohingegen jede Gemeinschaft durch ein solches Aneinandervorbeileben ruiniert werden muss. Nicht an der Alternative Gemeinschaft vs. Gesellschaft, sondern an der vermeintlichen Vorbildlichkeit einer Gemeinschaft, die jene Maßstäbe ignorieren dürfte, scheiden sich für Plessner in Wahrheit

Hier wie dort kann man nur durch Künstlichkeit mit sich im Einklang stehen; nicht zuletzt darauf bezieht sich die Rede von einer exzentrischen Lebensform (GG, S. 43). Wenn sie sich maskiert zeigt, so geht es dabei stets zugleich um Schutz und vermittelten Ausdruck – und sogar ums »wahre Gesicht« (ebd., S. 89), das öffentlich als unergründliches oder unangreifbares in Erscheinung treten kann, wenn es im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt (GG, S. 100 f.). Hier besteht zweifellos eine gewisse Nähe zur Philosophie von Levinas. 25

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die Geister. Sich zu vergemeinschaften bleibt für ihn ein lohnenswertes Ziel, vorausgesetzt die Bedingungen eines freien gesellschaftlichen Lebens werden dabei höchstens zwischenzeitlich suspendiert, niemals aber ganz aufgehoben. Zugleich soll man in Plessners Verständnis keiner Vergesellschaftung derart unterworfen werden, dass jeder Ausweg in eine Gemeinschaft versperrt wird. So will Plessner die Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft aufrechterhalten und weder den einen Begriff im anderen aufgelöst noch den einen vom jeweils anderen beherrscht wissen. Wie die Differenz jeweils zum Tragen kommt, bemisst sich für ihn auf jeden Fall an einem Dritten: an der Individualität, Alterität und Würde eines Menschen, der sich stets nur bedingt gewissen Formen der Vergemeinschaftung oder der Vergesellschaftung einfügen wird und jede unbedingte Form der sozialer Integration meiden sollte, auch um den Preis der Dissidenz, der Marginalität, der Emigration oder des Exils. 26 Nicht nur wandte sich Plessner gegen ein von agonaler Öffentlichkeit abgekehrtes Mitsein als vermeintlich abgeschlossene Sphäre der Pseudovertrautheit 27, sondern auch gegen eine rückhaltlose Auslieferung an eine Vergesellschaftung, die von diesem Dritten nichts mehr weiß 28 und darum ebenso totalitär zu werden droht wie eine fragwürdig idealisierte, radikale und angeblich nur so authentisch mögliche Gemeinschaft.

Plessner erkannte im Versuch, Gesellschaft als eine Art der Gemeinschaft, etwa als Volksgemeinschaft zu denken, die seinerzeit brisanteste Gefahr. Dass sich auch dieses Ansinnen als zwiespältig begreifen lässt, zeigt Deweys Versuch, Gesellschaft als eine Gemeinschaft zu konzipieren; allerdings unter ganz anderen Prämissen. Vgl. W. Eßbach, J. Fischer, H. Lethen (Hg.), Plessners ›Grenzen der Gemeinschaft‹, Frankfurt/M. 2002. 27 Angesichts der Vielschichtigkeit von Plessners Text sehe ich hier ab von seiner zeitbedingten Kritik des sozialen Radikalismus als einer rückhaltlosen Kritik des ›Bestehenden‹ und als einer Verachtung des Bedingten, der Zweideutigkeiten des Lebens, des Scheins und jeder Heiterkeit »in dem Bewußtsein, dass nichts unbedingt verpflichtet« und ein »Gran Beliebigkeit in allem steckt« (GG, S. 19). 28 D. h. für Plessner insbesondere: dass sie vergessen lässt, dass sich in Gesellschaft zwar jeder reduzieren lassen muss auf einen ›Jedermann‹, dass aber gerade »im Durchblick« durch seine Ersetzbarkeit die Unersetzbarkeit der individuellen Person dennoch zur Geltung komme. H. Plessner, »Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung«, in: Gesammelte Schriften, Bd. X, Frankfurt/M. 1985, S. 212– 226, hier: S. 224. 26

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Innere Grenzen jeglicher Vergemeinschaftung

3.

Innere Grenzen jeglicher Vergemeinschaftung

Das heutige, nicht unwesentlich von Plessner inspirierte Gemeinschaftsdenken erweckt den Eindruck, diese Lektion beherzigt zu haben: In Gesellschaft soll jeder anders und fremd bleiben können und doch mit unaufdringlichen, zivilen Umgangsformen rechnen dürfen, die gleichwohl nicht ausschließen, dass man sich ›zeigt‹ – aber gerade nicht ›nackt‹ bzw. schutzlos, nicht ›unvermittelt‹, nicht mit lächerlichem Authentizitätsanspruch, aufgeführter Echtheit und theatralisch in Szene gesetzter Glaubwürdigkeit. 29 Nicht selten wird unter Rekurs auf Theodor W. Adornos Hoffnung, es sei eine Gesellschaft einzurichten, in der man »ohne Angst anders sein« und anders bleiben (oder werden) dürfte, in dieser Perspektive geradezu ein »Recht auf Differenz« postuliert, dem sogar Michel Foucault beizupflichten schien. 30 Von Axel Honneth über Seyla Benhabib bis hin zu Tzvetan Todorov und Zygmunt Bauman wird jedenfalls kein Gemeinschaftsbegriff mehr verteidigt, der impliziert, man müsse den Preis der eigenen Differenz, Ander(s)heit, Individualität oder Würde dafür zahlen, zum Leben Anderer dazuzugehören. Im Gegenteil: es gehört offenbar zunehmend zum guten Ton und geht bisweilen wie eine Selbstverständlichkeit durch, radikale, unaufhebbare Ander(s)heit schlicht vorauszusetzen (als ob klar wäre, wofür der Begriff steht) und deren Achtung einzufordern. Das gilt für den Rechtsstaat genauso wie für eine sich einigen Beobachtern zufolge längst formierende Welt-Gesellschaft (die Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als »Ganzes anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender, Wesen [Welt genannt]« angesprochen hatte 31). In eine solche Übersehen wird freilich zumeist, wie Plessner im Zuge seines Plädoyers für eine nicht ›direkt‹ bzw. unbedingt zu verwirklichende Sozialität Gewalt rechtfertigt, wohingegen der soziale Radikalismus auf ein Jenseits der Gewalt in reiner Gemeinschaft abziele (GG, S. 24 f.). Das Leben lasse keine derartige Gemeinschaft zu. So wird implizit das Ansinnen reiner Vergemeinschaftung als Gewalt gedeutet, gerade insofern ihm zugleich die Absicht zuzuschreiben ist, Menschen gewaltlos zusammenzuführen. Gerade dagegen richtet Plessner sein Plädoyer für eine zivilisierte Vergesellschaftung, die mit Gewalt sollte leben können, statt deren Liquidierung zu versprechen (vgl. GG, S. 46). 30 M. Foucault, »Subjekt und Macht«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV. 1980–1988, Frankfurt/M. 2005, S. 269–294, hier: S. 274 f. 31 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 411. Von einer derart unbegrenzten Gemein29

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Weltgesellschaft sollen wir uns nun alle solidarisch einbezogen wissen, ungeachtet einer absoluten Verschiedenheit (Habermas), die unsere politisch-rechtliche Gleichheit konterkariert. Was dabei weitgehend verloren geht, sind Vorstellungen zwischen Individuen und dem Horizont der Menschheit vermittelnder Lebensformen. Welche Möglichkeiten der Verbindung, der An- oder Verknüpfung bestehen hier, welche erodieren, welche entstehen neu? Wie stabil, flexibel oder verlässlich sind sie? Und vor allem: in welcher Form erlauben sie uns noch, ›wir‹ zu sagen? Sei es, indem wir eine gewisse Einigkeit, ein Einverständnis oder normative Orientierungen voraussetzen oder einfordern können; sei es, um solidarisch oder advokatorisch für Andere zu sprechen; sei es als an Vergemeinschaftung oder an Vergesellschaftung Interessierte? Wer kann sich wie mit wem, medial vermittelt, d. h. kaum noch ortsgebunden und auf größte Distanz gemeinschaftlich oder gesellschaftlich verbunden fühlen und daraus die Berechtigung ableiten, für sich und andere zu sprechen? Kann es sich fortan nur noch um virtuelle, von realen Räumen des Zusammenlebens weitgehend abgelöste Orte der Wir-Rede handeln? Fallen also räumliche und soziale bzw. politische Nähe und Ferne, Verbindung und Verbindlichkeit von nun an immer mehr auseinander? Stehen wir gerade deshalb, weil dies möglich ist, auch vor neuen, transnationalen Formen vernetzter Teilnahme und -habe am entfernten Leben Anderer, die ihrerseits auf lokale, nicht-virtuelle Lebensformen zurückwirken – etwa in Phasen des politischen Protests, der öffentlich-demonstrativ vorgetragen wird? 32 Wird die bislang vielfach lokal vorgegebene, etwa nachbarschaftliche Nähe nun mehr und mehr durch Formen der Wahlverwandtschaft ersetzt? 33

schaft hätte man Plessner kaum überzeugen können. Zwar glaubte er, »rassische« Verschiedenheit berühre die Einheit der Vernunft, des Überzeugens mit Gründen nicht. Aber den Glauben an eine echte und nur vernünftige Gemeinschaft schien er einem »rationalistischen Kommunismus« zuzuschreiben (GG, S. 47 f.), dem er keineswegs anhing. 32 Man denke nur an die »Facebook-Revolution« in Ägypten, an die sich anschließenden Ereignisse des längst wieder verblassten »Arabischen Frühlings« in Tunesien und in Libyen. 33 Mit den klassischen, von Ferdinand Tönnies vorgegebenen Alternativen willentlicher sozialer Verbindung (»Wesenswille« vs. »Kürwille«) ist hier nicht mehr auszukommen, und noch weniger mit den Typen der Vergemeinschaftung im Sinne des »Blutes« (gleichgesetzt mit Verwandtschaft), des Ortes (gleichgesetzt mit Nachbarschaft) und des Geistes (gleichgesetzt mit Freundschaft).

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Innere Grenzen jeglicher Vergemeinschaftung

Hier stehen alle Grundbegriffe, mit deren Hilfe man sich bislang eine Art Topografie des Sozialen zurechtgelegt hatte, zur Disposition. Was soll man sich etwa unter einer medial vermittelten Nähe vorstellen, die allenfalls ausnahmsweise leibhaftig realisiert werden kann? Und was unter einer virtuellen Gemeinschaft, in der man niemals an Ort und Stelle am Leben Anderer Anteil nimmt? 34 Die heutige theoretische Diskussion des Gemeinschaftsbegriffs untersucht weniger solche Fragen grenzüberschreitender äußerer Vergemeinschaftungsprozesse; vielmehr verschiebt sie die inneren Grenzen jeder denkbaren Vergemeinschaftung noch weiter, als es schon bei Plessner der Fall war, in die nahezu a-soziale Leere einer unaufhebbaren Alterität, Fremdheit oder Singularität, in die allenfalls noch Spuren führen. Nur der erste Begriff taucht schon bei Plessner auf: als Anderssein und Anderswerdenkönnen. Den Anderen mag man, wie medial vermittelt auch immer, zu Gesicht bekommen, niemals aber seine buchstäblich un-sichtbare Alterität, die ausschließt, dass irgendjemand je »mit Haut und Haaren […] in die Bindung eines überpersönlichen Lebens eingehen« kann (GG, S. 41). Allenfalls stellte Plessner im Gegensatz zu allen derartigen Vorstellungen indirekte »Teilnahme an einem den anderen Menschen vorenthaltenen Geheimnis« in Aussicht (GG, S. 42) – ob in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft. So nahe dieser Gedanke heutigem Alteritätsdenken kommen mag, im Vergleich zur Weimarer Zeit sind die Fronten der theoretischen Diskussion doch weit verschoben. In der Praxis mag die Warnung vor der Flucht in eine »symbiotische Seinsform«, in der man sich »mit anderen ungesondert« weiß (GG, S. 39), nach wie vor aktuell sein, in der theoretischen Diskussion ist sie es nicht. Niemand verteidigt noch ernsthaft eine totale Vergemeinschaftung (was allerdings nicht ausschließt, dass man dem in diesem Sinne abgelehnten Gemeinschaftsdenken dennoch verhaftet bleibt). Vielmehr scheint man darin zu wetteifern, sich in der Radikalität eines unbedingten Alteritäts- oder Differenzdenkens zu überbieten, das nicht erst jegliche Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern schon jede intime Zweisamkeit von innen unterhöhlt – so dass es sogar im Verdacht steht, sowohl die Möglichkeit von Vergemeinschaftung als auch jeder Vergesellschaf-

C. Rendueles, Soziophobie. Politischer Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie, Berlin 2015.

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tung durch absolute bzw. verabsolutierte Ansprüche nicht nur zu überfordern, sondern sogar unmöglich zu machen. 35 In diesem Verdacht stehen in jüngster Zeit namentlich Levinas und Derrida. Sie würden die Singularität des Anderen (eines »Anderen« jenseits aller empirischen, ontischen und politischen Andersheit, die uns in der Erfahrung konkret begegnet) geradezu zum Absoluten erheben, das unbedingte Ansprüche an uns adressiere, heißt es. Darin liege überdies eine schlechterdings anti-politische Versuchung, die einen eigenständigen Begriff des Politischen (und jeglicher politischen Gemeinschaft) letztlich zerstören müsse. 36 Ist das Politische nicht geradezu definiert als Raum oder Dimension der agonalen oder antagonistischen Überkreuzung von relativen und bedingten Ansprüchen, die sich in ihrem Widerstreit unvermeidlich gefallen lassen müssen, dass man ihnen nur bedingt Rechnung tragen kann? Wer die Diskussion um die politischen Implikationen des Denkens von Levinas und Derrida verfolgt hat, wird freilich unschwer erkennen, dass es in beiden Fällen keineswegs darauf hinauslaufen sollte, etwa das Politische dem singularen, unendlichen Anspruch eines Anderen einseitig bzw. absolut zu unterwerfen, sondern darum ging, zu erproben, wie sich denken lässt, dass wir womöglich jedem Anderen eine Gerechtigkeit schulden, die in keinem Recht und in keinem politisch konkretisierten Anspruch je aufgehen kann 37 – ohne dass dies dem Politischen nur als Mangel anzukreiden wäre. Die Unaufhebbarkeit des Anspruchs des Anderen soll gerade als Inspiration des Politischen gedacht werden 38, nicht als dessen Liquidierung im O. Marchart, Die politische Differenz, Frankfurt/M. 2010, S. 283 ff., 287, sowie das Kap. 6.5 ebd. zur »Gefahr des Ethizismus«. Wie diese Einschätzung an der alteritätstheoretisch-politischen Diskussion um das Werk von Levinas und Derrida vorbeiläuft, ist ersichtlich u. a. aus P. Delhom, A. Hirsch (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Levinas’ Philosophie des Politischen, Berlin 2005; Vf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008; U. Bröckling, R. Feustel (Hg.), Das Politische denken. Zeitgenössische Positionen, Bielefeld 2010. 36 Vgl. R. Rorty, Achieving Our Country, London, Cambridge 1998, S. 96 ff., 119. 37 Insofern ist man hier weit entfernt von einer schlichten Identifikation des Politischen mit dem Begriff der Gerechtigkeit. Vgl. dagegen H. Broch, der im oben zitierten Brief an F. Blei (S. 29) befand, »der Begriff des Politischen deckt sich mit dem der Gerechtigkeit. Eine andere Politik als eine, die zur Gerechtigkeit strebt, gibt es nicht. Interessenpolitik ist nicht Politik, sondern einfach Geschäft, mehr oder weniger verhüllt.« 38 Und in diesem Sinne spricht bes. Derrida immer wieder von einem Un-Möglichen, das ihm für den Sinn des Politischen konstitutiv zu sein scheint und keine faktische Unmöglichkeit bedeutet. 35

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Gemeinschaft als oder aus ›Mitsein‹ ?

Zeichen eines im Grunde weltfremden »Ethizismus«. Ich will aber von dieser anderswo geführten Debatte hier absehen und stattdessen die Frage weiter verfolgen, ob speziell bestimmte Schriften Jean-Luc Nancys andere Möglichkeiten eröffnen, einen zeitgemäßen Begriff der Gemeinschaft zu entfalten, der einer »faschistoiden« bzw. totalitären Interpretation keinen Vorwand (und keinen Grund) bietet und der zugleich nicht nur auf eine Subversion jeder Aussicht auf effektive Vergemeinschaftung hinausläuft.

4.

Gemeinschaft als oder aus ›Mitsein‹ ?

Weitgehend unbekümmert um die eigentümliche Nähe des Heidegger’schen Mitseins zu einer bestimmten politischen Deutung der sog. Volksgemeinschaft 39 glaubt Nancy offenbar, mit jenem Begriff den radikalsten Ansatzpunkt eines zeitgemäßen Gemeinschaftsdenkens gefunden zu haben (sps, S. 143 ff.). Das Mitsein tritt nicht etwa an zunächst je für sich gegebene Menschen heran, um sie nachträglich einer sie gleich machenden Sozialität zu überantworten (aus der sie sich ggf. auch wieder zurückziehen könnten). Es liegt auch nicht in einer zunächst beschränkten, lokalen Lebensform, die allenfalls selektiv Andere einbeziehen könnte. Derartiges ›ontisches‹ Denken in den ausgetretenen Bahnen des neuzeitlichen Individualismus sowie eines ihm äußerlich entgegengesetzten kommunitären Denkens behauptet Nancy mit Heidegger ein für alle Mal ontologisch überwunden zu haben. Mitsein, das bedeutet demgemäß das Sein-mit Anderen/m, eine unhintergehbare Öffnung zum Anderen hin; und zwar zu allen und allem (»den Menschen, Tieren, Pflanzen, Lebenden und Toten, Elektronen und Galaxien«; sps, S. 12). Diese Erläuterung wirft sogleich die Frage auf, ob es sich in jedem Fall um eine gleichermaßen gegebene Offenheit handeln kann. Nancy weiß: die Erde als Horizont des Mitseins ist »kein Hort der Menschlichkeit« (sps, S. 10). Sie »krankt« an sich, weil sich im Mitsein, das alle und alles einschließt, die Spur des Menschlichen verliert und weil es sich nicht ohne weiteres als menschliches Mitsein offenbart. So bleibt »der Mensch noch zu entdecken« – zwischen brutaler Kontiguität, Ansteckung, Berührung ohne Rührung und Mitgefühl. Das Sein ›mit‹ Anderem und Anderen kann sich auf ganz 39

Vgl. aber J.-L. Nancy, Philosophische Chroniken, Berlin, Zürich 2009, S. 38.

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XVII · Ausgesetzte Gemeinschaft – unter radikalem Vorbehalt

unterschiedliche Art und Weise zeigen: im schieren Zusammentreffen, im Anklopfen, in vieldeutigem Berührtwerden, im Schock und Ankommen beim Anderen, aber auch in der puren Gleichgültigkeit (sps, S. 62 f.). So gesehen müsste man versuchen, in den unterschiedlichen Arten und Weisen, in denen sich das Mitsein zeigt, dem menschlichen Mitsein auf die Spur zu kommen. Genau das legt Nancy nahe, wenn er feststellt, die Welt, die wir (mit allen und allem) teilen (ohne dass wir nur Teil oder Fragment von ihr als einem Ganzen wären), sei in der Tat »die Welt des Menschen«; und zwar gerade als das Inhumane bzw. »das Nicht-Menschliche, dem gegenüber das Menschliche exponiert ist« (sps, S. 43). Die Welt, zu der wir ursprünglich offen sind, erfahren wir im Lichte der Frage nach dem Menschlichen, eben weil es aus ihr heraus nicht wie von selbst begegnet. Es handelt sich nicht um eine lediglich indifferente, sondern um eine ungastliche Welt, in der die Antwort auf diese Frage als das Fehlende auffällt – jedenfalls ›Wesen‹, denen es an allem Wesentlichen mangelt, die also nicht unter Berufung auf ihr Sein sagen können, was oder wer sie sind. Sie sind der Welt exponiert als geradezu nicht-wesentliche Subjekte. 40 Als solche koexistieren sie aber nicht in einem indifferenten Sinne mit allem/n Anderen, sondern sprechen einander an und nehmen einander in Anspruch. Nancy geht so weit zu sagen, »die Anrede ist das Mit selbst« (sps, S. 13 f. 41), in dem sich von Anfang an nur geteilter Sinn ereignen könne. So ist die Anrede selbst dann, wenn sie eine konkrete Bedeutung übermittelt, unvermeidlich im zweifachen Sinne Mit-Teilung, die in jeder Kommunikation das Ereignis des Anspruchs und dessen Empfänger auseinandertreten lässt. Die Welt des Mitseins ereignet sich nur zwischen »uns anderen« (nous autres; sps, S. 19 f., 23), die nicht zunächst etwas oder jemand sind (Individuen oder Personen, die schon wüssten, wer sie sind, um dann aufeinander zu treffen, sich voneinander zu unterscheiden oder gegeneinander vorzugehen etc.). Vielmehr resultiert die Differenz zwischen ›uns‹ erst aus einem sinn-stiftenden Geschehen des Mitseins, ohne das es überZu Nancys im Sinn der Rede von Aussetzung mehrdeutiger Reformulierung des cogito (ego sum expositus) vgl. F. Dallmayr, »Eine ›undarstellbare‹ globale Gemeinschaft? Reflexionen über Nancy«, in: J. Böckelmann, C. Morgenroth (Hg.), Politik der Gemeinschaft. Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart, Bielefeld 2008, S. 106–132, hier: S. 116. 41 Paradigmatisch, wie Nancy selbst sagt, in der Form »ich richte mich an dich« (sps, S. 95). 40

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Gemeinschaft als oder aus ›Mitsein‹ ?

haupt nichts Anderes und keine Anderen für uns geben könnte. 42 Als originäres Sein, das uns erst einmal der Zugänglichkeit alles/r Anderen versichert, ist es uns freilich in jeder Bezugnahme auf Andere(s) bereits entzogen, die sich in vorgängigen Spielräumen des Mitseins bewegt, denen gegenüber sie immer schon zu spät kommt 43 – genauso wie jedes Sichunterscheiden, Sichausnehmen und -Abgrenzen. Alle diese Formen ›sozialen‹ Sichverhaltens weichen so bereits vom bloßen Mitsein ab, das ihnen stets entzogen bleibt und nicht zu dialektisieren ist (sps, S. 37, 41, 71, 122). So sind wir niemals ›unter uns‹ ohne Entzug gerade dessen, was uns im Mitsein immer schon aufeinander verwiesen hat. Das Gemeinsamsein (être-en-commun) im üblichen Sinne, das sich von einer ›fremden‹ Welt ›draußen‹ abgrenzt, bringt aber eben diesen Entzug zum Verschwinden (sps, S. 52). Und so gerät jede Art der Vergemeinschaftung, die eine begrenzte, lokale (oder auch virtuell ausgeweitete, in jedem Falle aber um den Preis einer Abgrenzung erkaufte) Zugehörigkeit stiftet, unter den Verdacht, den Entzug dessen, was ursprünglich menschliche Koexistenz überhaupt erst eröffnet, zu leugnen. Von dieser ursprünglichen, aber in jeder konkreten Gemeinschaft bereits vergessenen, ignorierten oder verleugneten Koexistenz sagt Nancy, in ihr beginne »mit jedem […] die Welt neu«; jeder sei ihr (singulärer) Ursprung, da es ›Welt‹ nur im Sichereignen von Sinn zwischen uns, im Zwischen, das uns vorausgeht, überhaupt gebe. Dieses Gegebensein von Welt liegt nicht in irgendeiner empirischen oder ontischen Vorhandenheit, sondern allein im Geschehen dessen, was sich zwischen uns ereignet, zwischen uns, die wir stets nur nachträglich fragen können, wer wir eigentlich sind, wer zu ›uns‹ zählt und wer (in welcher Hinsicht) nicht. Genau von dieser Nachträglichkeit aber müssen wir ausgehen. Niemand kann je in einer von ihr nicht kontaminierten Koexistenz Fuß fassen, wo nicht im Geringsten bestimmt wäre, wer jemand ist oder wer wir bzw. andere sind, wo nur ein Zwischen vorläge ohne Unterschiedene, die sich als voneinander differenziert und getrennt realisieren, und wo ›wir‹ vorerst nur durch ein reines ›mit‹ aufeinan-

Zweifellos besteht hier eine spezielle Nähe zum Spätwerk Merleau-Pontys. Doch grenzt sich Nancy vom Milieubegriff ab, den Merleau-Ponty gerne verwendete (sps, S. 25). 43 Ob Nancys Abgrenzungen gegenüber einem Undarstellbaren in diesem Zusammenhang überzeugen, bleibe dahingestellt (sps, S. 100). 42

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der verwiesen wären. 44 Tatsächlich gehen wir unvermeidlich von bestimmten Ausprägungen dessen aus, wie wir mit Vertrauten, nur namentlich Bekannten oder anonymen Zeitgenossen, aber auch (noch) mit Toten und (schon) im Hinblick auf künftige Nachkommen und Generationen leben. Immer schon und absolut unvermeidlich haben wir solche Ausprägungen gleichsam im Rücken, die uns ausmachen, wenn wir uns, nachträglich, fragen, ob sie nicht Abgrenzungen von Anderen implizieren, die sich nicht einfach ›draußen‹, außerhalb unseres ›eigenen‹ Seins mit Anderen befinden (so als ob objektive Grenzen in der Welt selbst gezogen wären), die vielmehr – aus welchen Gründen auch immer – ausgegrenzt, ausgeschlossen oder einfach übersehen und ignoriert werden und gerade als solche, als Unzugehörige ›dazugehören‹. So gesehen impliziert in der Tat jede Art der Abgrenzung ein Verhältnis des ›sozialen‹ Mitseins auch zu Anderen, die ›uns‹ gerade nicht zuzugehören scheinen. Jedoch zunächst nur in dem Sinne, dass dieses Verhältnis die abgegrenzte Zugehörigkeit überschreitet, die wie eine Figur vor dem Hintergrund eines bis weit in die Anonymität von bloßen Zeitgenossen, Vor- und Nachfahren ausstrahlenden Mitseins erscheint. In dieser Deutung begegnet uns niemals ein reines Mitsein oder eine unvermittelte Koexistenz, die ein Sein mit allem möglichen Anderen bedeutete, wie es bei Nancy der Fall ist 45; und zwar auf eine Weise, die das ›mit‹ jeglicher konkreten Bedeutung berauben muss. So aber ist keine Antwort auf die Frage nach jenem menschlichen Mitsein zu finden, das sich einer indifferenten und ungastlichen Welt gerade mangels jeglicher ›wesentlichen‹ Bestimmung dessen ausgesetzt sieht, was ›uns‹ ausmacht, was oder wer ›wir‹ sind. Ein als reines Mitsein bestimmtes Verhältnis, in dem wir auch zu allem Anderen stehen würden, kann uns in dieser Angelegenheit nicht weiterhelfen. Die Alternative zu diesem das Mitsein unbegrenzt ausweitenden Ausdrücklich heißt es bei Nancy: »der Begriff der Gemeinschaft [communauté]« scheine »nichts anderes mehr zum Inhalt zu haben als seine eigene Vorsilbe, das cum, das der Substanz und der Verbindungen entledigte Mit, dessen Innerlichkeit, Subjektivität und Personalität abhanden gekommen ist« (sps, S. 66, 69). 45 Ähnlich wie schon (der frühere) Heidegger versucht Nancy allerdings eine direkte Ontologie zu vermeiden, die den Eindruck erwecken würde, man könnte unvermittelt vom (Mit-)Sein reden, unter Umgehung alles Seienden. Letzteres ist der Ausgangspunkt, aber es wird »in seinem Sein als Mit-einander-seiend« zu bestimmen versucht (sps, S. 61). 44

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Indifferentes Mitsein, nicht-indifferente Gemeinschaft

und zugleich inhaltlich weitgehend entleerenden Ansatz ist keineswegs, wieder zu einem kommunitären Denken zurückzukehren, das in der Sittlichkeit der pólis oder einer gemeinschaftlichen Lebensform eine zunächst exklusive Sozialität verwurzelt sieht, die man mühsam erst auf Unzugehörige (ggf. neue Barbaren 46) oder Nichtmitglieder übertragen müsste. Bereits in jeder partikularen Lebensform zeigt sich eine Ereignishaftigkeit der Mit-Teilung, die nur dank Anderer, angesichts ihrer unaufhebbaren Alterität, möglich ist und niemals in der mitgeteilten Bedeutung aufgehen kann. Und jede Lebensform, die sich insofern unweigerlich auf eine innere Exteriorität hin öffnen muss, impliziert durch die bevorzugte Bezugnahme auf bestimmte Andere zugleich Grenzziehungen im Verhältnis zu anderen Anderen, die sie – unvermeidlich oder mit voller Absicht – nicht einbezieht. So kann es uns im Hinblick auf ein Mitsein, das in der Zugehörigkeit nicht aufgeht, nur darum zu tun sein, ob und wie die jeweilige Lebensform oder Gemeinschaft derartige Grenzziehungen als solche erkennbar werden lässt, ob sie sie kaschiert oder leugnet, d. h. wie sie sich zu ihnen verhält. 47

5.

Indifferentes Mitsein, nicht-indifferente Gemeinschaft

Wer das Soziale (oder das Politische 48) ›authentisch‹ nur in einem ursprünglichen, aber immer schon entzogenen Mitsein erkennt, muss am Ende jeder gemeinschaftlichen, nur bestimmte Andere einbeziehenden Lebensform die Schuld daran geben, das Reich dieser reinen Koexistenz zu verfehlen. Jede Gemeinschaft gerät so unter Ideologieverdacht, und von keiner Gemeinschaft sollten wir uns demnach noch versprechen, sich offen zu einer Offenheit zu verhalten, die überall und unvermeidlich im Spiel ist, sobald Andere in Erscheinung treten, um wieder Andere in Anspruch zu nehmen, sei es auch Siehe dazu H. Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 52006, S. 149, 190. 47 Diesen wichtigen Punkt hat immer wieder J. Rancière herausgestellt, der allerdings die in einer normalisierten Politik kaschierte Konfrontation zwischen Einbezogenen und nicht Einbezogenen, deren (ungehörte) Ansprüche nicht ›zählen‹, wie einen verdrängten Klassenkonflikt aufzufassen scheint (Zehn Thesen zur Politik, Berlin 2008, S. 23 ff., 28, 34 f.; siehe Anm. 43 zu Kap. XIX). 48 Nancy denkt den Begriff des Mitseins im Zeichen des »Rückzugs des Politischen«, aber als ursprüngliche »Sozialität« oder »Soziation« (sps, S. 67 f., 81). 46

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nur durch ihre stumme Präsenz (wie die Flüchtlinge, die man an den Grenzen der ›Festung Europa‹ abfängt, sofort interniert oder abschiebt, damit sie ihre Stimme gar nicht erst erheben können). Nicht an dieser Offenheit, der wir so oder so ausgesetzt sind, sondern am differenziellen Verhalten zu ihr entscheidet sich, welche Art von Gemeinschaft wir ggf. vorziehen oder vermeiden sollten. Demgegenüber schreckt Nancy wohlweislich davor zurück, seine Besinnung auf die letzten, aber uns immer schon entzogenen Ursprünge des Sozialen bzw. des Politischen mit dem Versprechen einer ›anderen Politik‹ zu verknüpfen oder aus ihr eine ethische Herausforderung zur Einbeziehung, Achtung oder Anerkennung des Anderen abzuleiten (sps, S. 49, 51). Das ›ursprüngliche‹ Mitsein bleibt als ontologische Dimension der Koexistenz derart unbestimmt, dass alle diese Begriffe nur noch als deren sekundäre Modulationen in Betracht kommen, die aus bestimmten Entscheidungen zu folgen scheinen, wie man sich in konkreten sozialen und politischen Spielräumen verhalten will. Aus dem Mitsein allein ist nichts dergleichen zu entnehmen. Schon bei Heidegger ist die pure Gleichgültigkeit der Sorge um Andere insofern gleichgestellt: in beiden Fällen handelt es sich um Ausformungen eines Mitseins, das uns von sich aus weder in die eine noch in die andere Richtung festlegt. Es bleibt also sozial und politisch indifferent. 49 Es könnte sich, wie Levinas sarkastisch anmerkte, ohne weiteres auch als Zusammenmarschieren manifestieren. 50 Während Levinas daraus aber die Konsequenz zieht, die Ontologie des Mitseins selbst sei aufzugeben und nach einer nichtindifferenten Sinnbestimmung des Sozialen müsse womöglich »jenseits des Seins« gesucht werden, wehrt sich Nancy gegen den Gedanken, das Mitsein einem bestimmten Anspruch des Anderen zu unterwerfen, der am Ende in eine Form ethischer Repression umschlagen müsste, wie er meint (sps, S. 66, 82, 124 ff.). Aber ist das die einzige Alternative zu einem ontologisch formalisierten Mitsein als unspezifischem Offensein für Andere und alles Andere? Wenn Nancys Dekonstruktion der Gemeinschaft nur noch ein gleichsam nacktes ›cum‹ zur Sprache bringt (nicht etwa den »Sinn

Vgl. die Abgrenzung gegen eine Hypostasierung des Anderen (sps, S. 46, 61, 77, 88). 50 E. Levinas, Zwischen uns, München, Wien 1995, S. 148; ders., Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 135. 49

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Indifferentes Mitsein, nicht-indifferente Gemeinschaft

des Mit«, sondern das »Mit des Sinns« 51), so ist daraus für einen kritischen Gemeinschaftsbegriff allenfalls dies zu gewinnen: Er sollte deutlich machen, wie das Mitsein in keiner Offenheit für Zugehörige, d. h. in keiner Lebensform je aufgehen kann, um einer Verleugnung dieser Offenheit den Weg zu verbauen. Doch daraus ergibt sich nicht, wie Mitsein ›positiv‹ sollte Gestalt annehmen können – zumal wenn es nichts weiter bedeutet, als dass wir »zum Besten und zum Schlimmsten« versammelt 52 sind in Lebensformen, die uns niemals eine fest im Verhältnis zu Anderen gegründete Identität versprechen, sondern allenfalls partielle »Identifizierungen« zulassen und immer wieder zur Des-Identifikation auffordern, sobald sie in Aussicht stellen, wir könnten in einer gemeinschaftlichen Zugehörigkeit wirklich aufgehen (sps, S. 106, 110, 112). Die begründete Furcht vor dieser Aussicht mag erklären, warum man sich vor jeglichem gemeinschaftlichen bzw. vergemeinschafteten Leben in Acht nimmt; sie lehrt aber nicht, woraus ihr im Sinne des Besseren (wenn schon nicht des Guten bzw. des Besten) Kraft erwachsen könnte. Dieses Defizit fällt schmerzlich ins Gewicht, wo Nancy, nachdem er sich über den »armseligen« Begriff der Gesellschaft mokiert hat, seinerseits nicht über eine indifferente Rede von einem Netz von KoExistenzen hinaus gelangt, denen jede konkrete Vermittlung im Sinne einer zweideutig geteilten, vergemeinschafteten oder vergesellschafteten Lebensform abgeht (sps, S. 83, 110). Wie soll etwa auf dieser Basis die »gewaltsame Unmenschlichkeit des Kapitals« (auf der Höhe der Globalisierung) zurückgewiesen werden (ebd., S. 117 f., 79)? Wie, wenn nicht unter Rekurs auf Ansprüche, nicht gewaltsam verletzt zu werden, und auf Formen ihrer politischen Artikulation, die sie als berechtigt ausweisen könnten? Wird mit solchen Ansprüchen nicht ein indifferentes Mitsein durchbrochen, in dem jederzeit das Schlimmste und das Beste geschehen kann? Der Spur solcher Ansprüche in einer Vielzahl von Stimmen nachzugehen, in denen geteilter Sinn zur Aussprache kommt, bedeutet nicht, sie alle einem einzigen, eindeutigen Anspruch unterzuordnen. Noch weniger bedeutet es, womöglich wieder eine einzige Stimme zu autorisieren, die für alle Anderen sprechen und deren Pluralität erneut zum Verschwinden Sps, S. 68. Am Ende geht es nur noch um ein unrepräsentierbares »Ko« als »Dis« ohne Sein (sps, S. 69, 78, 101, 111). 52 Vgl. dieser Formulierung sps, S. 65, sowie J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 489, 492. 51

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bringen dürfte (vgl. sps, S. 132 f.). Doch in seiner Apologie der ursprünglichen Offenheit des Mitseins, deren Entzug angeblich alle Formen der Vergemeinschaftung und der Vergesellschaftung vergessen oder verleugnen, vergisst Nancy, dass wir dieser rückhaltlosen Offenheit (die uns einer Welt aussetzt, in der sich die Spur des Menschlichen verliert) nicht nur exponiert sind. Er vergisst, dass wir uns in dieser Offenheit auch selbst exponieren müssen, um zum Ausdruck zu bringen, auf welche Ansprüche es ankommt, welche von ihnen zählen und Gewicht haben. Wo das nicht geschieht, kann nicht einmal ein produktiver Streit anheben. Jene Offenheit würde nur mit Leere gefüllt (sps, S. 120, 128, 153), der sich nun auch irgendwelche Machthaber bemächtigen könnten, wenn ihr keinerlei Hinweis darauf zu entnehmen wäre, wie man in – bedingten, nicht-totalitären – Formen der Vergemeinschaftung oder der Vergesellschaftung solidarisch »gemeinsame Sache« machen oder ein »gemeinsames Anliegen« verfolgen sollte (sps, S. 160 f.). Jenes erklärtermaßen »leere« Mitsein zu beschwören, genügt gewiss nicht für ein konkretes Leben mit Anderen (sps, S. 134 f., 142). Es taugt nicht als abgründige »Grundlage« eines Lebens mit Anderen oder gar für Andere. Es kann auch in einem gewaltsamen Leben gegen Andere Gestalt annehmen und lehrt uns nicht einmal, ob es im Verhältnis zu ihnen selbst im Fall radikaler Konflikte wenigstens zur Nicht-Indifferenz bestimmt ist (worin ein Autor wie Levinas das Minimum jeglicher Sozialität erkennt 53). Mehr noch: es steht politischtechnischen Bemächtigungsversuchen jeglicher Couleur offen. Insofern macht Nancy ironischerweise durch seine eigene Philosophie deutlich, inwiefern uns »die 30er Jahre« des vorigen Jahrhunderts wieder bevorstehen könnten: in dem Fall nämlich, wenn uns als »Grund« sozialer und politischer Gemeinschaft nur noch ein abgründiges Fehlen von Gemeinschaft zur Verfügung stünde, mit dem sich niemand sollte identifizieren dürfen. Der Aufruf zur Des-Identifikation mag zwar dazu beitragen, vor fragwürdigen Aneignungen exkluOhne diesen Begriff der Nicht-Indifferenz ist m. E. überhaupt nicht zu denken, wie und warum sich menschliches Leben als nicht zu verletzendes offenbart und danach verlangt, als solches wahrgenommen, beachtet und anerkannt zu werden. Deshalb auch steht die Zufügung von Schmerz von Anfang an unter Gewaltverdacht: sie verletzt Andere, von denen (auch wortlos) der Anspruch ausgeht, nicht gewaltsam ›traktiert‹ zu werden. Insofern dieser Anspruch immer und unvermeidlich im Spiel ist, ist überhaupt kein absolut indifferentes, allenfalls ein nachträglich ihn vergleichgültigendes Verhalten zum Anderen möglich.

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siver Zugehörigkeiten und Mitgliedschaften zu bewahren. 54 Aber zur Gestaltung sozialer und politischer Gemeinschaften trägt er an sich noch nichts bei. Vielleicht zieht Nancy selbst deshalb ein »Ethos« in Erwägung, das, dem Wortsinn nach, einen Ort der Sorge um Gemeinsames impliziert (sps, S. 149). Sollte die von ihm und anderen vorgetragene radikale Kritik des Gemeinschaftsbegriffs dahin führen, jede Art der Gemeinschaft einer im Grunde unzulässigen Identifikation mit einem Wir zu verdächtigen, das an jene Scheiterhaufen und Guillotinen erinnert, von denen bei Jorge Semprún die Rede ist, so würde sie auch kaum mehr dazu beitragen können, all den Anlässen zur Klage zur Sprache zu verhelfen, die »aus dem Mund von Millionen Flüchtlingen, Deportierten, Belagerten, Versehrten, Hungernden, Vergewaltigten, Verschanzten, Ausgeschlossenen, Exilierten und Ausgewiesenen« zu hören sind (sps, S. 11). Und zwar in einer Welt, die zum ersten Mal »entblößt dasteht als Welt, die nichts als Welt ist, absolut und ohne Rückhalt, ohne jeden Sinn außerhalb«, und in der es gleichwohl »unbedingt« legitim sein soll, »wir zu sagen«, weil es für jede Art solidarischer Sorge schlechterdings unentbehrlich ist. Es fragt sich nur, wie diese Rede im Lichte einer unaufhebbaren Unmöglichkeit ›restloser‹ Vergemeinschaftung zu verstehen ist und wie sie mit Bezug auf Ansprüche glaubwürdig sein kann, die nicht immer schon »im Recht sind« (sps, S. 73, 83); nicht einmal dann, wenn man sich auf eine (unbeweisbare, allenfalls zu bezeugende) Würde des Anderen oder auf die genauso prekäre Verantwortung für den Nächsten beruft (sps, S. 118, 126). Ob diese (oder andere) Ansprüche so oder so ›zählen‹, bleibt im Dissens zu klären, zu dem es als Voraussetzung dafür, dass wir uns über diese Fragen überhaupt auseinandersetzen, jedoch nicht kommt, wenn wir nur einer leeren Offenheit des Mitseins ausgesetzt sind, ohne auch uns selbst zu exponieren im stets anfechtbaren Eintreten für bestimmte, als berechtigt erkannte und gewürdigte Ansprüche Anderer, die nicht (oder zu wenig) ›zählen‹. So zeichnet sich als Fluchtpunkt der aktuellen Kritik jeglicher Vergemeinschaftung die Frage ab, ob wir heute nicht ›ausgesetzte‹ Gar nicht erst erwogen werden derartige Revisionsmöglichkeiten des Gemeinschaftsbegriffs in einer aktuellen, stichwortartigen Diskussionsbilanz: R. Kreissl, »Community«, in: U. Bröckling et al. (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M. 2004, S. 37 ff.

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Gemeinschaften zu denken haben, denen nicht nur jeglicher letzte Grund und jede abgeschlossene Identität ›fehlt‹, sondern die auch in der Lage wären, gleichwohl sich auszusetzen im Einsetzen für Andere, die ihnen nicht zugehören oder nicht in ihnen aufgehen können – wie wir alle. Nur wenn sich ein Ethos des Sichaussetzens, das sich nicht in einem unvermeidlichen Ausgesetztsein erschöpfen dürfte, in diesem Sinne denken ließe, bliebe die Kritik des traditionellen Gemeinschaftsdenkens nicht bei radikalen Vorbehalten stehen, die sie mit guten Gründen geltend macht. 55 Und nur unter dieser Voraussetzung bliebe sie nicht dazu verurteilt, immer von neuem vor den Gespenstern einer angeblich faschistoiden Wiedervergemeinschaftung zu warnen und jegliche Rede von Gemeinschaft zum politisch gefährlichen Anachronismus zu stempeln.

Ich lasse dahingestellt, inwieweit Nancy selbst in diese Richtung vorgestoßen ist, etwa in seinem »Lob der Vermischung. Für Sarajewo, März 1993«, in: Lettre International 21 (1993), S. 4–7; auch in: M. Babias (Hg.), Das Neue Europa. Kultur des Vermischens und Politik der Repräsentation, Wien 2005, S. 55–64.

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Teil E Subjektivierung, Dissens und Anderssein

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Kapitel XVIII Menschliche Subjektivität in Praktiken politischer Subjektivierung: Responsivität, Dissens und die prekäre Lebbarkeit menschlichen Lebens Inaudible, donc invisible, donc »Autre«. Guillaume le Blanc 1 Wir können nicht aufhören, die anderen zu besetzen. Joachim Küchenhoff 2

1.

Subjekt sein oder subjektiviert werden

Menschen kann man angeblich ›verdinglichen‹ ; aber sie sind auch als Verdinglichte niemals nur ›vorhanden‹ wie Dinge oder nur so ›da‹ wie zahllose andere Lebewesen auch. Zwar leben sie ebenfalls, wie letztere, gesteuert vom genetischen Code; aber, wie es scheint, grundsätzlich anders, insofern es ihnen in ihrem Leben um dessen wirkliche Lebbarkeit gehen muss. Ob (und inwieweit) ›vorprogrammiert‹ oder nicht: zu dieser Frage, die keinerlei vorgefertigte Antwort zulässt, können sie sich nicht nicht verhalten. Selbst wenn sie sie ignorieren oder vergleichgültigen, nehmen sie noch Stellung zu ihr, zumal sie nicht umhin können, dabei mit unübersehbaren Antwortspielräumen konfrontiert zu sein, die Andere bereits ausgelotet haben. Niemand muss allerdings mit Platon annehmen, dass das Leben womöglich nur eine Art Tod darstellt (wenn es nicht auf eine Gerechtigkeit hin ausgerichtet ist, von der post mortem Rechenschaft abzulegen ist). Jeder kann sich wie Epiktet auch ohne »Heim und Vaterland«, »Besitz und Gesinde«, in Armut, Marginalität und Fremdheit, jeglicher Zugehörigkeit zu Anderen entbehrend, noch in radikaler Einsamkeit vollkommen frei fühlen. Ich habe »nur die Erde unter mir und den HimG. le Blanc, L’invisibilité sociale, Paris 2009, S. 182. J. Küchenhoff, Die Achtung vor dem Anderen. Psychoanalyse und Kulturwissenschaften im Dialog, Weilerswist 2005, S. 92. 1 2

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XVIII · Menschliche Subjektivität in Praktiken politischer Subjektivierung

mel über mir«, schrieb Epiktet, habe ich darum »etwa Kummer und Angst? Bin ich nicht wahrhaft frei?« 3 Im Zeichen der Moderne, die vielen Wohlstand und Reichtum bringen wird, schlägt die Tonlage der Fragen nach einem wirklich lebbaren Leben allerdings dennoch (am Ende vielleicht sogar gerade deswegen) deutlich ins Düstere um – nachdem Pascal sein Erschrecken angesichts eines Kosmos zum Ausdruck gebracht hatte, der keinerlei verlässliche Ordnung mehr repräsentierte, nach Descartes’ radikalem Verdacht gegen einen möglicherweise trügerischen Gott, Friedrich Nietzsches ›Nihilismus‹ und jenen existenzialistischen Autoren, deren paradoxe Gemeinsamkeit in einer untilgbaren Fremdheit gegenüber der Welt, Anderen und sich selbst lag. Kierkegaard bringt diese Fremdheit noch ironisch zum Ausdruck, indem er fragt: »Ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach gar nichts. Wo bin ich? Was will das heißen: Welt? […] Wer hat mich in das Ganze hineingelockt und läßt mich nun da stehen? Wer bin ich? Wie kam ich in die Welt; warum wurde ich nicht gefragt, warum nicht mit Sitte und Brauch bekannt gemacht, sondern in Reih und Glied gestellt, als wäre ich von einem Seelenverkäufer gekauft? Wie wurde ich Interessent in der großen Unternehmung, die man Wirklichkeit nennt? […] Ist das keine freie Sache?« 4 Wir seien in die Welt »geworfen«, heißt es auf Kierkegaards Spuren wenige Jahre später, nach dem Ersten Weltkrieg, als man zu realisieren beginnt, dass das alte Europa sich selbst zu zerstören schien. Nur in der »Welt von gestern«, wie Stefan Zweig seine entsprechende Bilanz überschrieb, war noch Sicherheit erfahrbar. 5 Im Zeichen des Zweiten Weltkriegs, der Zweig zu seiner Bilanz veranlasste, mussten die Europäer indessen wissen, nur noch kontingent, zufällig und radikal einer Entsicherung ausgesetzt ›existieren‹ zu können, die auch vor der Welt selbst nicht haltmacht. Zufällig irgendwo ›auf‹ der Welt und in sie ›geworfen‹, können sich diejenigen, die derart entsichert ›existieren‹, nur noch auf sich selbst bzw. auf die innere Struktur ihres Daseins verlassen. Das ist die scheinbar tragische Botschaft, die Sein und Zeit (1927) verkündet, um dem Autor den fragwürdigen Ruhm eines in kurzen Lederhosen und mit Hitlerschnäuzer auftretenden Wegweisers in Epiktet, »Vom Kynismus« [= Gespräche III. 22], in: Wege zum glücklichen Handeln, Frankfurt/M. 1995, S. 91. 4 Zit. n. K. Löwith, »Jener Einzelne: Kierkegaard«, in: M. Theunissen, W. Greve (Hg.), Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt/M. 1979, S. 539– 556, hier: S. 550. 5 S. Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers [1942], Köln 2013. 3

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Subjekt sein oder subjektiviert werden

künftiges Geschick einzutragen, dessen radikale Dürftigkeit die bekannte Freiburger Rektoratsrede entlarvte. Viel Aufhebens hat man seitdem um die Frage gemacht, was ein aus sich heraus ›existierendes‹ Dasein von allem anderem, was nur ›vorhanden‹ oder ›zuhanden‹ ist, unterscheidet. Dazu sollte unter anderem das »Überlassensein an es selbst« 6 und in diesem Sinne die Verlassenheit in einer Welt zählen, der nunmehr alles Weltliche im klassischen Sinne abzugehen schien: Sie verbürgte überhaupt kein ›kosmisches‹ Geborgensein mehr, sondern allenfalls deren existenziale Unbedeutsamkeit, Leere und Indifferenz. Zwar wird das Sein des Daseins auch als Mitsein bestimmt; aber dieses erscheint unter diesen Voraussetzungen als eigentümlich desozialisiert. Es handelt sich wie gezeigt 7 um eine bloße »Soziation« (Jean-Luc Nancy), aus der in keiner Weise zu entnehmen ist, ob das Präfix ›mit‹ auch ein Dasein für Andere oder umwillen Anderer anzeigen soll. Selbst im gleichgültigsten, aber auch im widerwärtigsten Nebeneinanderherleben ist man noch irgendwie ›mit‹ Anderen da. Das kann bedeuten, dass man nur neben ihnen vorkommt, aber auch darauf hinauslaufen, dass man extrem gewaltsam gegen sie vorgeht. Allenfalls realisiert solches Dasein, dass es sich seine Existenz nicht selbst verdanken kann. So wie den (je-meinigen) Tod, so holt es auch die Geburt von sich aus ein und »übernimmt« auf diese Weise »die Ohnmacht der Überlassenheit an es selbst«. So »überliefert« es »überkommene Möglichkeiten« sich selbst. Keine Rede ist hier davon, dass wir als aus Anderen hervorgegangen und in ihre Zukunft eingehend existieren. Das fragliche »Übernehmen« konnte denn auch konsequent als ein freies Sichverhalten zum Möglichen gedeutet werden. 8 Darin ist unschwer die Reminiszenz eines Subjektdenkens zu erkennen, das Sein und Zeit gerade hinter sich lassen sollte. Schließlich monierte Heidegger die Übersetzung des altgriechischen hypokeímenon, auf das man dieses Denken immer wieder zurückgeführt hat, durch das lateinische substratum und subjectum als ontologisch irreführend. 9 Existenzial reinterpretiert, erweist sich das menschliche Dasein gerade nicht als ein M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984, § 74, S. 384. Kap. XVII. 8 Vgl. E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/M. 21981. 9 M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt/M. 61980, S. 239 ff.; J. Derrida, »Hostipitality«, in: G. Anidjar (Hg.), Jacques Derrida: Acts of Religion, New York, London 2002, S. 356–420, hier: S. 388. 6 7

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XVIII · Menschliche Subjektivität in Praktiken politischer Subjektivierung

›subjektives‹, wenn damit ein von der Welt zunächst gelöstes Subjekt gemeint sein soll, das sich ihr in der Weise der Vorstellung, des Denkens und technischen Tuns bemächtigt. Und doch induziert die Sprache, der man sich unweigerlich bedienen muss, um zu beschreiben, wie menschliches Dasein geschieht, ironischerweise immer wieder ein problematisches Subjektdenken, demzufolge subjektives Dasein sich souverän sein Erbe überliefert, ›vorläuft‹ zum Tod und seine eigene Zwischenzeit ›zeitigt‹, um so scheinbar Herr der Lage zu bleiben. Was dabei weitgehend übersehen wird, ist die radikale Abhängigkeit menschlicher Existenz von einem Anderen antwortenden und sie herausfordernden, buchstäblich zwischen-menschlichen Leben, in dem man in keiner Weise aus eigener Kraft dessen gewiss sein kann, es als ›sozial‹ wirklich lebbares Leben zu leben. Dazu muss man Andere ansprechen und in Anspruch nehmen. Und Andere müssen sich ansprechen und in Anspruch nehmen lassen. Ob es dazu kommt und ob soziales und politisches Leben infolgedessen überhaupt einsetzen und sich bewähren kann, steht nicht a priori fest, sondern grundsätzlich im Geschehen menschlichen Zusammenlebens jedes Mal neu auf dem Spiel. Das jedenfalls besagt ein energisch revidiertes Subjektivitätsdenken, das menschliche Subjektivität weder im Sinne Descartes’, noch Kants oder Heideggers als ›gegeben‹ voraussetzt, sondern aus der Ereignishaftigkeit von Subjektivierungsprozessen heraus zu verstehen verlangt. Subjektivierung besagt hier: subjektiviert wird ein Leben, das sich nicht von sich aus als subjektives, sondern allenfalls als subjektivierbares darstellt, indem es sich als ›ansprechendes‹ und als ›ansprechbares‹ erweist. Dabei muss sich erst zeigen, ob jemand durch Anspruch, Anrede und Erwiderung eine Subjektposition in einem sozialen Feld von möglichen Beziehungen zu Anderen einnehmen kann. Das wiederum kann nur um den Preis gelingen, dass das fragliche Subjekt dabei immer auch Bedingungen unterworfen wird, über die es nicht frei verfügt. Im Gegensatz zu originärer Subjektwerdung (die überhaupt erst ein Subjekt ›ins Leben ruft‹) bezeichnet der Terminus Subjektivierung genau diese Ambiguität: jemand nimmt dank Anderer eine Subjektposition ein, um infolgedessen selbst handeln zu können, und muss sich dabei Bedingungen fügen, die er niemals ganz seiner eigenen Disposition unterwerfen kann. Dabei kann es auch dazu kommen, dass jemand sich diesen Bedingungen zunächst unterwirft, um sich in einem bestimmten Feld sozialen Verhaltens als Sub658 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Subjekt sein oder subjektiviert werden

jekt zur Geltung bringen zu können. Genau das stellt die neuere Sozialkritik (insbesondere in ihren kapitalismuskritischen Varianten) immer wieder heraus. ›Prekäre‹ Existenzen müssen sich in einer post-fordistischen Arbeitswelt selbst vermarkten, um sich ihre Lebensnot als Tugend selbst glaubhaft zu machen, obgleich sie sich einer permanenten Evaluation im Lichte ihres wirtschaftlichen Erfolges ausgesetzt sehen. Wie unzählige andere Marginalisierte auch, leben sie in einem permanenten stand-by: »People who are waiting to be selected (after a[n] unfavorable job interview), people who are expecting a verdict that hardly ever comes (in a strenuous asylum procedure), people who are forced to adopt to niches (as they have no valid permits at hand), people who are abandoned to misery (in fragile shadow economies) […].« 10 So verschieden die Lebenslagen der Betroffenen auch sein mögen, jedes Mal steht auf dem Spiel, ob sie angesichts ihrer diversen konkreten Lebensbedingungen überhaupt noch ein soziales bzw. politisches Leben leben können, das nicht nur einer gewaltsamen Heteronomie unterworfen ist oder sich ihr – bei minimalen Freiheitsspielräumen – unterwerfen muss. Hier geht es nicht darum, im Sinne der cartesianischen oder kantischen Tradition nur ein geistiges, intelligibles Wesen zu sein, dem Autonomie zuzusprechen wäre, oder kraft eigenen, je-meinigen Daseins ›subjektiv‹ zu existieren. Vielmehr geht es darum, in Verhältnissen zu Anderen wahrgenommen zu werden, zur Sprache kommen und handeln zu können. Wer in diesem Sinne lebt und um ein wirklich lebbares Leben kämpfen kann, kann in diesem Sinne auch sterben, d. h. mangels jeglichen Wahrgenommenwerdens, mangels geeigneter Möglichkeiten, zur Sprache zu kommen, und mangels effektiver Handlungsspielräume geradezu aufhören, überhaupt sozial und politisch zu existieren. Insofern neuere Theorien der Subjektivierung genau diese Gefahrenlage herausarbeiten, erweisen sie sich als weit fruchtbarer als klassische Theorien der Subjektivität, die diese als Auszeichnung eines denkenden, vernünftigen, autonomen und seiner selbst bewussten Wesens begreifen, ohne dabei im Geringsten verständlich zu machen, warum es eine Frage von Leben und Tod ist, ob (und um welchen Preis) es gelingt, sozial und politisch zu ›existieren‹ – in ständiger Auseinandersetzung mit Anderen, aber auch dank ihrer GastA. Oberprantacher, A. Siclodi, »Introducing a Contorted Subject called ›Subjectivation‹«, in: dies. (Hg.), Subjectivation in Political Theory and Contemporary Practices, London 2016, S. 1–25, hier: S. 4.

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lichkeit, ihrer Gelassenheit und Langmut. Von all dem hat die traditionelle Sozialphilosophie so gut wie keinen Begriff, wo sie sich wie üblich ganz und gar darauf versteift, was soziale Subjekte einander abnötigen im verbalen Streit, im politischen Kampf um Anerkennung und schließlich im bewaffneten Konflikt. – Im Folgenden vollziehe ich den Weg von klassischen Theorien der Subjektivität zu Praktiken politischer Subjektivierung nach, die in sozialer Responsivität und im konflikthaften Dissens erkennen lassen, wie es um die prekäre Lebbarkeit menschlichen Lebens tatsächlich bestellt ist.

2.

Immer schon oder neuerdings subjektivierte Subjekte?

Ungeachtet einer ehrwürdigen, inzwischen breit dokumentierten Geschichte und Vorgeschichte der Rede von Subjektivität hat man erst in der späten Moderne viel Aufhebens von ihr gemacht. Nicht selten so, als stehe mit der richtigen Würdigung des Subjektbegriffs nicht nur dessen oft beschworenes »Leben« und ebenso oft prophezeiter »Tod«, sondern auch das ›Überleben‹ eines Denkens auf dem Spiel, das sich menschliches Leben offenbar ohne eine Anerkennung der ihm eigenen Subjektivität gar nicht mehr vorstellen kann. Inzwischen scheint wenigstens bis auf weiteres festzustehen, dass »das Subjekt sein Ende überlebt« hat 11; und zwar weitgehend unbeschädigt und sogar (wie manche meinen) im Wesentlichen unverändert. Doch wenn Menschen nicht ›immer schon‹ Subjekte waren, sondern zu solchen erst geworden sind durch Prozesse der Subjektwerdung, durch die sie eine originäre Subjektivierung erfahren haben (und weiterhin erfahren), sind dann deren Bedingungen bloß von akzidenteller Bedeutung? Oder greifen sie tief in subjektives bzw. subjektiviertes Leben ein; und zwar ggf. derart tief, dass wir feststellen müssen, menschliche Subjektivität sei nur als durch und durch historisierte, kontingente und radikal veränderliche zu begreifen? Zeichnen sich derzeit ganz neue Formen der Subjektivität ab, weil Menschen neuerdings auf ungeahnte Weise subjektiviert werden? Georg W. F. Hegel, zweifellos der moderne Theoretiker der Subjektivität par excellence, hätte das gewiss verneint. Einerseits beVgl. das Vorwort der Herausgeber in: R. L. Fetz, R. Hagenbüchle, P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd. 1, Berlin, New York 1998, S. v.

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schwor er die unüberholbare Modernität dieses Begriffs; andererseits sah er ihn schon vor Jahrtausenden sich abzeichnen. Bereits bei Sokrates wurde angeblich »der Mensch […] das Subjekt überhaupt«. 12 Bei den Stoikern, bei den Epikureern und im Skeptizismus gehe das Subjekt bereits »in sich« und komme infolgedessen auch »zu sich«, so dass es »für sich« existieren kann 13; allerdings noch nicht in wirklich freier und selbstbewusster Art und Weise. Zu zeigen, wie das möglich ist, bleibt der Moderne vorbehalten – vor allem Hegel selbst, für den selbstbewusste Subjektivität (nicht etwa unreflektierte, wie man sie schon bei Tieren antrifft 14) geradezu ausmacht, was wir als geistige Wesen sind. In diesem Begriff ehren wir sozusagen uns selbst. Allerdings verzeichnet schon das Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm unter Verweis auf Ludwig Tieck und Johann W. v. Goethe den »verächtlichen beigeschmack, der heute umgangssprachlich gewöhnlich […] dem bloszen nomen [subject] anhaftet« 15. Heute kennt die Alltagssprache kaum mehr »taugliche« und »tüchtige subjecte«, die man seinerzeit für gewisse Ämter suchte, sondern vor allem verkommene Subjekte. (Ein Ausdruck der Dichterin Annette v. DrosteHülshoff. 16) Das Subjekt, ob tot oder lebendig 17, steht demnach in keinem hohen Ansehen. Noch die Etymologie der dt. Sprache (Duden Bd. 7) verzeichnet den »Nebensinn des Verächtlichen«, der dem Subjektbegriff umgangssprachlich bis heute anhafte. Nach wie vor möchte wohl niemand als »Subjekt« tituliert werden, was einer Beleidigung ziemlich nahekommt. Dennoch – und erstaunlicherweise – legen es nicht zuletzt offenbar PädagogInnen darauf an, uns weiterhin als Subjekte zu verstehen; genauer: als Subjektivierte. Sie weisen darauf 12 G. W. F. Hegel, Werke, Bd. 18 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 430. 13 Hegel, Werke, Bd. 20, S. 457. 14 Hegel, Werke, Bd. 9, S. 479. 15 http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GS55 774#XGS55774; Bd. 20, Sp. 814, 1942. 16 G. Drosdowski, Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Die Geschichte der deutschen Wörter und der Fremdwörter von ihrem Ursprung bis zur Gegenwart. Bd. 7, Mannheim 21997, S. 726. 17 Was unter diesem Titel »Tod« oder »Überleben« des Subjekts zur Debatte stand, war allenfalls die Fruchtbarkeit weiterer Verwendung eines Begriffs. Genau darum geht es auch, wenn sich nun die Pädagogik mit menschlicher Subjektivität aus einem neuen Blickwinkel befasst, indem sie statt von Subjektivität von Prozessen der Subjektivierung spricht.

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hin, dass uns Prozesse, die man inzwischen unter dem Obertitel »Subjektivierung« beschreibt, geradezu ausmachen, insofern wir als Subjekte existieren – längst bevor wir als Kinder, Frauen, Männer usw. oder gar als mehr oder weniger verkommene, schäbige, verworfene oder infame »Subjekte« in Betracht kommen – wodurch uns Andere womöglich nur ihre äußerste Geringschätzung und Verachtung bezeigen. Diejenigen, die für weitere – bzw. durch Subjektivierungstheorien zu erneuernde – Verwendung des Subjektbegriffs eintreten, schert das offenbar wenig. Kann die Geringschätzung, die ›Subjekten‹ alltäglich zuteilwird, im Geringsten etwas daran ändern, dass wir als Subjekte existieren? Als Subjekte sind wir allerdings nicht einfach vorhanden, sondern so zu verstehen, dass unser Leben aus Prozessen der Subjektivierung hervorgegangen ist und dass es sich wesentlich auch in solchen Prozessen weiterhin vollzieht – um gegebenenfalls auch wieder aus ihnen auszuscheren oder herauszufallen. Im Vergleich zu allen klassischen Subjekttheorien, auf die man menschliches Selbstverständnis gestützt hat, kommt so eine erstaunliche Instabilität zum Vorschein. Klassisch sind diese Grundannahmen: wir sind sprechende Lebewesen, Menschen oder Bürger usw. Gewiss ist auch der Status als zôon lógon échon, als human being oder als citoyen anfechtbar. Viele Autoren haben sogar behauptet, dass er ganz verlorengehen kann. Wer als sprechendes Lebewesen nicht Gehör findet, ist der nicht zumindest als zôon politikón quasi tot? fragt noch Jacques Rancière. Zerstört Entwürdigung nicht die Menschheit des Anderen? fragte Hannah Arendt. Werden diejenigen, die ihren Bürger-Status einbüßen, nicht auf ihr »nacktes Leben« reduziert? fragte Giorgio Agamben. In jedem Falle muss es sich gewissermaßen um eine ontologische Katastrophe handeln, durch die man sein menschliches, politisches oder bürgerliches Leben ganz und gar einbüßt. Aber handelt es sich dabei nicht allemal um extreme Ausnahmebedingungen, die Menschen am Ende völlig dessen berauben, was sie eigentlich ausmacht? Und waren sich klassische Theorien menschlichen Selbstverständnisses nicht gerade in letzterem ganz sicher? Anders verhält es sich offenbar mit Theorien, die das, was uns ausmacht, aus Prozessen der Subjektivierung hervorgehen lassen – aus kontingenten, prekären und reversiblen Prozessen wohlgemerkt, die in ihrer kaum zu übersehenden Vielfalt ganz unterschiedlich, aber ebenfalls radikal, in unsere Existenz eingreifen. Demnach sind wir nicht ›da‹ und leben bzw. existieren nicht dank irgendeines onto662 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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logisch fest gegründeten Soseins (als sprechende Lebewesen, als politische bzw. vernunftbegabte Subjekte usw.). Vielmehr kommt unser Subjektsein, das gerade kein unverbrüchliches bzw. ›substanzielles‹ Sein mehr bezeichnet, nur durch vielfältige Prozesse der Subjektivierung zustande, die es gewissermaßen ins Leben rufen und stärken, aber auch wieder schwächen, verkümmern lassen und schließlich zum Verschwinden bringen können. Theoretikern der Subjektivität ist es lange Zeit überhaupt nicht in den Sinn gekommen, sich mit Blick auf diese Prozesse auf den transitiven Gehalt des Verbs ›subjektivieren‹ zu besinnen. Dabei zeigt sich in praktischer Hinsicht, dass es Subjekte (und deren Subjektivität) nur infolge von Prozessen der Subjektivierung gibt, durch die subjektiviert wird, was nicht eo ipso subjektiv verfasst ist. Statt sich weiterhin darauf zu versteifen, zu fragen, was wir – sei es ›von Natur aus‹, sei es als intelligible Subjekte – sind und in diesem Verständnis Ontologie zu betreiben, verlangt diese Einsicht danach, menschliche Subjektivität als Effekt, Produkt oder Resultante von Subjektivierungsprozessen verständlich zu machen. Keines dieser Worte versteht sich in diesem Zusammenhang allerdings von selbst. Etwa von einer (quasi-natürlichen oder quasitechnischen) »Produktion« menschlicher Subjektivität zu sprechen, kann gravierende Missverständnisse nahelegen, wenn man nicht genauer bedenkt, was damit gemeint sein kann – und was nicht. Statt also mit Was-ist-Fragen Ontologie menschlicher Subjektivität zu treiben und auf diese Weise auf unser Subjekt-Sein abzuzielen, fragen wir phänomenologisch: wie zeigt sich menschliche Subjektivität in Folge von Subjektivierungsprozessen? So fragen können wir aber wiederum nur mittels der Sprache, die uns im Gegensatz zu ontologischen Was-ist-Fragen ein neues, fruchtbares Frage-Potenzial erschließt. Z. B. in dieser Art: wie zeigt sich bei welcher Gelegenheit, dass (und wie) jemand subjektiviert wird? Mit welchen (dauerhaften oder reversiblen) Folgen? Und in welchen Hinsichten? In welchen Kontexten? Usw. Im transitiven Verständnis des Verbs fragen wir: wie wird jemand subjektiviert – jemand, nach dem wir mit der Frage »Wer?« fragen können. Und diese Frage bezieht sich auf jemand anderen selbst – auf sein Selbst. Dieses wird durch Subjektivierung zu einem Subjekt, das der oder die Betreffende nicht vorher schon war. Wird genauer bedacht, wie das geschieht, könnte es sein, dass sich das, was wir unter Subjektsein verstehen, nachhaltig verändert. Keineswegs 663 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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ist es ausgemacht, dass Beschreibungen von Prozessen der Subjektivierung nur aufzeigen, wie es dazu kommen kann, dass wir Subjekte in einem bereits bekannten Sinne werden. An dieser Stelle empfiehlt es sich, zwei Verwendungsweisen des Begriffs zu unterscheiden: In einem radikalen bzw. originären Sinne ist von Subjektivierung die Rede, wenn gemeint ist, dass überhaupt erst Subjektivität entsteht, gestiftet oder ins Leben gerufen wird. In einem sekundären Sinne kann von Subjektivierung die Rede sein, wenn das wiederholt geschieht. Es ist keineswegs klar, ob gilt: einmal subjektiviert, immer Subjekt. Womöglich kann man seinen Subjekt-Status auch wieder einbüßen, wenn Prozesse der Subjektivierung eine Ent-Subjektivierung zur Folge haben (oder sogar mit ihr einhergehen). Eben noch dachten wir, als politische Subjekte zu existieren, da man uns in Angelegenheiten, die nicht nur uns selbst, sondern auch (viele) Andere, Nachbarn, Mitbürger und Zeitgenossen betreffen, gehört, angehört und auf uns gehört hat. Doch im nächsten Moment schon hat man uns ›übersehen‹, außer Acht gelassen, nicht mehr berücksichtigt und vergessen, so dass wir uns politisch wie tot empfinden müssen. Diesen Eindruck konnten die römischen Plebejer haben (das ist Rancières bevorzugtes Beispiel); diesen Eindruck können aber auch Minderheiten ohne Lobby, Flüchtlinge und »Anteilslose« jeglicher Couleur, alte, kranke, arbeitslose und marginalisierte Menschen haben. 18 Wir werden also subjektiviert und auf diese Weise zu jemandem, der wir nicht schon vorher waren, nämlich Subjekte im Verhältnis zu Anderen. Aber diese ›machen‹ uns nicht einfach auf heteronome Art und Weise zu Subjekten, weil Subjektivierung ein Prozess ist, der sich in jedem Falle zwischen uns abspielt. Zu vermeiden ist die klassische Aporie des Subjektdenkens, der zufolge wir nur werden können, was wir ohnehin schon sind oder uns gleichsam aus eigener Kraft zu Subjekten machen müssten, ohne vorher schon ›fertige‹ Subjekte zu sein. Zu vermeiden ist auch das pädagogische Paradox, das vielfach unter der Überschrift ›Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung‹ ventiliert worden ist. Denn inzwischen hat sich der Verdacht erhärtet, beide Schwierigkeiten klassischer Subjektkonzeptionen könnten engstens mit gewissen Zwängen zusammenhängen, die in unserer Art zu denken selbst liegen. Demnach sind wir bereits Subjekte oder werden wie durch Zauberei in den Stand der Subjektivität versetzt. Entweder werden wir durch Andere zu Subjekten gemacht – oder wir sind selbst 18

Vgl. die Kap. XI, 2 und XIV, 2 zum Begriff social death.

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dazu imstande, uns aus eigener Kraft als Subjekte hervorzubringen. Nicht nur dieses Entweder-Oder-Denken ist längst fragwürdig geworden. Nicht nur die dichotomischen Kategorien, die es ständig ins Spiel bringt, auch die Worte, auf die es sich stützt, sind zu revidieren. Was heißt das überhaupt: zum Subjekt zu werden oder zu einem Subjekt gemacht zu werden? Wenn nicht durch sich selbst – durch Selbstsubjektivierung, aus eigener Kraft, dann durch Andere. Was ist/war man ›vorher‹ ? Wenn kein Subjekt, dann doch immerhin subjektivierbar, sollte man meinen. Wie vollzieht sich Subjektivierung? Gleichsam auf einen Schlag? (Wie in jenem oft zitierten Beispiel Louis Althussers 19, in dem der Polizist »He, Sie da … !« ruft, um den Adressaten allein dadurch in eine Lage peinlicher politischer Unterwerfung zu bringen?) Oder geschieht Subjektivierung nach und nach, auf mühevollen Wegen, die jemanden überhaupt erst in die Lage versetzen, subjektiviert zu leben? Und wohin führt das? Subjektivierte Wesen sind am Ende Subjekte, so viel scheint klar zu sein. Und doch ist es bei näherem Hinsehen alles andere als eindeutig, was das heißt. Sind wir jeweils im Ganzen, in jeder Hinsicht, ständig und auf Dauer unabänderlich Subjekte? Zeigen Theorien der Subjektivierung nur auf, wie es dahin kommt und wie es dabei bleiben kann? Man denke vergleichsweise an jene Wittgenstein’sche Leiter, die man angeblich wegwerfen kann, nachdem man auf einer höheren Etage angekommen ist. Sollte man sich demgegenüber Rückwege aus dem Subjektiviertsein offenhalten? Wenn ja, warum? Ist es überhaupt ein Gewinn oder vielmehr eine Last, subjektiviert leben zu müssen, zu sollen, zu dürfen? Solche Fragen kommen dem klassisch-ontologischen Subjektdenken erst gar nicht zu Gesicht, wo es sich nur mit dem Problem befasst, was es bedeutet, ein Subjekt zu sein – was als ganz und gar unvermeidlich gilt. Dieses Denken zweifelt nicht daran, dass wir Subjekte (geworden) sind. Es dreht sich nur darum, wie das genau zu verstehen ist. Demgegenüber konzentriere ich mich im Folgenden auf einige Aspekte der Frage, wie wir überhaupt dahin gelangen können, zu Subjekten zu werden durch Subjektivierungsprozesse, die wir nicht immer schon selbst in der Hand haben können – was ja voraussetzen würde, dass wir selbst die (souveränen?) Subjekte unserer Subjektivierung sein können bzw. müssten. Orientiert man sich am Leitfaden der Ontogenese, in der jeder 19

Siehe unten, Anm. 62.

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Prozesse originärer Subjektivierung durchlaufen muss, so empfiehlt es sich, heuristisch Folgendes zu unterscheiden: 1. soziale Subjektivierung – durch Angesprochenwerden und In-Anspruch-genommen-werden; und zwar auf Erwiderung hin (vom ersten Lächeln an) – angewiesen auf die Ansprechbarkeit Anderer; 2. ethische Subjektivierung – besonders im Sinne des Bezugs auf Vorstellungen vom Guten und von Verantwortung; 3. moralische Subjektivierung – besonders im Sinne von Vorstellungen von Schuld, von Pflichten, vom Gebotenen und vom Gerechten; 4. politisch-rechtliche Subjektivierung, wo es um die Frage geht, ob jemand (und wer) als Quelle und Adressat von beachtenswerten Ansprüchen in Betracht kommt, die Dritte und viele Andere angehen – im Kontext einer politischen Lebensform, die sich um geteilte Angelegenheiten zu kümmern hat; 5. ökonomische Subjektivierung, wo es um die Frage geht, wie wir uns zu wirtschaftlichen Bedingungen unserer Existenz, zu Ressourcen und deren Nutzung, aber auch zu Verträgen und Schulden verhalten. 20 Eine solche (gewiss ergänzungsbedürftige) heuristische Liste von Hinsichten der Subjektivierung ruft die Frage auf den Plan, ob wir annehmen können, dass es sich bei demjenigen, was Subjektivierung erfährt, jedes Mal um jenes Selbst handelt, von dem wir mindestens annehmen müssen, dass es sich überhaupt subjektivieren lässt – und zwar ggf. auch so, dass es derart tief greifend ›ökonomisiert‹ wird, dass ökonomisches Leben zur vorherrschenden oder gar alleinigen Art und Weise des Subjektiviertseins wird. Vorausgesetzt wird allemal (auch bei Foucault noch), dass ein Selbst bereits existiert; nur selbsthaftes Leben ist überhaupt subjektivierbar. Nur ein solches Leben erweist sich als sozial ansprechbar und aufgeschlossen für die Ansprüche Anderer, an die es sich seinerseits wenden kann. In dieser basalen sozialen und ethischen Dimension Zwar kann man sich vorstellen, dass diese Subjektivierungsformen aufeinander aufbauen (oder sogar auseinander hervorgehen). Aber soziale Subjektivierung findet in einem politisch-ökonomischen Kontext statt – so dass sich die Subjektivierungsformen gewissermaßen zu einem Kreis zusammenschließen. – Für Levinas fallen 1 und 2 zusammen; und ethische Subjektivierung schließt in seiner Sicht von vornherein den Dritten mit ein bzw. öffnet soziales und ethisches Leben auf einen politisch-ökonomischen Horizont (4) hin. In der gegenwärtigen politischen Debatte um Schuld und Schulden erleben wir, wie darum gestritten wird, ob Subjektivierung nicht nur ökonomisch oder auch moralisch zu deuten ist. Diese wenigen Überlegungen zeigen schon, dass die oben eingeführten Unterscheidungen allenfalls heuristische Bedeutung haben können und in ihrer Verflechtung bedacht werden müssen.

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menschlicher Subjektivität steht diese zugleich existenziell auf dem Spiel. Wir leben nämlich nicht nur (d. h. ›sind am Leben‹, wie man sagt), sondern leben unumgänglich so, dass es dabei zugleich um die Lebbarkeit unseres Lebens geht. Wie unser Leben infolge dieser ihm innewohnenden Dramatisierung Gestalt annimmt, hängt wesentlich von einer Vielfalt von Subjektivierungsprozessen ab, die uns überhaupt erst erlauben, uns in verschiedenen Hinsichten an Andere zu wenden und von ihnen konkret angesprochen zu werden. 21 Schon hier wird eine tiefe Ambiguität der Rede von Subjektivierung deutlich: Sie meint eine Befähigung, ein In-die-Lage-versetzt-werden dazu, sich praktisch und effektiv an Andere zu wenden; aber auch: den entsprechenden Bedingungen unterworfen zu sein, unter denen man sich an Andere wenden und von ihnen angesprochen werden kann. Nicht unbedingt im Sinne politischer Unterwerfung (von der Foucault allzu rasch spricht 22), sondern zunächst im Sinne schierer Unvermeidlichkeit. Allerdings erscheint es fraglich, ob sich Unvermeidlichkeit und Unterwerfung überhaupt deutlich unterscheiden lassen. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen werde ich im Folgenden (3.) den Weg rekonstruieren, den das sozialphilosophische Denken nach dem angeblichen (längst zum Stereotyp degenerierten) »Tod des Subjekts« bis hin zu Foucaults Rede von Prozessen menschlicher Subjektwerdung durchlaufen hat, die sich in einer Vielfalt praktischer Subjektivierungen vollziehen. Darunter befinden sich (4.) ökonomistische Formen einer Subjektivierung, deren Vorherrschaft und Übermacht allenthalben kritisiert wird. Dabei zeichnen sich Chancen und Gefahren einer kritischen Subjektivierung ab, die als originäre Politisierung menschlicher Subjekte nach wie vor eines angemessenen Verständnisses harrt. Vor diesem Hintergrund wird (5.) mit Bezug auf die Politische Philosophie Jacques Rancières die Frage erörtert, was es heißt, als politisches Subjekt in Erscheinung zu treten, das nicht ›immer schon‹ als Subjekt da war, sondern seine politische Existenz erst erweisen muss in der com-passion einer sozialen Responsivität, In der dt. Übersetzung ist von »Subjektivitätspraktiken« die Rede; M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82), Frankfurt/M. 2004, S. 27. 22 Foucault spricht in einem Atemzug von einer durchgreifenden »Subjektivierung der Menschen, das heißt ihre[r] Konstituierung als Untertanen/Subjekte«, denen es offenbar darum gehen muss, Anderen nicht (politisch) unterworfen zu sein. Vgl. HS, S. 620. Ich komme darauf zurück. 21

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XVIII · Menschliche Subjektivität in Praktiken politischer Subjektivierung

die im Dissens aufs Spiel zu setzen ist, wo es um die doppelsinnig geteilte Lebbarkeit menschlichen Lebens mit und unter Anderen geht. Dies zu denken, erfordert eine nachdrücklichere Revision des von der Moderne geerbten Subjektdenkens, als es dessen derzeit beliebte Ersetzung durch eine Rhetorik der Subjektivierung glauben macht.

3.

Von Theorien des Subjekts zu Praktiken der Subjektivierung

Dass (und wie) Menschen als Subjekte zu verstehen sind, ist zweifellos eine moderne Idee. Manche halten sie nach wie vor für eine unaufgebbare Errungenschaft philosophischer Einsicht; andere halten sie speziell in der Form eines Prinzips der Subjektivität für längst überholt. Wieder andere suchen nach dritten Wegen zwischen diesen unversöhnlichen Positionen und fragen nach Erfordernissen und Möglichkeiten einer Reinterpretation menschlichen Lebens als eines subjektiven, das unter bestimmten, historischen Bedingungen kontingente Formen der Subjektivität annimmt, die variabel vorzustellen sind und niemanden schicksalhaft an ein Prinzip der Subjektivität fesseln, das auf nichts anderes zu gründen und von nichts anderem herzuleiten wäre. Auf diesen Wegen erfährt der Begriff des Subjekts nun ironischerweise gerade durch diejenigen eine gewisse Renaissance, die sich offenbar vor allem von Foucault zeitweise davon hatten überzeugen lassen, der Begriff des Subjekts habe (ebenso wie der Begriff des Menschen) keine Zukunft mehr. Dass sich Foucault selbst keineswegs mit einer derart grobschlächtigen Diagnose begnügt hat, beweisen seine einschlägigen Vorlesungen am Collège de France (1981–1983) zur Genüge, welche die Frage nach dem Subjekt bzw. die Frage, inwiefern menschliches Leben als ein ›subjektives‹ zu verstehen sein kann (oder muss), im Lichte einer Genealogie von Subjektivierungspraktiken erneuert haben. Foucaults genealogische Forschungen zielen nicht direkt auf die Frage ab, ob wir (Menschen) Subjekte sind. Anstelle einer ahistorischen Ontologie wirft er vielmehr in den letzten Phasen seiner Arbeit die Frage auf, ob Menschen unter bestimmten Umständen praktisch subjektiviert werden, d. h. ob sie praktische Gründe haben, sich als Subjekte zu verstehen, die nicht ›immer schon‹ Subjekte waren, sondern Subjekte erst werden bzw. geworden sind (und diesen Status ggf. auch wieder einbüßen kön668 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Von Theorien des Subjekts zu Praktiken der Subjektivierung

nen). So gesehen hat der Begriff des Subjekts nach wie vor Zukunft; aber nicht im Sinne bloßer Rückkehr zu einer bekannten Philosophie der Subjektivität, sondern im Sinne einer Reinterpretation von Subjektivität als Ergebnis von Formen der Subjektivierung, die zunächst nur voraussetzen, dass es Wesen gibt, über deren Wesen zwar keine Einigkeit besteht und von dem sogar behauptet wird, es werde sich niemals unstrittig beweisen lassen, die jedoch (a) subjektivierbar sind und sich (b) erst in Folge einer bereits eingetretenen praktischen Subjektivierung dazu aufgerufen sehen, (c) sich auch als Subjekte zu verstehen; und zwar im Sinne einer vorgängigen Subjektivierung, in der sie nicht aufgehen, die sie vielmehr (d) negativ als mehr oder weniger anfechtbar oder sogar als ganz und gar unannehmbar erfahren. So gesehen geht es unter dem Titel der Subjektivierung nicht etwa um die Beobachtung eines produktiven Prozesses, in dem ein Subjekt originär hervorgebracht und insofern gezeitigt wird, sondern um das nachträgliche Verstehen von Prozessen, die ihrerseits als problematische Formen der Hervorbringung bzw. der Zeitigung von Subjekten verständlich zu machen sind. Dabei steht allerdings rückhaltlos auch in Frage, was in diesem Fall die Rede von einer solchen Hervorbringung oder Zeitigung überhaupt bedeuten soll. Es ist nicht ausgemacht, dass man auf überlieferte Modelle wie etwa das der Produktion zurückgreifen kann. Der bis zum Überdruss zitierte »Tod des Subjekts« ist bislang nicht eingetreten, und er wird so gesehen auch nicht eintreten. Nicht, weil es sich als unerwartet lebensfähig erwiesen oder weil man seinem ›Sterben‹ noch nicht genug nachgeholfen hätte, sondern deshalb, weil es sich um einen diskursiven Begriff, nicht um eine Art Lebewesen handelt, das sterben könnte. Ein solcher Begriff, dem man mit Hegel allerdings geistiges Leben attestieren könnte, stirbt gewiss nicht einfach wie leibhaftiges Leben. Genau dieser Eindruck ist aber ironischerweise entstanden: dass das Subjekt nicht mehr lebt bzw. dass es in seinem Überleben bedroht ist, seit sich einige AutorInnen dazu verstiegen haben, es offenbar sogar mit Lust für ebenso tot zu erklären wie Gott, die Geschichte oder den Menschen. Dekretiert man, das Subjekt sei »tot«, so sollte es, einer naiven Lesart der Diskussion um den Tod des Subjekts zufolge, tatsächlich »gestorben« sein. Abgesehen von den längst leerlaufenden Debatten über die diversen Tode, die Gott, die Geschichte, den Menschen und das Subjekt heimgesucht haben sollen, ist allerdings menschliche Subjektivität 669 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XVIII · Menschliche Subjektivität in Praktiken politischer Subjektivierung

wie jeder andere Begriff auch daraufhin zu befragen, ob von ihr zu reden noch zeitgemäß ist, ob wir sie grundsätzlich verwerfen sollten oder ob ggf. in modifizierter Form weiter von ihr die Rede sein kann oder muss. So zu fragen unterstellt, dass sich der Sinn und die Angemessenheit des Gebrauchs von Begriffen nach etwas anderem richten, was sich nicht immer schon in begrifflicher Form darstellt, sondern erst auf einen Begriff zu bringen ist. Und das kann in unterschiedlicher Art und Weise geschehen – schließlich auch so, dass ein überkommener Sinn und Gebrauch des Subjektbegriffs nicht mehr überzeugt. Genau diese Situation scheint seit langem eingetreten zu sein, insofern ein bestimmter Gebrauch des Subjektbegriffs mit starken Ansprüchen verknüpft worden war – besonders dort, wo man eine denkende Subjektivität zum Prinzip der Philosophie erklärt hat, das nicht nur allein auf sich selbst gegründet und sich selbst transparent sein, sondern auch sich praktisch allein aus eigener Kraft selbst ins Werk setzen können sollte. In dieser dreifachen Art und Weise war der Subjektbegriff in der griechischen Antike, die vom hypokeímenon sprach, ebenso unbekannt wie in der römischen Antike, wo das subjectum das Unterworfene – und gerade nicht das allein auf sich gegründete, sich selbst durchsichtige und sich selbst zu praktischer Wirklichkeit ermächtigende Prinzip – meinte. 23 Das geben auch die Verteidiger des neuzeitlichen bzw. modernen Subjektbegriffs längst zu. Und sie beeilen sich, jene drei Ansprüche deutlich durch den Nachweis herunterzuschrauben, dass sie kaum je in einer derart überspannten Art und Weise vertreten worden seien, wie man es Apologien menschlicher Subjektivität vielfach unterstellt. Descartes kenne den Subjektbegriff gar nicht und Rousseau habe ihm ein intransparentes sum vorgeordnet, zu dem sich auch das vernünftigste reflexive Denken nur nachträglich verhalten könne, ohne sich je zu einem sich selbst vollkommen durchsichtigen, insofern sich selbst genügenden Prinzip aufzuschwingen. Das hätten auch die Vertreter des Deutschen Idealismus, allen voran Hegel und Schelling, genau gewusst. So kommen die Verteidiger des Subjektbegriffs den Kritikern einer solchen Apologie weit entgegen. 24 Und zwar derart

R. Boehm, »Spinoza und die Metaphysik der Subjektivität«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung XXII/2 (1968), S. 165–186. 24 Vgl. (bspw.) M. Frank, Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung, Frankfurt/M. 2002. 23

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weit, dass man sich fragen muss, ob sich ein tief greifender Dissens der Beteiligten überhaupt noch klar ausmachen lässt. Die Subjektphilosophie gibt es heute ebenso wenig wie eine einheitliche Partei derer, die das Subjekt angeblich ernsthaft, und nicht nur mit ironischem Spott, für »tot« erklärt haben (ohne doch zu meinen, den Tod des Subjekts nur festgestellt oder selbst, auf rhetorischem Wege, bewirkt zu haben, so als könne man das Subjekt eben dadurch töten, dass man es für tot erklärt). Gegenwärtig sind wir vielmehr mit einer unübersichtlichen Gemengelage einer Vielzahl strittiger Revisionen einzelner Implikationen eines Subjektivitätsdiskurses konfrontiert, in dem kaum mehr die Frage verhandelt wird, ob das Subjekt lebt oder tot ist bzw. ob es für tot oder für wieder (womöglich wie ein Gespenst) lebendig zu erklären ist. Stattdessen werden Fragen wie diese verhandelt: Was bedeutet es, sich und Andere als menschliche Subjekte zu verstehen, wenn man davon ausgehen muss, dass wir nicht immer schon oder ›objektiv‹ Subjekte sind, sondern allenfalls (und womöglich niemals mit Haut und Haaren) Subjekte werden; und zwar im Prozess einer Ontogenese, die uns in mannigfaltige Vorgänge der Subjektivierung verstrickt, und im Zuge der Geschichte, also historischer Prozesse, die uns eine Subjektivierung unseres Selbstverständnisses nahegelegt oder sogar aufgezwungen haben? 25 Wodurch ist eine Subjektivierung menschlichen Selbstverständnisses möglich geworden? Und wie konnte sie sich mit Macht durchsetzen? Um was für eine Macht handelt es sich? Geht es um eine hermeneutische Macht, um eine Macht der Interpretation (im doppelten Sinne des genitivus subjectivus und des genitivus objectivus), die nach einer neuen Interpretation der Macht verlangt, insofern letztere in überaus subtiler Art und Weise in unserem Selbstverständnis zur Geltung gekommen ist, so dass es nur noch schwer (wenn überhaupt) möglich ist, sich vorzustellen, wie man sich nicht als Subjekt verstehen könnte? Handelt es sich um eine Macht der Interpretation, die unserem Selbstverständnis inzwischen derart inViel spricht dafür, dass der Prozess der Durchsetzung eines subjektiven bzw. subjektivistischen Selbstverständnisses und die Deutung der Ontogenese als eines Prozesses der Subjektivierung Hand in Hand gegangen sind. Vgl. G. Buck, Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn 1984; N. Luhmann, »Individuum, Individualität, Individualismus«, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/M. 1989, Kap. 3; R. Wiehl, Subjektivität und System, Frankfurt/M. 2000.

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newohnt, dass sie als Macht (die sich gegen ein anderes Selbstverständnis durchsetzen musste) nur noch mit Mühe kenntlich zu machen ist? 26 Vollzieht sich menschliche Subjektwerdung in einem radikalen Sinn allein durch uns selbst? Subjektivieren wir uns selbst? Heißt das, dass wir uns zu Subjekten machen bzw. bereits gemacht haben? Kann es etwa in der Macht eines nicht-subjektiven Seins stehen, eine Form der Subjektivität hervorzubringen, zu produzieren, zu erzeugen oder sogar zu erfinden, zu fingieren etc.? Und ist es vorstellbar, diesen Prozess auch wieder rückgängig zu machen? Wie aber? Etwa einfach dadurch, dass wir ›vergessen‹, Subjekte zu sein, dadurch, dass man es uns ausredet, oder dadurch, dass sich die Fruchtbarkeit eines ›subjektiven‹ Selbstverständnisses schlicht erschöpft? Nachdem Anzeichen dafür bereits unübersehbar geworden sind 27, scheint gegenwärtig, ironischerweise, der Subjektbegriff aufs Neue Aufmerksamkeit in dem Maße auf sich zu ziehen, wie bestritten worden ist, dass wir ›immer schon‹ oder unvermeidlich Subjekte sind oder uns als solche verstehen müssten. Demnach sind wir Subjekte geworden oder zu Subjekten gemacht geworden und können Vgl. P. Stoellger (Hg.), Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten, Tübingen 2014. Jene Frage wäre kritisch nicht zuletzt auch gegen Genealogien moderner und postmoderner Subjektivierungsformen zu richten, die – diesmal auf theoretischer Ebene – ihrerseits nicht selten ungeprüfte Versatzstücke einer modernen Theorie der Subjektivität übernehmen. Etwa dort, wo mit Foucault unterstellt wird, man könne auf »technische« bzw. »technologische« Art ein Verhältnis zu sich »herstellen«; ggf. in »Praktiken der Souveränitätsproduktion«. (Vgl. A. Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 16, 58, 621.) Wenn das zudem nur in einem kollektiven Rahmen einer symbolischen, umfassenden »Ordnung der Dinge« möglich sein soll, wo Subjekte nur als »Exemplare« einer Subjektform in Betracht kommen (vgl. ebd., S. 34–8, 42), kann man einem passivischen und mit (oder gegen) Kierkegaard als außer-ordentlich gedachten Selbstverhältnis kaum mehr Rechnung tragen. Wird damit nicht schon im theoretischen Ansatz eine (nicht zuletzt auf die Romantik zurückgehende) Sensibilisierung für eine unverfügbare Alterität des Subjekts und für eine entsprechende Sensibilität angesichts der Differenz jedes Anderen unsichtbar gemacht, die sich längst nicht mehr in einer am Geruch orientierten »Differenzsensibilität« à la G. Simmel erschöpft? (Vgl. ebd., S. 222, 346.) 27 Vgl. D. Henrich, »Subjektivität als Prinzip«, in: ders., Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, S. 49–73. Hier wird auf der »Ableitung« jeglichen Wissens aus einer »wissenden Selbstbeziehung« insistiert, jedoch kommt überhaupt kein konkretes Wissen in den Blick, das sich aus dieser Beziehung ergeben könnte. Ausdrücklich wird sogar der Anspruch zurückgenommen, das Wissen von sich könne sich, gewissermaßen selbstexplikativ, zu einem »Wissen von Grund und Welt« ausfalten (S. 72 f.). 26

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uns dagegen wenden, wenn sich die Subjektivierung unseres Selbstverständnisses als anfechtbar erweist. Möchte man nun den fragwürdig gewordenen Begriff des Subjekts im Lichte vorgängiger Prozesse der Subjektivierung revidieren, die überhaupt erst Subjekte haben entstehen lassen oder Subjekte originär formiert haben (etwa indem sie »gemacht« wurden), dann muss man auch die Konzepte des Entstehens, des Werdens, des Machens und des Gemachtwerdens zur Diskussion stellen. Denn es ist nicht ohne weiteres einsichtig, nach welchem Vorbild oder Muster der Prozess einer originären Subjektivierung zu verstehen wäre, die Subjektivität aus etwas anderem hervorgehen lassen und auf diese Weise zeitigen könnte. Wie sollte überhaupt subjektives Leben aus nicht-subjektivem Leben entstehen können? Indem letzteres sich aus eigener Kraft zu ersterem erhebt? Sind wir hier nicht mit einem der hartnäckigsten Welt- und Lebensrätsel konfrontiert, die sich jeglicher Aufklärung widersetzen (wie man es von Emil Du Bois Reymond bis hin zu Erwin Schrödinger antizipiert hat 28)? Handelt es sich um einen Prozess der Autoformation, der Selbstbildung oder der epigenetischen Zeitigung von Neuem, das sich auch nachträglich in keiner Weise auf antezedente Bedingungen seiner Hervorbringung reduzieren lässt? Wenn wir nicht durch uns selbst zu Subjekten geworden sind und wenn wir uns nicht selbst zu Subjekten gemacht haben, verdankt sich die Genese unserer Subjektivität dann Anderen oder dem Zusammenspiel mit deren Leben? 29 Können Andere aus nicht-subjektivem Lehttps://de.wikipedia.org/wiki/Ignoramus_et_ignorabimus; E. Schrödinger, Was ist Leben? – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet [1944], München 21951. 29 Es versteht sich von selbst, dass die hier angesiedelten Fragen keineswegs schon dadurch einfacher lösbar werden, dass man die der späten Aufklärung zu verdankende Vorstellung, man werde oder bilde sich selbst zum Subjekt, durch die heute populärere ersetzt, man werde durch Andere oder »vom Anderen her« zum Subjekt. Und was landläufige Sozialisationstheorien v. a. seit den idealistischen Anerkennungstheorien Fichtes und Hegels und besonders seit George H. Mead von allen Dächern pfeifen, dass wir nämlich im Zuge eines inter-subjektiven Geschehens überhaupt erst zu Subjekten werden, erübrigt durch diese zunächst rein verbale Umformulierung in keiner Weise, dieses »Inter« als solches zu verstehen (wenn es nicht nur eine Relationalität, ein Zwischen oder Beziehungsgeflecht meinen soll, das im Prinzip voneinander unabhängige, bereits ›vorhandene‹ Subjekte ›verbindet‹). Weder die Psychologie noch auch die Pädagogik – Disziplinen, die ihre theoretisch brisanten Begriffe vielfach der Philosophie entlehnen – verfügt offenbar über erfahrungswissenschaftliche Methoden, die die »Entstehung« menschlicher Subjektivität aus einem solchen Inter verständlich machen könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass der üblicherweise Sozia28

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ben subjektives Leben hervorzaubern? Unter welchen Umständen erweist sich fremdes Leben überhaupt als subjektivierbar? Setzt die Subjektivierung durch Andere nicht ein subjektivierbares Leben voraus, an dem sie ansetzen kann? Erweist sich nicht nur menschliches Leben als subjektivierbar? Wenn es sich so verhält, wodurch eignet es sich dann für eine Subjektivierung durch Andere? Wodurch ist es in diesem Sinne als menschliches ausgezeichnet? Und was macht die Menschlichkeit subjektivierbarer Wesen und subjektivierter Subjekte eigentlich aus? Heißt von solchen Wesen und von menschlichen Subjekten zu reden etwa, ihnen lediglich ein unverfängliches biologisches Attribut beizulegen, das sie von subhumanen Lebensformen abgrenzt? Nichts ist weniger sicher. Es wäre abwegig, von einer life science heutigen Zuschnitts empirische Aufklärung darüber zu erwarten, was wir als Lebewesen sind, um darauf eine Philosophie der Subjektivität zu gründen, die das Prädikat ›menschlich‹ dann einfach einer Wissenschaft vom lógos des bíos entnehmen könnte. Zwar lehnt sich die erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts, mit Jean-Baptist Lamarck, Gottfried R. Treviranus und Karl F. Burdach auf den Plan getretene moderne Biologie terminologisch an diese antiken Begriffe an. Tatsächlich hat sie von den bíoi, von den menschlichen Lebensformen, aber keine zureichende Vorstellung. Wenn überhaupt, dann kann sie den Menschen sowie das, was ihn bzw. uns (im irreduziblen Plural) als ›menschlich‹ erscheinen lässt, allenfalls auf eine erweiterte Zoologie gründen. Nach der Beobachtung Hannah Arendts sind im 19. Jahrhundert sogar die internationalen politischen Verhältnisse zwischen Staaten, die man als Lebensformen begriff, tatsächlich Gegenstand einer »politischen Zoologie« geworden. 30 Aber ist der Mensch ein zôon, ein Lebewesen, das sich erhält, reproduziert und schließlich umkommt – nicht viel anders als alle anderen Lebewesen lisation genannte Prozess ein eminent asymmetrischer ist, in dem sich Subjekte zu nicht-subjektivem Leben verhalten (wenn sie ein Kind erwarten), das erst im Laufe vielfältiger Prozesse des Aufgenommen-, Angesprochen- und Erwidertwerdens eine »subjektive« Form annehmen kann; und zwar so, dass von einer originären und radikalen Subjektivierung eines Lebens zu sprechen ist, das in den Anfängen der Embryogenese überhaupt keine subjektive Qualität hat. Von der Lebenswirklichkeit der entsprechenden Prozesse sind jene Disziplinen in methodischer und institutioneller Hinsicht ohnehin derart weit entfernt, dass es schwer zu erkennen ist, was von ihnen zu lernen sein soll. 30 Vgl. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, Zürich 3 1993, S. 378.

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auch (nur gewaltsamer und durch Angehörige der gleichen Gattung)? 31 Und kommt ihm auf dieser Grundlage auch Subjektivität zu? Foucault konnte in seiner Geschichte der neuzeitlichen »Gouvernementalität« in der Tat diesen Eindruck erwecken, dass sich die Politik des Menschen – jedes Einzelnen und der Gattung – als eines bloßen Lebewesens bemächtigt habe. 32 So gesehen wäre es in der Tat nicht abwegig, zoologisch oder biologisch beschreibbares Leben als subjektivierbares zu charakterisieren. Keiner heutigen empirischen Wissenschaft ist jedoch einfach zu entnehmen, dass und wie nicht-subjektives Leben die Form der Subjektivität annehmen kann. Das gilt auch für die Sozialwissenschaften, wo sie im Zeichen der Karriere, die genetisches Denken in der Moderne gemacht hat, den Anspruch erheben, die Genese menschlicher Subjektivität verständlich zu machen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich indessen, dass es bislang nirgends gelungen ist, subjektives Leben aus nicht-subjektivem Leben herzuleiten. Von George H. Mead und James M. Baldwin über Jean Piaget bis hin zu Jürgen Habermas und Michael Tomasello bleibt es bei nachträglichen Rekonstruktionsversuchen, die gewisse Ermöglichungs- und Förderungsbedingungen der Zeitigung subjektiven Lebens verständlich machen sollen. Dabei war es nicht zu umgehen, die jeweils zugrunde gelegte Auffassung von Subjektivität ihrerseits zu historisieren. Niemand verfügt nämlich über eine Theorie der Subjektivität, die der historischen Kontingenz entzogen zu denken wäre. Was unter dem Begriff der Subjektivität verhandelt wird, bildet nicht etwa eine universale Struktur bewussten Lebens ab, sondern manifestiert eine bestimmte, in historischer Perspektive kontingente und somit auch anfechtbare Auffassung davon, wie man sich als Subjekt versteht. Und mit dieser Frage sind die sog. life sciences definitiv überfordert. Wer von ihnen allein Aufschluss darüber erwartet, wie subjektives Leben möglich ist und hervorgebracht wird, läuft Gefahr, die unvermeidliche hermeneutische Dimension des Sich-als-Subjekt-Verstehens aus dem Blick zu verlieren. Was es heißt, sich als Subjekt zu verstehen (oder auch: sich nicht mehr als Subjekt verstehen zu wollen), ist keiner Wissenschaft vom Dass die menschliche Gattung so verstanden werden kann, muss man nicht bestreiten, wenn man deren »zoologische« Reduktion in Frage stellt. 32 M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, Frankfurt/M. 2004; ders., Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/M. 2004. 31

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Leben, sondern allenfalls einer Hermeneutik zu entnehmen, die die Frage, was es bedeutet, Menschen als Subjekte aufzufassen, eigens als solche aufwirft. Nur unter dieser in den life sciences nirgends eingelösten Voraussetzung löst man sich auch von der naiven und unfruchtbaren Meinung, es gehe im Streit um das Subjekt schlicht darum, ob wir (noch) Subjekte sind oder längst schon zu etwas anderem gewissermaßen mutieren mussten, wenn es denn stimmen sollte, dass das Subjekt seit seiner Für-tot-Erklärung auf der Strecke geblieben und nur noch ›Vergangenheit‹ ist. Lassen wir diese simplifizierende Vorstellung hinter uns, so interessiert viel mehr, ob (und inwiefern) wir uns als Subjekte verstehen – müssen, können, wollen. In der signifikativen Differenz dieses ›als‹ liegt eine irreduzible Kontingenz des So-oder-auch-anders-verstehen-Könnens. 33 So müssten uns die Verteidiger des Subjekts, die ihre Rede nicht mehr gegen die Rhetorik des Nekrologs auf diesen Begriff in Stellung bringen sollten, wenn sie ihren eigenen Diskurs nicht zu Tode reiten wollen, erklären, was es zu unserem Verständnis unserer selbst, Anderer und der Welt beiträgt, uns als irreduzibel plurale Subjekte zu verstehen, die das Prädikat ›menschlich‹ (wenn überhaupt) gewiss nicht allein aus biologischen Gründen verdienen. Foucault hat den Diskussionen um den Subjektbegriff, dem er im Lichte seiner weit ausholenden (offenbar ironisch so konzipierten) »Archäologie« der Humanwissenschaften zu Recht mit größter Skepsis begegnete (denn als Gegenstand war menschliche Subjektivität anscheinend in keiner dieser Wissenschaften anzutreffen 34), vor dem skizzierten Hintergrund eine ganz neue Wendung gegeben. Und zwar dadurch, dass er die Frage nach dem Gegenstandsstatus des Subjekts in den Humanwissenschaften deutlich trennte von dem Problem, ob wir uns (nach wie vor, aber unter signifikant veränderten historischen Umständen) als praktische Subjekte begreifen können oder sollten. 35 Das im Sinne einer transzendentalen Voraussetzung zunächst nur davon abhängt, dass Wesen im Spiel sind, die überhaupt dazu in der Lage sind, sich als etwas oder als jemand zu verstehen, d. h. ein Verstehen-als auch auf sich selbst ›anzuwenden‹ (sofern sich ihr Leben nicht ohnehin in der Form eines solchen Verstehens vollzieht). 34 G. Canguilhem, »Tod des Menschen oder Ende des Cogito?«, in: M. Marques (Hg.), Der Tod des Menschen im Denken des Lebens, Tübingen 1988, S. 17–51. 35 M. Foucault, Schriften in vier Bänden, Band IV, 1980–1988, Frankfurt/M. 2005, S. 93 f.; Vf., »Lebensformen des Selbst unter dem Druck der Bio-Politik. Kritische Überlegungen zu späten Denkwegen Michel Foucaults« in: Philosophischer Literaturanzeiger 58, Nr. 3 (2005), S. 285–307. 33

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Die unter dem ebenfalls wohl ironisch gemeinten Titel »Hermeneutik des Subjekts« veröffentlichten Vorlesungen am Collège de France (1981/82) geben auf diese Frage eine klare Antwort: Praktische Subjekte sind wir nicht immer schon, sondern infolge von Prozessen der Subjektivierung unter spezifischen und kontingenten Umständen, zu denen wir uns wiederum als Subjekte verhalten können. Und zwar auch so, dass wir eine als Zumutung empfundene Form der Subjektivierung zurückweisen, um zu anderen Ufern aufzubrechen, um Andere zu werden – wie Foucault mehrfach in kryptonormativer Diktion sagt, so als ob es im menschlichen Subjektsein selbst schon liege, dass es jedem von uns in jedem Falle darum gehen müsse, sich »daran zu hindern, derselbe zu sein«, d. h. Andere oder ›ein Anderer‹ zu werden, sofern wir nicht schon Andere sind – wenigstens dadurch, dass wir im Prozess unserer Subjektwerdung von einer unaufhebbaren Veranderung affiziert wurden. 36 Auf die Frage, was subjektiviert wird, offeriert Foucault auf diese Weise die Antwort: subjektiviert wird das Leben von jemandem, dem es in seinem Sein darum geht, ein Anderer werden zu können und nicht auf eine starre Idem-Identität festgelegt zu werden. Auch Foucault verfügt (ungeachtet seiner unverkennbaren Anleihen bei Kierkegaard und Heidegger) nicht über eine fertig ausgearbeitete Ontologie, die unanfechtbar demonstrieren würde, dass es sich so verhalten muss, d. h. dass im menschlichen Leben die Sorge lebt, auf eine derartige Identität festgelegt zu werden, und dass die Lebendigkeit dieses Lebens geradezu darin liegt, ein Anderer werden zu können und sich jeglicher Festlegung auf eine solche Identität zu entziehen. Viel mehr spricht dafür, dass Foucaults Denken vom negativen Einspruch gegen solche Formen der Festlegung beherrscht war, gegen die er nachträglich die Überlegung setzte, ob menschliches Leben nicht grundsätzlich auf ein Anderswerdenwollen aus ist, dem bestimmte Formen der Subjektivierung entgegenstehen. Menschliches Leben hebt demzufolge nicht als ein unmotiviertes und ungerichtetes Anderswerdenwollen an, sondern vermittels einer Negativität, die es zur Suche nach Möglichkeiten eines Anders-Lebens bzw. eines anderen Lebens anhält. Nach einem ganz anderen Leben verlangt es wohl erst dann, wenn es sich abzeichnet, dass ein anderes Leben, das sich in

36 Vgl. Kap. IV, sowie M. Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, Frankfurt/M. 1996, S. 27.

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bestimmter Art und Weise negativ gegen ein bereits vorgefundenes Leben richtet, nicht genügt. 37 Dem entsprechend geht Foucault nicht etwa von einer Ontologie nicht-subjektiven Lebens aus, um dann zu fragen, wie es Prozessen der Subjektivierung ausgesetzt sein kann, sondern erhebt Einspruch gegen Formen bereits subjektivierten Lebens, das scheinbar nicht damit einverstanden sein kann, zu Bedingungen Anderer (und nicht selbst, auf eigene Art und Weise) Subjekt zu sein bzw. als Subjekt behandelt zu werden. So gesehen ist Foucaults Ausgangspunkt ein negativistischer, der sich an Praktiken der Subjektivierung entzündet, die als mit einem selbst, auf eigene Art und Weise gelebten Leben mehr oder weniger unvereinbar erlebt werden. Negativ gesprochen heißt Subjekt sein also: sich Bedingungen eines im Grunde nicht selbst – und das hießt auch für Foucault: nicht frei – zu lebenden Lebens unterworfen zu finden. Positiv gesprochen bedeutet es: sich des eigenen Lebens im Widerspruch zu diesen Bedingungen zu versichern und so das eigene Subjektsein im Kampf gegen eine auferlegte Form der Subjektivierung zu behaupten und zu bewähren. Für den Genealogen Foucault, der auf Nietzsches Spuren wandelt, ist klar, dass auch das Subjektsein aus Anderem entstanden sein muss. Insofern teilt es das Schicksal mit allem, was auf kontingente Art und Weise existiert und wieder zugrunde gehen muss. Mehr noch: es handelt sich um eine Pluralität von Subjektivierungsbedingungen und -prozessen, die es nicht gestatten, gewissermaßen eine einzige Front auszumachen, an der sich die Auferlegung einer speziIch lasse dahingestellt, inwiefern diese Grundannahmen als überholt gelten müssen. Etwa unter Hinweis auf eine den Massen bescheinigte »Apathie« (Colin Crouch) und auf eine Indifferenz oder Sättigung jeglichen Motivs, nach einem »anderen« oder gar »ganz anderen« Leben zu suchen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, ob sich aus solcher Saturiertheit erklärt, wie man – um sich der eigenen, in Europa erst wieder in Erinnerung zu rufenden politischen Vitalität zu versichern – wegen der Proteste auf dem Rothschild Boulevard in Tel Aviv nach Israel, wegen der sog. arabellions Richtung Ägypten und Tunesien, sowie wegen den Vorgängen auf dem Taksim Square nach dem türkischen Istanbul schielte, wo die politischen Sorgen unter den Nägeln brennen. Ein Anzeichen für eine solche Saturierung mag auch sein, wie populär die Aufforderung eines betagten weisen Mannes wie Stéphane Hessel an »die jungen Leute von heute« werden konnte, sich endlich über diverse Missstände zu empören, für die man nur die Augen öffnen müsse … – als ob nicht auch ein überhandnehmendes und immer wieder rhetorisch in Anspruch genommenes Empörungspotenzial die vielfach diagnostizierte Lähmung des Politischen erklären könnte. (Siehe auch Anm. 67 zu Kap. XXIX.)

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fischen Form der Subjektivität abspielen würde. Subjektivierung geschieht vielmehr in vielfältigen Kontexten, wo auf dem Spiel steht, wie das Subjektsein in diversen Praktiken auszuüben ist, durch die sich erweist, wie man sich als Subjekt eigenen Verhaltens im Verhältnis zu sich (wie Foucault mit Kierkegaard annimmt), aber auch im Verhältnis zu Anderen und zur Welt versteht. 38 Um die Geschichte solcher Praktiken war es Foucault in den besagten Vorlesungen, aber auch schon in Sexualität und Wahrheit 1–3 (1976–1984) zu tun, wo er sich über jenes »ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation« mokierte, »wiederkäuen, sagen zu müssen, was man ist, was man getan hat, wessen man sich erinnert und was man vergessen hat, was man verbirgt und was sich verbirgt […]«. 39 Paradoxerweise habe man v. a. im Laufe des 19. Jahrhunderts als diesem Gebot Unterworfener seine offenbar sehr beschränkte Freiheit auszuüben gelernt. So erweisen sich die angeblich freien Subjekte dieser Zeit in Foucaults Augen zugleich als Gegenstände einer durchgreifenden »Subjektivierung der Menschen, das heißt ihre[r] Konstituierung als Untertanen/Subjekte«. Hier hat der Begriff der Subjektivierung offenbar einen pejorativen Sinn. Für Foucault ist klar, dass es »uns« in der Hauptsache darum gehen muss, Anderen nicht unterworfen zu sein (HS, S. 620). Genau diesem Kriterium wird jene spezifische Form unterwerfender Subjektivierung 40 nicht gerecht; und deshalb wird sie von Foucault zurückgewiesen, der sich infolgedessen dazu genötigt sieht, den Begriff einer akzeptablen, nicht unterwerfenden Selbstsubjektivierung (auto-subjectivation) in Betracht zu ziehen, die er in der M. Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt/M. 2009, S. 308 f. 39 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt/M. 1983, S. 78. 40 An dieser Stelle von einer spezifischen Form der Subjektivierung zu sprechen, heißt, dass auch nicht unterwerfende Formen der Subjektivierung denkbar sind. Keineswegs geht es Foucault darum, jegliche Form der Subjektivierung als eine Form der Unterwerfung zu brandmarken. In der Literatur zu Foucault werden Unterwerfung (assujettissement; subjection) und Subjektivierung (subjectivation; subjectification) gelegentlich bis zur Ununterscheidbarkeit kontaminiert. Analytisch, meine ich, muss man die Frage, wovon die Subjektivierung ausgeht, trennen von der Frage, ob, wie und in welcher Hinsicht sie eine unterwerfende Form annimmt, die unfrei macht. Wo diese Fragen analytisch nicht unterschieden werden, wird häufig suggeriert, Subjektivierung und Unterwerfung seien eo ipso etwas, was ›wir‹ unmöglich wollen können, also seien sie zu kritisieren und zu verwerfen, letztlich umwillen einer »ent-unterwerfenden« Desubjektivierung, die fatalerweise die Unterwerfung und das Subjektsein in einem Zug aufheben müsste. 38

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hellenistischen und römischen Literatur über das menschliche Selbst beschrieben zu finden meint (HS, S. 270). So lässt die Reinterpretation des Subjektbegriffs mit Hilfe des Konzepts der Subjektivierung die Frage nach dem Subjekt hinterrücks wieder ins Spiel kommen. Für Foucault ist klar, dass wir nicht immer schon Subjekte sind bzw. waren, sondern zu Subjekten erst werden in Prozessen der (sozialen, politischen, rechtlichen, ökonomischen etc.) Subjektivierung, die sich ihm als eine (zurückzuweisende) Form der Herrschaft darstellt, insofern diese auf Unterwerfung hinausläuft. 41 Diese Form zurückzuweisen bedeutet implizit: sich auf Freiheit zu berufen. Jene Prozesse können von Anderen, aber auch von uns selbst angestoßen und vorangetrieben werden, so dass es den Anschein hat, als könnten wir je selbst die Subjekte unserer Subjektwerdung sein. Dann wäre Subjektivität die Bedingung der Möglichkeit von Subjektivierung; und im Begriff der Subjektivität würde genau das liegen, worauf Subjektivierung zurückzuführen wäre. In einer solchen Sicht würde Foucault allerdings nicht wesentlich über die klassischen Theorien der Subjektivität hinausgehen. Insofern ist aber der Begriff der Selbstsubjektivierung missverständlich. Er meint freilich nicht, dass ein fertiges Subjekt sich selbst (im Grunde überflüssigerweise) subjektiviert, sondern bezieht sich auf eine Arbeit an sich, die zu anderen, neuen, viel versprechenden oder auch besser lebbaren Formen der Ausübung des Subjektseins führen sollte. Demnach ist man nicht entweder ein (fertiges) Subjekt oder etwas ganz Anderes (ein Objekt, eine Art Ding), sondern auf spezifische, praktisch ausgeprägte Art und Weise Subjekt, die ständigen Veränderungen ausgesetzt ist und ausgesetzt werden sollte, wenn es denn stimmt, was Foucault mit Nachdruck behauptet hat: dass es ›uns‹ darum gehen müsse, Subjekte im Modus des Anderswerdens oder des Zu-Anderen-Werdens zu sein. In dieser Verfassung, unterstellt Foucault, ist das menschliche Leben von jemandem immer schon. Darum geht es ihm in der Weise, ein subjektives Leben zu leben, zu führen, zu regieren etc., im Verhältnis zu sich selbst, zu Anderen und zur Welt. 42 Diese Prozesse münden schließlich in das, was in dt. Übersetzung bei Foucault »Subjektivitätspraktiken« heißt (HS, S. 27). 42 So bringt Foucault implizit eine Art Ontologie ins Spiel, aus der hervorgeht, worum es im menschlichen Leben, insofern es ein subjektives ist, immer schon geht. Was Foucault eine »historische Ontologie« nennt, würde dann untersuchen, in welcher praktischen, geschichtlich variablen und kontingenten Form dieser ›Sinn‹ subjektiven Lebens sich ausprägt. 41

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Von Theorien des Subjekts zu Praktiken der Subjektivierung

Kein Zweifel: Foucault rekonstruiert die genannte Literatur im Lichte der präsentistischen Frage 43, wie sie uns in »allen gegenwärtigen Kämpfen« zum Verständnis dessen verhelfen könnte, wer wir sind – nicht: was, wie es eingangs schien. Dabei ist für ihn eines gewiss: es müsse uns in unserem Selbstsein darum gehen, nicht in schierer Selbigkeit (idem-identité) zu verharren, sondern Andere, sogar ganz Andere zu werden. 44 Dem entsprechend werden Formen und Praktiken der Subjektivierung zurückgewiesen, die mit diesem Ansinnen unvereinbar zu sein scheinen. Foucault wollte v. a. wissen, was die Geschichte der Sorge um sich von der Antike über das frühe Christentum bis hin zu modernen Geständnispraktiken, die der Staat von letzterem übernimmt, hinsichtlich dieses Anliegens lehrt: wie man ein Anderer werden kann, statt in der Selbigkeit seiner Identität zu verharren. Das schien ihm die in seiner Gegenwart zentrale Herausforderung menschlicher Subjektivität zu sein, so wie sie sich im Selbstsein manifestiert, das von der Wer-Frage angetrieben wird, aber weit davon entfernt ist, sich aus eigener Kraft einer ihm angemessenen Form der Subjektivität versichern zu können. Deshalb muss es unter Umständen um eine solche Form kämpfen, um sie Anderen abzuringen oder sie gegen sie zu behaupten. So macht Foucault sein eigenes Interesse, ein Anderer zu werden, zu einer Art Vorschrift des Selbstseins, die, wie er offenbar mit Kierkegaard annimmt, jedoch nur im Verhältnis zu sich selbst zählt. Dabei kommt eine starre Auffassung von Identität als Selbigkeit (statt als Selbstheit) zum Vorschein, die erst zum Anderswerden aufbrechen muss, die aber das oder den Anderen nicht schon in sich trägt (es sei denn als Wille, ein Anderer zu werden 45). Allerdings wird das

Zum präsentistischen Fragen vgl. Vf., »Erinnerung an die Zukunft der Geschichte«, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften 10 (1999), S. 73–98. 44 In praktischer Hinsicht könnte das bedeuten, womöglich derart verändert oder verandert zu werden, dass jede Möglichkeit des Wiedererkennens durch Andere in Frage gestellt wird. Wenn das nicht nur eine Ipseität, sondern auch eine Idem-Identität betreffen würde, wären die Betreffenden nicht einmal mehr äußerlich noch zu reidentifizieren. 45 Aber kann nicht auch dieser Wille auf eine (moderne) Form der Subjektivierung zurückgeführt werden? Woher rührt er? Entspringt er einem dem menschlichen Leben irgendwie innewohnenden Antrieb? Oder hat man es uns eingeredet, auf keinen Fall in Selbigkeit oder Selbstheit verharren zu dürfen? Wie kommt es, dass man Foucault diesen Willen, ein Anderer zu werden, vielfach ohne weiteres abnimmt (und 43

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Subjekt eben auch als von Anderen dadurch subjektivierbares beschrieben, dass es sich von diesen ansprechen und in Anspruch nehmen lässt. Wie das geschieht, kann nur eine Diagnostik spezifischer, kulturell und geschichtlich unterschiedlich ausgeprägter Subjektivierungsformen aufweisen, die uns dazu zwingen, unser Subjektsein (bzw. Subjektwerden) ihnen entsprechend auszuüben. An diesen zweifellos nicht nur bei Foucault anzutreffenden Gedanken anknüpfend haben andere den Begriff der Subjektivierung für die politische Gegenwart fruchtbar zu machen versucht, die Foucaults, durch seinen Tod im Jahre 1994 abgebrochene, Analysen alsbald überholen sollte. Seine bis dahin veröffentlichten Arbeiten befassen sich noch nicht mit Prozessen virtueller Technisierung menschlicher Subjektivität; und die heute allgegenwärtige Diskussion um diverse Prozesse der Globalisierung begann sich seinerzeit erst zu entwickeln, ohne schon deutlich die im Horizont einer globalisierten Welt inzwischen erfolgte rücksichtslose Ökonomisierung des Selbstseins erkennbar werden zu lassen 46, die man später mit Hilfe der Foucault’schen Terminologie begreiflich zu machen versucht hat. Ein Beispiel hierfür sind Ulrich Bröcklings Untersuchungen zur »Soziologie einer Subjektivierungsform«, die er unter dem Titel Das unternehmerische Selbst vorgelegt hat. 47 Ich gehe im Folgenden auf diese Untersuchungen nicht ein, um sie zurückzuweisen, sondern um deutlich zu machen, wie sie auf die Spur einer kritischen Distanzierung zu vorherrschenden, ökonomistischen Formen der Subjektivierung führen. Dieser Distanzierung, so werde ich im weiteren Verlauf argumentieren, sollte methodisch-negativistisch eigens Rechnung getragen werden. Insofern spielt die thematisierte Soziologie einer negativistischen Sozialphilosophie in die Hände.

dabei unterstellt, Selbigkeit und Selbstheit seien mit Veränderung und Veranderung nicht dialektisch zu vermitteln)? 46 Vgl. U. Menzel, Paradoxien der neuen Weltordnung, Frankfurt/M. 2004. Zweifellos war aber eine (noch nicht spezifisch auf den Horizont der Globalisierung bezogene) Kritik einer Ökonomisierung des Selbstseins bspw. in der sog. Frankfurter Schule längst üblich geworden. 47 U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Zur Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt/M. 2007 (= US).

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Zur Übermacht einer ökonomistischen Subjektivierungsform

4.

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Bröckling situiert seine Studien in der seinerzeit von Ronald Reagan und Margaret Thatcher eingeläuteten Abenddämmerung des sozialdemokratischen Zeitalters, die zu einer uferlosen Ökonomisierung des Selbst geführt habe und jeden dazu anhalte, sich in ständiger Arbeit an sich selbst zu einem marktgängigen Produkt zu machen. »Werde was du bist, um brauchbar zu sein«, sei seitdem die Devise (US, S. 165). Einem stetig anwachsenden Heer von mehr oder weniger überflüssigen Arbeitskräften, die sich in der einen oder anderen Form von Prekariat über Wasser halten, habe man eingeredet, die Globalisierung erfordere das. In Wahrheit sei mit Hilfe einer Rhetorik der Selbstverantwortung eine konsequente Politik des Abbaus des Sozialstaats betrieben worden, der die allenthalben anzutreffende Behauptung eines unausweichlichen Globalisierungsdrucks nur als Vorwand gedient habe. Diese Rhetorik habe dafür gesorgt, dass das Modell der Arbeit an sich selbst in der Form permanenter Anstrengung, sich zum Produkt seiner selbst und ständig ›fit‹ zu machen, in alle Lebensbereiche vorgedrungen sei. So rufe ein »ökonomischer Imperialismus« einen ständigen Zwang zur Selbstmobilisierung hervor (US, S. 86, 102), der kein Innehalten mehr gestatte. Innehalten bedeute (wie es die neuzeitlichen Lehrer eines kompetitiven Lebens bereits vor Augen geführt hatten) schon Rückschritt und die Gefahr, in der beschworenen globalen Konkurrenz zurückzufallen. Um dieser Gefahr zu begegnen, sollten sich die Menschen als Eigentümer ihrer selbst, insbesondere ihrer Fähigkeiten, begreifen, um sich in permanenter Anstrengung eigenen oder assistierten empowerments 48 um jeden Preis als Arbeitskräfte bereitzuhalten – ggf. auch durch ein forciertes Anderssein oder durch eine markante Individualisierung (US, S. 15–26 f.), die sicherstellen müsse, dass man als unverwechselbare »Marke« bemerkt und geschätzt wird. Immerhin »lebe« auf diese Weise das vielfach totgesagte Subjekt noch – als trademark, die es mit Hilfe ständiger »Identitätsarbeit« und eines marktgängigen im-

Diese Rhetorik unterstelle überhaupt erst die Hilflosigkeit, die sie zu beheben behauptet (US, S. 17, 186 ff.), lesen wir hier. Und dieser Macht entgehe niemand. Ihr Witz aber liegt darin, gerade nicht mehr als äußerlich disziplinierende erfahren zu werden, obwohl ihr Ton vielfach imperativisch daherkommt (US, S. 219).

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pression managements 49 zu verkaufen gelte. Der unverhohlene Technizismus solcher Arbeit an sich entlaste von Wahrheits- und Sinnfragen und diene nur mehr dem Markt, »dessen Wille geschehe«, denn jenseits des Ökonomischen gebe es nun offenbar »nichts« mehr (US, S. 68 f., 72). 50 Schließlich müssten alle begreifen, dass längst der Markt als Weltgericht fungiere, der über das Schicksal von Wirtschaftssystemen und Staaten und jedes Einzelnen entscheide. Wer sich das einreden lässt, liefert sich demzufolge einer »eminenten Regierbarkeit« aus, die sich dadurch auszeichne, dass sie ohne autoritäres Beherrschen-, Vorschreiben- und Drohenmüssen auskomme. Jeder begreife sich ja nun von selbst als Humankapital, das durch ein unternehmerisches, nur sich selbst verpflichtetes und sich selbst gehörendes Selbst produktiv gemacht werden müsse, dem das ganze eigene Leben (aber auch das Leben der eigenen Kinder 51) zum Einsatz im Spiel ständiger Bewährung unter kaum mehr vorhersehbaren Produktionsbedingungen werde. Das sei die einzige Chance, der vorzeitigen Ausmusterung zu entgehen (US, S. 124). Was so beschrieben wird, ist eine neuartige (ökonomistische) Subjektivierungsform, die deutlich macht, wie sehr die Art und Weise, in der Subjektivität praktisch ausgeübt wird, von kontingenten politisch-historischen Umständen abhängt. Diese greifen unter der Vorherrschaft des Vorbilds eines bindungslosen Unternehmertums (US, S. 116, 174) scheinbar derart tief in unser Selbstsein ein, dass Man fragt sich allerdings, ob Anstrengungen der Selbstoptimierung unter Bedingungen komparativer Existenz nicht auf das Gegenteil jener Arbeit an sich selbst herauslaufen, die Foucault im Sinn hatte (vgl. US, S. 239, 242). Wer das Gebot der Selbstoptimierung und der ständigen ökonomischen Bewährung im komparativen vergesellschafteten Leben befolgt, kann der überhaupt noch ein »eigenes« Leben leben? Diese Frage erledigt sich nicht dadurch, dass man das eigene Leben gerade als das im ständigen Vergleich mit Anderen optimierte auszugeben versucht, als könne es sich in beiden Fällen nur um das Gleiche handeln (US, S. 15, 42). 50 Inwieweit der Autor in diesem Zusammenhang lediglich auf eine politische Rhetorik der Ökonomisierung abzielt und inwiefern diese inzwischen tatsächlich wirksam geworden ist, bleibe hier dahingestellt. Vgl. T. Alkemeyer, G. Budde, D. Freist (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013. Man muss sich ohnehin fragen, ob sich überhaupt noch eine überzeugende sozialwissenschaftliche Methodik vorstellen lässt, mit deren Hilfe derart weit reichende Spekulationen zu überprüfen wären. 51 Vgl. US, S. 91 f., 123. Auch Kinder bekommt man demzufolge in der Erwartung, dass sie etwas aus sich werden machen müssen, wie Kompetenzmaschinen, die ihr eigenes Humankapital optimieren und ggf. einen Ausgang aus selbst verschuldeter Unproduktivität selbst finden müssen. 49

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dieses sich bis zur Unkenntlichkeit verändern kann. Denn die beschriebenen Transformationen einer rücksichtslos ökonomisierten Subjektivierung haben keineswegs nur mit bloßen Diskurseffekten, sondern mit Wirklichkeitseingriffen und Wirklichkeitsproduktionen zu tun, die durch »Realfiktionen« neue Formen der Selbstregierung in Gang gesetzt hätten, welche sich bei näherem Hinsehen aber kaum mehr als freie Formen des Verhaltens zu sich selbst begreifen lassen (wie sie Foucault vor allem bei Kierkegaard beschrieben fand). Offenbart das ökonomistisch subjektivierte Selbstsein nicht die durchgreifendste Abhängigkeit von einer Rhetorik der Arbeit an sich, die das Schreckbild eines ständigen Überholtwerdens und Zurückbleibens heraufbeschwört, für das jedem Einzelnen die alleinige Verantwortung aufgebürdet wird? Offenbart diese Rhetorik ständig zu erhaltender und wenn möglich noch zu steigernder Markt-Tauglichkeit nicht eine vertiefte Unterwerfung unter die angeblichen »Gesetze« des Marktes, die als solche aber kaum mehr erkennbar ist, wenn man sie sich ganz und gar zu eigen gemacht hat, um ständig auf der Höhe der Zeit und »kreativ« zu sein? Handelt es sich hierbei nicht um eine offenkundige Ideologie (US, S. 152 f., 157 f.), die überhaupt kein anderes »Telos« als das der ständigen Selbstmobilisierung mehr zuzulassen scheint (US, S. 240, 245)? Wenn aber tatsächlich nichts anderes mehr »für das zeitgenössische unternehmerische Selbst noch irgendeine Bedeutung« hat, ist es dann nicht dieser Ideologie, der es sich seinerseits fügt und anzupassen sucht, derart zum Opfer gefallen, dass es sie als solche gar nicht mehr erkennen kann? Ruft der Ideologiebegriff an dieser Stelle demgegenüber nicht Erinnerungen an ein anderes, dem Markt nicht sich selbst unterwerfendes und darin zugleich unterworfenes Selbstsein wach? An der Schwelle zu normativen Implikationen einer Soziologie aktueller Subjektivierungsformen hält der Soziologe freilich inne. Ihm geht es erklärtermaßen weder um deren »normative Grundlagen« noch um ein Ideal des Selbstseins (US, S. 30 f.). Die Frage, warum und wozu man ein subjektives Selbst sein soll, blendet er aus, um sich ganz darauf zu beschränken, wie heute Selbstsein stattfinden kann. Bei bloßen Beschreibungen dieses Wie lässt es dieser Autor dennoch nicht bewenden. Zwar hält er den Gedanken nicht für unplausibel, dass »Regime des Selbst« nicht nur aufgrund von »Gegebenem« und mit »Aufgegebenem« operieren, sondern auch »Momente des Entzogenen« aufweisen, »die von den Anstrengungen der Selbstund Fremdformung nicht erreicht werden« (US, S. 34). Demnach 685 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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müssten wir auch uns selbst, Anderen und der Welt in der Weise eines subjektiven Selbstseins entzogen sein. Die Frage, ob es wirklich ein »Jenseits der Regierungen des Selbst gibt«, will Bröckling aber nicht entscheiden, sondern sich darauf beschränken, »die Zumutungen sichtbar zu machen, welche die Subjektivierungsregime den Einzelnen abverlangen« (US, S. 44). Damit verlegt sich der Autor implizit auf einen negativistischen Zugang zu seinem Thema. Demnach könnte man wenigstens indirekt, auf dem Weg der Beschreibung solcher Zumutungen, Vorstellungen von Formen der Subjektivierung näher kommen, die wir akzeptieren und mit denen wir wenigstens einigermaßen leben könnten, ohne dass sie die Lebbarkeit unseres Lebens ganz und gar in Frage stellen. Wenn wir über einen direkten Zugang zu solchen Formen nicht verfügen (worin auch eine Art und Weise des Sichentzogenseins zu erkennen ist), so könnten uns immerhin mehr oder weniger bestimmte Negationen dessen, was wir als »nicht lebbar«, als nicht »annehmbar« oder als »verletzend« wahrnehmen, auf die Spur anderer, womöglich zu bejahender Formen der Subjektivierung führen. Tatsächlich folgt Bröckling streckenweise diesem Weg, wo er sich mit Formen der Indifferenz, der Unterbrechung, der Ironisierung und der Erschöpfung des Selbstseins auseinandersetzt, die teilweise als Arten des Widerstands gegen den »Flexibilisierungsimperativ einer radikalisierten Marktökonomie« gedeutet werden können (US, S. 285 f.). Mit Recht schätzt der Autor die Chancen solcher Widerstandsformen vor allem dort skeptisch ein, wo sie in Apologien nomadischen, hybriden und ironisierten Selbstseins münden, die die Not faktischer Unterwerfung unter jene Ökonomie in eine vermeintliche Tugend ummünzen und sie euphemistisch beschönigen. 52 Aber muss man so weit gehen, »ein vom unternehmerischen Subjektivierungsregime unberührtes Außen oder einen ihm entzogenen Innenraum des Selbst« vollkommen in Abrede zu stellen? Und was heißt hier »berührt« oder »entzogen«? Was von einem solchen Regime tangiert wird und ihm nicht restlos entzogen sein kann, muss ihm doch nicht derart ausgeliefert sein, dass es überhaupt nicht mehr als Quelle des Einspruchs gegen dessen durchdringende Macht in Betracht kommt. Vgl. US, S. 263, 272, 281 ff. zu vermeintlichen Alternativen wie einem zeitgemäßen Nomadentum, aber auch eines Lebens in Projekten, aus dem selbst der Müßiggang und ein »überflüssiges« Leben am Rande (oder inmitten) der Gesellschaft nicht herausführt, wie es scheint (ebd., S. 295 f.).

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Bröckling selbst setzt in seinem implizit negativistischen Verfahren auf eine solche Quelle. Nur wo jenes Regime nicht durchgreifend Erfolg hatte, kann es sinnvoll sein, an »sabotierte«, »uneingelöste« und an womöglich sogar »versprochene« menschliche Möglichkeiten zu erinnern, die nicht preisgegeben werden sollten. Möglichkeiten des Nein-sagens, der Zurückweisung der Übermacht eines solchen Regimes werden ebenfalls nur dann verständlich, wenn Formen des Selbstseins nicht vollkommen verkümmert sind, die ihm widersprechen oder widerstreiten (US, S. 38 ff.). Daraus folgt, dass im Gegensatz zu einer bloßen Beschreibung der scheinbar zur absoluten Übermacht aufgespreizten Ökonomisierung der Selbstverhältnisse deren kritische Genealogie nur möglich ist, wo sie historisch kontingente Subjektivierungsformen mit einem Selbstsein konfrontiert, das ihnen nicht ›immer schon‹ unterworfen war, das niemals ›restlos‹ in ihnen aufgeht und das infolgedessen auch als Quelle von Möglichkeiten künftigen Anderswerdens in Betracht kommt. Findet eine solche Konfrontation nicht statt, so erliegt die soziologische Genealogie schließlich mit fataler Konsequenz ihrer eigenen Analyse: Aus der diagnostizierten Übermacht kann sie keinen Ausweg weisen, wenn sie ihrerseits ein Selbstsein aus dem Auge verliert, das in überhaupt keiner Subjektivierungsform je wird gänzlich aufgehen können. Wäre dem nicht so, dann müssten wir theoretisch jene Übermacht affirmieren und zugeben, sie habe unumschränkten Zugriff auf die Subjektivität derer, aus deren eigenem Verhalten sie Profit schlägt, indem sie jegliches ihr entzogenes Selbstsein zugleich zum Verstummen bringt. Eine derart überzogene Genealogie heutiger Subjektivierungsformen ist schon aus empirischen Gründen anfechtbar. Denn wie sollte sie nachweisen können, dass diese Formen uns wirklich derart durchgängig beherrschen, dass selbst Alternativentwürfe ganz und gar von ihnen abhängig bleiben und keinen wirklichen Ausweg zu weisen vermögen? Wird die Übermacht dieser Formen hypostasiert, kann die soziologische Analyse am Ende selbst keine Gegen-Macht mehr gegen sie aufbieten. Sie beschränkt sich dann auf einen ironischen Ton, mit dem sie die eigentümliche Überspanntheit eines »Hohen Liedes« auf unternehmerische Tugenden bspw. herausstellt (US, S. 62), während sie zugleich lediglich suggeriert, heutige Formen einer ökonomisierten Subjektivierung seien negativistisch zu beschreiben, insofern wir durch sie indirekt erfahren, was, wie und wer wir nicht sein wollen. 687 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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Dieses ›Wir‹ sollte man sich allerdings nicht erschleichen. 53 Weniger denn je nämlich lässt sich eine spontane Gemeinschaftlichkeit des Verständnisses dessen ausmachen, was unter subjektivem Selbstsein heute zu verstehen sein sollte. Zum einen steht dieses Verständnis heute tatsächlich massiv unter dem Druck von Deformationen, die nicht mehr eindeutig als Formen der Entfremdung, der Inauthentizität oder der Übermächtigung zu charakterisieren sind. 54 Vielfach wird ja unter diesem Druck aus der sprichwörtlichen Not eine Tugend der Anpassung gemacht, zumal das große Kreativitätschancen eröffnet. Was sollte noch gegen eine durchgreifende Ökonomisierung subjektiven Lebens sprechen, wenn sie von diesem selbst betrieben wird (und wenn es dabei weitgehend Erfolg hat)? Zum anderen fehlt es an einem gültigen bzw. allgemein geltenden Maßstab der Kritik. 55 Um einen solchen Maßstab wiedergewinnen zu können, müsste eine öffentliche Artikulation dessen stattfinden, was mit den skizzierten Formen der Subjektivierung auf dem Spiel steht. Dabei könnte man an eine Vielzahl negativer Erfahrungen anknüpfen, die Bröcklings Darstellung der »Soziologie einer Subjektivierungsform« den Anschein des Kritischen verleihen, ohne dass aber die Bedeutung einer Politisierung der zur Sprache gebrachten Subjektivierungsform eigens ausgeleuchtet wird. Nur indem diese aber zum Politikum wird, kann deutlich werden, dass die weitgehende Ökonomisierung des Selbstseins kein bloß privates Problem eines von jedem Einzelnen selbst, auf eigene Rechnung zu führenden Lebens ist. Wie durchgreifend Das gilt auch für die – ebenfalls implizit negativistisch ansetzenden – Theorien einer globalen multitude, der man von M. Hardt und A. Negri über P. Virno bis hin zu C. Mouffe zutraut, sich ggf. in einer Vielzahl von dêmoi zu artikulieren, um gegen als unakzeptabel erfahrene Lebensbedingungen Einspruch zu erheben. Speziell Mouffe liebäugelt immer wieder mit einem neuartigen »Wir«, das sie auf eine unaufhebbare Negativität gegründet sieht. Aber wie letztere mit spezifischen politischen Erfahrungen einhergeht, wird selten deutlich, zumal die Autorin es tunlichst meidet, sich einer ethischen oder moralistischen Sprache zu bedienen. Vgl. C. Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014, S. 28, 35, 80 ff., 118 zur Wer-Frage, die die Suche nach einem neuen »Wir« herausfordert, zur multitude ebd., S. 17, 86, 168, zu deren problematischem Subjekt-Status ebd. S. 123, 185, 203. 54 Insofern sind die goldenen Jahre einer sog. Kritischen Theorie, die auf die eindeutige Negativität solcher Erfahrungen gesetzt hatte, vorbei. Vgl. A. Oberprantacher, »Entfremdung. Unheimliche Arbeit am Begriff« in: B. Liebsch, A. Hetzel, H. R. Sepp (Hg.), Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium, Berlin 2011, S. 77–94. 55 Den eine negativistische Methodologie allerdings der negativen Erfahrung auch weder einfach entnehmen noch auch normativistisch vorschreiben kann. 53

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auch immer uns ein ökonomistisches Regime bestimmen, d. h. hier: subjektivieren mag, effektiv kritisieren und zurückweisen wird man es nur können, wenn die Chancen und Gefahren einer politisierenden Subjektivierung ermittelt werden, die es mehr oder weniger unterworfenen 56 Subjekten erlauben sollte, ihrerseits als Subjekte einer politischen Einrede aufzutreten, die gegen die Zurichtung zu einem auf Gedeih und Verderb »unternehmerischen«, immerfort aus sich selbst Kapital schlagenden Selbst Einspruch einlegen kann.

5.

Perspektiven einer politisierenden Subjektivierung

Prozesse politischer Subjektivierung politisieren originär menschliche Subjektivität, die nicht immer schon politisch ist und nie restlos politisierbar sein wird. Sie knüpfen zweifellos an die menschliche Stimme und an das Redenkönnen von jemandem an, der oder die einerseits ansprechbar ist und andererseits selbst Andere ansprechen und in Anspruch nehmen kann. 57 Indem man einander ein-, wechselund gegenseitig auf Erwiderung hin anspricht, wird man (jedes Mal neu) sozial und politisch zu ›jemandem‹, der man niemals einfach ist. Zu ›jemandem‹, nach dem wir mit der Wer-Frage fragen können, wird man in mannigfaltigen sozialen Prozessen der Kommunikation, die als solche noch keine spezifisch politische Qualität haben. Dazu kommt es erst, wenn im Kontext einer menschlichen Lebensform im Modus der an Andere gerichteten Rede ein Anspruch auf etwas geltend gemacht wird, der die Lebbarkeit eines gemeinsamen, auch Dritte betreffenden Lebens selbst tangiert oder in Frage stellt. Bevor ein solcher Anspruch aber kritisch erwogen und beurteilt werden kann, muss eine originäre Politisierung des sich äußernden Subjekts stattfinden, das gehört, angehört, beachtet und ernst genommen werden will und nur insoweit politisch überhaupt existiert, als es diese Erfahrung tatsächlich (und nicht nur einmal, sondern wiederholt und ggf. Hier ist immer ein Unterworfensein durch Selbstunterwerfung mit gemeint und gerade nicht unterstellt, die fragliche Unterwerfung sei einer schlichten Unterdrückung zu verdanken. 57 Keineswegs ist das so zu verstehen, als müsse sich dabei jeder seiner Stimme (und nur der eigenen Stimme) bedienen. In Anspruch nehmen und in diesem Sinne berühren kann man Andere auch durch einen stummen Blick oder durch eine Geste; und für diejenigen, die ihre Stimme nicht selbst zu erheben vermögen, können Andere eintreten. 56

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ständig) macht. Noch vor jeder konkreten Auseinandersetzung um strittige Geltungsansprüche dessen, was es zu sagen hat, muss es die Erfahrung machen, überhaupt auf offene Ohren zu stoßen; andernfalls kann eine politische Auseinandersetzung nicht einmal beginnen, an deren Anfang stets die immer wieder neu zu bewährende Erfahrung stehen muss, als jemand, der etwas zu sagen hat, wirklich in Betracht gezogen zu werden. Weder die menschliche Stimme noch auch die Fähigkeit zu vernünftiger Rede verbürgt das allein. Weder in der Natur eines zôon politikón, wie sie Aristoteles beschrieben hat, noch auch in der ethischen Verfassung eines Subjekts, das sich vom Anderen her als unvermeidlich ansprechbar erweist, wie Levinas meint, liegt die ausreichende Grundlage einer politischen Subjektivierung. Wenn wir unsere Stimme (phoné) erheben und vernünftig reden, ohne Gehör zu finden, müssen wir an unserer politischen Existenz zweifeln. Und zwar auch dann, wenn unsere Rede Andere erreicht hat, die, wenn Levinas Recht hat, nicht umhin können, sich zum Anspruch Anderer, der an sie ergangen ist, verantwortlich zu verhalten. Ihre Verantwortung ist auch dann unabweisbar, wenn sie ignoriert, vergleichgültigt oder verleugnet wird, meint Levinas. 58 Aber das genügt niemals dafür, dass sich das Politische ereignet. Das kann erst dann geschehen, wenn es gelingt, dass jemand tatsächlich einen Anspruch, der die Lebbarkeit eines gemeinsamen Lebens betrifft, Anderen zu Gehör zu bringen vermag. Und das gelingt niemals aus eigener Machtvollkommenheit. Denn kein noch so lauter Protest, keine noch so gewaltsame Demonstration kann es erzwingen, dass Andere über das bloße Hören hinaus (zu dem man sie nötigen

Levinas glaubt in dem, was zur Verantwortung aufruft, den harten Kern einer radikalen, unerlassbaren und durch nichts zu umgehenden Subjektivierung des Subjekts gefunden zu haben, der uns dem Anderen Antwort zu geben zwingt – sans engagement préalable. Von einer »vor-ursprünglichen Empfänglichkeit« ist die Rede, die das Subjekt ohne vorherige Einspruchsmöglichkeit und ohne Vorbehalt dem Anspruch des Anderen »unterwirft«. Demzufolge werden wir als Subjekte ins Leben gerufen, die ein ethisches Verhältnis zum Anderen niemals allein aus eigener Kraft stiften können. Ethische Subjekte sind wir dank des Anderen, der uns in Anspruch nimmt. Ethische Subjektivität entspringt so aus einer Erfahrung der Passivität, die allerdings ein eigenes Verhalten zu ihr keineswegs erübrigt. Insofern kann hier nicht von einer als Unterwerfung zu verstehenden Subjektivierung die Rede sein, wie die Diskussion um diesen Begriff mit Blick auf Louis Althusser, Ernesto Laclau, Michel Foucault und Judith Butler immer wieder nahelegt.

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mag) tatsächlich auch zuhören, Anderen Aufmerksamkeit schenken, deren Anspruch ernst nehmen und am Ende berücksichtigen. Im Gegenteil: je mehr man das zu erzwingen versucht, desto kontraproduktiver werden die Effekte auf alles sein, was (wie Aufmerksamkeit) doch allemal gewährt oder geschenkt werden muss. Streng genommen sind wir demzufolge niemals ständig bzw. auf Dauer – etwa einfach deshalb, weil uns bestimmte Bürgerrechte zustehen – politische Subjekte. In tatsächlichen Versuchen, Gehör zu finden, muss man vielmehr immer wieder darum ringen, als politisches Subjekt wahrgenommen, beachtet, berücksichtigt, einbezogen, ernst genommen und anerkannt zu werden. Dazu aber kann man sich niemals aus eigener Kraft ermächtigen. Und in diesem Sinne kann es keine Auto-Subjektivierung geben. Der eigene Versuch, aus eigener Kraft als politisches Subjekt auftreten zu können, kann zunächst nur auf den Appell an Andere setzen, wahrzunehmen, was gehört zu werden verlangt. Den Anderen ›unterwirft‹ man sich dabei aber nicht einfach auf Gedeih und Verderb, so als ob man nur von ihrer Gnade abhinge, politisch existieren zu dürfen. Sofern der Begriff der Subjektivierung das Eine oder das Andere suggeriert, führt er hier phänomenologisch in die Irre. Weder kann man sich aus eigener Machtvollkommenheit zum politischen Subjekt machen (was die Rede von einer Auto-Subjektivierung zu unterstellen scheint), noch muss man sich Anderen ohne Wenn und Aber mit der Folge unterwerfen, fortan von deren Gnade abhängig zu sein. In Wirklichkeit spielt sich das Geschehen der politischen Subjektivierung stets zwischen uns ab 59: als Geschehen der Inanspruchnahme Anderer, die ihnen (auf Erwiderung hin) abverlangt, Gehör zu schenken, um wenigstens einen Anspruch an sie und einen mit diesem einhergehenden Anspruch auf etwas ›gelten zu lassen‹. Nicht aber, um sofort zuzustimmen, sondern um den Anspruch als Anspruch überhaupt hervortreten und als Grund zur Auseinandersetzung ernst nehmen zu lassen. 60 Wo das Dieses »Zwischen« als solches ist nicht ohne weiteres als ein interpersonales zu interpretieren. Von Martin Buber über Hannah Arendt und Michael Theunissen bis hin zu Jean-Luc Nancy reichen intersubjektivistische, aber auch gegen den Begriff der Subjektivität kritisch sich wendende Positionen, die an dieser Stelle zu berücksichtigen wären. Längst ist dieses »Zwischen« medial und virtuell erweitert worden, so dass vielfach eigentümlich offenbleibt, wen es betrifft und in Anspruch nimmt. Vgl. K. Röttgers, »Gesellschaftsleben und Seelenleben«, in: E-Journal Philosophie der Psychologie, Juni 2005, S. 10 ff. 60 In diesem Sinne verstehe ich das ›Gehörschenken‹ in der Tat als eine elementare 59

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nicht geschieht, bleibt der Raum politischer Rede und politischen Streits weitgehend verschlossen, was erneute Versuche, ihn zu öffnen, notfalls auch gewaltsam, aber nicht ausschließt. Originäre Subjektivierung, die ein politisches Subjekt – sei es ein Einzelner oder eine fluktuierende virtuelle Menge – überhaupt erst zum Vorschein kommen lässt bzw. zeitigt, kann nur durch dieses Geschehen zwischen uns möglich werden, das niemand einseitig beherrscht. In diesem Geschehen treten weder fertige Subjekte (die einander zu Objekten zu machen versuchen, wenn Sartre Recht hat) gegeneinander an, noch auch macht jemand sich aus freien Stücken zum Subjekt oder taucht ex nihilo als solches auf. Gewiss: es muss stets jemanden geben, der sich auf Erwiderung hin an Andere zu wenden vermag. Aber alles darüber hinaus, was dazu erforderlich ist, als politisches Subjekt wahrgenommen zu werden und schließlich auch zu ›zählen‹, hängt von einem niemals zureichend berechenbaren Geschehen wechselseitiger Inanspruchnahme ab, das ein Feld möglicher Auseinandersetzung überhaupt erst sich abzeichnen lässt oder ein vorhandenes so weit derangiert, dass auch jemand, der noch gar nicht ›zählte‹, als jemand Ernstzunehmendes ›in Betracht kommt‹, d. h. buchstäblich: sicht- und hörbar wird. 61 Genau diesen Prozess

Form politischer Gastlichkeit, die Anderen überhaupt erst die Chance eröffnet, ihre Ansprüche als möglicherweise berechtigte zur Geltung zu bringen. Vgl. J.-L. Nancy, Zum Gehör, Zürich, Berlin 2010. Fraglich ist allerdings, ob man dieses Gehörschenken lediglich als eine Form der Generosität zu deuten hat oder ob es auf die Spur eines subjektiv nicht zu beherrschenden Dem-Anderen-ausgesetzt-seins führt; vgl. J. Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin 2007, S. 7, 32. 61 Nachdem der klassische Horizont dieser Problematik verblasst ist, in dem man zu wissen glaubte, worum es im Begehren, wahrgenommen zu werden, geht (um Ehre oder öffentliche Anerkennung nämlich), kommt, wie es scheint, ein zunehmend existenzieller Unterton zum Tragen. Demnach geht es in diesem Begehren v. a. darum, überhaupt sozial und politisch zu existieren. Von der politischen Anthropologie der Ehre oder der (mehr oder weniger narzisstisch eingefärbten) Anerkennung, wie sie bei Thomas Hobbes, Bernard de Mandeville, Adam Smith oder Jean-Jacques Rousseau vorausgesetzt war, können wir jedenfalls nicht mehr ohne weiteres ausgehen (vgl. E. Pulcini, Das Individuum ohne Leidenschaften. Moderner Individualismus und Verlust des sozialen Bandes, Berlin 2004). Das mag zum einen daran liegen, dass wir die Subjekte, die um ihre soziale und politische Existenz kämpfen müssen, nicht mehr als in partikularen Lebensformen eindeutig situiert verstehen können, die ihnen unbestrittene Maßstäbe ihres Zählens als Subjekt vorgeben könnten. Zum anderen bedingt die (globale) Erweiterung des Horizonts, in dem Andere als Subjekte auftreten können, die wahrgenommen werden wollen, eine korrelative Radikalisierung ihrer elementarsten Ansprüche – vor denen jeglicher Narzissmus verblasst.

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Perspektiven einer politisierenden Subjektivierung

der Stiftung oder Neuordnung des Erfahrungsfeldes bezeichnet Jacques Rancière als Subjektivierung. 62 Der neuerdings häufig anzutreffende Begriff der De-Subjektivierung würde demnach bedeuten, dass eine solche Stiftung oder Neuordnung verlorengeht, dass sie rückgängig gemacht wird oder sonstwie verkümmert. Das betrifft nicht nur den (politischen) Status gewisser Subjekte, sondern, wie Rancière in phänomenologischer Manier immer wieder sagt, das Erfahrungsfeld als solches, in dem verschiedene Akteure überhaupt in einen möglichen Dissens eintreten können. Ein Feld möglicherweise gemeinsamer Erfahrung gibt es in diesem Sinne nur dort, wo dissensuelle Erfahrungen (noch vor diskursiven Geltungsansprüchen) artikuliert werden können. Prozesse der Subjektivierung bedeuten genau dies: dass das Politische in einem Feld dissensueller Erfahrung und möglicher Auseinandersetzung um sie zum Vorschein kommt. Wo man sich in Dissens verstrickt, gibt es das Politische; und als oder im Dissens erscheint nicht nur das Strittige, sondern auch das Politische als solches (indirekt) mit. Politische Desubjektivierung bedeutet also, dass Gegenstände und Felder dissensueller Erfahrung nicht mehr als solche zum Vorschein kommen. D. h. nicht, dass diejenigen, die auf sie angewiesen wären, gänzlich aufhören müssten, als Subjekte zu existieren. Ethische Subjekte im Sinne von Levinas könnten sie weiterhin sein. Und als solche könnten sie im Prinzip jederzeit Andere auf Erwiderung hin ansprechen und ihnen entsprechende Verantwortung zumuten. Doch Rancière wen-

J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 47. Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen, dass vielfach ganz Unterschiedliches gemeint ist. Bei Foucault geht es ausdrücklich um die Fabrikation von Untertanen (sujets), also um eine bestimmte politische Form der Unterwerfung (assujettissement); nicht um die Genese menschlicher Subjektivität als solcher. Das Gleiche gilt, scheint mir, für Louis Althusser, der v. a. im Auge hatte, wie jemand »zur Ordnung gerufen« wird (durch einen dazu Befugten wie etwa einen Polizisten). Bei Althusser spielt sich dies innerhalb einer etablierten (in der Terminologie Rancières) »polizeilichen« Ordnung ab; und bei Laclau geht es um Subjektpositionen als Effekte strukturaler Determinationen; wohingegen Foucault eher die Einfügung in eine politische Ordnung im Blick hat; und Levinas schließlich bedenkt die Außer-Ordentlichkeit eines Anspruchs des Anderen, die überhaupt keiner polizeilichen oder politischen Ordnung zur Disposition steht. Vgl. M. Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76), Frankfurt/M. 2001, S. 60; J. Butler, Hass spricht, Berlin 1998, S. 41; E. Laclau, »Dekonstruktion, Pragmatismus, Hegemonie«, in: C. Mouffe (Hg.), Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1999, S. 111– 153, hier: S. 132.

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det mit Recht gegen Levinas ein, dass das keineswegs genügt, um politisch zu existieren. Man kann ein ethisches bzw. ethisch herausgefordertes Leben leben, ohne politisch überhaupt zu existieren, wenn wir Rancière folgen, der so weit geht, anzunehmen, dass nicht einmal die rechtliche Anerkennung als Subjekt legitimer Ansprüche dafür genügt, politische Existenz zu verbürgen. Entschieden wendet er sich nicht nur gegen eine Apologie der Alterität (wie er sie in Levinas’ Philosophie sieht), sondern auch gegen eine Philosophie der Menschen- und Bürgerrechte, in denen heute viele die Anerkennung eines politischen und zugleich lebbaren Lebens garantiert sehen. Sowohl in dieser Apologie als auch in einer politisch naiven Verteidigung der Menschenrechte sieht Rancière eine Verleugnung des eigentlich politischen Moments. In beiden Fällen stehen wir vor einem anscheinend unüberwindlichen Dilemma bzw. vor einer Aporie, wie sie von Hannah Arendt charakterisiert worden ist. In Rancières Worten lautet es: »Entweder sind die Bürgerrechte die Menschenrechte – doch die Menschenrechte sind die Rechte des unpolitischen Menschen; sie sind die Rechte derer, die keine Rechte haben, die also nichts haben. Oder die Menschenrechte sind die Bürgerrechte, also die Rechte, die an den Status als Bürger dieses oder jenes Verfassungsstaates gebunden sind. Dann sind sie die Rechte derer, die Rechte haben, und damit eine Tautologie.« 63 Rancière hält die Rede davon, dass Menschen, bloß als Menschen, in ihrem nackten Leben, oder als Bürger, Rechte ›haben‹, für grundsätzlich verfehlt. Er weiß nur: es gibt Wesen, nennen wir sie provisorisch Menschen, die offenbar dazu in der Lage sind, wenigstens einen Streit darüber zu eröffnen, ob und in welchem Sinne sie im Leben mit und unter Anderen ›zählen‹ dürfen. In einem solchen Streit können sie Ansprüche und das Verlangen nach etwas, z. B. nach der Achtung von Rechten, an Andere adressieren, ohne sich aber einfach auf Rechte, in deren Besitz sie schon wären, berufen zu können. Im Akt des ›Reklamierens‹ von Rechten, der sich an Andere wendet und sie in Anspruch nimmt, indem im gleichen Zug ein Anspruch auf diese Rechte geltend gemacht wird, ereignet sich vielmehr das für Rancière Entscheidende: die Politisierung und Subjektwerdung derer, die als Andere ›zählen‹. J. Rancière, »Wer ist das Subjekt der Menschenrechte?«, in: C. Menke, F. Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin 2011, S. 474–490, hier: S. 480.

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Streng genommen ›haben‹ wir überhaupt keine Rechte – scheint Rancière sagen zu wollen –, es sei denn, wir können Rechte als (ggf. berechtigte) Ansprüche auf etwas auch im Anspruch an Andere ›zur Geltung bringen‹. Für Rancière ist das ein originärer Prozess politischer Sichtbarmachung und des Zu-Gehör-bringens, in dem die Subjekte solcher Ansprüche (im doppelten Sinne) überhaupt in Erscheinung treten, indem sie ihre Ansprüche vorbringen. Wo das nicht geschieht oder nicht geschehen kann, ist politische Subjektivierung unmöglich, deren es aber bedarf, soll die Rede von Rechten nicht hohl bleiben, indem diese entweder mit der faktischen Rechtlosigkeit nackten Lebens, dem Menschenrechte zustehen sollen, oder mit Bürgerrechten identifiziert werden, die man angeblich ›hat‹. Man ›hat‹ überhaupt keine Rechte, es sei denn, man kann sie im Anspruch an Andere in Anspruch nehmen, reklamieren, geltend machen usw. So gesehen ist es sowohl für Menschen- als auch für Bürgerrechte von entscheidender Bedeutung, ob es zu einem Geschehen der Inanspruchnahme überhaupt kommen kann. Und das ist niemals garantiert. Auch nicht durch eine vor-politische, soziale Subjektivierung, die wir in Prozessen der Sozialisation bereits erfahren haben mögen, bevor wir in die Lage geraten konnten, unsere politische Subjektivität in Anspruch zu nehmen, einzuklagen oder in die Waagschale zu werfen. Weder kann ein unzugehöriger Fremder jemals mit Gewissheit darauf bauen, von Bürgern gehört zu werden, die ihm einen menschenrechtlichen Minimalschutz gewähren sollten, noch können die Bürger selbst sich darauf zweifellos verlassen, als politische Subjekte, die ihre Rechte in Anspruch nehmen wollen, in jedem Fall Gehör zu finden. In jedem Fall bleibt das Entscheidende, nämlich das unkalkulierbare Ereignis der Inanspruchnahme Anderer, in dem man überhaupt erst oder jedes Mal neu als politisches Subjekt in Erscheinung tritt, unabsehbar. Weder Fremde, die einer politischen Lebensform nicht zugehören, noch auch deren Mitglieder verfügen je über die Mittel, sich auf jeden Fall als politische Subjekte Gehör zu verschaffen. Vielmehr sind sie in dieser Hinsicht elementar und jedes Mal von neuem darauf angewiesen, wirklich Gehör zu finden, d. h. ›auf offene Ohren‹ zu stoßen, wie man landläufig sagt. Diese Redensart kaschiert bei unbedachtem Gebrauch das radikale Problem, um das es Rancière zu tun ist: die Abhängigkeit des Geschehens originärer politischer Subjektivierung von einer zwi-

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schen-menschlichen, ereignishaften Resonanz und Responsivität, über die niemand völlige Verfügungsmacht hat. 64 Dass die konkreten Möglichkeiten des Zur-Sprache-kommens für Fremde, ortsansässige Migranten, Exilanten und marginale Menschen, für das intellektuelle und quasi-proletarische Prekariat und Minderheiten jeglicher Couleur dramatisch beschränkt sind im Vergleich zu mehr oder weniger arrivierten Mitgliedern einer politischen Lebensform, die ihrer Stimme auf bewährten Wegen leicht Gehör verschaffen können, versteht sich von selbst. Aber Rancière macht mit seiner Deutung der Rolle des Menenius im antiken Rom mit Recht deutlich, dass es selbst geradezu zementierte Machtverteilungen niemals gänzlich ausschließen können, dass sich eine irreguläre Rede derer Geltung verschafft, die ›hier‹ eigentlich ›nichts zu sagen haben‹, wie man im Deutschen in symptomatischer Doppeldeutigkeit sagt. Am Leben zu sein – ob in einem »nackten« oder »bloßen« Leben, wie es Giorgio Agamben beschreibt, oder als Subjekt von Menschenrechten, die man angeblich von Natur aus oder kraft allgemeiner Anerkennung ›hat‹, oder als saturierte Bürgerin, die sich hinsichtlich des Genusses ihrer Ansprüche und deren Einklagbarkeit in einer fadenscheinigen Sicherheit wiegt 65 – genügt in dieser Sicht niemals dafür, politisch zu existieren. Und umgekehrt gilt: nur wer dazu in der Lage ist, vermittels der Inanspruchnahme Anderer, wird sich als Subjekt Auch nicht dadurch, dass man auf dem Wege einer direkten Ontologie auf den Spuren des späteren Heidegger den Sinn jener Responsivität als einen agonalen, antagonistischen oder polemogenen ausgibt. Im Sein ereignet sich der pólemos Heraklits als eine Auseinandersetzung, die Differentes überhaupt erst hervortreten lasse, argumentierte Heidegger. Aber damit wollte er nicht sagen, in welcher konkreten Form des »Gegeneinander im Miteinander« etwa politische Konflikte auszutragen sind. Und aus der unausweichlichen Machtdimension jeglicher Auseinandersetzung lässt sich gewiss nicht ohne weiteres ableiten, die Macht müsse selbst als das eigentlich Umkämpfte gelten, was letztlich darauf hinausliefe, jegliche Politik zum Machtkampf zu erklären, ohne dass man so einer Ohnmacht in und angesichts der Macht und einer Machtbesessenheit Rechnung tragen könnte, von der man sich nicht zuletzt politisch schließlich auch distanzieren kann. 65 Eine Sicherheit, die durch die traditionelle Unterscheidung von Volk und multitude seit Hobbes und B. de Spinoza (nicht erst seit M. Hart und A. Negri) schon im 17. Jahrhundert in Frage gestellt war; vgl. P. Virno, Grammatik der Multitude. Die Engel und der General Intellect, Wien 2014, S. 25 ff. Man muss sich darüber hinaus fragen, ob sie nicht implizit schon den aristotelischen Begriff des dêmos sowie die römischen Begriffe plebs und populus unterwandert. Vgl. J. Kastner, I. Lorey, G. Raunig, T. Waibel, Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien, Berlin 2012, S. 28, 31 ff. 64

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behaupten können. Menschlichem Leben kommt so gesehen nur die (je nach spezifischer Lage mehr oder weniger offenstehende und realisierbare) Möglichkeit zu, Andere in Anspruch zu nehmen. Doch der Erfolg ist niemals garantiert. Wir leben bzw. existieren als Subjekte von Inanspruchnahmen und als Adressaten von Ansprüchen Anderer, die in einem zwischen-menschlichen, responsiven Geschehen überhaupt erst eine Auseinandersetzung um die Frage eröffnen können, ob diese Ansprüche an Andere auch als Ansprüche auf etwas und schließlich als Anrechte zählen bzw. zählen sollten. Selbst wenn das festgestellt wurde, bleibt man als Subjekt solcher Anrechte lebenslang darauf angewiesen, sie wiederum in einem solchen Geschehen wirklich in Anspruch nehmen zu können. Insofern sind diese Anrechte auch als allgemein anerkannte niemals einfach ›vorhanden‹ in einem politischen Gemeinwesen (wie es sich Hegel vorgestellt hat, der ausdrücklich von im modernen Staat »vorhandener« Anerkennung sprach). Mit Recht, scheint mir, insistiert Rancière auf der existenziellen und okkasionellen Dimension dieses Geschehens der Inanspruchnahme, in dem sich jedes Mal neu entscheidet, ob wir politisch zählen (und wer ›wir‹ ist). Jedoch muss er zugeben, dass ein solches Geschehen nur von Subjekten der Inanspruchnahme ausgehen und nur an Subjekte des Inanspruchgenommenwerdens adressiert werden kann. Im doppelten Sinn ereignet sich in einem solchen Geschehen eine originäre, responsive Subjektivierung: derer, die Andere in Anspruch nehmen, und derer, die angesprochen werden. Ob dieses Geschehen die Form einer Unterwerfung annehmen muss, steht dahin. Subjektivierung als Ansprechender und als Adressat einerseits und die Form, in der diese konkret sich vollzieht, andererseits sind analytisch zu unterscheiden, auch wenn die Subjektivierung faktisch immer in einer bestimmten Form geschehen muss. Mit Recht betonen die Verteidiger dieses Begriffs das negative bzw. negativistische Moment der Wendung gegen Formen der Subjektivierung, die die betroffenen Subjekte als unannehmbare Einschränkung, Behinderung oder Unterdrückung (nicht nur ihrer selbst, sondern auch einer Vielzahl Anderer) empfinden. Vielfach sind es erst die Formen des Einspruchs gegen Lebensmöglichkeiten, die uns und Andere an den Rand der Lebbarkeit unseres und ihres Lebens bringen, wodurch wir uns wieder daran erinnern müssen, ob und wie wir Subjekte sein können – oder müssen, wenn die schiere, die minimale oder gute Lebbarkeit unseres Lebens und des Lebens Anderer auf dem Spiel steht. Dann 697 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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genügt es nicht, bloß weiterzuleben. Dann muss vielmehr das Leben selbst einem Prozess der Politisierung überantwortet werden, in dem sich entscheidet, ob (und wem gegenüber) man überhaupt Gehör findet, lange bevor über die Berechtigung gewisser Ansprüche auf ein lebbares Leben zu entscheiden sein wird. Bevor es zum Streit kommt, an dem Apologeten des Agonalen und des Antagonistischen derzeit so überaus viel liegt, weil sie nur noch in polemogenen Auseinandersetzungen eine gewisse Restvitalität des Politischen erkennen können, muss man überhaupt erst in Erscheinung treten können als Subjekt von Ansprüchen. Und dieses Inerscheinungtreten kann auf vielfältige Art und Weise verhindert, behindert oder ineffektiv gemacht werden: durch schlichtes Überhören Anderer, durch Weghören und Übertönen und schließlich auch durch eine Kakophonie, in der alles Mögliche zur Sprache kommt, so dass nichts Besonderes mehr auf spezielle Resonanz rechnen kann. In diesem Fall scheitert das Geschehen originärer Politisierung und der Subjektwerdung an einer Ökonomie der Aufmerksamkeit, die kaum zu verrechtlichen ist. 66 Worauf auch immer wir Anspruch erheben oder ›haben‹, Ansprüchen können wir nur zur Geltung verhelfen vermittels des Gehörs, das Andere uns schenken. Und darauf haben wir überhaupt kein Recht. Jedes Beklagen und Einklagen von (verletzten oder erst zu etablierenden) Ansprüchen setzt bereits voraus, dass man uns vor jeglichem Rechtgeben, Zu- und Anerkennen von Rechten zuhört. Ein mehr oder weniger unverhohlen juridistischer Diskurs, der unseren Subjektstatus allemal von einem bereits gegebenen und scheinbar jederzeit auch in Anspruch zu nehmenden Recht abhängig macht (sei es nun ein Menschen- oder ein Bürgerrecht), droht dieses jeglicher Inanspruchnahme zugrunde liegende Geschehen originärer Politisierung und Subjektivierung unkenntlich zu machen. 67 So kann Keineswegs kommt diese Ökonomie jedoch nur als restriktive in Betracht. Gerade ihre Entgrenzung im globalen Horizont eröffnet auch Aussichten auf transnationale Beachtung von Ansprüchen, die vor Ort kaum Gehör zu finden scheinen. Man denke nur an das fracking in den USA oder an die in Japan – ungeachtet der v. a. von den regional Betroffenen mit dem eigenen Leben zu bezahlenden nuklearen Katastrophe – weiter betriebene Atomkrafttechnologie. 67 Vgl. D. Loick, Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, Berlin 2017, wo es um eine Kritik der Rechtlichkeit des Rechts als solcher geht – mit Blick auf eine ethische Bestimmung guten Lebens. Wir alle seien »entsetzlich rechtschaffen«, heißt er hier, nämlich pathologisch an der Wahrnehmung, Wahrung und Durchsetzung unseres eigenen Rechts interessiert, auch um den Preis sozial desintegrativer Folgen. Aber diese Rechtschaffenheit betrifft nicht nur legale Rechte (die zu einem 66

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aus dem Blick geraten, wie sehr selbst in einem verlässlichen System von Rechten das konkrete Inerscheinungtreten Anderer als politischer Subjekte behindert und unterdrückt wird, die angeblich alle Rechte ›haben‹, sie aber nicht in Anspruch nehmen können, weil sie vermeintlich oder angeblich ›nichts zu sagen haben‹ in der doppelten Bedeutung dieses Ausdrucks. Gewiss muss für ein solches Inerscheinungtreten eine soziale Responsivität derer vorausgesetzt werden, die einander auf Erwiderung hin ansprechen und in Anspruch nehmen können. Aber diese Responsivität bedarf ihrerseits der politischen Subjektivierung unter konkreten Bedingungen des Sichäußern- und Gehörfindenkönnens. Andernfalls müsste sie politisch unsichtbar und unwirksam bleiben. Im Sinne eines wirklich lebbaren Lebens genügt es also nicht, ein responsives Subjekt zu sein, das Andere in Anspruch nehmen und sich in Anspruch nehmen lassen kann: Vielmehr muss beides auch gelingen können in konkreten und möglichst freimütigen Formen der Eröffnung einer dissensuellen Auseinandersetzung, die ihrerseits durch kein positives Recht verbürgt werden kann. 68 In einer solchen Auseinandersetzung zeigt sich, ob man die Legalismus verführen können, wie ihn Judith N. Shklar beschrieben hat), sondern auch eigene prä-normative und normative Ansprüche aller Art, sofern diese immerfort gegen Andere ›in Anschlag gebracht‹ werden – und zwar aus der Position eines vermeintlich autonomen Für-sich-seins heraus, das Anderen von sich aus überhaupt nichts schuldet. Eine diese Vorstellung zurückweisende Sozialphilosophie, die erklärtermaßen »von vornherein« normativistisch vorgeht (ebd., S. 11), könnte sich ebenfalls eines impliziten Juridismus schuldig machen. Wie tief der fragliche Juridismus reicht, kann erst deutlich werden, wenn man den Begriff des Subjekts radikal revidiert, indem man zeigt, wie dieses vermeintlich suisuffiziente Für-sich-sein in Wahrheit als immer schon responsiv in soziale Verhältnisse eingefügtes zu verstehen ist, die durch ›Antwort gebende‹ Inanspruchnahme Anderer und durch Andere anheben, nicht im Zuge der Durchsetzung eigener Ansprüche gegen sie. Am Ende streift der Autor solche Überlegungen, ohne aber an die entsprechende Literatur anzuschließen (S. 327). Ob nicht die hier unvermittelt auftauchende »Responsivität gegenüber der Alterität des Anderen« einerseits jeglichen Juridismus von vornherein unterläuft und sich andererseits jeglicher Inklusion in einer Ethik des Guten widersetzt, bleibt offen. 68 Dem gegenüber baut Le Blanc in L’invisibilité sociale, S. 48, auf eine Sichtbarmachung durch Anerkennung, die unveräußerliche Rechte verleihe. So bleibt aber der Widerfahrnischarakter des Anspruchs des Anderen, der gehört und gesehen zu werden begehrt, unterbelichtet. Im Übrigen ist dieser Anspruch in sich zwiespältig. Es gibt auch eine gnadenlose survisibilité, der manche den Rückzug in weitgehende soziale oder politische Unsichtbarkeit vorziehen (vgl. ebd., S. 60, 190). Gewährt letztere nicht auch Schutz – zumal angesichts von Maßstäben der Sichtbarkeit, die Andere daran messen, ob sie kreativ etwas hervorbringen, v. a. ein œuvre, auf dem Andere aufbauen können? In einer solchen Perspektive kann einer vie désœuvrée nur die

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Chance hat, politisch zu existieren, wenn es um die Lebbarkeit eines Lebens geht, das mit und unter Anderen niemand ganz aus eigener Kraft sicherzustellen vermag. Die überkommene Fixierung auf die Frage, ob wir (denkende, reflexive, theoretische) Subjekte sind, hat nicht nur übersehen lassen, was (unter spezifischen Umständen) jeweils davon abhängt, ob wir als praktische Subjekte im Verhältnis zu Anderen auch effektiv in Erscheinung treten können. 69 Sie hat in der Ausrichtung an Rechten, die vernünftigen Subjekten zustehen sollen, zudem übersehen lassen, ob diese Subjekte den ihnen attestierten Status auch wirklich einlösen können in konkreten Praktiken der Subjektivierung, in denen sie eine freie Auseinandersetzung um die Lebbarkeit ihres Lebens und des Lebens Anderer sollten eröffnen können. Infolgedessen droht eine juridistisch verengte Theorie des Subjekts unkenntlich werden zu lassen, was von einem buchstäblich durch nichts zu verbürgenden, jedes Mal wieder aufs Neue zu riskierenden Prozess der Subjektivierung abhängt: ob Andere überhaupt leben bzw. existieren als politische Subjekte. Dass es genau darauf ankommt, wenn die Lebbarkeit menschlichen Lebens auf dem Spiel steht, muss man auch dann zugeben, wenn man nicht davon überzeugt ist, wir müssten jederzeit und auf Gedeih und Verderb ein politisches Leben führen. Was unter dem Stichwort der Subjektivierung zur Diskussion steht, ist nicht eine gleichsam ›restlose‹ Politisierung menschlichen Lebens (die auf einen Alptraum hinauslaufen müsste), sondern die Frage, ob, unter welchen Umständen und in welchen konkreten Formen es auf eine politische Subjektwerdung angewiesen ist, wenn es darauf ankommt, privative Bedeutung eines quasi-néant (ebd., S. 6) zukommen: Es gilt als marginalisiert, diskreditiert, nicht einbezogen, nicht attestiert durch Andere, es zählt nicht, es findet keine Anerkennung usw. – im Gegensatz zu einem am espace public teilhabenden Leben, dem all das angeblich erspart bleibt. Dabei droht letzteres jeden, der öffentlich sichtbar wird und sich Gehör verschafft, um seine Alterität zu verkürzen, die Le Blanc letztlich der privativ aufgefassten sozialen Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit zuweist. Siehe oben, Anm. 1. So droht eine überpolitisierte Konzeption sozialen Lebens dieses gerade um seine irreduzible Alterität zu bringen, ohne die sich keine Sozialität vorstellen lässt. Vgl. in diesem Sinne auch die Übersicht bei O. Voirol, »Visibilité et invisibilité: une introduction«, in: Réseaux 129–130, Nr. 1 (2005), S. 9–36. 69 Und das steht niemals einer souveränen Macht zu Gebote, wie man es sich mit Blick auf den absoluten Herrscher einst vorgestellt hat, dem ebenfalls die Macht seiner souveränen Erscheinung eingeräumt wurde von denjenigen, die ihm angeblich nur unterworfen waren. Vgl. J. Starobinski, Das Leben der Augen, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984, S. 21.

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die Lebbarkeit des eigenen Lebens und des Lebens Anderer und Fremder anzumahnen oder zu verteidigen. 70 Die Frage, wo, unter welchen Umständen, wie und zu welchem Zweck dies unabdingbar und aussichtsreich ist, bedarf der Rückbesinnung auf den Sinn menschlicher, speziell politischer Subjektivierungspraktiken in zweifacher Bedeutung des Wortes ›Sinn‹ : In diesen Praktiken muss sich zeigen, wie Menschen im globalen Horizont Sinn für – d. h. Sensibilität angesichts von – Lebenslagen aufbringen 71, die zugleich das Problem aufwerfen, wozu man sich zu deren Verbesserung einsetzt. 72 So geht die politische Sensibilität des Sinns für Praktiken notwendiger Subjektivierung in die teleonome Frage über, welchen Sinn diese Praktiken ihrerseits haben, wenn sie sich nicht darin erschöpfen, politische Subjekte überhaupt – ggf. dank der advokatorischen Initiative Anderer – in Erscheinung treten zu lassen, In keiner Weise habe ich im Vorangegangenen vorausgesetzt, es müsse uns – womöglich aus ontologischen Gründen, etwa weil wir einer Foucault’schen Selbstsorge verhaftet sein müssten – vorrangig oder gar nur um unsere eigene Lebbarkeit gehen. Wessen Leben in diesem Sinne ›zählt‹ und wie sich unser (politisches) Leben auch dem Anspruch des Lebens Fremder – von den Protestierenden der arabellions über die Erschossenen des ukrainischen Majdan bis hin zu den anonymen Menschen, die ihre Flucht von Mexiko in die USA mit dem Leben bezahlt haben – öffnen kann bzw. wie es sich als von Anfang an politisch derart affizierbar erweist, ist nicht nur Gegenstand von J. Butlers Überlegungen zum precarious life, zur Kritik ethischer Gewalt und zu einer sog. politics of mourning, die diesseits und jenseits des Atlantiks bedacht worden ist. Vgl. die Sondernummer von Social Research 83, no. 2: Borders and the Politics of Mourning (2016). 71 Diagnosen (wie sie stellenweise bei Alain Ehrenberg, Luc Boltanski, Colin Crouch und Giorgio Agamben anzutreffen sind), die darauf hinauslaufen, eine weitgehende Erschöpfung dieser Sensibilität sei festzustellen und infolgedessen seien auch die Potenziale sensibler Formen der Subjektivierung kritisch einzuschätzen, schließe ich mich nicht an. Ob solche Eindrücke zu Recht bestehen, ist mangels einer adäquaten Methodik, die sie bestätigen könnte, kaum angemessen zu beurteilen. 72 Mit dieser Frage wird ein teleonomes Moment politischer Subjektivierung wenigstens tangiert. So radikal und unvorhersehbar jene Frage nach der Lebbarkeit auch im Einzelfall aufgeworfen werden mag, sie kann doch kaum umhin, mit bereits verbreiteten Vorstellungen nicht nur minimal lebbaren, sondern auch guten Lebens konfrontiert zu werden. Offenbar in der Sorge, allzu schnell wieder in eine teleologische, neoaristotelische Ethik eingemeindet zu werden, sind Apologeten des Dissenses, des agonalen und antagonistischen Konflikts jenem Moment bislang aus dem Weg gegangen. Das gilt auch für Rancière, der sich vorrangig am Anspruch auf Gleichheit orientiert, aber von gutem Zusammenleben in gerechten Institutionen weitgehend schweigt. Vgl. demgegenüber P. Ricœur, Le Juste I/II, Paris 2001, 2005. Dabei ist heute, zumal im globalen Maßstab, das negative Kriterium der Verhütung wenigstens des Schlimmsten für immer größere Zahlen von Betroffenen kaum mehr zu ignorieren. 70

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sondern sichtbar machen, worauf sie Anspruch erheben, womöglich mit Recht und in unbedingter Art und Weise, die keinen Aufschub gestattet. * Wir (Menschen) seien Subjekte geworden, behauptete Hegel mit Blick auf Sokrates und die Stoiker. Sie hätten den Weg eines entsprechenden Selbstverständnisses eröffnet. Wie, das versuchte Hegel in einer den Subjektbegriff grundlegend transformierenden Art und Weise nachträglich zu zeigen, so dass es für moderne Autoren den Anschein haben konnte, wir seien für sich existierende, aus sich heraus lebende und denkende, selbstbewusste und freie Wesen – und nichts ›Substanzielles‹ von quasi-dinglicher Beständigkeit. Wo menschliche Subjektivität als ›gewordene‹ und (immer neu) aus Subjektivierungsprozessen hervorgehende verstanden wird, wird dieses nicht-substanzielle Verständnis von Subjektivität vertieft, indem man auf vielfältige, aufeinander aufbauende, aber auch einander zuwiderlaufende, ambivalente, prekäre und reversible Subjektivierungsformen aufmerksam macht, die zeigen, wie sehr unser Subjektsein von kontingenten und situativen Formen der Inanspruchnahme und des Inanspruchgenommenwerdens abhängt. Theorien politischer Subjektivierung machen das ganz deutlich. Selbst dort, wo unsere rechtliche Subjektivität anerkannt und »vorhanden« zu sein scheint, wie man es im Anschluss an Hegel annimmt, steht unsere politische Existenz weiterhin auf dem Spiel, die aus einem Bürger-Status allein keineswegs folgt. Diese Existenz muss sich vielmehr in tatsächlicher Einbeziehung in dissensuelle Formen der Auseinandersetzung bewähren, in denen es nicht zuletzt auch darum geht, als wer wir uns verstehen wollen. Das wird am konkretesten überall dort sichtbar, wo bekundet wird, wie man sich nicht verstehen will – indem man etwa gegen die Negativität einer Herrschaft des Ökonomischen Einspruch erhebt, der sich manche Subjektivierungstheoretiker eilfertig anzudienen scheinen, indem sie jedermann einreden wollen, wir seien dieser Herrschaft objektiv unterworfene Subjekte. Zum Subjekt-sein gehörte jedoch schon immer, sich unter endlichen, a tergo bereits wirksamen Bedingungen des Subjektiviertseins zu diesen verhalten zu können – nicht unbedingt reflexiv und im Ganzen, sozusagen auf einen Schlag, aber doch so, dass eine Arbeit an veränderten Subjekti702 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Perspektiven einer politisierenden Subjektivierung

vierungsformen möglich erscheint – vor allem in der Auseinandersetzung mit Anderen, die das gleiche Interesse umtreibt –, wenn auch vorläufig nur negativ in der bestimmten Überzeugung, so (ausgebeutet, gedemütigt, marginalisiert oder verschuldet, d. h. ökonomisch unterworfen) nicht länger ›Subjekt‹ sein zu wollen oder zu müssen. Sei es auch nur, um sich nicht selbst verachten zu müssen als ein verkommenes Subjekt, das nicht einmal mehr weiß, was es heißt, sich um ein nicht zuletzt auch für Andere lebbares Leben zu sorgen.

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Kapitel XIX Perspektivität, Pluralität, geteilte Welt: Ästhetik, Politik und menschliche Sensibilisierbarkeit Dire ce qui est, donner à voir le monde dans la forme de réalité à laquelle il est tenu de se plier […], c’était […] le rendre inacceptable. Non bien sûr dans l’intention de rendre le monde inviable, mais, au contraire, pour, en contribuant à libérer des possibles latéraux qu’il enferme, rendre enfin envisageable sa manifestation. Luc Boltanski 1

So sehr die Welt im Zeichen der sogenannten Globalisierung nunmehr endgültig dahin tendieren mag, sich als eine einzige, alle Menschen betreffende und umfassende zu erweisen, 2 so klar war doch schon für viele Theoretiker der Neuzeit, dass es so etwas wie ›Welt‹ für uns nur in perspektivischer Wahrnehmung und in pluralen Perspektiven geben kann. In der Welt und ›zur Welt‹ sein können endliche Wesen nur im Modus von ›geteilten‹ Weltbezügen. Heißt das aber, dass die Welt selbst (im doppelten Sinne) derart ›geteilt‹ wird, dass man sich ihre Einheit als von einer unaufhebbaren Pluralität unterwandert vorstellen muss? Die Philosophie Jacques Rancières hat diese schon in der Antike latent virulente Frage nicht in kosmologischer oder kosmopolitischer bzw. welt-gesellschaftlicher Hinsicht, sondern ästhetisch-politisch neu aufgeworfen. Wie, das zeigen die folgenden Überlegungen (1.) ausgehend vom erst in der Neuzeit eingeschlagenen Weg von einem kompossibel vorgestellten Universum zur unaufhebbaren Pluralität einer politischen Welt, die Rancière (2.) als radikal durch Subjekte ›aufgeteilt‹ beschreibt, welche sich un-

L. Boltanski, Rendre la réalité inacceptable. À propos de »La production de l’idéologie dominante«, Paris 2008, S. 178. 2 R. Meyer (Hg.), Eine Welt oder Chaos?, Frankfurt/M. 1996; U. Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt/M. 1997; M. Albrow, Das Globale Zeitalter, Frankfurt/M. 2007; J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 52010. 1

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Das Sinnliche in seiner perspektivischen Gegebenheit

vermeidlich in immer neuen Dissens verstricken, der mit einer Aufteilung des sinnlich Gegebenen (partage du sensible) einhergehe. Wie dabei die Existenz eines jeden auf dem Spiel steht, soll (3.) durch zwei »Sensorien« deutlich werden: durch dafür eigens sensibilisierende Kunst und Politik, die Rancière miteinander verschränkt denkt, ohne noch auf den Spuren des klassischen Idealismus Versöhnung oder mit den Vertretern einer Negativen Dialektik deren Unmöglichkeit bzw. Verweigerung im Sinn zu haben. Das in ästhetisch-politischer Hinsicht kritische Potenzial für eine zeitgemäße Theoretisierung menschlicher Sensibilität, das Rancières Ansatz unabhängig von dieser Alternative möglicherweise innewohnt, ist Gegenstand abschließender Überlegungen (4.).

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Das Sinnliche in seiner perspektivischen Gegebenheit: Vom kompossiblen Universum zur unaufhebbaren Pluralität einer politischen Welt

Endliche Wesen sind unumgänglich darauf angewiesen, dass sich ihnen etwas als zu Erfahrendes und insofern Gegebenes zeigt. Dafür stehen seit langem Begriffe wie aísthēsis, aber auch páthos, passio, affectio, affectus, sensation, sensibilité, Passibilität, Empfänglichkeit und Sinnlichkeit, die in der Passivität des Gegebenwerdens all dessen ihren gemeinsamen Nenner haben, was sich uns zunächst als Erfahrbares darbietet, bevor wir es aus eigener Kraft reproduzieren, repräsentieren, imaginativ variieren, umfingieren, umdeuten und ggf. neu konstruieren oder anders aktiv beeinflussen können. Alle diese Formen menschlicher Aktivität ruhen auf einer vorgängigen Passivität des Gegebenseins von etwas auf, das sich uns zunächst zeigen muss. Kant spricht in diesem Zusammenhang von »Erscheinung (phaenomenon)«. 3 Wo sich nichts zeigt, gibt es auch nichts zu verstehen, zu denken, zu konstruieren oder zu erfinden. Was auch immer man sich auf der Basis von erfahrungsmäßig Gegebenem fiktiv ausdenken oder imaginativ ausmalen mag, zunächst sind wir darauf angewiesen, dass uns etwas gegeben ist, das wir nicht uns selbst, sondern Anderem und Anderen verdanken. Darin lag für Kant die Endlichkeit menschlichen Seins: es ist elementar darauf angewiesen, dass sich ihm zunächst 3 I. Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 395–690, hier: §§ 7, 13.

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etwas im Modus des Erscheinens zeigt und insofern gegeben wird. 4 Diese Einsicht hat nach wie vor Bestand – so sehr die nähere Bestimmung der Phänomenalität dessen, was und wie etwas derart ›gegeben‹ sein soll, von Immanuel Kant und Georg W. F. Hegel über Edmund Husserl und Martin Heidegger bis hin zu Emmanuel Levinas, JeanFrançois Lyotard und Jean-Luc Marion bis heute umstritten bleibt. 5 Was sich zeigt, zeigt sich jemandem, nach dem wir mit der Frage Wer? fragen können. Und Antworten auf dieses Wer-Fragen verstehen wir heute als Bestimmungen des Selbst, dem sich etwas zeigt, darstellt oder offenbart. Zwar kennt schon Aristoteles den Begriff des Selbst (wenn er den Freund als állos autós charakterisiert 6), doch entfaltet er die Relation von Gegebenem, das sich zeigt, einerseits und jemandem, dem es sich zeigt, andererseits nicht systematisch. Dazu setzt erst die neuzeitliche, von der Kunst der Renaissance (Leon Battista Alberti, Albrecht Dürer, Leonardo da Vinci et al.) angeregte Perspektivitätslehre 7 an, wo sie von Gottfried W. Leibniz’ Monadologie über Johann M. Chladenius’ Historik 8 bis hin zu Kants Theorie des »Privatsinns« und des »Pluralism« (d. h. »der Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten« 9) die am Paradigma geometrischer Sichtverhältnisse ausgebildete Rede von »Sehepunkten«, »Standpunkten« und »Perspektiven« vom Register der Wahrnehmung aus auf die ästhetischen, moralischen und logischen Register des Denkens überträgt 10; und zwar so, dass sich all das, was sich in diesen Hinsichten zunächst verschiedenen Subjekten unterschiedlich darstellt, vermittels der Urteilskraft als kompossibel begreifen lässt. 4 Vgl. P. Ricœur, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, Freiburg i. Br., München 21989, S. 36 ff. 5 Man vergleiche nur E. Levinas, »Über die ›Ideen‹ von E. Husserl«, in: ders., Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 37–78; J.-F. Lyotard, Das Inhumane, Wien 32006, S. 129 ff.; J.-L. Marion, Étant donné, Paris 2 1998, sowie Hinweise im Exkurs zu Kap. VII. 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1166 ff., 1169 b 7. 7 B. Schweitzer, Vom Sinn der Perspektive, Tübingen 1953; G. Boehm, Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 1969. 8 J. H. Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft [1752], Wien, Köln, Graz 1989. 9 Kant, »Anthropologie«, S. 411; ders., Kritik der Urteilskraft, § 40, Werkausgabe Bd. X, S. 227. 10 Vgl. K. Röttgers, »Der Standpunkt und die Gesichtspunkte«, in: Archiv für Begriffsgeschichte XXXVII (1994), S. 257–283.

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Das Vor-Bild dazu lieferte Leibniz’ Modell einer in mannigfaltigen perspektivischen Ansichten zu durchlaufenden Stadt, die sich zu einem Gesamtbild sollten zusammenfügen können. 11 Allerdings ist es fraglich, ob das Gleiche auch für Gedachtes und Beurteiltes gelten kann. 12 Ungeachtet dessen verführen noch heute Worte wie »Sichtweisen« und »Ansichten«, die sich auf perzeptive Perspektiven scheinbar genauso beziehen können wie auf kognitive Standpunkte 13, dazu, in beiden Fällen eine durchgängige Kompossibilität zu unterstellen. Lassen sich plurale perzeptive und (analog vorgestellte) kognitive Perspektiven wirklich stets zu einem Gesamtbild zusammenfügen, auch wenn sich das Sichtbare bzw. das Denkbare wie im Fall einer Stadt nur in perspektivischer Brechung darstellt? 14 Vor allem Maurice Merleau-Ponty wird das in seiner am Leitfaden der Malerei entfalteten phänomenologischen Ontologie bestreiten. Für ihn wird »das Sein, durch den Eigenanspruch einer jeden Perspektive und aufgrund des ausschließlichen Gesichtspunktes, durch den es jeweils definiert ist, zu einem System mit mehreren Eingängen«, das »somit nicht von außen und in der Simultaneität« zu betrachten sei, sondern »wirklich durchschritten werden« müsse. 15 So erschöpft sich die fragliche Perspektivität nicht länger in einer vielfältigen Erfahrbarkeit des Selben bzw. eines einheitlichen Seins; vielmehr teilt sie dieses selbst auf und zwingt dazu, einer unaufhebbaren Pluralität heterogener Perspektiven Rechnung zu tragen. Wo Leibniz wie auch die Perspektivitätstheoretiker der Frühen Neuzeit einer perzeptiven »Aufteilung des Sinnlichen« auf der Spur waren – um einen von Rancière häufig gebrauchten Ausdruck aufzugreifen –, zweifelten sie dagegen nicht an der Ganzheit, Einheit und Selbigkeit dessen, was sich in unterschiedlichen Sichtweisen jeweils ›anders‹ G. W. Leibniz, Monadologie, § 57; Theodizee, § 147; Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Bd. II, Hamburg 31966, S. 62. 12 Ricœur etwa besteht auf dem a-perspektivischen Charakter eines universalen Denkens (Die Fehlbarkeit des Menschen, S. 50 f.). 13 A. Koschorke, Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt/M. 1990. 14 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, S. 616 f. (= B 686). 15 M. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 123. Zu besonders von Merleau-Ponty her entwickelten Argumenten für eine unaufhebbare Inkompossibilität der Erfahrung vgl. B. Waldenfels, »Das Zerspringen des Seins. Ontologische Auslegung der Erfahrung am Leitfaden der Malerei«, in: A. Métraux, B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, S. 144–161. 11

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darstellt. Ähnlich stellte sich Chladenius historische Perspektiven als kompossibel vor. Und Kant schließlich ließ die perspektivische Vielfalt unterschiedlicher kognitiver »Standpunkte« in der Einheit eines universalen Kosmopolitismus aufgehen, der von keiner unaufhebbaren Pluralität beunruhigt schien. Dabei ist es im Wesentlichen auch bei jenen Theoretikern des Konsenses geblieben, die bis heute darauf bauen, dass sich zumindest das politisch Strittige 16 in kognitiver Übereinstimmung aufheben lässt, die nur dadurch zu gewinnen sein soll, dass man sich in die »Perspektive« Anderer »hineinversetzt« und sie »übernimmt« 17, um die Dinge »mit ihren Augen« zu sehen und sie auf diese Weise zu verstehen. In sozial-kognitiver Wechsel- und Gegenseitigkeit von Perspektiven 18 soll es infolgedessen zu einer Aufhebung jeglicher prima facie unüberwindlichen praktischen Gegensätzlichkeit kommen können. So lassen selbst auf den ersten Blick unüberbrückbare Differenzen darauf hoffen, dass man sich nicht mit einer unüberwindlichen Trennung oder Teilung politischer Verhältnisse abfinden muss. Für Rancière kommt dagegen genau darin eine Depolitisierung politischen Denkens zum Ausdruck, die schließlich zu einem Verschwinden des Politischen gerade dort geführt habe, wo man ständig Aufheben von ihm macht. 19 Die für ihn zentrale Frage, ob es eine Philosophie, die das Politische wirklich zur Sprache bringt, überhaupt (noch) gibt, steht und fällt demnach mit der Art und Weise, in der Zumindest soweit es um verallgemeinerungsfähige Fragen der Gerechtigkeit geht, muss man einschränkend sagen. Keineswegs behaupten die hier gemeinten Konsenstheoretiker, dass alle politisch strittigen Fragen in Übereinstimmung zu überführen sind. V. a. für die sog. »Fragen guten Lebens«, die nur evaluative Antworten zulassen, soll das nicht gelten. 17 So ist in den entsprechenden psychologischen Theorien, auf die auch Habermas sich stützt, in gewisser Anlehnung an G. H. Meads Rede von einem role-taking von »Perspektivenübernahme« die Rede; R. L. Selman, The Growth of Interpersonal Understanding. Developmental and Clinical Analyses, New York 1980; D. Geulen (Hg.), Perspektivenübernahme und soziales Handeln, Frankfurt/M. 1982; W. Edelstein, J. Habermas (Hg.), Soziale Interaktion und soziales Verstehen. Beiträge zur Entwicklung der Interaktionskompetenz, Frankfurt/M. 1984. Querbindungen dieses inzwischen verblassten Diskussionskontextes zur Sozialontologie sind nur spärlich festzustellen. 18 J. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, Kap. 4. 19 J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 112 (= DU); ders., »Gibt es eine politische Philosophie?«, in: R. Riha (Hg.), Politik der Wahrheit, Wien 1997, S. 64–93. 16

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man von ihm handelt. Kurz gesagt: entweder man trägt unüberwindlicher Trennung und Teilung Rechnung – oder aber vom Politischen kann in Wahrheit gar nicht die Rede sein. 20 Was man so nennt, steht dann tatsächlich für ein (vielfach diagnostiziertes und beklagtes) »Verschwinden« des Politischen, das sich für Rancière nicht ohne eine unaufhebbare Teilung (partage) denken lässt, die nicht etwa nur das Sichtbare, sondern darüber hinaus die Existenz derer rückhaltlos erfasst, die sich als auf ein politisches Leben mit und unter Anderen angewiesen erfahren. Indem Rancière den Gründen dafür nachgeht, löst er sich von modernen Perspektivitätskonzeptionen und radikalisiert den Gedanken der Pluralität. Diese erweist sich für ihn nicht nur als in politischer Hinsicht unaufhebbar; vielmehr rekonstruiert er sie als Erfahrung einer dramatischen politischen Teilung, bei der das (politische) Leben und der (politische) Tod der Beteiligten auf dem Spiel steht. So geht es in der fraglichen Teilung nicht bloß um perspektivische und insofern ›einseitige‹ Zugänge zur Welt (so wie sie uns erscheinungsmäßig gegeben ist), sondern darüber hinaus um die politische Existenz; und die ist durch keine Form ihrer rechtlichen Anerkennung und Würdigung endgültig zu sichern. Selbst in einem demokratischen Rechtsstaat, der sich ausdrücklich der Achtung der Unverletzlichkeit des Lebens und der Würde eines jeden verpflichtet, bleibt die politische Existenz unweigerlich eine prekäre, niemals endgültig zu gewährleistende. Und zwar deshalb, weil sie entscheidend davon abhängt, dass man tatsächlich gesehen, wahrgenommen, gehört und beachtet wird. Wo es daran fehlt, droht ein politischer Tod, gegen den mit Rechten allein nichts auszurichten ist.

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Was heißt »Aufteilung des Sinnlichen« bei Jacques Rancière?

Um was für eine Trennung oder Teilung aber handelt es sich? Was wird hier getrennt oder erweist sich von sich aus als geteilt; und zwar so, dass keinerlei Aussicht darauf besteht, das Getrennte bzw. Geteilte Vom Begriff des Widerstreits (différend) her hat Nicole Loraux ganz ähnlich die Politische Philosophie der Antike rekonstruiert; vgl. N. Loraux, »Das Band der Teilung«, in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 31–64; auch Chantal Mouffe zieht ähnliche Konsequenzen für die Politische Theorie der Gegenwart in: Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014.

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wieder zusammenzufügen, zu integrieren oder zu versöhnen? Rancières Antwort, mit der er immer wieder aufwartet, lautet verblüffend einfach: das Sinnliche wird aufgetrennt bzw. geteilt. Le partage du sensible heißt schließlich ein einschlägiger Band dieses Autors, auf den in der aktuellen Diskussion häufig Bezug genommen wird. 21 Diese Formel steht offenbar für eine politisch höchst bedeutsame Teilung, die sich keineswegs in einer harmlosen Pluralität von perzeptiven und kognitiven Perspektiven erschöpft, welche sich in einem universalen »Geometral« 22 bzw. in einem analog konzipierten universalen Denken aufheben lassen könnten. Rancière bestreitet nicht nur eine derartige Aufhebbarkeit des perspektivisch Gegebenen, um insofern auf der Irreduzibilität der Pluralität heterogener Perspektiven zu insistieren, wie es auch andere getan haben 23; vielmehr macht er darauf aufmerksam, wie tief die fragliche Teilung in die Seinsweisen derer einschneidet, die sich durch diese Teilung als vom politischen Leben abgetrennt erfahren – und zwar u. U. so weitgehend, dass sie sich infolge dessen mit einer Frage von Leben oder Tod konfrontiert sehen. So betrifft die fragliche Teilung nicht etwa nur perspektivisch Gegebenes, sondern die leibhaftige Existenz der Subjekte perspektivischer Erfahrung selbst. Wenn diese sich ihrerseits nicht wahrgenommen wissen, müssen sie fürchten, in den Augen Anderer überJ. Rancière, Le Partage du sensible – esthétique et politique, Paris 2000; dt. Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 22008 (= AS). Le sensible wurde mit »das Sinnliche« übersetzt; gemeint ist aber das »politisch Sensible«, d. h. das, worauf es politisch ankommt. Und das ist das zunächst sinnlich, in den Erfahrungsmodi des Hörens und Sehens sich darstellende Verlangen, als politisch existentes Wesen ›gesehen‹ und nicht nur wahrgenommen, sondern auch anerkannt zu werden. Die fragliche Teilung unterminiert genau das und spaltet auf diese Weise die ›Welten‹ der Anteilslosen und der Anderen, die ihre politische Existenz gar nicht in Frage gestellt sehen. 22 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 91 ff.; ders., Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S. 13–44; P. Veyne, Geschichtsschreibung – und was sie nicht ist, Frankfurt/M. 1990, bes. Kap. 3, wo ebenfalls Leibniz’ Idee eines »Geometrals« aller möglichen Perspektiven zur Sprache kommt, gegen die sich schon Merleau-Ponty gewandt hatte – mit dem Argument, das erfahrungsmäßig Gegebene sei gebunden an eine leibhaftige Perspektive, an ein Zur-Welt-sein, das streng genommen niemals durch ein ›Sich-Versetzen‹ in die Perspektive Anderer zu ›übernehmen‹ ist. Wir können genau genommen gar nichts mit den Augen des Anderen selbst sehen. D. h. nicht, dass wir eingeschlossen bleiben müssten in unsere ›Sichtweisen‹, wohl aber, dass hier ein Moment der Nicht-Substituierbarkeit im Spiel ist, auf das später E. Levinas ethisch größtes Gewicht gelegt hat. 23 Man denke nur an Hannah Arendt. 21

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haupt nicht mehr zu existieren bzw. zu ›zählen‹. Wenn die Teilung des Sinnlichen das zur Folge hat, droht die politische Welt, der man so oder so – als Integrierter oder als Außenseiter, als Bürger oder als Flüchtling, als Angesehener oder als Verachteter – zugehört, zu zerbrechen. Auf dem Spiel steht demnach, was wir provisorisch die politische Koexistenz nennen können. Damit ist weder ein einfaches Nebeneinanderleben noch gar eine Art politischer Gemeinschaft in der Form eines Mit- oder Zusammenseins, sondern gerade die Art und Weise gemeint, in einem genuin politischen Verhältnis zu stehen, bei dem zugleich auf dem Spiel steht, ob man überhaupt politisch ›zählt‹ und insofern auch existiert. Im Gegensatz zu als »polizeilich« eingestuften, weitgehend normalisierten politischen Ordnungen, die diese Frage nicht aufwerfen, kommt das genuin Politische für Rancière nur dort zum Vorschein, wo nicht klar ist, ob man im Modus der Teilnahme und der Teilhabe zum politischen Leben mit und unter Anderen dazugehört. Gerade im Fall derjenigen, die scheinbar nicht dazugehören, weil sie nicht gesehen, nicht gehört, nicht beachtet, nicht berücksichtigt und nicht anerkannt werden, ist das fraglich. Im Gegensatz zu normativistischen Theoretikern der Anerkennung etwa, die hier sogleich Verletzungen von berechtigten Ansprüchen zu erkennen meinen 24, handelt es sich für Rancière – und das ist zweifellos eines der innovativsten Momente seiner politischen Ästhetik – zunächst um ein nicht normativ regulierbares, prä-normatives Problem des Sichdarstellens Anderer als Anderer, die ›zählen‹ oder eben nicht ›zählen‹. Um überhaupt in Streit, Diskussionen und Verhandlungen mit Anderen über gewisse Ansprüche eintreten zu können, müssen wir in ihren Augen wenigstens da sein und existieren als ernst zu nehmende politische Subjekte, die nicht nur ihre Stimme erheben (was wir nach alter, aristotelischer Auffassung mit den Tieren gemeinsam haben), sondern etwas vorbringen und an Andere adressieren können, was diese angeht, sie in Anspruch nimmt und zur Erwiderung veranlasst, weil es ›zählt‹. Wer in diesem Sinne nicht ›zählt‹, mag a-politischen Lärm machen, findet oder verdient aber in den Augen Anderer (vorausgesetzt, er oder sie existiert für diese überhaupt) keine Beachtung. Entweder diejenigen, die nicht ›zählen‹, sind wie nicht vorhanden, oder aber Vgl. zur Übersicht A. Callié, C. Lazzeri (Hg.), La reconnaissance aujourd’hui, Paris 2009.

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ihre schiere Existenz wird durchaus wahrgenommen, aber nicht ernst genommen. Die Folge ist so oder so, dass sie ihrer politischen Sprachlichkeit beraubt werden 25 und als politische Subjekte wie tot sind. Sie sind áneou lógou, sprachlos und mundtot im politischen Sinn dieser Attribute. 26 Infolgedessen können sie nicht »am Gemeinsamen teilhaben« (AS, S. 26) oder neue Gemeinsamkeit stiften. Die einzige Form ihrer Teilnahme und -habe ist dann das Ausgeschlossensein oder die Anteilslosigkeit. Damit ist nicht gemeint, keinen gerechten Anteil zu haben, sondern nicht einmal im Sinne des Gerechten buchstäblich ›in Betracht‹ zu kommen, also nicht einmal einen Zugang zu politischer Sichtbarkeit zu haben, die schon gegeben sein muss, wenn ein Streit um gerechte Anteile überhaupt möglich sein soll – Sichtbarkeit hier im weiten Sinne verstanden, den auch Hannah Arendt in diesem Zusammenhang nahelegt, wo sie vom In-Erscheinung-treten Anderer schreibt. 27 Letzteres zeigt sich in politischer Hinsicht selbstverständlich nicht bloß darin, dass man gesehen oder anders wahrgenommen werden kann, sondern darüber hinaus darin, dass man seine Stimme erheben und Gehör finden kann, um etwas zu bewirken. So treffen im In-Erscheinung-treten, das in einem weiten Sinne politische Sichtbarkeit verbürgen soll, das Sehen bzw. das Wahrgenommenwerden, das Sagen bzw. das Gehörtwerden und das Tun bzw. das Einwirkenkönnen auf Andere zusammen. Es geht stets zugleich um Weisen des Seins, des Sagens und des Handelns (DU, S. 41). Allerdings suggeriert Rancières häufige Rede von einem »Anteil der Anteilslosen«, der gerade darin liegen soll, gar keinen Anteil zu haben und insofern vom politischen Leben ausgeschlossen zu sein, eine fragwürdige Einheitlichkeit dieses Phänomens, obgleich sich an dieser Stelle auf Anhieb vielfältige Differenzierungen denken lassen. So kann man gänzlich ignoriert oder sehr wohl wahrgenommen, zugleich aber vergleichgültigt werden; und wer wenigstens so, als Vergleichgültigter, für Andere existiert, kann gehört, aber überhört werden; und wer nicht überhört wird, dem braucht noch lange nicht Hier wird klar, dass es sich beim fraglichen Sichdarstellen Anderer als Anderer, die zählen oder nicht zählen, für Rancière immer um ein praktisches Verhalten handelt, das sie sehen lässt oder nicht sehen lässt (J. Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 22 f. [= EZ]). 26 H. Arendt, Was ist Politik?, München, Zürich 2003, S. 40; dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, S. 30. 27 Arendt, Vita activa, S. 202 ff. 25

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wirklich Gehör geschenkt zu werden; und wem man Gehör schenkt, dem braucht man noch lange nicht zuzustimmen, um ggf. berechtigte Ansprüche als solche anzuerkennen, usw. Dagegen operiert Rancière häufig mit dichotomischen Aufteilungen (!), so dass Anteilslose und diejenigen, die ungeschmälerten Anteil haben, einander gegenüberstehen wie Lärm und Rede, politische Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, Beraubung jeglicher Gemeinsamkeit mit Anderen einerseits und eine Art der Gemeinschaftlichkeit andererseits, die »polizeilich« geregelt werden kann. In diesem Falle besetzt letztere den Ort der Politik im üblichen Verständnis des Wortes, während das Politische nur von außen, von Nicht-Orten all jener her scheint zur Geltung kommen zu können, die gar nicht gesehen und nicht gehört werden, die weder etwas zu sagen haben noch etwas bewirken können, so dass sie mit Anderen nur in der Weise koexistieren, dass sie für diese praktisch bzw. politisch nicht existieren. Das nicht zu sehen, wirft Rancière einem politischen Konsensdenken vor, das in diesem Zusammenhang lediglich zwischen Beteiligten und Betroffenen unterscheidet und verlangt, dass übereinstimmende Urteile, zu denen man in der Auseinandersetzung um strittige Sachverhalte gelangt, auch all jenen gerecht werden sollten, die an diesen Auseinandersetzungen nicht direkt beteiligt sind. 28 Diese Unterscheidung verfehlt aber die Dimension politischer Unsichtbarkeit, um die es Rancière primär geht und von der er glaubt, dass sie sich in überhaupt keinem noch so inklusiven politischen System aufheben lässt. Immer und unvermeidlich wird es so gesehen einige oder viele geben, die nicht ›zählen‹ und nicht einmal gesehen werden – und zwar selbst dann, wenn man ihnen alle Menschen- oder Bürgerrechte zuerkannt hat. Ungeachtet dessen kann man, ob als benachteiligtes Kind, als von jeglicher Teilhabe ausgeschlossener Erwachsener oder als im Alter Vergessene, einer Unsichtbarkeit verfallen, in der die politische Existenz auf dem Spiel steht – jenseits einer Grenze, wo man nicht einmal mehr das In-der-Welt-sein mit Anderen (politisch) teilt. Wie auch Arendt geht es Rancière darum, zu bedenken, wie eine ggf. mehrfach geteilte politische Welt möglich ist 29 und wie es vorVgl. die Zusammenfassung bei T. McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse, Frankfurt/M. 1980. 29 J. Rancière, »Should Democracy Come? Ethics and Politics in Derrida«, in: P. Cheah, S. Guerlac (Hg.), Derrida and the time of the political, Durham, London 2009, S. 274–288, hier: S. 278. In Das Unvernehmen geht es um eine »Vervielfältigung strittiger Welten« (S. 70). 28

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zustellen ist, dass man aus einer solchen Welt derart herausfallen kann, dass man nur noch als derart Anteilsloser zum Leben Anderer dazugehört. 30 Die Rede von diesem fraglichen Anteil bezieht sich hier nicht auf Probleme distributiver Fairness etwa, sondern auf die Teilhabe an einer im skizzierten, doppelten Sinne geteilten Welt, die ohne (politische) Sichtbarkeit nicht möglich ist. Damit ist allerdings nur eine Minimalbedingung dafür genannt, politisch zu existieren – ggf. sogar ungeachtet größter Ungerechtigkeit. Immerhin können diejenigen, die in den Augen Anderer politisch existieren, um Gerechtigkeit mit ihnen streiten, während die Anteilslosen das nicht können, weil sie ja in gewisser Weise (politisch) überhaupt nicht ›da‹ zu sein scheinen. Haben sie so tatsächlich Anteil an nichts? Ist der Ausdruck »Anteilslosigkeit« streng genommen genau so zu verstehen – und zwar rein deskriptiv? Sicherlich nicht. Rancière macht sich erklärtermaßen einen »polemischen« Begriff vom Gegebenen 31 wie auch von der Aufteilung des sinnlich Gegebenen selbst, die er keineswegs nur wie ein Phänomenologe deskriptiv expliziert, sondern in seiner spezifischen theoretischen Optik existenziell verschärft. 32 In einem schlichten Sinne ›gegeben‹ ist gewiss niemals, dass man in strenger, radikaler Bedeutung ›an nichts‹ Anteil hat. Selbst diejenigen, die nirgends Gehör finden, haben im allgemeinen doch immerhin Anteil am RedenKönnen 33; und genau das wird virulent, wenn das (politisch) Gegebene, in dem man sich an gewisse Grenzen politischer Wahrnehmung gewöhnt haben mag, destabilisiert wird, so dass unvermutet einige oder viele, die bislang nicht zählten, als Subjekte politischer Ansprüche auftreten. Wenn Anteilslosigkeit statuiert wird, handelt es sich um eine polemogene Zuspitzung einer existenziell tatsächlich bedrohlichen Lage aufgrund der Wahrnehmung, praktisch nicht Gehör zu finden J. Rancière, Zehn Thesen zur Politik, Zürich, Berlin 2008, S. 31 (= ZT); DU, S. 38. J. Rancière, Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008, S. 89 (= KW). 32 Hier gilt, was auch C. Schmitt von seinen politischen Grundbegriffen gesagt hatte: sie sind selbst politische Begriffe, die nicht nur politische Wirklichkeit beschreiben, sondern polemogen in sie eingreifen sollen. 33 Allerdings ist dieses ›Können‹ genauer zu bedenken. Es geht hier nicht um eine abstrakte Kompetenz (die tatsächlich sehr weitgehend beeinträchtigt sein kann), sondern um die tatsächliche und effektive Möglichkeit, die (eigene) Stimme zu erheben. Und diese Möglichkeit besteht keineswegs allein dadurch, dass man über eine eigene Stimme verfügt. 30 31

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und mit seiner Stimme überhaupt nicht zu zählen (als existent, als beachtens- und anerkennenswert, als relevant, usw.). Genau so verhält es sich auch mit der Rede von einer »Aufteilung des Sinnlichen«. Gewiss fungiert sie in Rancières Politischer Philosophie nicht in primär deskriptiver Art und Weise. Vielmehr affirmiert sie polemisch die Erfahrung der Anteilslosigkeit derer, die sich in den Augen Anderer nicht einmal als Subjekte wahrgenommen wissen, die zählen und im Geringsten in Betracht kommen sollten. Die Aufteilung des Sinnlichen oder des politisch Wahrzunehmenden (wie ich im Folgenden zu sagen vorziehen werde) fungiert demnach so, als würden die Anteilslosen überhaupt nicht (politisch) existieren – was aber, in ihren Augen zumindest, doch der Fall ist; und zwar derart, dass sie im Prinzip jederzeit ihre Abtrennung vom politischen Leben unterminieren können. Das gelingt schon dann, wenn auch nur einer (wie Menenius in der von Pierre-Simon Ballanche reinterpretierten Fabel des Titus Livius 34) denen zuhört, die angeblich ›nichts zu sagen haben‹. Keineswegs sind diejenigen, die scheinbar nichts zu sagen haben, ohne Wenn und Aber politisch tot. Vielmehr können sie grundsätzlich jederzeit gewissermaßen wiederauferstehen und auf diese Weise all diejenigen verschrecken, die sich bereits unter ihresgleichen, den politisch Existierenden, endgültig eingerichtet glaubten und doch gewärtigen müssen, jederzeit an die Existenz derer erinnert zu werden, die sie einem politischen Tod glaubten überantworten zu dürfen, ohne sich darum im Geringsten zu scheren. Diese Rechnung derer, die sich ihrer eigenen politischen Existenz und Macht sicher glauben, kann in Wahrheit jedoch niemals aufgehen. Immer müssen sich letztere verrechnen (DU, S. 23). Und diese Rechnung darf niemals aufgehen, will uns Rancière im Namen einer radikalen Gleichheit glauben machen, die er einfach postuliert bzw. voraussetzt, da er offenbar fürchtet, die Gleichheit, ohne die es politisches Leben nicht geben kann, das seinen Titel verdient, in politischen Verhältnissen andernfalls nicht wiederfinden zu können. 35 Zum Politikum wird die Gleichheit allerdings nur im Widerstand gegen die elementarste Ungleichheit, die darin liegt, nicht einmal als Rancière, DU, S. 34 ff.; T. Mulot, »Sie schreiben einen Namen in den Himmel. Historische Überlegungen zur Politik der Multitude bei Michel Foucault, Pierre-Simon Ballanche und Jacques Rancière«, in: M. Pieper, T. Atzert, S. Karakayali, V. Tsianos (Hg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden, 2011, S. 227–262. 35 J. Rancière, Der Philosoph und seine Armen, Wien 2010, S. 301 f. (= PA); ders., »Die Gemeinschaft der Gleichen«, in: Vogl (Hg.), Gemeinschaften, S. 101–132. 34

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Subjekt politisch artikulierbarer Ansprüche wahrgenommen und anerkannt zu werden. Und dieser Widerstand kann nach Rancières Überzeugung nicht die Harmlosigkeit eines zaghaften oder auch energischen Protests haben, der sich noch davon abhängig machen würde, ob Andere die Gleichheit anerkennen. Vielmehr muss er die eigene Existenz derer, die sich um ihre politische Existenz gebracht (oder betrogen) fühlen, selbst aufs Spiel setzen. Sie müssen kategorisch verlangen, dass man ihnen wirklich zuhört. In Roland Barthes’ bereits zitierten Worten besagt ihr Verlangen: »Hör mir zu, wisse, dass ich existiere!« 36 Es ist aber gerade fraglich, ob ›wirkliches‹ Zuhören überhaupt zu erzwingen ist. Trifft man nicht umso weniger auf offene Ohren, je mehr man Andere bedrängt? Andererseits stellt sich die Frage, wie man Andere, für die man nicht ›zählt‹, überhaupt soll erreichen können, wenn die einfache Artikulation eines solchen Verlangens doch bereits voraussetzt, was es zugleich als ganz und gar zweifelhaft erscheinen lässt: nämlich dass sich Andere durch die Forderung, die (politische) Existenz Anderer zur Kenntnis zu nehmen, wenigstens ansprechen lassen. Dabei soll gerade dadurch die politische Existenz derer verbürgt werden, die sie sich niemals allein aus eigener Kraft verschaffen können. Politisch richtet es nichts aus, wenn man sich selbst jenes Verlangens vergewissert – nach dem pseudo-cartesianischen Schema: ich verlange, wahrgenommen zu werden, also bin ich, also existiere ich politisch. Genau das gilt nicht, wo das politische Leben auf dem Spiel steht, dessen sich niemals jemand als politisch souveränes Subjekt allein vergewissern kann. 37 Auch in Zukunft wird niemals jemand politisch souverän, aus eigener Machtvollkommenheit, existieren können, wenn es denn stimmt, dass man politisch nur dadurch existieren kann, dass man sich (mit relativem Erfolg wenigstens) auf Erwiderung hin so an Andere wenden kann, dass mit einer Antwort im Sinne des eigenen Anspruchs zu rechnen ist. So liegt es weder allein in der Macht der Anteilslosen noch allein bei denen, die sich um deren Anteile zunächst gar keine Gedanken machen, die politische Inexistenz Anderer zu durchbrechen. Zwischen ihnen muss sich ein unberechenbares, ereignishaftes Geschehen von Anspruch und Erwiderung abspielen, in dem es für Rancière um die Etablierung einer Siehe Anm. 67 zu Kap. XIII. R. Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990, S. 255. 37 An dieses Schema lehnt sich auch A. Camus an; siehe Anm. 68 zu Kap. XXVIII. 36

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Was heißt »Aufteilung des Sinnlichen« bei Jacques Rancière?

Gleichheit geht, mit der man sich immer und unvermeidlich verrechnet, weil niemals alle ›zählen‹ können. Die einen ›zählen‹ stets nur auf Kosten anderer, so sehr man auch darum bemüht sein mag, alle einzubeziehen, zu integrieren oder einer scheinbar nichts und niemanden mehr draußen lassenden Inklusion zu unterwerfen. 38 So löblich alle diese Ansinnen sein mögen, so unvermeidlich ist es für Rancière, dass es alsbald wieder einige oder viele geben muss, die nicht gehört werden und schließlich so weitgehend ›aus dem Auge, aus dem Sinn‹ geraten, dass die Anderen, die weiterhin ›zählen‹, nur durch gewaltsame Konflikte daran erinnert werden können, dass es noch andere Andere gibt, die sich einem politischen Tod überantwortet sehen und dagegen aufbegehren. So gesehen ist es irreführend, von einer Aufteilung des Sinnlichen zu sprechen. In ihr wird das politische Leben selbst geteilt; und zwar so, dass sich Ausgeschlossene, die keinen Anteil mehr zu haben glauben, einem politischen Tod überantwortet fühlen müssen – um sich gerade dadurch auf ein ›geteiltes‹ politisches Leben auf Gedeih und Verderb verwiesen zu sehen. Es geht hier wirklich um (politisches) Leben und (politischen) Tod, um einen Kampf, der ebenso ernst ist wie Hegels Kampf um Anerkennung bzw. des Anerkennens; allerdings mit dem Unterschied, dass diejenigen, die ihn um ihres politischen Lebens willen führen müssen, zunächst überhaupt keine politische Gemeinsamkeit mit ihren Gegnern zu haben scheinen, da sie sich ja als geradezu sprachlos erfahren und den politischen Kampf überhaupt nur führen können, wenn sie wenigstens als sich artikulierende politische Subjekte wahrgenommen werden. Das ist wie gezeigt kein Problem sinnlich-visueller Wahrnehmung allein (wie sie eine Demonstration zu erzwingen versuchen kann), sondern Angelegenheit eines originären In-Erscheinung-tretens, das durch nichts verbürgt ist; auch nicht durch verbriefte Rechte. Denn diese mögen unangefochten gelten und doch radikal fraglich werden, wenn Obwohl er ähnlich, wie ich es hier und an anderer Stelle getan habe, ebenfalls mit H. Arendt und J. Rancière die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer politischen Welt von der Möglichkeit her denkt, als politisches Subjekt überhaupt in Erscheinung treten und sich Gehör verschaffen zu können, lässt Michel Agier seine Beschreibung der Margins of the World am Ende wieder ganz auf eine, alle einschließende Welt zulaufen, von der idealiter letztlich niemand mehr ausgeschlossen wäre. Damit bricht er Rancières politischer Theorie allerdings die Spitze. Vgl. M. Agier, On the Margins of the World. The Refugee Experience Today, Cambridge (UK), Malden (US) 2008, S. 40, 53, 101.

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sich niemand findet, der Anderen zuhört, die auf ihnen bestehen wollen. Tatsächlich ist hier »das Hören entscheidend«, wie Luce Irigaray in einem anderen Zusammenhang bemerkt. 39 Gemeint ist hier ein gewissermaßen irreguläres oder außer-ordentliches Hören und Gehör-schenken, das eingespielte »polizeiliche«, d. h. hier: normalisierte Ordnungen politischen Zusammenlebens durchbricht, indem es Anderen zuhört, die doch scheinbar ›nichts zu sagen haben‹. Zwischen dem, was Andere dennoch zu sagen versuchen, einerseits und effektivem, niemals mit Gewalt zu erzwingendem Zuhören andererseits spielt sich ab, worauf Rancière als Theoretiker des Politischen seine ganze Hoffnung setzt: der Dissens, dem er zutraut, im Prinzip jederzeit ereignishaft eine eingeschlafene politische Normalität zu durchbrechen, um das politisch Wahrnehmbare zu derangieren (EZ, S. 60). Nicht »das Sinnliche« wird hier aufgeteilt, sondern eine einschneidende, nämlich die politische Existenz einiger oder vieler radikal in Frage stellende Trennung von Anderen, die ihre politische Existenz fraglos genießen, wird unterminiert, so dass eine Re-Vision dieser Trennung denkbar wird: Infolgedessen können Andere, die bislang nicht einmal als politische Subjekte wahrgenommen worden waren, unverhofft zur Sprache kommen, so dass sie fortan ›zählen‹. Allerdings nicht ohne weiteres für immer. Denn es kann jederzeit geschehen, dass sie erneut politisch unsichtbar werden, sei es aufgrund mangelnder Artikulation, sei es, weil sie totgeschwiegen werden, oder durch soziale Marginalisierung, sei es durch Krankheit oder Alter. Keineswegs verlaufen die Grenzen zwischen denen, die ›zählen‹ einerseits, und anderen, die nicht ›zählen‹ andererseits, derart eindeutig, wie es Rancière immer wieder unterstellt, wo er das Zählen mit der Anteilslosigkeit zusammendenkt. Und nur als Grenzfall lässt es sich vorstellen, dass jemand wirklich »Anteil an nichts« hat. Vielfältige Bruchlinien durchziehen das politische Leben, in dem es in höchst unterschiedlicher Art und Weise darauf ankommen kann, zu ›zählen‹ – d. h. als politisch existent wahrgenommen, dann auch eigens – als Arbeiter oder als Arbeitsloser, als Frau, als sozial Benachteiligter oder als Fremder – beachtet, gewürdigt und anerkannt zu werden, bevor es überhaupt dazu kommt, dass man um gerechte Anteile Auseinandersetzungen führt. Rancière ist diese Überlegung keineswegs ganz fremd, doch ka39

L. Irigaray, Welt teilen, Freiburg i. Br., München 2010, S. 34.

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Was heißt »Aufteilung des Sinnlichen« bei Jacques Rancière?

priziert er sich immer wieder auf die Kraft eines sinnlichen Dissenses, der nicht etwa eine Konfrontation unterschiedlicher Meinungen, Standpunkte und Überzeugungen, wie sie in der modernen sozialkognitiven Perspektivitätslehre von Kant bis Habermas zur Sprache kommt, sondern ein Vor-Augen-führen und in diesem Sinne eine Demonstration dessen meint, was Andere zuvor übersehen haben, was sie für nicht sehens- und beachtenswert gehalten haben oder was für sie einfach nicht existierte. Eine solche Demonstration muss allerdings wenigstens auf das Sichtbarwerdenkönnen der zuvor politisch Unsichtbaren und in diesem Sinne auf eine »gemeinsame aisthesis« bauen (ZT, S. 35). D. h. Anderen muss man eine mögliche Wahrnehmung, Würdigung und Anerkennung zuvor Unsichtbarer wenigstens buchstäblich ansinnen können. Darin liegt mehr als nur der Versuch, letztere durch eine politische bzw. politisierte Wahrnehmung sinnlich präsent zu machen. Es geht auch um die Zumutung, sie nicht wieder aus dem politischen Leben herausfallen zu lassen. Denn das ist für den Historiker des Politischen, der Rancière ja auch ist, angesichts einer Fülle einschlägiger Erfahrungen schlechterdings nicht zu bestreiten: dass es überhaupt keine Form politischer Teilhabe, Integration oder Inklusion geben kann, die diese Gefahr ein für alle Mal auszuschließen vermöchte. Der sich an dieser Stelle aufdrängende Einwand, auf diese Weise von bisheriger Erfahrung auf die Zukunft zu schließen, sei fragwürdig, verfängt für Rancière nicht. Denn er sieht die Wurzel des Übels – eines Übels, das zugleich die eigentliche Vitalität des Politischen verbürgt – in der Unvermeidlichkeit immer neuen Dissenses, der aus immer neuen Verrechnungen derer resultiert, für die niemals alle gleich ›zählen‹ (können). Wo auch immer gezählt wird, werden Andere nicht gezählt oder bleiben unbeachtet, so dass immer neue Trennungen zwischen Anteilslosen und Anteilhabenden die Folge sind – mag man auch noch so oft und energisch eingespielte Trennungen, nicht zuletzt mit Hilfe der Künste, unterlaufen wollen (EZ, S. 92 f.). Glaubt man, alle einbezogen, integriert oder inkludiert zu haben, so verschwindet auch schon die politische Differenz, auf die es Rancière eigentlich ankommt: die Differenz, an der sich radikaler Streit um die politische Existenz entzünden muss, wenn wenigstens einige »nicht gesehen werden«, ob »im Dunklen« 40 oder anderswo. Einbeziehung, B. Brecht, Dreigroschenoper; in der revidierten Schlussstrophe der Moritat von Mackie Messer heißt es: »Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im

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Integration und Inklusion können für Rancière nur Formeln der Blindheit (ZT, S. 37) für die Schattenseiten sein, die jede Politik belasten 41 – und die zugleich dafür sorgen, dass radikaler Dissens und damit Kampf um das Politische wieder aufbrechen kann. Darüber kann man sich täuschen; aber ändern lässt es sich auch durch die rechtschaffenste »Arbeit an Trennungen« (EZ, S. 93) nicht, die sich niemals mit der politischen Sprachlosigkeit derjenigen abfinden will, welche so oder so nicht zählen. So bleibt jede Gesellschaft, jede Gemeinschaft und jedes politische System unvermeidlich in sich geteilt und in gewisser Weise von sich selbst getrennt. Dazu muss man nicht Sophokles’ Antigone oder andere Heldinnen und Helden politischen Widerstands gegen bedingungslose Zugehörigkeit, rechtliche Mitgliedschaft oder politische Integration in den Zeugenstand rufen. 42 Gänge in Asyle für Fremde oder Alte, in Grenzregionen der Unsicherheit und Rechtlosigkeit zwischen politischen Ordnungen oder in Zonen prekären, sich selbst überlassenen Lebens am Rande oder inmitten heutiger Metropolen genügen vollauf, um deutlich zu machen, dass das politische Leben keineswegs nur von einer einzigen Bruchlinie zwischen Anteilslosen und Anteilhabenden durchzogen wird (wie es Rancière immer wieder suggeriert, wo er das Politische vom Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit her denkt 43). Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.« B. Brecht, Stücke, Bd. III, Berlin, Weimar 1967, S. 169. Diese oft zitierten Zeilen zehren noch von einer Lichtmetaphorik, die längst fragwürdig geworden ist. Herrscht nicht dort, wo man öffentlich scheinbar ›restlos‹ sichtbar wird, eine Schutzlosigkeit, die uns gewaltsam um jegliches Entzogensein zu bringen droht? Muss die entscheidende Frage nicht in Wahrheit lauten, wie jeder Andere als unaufhebbar Anderer – und d. h. auch dem ›visuellen Zugriff‹ Entzogener – sichtbar werden und öffentlich in Erscheinung treten kann, ohne solcher Gewalt rückhaltlos ausgeliefert zu werden? 41 Gerade auch die Politik all jener, die sich als Anteilslose mit dem Volk als einem Ganzen identifizieren – und dabei doch nur wieder einen neuen polemischen Gegensatz zu Anderen heraufbeschwören, die ihnen angeblich Anteilhabe und Anteilnahme verwehrt haben. Wenn die so oder so Anteilslosen behaupten: »Wir sind das Volk«, so wäre ihnen mit Rancière entgegenzuhalten: niemand ist das Volk. Wer immer diesen Begriff für sich in Anspruch nimmt und suggeriert, durch seinen Mund spreche sich ›das Volk‹ aus, hat sich schon von Anderen getrennt, die sich durch eine solche Inanspruchnahme ausgeschlossen sehen müssen. Siehe dazu auch das folg. Kap. XX, 1. 42 J. Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007, S. 132 (= UÄ). 43 Vgl. aber PA, S. 115, 121 ff., 129 f., 134 f., 138, wo u. a. der Proletarier als »übler Dritter« ins Spiel kommt, der »keinerlei Konsistenz« habe und nicht in das Klassenschema passe – so wenig wie auch der »Abfall« der Gesellschaft, die Armen usw. Löst sich die Gesellschaft nicht ständig auf, um sich ebenso ständig neu zu formieren aus

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Immer wird es Nichteinberechnete, Namenlose 44 und Andere geben, denen Unrecht widerfahren ist, ohne dass die geringste Aussicht darauf bestünde, dass das »Sehen des Unrechten«, in dem es wenigstens wahrnehmbar und anerkennbar werden kann, die darin liegende »nichtversöhnbare Unstimmigkeit« zu beseitigen oder im Hegel’schen Sinne aufzuheben vermöchte. Indem er unaufhörlich darauf insistiert, widersetzt sich Ranciere jeglichem Glauben an ein Ethos integraler Gemeinschaft. Für ihn kann es keine Einschließung des dêmos – d. h. für ihn ursprünglich: der Armen 45, dann auch der unabsehbaren Menge der »Beliebigen«, die Anspruch auf ihren Anteil erheben können – in eine koinonía geben (KW, S. 80, 92, 103). Da Rancière in diesem Zusammenhang ähnlich wie Nicole Loraux und Jean-François Lyotard 46 nicht nur von différend (Widerstreit) und litige (Rechtsstreit), sondern auch von tort (Unrecht) spricht, wirft er die Frage auf, ob es ihm nur um die »Anerkennung von Kontingenz jeder Herrschaft« und jeder politischen Ordnung geht (KW, S. 76), die jene Schattenseiten aufweist, oder ob ihn ein ethischer Impuls umtreibt, der es ausschließen müsste, sich mit jeder nicht zu versöhnenden Unstimmigkeit im Politischen gleichermaßen indifferent zu arrangieren. Offensichtlich bewegt sich sein Denken hier zwischen der schieren Unvermeidlichkeit solcher Unstimmigkeit einerseits und Widerstand gegen ein Unrecht andererseits, welches im Einzelfall nicht als unvermeidliches hinzunehmen ist und nach Abhilfe verlangt. Dass immer und unvermeidlich einige ohne Anteil und insofern ›draußen bleiben‹, nicht einbezogen, nicht integriert oder inkludiert, ist doch eine unspektakuläre Einsicht, die ›kalt lassen‹ könnte, wenn nicht bedacht wird, ob es sich um erträgliche Formen des Übersehens Anderer, um ihre in Kauf genommene oder beabsichtigte Exklusion oder sogar um ihre Vernichtung handelt, die sie als politische Subjekte nicht überleben können. Hier geht es um in das Leben solcher Subjekte einschneidende Unterschiede, die eine vom (Nicht-)In-Erscheinung-treten solcher Subjekte her ansetzende, insofern ästhetisch fundierte Theorie des Politischen nicht übersehen Individuen (ebd., S. 141), denen es gelungen ist, aus ihrer politischen Unsichtbarkeit wieder herauszutreten, der Andere umgekehrt permanent anheimfallen? 44 Rancière, »Gibt es eine politische Philosophie?«, S. 73. 45 J. Rancière, »Politisches Denken heute. Die normale Ordnung der Dinge und die Logik des Dissenses«, in: Lettre International 5 (2003), S. 5–7, hier: S. 6, linke Spalte. 46 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 21989, S. 9; Loraux, »Das Band der Teilung«, S. 35; Rancière, DU, S. 11.

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lassen sollte; zumal dann nicht, wenn sie wie im Falle Rancières kryptonormativ fortwährend auf das »Unrecht« aufmerksam macht, das allen denjenigen widerfahre, die so oder so nicht ›zählen‹, weil sie nicht einmal wahrgenommen werden. Trägt man jenen Unterschieden nicht Rechnung, so verblasst die Rede von einem solchen Unrecht in einem merkwürdigen Grau-in-Grau unübersehbarer Misslichkeiten, mit denen politisches Leben immer und unvermeidlich belastet ist. So siedelt Rancière die zentrale Herausforderung des Politischen – nämlich die Frage, wer überhaupt am politischen Leben mit und unter Anderen Anteil hat und insofern als Gleicher in Betracht kommt – konsequent auf der Ebene einer aísthēsis an, die er mit einem sehr weit gefassten Begriff der Wahrnehmung bzw. der Wahrnehmbarkeit verknüpft, in der es keineswegs nur darum geht, zu sehen und gesehen zu werden, sondern darum, zur Sprache zu kommen und handeln zu können. Auf die derart zu politisierende Wahrnehmung derer, in deren Sichtbarkeit es immer auch um ihre Sprachlichkeit und um ihr Tunkönnen als politische Subjekte geht, macht Rancière selbst aufmerksam. Die politische Wahrnehmung führt aus seiner theoretischen Sicht auf die Spur dessen, was im Politischen vor allem auf dem Spiel steht. Und genau das wird für ihn zur zentralen Angelegenheit einer theoretischen Sensibilität, die eigens darauf unsere Aufmerksam lenkt. 47 Dabei kann sie sich auf zwei Sensorien stützen, die das bereits deutlich machen, aber einer philosophischen Explikation dessen bedürfen, was sie im Hinblick auf politische Wahrnehmung ausrichten – und was nicht. Es handelt sich um die Sensorien der Kunst und der Politik, die Rancière nicht nur deutlich unterschieden sehen, sondern auch in ihrer Verschränkung verständlich machen will, um zu zeigen, wie sie wenigstens nachträglich und indirekt zur ästhetisch-politischen Sensibilisierung für die pathische Existenz leibhaftiger Subjekte beitragen können, deren politisches Leben und deren politischer Tod jederzeit auf dem Spiel steht. Inwiefern, das ist nicht deutlich zu erkennen, solange man unmittelbar in einen Kampf um Leben und Tod verstrickt ist. Deshalb bedarf es geDabei kann sich diese theoretische Sensibilität nicht mit einer Trennung der Menschen in solche mit und ohne feine Sinne, in »Menschen von Geschmack« und »grobe Menschen« (Voltaire; KW, S. 20, 45) abfinden, wie man sie bei Pierre Bourdieu etwa beschrieben findet. Vielmehr setzt sie auf den Spuren von Friedrich Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen ganz und gar auf ein ›demokratisches‹ bzw. erst zu demokratisierendes Sinnliches als neues Sensorium der Gleichheit.

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Kunst und Politik – zwei »Sensorien«?

wisser Sensorien, die für die Sensibilität dieser Subjekte eigens sensibilisieren. Wie das im Verständnis Rancières möglich sein soll, zeigt der nächste Abschnitt.

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Kunst und Politik – zwei »Sensorien«?

Aufteilungen des politisch Sensiblen sind keineswegs wie Naturtatsachen einfach in der Welt. Vielmehr handelt es sich aus Rancières Sicht um Auftrennungen politischer Koexistenz, die dazu führen können, dass man nicht mehr in einer Welt lebt. Genau darauf lenken zwei Sensorien die Aufmerksamkeit, die entweder für das Problem der Stimme und des Dissenses oder für Freiheit von jeglicher Beherrschung eigens sensibilisieren. Letzteres soll die Angelegenheit des Sensoriums der Kunst, ersteres die Angelegenheit des Sensoriums einer wohlverstandenen Politik sein (die sich jeglicher Reduktion auf eine normalisierte ›polizeiliche‹ Ordnung widersetzt). 48 Diese Rede von Sensorien ist allerdings missverständlich, denn sie weckt organismische Assoziationen und legt die Vorstellung eines Apparates sinnlicher Funktionen nahe, durch die Wahrnehmbares gegeben sein kann. Besser ist es, Rancière so zu verstehen, dass es ihm weniger um derartige funktionale Systeme geht, die man sich in der Form ›der Kunst‹ oder ›der Politik‹ institutionalisiert vorstellen könnte, sondern dass es ihm um geradezu anarchische Praktiken der Sensibilisierung für die doppelte Herausforderung möglichen Dissenses und der Freiheit zu tun ist. Weder die Kunst noch die Politik bzw. Künste noch diverse Politiken sensibilisieren quasi von sich aus für Dissens oder für Freiheit; es sei denn, leibhaftige Wesen, denen allein Sensibilität zuzusprechen ist, lassen sich ästhetisch und/oder politisch für dissensuell und in Freiheit Wahrzunehmendes sensibilisieren. Genau so rekurriert Rancière selbst auf das Pathische als letzte Ressource sowohl des Ästhetischen als auch des Politischen, in der »der Logos sich als Pathos erweist«, ohne sich allerdings je auf eine pathische Passibilität reduzieren zu lassen. 49 Rancière, UÄ, S. 34 f., 40 f. Zweifellos hat Rancière mit dieser Parallelisierung von Kunst und Freiheit einerseits, Politik und Dissens andererseits selbst bereits einer Überkreuzung den Weg gebahnt, in der das Ästhetische politisch und das Politische ästhetisch brisant werden kann. 49 J. Rancière, Das Fleisch der Worte, Zürich, Berlin 2010, S. 214; ders., »Die ästhetische Revolution und ihre Folgen. Erzählungen von Autonomie und Heteronomie«, in: 48

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Dabei vertraut er offenbar auf eine Sensibilität bzw. auf eine Sensibilisierbarkeit, die er m. W. nirgends näher untersucht, von der er aber anzunehmen scheint, dass sie keineswegs ›immer schon‹ gewissermaßen in einen ästhetischen und in einen politischen Bereich aufgeteilt ist. Leibhaftige, mehr oder weniger sensible Wesen, denen es in ihrem Dasein um Dissens und Freiheit gehen muss (denn nur so können sie überhaupt existieren), begreift er offenbar 50 als wenigstens nachträglich speziell ästhetisch und politisch sensibilisierbar: politisch, wenn deutlich wird, wie die Artikulation und Wahrnehmung, die Stimme und das Gehör-finden derer, die in Erscheinung treten wollen und müssen, die Existenz unserer selbst und Anderer geradezu ausmacht; ästhetisch, wenn man in dem, was sich zeigt, auf das Erscheinende als solches und auf das Erscheinen selbst, aber auch auf Spielräume eines Anders-Erscheinens sowie auf eine Trans- oder Hyperphänomenalität aufmerksam wird, die über das Erscheinende und über das Erscheinen als solches hinausweist, um auf die Spur dessen zu führen, was sich jeglichem Erscheinen entzieht. 51 Genau dadurch kann ästhetische Sensibilisierung schließlich auf das Politische zurückwirken, wo nicht primär etwas (vermittels eines gemalten Bildes, einer Fotografie oder einer Plastik) erscheint, sondern jemand in Erscheinung tritt; und zwar so, dass auf das Erscheinen als solches und auf dessen Grenzen zunächst gar nicht geachtet wird. Eben das wird durchkreuzt durch eine ›Ästhetisierung‹, die in das Politische hineinwirkt (ohne indessen auf eine »Ästhetisierung I. Brombach, D. Setton, C. Temesvári (Hg.), »Ästhetisierung«. Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis, Zürich 2010, S. 23–40, hier: S. 37. Rancière bedenkt zwar mit Blick auf Gilles Deleuze weitergehend, ob das Pathische nicht an ein noch tiefer anzusetzendes Apathisches rührt. Im Allgemeinen distanziert sich Rancière aber von Deleuzes Vitalismus, da dieser in seinen Augen keine Perspektive politischer Subjektivierung eröffnet (KW, S. 84 ff.). Zu diesem Begriff vgl. J. Rancière, »Politique, identification, subjectivation«, in: ders., Aux bords du politique, Paris 1998, S. 83–92; sowie zum für Rancière mindestens brüchig gewordenen Verhältnis von páthos und lógos ders., Das ästhetische Unbewußte, Berlin, Zürich 2006, S. 19 ff. Was der Autor »die ästhetische Revolution« nennt, in die er sich selbst einschreibt, macht keine Anleihe mehr bei einer klassischen Repräsentationsbeziehung zwischen beiden Begriffen. 50 Wenn ich ihn richtig verstehe. Rancière selbst knüpft erstaunlicherweise kaum an eine Philosophie der Leiblichkeit und der Sensibilität an, die ihm eigentlich auf halbem Wege entgegenkommt. 51 Vgl. J. Patočka, Die Bewegung der menschlichen Existenz, Stuttgart 1991, S. 177 f.; B. Waldenfels, Einführung in die Phänomenologie, München 1992, S. 19 ff., 58, 63, 73; ders., Hyperphänomene, Berlin 2012; D. Mersch, Posthermeneutik, Berlin 2010.

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der Politik« hinauszulaufen), indem sie die Aufmerksamkeit auf das Erscheinen als solches und auf dessen Grenzen lenkt. So kann bewusst werden, dass auch Andere niemals in ihrem Erscheinen aufgehen – d. h. dass sie nicht nur in ihrem Erscheinen, sondern auch angesichts ihres In-Erscheinung-tretens frei bleiben: frei von dem Zwang, unbedingt und restlos darin aufzugehen. 52 Aber Andere erweisen sich eben anders ›anders‹ als ästhetische Objekte, d. h. als etwas, das über sich hinausweisen mag in Richtung auf Unsichtbares und Unhörbares. Andere sind für uns nicht etwas, sondern jemand. Und diese Differenz gibt das Politische, das nur zwischen jemandem, jemand anderem und vielen Anderen geschieht, gewissermaßen als Frage dem Ästhetischen zurück: Sind Andere – bzw. erfahren wir Andere – nicht auf andere Art und Weise ›anders‹ als ästhetische Objekte? Und kann deren über das Erscheinen selbst hinausweisende Alterität verständlich machen, ob und warum wir es bei Anderem und Anderen jeweils mit unterschiedlichen Bedeutungen des Andersseins zu tun haben? Im ersten Fall spreche ich im Folgenden von Andersheit, im zweiten von Anderheit. Andersheit eignet Anderem; Anderheit nur Anderen. 53 Aber jeder Andere existiert leibhaftig und hat insofern an der Andersheit eines verkörperten Lebens Anteil, so dass sich Anderheit und Andersheit nicht fein säuberlich trennen lassen. Wer das versuchen wollte, liefe Gefahr, die Anderheit als eine an leibhaftige Existenz scheinbar nicht gebundene und insofern in der sublunaren Welt gar nicht situierte letztlich zu vergöttlichen. Die ›ästhetische Transzendenz‹, durch die etwas ausgerechnet in dem Moment über sich hinausweist, wo man auf dessen Erscheinen selbst aufmerksam wird, mag für Grenzen des Erscheinens sensibilisieren. Das heißt aber nicht, dass diese Grenzen von etwas und von jemandem auf gleiche Art und Weise tangiert und überschritten werden. Etwas, das nicht in seinem Erscheinen aufgeht, erweist sich insofern als irreduzibel ›anders‹. Aber Andere erweisen sich auf andere Hier liegt der zentrale Gedanke von Levinas nicht fern, dass die Freiheit jedes Anderen gerade in seiner Fremdheit liege, die niemals im ›Phänomen‹ aufgeht, durch das sich uns Andere als solche darstellen. E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 100. 53 Parallel dazu funktioniert die Unterscheidung von Veränderung und Veranderung. Durch Anderes, das sich verändert, werden auch wir selbst verändert. Durch Andere aber erfahren wir eine Veranderung, die uns in gewisser Weise zu Anderen macht. Siehe die Kapitel der Teile A und B in Bd. I. 52

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Art und Weise ›anders‹, nämlich dadurch, dass sie uns durch ihren Anspruch immer schon zuvorkommen. Ein Bild mögen wir wie eine Augenweide genießen; doch der Verführung dessen, was über das bildlich Sichtbare hinausweist, brauchen wir nicht nachzugeben. Hier liegt die Andersheit des Bildes gleichsam vor uns wie das Versprechen eines ungeahnten Reichtums, dem wir allerdings keinerlei Glauben schenken müssen. Dagegen kommt uns der Anspruch des Anderen zuvor; und zwar so, dass es uns nicht völlig freisteht, sich von ihm indifferent abzuwenden. Er wartet nicht darauf, von uns aktiv erkundet und erschlossen zu werden. So sucht er uns heim und unterläuft jegliche Illusion von Souveränität, der sich ein ästhetisches Verhalten hingeben kann, weil es jederzeit abzubrechen ist. Was über das Bisherige hinaus noch zu sehen ist und schließlich an die Grenzen des Sichtbaren und darüber hinaus führt, muss niemanden interessieren. Vom ästhetischen Anspruch des Bildes können wir uns jederzeit abwenden. Er kann uns kaltlassen und wir können ihn vergleichgültigen, wenn wir befinden, dass er uns wenig oder nichts ›sagt‹. Die Freiheit von jeglicher Beherrschung, die Rancière zufolge im Ästhetischen zum Vorschein kommt, lässt sich nicht denken ohne die Freiheit, sich überhaupt auf es einzulassen. Die Freiheit im Ästhetischen setzt die Freiheit zum Ästhetischen voraus. Und diese Freiheit kann sich auch so manifestieren, dass man sich zu jeglichem ästhetischen Anspruch ›blind und taub‹ stellt. Anders verhält es sich mit dem Anspruch des Anderen, der als jemand begegnet. Immer schon wird er uns zuvorgekommen sein, so dass wir uns nicht nicht zu ihm verhalten können. So ist man nur noch frei, ihm so oder anders zu antworten – sei es auch durch stummes Sichabwenden oder weitestgehende Vergleichgültigung –, nicht aber, überhaupt nicht zu antworten. Levinas geht noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er nachzuweisen versucht, dass darin nicht bloß eine faktische Unausweichlichkeit, die uns zu einer unausbleiblich dem Anderen Antwort gebenden, responsiven Freiheit ›verurteilt‹, sondern auch eine Bestimmung zu ethischer Nicht-Indifferenz angesichts jedes Anderen liegt. 54 So weit ist Rancière keinesfalls zu gehen bereit. Er weiß nichts von einer Spur solcher NichtIndifferenz und vermutet in einem solchen Freiheitsdenken einen E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992.

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politisch gefährlichen Ethizismus, der darauf hinauszulaufen drohe, uns dem »Gesetz des Anderen« zu unterwerfen (DU, S. 144 ff.; UÄ, S. 137, 141). Unabhängig von der Berechtigung dieser sowohl gegen Levinas als auch gegen Lyotard gerichteten Vermutung, die hier nicht zu beurteilen ist, weiß selbstverständlich auch Rancière um den Unterschied von etwas und jemand; und er weiß, dass es ästhetische Erfahrung weniger mit lebendigen Anderen als vielmehr mit toten Objekten zu tun hat 55, die für Freiheit in politischer Hinsicht nur sensibilisieren können, wenn man nicht vergisst, es im Politischen allemal mit Wesen zu tun zu haben, denen es in ihrer Existenz selbst darum geht, wahrgenommen zu werden und erscheinen zu dürfen, ohne aber auf ihr In-Erscheinung-treten reduziert zu werden. Insofern ist zu vermuten, dass Rancière auch die Differenz von Andersheit und Anderheit kennen dürfte. Allemal sind es Andere, die das Problem unaufhebbaren Dissenses aufwerfen. Die Frage ist jedoch, ob deren Alterität anders zu begreifen ist als die Alterität von Objekten. Während Levinas’ Antwort auf diese Frage eindeutig ist, wo er die Anderheit des Anderen geradezu zur Meisteralterität erhebt, meinen andere darin eine Hypostase zu erkennen, die sich zumindest mit phänomenologischen Mitteln nicht rechtfertigen lasse. Vor allem Paul Ricœur moniert, wie bei Levinas jegliche Alterität in der Anderheit des Anderen geradezu absorbiert werde. Dabei hat doch alles irgendwie an ›Andersheit‹, Differenz, Verschiedenheit und/oder Fremdheit Anteil 56 – nicht nur ein oftmals bedenklich verabsolutierter Anderer, sondern auch der Tod, das Leiden, das Erotische 57 und nicht zuletzt das Ästhetische. Rancière steht dieser Position zweifellos viel näher als etwa einer Ethik, die eine bestimmte Alterität (nämlich die Anderheit) absolut zu privilegieren und nicht zuletzt deshalb für die Kunst und die eiVon weiten Bereichen des Films, von Videoaufzeichnungen usw., die diese Aussage zweifellos als sehr problematisch erscheinen lassen müssen, sehe ich hier ab. Vgl. bes. zu letzteren S. Knopp, S. Schulze, A. Eusterschulte (Hg.), Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog, Weilerswist 2016. 56 Vgl. zur Differenz dieser Begriffe das Kap. VIII. 57 H.-C. Askani, »Altérité«, in: L. Lemoine, E. Gaziaux, D. Müller (Hg.), Dictionnaire encyclopédique d’éthique chrétienne, Paris 2013, S. 106–122. Auch Theorien des Erotischen und des Begehrens entgehen nicht selten der Versuchung nicht, den oder das Andere (in der Form des Unbewussten) zum »Anderen schlechthin« zu erheben; vgl. H. Lang, Strukturale Psychoanalyse, Frankfurt/M. 2000, S. 23. 55

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gentümliche Andersheit ästhetischer Objekte wenig übrig zu haben scheint. 58 Keineswegs geht Rancière aber so weit, nun seinerseits indifferent von einer kontingenten Andersheit zu sprechen, die überall und nirgends sich bemerkbar machen kann. Auch für ihn gibt es eine besonders virulente Alterität: die Alterität derer nämlich, die zumal politisch nicht existieren können, wenn ihnen die Artikulation ihres Dissenses verwehrt bleibt. Und genau darin erkennt Rancière die buchstäblich elementarste Gleichheit, die uns alle miteinander verbindet; auch im Verhältnis zu Anderen, die wir nicht einmal wahrnehmen, die wir übersehen, übergehen, ignorieren oder vergleichgültigen. Es handelt sich um die Gleichheit derer, die selbst als ganz und gar Ausgeschlossene noch Anspruch darauf haben, Andere wenigstens auf Erwiderung hin ansprechen zu dürfen, um so zu zeigen, dass sie immerhin existieren, wenn auch als politisch quasi nicht Existierende, die gespenstisch in polizeilichen Ordnungen ihr Unwesen treiben. 59 58 Ich sage das mit aller Vorsicht; vgl. E. Levinas, Vom Sein zum Seienden, Freiburg i. Br., München 1997, Kap. III, 1. 59 Jener Anspruch bleibt allerdings sozial und politisch kraftlos, wenn er nicht durch diejenigen auch praktisch bezeugt wird, die ihn im Horizont einer abstrakten Menschheit jedem x-Beliebigen zu attestieren bereit sind. Ich meine, dass auch Pierre Rosanvallon, dem wir die energischste Verteidigung der Gleichheit verdanken, darin die elementarste Bedeutung der Gleichheit in einer société des égaux erkennt, die gerade nicht an den Grenzen einer mehr oder weniger homogenisierten Gesellschaft halt macht. Gleichheit ist für ihn in erster Linie eine Frage der Beziehungspraxis im Verhältnis zu Anderen, die sich angesichts ihrer unübersehbaren Verschiedenheiten und ›Differenzen‹ als Gleiche in dem Sinne achten, dass sie es jedem Anderen erlauben, ihnen ›ebenbürtig‹, ›auf Augenhöhe‹, ›erhobenen Hauptes‹ zu begegnen. P. Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen [2011], Berlin 2017, S. 63, 85. Der in diesem Sinne de-limitierte demokratische »Geist der Gleichheit« nimmt niemals an, dass man xBeliebigen moralisch ›etwas voraus‹ hat (ebd., S. 70, 79, 90). So widerspricht er jeglicher Arroganz derer, die sich für Privilegierte halten und sich in gated communities absondern, während sie gleichzeitig parasitär ihren Reichtum genießen. Im Gegensatz zu solcher Sezession der Reichen, die inzwischen fatale territoriale Ausmaße annimmt (ebd., S. 329, 331) und Welten voneinander zu trennen scheint, zielt die elementarste Gleichheit darauf ab, niemanden mehr zum proles (Sprössling, Spross, Kind, Nachkomme) zu machen, der in dem Sinne »draußen bleibt«, dass ihm jegliche Zugehörigkeit zu einer geteilten politischen Welt verwehrt wird, von der die Parasitären sich ironischerweise selbst auszuschließen scheinen (ebd., S. 99 f.). Infolge dessen ziehen sie sich ihrerseits eine Geringschätzung zu, die jenen Geist auf eine harte Probe stellt. – Auf jenes Verwehren ist das ›Draußenbleiben‹ radikaler Alterität im Übrigen gerade nicht zurückzuführen. Die politisch elementare Gleichheit muss Andere keineswegs homogenisierend ›gleich machen‹, wenn sie auch deren unaufheb-

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Kunst und Politik – zwei »Sensorien«?

Diese auf Dissens vital angewiesenen Anderen gehen nicht in einem allgemeinen und indifferenten Mitsein auf, wie man es von Heidegger bis hin zu Nancy zur Sprache gebracht hat (FW, S. 225, 231). Rancière vermutet in einem solchen ontologischen Denken letztlich einen »Indifferentismus«, für den es keinen erheblichen Unterschied macht, wer wie mit wem oder was ko-existiert. Gibt es »keinen Maßstab mehr«, sondern »nur noch Gemeinsames«, dann ist, wie er fürchtet, die »Erstarrung des allgemeinen Einverständnisses« nicht mehr fern, die auch gegen eine restlose Vermarktung von allem und jedem nichts mehr einwenden kann. 60 Dagegen spricht Rancière von einer gewissen »Schuldigkeit gegenüber den Wesen, die auf der Seite der dunklen oder verleugneten Wirklichkeit sind« (EZ, S. 41; Hervorhebg. B. L.). Zwar hält Rancière zu einem »kritischen« Denken deutlich Distanz, das »Partei ergreift« für diejenigen, die »im Dunklen« stehen, wie es in Bertolt Brechts Moritat von Mackie Messer heißt. Denn es geht ihm nicht bloß um eine neue Grenzziehung zwischen Anteilhabenden und Anteilslosen, sondern darum, darauf aufmerksam zu machen, dass wir solche Grenzziehungen niemals werden überwinden können, dass sie also dem Politischen struktural immanent sind. Andererseits ist er nicht mit Peter Sloterdijk davon überzeugt, dass das Leben derart »viel von der Schwere früherer Zeiten verloren habe, nämlich sein Gewicht an Leiden, Bitterkeit und Not, und damit sein ›Gewicht an Wirklichkeit‹« (EZ, S. 42), dass es nunmehr überhaupt keinen Unterschied mehr machen dürfte, wer oder was danach verlangt, politisch sichtbar zu werden. Rancière vertraut in dieser Lage scheinbar doch auf das páthos politischer Erfahrung, aus dem überhaupt erst der Antrieb dazu entspringt, in Erscheinung treten und gehört werden zu wollen. Nur liegt in dem, was uns heute politisch widerfährt, keinerlei Eindeutigkeit mehr – wie es zur Zeit der »Arbeiteremanzipation« gewesen zu sein scheint, wo man Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung so kritisierte, dass daraus unmittelbar eine kollektive Kraft des Widerstands und des Protests mit klarer Zielrichtung entstehen konnte (EZ, S. 47). Weder ist politische Erfahrung heute von sich aus derart ›klar‹ – denn nicht einmal in der Negativität eklatanter Ungerechtigkeit kann sie noch eindeutig besagen, wie ihr durch bestimmte Negabare Alterität achtet. Mit Recht legt Rosanvallon aber den Finger in die offene Wunde der Frage, wie das konkret politisch zu verstehen sein soll (ebd., S. 345). 60 J. Rancière, Die Politik der Bilder, Berlin, Zürich 22009, S. 56 f.

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tion Rechnung zu tragen wäre –, noch auch verhilft ihr mediale Kommunikation zu angemessener Darstellung, mit deren Hilfe man sich immerhin darüber verständigen könnte, wonach die Negativität politischer Erfahrung verlangt. Unter Verweis auf Guy Debords Kritik des Spektakulären bezweifelt Rancière, dass die Medien heute ohne weiteres diesem Zweck dienen können (EZ, S. 16 ff.). Aber er will sich auch nicht mit der allgegenwärtigen Herrschaft einer indifferenten Sichtbarkeit abfinden, die immerzu alles Mögliche vor Augen führt, ohne die Betrachter und Zuschauer wirklich zu bewegen und ohne in ihnen kritische Rückfragen danach zu wecken, was überhaupt sichtbar (gemacht) wird und was nicht (EZ, S. 23). Konfrontieren uns die Medien nicht ständig mit »falschen Offensichtlichkeiten« (EZ, S. 123)? Unterdrücken sie durch letztere nicht kritische Fragen danach, was, wer, wie und unter welchen Umständen überhaupt (nicht oder nur verzerrt) sichtbar wird und was bzw. wer danach verlangt, wahrgenommen zu werden, um wenigstens so politisch zu existieren? Sehen, betont Rancière immer wieder, ist genauso ein Tun wie Wegsehen, die Vermeidung jedes näheren Hinsehens oder eines Rückfragens nach den Bedingungen der Sichtbarkeit, die stets auch Bedingungen der Unsichtbarkeit von Anderen implizieren. 61 Wenn es sich so verhält, verbietet sich eine energische Moralisierung des Sehens von selbst. Es ist schlechterdings nicht möglich, für alles die Augen und die Ohren offen zu halten, was verdiente, gesehen und gehört zu werden. Auch das scheinbar bloß passive Zusehen aus der Position eines distanzierten Betrachters sollte man nicht moralistisch pauschal verurteilen. Es stimmt nicht generell, dass ein dem »Spektakel« à la Debord nolens volens ausgesetztes Sehen unweigerlich dazu führen muss, passiv zu bleiben und insofern weniger zu leben (EZ, S. 17). Scheinbar bloß passives Sehen kann auch die destruktive Kraft des zu Sehenden abfangen und suspendieren, um gerade dadurch dem sehenden Subjekt Freiheitsspielräume des Antwortens auf oft schmerzhafte, ja sogar traumatogene Herausforderungen des Sichtbaren zu eröffnen, die ihm sonst vielleicht verschlossen blieben.

Vgl. in diesem Sinne J. Butler, Frames of War. When is Life Grievable?, London, New York 2009.

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4.

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Es wäre enttäuschend, wenn uns Rancière nur mit der Erkenntnis abspeisen wollte, dass auch das Sehen und das Hören bis in die Bedingungen der Sichtbarkeit und der Hörbarkeit Anderer hinein kontingent sind und dass jedes Sehen und Hören eine Kehrseite des Übersehens und des Überhörens von Anderem aufweist. Was sich kontingenterweise so oder auch anders verhalten kann, stellt sich aus der Sicht derer, denen es in ihrem Leben um ihre politische Existenz geht, weder als bloß kontingent noch gar als arbiträr oder beliebig dar. Im páthos dessen, woran Menschen derart leiden, dass sie sich dazu genötigt sehen, sichtbar hervorzutreten und ihre Stimme zu erheben, liegt vielmehr eine existenzielle Dringlichkeit in dem Sinne, dass sie sagen müssen: hier stehen wir und können nicht anders, als Widerstand zu leisten, Protest einzulegen und Forderungen zu erheben umwillen der Änderung oder Abschaffung von Lebensbedingungen, die das Leben (eigenes und/oder fremdes) geradezu unlebbar zu machen drohen. Wie und wodurch aber, das hält Rancière unter heutigen Bedingungen weder mit den »kritischen Theoretikern« des Politischen für ausgemacht noch auch mit auf den ersten Blick zynischen Positionen für nahezu gleichgültig, die jeglichen existenziellen Impuls des Leidens gegenwärtig von einem »Jargon der Not« (Sloterdijk) überformt sehen, der nur noch die Illusion wirklichen Leidens erzeuge und es hinnehmen müsse, dass alle rebellischen Energien, die sich aus ihm speisen könnten, vom Konsum absorbiert werden (EZ, S. 42 ff.). Wie und wodurch ein menschliches Leben in politischer Hinsicht unlebbar zu werden droht, bedarf ausgehend von einem unumgänglichen pathischen Impuls der Klärung mithilfe Anderer, die sich nur zusammen darüber werden verständigen können, wie der Negativität politischer Erfahrung entgegenzuwirken wäre. 62 Zumal unter heutigen, hochkomplexen politischen Bedingungen wäre es naiv, anzunehmen, das könnte evidenterweise und unmittelbar aus dem páthos politisch-ästhetischer Erfahrung hervorgehen 63; und zwar so, dass sich Und diese Klärung gelingt u. U. umso besser, je weniger man das páthos der fraglichen Erfahrung als ein ›Leiden‹ einstuft. Linderung, meint Rancière, bringt man am ehesten, »indem man […] Gründen zuhört«. »Das erste Heilmittel gegen das ›Elend der Welt‹«, schreibt er mit Blick auf Bourdieus bekanntes Buch zu diesem Thema, »ist die Offenlegung des Reichtums, den es in sich trägt« (PA, S. 302). 63 Keineswegs ist jenes páthos ohne weiteres als ›Leiden‹ einzustufen. Wer den Begriff des Widerfahrnisses unmittelbar mit dem eines (gesellschaftlichen) Leidens 62

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daraus sogar die Aussicht auf künftige, bessere Lebensformen wie ein »Versprechen« ableiten ließe (EZ, S. 59, 80), die uns anders zu sehen, zu hören und zu leben erlauben könnten. Rancière enthält sich jeglicher utopieverdächtigen Aussicht dieser Art und beschränkt sich darauf, politische und ästhetische Erfahrung sowie die zwei Sensorien der Politik und der Kunst für die doppelte Aufgabe zu sensibilisieren, sich einerseits um das In-Erscheinung-treten von Subjekten zu sorgen, »die den Namenlosen eine Stimme verleihen«, und sich andererseits an der »Ausarbeitung der sinnlichen Welt des Namenlosen« zu beteiligen (EZ, S. 80). Das Zur-Sprache-bringen ist die ureigene Aufgabe einer wirklich politischen, in einem wohlverstandenen Sinne ›ästhetisch‹ fundierten Politik; die sinnliche Erfahrbarkeit der Welt derer, die keine Stimme haben, ist die (bei Rancière bereits politisierte) Aufgabe ästhetischer Erfahrung und der Kunst (die sie sich eigens zur zentralen Angelegenheit ästhetischer Verfahren macht). Mehr nicht. Ausdrücklich entlastet Rancière sowohl politische als auch ästhetische Erfahrung, sowohl die Politik als auch die Kunst von dem Anspruch, bessere Lebensformen vorzuzeichnen, die künftige Geschichte zu verwirklichen hätte. Für ihn kann es keine Emanzipation von einem pathischen Leben mehr geben, das sich immer wieder neu und in unabsehbarer Art und Weise in Widerfahrnisse verstrickt, die es danach verlangen lassen, in Erscheinung zu treten und sich Gehör zu verschaffen. Niemals wird das mit Blick auf alle gelingen, die es verdient hätten; und niemals wird es ein Wir, eine Gemeinschaft, geben können, von der niemand mehr ausgeschlossen wäre. Auch universale Rechte können daran nichts ändern. Insofern sie kein ganz anderes Leben mehr in Aussicht stellen und ›versprechen‹ können, erscheinen nun sowohl die Kunst als auch die Politik als restlos entzaubert. Statt auf den »ausgelaugten Affekt der Empörung« zu setzen, baut Rancière in dieser Lage lieber auf einen »diskreteren Affekt […] unbestimmter Wirkung, der Neugier, des Wunsches, aus der Nähe zu sehen« (EZ, S. 123). Dieser Wunsch ist vor allem eine Angelegenheit der Aufmerksamkeit, die sich sowohl unerwartet auf etwas kurzschließt, zieht sich berechtigte Kritik zu, die differenziert erwogen wird bei E. Renault, Souffrances sociales. Philosophie, psychologie, et politique, Paris 2009, der an eine bis auf Franz Müller-Lyer (1914) zurückverweisende »Soziologie der Leiden« anknüpft, wie man sie in rollentheoretischen Begriffen bei H. P. Dreitzel resümiert findet: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Eine Pathologie des Alltagslebens, Stuttgart 31980.

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aufmerksam machen lässt als auch aktiv explorieren kann, was über jene »falschen Offensichtlichkeiten« hinaus ästhetisch und politisch in Erfahrung zu bringen ist. Dabei geht es nicht um die oft beklagte »Bilderflut«, d. h. um ein schieres Zuviel an Bildern, die das weniger ›Offensichtliche‹ kaschieren und schließlich vergessen lassen, sondern darum, dass wir »zu viele leidende Körper ohne Namen« sehen, »zu viele Körper, die nicht in der Lage sind, uns den Blick, den wir ihnen widmen, zu erwidern, zu viele Körper, die Gegenstand einer Rede sind, ohne selbst die Rede ergreifen zu können« (EZ, S. 114). So sehr Rancière darauf bedacht ist, sich von jeglichem Ethizismus fernzuhalten, der das Politische dem Anspruch eines verabsolutierten Anderen zu unterwerfen scheint (wie er irrtümlich glaubt), so wenig kann er hier den ethischen Impuls verheimlichen, der ihn umtreibt. Im Politischen, das auf das In-Erscheinung-treten-können eines jeden und insofern ästhetisch gegründet ist, geht es darum, dass jeder »Subjekt des Sprechens« sein kann – und zwar eines an Andere wirklich adressierbaren Sprechens, das eine echte Chance hat, erwidert zu werden. Da das niemals so gelingen kann, dass alle gleichermaßen Beachtung finden, muss man wenigstens die eingespielte »Zählung des Individuellen und Multiplen durcheinander« zu bringen versuchen. Doch das ist kein Selbstzweck, denn »es geht um den Typus von Aufmerksamkeit«, der eine derangierte Zählung hervorruft, in der wir ggf. nur einem einzigen Augenpaar Beachtung schenken (wie im Fall jener ruandischen, von Alfredo Jaar in Erinnerung gerufenen Frau und dreifachen Mutter, Gutete Emerita, die es mit ansehen musste, wie der größte Teil ihrer Familie einer Todesschwadron von Hutus zum Opfer fiel; EZ, S. 114 ff.). Die besondere Form der Aufmerksamkeit, die Rancière offenbar vorschwebt, erschöpft sich zweifellos nicht im ›Interesse‹ an ›interessanten‹ Bildern. 64 Sie folgt vielmehr pathisch der Spur dessen, was im Sichtbaren über es hinausweist – durchaus ausgehend von einer visuellen Lektüre des Bildes, die im genannten Fall weiß, worum es sich handelt, und die sich doch eingestehen muss, allenfalls eine vage Ahnung davon zu haben, was das Gesehene andeutet. So gibt das Bild nicht nur über jegliche Identifizierbarkeit von Sichtbarem hinaus zu sehen, indem es ›besticht‹, wie Roland Barthes sagen würde, sondern es gibt auch zu denken und wird damit politisch virulent, ohne selbst, als ästhetisches Objekt, je auf einen derartigen politischen Sinn unmittelbar verpflichtet zu 64

Siehe dazu G. Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München, Wien 1998.

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sein. So gibt es eine (indirekte) politische Dimension des Ästhetischen – und umgekehrt eine (indirekte) ästhetische Dimension des Politischen, wenn eine wirklich politische (nicht ›polizeiliche‹) Politik daran arbeitet, die Stimme von Namen- oder Anteilslosen vernehmbar zu machen. 65 Das für Rancière Entscheidende, was im besten Falle dabei passiert, ist eine mehr oder weniger vorübergehende oder dauerhafte Destabilisierung eines bislang eingespielten Sichtbarkeitsarrangements oder -dispositivs, das vorgibt, wer wie politisch überhaupt wahrzunehmen ist und insofern ›zählt‹ (EZ, S. 120). Sogenannter »Gemeinsinn«, der sich, ohne sich davon Rechenschaft abzulegen, gerne auf ein solches Arrangement verlässt und es sich nicht ohne weiteres vorstellen kann, dass etwas Anderes (und anders) wahrzunehmen sein soll, wird auf diese Weise durchkreuzt; und zwar so, dass wenigstens vorübergehend deutlich wird, dass er auf Vorentscheidungen beruht, die niemals ganz und gar zu rechtfertigen sind. Was auch immer man für gerechtfertigt oder gerecht hält, setzt bereits voraus, dass man diejenigen ›im Blick‹ hat, für die das gelten soll. Aber mit welchem Recht hat man zuvor einige, aber nicht alle (was unmöglich ist), diese, aber nicht jene ›in den Blick genommen‹ – und sich womöglich nicht einmal die Frage gestellt, was für eine Gewaltsamkeit darin liegen kann? Es gibt für Rancière überhaupt kein Sichtbarkeitsarrangement, das nicht mit einer erheblichen Kontingenz dessen behaftet wäre, was es selektiv-exklusiv sichtbar werden lässt – nicht ohne Anderes zu überschatten, übersehen zu lassen oder ganz zu verdrängen. Die theoretische Optik Rancières, als eines Theoretikers des Politischen, der es im skizzierten Sinne unumgänglich ›ästhetisch‹ fundiert versteht, macht genau darauf immer wieder aufmerksam – und zwar so, dass schiere Kontingenz nicht das letzte Wort hat bzw. haben kann. Schließlich sind wir nicht nur ›am Leben‹, sondern leben es so, dass dabei immer auch dessen Lebbarkeit auf dem Spiel steht; und wenn es sich in der Negativität politischer Erfahrung konkret abWie wir derzeit an reichlich kommunizierten, vielfach aber höchst einseitige Einblicke vermittelnden Bildern von Flüchtlingen erkennen können, überschatten alsbald auch neuartige, ungewohnte Bilder die virtuelle Präsenz von Anderen. Nicht nur »hinter Rhetoriken der Gemeinschaft«, wo Rancière das »Gold der Ausbeutung« wittert, auch hinter Rhetoriken der Einbeziehung Fremder ist das, was sie unkenntlich macht und buchstäblich übersehen lässt, vielfach »nur durch die Gewalt des Konflikts zu entdecken« (Politik der Bilder, S. 70).

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zeichnet, wie, dann ist es unabdingbar, d. h. existenziell notwendig, sich zu artikulieren und die Stimme zu erheben, um gehört zu werden – sei es auch im Namen Anderer, die ihrerseits keine Stimme haben. Stets geht es dabei um so oder so versäumtes, verfehltes, »von sich getrenntes« oder »verlorenes Leben«, das sowohl ästhetisch als auch politisch irreführenden, täuschenden und ideologischen Bedingungen der Sichtbarkeit ausgeliefert ist (EZ, S. 103 f., 106). Deswegen suchen wir nach veränderten Bedingungen einer anderen, neuartigen Sichtbarkeit 66 – sei es durch die politische Artikulation von Dissens, sei es durch ästhetische Arbeit an Spielräumen des Erscheinens im an-archischen Interesse der Befreiung von jeglicher Herrschaft. Wenn ästhetische Arbeit in diesem Sinne konsequent ist, verzichtet sie auf beabsichtigte politische Wirkung, erzielt aber möglicherweise gerade dadurch indirekt einen politischen Effekt. Sie gibt Betrachtern und Hörern zu sehen und zu hören, indem sie wirklich sehen und hören lässt und dabei der Versuchung widersteht, der Wirkung vorgreifen zu wollen. Allenfalls indirekt gibt das zu sehen und zu hören Gegebene auch zu denken. So spricht Rancière von einer »Nachdenklichkeit des Bildes« (EZ, S. 143), das niemals unvermittelt nachdenklich machen ›will‹. Es wäre auch entschieden zu viel verlangt, wollte man ästhetische Arbeit am Sichtbaren, die indirekt politisch zu denken gibt, unvermittelt zum Anlass einer »Verhandlung über das Sichtbare« nehmen (KW, S. 38). Das Sichtbare als solches ist streng genommen ebenso wenig ›verhandelbar‹ wie das Unsichtbare. Allenfalls kann man anfechten, wer oder was unter bestimmten Bedingungen sichtbar oder unsichtbar wird. Und man kann diese Bedingungen transformieren; etwa so, dass eine demokratisierte aísthēsis 67 für die Kontingenz bestimmter Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten sensibilisiert und dass sie entsprechende Grenzziehungen flexibler und durchlässiger macht, so dass nicht ein für alle Mal diejenigen, die jetzt »im Dunklen« stehen, auch dort bleiben müssen, weil überhaupt niemand in einer beschränkten, verhinderten oder verleugneten Wahrnehmung Anderer ein politisches Problem erkennt. Jeder »Beliebige«, fordert nun offenbar auch Rancière, soll als politisches Subjekt teilhaben können am politischen Spiel variabler Ich entlehne hier bewusst Formulierungen Rancières, die er in einem anderen Zusammenhang gebraucht (EZ, S. 106). 67 Rancière, »Politisches Denken heute«, S. 6, rechte Spalte. 66

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und flexibler Ziehung von möglichst permeablen Grenzen. Das ist für ihn das Mindeste, was man von einer demokratisierten aísthēsis sollte verlangen können (KW, S. 60 f.). Dabei weiß er, dass es überhaupt keine Permanenz politischer Subjektpositionen geben kann, die auf Dauer von sich aus stabil bleiben könnte. Aus seiner Sicht gibt es nur »Räume möglicher Subjektivierung«, durch die es möglich wird, in unerwarteter Art und Weise gesehen und gehört zu werden (KW, S. 67 68) – aber auch wieder aus jenem Spiel herauszufallen. Ist das aber nur eine Frage des Kampfes derjenigen, die infolgedessen wieder um ihr politisches Leben ringen müssen? Oder handelt es sich auch um eine Angelegenheit derer, die an ihrem politischen Subjektstatus gar nicht zweifeln müssen und sich »mit dem Spiel der Interessen, welche die Welt regieren«, scheinbar liberal abfinden? Liegt darin tatsächlich »die Hoffnung der Demokratie oder die Trauer um sie« (PA, S. 288, 291)? Zweifellos: es wäre um die Demokratie traurig bestellt, wenn man allen nur ans Herz legen könnte, um ihr politisches Wahrgenommenwerden selbst zu kämpfen. Denn dazu sind Ungezählte, die doch ›zählen‹ wollen und sollten, schlicht gar nicht in der Lage. Müsste es nicht im Interesse derer liegen, die ›im Licht stehen‹, sich um diejenigen zu sorgen, die nicht gesehen werden? Riskieren sie andernfalls womöglich gewaltsame und ruinöse Konflikte? 69 So gesehen haben die demokratischen Spiele derer, die ›im Licht stehen‹ und sich zu den ihnen zustehenden gerechten Anteilen gratulieren, die dunkle Kehrseite eines Überlebenskampfes, den die nicht Sichtbaren womöglich nicht bestehen können, obwohl sie formell alle Rechte von MitbürgerInnen genießen. Im Rechtsstaat und in einer sittlichen Welt der Anerkennung, die manche Autoren ganz auf ihn zugeschnitten verstehen, gilt es ein nicht zu verrechtlichendes Milieu der Wahrnehmung nicht zu vergessen, in dem sich bereits entscheidet, wer zählt und wer nicht, wer in Betracht kommt, wer beachtet wird und wer nicht. Da man niemals alle beachten kann, ist man scheinbar immer im Vorhinein exkulpiert, wenn man Andere übersieht und überhört, die genau das ihr (politisches) Leben kostet. Nicht nur am Rande, sondern auch inmitten einer demokratischen, vom ›Licht der Öffentlichkeit‹ beherrschten Welt anerkannter Würde und Im folg. Kap. XX, 2 wird darauf zurückzukommen sein. Ebd., S. 7, mittlere Spalte; J. Rancière, »Konsens, Dissens, Gewalt«, in: M. Dabag, A. Kapust, B. Waldenfels (Hg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S. 97–112.

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verbriefter Rechte droht sich so ein dunkler Schatten auszubreiten: der Schatten einer Selbstgerechtigkeit, die diese tödlichen Konsequenzen unter Hinweis auf ihre Unvermeidlichkeit mehr oder weniger gleichgültig hinnimmt. Wer wie Rancière den Finger in diese Wunde des Demokratischen legt, hat immerhin eines erreicht: er hat dieser Selbstgerechtigkeit den Boden entzogen.

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Kapitel XX Demokratie, Dissens und Freimut – der Rede und des Zuhörens Dringt zu Bürgern […] ein Fremder ein, […] verstummt sein Mund […], frei zu reden wagt er nicht. Euripides 1 Damit der Stärkste vernünftig regieren kann, muß der Schwächste zum Stärksten sprechen. Michel Foucault 2 Jetzt empfang ich alles ohne Furcht von dir. Sophokles 3

1.

Zur aktuellen Demokratietheorie

Dort, wo essentielle Elemente des Demokratischen abgeschafft oder empfindlich eingeschränkt werden (wie derzeit die Pressefreiheit in der Türkei, das Asylrecht in Ungarn oder die Unabhängigkeit der Justiz in Polen), erhebt sich berechtigter, vielfältiger und unmissverständlicher Protest; sowohl in den betroffenen Staaten selbst als auch in ganz Europa, wo man sich daran erinnert, wofür der Begriff Demokratie eigentlich stehen sollte. Doch wo letzterer wie bei Francis Fukuyama oder Richard Rorty nur Ausdruck eines westlichen Selbstbewusstseins zu sein scheint, mit dem man jene Elemente anderswohin exportieren möchte, um gleichzeitig eigene Machtinteressen durchzusetzen, wird immer häufiger ein intellektueller Überdruss artikuliert, der gelegentlich so weit geht, dass man mit Alain Badiou verlangt, sich gar nicht mehr auf ›Demokratie‹ zu berufen, um überhaupt noch die Chance zu haben, zu verstehen, was unter diesem

Euripides, »Ion«, 670 ff., in: Sämtliche Tragödien und Fragmente, München 1972 ff., Bd. 4. 2 M. Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Frankfurt/M. 2009, S. 179 (= RS). 3 Sophokles, König Oidipus, Düsseldorf, Zürich 1999, S. 45; zit. in RS, S. 76. 1

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Titel realiter vor sich geht. 4 Dient dieser Begriff nur noch als »Feigenblatt des Marktdespotismus« (Daniel Bensaïd; Kristin Ross 5), mit dem man eine ökonomische Oligarchie bemäntelt, deren finanzkapitalistische Version der Chrematistik längst ihre völlige Entbindung von jeglicher politischen »Einbettung« (Karl Polanyi) offenbart hat? 6 Kaschiert die Rede vom Demokratischen einen real existierenden Neoliberalismus, der die Gleichheit vor dem Gesetz längst ausgehöhlt und die politische Substanz des Demokratischen zugrunde gerichtet hat, wie Wendy Brown meint? 7 Wie dem auch sei, vielleicht ist das Einzige, was Demokratien wirklich ehrt, dass sie sich radikaler Kritik aussetzen – wenn auch der Verdacht nicht von der Hand zu weisen ist, dass ihre marktförmige und konsumistische Organisation jegliche Kritik absorbieren und auf diese Weise um ihre praktische Wirksamkeit bringen kann. 8 Noch aus den radikalsten Verlautbarungen ihrer Kritiker schöpfen rückhaltlos ökonomisierte Demokratien symbolischen Mehrwert und liefern sie einer alles nivellierenden Gleichheit oder Austauschbarkeit auf einem Markt aus, in dem es scheinbar nichts gibt, was keinen Preis hat. 9 Im Wissen darum versuchen sich seit etwa vier Jahrzehnten immer mehr Autoren an einer ›radikalen‹ Revision des Demokratischen, um herauszuarbeiten, was es als solches ›eigentlich‹ ausmacht, allen ideologieverdächtigen und missbräuchlichen Berufungen auf diesen Begriff nach wie vor zum Trotz. So hart man mit einem ideologieverdächtigen Gebrauch des Demokratiebegriffs ins Gericht geht, so irritierend ist nun aber auch die Uneinigkeit, die unübersehbar zu Tage tritt, sobald es um eine positive Bestimmung nicht-ideologischer, essentieller Elemente des Demokratischen geht. So ist für Giorgio Agamben klar, dass Demokratie entweder die 4 A. Badiou, »Das demokratische Wahrzeichen«, in: G. Agamben et al., Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012 (= D), S. 13–22. 5 D. Bensaïd, »Der permanente Skandal«, in: D, S. 23–55, hier: S. 23; K. Ross, »Demokratie zu verkaufen«, in: D, S. 96–115, hier: S. 111. 6 D, S. 114; K. Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978; ders., Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 182 f. 7 W. Brown, »Wir sind jetzt alle Demokraten«, in: D, S. 55–71, hier: S. 59. 8 J. Rancière, Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009, S. 44 f. (= EZ). 9 Das suggeriert Kristin Ross unter Verweis auf Arthur Rimbaud; D, S. 109–112. Zum hier einfließenden Begriff der Ökonomisierung vgl. auch A. Margalit, »I. Indecent Compromise. II. Decent peace«; http://tannerlectures.utah.edu/_documents/ato-z/m/Margalit_2006.pdf

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XX · Demokratie, Dissens und Freimut

Verfassung eines Gemeinwesens oder eine Regierungstechnik meint. Erstaunlicherweise erwähnt dieser Theoretiker des Politischen, der so viel Aufhebens vom grundlegenden Unterschied von zoé und bíos gemacht hat, in diesem Zusammenhang nicht, dass man die Demokratie auch als Lebensform, als gelebte Form des Politischen, auffassen kann 10 – und vielleicht muss. Heute, behauptet Agamben mit Verweis auf Michel Foucault, hätten wir es mit einer überwältigenden Vorherrschaft von Regierung und Ökonomie über eine weitgehend »entleerte Souveränität« zu tun. Darin liege heute das »zentrale Rätsel der Politik«, und »nicht in der Souveränität« als solcher (D, S. 11). Dem widerspricht schroff Wendy Brown. Für sie beinhaltet der Begriff Demokratie gerade »den einfachen und rein politischen Anspruch, dass ein Volk sich selbst regiert und dass das Ganze, nicht nur der eine oder andere Teil, souverän ist« (D, S. 56). Ob es sich um eine repräsentative Form der Selbstregierung handeln muss oder nicht, sei eine sekundäre Frage. Im Übrigen beruhe die Demokratie einzig und allein auf einem Freiheitsversprechen, »nie« auf Gleichheit. »Nur die Demokratie kann uns frei machen, weil wir nur in der Demokratie Urheber der Mächte sind, die uns regieren« (D, S. 64). Rancière insistiert demgegenüber gerade auf Gleichheit 11, nicht auf Freiheit und nicht auf souveräner, stets territorial abgegrenzter Volksherrschaft (D, S. 61), die im Zeichen permeabler Grenzen und globaler Migrationsbewegungen sehr leicht als anachronistisch erscheinen kann. 12 Wenn Brown kategorisch behauptet, von Geburt an seien wir a priori freie Subjekte und nur die (moderne) Demokratie sei insofern legitimierbar (D, S. 64), so muss Rancière, der sich auch als Historiker des Politischen versteht, widersprechen. Was politische Lebensformen, darunter demokratische, immer schon ausgemacht habe und weiterhin ausmache, sei eine faktisch immer selektive Realisierung der Freiheit; und zwar aufgrund einer bis heute und auch in Zukunft nicht auszuräumenden Ungleichheit. Hegels berühmte BeG. Agamben, »Einleitende Bemerkungen zum Begriff Demokratie«, in: D, S. 9–12, hier: S. 9; ders., Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/ M. 2002, S. 11 ff., 191 ff.; ders., Mittel ohne Zweck, Freiburg, Berlin 2001, S. 37. 11 »Man muss von der Gleichheit ausgehen«, und zwar im Sinne eines »Ausgangsaxioms«, behauptet J. Rancière in: Der Philosoph und seine Armen, Wien 2010, S. 301 (= PA). Ich werde diesen Einsatz von Rancières Politischer Philosophie mit einer offenkundigen Setzung hier nicht eigens diskutieren. 12 J. Rancière, »Demokratien gegen die Demokratie. Gespräch mit Eric Hazan«, in: D, S. 90–95. 10

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hauptung – der zufolge bereits »in der germanischen Welt […] Alle frei« 13 gewesen seien, so dass sich durch das Christentum nach und nach das »allgemeine Prinzip« der Freiheit der Person in der Moderne habe endgültig durchsetzen können 14 – kaschiert aus Rancières Sicht den unbestreitbaren Befund, dass auch moderne demokratische Lebensformen ein konstitutives Moment der Ungleichheit beinhalten, insofern sie mehr oder weniger viele Andere von effektiver Gleichheit ausschließen; und zwar unvermeidlich. Keineswegs ›zählen‹ nämlich im Sinne der Gleichheit alle (gleich); stets ›verrechnet‹ man sich, wenn man angeben will, wer ›zählt‹ ; und stets gibt es neuen Grund für Ausgeschlossene, ihre Gleichheit zu reklamieren, um auf diese Weise deutlich zu machen, dass sie tatsächlich politisch existieren und ›zählen‹ wollen bzw. sollten. Das ist nicht von Geburt an und kraft irgendeiner Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft zu einem Gemeinwesen, sondern nur im Maße effektiven Gehörtwerdens der Fall. Wer seine Stimme nicht erheben kann oder überhört wird, ist politisch quasi tot (wenn auch nicht unbedingt endgültig). Rancière spricht in diesem Zusammenhang von einem anarchischen politischen Subjektivierungsmodus 15, der weder auf einen Gesellschaftstyp noch auf eine Regierungsart zu beschränken sei (D, S. 34, 90). Insofern liegt es nahe, diesen Modus als Angelegenheit politischer Lebensformen zu verstehen 16, denen es darum geht, die in gegebenen Gesellschaften und Regierungsformen bereits vorausgesetzte und nicht weiter befragte politische Existenz Anderer überhaupt wahrzunehmen und sie dadurch gelten zu lassen, dass man ihnen wirklich Gehör schenkt. Darin manifestiert sich für Rancière die elementarste demokratische Gleichheit, ohne die es eine effektive Ausübung politischer Freiheit überhaupt nicht geben könne. 17 Während Rancière seine Überlegungen dazu vielfach mit Blick G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke 12 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 134. 14 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, § 62. 15 Vgl. zu diesem Begriff J. Rancière, »Politique, identification, subjectivation«, in: ders.: Aux bords du politique, Paris 1998, S. 83–92. 16 Rancière gebraucht den Lebensformbegriff häufig, wenn auch nicht terminologisch. Vgl. dazu Vf., »Unaufhebbare Gewaltsamkeit im Versprechen demokratischer Gleichheit? Zur sinnlichen Dimension des Politischen bei Jacques Rancière«, in: Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politischen Theorie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015, Kap. XI. 17 Vgl. P. Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen [2011], Berlin 2017, S. 313. 13

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auf immanente Probleme politischer Subjektivierung innerhalb einer politischen Lebensform entfaltet, insistiert Jean-Luc Nancy, die Demokratie müsse sich »für alle öffnen«. 18 Bevor sie eine Gesellschaft oder eine Regierungsart ausmachen könne, müsse sie überhaupt erst »Bedingungen des Zugangs« zu politischem Leben sicherstellen; und das sei eine »unabschließbare« Aufgabe, der sie nie in einer fertigen Form endgültig gerecht werden könne (D, S. 88). Das gilt erst recht dann, wenn jede politische Lebensform durch Zuzug, Migration und Flüchtlinge in großer Zahl zunächst von außen und dann auch von innen herausgefordert wird. So bewegt sich Nancy in Richtung auf Jacques Derridas Konzept einer de-limitierten Demokratie, die sich gleichfalls nicht auf eine Regierungsform, Verfassung oder Institution reduzieren lässt (D, S. 115). Praktisch muss sich eine so aufgefasste Demokratie als eine Lebensform bewähren, die als politischdemokratische nur insofern gelten kann, als sie sich auch Nicht-Zugehörigen und Nicht-Mitgliedern gegenüber öffnet (RS, S. 204), d. h. indem sie sich als eine gastliche erweist. Für Nancy steht fest, dass sie sich dabei weder auf eine bereits bestehende Gemeinschaft reduzieren lässt noch auf Wiedervergemeinschaftung abzielen darf. Vielmehr müsse sie die »Aufnahme« der Verschiedenen in eine sie nicht »vereinheitlichende« Gemeinschaft in Aussicht stellen. Ob und wie das gelingen kann, wäre, wenn wir Nancy folgen, einer »Ontologie der Wahrheit des Miteinanders« zu entnehmen (D, S. 81, 83 ff.). Was Andere als solche ausmacht, für die sich eine de-limitierte Demokratie öffnen soll (bzw. für die sie immer schon ›offen‹ war), ist allerdings ontisch und ontologisch kaum mehr ›dingfest‹ zu machen. Keineswegs geht es hier nur um Fragen des Verschieden- und Andersseins, wie es Politiken der Differenz gegenwärtig glauben machen wollen 19, sondern auch um eine Alterität, die sich einer Identifikation von Seiendem und dem Sein entzieht. Dessen ungeachtet setzt Nancy, mit Blick auf Heideggers »Mitsein«, eine Sozialität voraus, die nur durch politische Macht »zu garantieren« sei, da die »Menschlichkeit des Menschen« anders nicht Bestand haben könne (D, S. 74). Allerdings ist diese Sozialität nicht immer schon politisch; vielmehr wird sie erst politisiert im Zuge der Formierung einer Gesellschaft, die vor allen anderen Aufgaben (wie der Sorge um ein gemeinsames Wohl der Regierten) »Bedingungen des Zugangs« zu ihr gewährleisten 18 19

J.-L. Nancy, »Begrenzte und unendliche Demokratie«, in: D, S. 72–89, hier: S. 87. Vgl. den aktuellen Diskussionsbericht im Kap. XXI.

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muss. So gesehen gibt es Gesellschaft nur dort, wo man sich um deren eigene Offenheit für alle jene sorgt, die ihr nicht ›immer schon‹, von Geburt an, zugehören. Das wird überall dort verkannt, wo man meint, ihre Grundlage sei als dêmos, als Volk, einfach vorhanden, mit dem sich jeder, der ihm zugehört, ohne weiteres scheint exklusiv identifizieren zu dürfen. In diesem Sinne sollte es keine Demokratie geben; und in diesem Sinne sollten wir nicht Demokraten sein. Genau genommen ist die Parole »Wir sind das Volk« immer falsch. Das Volk ist niemals eine schlichte Gegebenheit, die sich jemand aneignen dürfte, der sich auf das Volk beruft. Es existiert nur im Maße einer problematischen Berufung auf eine politische Zugehörigkeit, die in dem Moment pervertiert wird, wo einige behaupten, sie ganz und gar für sich selbst in Anspruch nehmen zu dürfen – so als ob sie mit dem Volk zusammenfallen könnten, sei es auch mit den besten sozialen und politischen Absichten. 20 Niemand ist einfach das Volk; und nur diejenigen sind unter bestimmten, legitimierten Bedingungen dazu berechtigt, »im Namen des Volkes« sprechen, die niemals behaupten, es zu sein und deshalb für es handeln zu dürfen. Niemand ist also das Volk, zu dessen bloß imaginierter Einheit man sich allenfalls unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen vorübergehend zählen darf bzw. gezählt wird. Und dafür muss jeder erst einmal in Betracht kommen können. Wer nicht in Betracht kommt, existiert nicht (politisch), behauptet Rancière. Dass nur diejenigen in Betracht kommen können, die bereits einem dêmos zugehören, scheinen Nancy und Derrida zu verneinen, wenn sie die ›menschliche‹ De-Limitation des Demokratischen so verstehen, dass es auch dem Fremden Zugang gewähren muss – wenigstens im Sinne der Frage, ob (und wie) er politisch ›zählt‹ oder ›zählen‹ sollte. 21 Wo der Fremde nicht einmal diese Frage aufwerfen kann, schließen sich Demokratien rigoros nach außen ab – so wie sie es gegenwärtig vielfach gegenüber Flüchtlingen versuchen, in deren Verlassenheit Slavoj Žižek eine Bestätigung der homo-sacer-Theorie Agambens zu erkennen meint. 22 Die Flüchtlinge lässt man demnach am liebsten ganz ›draußen‹, einem nackten, d. h. depolitisierten, zu einem politischen Tod verVgl. L. S. Feuer, Psychoanalysis and Ethics, Westport 1973, S. 79 f., sowie Anm. 40 f. zu Kap. XIX. 21 »Wir Demokraten«, das wären demnach diejenigen, die den fremden Anderen aufnehmen, der nicht zu ›uns‹ gehört, oder wenigstens dazu bereit sind und sich insofern einer Kultur der Gastlichkeit verpflichtet wissen. 22 S. Žižek, »Das ›unendliche Urteil‹ der Demokratie«, in: D, S. 116–136, hier: S. 125. 20

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urteilten Leben überantwortet, aus dem heraus sie scheinbar überhaupt keinen Anspruch mehr stellen können, um ihr Begehren vorzubringen, politisch zu ›zählen‹. – Aber sind sie denn faktisch auf nacktes und ethisch indifferentes Leben reduziert, das im Sinne dieser Frage scheinbar niemanden mehr etwas angeht? Ist das etwa eine schlichte Tatsache? Und ergibt diese sich aus einfacher politischer Beobachtung? Wie die europaweit vielfach spontan organisierte Sorge für sie zeigt, sind sie so wenig politisch schlicht inexistent bzw. tot, wie andere ganz selbstverständlich ein Volk sein können, mit dem sie sich exklusiv identifizieren dürften. Eben weil die Grenzen zwischen denen, die sich einem Volk zurechnen, und Fremden, die aus jeglicher politischen Zugehörigkeit und Mitgliedschaft herausgefallen sind, nicht eindeutig und undurchlässig gezogen sind, kann sich zwischen denjenigen, die ›draußen‹ sind, und anderen, die sich als Bürger der Zugehörigkeit zu einem Volk meinen sicher sein zu dürfen, ein ständiges Geschehen der Politisierung abspielen. Darin entscheidet sich, wer überhaupt für wen (politisch) ›zählt‹ – und wer gegebenenfalls herausfällt aus politischem Leben, um einer de-politisierten Existenz überantwortet zu werden, die eine Re-Politisierung nötig machen kann, wie sie besonders von NGOs für Flüchtlinge und Migranten gefordert wird, die fragwürdige internationale Abkommen nunmehr im Nahen Osten und an den Nordküsten Afrikas draußen halten und auf diese Weise unsichtbar und unhörbar machen sollen. Wer oder was entscheidet aber hier? Nicht »die Macht […] der Bevölkerung oder ihrer Mehrheit, sondern vielmehr die Macht eines jeden« (D, S. 104). In ihr liege die entscheidende, infolge einer derartigen Ausweitung allerdings von einer globalen multitude kaum mehr zu unterscheidende Macht des dêmos, meint Kristin Ross. 23 Tatsächlich steht es aber in niemandes Macht allein, politisch zu existieren. Überhaupt niemand kann allein aus eigener Kraft politisch existieren. Das gelingt nur durch ein effektives Geschehen der Inanspruchnahme durch soziale Wesen, denen alles daran liegt, Andere auf Erwiderung hin anzusprechen. Diese minimale Sozialität setzt das Politische in allen seinen (Regierungs- und Herrschafts-)Formen bereits voraus. Demokratische Form nimmt es aber erst dann an, wenn Vgl. J. Rancière, »Peuple ou multitudes?«; [Entretien avec E. Alliez]; http:// multitudes.samizdat.net/spip.php?page=imprimer&idarticle=39; P. Virno, Grammatik der Multitude. Die Engel und der General Intellect, Wien 2014.

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sich diejenigen, die sich einem dêmos zurechnen, durch Andere und Fremde im Hinblick auf den Anspruch, politisch zu ›zählen‹, in Anspruch nehmen lassen, d. h. wenn sie sich öffnen für den Anspruch gerade derer, die im Sinne des ›Zählens‹ nicht dazugehören, die insofern keine Stimme haben, aber zu ›zählen‹ begehren müssen, weil davon ihre (politische) Existenz abhängt. Jenes Geschehen der Politisierung bzw. einer Subjektivierung, durch die es Fremden in der Inanspruchnahme Anderer überhaupt erst möglich wird, als solche, die ›zählen‹ wollen, buchstäblich in Betracht zu kommen, wird sich niemals in einer ›fertigen‹ demokratischen Regierungs- oder Gesellschaftsform nach Regeln institutionalisieren lassen. 24 Insofern bleibt es der Anarchie eines demokratischen Lebens anheimgestellt, ohne Rekurs auf vorgegebene und nur noch anzuwendende Regeln jedes Mal, angesichts jedes Anderen, neu herauszustellen, ob und wie er oder sie ›zählen‹ kann; und zwar zunächst wirklich nur im Sinne dieser Frage, die noch ganz und gar offen lässt, wie sie gegebenenfalls zu beantworten ist und wie die Ansprüche derjenigen, die ›zählen‹, konkret zu gewichten sind. Man sieht nach diesem kurzen Parcours durch aktuelle Positionen Politischer Philosophie, wie uneinig man darin ist, was Demokratie im Kern, nach wie vor und ungeachtet aller missbräuchlichen, ideologieverdächtigen Verwendungen dieses Begriffs, ausmacht oder ausmachen müsste. Dabei zeichnet sich im Verlauf der Diskussion, die es zufolge einer in den 1980er Jahren gestellten Diagnose bereits mit einem weitgehenden »Verschwinden« oder »Rückzug« des Politischen im Allgemeinen zu tun hatte 25, eine besonders im Werk Rancières deutlich hervortretende Tendenz ab: von Fragen der Regierungstechnik, die nach Agamben und Foucault derzeit vorherrschen, nicht nur zu Revisionen des Begriffs souveräner (Volks-)Herrschaft überzugehen (Brown), sondern auch neu in Frage zu stellen, worum es im Demokratischen geht (Freiheit und/vs. Gleichheit). Im Gegensatz zu Brown, die die Freiheit als a priori oder von Geburt an ›gegeben‹ auffasst, fragt Rancière, wie sich das ereignet, worum es im Demokratischen geht; und Nancy öffnet den Horizont einzelner po-

Vgl. P. Bojanić, »Europe as Contre-Institution: Hospitality versus Sovereignty. Saint-Simon with Jacques Derrida«, in: B. Liebsch, M. Staudigl, P. Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik, Weilerswist 2016, S. 653–663. 25 Siehe Anm. 32 zu Kap. I. 24

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litischer Lebensformen, in dem sich Rancière weitgehend bewegt, nachdrücklich auf einen wie auch bei Derrida de-limitierten Horizont hin, der die Grenzen jeglichen ›Volks‹ sprengt. Infolgedessen wird denkbar, dass sich das ›elementarste‹ Demokratische zwischen Beliebigen und jedem Anderen abspielen kann. Der Begriff des Demokratischen bezieht sich hier offensichtlich weder auf eine Herrschaftsoder Regierungsweise noch auch bereits auf eine bestimmte politische Lebensform, sondern auf das originäre Geschehen des Politischen selbst, in dem zugleich auf dem Spiel steht, worum es dabei geht. Das Demokratische ist dem Aufeinandertreffen Beliebiger auch in diesem Sinne rückhaltlos ausgesetzt. Dabei steht es niemandem allein und souverän zu Gebote, insofern es sich als soziales Geschehen von Anspruch und Erwiderung nur ›zwischen uns‹ ereignen kann, ohne das niemand politisch zu existieren vermag. Weder können Fremde ganz aus eigener Kraft erzwingen, wirklich Gehör zu finden, noch können sich diejenigen, die sich einem Volk zugehörig wissen, ganz und gar gegen entsprechende Versuche immunisieren. Gewiss kann man darauf abzielen; aber radikal wird man damit niemals zum Erfolg kommen, solange man Andere nicht absolut derart mundtot machen kann, dass ausgeschlossen ist, dass deren Stimme je wieder ihre Adressaten erreicht. Geht die Überlieferung Politischer Theorie zunächst von Prinzipien der Herrschafts- und Regierungsformen eines Volkes aus, (in) dem es um Freiheit und/oder Gleichheit geht, so mündet sie gegenwärtig in die Beschreibung der An-Archie ein- und gegenseitiger Inanspruchnahme in einem de-limitierten Geschehen politischer Subjektivierung, durch das überhaupt erst die politische Existenz von Subjekten bezeugt wird, die ›zählen‹ – sei es unsere eigene, sei es die Existenz Fremder, die sich durch keine scheinbar unverbrüchliche, nach außen abgeschottete Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft oder Gesellschaft mehr ganz und gar ›außen vor‹ halten lässt. Schon gar nicht in Zeiten gegenseitiger medialer Diffusionen weit voneinander entfernter Lebenswelten, millionenfacher Migration und Flucht, von der man im Horizont einer in statu nascendi sich befindenden WeltGesellschaft nicht mehr ohne weiteres sagen kann, sie gehe einen überhaupt nichts an. 26 26 Vgl. die aktuellen Situationsbeschreibungen bei P. Collier, Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, München 2014; W. Grenz, J. Lehmann, S. Kessler, Schiffbruch. Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik, München 2015.

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Man fragt sich allerdings, ob die Politische Philosophie auf diesen Denkwegen nicht weitgehend die kaum zu umgehende institutionelle Verfasstheit von Formen des Demokratischen aus den Augen verloren hat. Von den zitierten Autorinnen und Autoren unternimmt, so weit ich sehe, keine(r) den Versuch, eine bestimmte demokratisch-institutionelle Ordnung zu denken. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass das politische Denken in Institutionen wenig gegen eine Selbstgerechtigkeit gefeit ist, die uns glauben lässt, die Einrichtung einer demokratischen Ordnung verbürge auch schon, dass eine Demokratie ›funktioniert‹, die ihren Namen tatsächlich verdient. Bedürfen demokratische Institutionen aber nicht immer wieder des Rückhalts in einer erst zu regelnden, in Ordnung zu bringenden, zu instituierenden Realität, ohne deren zunächst ungeregelte, nicht immer schon geordnete und erst im Prozess der Instituierung befindliche Dynamik sie alsbald verkümmern müssten? Diese Frage erinnert von ferne an Aporien einer Kulturkritik, die auf ein »tragisches« Missverhältnis von Leben und Form aufmerksam gemacht hat. 27 Im Bereich der Politischen Philosophie haben wir es mit einer parallelen Problematik zu tun. Alle radikalen Kritiker des Demokratischen wenden sich gegen das Vorurteil, es könne in fertigen institutionellen Formen durchgängig geregelt werden, ohne es auf diese Weise zugleich zu ersticken. Wo sie jegliche Form unterlaufen, nimmt ihr Denken infolgedessen einen anarchistischen Zug an. Allerdings nicht umwillen einer naiven, letztlich unpolitischen Verweigerung jeglicher politischen Form, vor allem des Staates, sondern gerade umwillen einer politischen und existenziellen Vitalisierung demokratischer Lebensformen, denen ›Leben‹ nur in dem Maße zuzusprechen ist, wie es sich nicht in einer fertigen Form aufheben lässt. Damit die Demokratie nicht geradezu infolge ihrer Institutionalisierung ›stirbt‹, die man – in historischer Perspektive gewiss nicht ohne Grund – als Erfolg feiert, sich selbst als symbolischen Besitz auf die Fahnen schreibt und als zum Export geeignet anpreist, überlegt man, ob und inwieweit sie mitsamt ihren institutionellen Formen einer immer neuen Infragestellung ausgesetzt werden kann bzw. immer schon ausgesetzt gedacht werden muss. Es kann nicht ausbleiben, dass dieses Ausgesetztsein die Ambivalenz einer möglicherweise ruinösen Aussetzung des Demokratischen selbst heraufbeschwört, die gewisserma27

G. Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt/M. 1987.

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ßen lebensgefährlich für es werden muss. 28 Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, wie sich Rancière zu dieser Herausforderung eines radikal-demokratisch revidierten Demokratiebegriffs verhält.

2.

Das Geschehen originärer Politisierung als Subjektivierung

Rancière beunruhigt das Paradox, dass man die Demokratie gegenwärtig gerade durch diejenigen bedroht sieht, die Anteil an ihr haben wollen (D, S. 91). Tatsächlich lassen sich derzeit viele politische Demonstrationen – von Griechenland und Portugal über Polen bis nach Island – genau so verstehen: als kollektives Einklagen von Teilnahme und Teilhabe. Verspricht die Demokratie nicht genau das: am politischen Leben Anteil zu haben? Müssen politische Lebensformen das nicht versprechen, soweit sie als demokratische gelten sollen? Dürfen sie als solche überhaupt jemanden ganz und gar ausschließen? Müssen sie nicht wenigstens den Anspruch eines jeden (sogar »Beliebiger«) daraufhin prüfen, ob und wie er oder sie ggf. Anteil haben kann und darauf vielleicht sogar ein Anrecht hat? Was auch immer Demokratien darüber hinaus als institutionalisierte politische Lebensformen verbürgen müssen, ohne dieses Minimum, davon ist Rancière offenbar überzeugt, verdienen sie ihren Namen auf keinen Fall. Sofern politische Lebensformen nur noch in geregelter, normalisierter Art und Weise zwischen denen funktionieren, die ihnen zugehören, ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, ob es nicht vielleicht einige gibt, die keinen Anteil an ihnen haben, realisieren sie nur eine »polizeiliche« Ordnung, in der sich am Ende gar keine Politik mehr ereignet. Bei dem, was man üblicherweise Politik nennt, handelt es sich dann nur noch um eine Verwaltung, die die elementarste Frage des Politischen bzw. wirklicher Politik, in der das Politische geschieht, die Frage der Gleichheit nämlich, überhaupt nicht mehr aufwirft. Dass sich Politik in Polizei verwandelt und infolgedessen das Politische geradezu zum Verschwinden bringt 29 Das zeigt sich, wo Michel Foucault eine »schlechte parrhesía« (s. u.) in Betracht zieht, wie Jacques Derrida Gastlichkeit und Feindschaft zusammen denkt und Chantal Mouffe die Gefahr beschreibt, dass agonale politische Verhältnisse antagonistisch eskalieren können. 29 Der Begriff der Polizei fungiert hier als polemisches Gegenkonzept zu Politik, kann aber gewiss nicht als repräsentativ für wirkliche ›Polizeiarbeit‹ gelten. 28

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(D, S. 93), ist nur zu verhindern, wenn sich die Frage, wer denn als Gleicher ›zählt‹ bzw. zu ›zählen‹ begehrt, immer wieder neu stellen kann. Jede demokratische Lebensform, die ›lebendig‹ bleiben will, muss es nicht nur zulassen, sondern geradezu darauf anlegen und sich in diesem Sinne selbst destabilisieren. Andernfalls verkümmert sie in einer »polizeilichen«, angeblich ganz und gar verwaltbaren Ordnung derer, die bereits Anteil haben, ohne sich im Geringsten darum zu sorgen, wer vielleicht keinen hat. Wo diese Frage immer wieder aufbricht, wird verhindert, dass sich Politik auf ›Polizei‹ reduziert und die Herausforderung einer stets problematischen Gleichheit in Vergessenheit gerät. In einer verwaltbaren und normalisierten, Gleichheit für bereits gegeben oder gewährleistet haltenden Ordnung ist schließlich die Stimme Anderer nicht mehr zu vernehmen, die meinen, keinen Anteil an ihr zu haben und insofern um ihre elementare Gleichheit gebracht zu werden. Worauf es hier ankommt, ist nicht die altbekannte aristotelische Unterscheidung zwischen phoné und lógos, zwischen tierischer Stimme, die nur Laute von sich gibt, und vernünftiger Rede 30, sondern wessen Stimme politisch ›zählt‹ oder nicht ›zählt‹. Dabei geht es um die »Konstitution eines politischen Raumes«, den es als gemeinsam geteilten nur geben kann, wo die Stimme des Anderen Gehör findet, der auf diese Weise überhaupt erst die Chance erhält, als ein politisches Subjekt hervorzutreten. 31 Im Gehörfinden ereignet sich die originäre politische Subjektivierung eines jeden, der über eine Stimme verfügt, aber rückhaltlos darauf angewiesen ist, sich auch auf Erwiderung hin an Andere wenden zu können. Ständig neigt ›Politik‹ aber dazu, diese Möglichkeit nur einigen vorzubehalten und andere auszuschließen oder schlicht zu vergessen. Deshalb muss sie immer von neuem aus dem Schlaf normal gewordener Exklusionen gerissen und an ein Vergessen erinnert werden, das man seinerseits vergessen hat, um sich in einer stabilen politischen Ordnung einrichten zu können. Diese muss aber immer wieder destabilisiert werden durch immer neues sinnliches Auftauchen von Anderen, die keinen Anteil zu haben meinen und eben deshalb verlangen, gehört zu werden. In die Lage dieser Anderen kann im Übrigen jeder (wieder) geraten, wenn es stimmt, was Rancière behauptet: dass es keine von sich Aristoteles, Politik, Erstes Buch, 1253a, 8 ff. J. Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien 2007 (= UÄ), S. 34 f. Siehe dazu Kap. XIX, 4. 30 31

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aus beständige Permanenz politischer Subjektivität, sondern nur Räume möglicher Subjektivierung gibt. 32 In solchen Räumen bewegen sich nicht wenige ganz selbstverständlich, ohne sich zu fragen, ob sie – sei es durch Krankheit, Scheidung, Arbeitsplatzverlust oder Alter – nicht sehr bald in die Lage von Anteilslosen geraten können, die sich überhaupt nicht mehr darauf verlassen können, bei Bedarf bei Anderen Gehör zu finden. Andere dagegen erfahren die Anteilslosigkeit täglich am eigenen Leib und wissen, dass sie – in den Augen Anderer zumindest – keine Rolle spielen, sei es, weil sie ihnen gleichgültig sind, sei es, weil man sie vergessen hat, so dass sie politisch inexistent zu sein scheinen. Versprechen demokratische Lebensformen demgegenüber nun aber nicht eine inklusive Gleichheit (vgl. KW, S. 72) – einschließlich der »Namenlosen«, die bislang keine Stimme hatten (EZ, S. 80)? Das liest sich sehr emphatisch und ruft die Frage auf den Plan, ob Rancière demokratische Lebensformen geradezu als Versprechen deuten möchte, genau dies zu leisten. 33 Wie seine zahlreichen Bezugnahmen auf Friedrich Schillers Programmatik einer »ästhetischen Erziehung des Menschen« deutlich zeigen, die bekanntlich für ein absolutes politisches Versöhnungsversprechen stand, liegt für Rancière eine besondere Anziehungskraft in dem Gedanken, von einer im skizzierten weiten Sinne ästhetischen Sensibilisierung für den Anspruch eines jeden Beliebigen könne man sich genau das versprechen, was Politik bzw. das Politische eigentlich ausmacht. 34 Doch hält er ausdrücklich jegliches politisches Emanzipationsversprechen für erwiesenermaßen »ungültig«. Allenfalls »auf dem Ruin der Perspektiven politischer Emanzipation« könne sich noch eine Vergemeinschaftung derer erheben, die keinen Anteil haben (UÄ, S. 31, 50–54). Es müsste sich demnach aber um eine aus Vergemeinschaftung resultierende Gemeinschaft handeln, die sich nicht länger von falschen Versprechungen einer utopischen Form der Gemeinschaft kompromittieren lassen dürfte. Utopisch wäre es, für eine nahe oder wie auch immer ferne Zukunft eine restlose Aufhebung oder gar Beseitigung jeglicher Anteilslosigkeit in Aussicht zu

J. Rancière, Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008, S. 67 (= KW). Die Kunst, die für Rancière eine wichtige Funktion dabei übernehmen kann, die »sinnliche Welt der Namenlosen« wahrnehmbar zu machen, nimmt er ausdrücklich davon aus, einem derartigen Versprechen zu dienen (ebd.). 34 Vgl. das vorangegangene Kap. XIX in diesem Band. 32 33

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Das Geschehen originärer Politisierung als Subjektivierung

stellen. Es kann für Rancière überhaupt keine Gemeinschaft ohne die Kehrseite einer Anteilslosigkeit geben, die diejenigen, die der jeweiligen Gemeinschaft zugehören, ständig vergessen, ignorieren oder verdrängen. Eine ›bessere‹ Gemeinschaft wäre demgegenüber nur durch eine politische Lebensform zu realisieren, die genau dafür sensibilisiert ist, d. h. die von dem Wissen umgetrieben wird, um den Preis einer Anteilslosigkeit möglich zu werden, die Andere ihre politische Existenz zu kosten droht. Und dieses Wissen dürfte sie nicht ›kalt lassen‹. Sie dürfte es nicht gleichsam achselzuckend hinnehmen als Hinweis auf eine schiere Unvermeidlichkeit, sondern müsste sich sorgen um diejenigen, die keinen Anteil haben, ohne die geringste Aussicht darauf aber, jemals die Anteilslosigkeit als solche loszuwerden oder überwinden zu können. 35 Jegliches Ethos einer Gemeinschaft, die letzteres versprechen und konsensuell sicherstellen würde, will Rancière dagegen unterminieren (vgl. KW, S. 103). Eine politische Gemeinschaft wird immer eine »strukturell geteilte Gemeinschaft« sein, »die nicht nur in unterschiedliche Interessen- oder Meinungsgruppen, sondern in Bezug auf sich selbst geteilt« ist (UÄ, S. 133). Wer das bestreitet, leugnet aus Rancières Sicht im Grunde genau das, was Politik und damit dissensuelle Erfahrung eigentlich ausmacht: dass nämlich Auseinandersetzungen um die Frage der Gleichheit immer wieder neu aufbrechen können, die weder rechtlich noch ethisch zu garantieren ist, da sie sich stets an tatsächlichen Arten und Weisen des ›Zählens‹ als jemand, der politisch existiert, bemisst. Und in den praktischen Formen des Zählens ›verrechnet‹ man sich immer und unvermeidlich. Das wird kaschiert, wenn man rechtlich, ethisch oder auch demografisch ein Volk, eine Gemeinschaft oder auch die Bevölkerung als maßgebliche politische Einheit vermeintlich klar identifiziert zu haben meint und infolgedessen alle Probleme politischer Gleichheit für im Prinzip gelöst hält. Nominell zur Bevölkerung oder zum Volk zu zählen, bedeutet in keiner Weise auch politisch zu ›zählen‹ und in diesem Sinne zu existieren, wenn es darum geht, Anteil zu haben. Und die Erfahrung, keinen Anteil zu haben, d. h. für Andere im Grunde nicht zu ›zählen‹, ja nicht einmal überhaupt ›da‹ zu sein, unterminiert jede politische Gemeinschaft, auch die eines Volkes, von dem diejenigen, die diesen bereits in der Antike, erst recht aber in der Moderne notorisch viel-

35

Vgl. KW, S. 23, 28; UÄ, S. 47.

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deutigen Begriff 36 ständig im Munde führen, behaupten, sie seien es. Diejenigen, die das behaupten, sind am allerwenigsten das Volk. Dabei handelt es sich immer und unvermeidlich »um eine strittige Form« der Symbolisierung einer Zugehörigkeit mit einander unaufhebbar widerstreitenden Momenten: »Es gibt das Volk, das in die existierende Formen des Rechts und der Verfassung eingeschrieben ist; dasjenige, das im Staat verkörpert wird; das Volk, das dieses Recht nicht kennt oder dessen Recht der Staat nicht anerkennt; dasjenige, das im Namen eines anderen, erst in die Tatsachen einzuschreibenden Rechts Anerkennung fordert«, usw. (ebd.). Es gibt das Volk als »schweigende Mehrheit«, die nur über sich reden und verhandeln lässt; und es gibt das Volk, das lauthals schreit, es sei das Volk, nur um zahllose Andere von ihm auszuschließen – um ironischerweise gerade dadurch zu beweisen, dass dieses ›Volk‹ unmöglich ›das‹ Volk sein kann. Das ist nicht die jüngste, aber gegenwärtig auffälligste Art und Weise, sich als Volk in Szene zu setzen: durch die öffentliche Demonstration des erklärten kollektiven Willens einer Minderheit, souverän darüber befinden zu wollen, wer dazugehört und wer nicht, um eine bruchlose Identität vorzugaukeln, die man für sich in Anspruch nehmen möchte. Ironischerweise erklären uns Soziologen und Politikwissenschaftler den gewaltsamen Willen dieses auch als »Bande« titulierten Volkes aber aus der Erfahrung, am politischen Leben keinen Anteil mehr gehabt zu haben und bei zentralen Fragen der Anteilhabe weitgehend vergessen worden zu sein. Abgesehen von der Überzeugungskraft einer solchen Erklärung könnte man meinen, es hier mit einem ausgezeichneten Beispiel dafür zu tun zu haben, was Rancière in seiner Politischen Theorie beschreibt: wie demonstrativ, durch öffentliche Sichtbarmachung von Dissens, die Frage wieder aufbricht, wer (wie und inwieweit, für wen) ›zählt‹ – wenn auch in eigentümlich verdrehter Art und Weise, da es in diesem Fall nicht die Stummen, die keine Stimme haben, sondern gerade die Lautstarken und Aggressivsten sind, die immerfort behaupten, nicht gesehen und nicht gehört zu werden, obgleich sie sich nicht zuletzt dank einer von ihnen ständig denunzierten Presse spektakulärer Aufmerksamkeit erfreuen. 37 Haben wir es hier mit einem guten Beispiel für das SichtbarVgl. J. Oldham Appleby, Economic Thought and Ideology in Seventeenth-Century England, Princeton 1978, S. 129; É. Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg 2006; siehe auch Anm. 76 zu Kap. XI. 37 Spektakulär allemal im Verhältnis zu Hunderttausenden von Flüchtlingshelfern 36

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Das Geschehen originärer Politisierung als Subjektivierung

und Hörbarwerden von Anteilslosen zu tun, um deren dissensuelle, öffentliche Artikulation es im Politischen eigentlich gehen muss, wenn wir Rancière folgen? Oder möchte er diese Artikulation in einer ›linken‹ politischen Perspektive etwa auf ›wirklich‹ Unterdrückte beschränkt sehen, denen seine politische Sympathie gilt, insofern diese mit Recht danach verlangen können, Anteil zu haben und politisch zu ›zählen‹ ? Mit anderen Worten: Geht es Rancière um eine strukturale Beschreibung einer inneren und aufhebbaren Unstimmigkeit im Politischen, die mit politischen Lebensformen immer und unvermeidlich einhergeht, oder verrät seine gelegentlich emphatische Rede von Stimmen der Namenlosen, dass es ihm im Gegenteil darum geht, eine nicht zu billigende und keineswegs unvermeidliche Anteilslosigkeit zu kritisieren? Sieht man näher hin, so kommen bei Rancière ganz unterschiedliche ›Kandidaten‹ in der Rolle der Anteilslosen in Betracht; allen voran die bánausos, die Handwerker der Antike, die keine Zeit hatten, sich am Spiel des Politischen zu beteiligen, weil sie im Gegensatz zu den müßiggängerischen Wohlhabenden ihre Existenz mit ihrer Hände Arbeit sichern mussten. Diese Arbeitsteilung, die mit ihr verknüpften Herrschaftsverhältnisse und damit die Existenz von sozialen Klassen nicht gesehen zu haben, rechnet Rancière sowohl der Politischen Philosophie (besonders Platons und all jener, die ihm bis heute folgen) als auch der heutigen Soziologie vor, wie seine Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu zeigt. Neben den Handwerkern kommen in Rancières Rückgriffen auf Karl Marx die Proletarier in Betracht. Als »üble Dritte« zwischen Arbeitern und Kapitalisten scheinen sie »keinerlei Konsistenz« zu besitzen und insofern keine eigene Klasse, sondern lediglich eine formlose »Nicht-Klasse« zu formieren und nur all jene repräsentieren zu können, deren Existenz auf »die Auflösung aller Klassen« hinausläuft (PA, S. 115, 121 ff.). Hier zeichnet sich eine »gute Auflösung« ab, die ein Marxist befürworten muss, insofern sie die zukünftig zu überwindenden Klassen »in den Tod treibt«, im Gegensatz zu einer »schlechten Auflösung«, in der jegliches gesellschaftliches Leben nur zu »verfaulen« scheint (PA, S. 134 f.). Weit entfernt, sich nur auf die konkreten historischen Umstände der Klassenverhältnisse, der Arbeiter und des Lumpenproletariats des etwa, deren praktisches Tun zweifellos von ungleich größerem, medial aber kaum angemessen zu repräsentierendem Gewicht ist.

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19. Jahrhunderts zu beziehen, so wie es Karl Marx vor Augen hatte, stellt sich hier für Rancière ein systematisches Problem. Löst sich nicht jede Gesellschaft ständig auf, um sich durch Vergesellschaftung immerfort neu zu formieren? Besteht das ›Leben‹ auch heutiger Gesellschaften nicht geradezu aus einer ständig stattfindenden Vergesellschaftung derer, die als »lebendige Individuen« weder ›immer schon‹ vergesellschaftet waren noch je ganz und gar, mit Haut und Haaren, gewissermaßen ›restlos‹, in einem (wie auch immer ggf. verbesserten) Zustand der Vergesellschaftung aufgehen können (PA, S. 141)? Wenn sich das so verhält, werden sich dann nicht unter all jenen, die zwischenzeitlich oder auf Dauer aus der Vergesellschaftung derer, die Anteil haben, herausfallen, immer einige finden, die überhaupt keinen Anteil haben? Und kann es überhaupt vergesellschaftete Wesen geben, die an allem Möglichen uneingeschränkten Anteil haben? Ganz offensichtlich ist diese Alternative – Anteil haben oder jeglichen Anteil entbehren – allzu grobschlächtig. Ohne weiteres lassen sich ja viele Formen der Anteil- und Teilhabe (sowie der Anteil- und Teilnahme, von der Rancière wenig spricht 38) denken, die nicht sämtlich die eigene politische Existenz in Frage stellen müssen, wenn man sie nicht genießt. So kann es Rancière im Grunde nur um solche Formen des Anteilhabens gehen, die für die betreffenden Subjekte selbst genau diese Bedeutung haben, insofern sie ihre politische Gleichheit ganz und gar in Frage gestellt sehen. Dafür ist keineswegs Voraussetzung, dass sie wirklich völlig ›anteilslos‹ sind im strengen Sinne dieses Wortes. Dass sie sich entsprechend beklagen und damit bei Anderen Gehör finden wollen, beweist in keiner Weise, dass sie wirklich überhaupt keinen Anteil an etwas haben und dass sie insofern nicht einmal politisch existieren. Es kann sich zunächst lediglich um den Appell an Andere handeln, einer Klage, einem Einspruch oder Protest Aufmerksamkeit zu schenken und sich infolgedessen der kritischen Frage nach der Berechtigung des vorgebrachten Anspruchs zu stellen. Rancière hat Recht: wo nicht einmal das geschieht, können sich diejenigen, die ihn vorbringen, in keiner Weise mehr dessen sicher sein, überhaupt politisch zu existieren, statt nur unbeachtlichen apolitischen Lärm zu machen wie jene Plebejer, denen Menenius Agrippa auf dem Aventin sein Ohr leiht, um sie ernst zu nehmen

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Vgl. R. Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, München 1994.

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und ihnen dadurch zu politischer Bedeutung zu verhelfen. 39 Jemandem Gehör schenken heißt, zu bestätigen, dass dieser ›jemand‹ (bislang ggf. ein Niemand) wirklich existiert und als solcher darauf angewiesen ist, dass man seine (politische) Existenz gewissermaßen beglaubigt. Aber das bedeutet nicht, dem Betreffenden beizupflichten oder auch nur die Art und Weise, in der er sich Gehör zu verschaffen sucht, zu billigen. Seinem Anspruch aber muss man sich stellen. Und zwar nicht nur im Sinne schierer Unvermeidlichkeit, wenn man es nicht verhindern kann, dass er das Ohr seiner Adressaten erreicht, sondern auch umwillen der Aufrechterhaltung der jeweiligen politischen Lebensform. Denn diese kann, zumal als demokratische, auf Dauer unmöglich Bestand haben, wenn sie sich nicht aufgeschlossen zur Artikulation der Erfahrung Anderer verhält, die in ihr keine Aufmerksamkeit, Beachtung oder Anerkennung finden – oder zu finden meinen. Wie dem auch sei: fehlt es an dieser Aufgeschlossenheit, so drohen Ignoranz, Gleichgültigkeit, Leugnung oder Unterdrückung dieser Erfahrung gewaltsame Folgen nach sich zu ziehen. Daraus ergibt sich, dass es entscheidend darauf ankommt, wie diese Aufgeschlossenheit zu denken ist, wenn man sich an dieser Stelle nicht mit einem bloßen Euphemismus zufriedengeben möchte. Ginge es nur darum, sie als unvermeidlich zu charakterisieren, so wären wir kaum über die Einsicht hinaus, dass sich demokratische Lebensformen den Ansprüchen Anderer, denen es um ihre Gleichheit geht, irgendwie stellen müssen. Aus dieser Unvermeidlichkeit würde sich spezifisch politisch kaum viel ableiten lassen. Soll die fragliche Aufgeschlossenheit aber bedeuten, dass man umwillen solcher Lebensformen jedem Anderen unter allen Umständen Gehör schenken soll, so würde das unhaltbare politische Implikationen nach sich ziehen. Müssten nicht politische Lebensformen, die sich in diesem Sinne ›unbedingt‹ für Andere aufgeschlossen erweisen sollten, unter dieser Überforderung zusammenbrechen? Nirgends sagt Rancière m. W. denn auch, die Stimme eines jeden solle unter allen Umständen bzw. unbedingt ›zählen‹. Er argumentiert nicht normativistisch, sondern will gerade deutlich machen, dass ein nicht normierbares und nicht normalisierbares, nicht regelbares und nicht institutionalisierbares Hören auf die Stimme Anderer unabdingbar erforderlich ist, wenn politische Ordnungen ihre spezifisch politische Qualität, die in DisJ. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002, S. 34 ff.

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sens-Ereignissen zu Tage tritt, nicht einbüßen sollen. Das heißt jedoch nicht, dass solche Ereignisse unter allen Umständen gutzuheißen sind und als politisch fruchtbar gelten können. Sie können auch eine schreckliche Kakophonie heraufbeschwören, in der man sich gar nicht umwillen eines gemeinsamen, geteilten Lebens an Andere wendet, sondern nur über sie zu triumphieren sucht. Auch auf solche Aussichten muss sich ein ›irreguläres‹ Hören auf Ansprüche Anderer, die (wie auch immer) zu ›zählen‹ verlangen, unvermeidlich einlassen. Das heißt aber nicht, dass es sich darauf beschränken müsste. So, wie es eine gute intermediäre und eine schlechte destruktive Auflösung des Gesellschaftlichen, nur brutale und sich wirklich an Andere wendende Formen des Appells, des Einspruchs, des Protests und der Rebellion 40 gibt, so gibt es auch gute im Gegensatz zu schlechten Formen des Hörens (vom bloßen Überhören bis zur Hörigkeit), die überhaupt keine weiterführenden politischen Spielräume eröffnen. Der Ertrag von Rancières Politischer Philosophie wird sich nur zeigen, wenn man weiter bedenkt, wie sie sich zu diesen Spielräumen verhält. Das kann deutlich werden, wenn man die Stimme der Anderen, um deren spezifisch politische Virulenz es Rancière geht, nicht nur mit dem Freimut der Rede (wie bei Foucault), sondern auch mit einem Freimut des Zuhörens in Verbindung bringt, das sich gerade von denen ›etwas sagen lässt‹, die scheinbar nichts zu sagen haben (im doppelten Sinne dieses Ausdrucks).

3.

Die Stimme und der Freimut der Rede (parrhesía)

Ist es generell gutzuheißen, zumal in politischer Perspektive, wenn sich die Stimme von ›Namenlosen‹ oder all jener, die nicht ›zählen‹ – those who have no-part/les incomptés 41 – oder die nicht zu ›zählen‹ glauben, Gehör verschafft? Ist es abgesehen davon nicht selbstverständlich legitim, auf diese Weise vom grundgesetzlich verbrieften Recht auf freie Meinungsäußerung 42 Gebrauch zu machen? Rancière unterläuft beide Fragen, indem er immer wieder auf das Ereignis der

Siehe dazu Kap. XI, 5. J. Rancière, »Ten Theses on Politics«; muse.jhu.edu/journals/tae/toc/index.html (thesis 5). In der dt. Übersetzung ist schlicht von »Ungezählten« die Rede; ders., Zehn Thesen zur Politik, Berlin 2008, S. 23. 42 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art 5 (1). 40 41

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Die Stimme und der Freimut der Rede (parrhesía)

Stimme zurückgeht, die man erhebt, um sich an Andere zu wenden. Dabei lässt er eine Reihe von Fragen weitgehend unbelichtet, die Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France (1982/83) und an der Universität Berkeley (1983) in Erinnerung gerufen hat. Wie das alte, von Immanuel Kant und Friedrich Schiller bis hin zu Foucault (RS, S. 439) wieder aufgegriffene sapere aude erfordert es häufig Mut, seine Stimme zu erheben. Der Leitspruch der Aufklärung: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, bezog sich in Kants Verständnis ja auf eine öffentliche Vernunft; er setzte also voraus, dass man sich (mündlich oder schriftlich) in einem gesellschaftlichen Kontext und Horizont anonymer Anderer – und d. h. letztlich der Welt aller – äußert. 43 Ohne diese spezifisch moderne Zuspitzung kommt im antiken Konzept der parrhesía bereits zur Sprache, was auf dem Spiel steht, wenn man es wagt, seine Stimme zu erheben, um »in seiner eigenen Person« zu sprechen. 44 Dabei geht es, wenn man sich an Andere in einem bestimmten Kontext und Horizont wendet, niemals nur darum, irgendetwas zu verlautbaren. Wer seine Stimme erhebt, um einen Dissens zu artikulieren, exponiert unweigerlich auch sich selbst. Was nicht zuletzt deshalb zu beachten ist, wenn man sich öffentlich äußert, arbeiten Foucaults Vorlesungen u. a. im Anschluss an die antike rhetorische Literatur 45 heraus, die sie auf Kants Frage nach einem mutigen öffentlichen Vernunftgebrauch hin auslegen. Dabei kommt eine Vielzahl von Aspekten freier Rede zur Sprache, die bei Kant noch ganz unbelichtet geblieben sind. Sie setzen allerdings unbefragt voraus, dass man eine eigene Meinung (oder überhaupt etwas ›zu sagen‹) hat und dass es jedem grundsätzlich darauf ankommt, sie auch äußern zu können. Wenn das so ist, soll man seine Meinung auch aufrichtig sagen, nicht mit ihr hinter dem Berg halten, aber nicht alles, alles auf einmal und in maßloser, schroffer, einschneidender oder verletzender I. Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« [1783], in: E. Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 1984, S. 9–17, hier: S. 9, 11, 13. 44 Erstaunlicherweise spielt in Foucaults Diskussion der Frage, was Aufklärung bedeutet, weder die parrhesía noch auch jener Mut eine besondere Rolle (im Gegensatz zu den Vorlesungen am Collège de France, die von Anfang an die Angst und die Gefahr betonen, sich infolge freimütiger Rede dem – physischen, sozialen oder politischen – Tod auszusetzen); M. Foucault, »Was ist Aufklärung?«, in: Schriften in vier Bänden, Bd. IV, S. 687–706; zum Kant-Bezug auch RS, S. 439. 45 M. Foucault, Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia. Berkeley-Vorlesungen 1983, Berlin 1996, S. 20 f. (= DW). 43

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Art und Weise sagen wollen (RS, S. 65 f., 81). Letzteres wäre weder klug noch effektiv (DW, S. 12, 30, 59). Man muss auf die passende Gelegenheit achten. Nicht jederzeit und an jedem Ort ist es gleichermaßen ratsam, sich freimütig zu äußern. Man sollte bedenken, wem gegenüber man was (und wie, ggf. im Modus der Anklage, Kritik, Beschwerde, Entlarvung usw.) zur Sprache bringen kann, und in welchen diskreten Grenzen. Dabei ist über bloß taktisch und strategisch anmutende Überlegungen entschieden hinausgehend eine Frage des Mutes umso mehr im Spiel, wenn die parrhesía nicht wie auf der agorá zwischen Gleichen stattfindet, sondern im Verhältnis zu souveränen Subjekten ›von unten kommen‹ muss – vielfach aus einer Erfahrung der Ohnmacht heraus, die die Betreffenden dennoch dazu veranlasst, sich etwa über unannehmbare Ungerechtigkeit öffentlich zu beklagen (RS, S. 176 ff.; DW, S. 17, 22 f., 31). In einem Machtgefälle gegenüber ihren Adressaten beschwört parrhesía nicht nur Risiken (für das sogenannte »Fortkommen«, die »Karriere« und »Zukunft«), sondern auch unter Umständen tödliche Gefahren für Leib und Leben derjenigen herauf, die es wagen, sich frei zu äußern (RS, S. 83 f.). Keineswegs riskieren allerdings diejenigen, die jeweils mehr Macht haben 46 und sich freimütiger Rede aussetzen, gar nichts. Aber die weniger Mächtigen setzen vielfach von vornherein ›Kopf und Kragen‹ aufs Spiel, wenn sie aus einer Position (wenigstens relativer, nicht absoluter) Ohnmacht heraus das Wort ergreifen und äußern, was andere nicht zu sagen wagen. Selbst wenn der Mächtigere einen Sklaven, ›Untergebenen‹ oder in irgendeiner weniger offensichtlichen Art und Weise von ihm Abhängigen ausdrücklich dazu aufgefordert hat, sich freimütig zu äußern, schützt das letzteren keineswegs vor dramatischen Konsequenzen. Spitzeln, Intriganten, Vertretern totalitärer Organisationen, autokratischen Machthabern und egomanischen Diktatoren (bzw. entsprechend Veranlagten) wird man kein Vertrauen entgegenbringen; und ihnen gegenüber nützt im Zweifelsfall auch kein Recht der Rede-Freiheit. Eines ist es, formell dieses Auf diese Redeweise ist m. E. nicht zu verzichten, auch wenn man eine bedenkenswerte modale Reinterpretation des Machtbegriffs in Rechnung stellt, der zufolge Macht allenfalls in den Relationen zwischen Menschen gegeben ist, nicht aber bei ihnen selbst liegt. In einer solchen Reinterpretation kann leicht aus dem Blick geraten, dass über Macht durchaus auch verfügt wird, so dass die gängige Rede von (mehr oder weniger repressiven) Machthabern nicht einfach als anachronistisch abzutun ist – mit der Folge, den Machtbegriff von menschlichem Handeln weitgehend abzukoppeln und ihn insofern auch zu depolitisieren.

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Recht wie jeder andere auch im Sinne der Gleichheit (isegoría) zu genießen (DW, S. 61; RS, S. 205); etwas anderes aber, effektiv von ihm Gebrauch zu machen und sich nicht einschüchtern zu lassen, selbst wenn existenzielle Konsequenzen zu befürchten sind, die keineswegs erst durch unverhohlene Unterdrückung der Redefreiheit, etwa durch Verbannung eintreten müssen. Freimütig sich Äußernde einfach nicht mehr einzubeziehen, auf diese Weise ›kaltzustellen‹ und mundtot zu machen, kann ebenso wirksam sein und auf eine innere Verbannung hinauslaufen, die allerdings als solche viel schwerer auszumachen ist. Die von ihr Betroffenen haben am Ende gar keinen Adressaten mehr, den sie zur Rede stellen könnten, und können auf nichts mehr verweisen, wodurch ihnen Unrecht geschieht. Die Verbannung »ist so schwer«, zitiert Foucault Iokaste und Polineikes aus Euripides’ Die Phönizierinnen, »weil man keine parrhesía genießt« (DW, S. 26). Umgekehrt kann die wirksame Unterbindung jeglicher Möglichkeit, sich freimütig an Andere zu wenden, auf eine Art Verbannung hinauslaufen, gegen die weder ein Recht noch auch außerordentlicher Mut, sich seiner eigenen Stimme und seines eigenen Verstandes zu bedienen, etwas auszurichten vermag. Am effektivsten unterbindet nicht das Rede-Verbot die parrhesía, sondern die unauffällige Isolation derer, die ihren Freimut nicht einem sehr praktischen Opportunismus opfern wollen, der sich klug, wenn auch auf verächtliche Art und Weise, ›bedeckt hält‹. So kann die innere Verbannung mundtot (áneu lógou; áneu phonês 47) machen und auf eine depolitisierte Fremdheit hinauslaufen, derjenigen von »Söhnen des Nichts« nicht unähnlich, die »als ein Niemand angesehen« (RS, S. 132; DW, S. 47, 51) werden wie Illegale, die von irgendwoher kommen, ohne ihre Herkunft mit einer ehrbaren Genealogie oder mit geschichtlich gegründetem Ansehen verbinden zu können. Wer für Andere ein Niemand ist und in keiner Weise zählt, ist zweifellos darauf angewiesen, überhaupt erst einmal als ›jemand‹ in Erscheinung treten zu dürfen, um (politisch) zu existieren. Wer in dieser Lage freimütige Rede riskiert, setzt sich Anderen auf Gedeih und Verderb aus, von denen es wesentlich abhängen muss, ob der Betreffende die Erfahrung machen wird, zu ›zählen‹ (als existent, als dessen wert, angehört zu werden, als Subjekt begründet erscheinender Ansprüche usw.). In einer solchen Lage, die der Verzweifelung H. Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München, Zürich 2003, S. 40.

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nahekommen kann, hat er bzw. sie jedoch im Grunde nichts mehr zu verlieren; nichts bis auf sein bzw. ihr Gesicht. Keineswegs verzweifelt stellt sich dagegen eine nur dem Anschein nach freimütige, aus Erbitterung, Ressentiment oder Zorn gespeiste Rede dar, die primär polemische Absichten verfolgt und es auf eine Erwiderung Anderer gar nicht anlegt. Wenn sie Andere aufwiegelt und zu kollektivem Hass anstachelt, fragt es sich, ob »allen Formen der parrhesía, selbst den schlimmsten, gleiche[r] Raum« gewährt werden sollte (DW, S. 79). Letztere sind weniger eine Frage des Mutes, mit dem man sich in freier Rede selbst aufs Spiel setzt, als vielmehr Ausdruck von Aggression, die gar kein Interesse an denjenigen hat, gegen die sie sich wendet. Selbst die kynische, vielfach provokative und sogar schamlose parrhesía 48, die »mit dem Zusammenbruch der politischen Strukturen der antiken Welt« unverblümt zum Vorschein kommt (DW, S. 120–127), wendet sich noch wirklich an Andere, um sie für sich einzunehmen. Was aber, wenn diese Absicht gar nicht mehr zu unterstellen ist? Was, wenn eine entfesselte polemische parrhesía überhandnimmt, in der sich Wut, Empörung, Ressentiments und Zorn in unqualifizierten Äußerungen Luft verschaffen, aber die politische Lebensform Schaden nimmt und der stásis, dem Bürgerkrieg, gefährlich nahekommt? Wie Isokrates moniert, kommt eine aus mangelnder Selbstbeherrschung geborene schlechte parrhesía der Gesetzlosigkeit (paranomía) nahe. Und wenn die Demokratie bedingungslos Redefreiheit jederzeit auch dem Unvernünftigsten gewährt, ist sie mit einer zu befürwortenden, guten parrhesía unvereinbar (DW, S. 84 f.). So liegt es nicht nur nahe, eine gute von einer schlechten parrhesía zu unterscheiden 49, sondern mit Blick auf letztere ganz in Abrede zu stellen, dass es sich überhaupt um eine Form des Freimuts handelt. Verdient diesen Titel nicht lediglich die ›gute‹ parrhesía? Politisch muss eine schlechte parrhesía offenbar destruktive Konsequenzen haben, wenn sie gewissermaßen wie ein Freibrief für jeden aufgefasst wird, sich jederzeit und gleich wo auf beliebige Art und Weise zu äußern und politisch einzumischen, ohne dabei überhaupt zu bedenken, ob eigene Meinungen und Überzeugungen nicht so weit 48 Vgl. R. Barthes, Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977, Frankfurt/M. 2007, S. 205. 49 Foucault schwankt an dieser Stelle in seiner Einschätzung des Kriteriums, das eine gute von einer schlechten parrhesía zu unterscheiden gestatten sollte. Mal stellt er ganz auf deren Wirksamkeit ab, mal auf ein Interesse am Allgemeinen (RS, S. 83, 227).

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wie möglich in ›ziviler‹ Form vorzutragen sind? Müsste eine parrhesía, die von der Frage, wie die Schwelle der Politisierung eigener Meinungen und Überzeugungen angemessen an mögliche Adressaten zu überschreiten ist, gar nicht beunruhigt wäre, nicht einer letztlich geradezu anti-politischen Selbstgerechtigkeit Tür und Tor öffnen? Muss sie in diesem Sinne durch ein möglichst klar geregeltes, vor solcher Paranomie schützendes Recht der freien Rede (mit Rücksicht auf passende Umstände, Adressaten und inhaltliche Qualitäten des Gesagten) beschränkt werden, wie es auch der Art. 5 (2) des deutschen Grundgesetzes nahelegt, wo u. a. von »Schranken […] zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre« die Rede ist? 50 Und muss jenes Recht mit Kant auf die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, gegründet werden (DW, S. 25)? Idealiter hätte es eine politische Lebensform dann nur noch mit Formen des Wahr-Sprechens zu tun, von denen bis heute oft behauptet wird, sie könnten sich ohne weiteres ergänzen und müssten keinen unaufhebbaren Widerstreit heraufbeschwören. 51 Der Mut, die Wahrheit zu sagen bzw. eine Meinung oder Überzeugung zu äußern, die man wenn nicht für wahr, so doch für richtig hält, würde sich dann allein aus der entsprechenden Pflicht ergeben. Und diese wiederum wäre nur Ausdruck einer praktischen Vernunft, die sich mit einer Redebeschränkungen beziehen sich auch auf »libel, slander, obscenity, pornography, sedition, incitement, fighting words, classified information, copyright violation, trade secrets, non-disclosure agreements, right to privacy, right to be forgotten, political correctness, public security, public order, public nuisance, campaign finance reform, perjury, and oppression. Whether these limitations can be justified under the harm principle depends upon whether influencing a third party’s opinions or actions adversely to the second party constitutes such harm or not. Governmental and other compulsory organizations often have policies restricting the freedom of speech for political reasons, for example, speech codes at state schools. The term ›offense principle‹ is also used to expand the range of free speech limitations to prohibit forms of expression where they are considered offensive to society, special interest groups or individuals. For example, freedom of speech is limited in many jurisdictions to widely differing degrees by religious legal systems, religious offense or incitement to ethnic or racial hatred laws.« https://en.wikipedia.org/wiki/Freedom_of_speech. 51 Foucault, der sich gewiss nicht als Dialektiker verstand, verfährt erstaunlich großzügig mit dem Wahrheitsbegriff. Lässt wahr Gesagtes nicht allemal dialektische Synthesen zu – im Gegensatz zu unaufhebbarem Widerstreit und zu einem Meinungsaustausch, der auf überspannte Wahrheitsansprüche gerade verzichtet? Beide Überlegungen, die von E. Vollrath über H. Arendt und D. Sternberger bis hin zu J.-F. Lyotard und K. Held von zentraler Bedeutung für die politische Philosophie waren, spielen kaum eine Rolle bei Foucault. 50

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schlechten parrhesía kaum vereinbaren ließe. Im Sinne Kants wäre ja auch die unangenehmste Wahrheit jedem unbedingt zuzumuten. Und der entsprechende Mut dürfte sich jederzeit darauf berufen, Anderen nur genau das zuzumuten, was die Wahrheit selbst, ohne Ansehen der Person, verlangt.

4.

Macht und Freimut des Zuhörens

Rancière schlägt ganz bewusst diesen Weg der Verrechtlichung der Redefreiheit nicht ein. Was er sagen will, zielt vielmehr in die Richtung dessen, was Hannah Arendt als In-Erscheinung-treten des Anderen beschrieben hat, das möglich sein muss, wenn sich überhaupt Spielräume politischen Handelns sollen eröffnen können. Erst einmal muss sich jemand überhaupt äußern können, um Gehör zu finden und um als politisch ernst zu Nehmender zu ›zählen‹. So muss jeder als sprechendes Subjekt politisch existieren dürfen bzw. durch das Gehör-finden eine Subjektivierung erfahren können, die jegliches Rederecht bereits voraussetzt, das so oder so festlegen mag, wer befugt ist, in gewissen Grenzen etwas zu sagen (und wie nicht, usw.). Rancière hat so vor jeglichem Recht den elementarsten Anspruch eines jeden auf politische Existenz im Blick 52; einen Anspruch mithin, der nur in Verbindung mit Anderen einzulösen ist. 53 Und er ist davon überzeugt, dass dieser Anspruch jede normierte bzw. normalisierte politische Ordnung sollte durchbrechen können, in der in der einen oder anderen Weise festgelegt ist, wer ›hier‹ etwas zu sagen hat und wer (und wie) nicht. Wo entsprechende Grenzen von Rede-Ordnungen auf undurchlässige Art gezogen sind, werden tatsächlich diejenigen, die von ihnen ausgeschlossen bleiben, zumindest auf diese Ordnungen bezogen (aber nicht absolut) mundtot gemacht. Sie haben in diesen Ordnungen im doppelten Sinne ›nichts zu sagen‹ : Sie dürfen Demgegenüber spricht Foucault in einer Wortmeldung beiläufig auch von einem »absolute[n] Recht [droit absolu], sich zu erheben und sich an diejenigen zu wenden, die die Macht innehaben«; Schriften in vier Bänden, Bd. IV, S. 874. 53 Das hat auch Levinas im Blick, obgleich er missverständlich von einem »Recht auf die Rede« als (ursprünglicher) Gerechtigkeit spricht, was an die isegoría denken lässt, hier aber nicht gemeint sein kann, worauf Foucault aufmerksam macht, der die Eröffnung parrhesiastischer Spielräume explizit nicht mit diesem Begriff identifiziert sehen will (vgl. RS, S. 205, 235; E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 432). 52

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Macht und Freimut des Zuhörens

sich in ihnen nicht äußern; und es hat von vornherein keinerlei Bedeutung, was sie gegebenenfalls zu sagen hätten. Glücklicherweise, wird man einwenden, gibt es solche Ordnungen. Selbst informelle Versammlungen lassen es nicht zu, dass alle (zugleich) und egal wie (lange, aggressiv etc.) reden. Und politische Institutionen erst sind ohne klare, häufig kodifizierte Regeln berechtigter Rede gar nicht denkbar. Das ist auch Rancière bewusst. Aber er insistiert darauf, dass sich überhaupt keine politische Ordnung je absolut gegen den Einbruch einer irregulären Rede abschotten kann bzw. darf. Andernfalls, so argumentiert er sinngemäß, hat das Politische überhaupt keine Chance mehr, sich zu ereignen, das mit der anarchischen Möglichkeit steht und fällt, seine Stimme (wie einst die Plebejer) gerade dort zu erheben, wo man scheinbar ›nichts zu sagen hat‹. Gerade die Frage, wer etwas zu sagen hat, wird in vielfacher Art und Weise in Redekontexten festgelegt, die das grundgesetzlich verbriefte Recht der freien Meinungsäußerung keineswegs in Abrede stellen, es im konkreten Fall aber derart reglementieren, dass es vollkommen wirkungslos zu werden droht. Die effektivste Beschränkung liegt wie gesagt nicht im repressiven Rede-Verbot, das sich als solches zu erkennen gibt und anfechtbar bleibt, sondern darin, die Rede des Anderen in gewisser Weise ins Leere laufen zu lassen. Genau das geschieht mit all jenen, die aus jeglicher politisch-rechtlichen Ordnung herausfallen wie homines sacri, outlaws, sans papiers, Migranten und Flüchtlinge unserer Tage, die sich tausendfach sowohl zwischen politischen Ordnungen als auch innerhalb von ihnen in einem politischen Niemandsland wiederfinden, wo ihnen nur noch ihr nacktes, politisch mundtotes Leben bleibt. Zweifellos stellen diese Fälle derzeit eine zahlenmäßig außerordentliche Herausforderung für alle Demokratien dar, die sich bislang auf eine möglichst eindeutige rechtliche Regelung politischer Mitgliedschaft gestützt haben und sich nun mit einer ihre Souveränität radikal in Frage stellenden Durchlässigkeit ihrer Grenzen konfrontiert sehen. Doch die Erfahrung, politisch mundtot gemacht zu werden, beschränkt sich keineswegs auf diese Fälle allein. Für andere, die diese Erfahrung ebenfalls durchmachen, kommt es zunächst darauf an, welcher Redekontext für sie von vitaler Bedeutung ist. Dabei kann es sich (jenseits des Privaten, das hier außer Betracht bleibt) von sekundären Gruppen über (un-)kollegiale Ausbildungs- und Berufsverhältnisse bis hin zu Parteien und Klassen um so gut wie alle möglichen sozialen und politischen Einheiten, Institutionen und Be763 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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wegungen handeln. Sie alle können sehr wirksam die freie Rede Anderer, nicht zuletzt innerer Außenseiter, ins Leere laufen lassen und so deren Mut, der Wahrheit eine Chance zu geben, durch Antwortlosigkeit konterkarieren. Derart nicht durch unverhohlene Repression, sondern durch gegebenenfalls scheinbar konziliantes Verhalten und durch subtiles Nichtantworten Anderer mundtot Gemachten nützt ihr Mut nichts mehr. Im Gegenteil läuft er Gefahr, sich in einer politischen Don-Quichotterie lächerlich zu machen, wenn er nicht begreift, dass er die realen Adressaten, an die er sich zu wenden glaubt, gar nicht mehr erreichen kann. So kann man das Recht der freien Meinungsäußerung bzw. free speech genießen und doch praktisch mundtot sein, wenn nicht jedem Anderen gegenüber, dann doch im Verhältnis zu denjenigen, auf die es einem politisch ankommt. Genau genommen beinhaltet jenes Recht ja auch nur die Berechtigung zu Versuchen, sich Gehör zu verschaffen. Es sagt nichts über die Erfolgsaussichten aus. Man mag noch so laut und ausdauernd protestieren, in keiner Weise kann man erzwingen, dass man nicht nur gehört (und nicht bloß überhört) wird, dass einem wirklich zugehört und womöglich Anerkennung eines Anspruchs als berechtigt zuteil wird oder dass Andere diesem Anspruch auch beipflichten. Schon gar nicht in den Fällen, wo man sich an eine überlegene Macht wendet, die auf den ersten Blick vor allem darin liegt, all das scheinbar gar nicht nötig zu haben. Gerade das könnte sich aber als tiefste und gefährlichste Illusion jeglicher Macht herausstellen, insofern sie glauben macht, sich selbst zu genügen und eines fremden Einspruchs unberechtigter, de-platzierter, irregulärer, illegaler bzw. wie auch immer außer-ordentlicher Rede überhaupt nicht zu bedürfen. Es wäre eine eigene Untersuchung dieser Frage wert, ob es sich nicht tatsächlich vielmehr so verhält, dass es im Interesse jeglicher Macht liegen müsste, gerade an ihren Grenzen, die festlegen, wer (wie und wo) etwas bzw. nichts zu sagen hat, sich etwas sagen zu lassen, was gerade nicht in ihrer eigenen Macht liegt. Würde sich das bewahrheiten, so könnte es sich herausstellen, dass Macht auf eine Passivität und Passibilität angewiesen ist, über die sie aus eigener Kraft nicht verfügt, insofern sie sich in der Tat etwas von Anderen sagen lassen muss. Sind Mächtige am Ende auf »Rettung durch einen anderen« (vgl. DW, S. 118) angewiesen, wenn sie mangels solcher Passivität und Passibilität dazu verurteilt bleiben müssten, um sich selbst zu kreisen? Erklärt das, warum sich mächtige Figuren (Eltern, Lehrer, Vorgesetzte, Chefs, Provinzkönige und selbst egomanische Diktatoren) gelegentlich dazu 764 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Macht und Freimut des Zuhörens

herablassen, ihr Ohr Anderen zu leihen, um etwas in Erfahrung zu bringen, was sie sich nur sagen lassen können? Gelingt das nur, wo Macht zwischenzeitlich sich selbst einschränkt und auf diese Weise stets Herr der Lage bleibt? Oder lässt sie sich auf diese Weise wirklich entmächtigen, ohne oder trotz Furcht vor Machtverlust 54, um Anderen, weit weniger Mächtigen oder Ohnmächtigen (adýnatoi; RS, S. 203) nicht bloß das Recht, sondern die effektive Möglichkeit einzuräumen, selbst zur Sprache zu kommen, ohne dabei immer schon einer mehr oder weniger bedrohlichen Macht unterworfen zu sein, die allen Mut erfordert, sich ihr gegenüber offen zu äußern, wenn sie einen ›Kopf und Kragen kosten‹ kann? Würde sie sich nur selbst einschränken, um jederzeit Herr der Lage zu bleiben, bliebe sie in gewisser Weise selbst schwach – unfähig, sich zu einem freimütigen Zuhören durchzuringen, das sich mit womöglich unabsehbaren Folgen dem Anderen aussetzt, um sich von ihm etwas sagen zu lassen. Wie es scheint, appellierte der Freimut der Rede seit jeher an diesen Freimut des Zuhörens, in dem entmächtigte Macht den Anderen als ihren Befreier begrüßt, ohne den sie wohl niemals von sich selbst loskäme. 55 Dem entsprechend, meine ich, wäre auch Foucaults Geschichte der antiken parrhesía zu rekonstruieren 56, die ich hier in Rancières Politische Philosophie gewissermaßen eingeblendet habe, um deutlich zu machen, was im Dissens tatsächlich auf dem Spiel steht, ohne den sich das Politische Rancière zufolge nicht ereignen kann: ob man Müssten nicht auch Machthaber in diesem Sinne »einen seelischen Kampf mit sich selber« kämpfen, um einer Selbstverkennung zu entgehen, die darin liegt, zu glauben, auf jene Passivität in keiner Weise angewiesen zu sein? (Vgl. DW, S. 139, 141, 150.) 55 Wie es Foucault mit einem Galen-Zitat andeutet in DW, S. 147. 56 Tatsächlich heißt es explizit bei Foucault, wie eingangs zitiert (RS, S. 179): »Damit der Stärkste vernünftig regieren kann, muß der Schwächste zum Stärksten sprechen […] und ihn mit seinen wahren Reden herausfordern.« Machttheoretisch entscheidend ist es jedoch, ob diese Möglichkeit nur dann gegeben ist, wenn Ohnmächtige bzw. relativ Machtlose aus eigener Initiative ›das Wort ergreifen‹ bzw. es Anderen ›entreißen‹, um sie kämpferisch zu entmächtigen, oder ob es sich stets um eine Selbstentmächtigung derer handelt, die es scheinbar gar nicht nötig haben, Schwächeren zuzuhören. Und handelt es sich hier nur um eine Frage politischer Klugheit, wenn sich Mächtige dennoch dazu herablassen, sich ausgerechnet von denjenigen etwas sagen zu lassen, die nichts zu sagen haben? Oder betrifft diese Frage unmittelbar den politisch-technisch nicht befriedigend aufzuklärenden Sinn von Machtausübung, insofern sie einem wirklichen Zusammenleben verpflichtet ist? Beide Fragen führen deutlich über Foucault und Rancière hinaus und verlangen danach, dieses ›EntwederOder‹-Fragen selbst zu überwinden. 54

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XX · Demokratie, Dissens und Freimut

Macht- und Herrschaftsverhältnisse jeglicher Art freimütig zur Rede und zur Disposition stellen kann, auch demokratische, in denen sich Völker oder einige, die sie rhetorisch exklusiv für sich in Anspruch nehmen 57, zur Herrschaft über Andere berufen fühlen. Ob sie dieses weder auf einen politischen Herrschaftstyp noch auf eine Regierungsart zu reduzierende Prädikat wirklich verdienen, wird sich nur praktisch erweisen können: in Lebensformen, wo man, dem Anspruch Anderer ausgesetzt, in Freiheit nicht nur zu sprechen, sondern auch zuzuhören wagt.

Vgl. die entsprechenden aktuellen Hinweise bei J. Kastner et al., Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Wien, Berlin 2012, S. 35, 64, 71.

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Kapitel XXI Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit? Disability und diversity im Kontext einer Kultur der Differenzsensibilität I am no more different from you than you are from me. Martha Minow 1 Du bist nicht anders als die anderen. Forrest Gump 2 […] wie ich mir selbst manchmal anders bin, das ›ich‹, dieser ›Andere‹. Emmanuel Levinas 3

1.

Verschiedenheit und Differenz politisch gesehen

»Es ist normal verschieden zu sein«, wird allenthalben verkündet. Und auf der Grundlage dieser scheinbar frohen, auf disability and diversity studies (DDS) gestützten Botschaft wird erklärtermaßen besonders von pädagogischen Institutionen das gesellschaftspolitische Ziel der Inklusion verfolgt. Diese studies begreifen sich wie auch die sog. cultural studies, race, jewish und gender studies weniger als kulturwissenschaftliche Unterfangen, sondern primär als praktische Interventionen in eine unübersehbare menschliche Verschiedenheit, die seit geraumer Zeit zum Politikum geworden ist. Und zwar derart, dass es ausgeschlossen scheint, es könne sich bei der festgestellten Normalität lediglich um einen deskriptiven Befund handeln. Die fragliche Normalität ist nämlich keineswegs quasi von sich aus ›nor1 M. Minow, Making all the Difference. Inclusion, Exclusion, and American Law, Ithaca, London 1990, S. 111. 2 http://www.soziales.fh-dortmund.de/diederichs/sozpaed-movies/kritiken/forrestg. htm 3 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 35.

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XXI · Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit?

mal‹ ; vielmehr verdankt sie sich einer Normalisierung, die normalisiert, als normal erscheinen und gelten lässt, was nicht einfach normal ist. Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass diese Normalisierung mit einer Kultur der Differenzsensibilität in Konflikt zu geraten droht, der sie auf den ersten Blick ganz und gar verpflichtet zu sein scheint. Als ›normal‹ soll nunmehr nicht nur gelten, dass jedermann ›anders‹ ist, sondern darüber hinaus auch, dass jeder als ›Verschiedener‹ zur Aussprache und zur Geltung kommen können soll. So wird aus der Normalität des Anders- und Verschiedenseins unversehens ein kryptonormatives Argument und eine generelle Forderung. Wenn es ›ganz normal‹ wäre, verschieden zu sein, bedürfte es dann überhaupt besonderer Beschäftigung mit dieser Normalität? Warum muss man auf sie eigens hinweisen? Offenbar handelt es sich keineswegs um eine problemlose Normalität, sondern um eine paradoxerweise von vielen für nicht ›normal‹ gehaltene Normalität, die als ›normale‹ überhaupt erst zur Geltung zu bringen und für die praktisch Sorge zu tragen ist. Das besagt die Zielvorgabe Inklusion. Worin liegt das Problem der Normalität aber genau? Suggeriert wird mit der zitierten Formulierung: (a) Verschiedenheit ist normal, aber sie ist normalerweise, häufig, in der Regel nicht mit Inklusion verbunden; (b) das muss aber sein. Verschiedenheit erfordert Inklusion. Verschiedenheit soll, muss ›inkludiert‹ werden. (c) Man muss, wie es heißt, »konsequent« das Ziel der Inklusion verfolgen, weil nicht inkludierte Verschiedenheit nicht akzeptabel, nicht hinnehmbar ist. Warum nicht, wäre zu klären. 4 Das bedarf umso mehr der Klärung, als das Wort Verschiedenheit ironischerweise auf allzu vieles unterschiedslos angewandt wird. Ist nicht alles (irgendwie) verschieden, was sich unterscheiden lässt oder sich von anderem unterscheidet? Alle möglichen Dinge sind verschieden. So wie Sandkörner, die sich kaum unterscheiden lassen, aber im dem Moment (für uns) verschieden sind, wo wir mindestens Und zwar ungeachtet der Tatsache, dass Inklusion als Recht vielfach vom Anspruch auf Achtung der menschlichen Würde hergeleitet wird (wie im Art. 3 der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen). Aus der Würde folgt aber keineswegs ohne weiteres etwa ein verallgemeinerbarer Anspruch, menschliche Verschiedenheit sei unter allen Umständen, in jeder Hinsicht und jederzeit zu (be-)achten, anzuerkennen und praktisch zu gewährleisten. https://de.wikipedia.org/wiki/% C3%9Cbereinkommen_%C3%BCber_die_Rechte_von_Menschen_mit_Behinderun gen.

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Verschiedenheit und Differenz politisch gesehen

zwei vor uns haben, die wir vergleichen können; und zwar auch dann, wenn wir bei näherer Betrachtung gar keinen Unterschied zwischen ihnen erkennen können. Auch Äpfel und Birnen sind bekanntlich verschieden. Für manche bereits derart, dass man sie miteinander »nicht vergleichen« kann, wie es sprichwörtlich heißt. Dabei kann man sie unter dem Aspekt des Geschmacks offensichtlich doch vergleichen. Subhumane Lebewesen wie Katzen sind verschieden, äußerlich erkennbar zumindest dann, wenn sie verschiedenen Rassen angehören. Aber in der Nacht sind angeblich »alle Katzen grau«. Unter bestimmten Umständen lässt sich das an sich Verschiedene also nicht unterscheiden. Der (hier äußerliche) Unterschied ›verschwindet‹ dann – zumindest in unseren Augen. Für Biologen liegt allerdings der entscheidende Unterschied gar nicht im Aussehen, sondern in der Morphologie der diversen Lebewesen und letztlich im Genotypus begründet. Als Evolutionstheorie interessiert sie sich ja vor allem dafür, wie Gattungen, Arten, Rassen und Varietäten auseinander hervorgegangen sind – in einer äußerst komplexen Diversität, über deren Erhaltung sich die Biologen der Gegenwart Sorgen machen. Angesichts eines verantwortungslosen Gebrauchs von Pestiziden, fortschreitender Rodung großer Wälder, Wasserverschmutzung usw. stellen sie eine kritische Abnahme von Biodiversität fest. Sprechen wir aber so, unter Verwendung eines Begriffs der diversity, auch von uns selbst? Handelt es sich hier, zugespitzt gefragt, um eine Art Botanik menschlicher Verschiedenheiten, die sich, im Prinzip kaum anders als biologische Diversität, einer vergleichenden Untersuchung unterziehen lassen? Genau das suggeriert die eingangs zitierte Martha Minow in ihrem Buch über Inklusion und Exklusion, indem sie schreibt: »difference […] is a comparative term« – »meaningful only as a comparison«. 5 Demnach wäre stets etwas oder jemand von etwas oder von jemand anderem verschieden; und die entsprechende Feststellung würde immer einem Vergleich entspringen, in dem sich zeigen müsste, dass und wie etwas oder jemand ›anders‹ ist. Vom Widerfahrnis einer befremdlichen Differenz, die uns ›unter die Haut geht‹ angesichts von Unheimlichem, Beunruhigendem, generell Fremdartigem, ohne dass wir dazu eine distanzierte, Vergleiche ermöglichende Position einnehmen könnten, weiß ein solcher Ansatz offenbar nichts und übersieht damit eine längst breit dokumentierte Phänomenologie der 5

Minow, Making all the Difference, S. 22, 111.

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XXI · Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit?

Fremdheit. 6 Davon sehe ich im Folgenden jedoch ab und konzentriere mich auf die Frage, wohin uns ein Denken menschlicher Verschiedenheit führt, das sie (a) auf komparative Differenz zurückführt und sie (b) für weitgehend ›normal‹ und (c) für vorrangig anerkennenswert hält. 7 Biologisch kann es sich herausstellen, dass das, was äußerlich ähnlich ist, nicht nahe verwandt ist. Und umgekehrt: das äußerlich sehr Verschiedene kann sich als genetisch zutiefst verwandt erweisen. Das gilt nicht nur für analoge und homologe organismische Funktionen, sondern auch für uns Menschen. Sind wir nicht auch Lebewesen – und insofern, in genetischer Hinsicht, nur mehr oder weniger verschieden von Primaten, ja selbst von Schweinen und Amöben? Was immer man darüber denken mag, ob wir ›bloße‹ Lebewesen sind (wie andere auch 8) oder ob uns etwas wesentlich von allen anderen Lebewesen unterscheidet, eines ist unter dem Gesichtspunkt der Verschiedenheit nicht zu übersehen: Wie auch immer wir – von anderen Lebewesen etwa – verschieden sind, wir unterscheiden uns auch selbst; wir werden von Anderen unterschieden und unterscheiden uns unsererseits von ihnen. Pointiert könnte man sagen: wir unterscheiden uns von (anderen) Lebewesen gerade dadurch, dass und wie wir uns – selbst und voneinander – unterscheiden. Das ist nun ein alles andere als trivialer Befund, denn bei uns Menschen nimmt das Sich-Unterscheiden besondere Formen an. Diese Phänomenologie geht der fraglichen Differenz nicht erst in einem mehr oder weniger distanzierten Verhältnis zum Anderen und in der Rede über Andere, sondern in der Begegnung mit ihnen selbst nach. Es ist erstaunlich, wie weitgehend gerade dieser entscheidende Unterschied in Lobreden auf menschliche Verschiedenheit übersehen werden konnte, die sie vielfach wie einen verhandelbaren Gegenstand traktieren, von dem die Rede ist, so als ob uns nicht befremdliche Differenz auf andere, kaum distanzierbare Art und Weise buchstäblich ›unter die Haut gehen‹ würde. 7 Speziell um (c) ist in den letzten Jahren heftiger Streit entbrannt, der durch den Erfolg gewisser Populismen noch angeheizt wurde. In Anbetracht dessen wurde der Vorwurf erhoben, eine auf die vorrangige Anerkennungsbedürftigkeit schieren Andersseins einseitig konzentrierte Politik vernachlässige notorisch Gerechtigkeitsfragen und den Anspruch auf Gleichheit. Insofern spiele sie einer reaktionären ›Identitätspolitik‹ geradezu in die Hände. Von dieser überwiegend polemisch geführten Diskussion sehe ich hier ab, zumal man mit Begriffen wie Andersheit, Identität, Gerechtigkeit und Gleichheit vielfach nur in schroffen, sozialphilosophisch unergiebigen Gegenüberstellungen operiert. 8 Eine reichhaltige Literatur bestreitet das; vgl. S. Schaede, G. Hartung, T. Kleffmann (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Band 2, Tübingen 2012. 6

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Verschiedenheit und Differenz politisch gesehen

Zweifellos unterscheiden wir uns in zahllosen Hinsichten: hinsichtlich der Größe und Statur, des Gewichts und Umfangs, der Farbe, des Gangs und des Habitus, des Geschlechts und Alters, der geschichtlichen und kulturellen Herkunft, hinsichtlich gewisser Arten, die Dinge um uns herum wahrzunehmen, zu fühlen, zu denken, zu sprechen, zu hören (aufmerksam oder zerstreut), zu leben – und, nicht zuletzt: zu sein. All das mag gemeint sein, wenn davon die Rede ist, wir seien verschieden – aber nicht nur in vielerlei Hinsichten, sondern vielleicht auch im Ganzen – bis zu einem Punkt, wo es sprichwörtlich heißt: wir seien derart verschieden, dass wir ›keinerlei Gemeinsamkeit‹ mehr mit Anderen zu haben glauben. Eine gefährliche, möglicherweise radikale Konflikte heraufbeschwörende Formulierung. Gewiss, fast nie ist sie ganz wörtlich zu nehmen. Auch diejenigen, mit denen man nichts gemeinsam zu haben meint, sind doch Menschen, sollte man meinen, selbst wenn man ihr Menschsein in Abrede stellt. Auch diejenigen, denen man das Menschsein abspricht, fühlen, denken, leben auf ihre eigene, vielleicht ›ganz andere‹ Art und Weise. Das Gleiche gilt für diejenigen selbst, die skandalöserweise Anderen das Menschsein ganz und gar oder in entscheidenden Hinsichten absprechen, indem sie sie als Monster, als Un-Menschen oder als Menschen ›zweiter Klasse‹, als underdogs oder als ›minderwertig‹ einstufen. Nur mit Anderen kann man so verfahren. Mit Anderen sollte man aber auf keinen Fall so verfahren. Das besagt u. a. der Art. 1 des Deutschen Grundgesetzes nach einer verbreiteten Deutung, obwohl er gar nicht auf einen ›Wert‹ des Menschen, den man abwerten, umwerten oder ganz entwerten könnte, sondern auf eine Achtung jedes Anderen abstellt, die auf nichts zu relativieren sein und insofern keinen »Preis« haben sollte. 9 Wenn man sagt, man habe nichts mehr mit Anderen gemeinsam, so ist in der Regel nur gemeint: in den entscheidenden Hinsichten habe man keine Gemeinsamkeit mehr, man habe sich insofern als derart verschieden erwiesen, dass ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich scheint. Die Folgen sind, im besten Fall: Trennung, Scheidung, politisch die Separation wie im Fall des ehemaligen Jugoslawien; im schlimmsten Fall ein Zusammenleben, das sich nur noch Das geht bekanntlich aus Kants Gegenüberstellung von relativem und absolutem Wert hervor. Vgl. Vf., »Von der fehlenden Begründung zur prekären Bezeugung der Menschenrechte«, in: Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy 2, nr. 1 (2014), S. 97–115.

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XXI · Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit?

im Gegeneinander manifestiert. Gegebenenfalls mit eskalativer Tendenz, so dass die normale Auseinandersetzung zum fortgesetzten Streit, dann zu einer Art Krieg mutiert, der die Beziehungen der Beteiligten ganz und gar ruiniert. Diese Gefahr wird schon in der Politischen Philosophie der Antike reflektiert, wo sie Übergänge zwischen normalem Streit und (Bürger-)Krieg in Betracht zieht. Es mag demnach normal sein, verschieden zu sein, insofern damit die gewöhnliche Erfahrung eines vielfältigen Andersseins gemeint ist. Aber das Gewalt heraufbeschwörende Problem, das darin liegt, erschöpft sich gerade nicht im Anders- bzw. Verschieden-sein; es liegt vielmehr in den Unterschieden, die wir ›machen‹, die für uns und Andere wichtig sind, im Unterschied zu anderen Unterschieden, die für uns keine oder wenig praktische Bedeutung haben. Dagegen insistieren wir auf Unterschieden bzw. Verschiedenheiten, die uns alles andere als gleichgültig sind, die zentral damit verbunden zu sein scheinen, als wer wir uns, als wer sich Andere verstehen – im Gegensatz zu anderen Anderen, mit denen wir im Lichte der für uns wichtigsten Unterschiede schließlich wenig oder nichts gemeinsam zu haben meinen. Auf diese Weise beschwört Anders- oder Verschiedensein ›Differenzen‹ herauf – Differenzen in dem Sinne, wie wir alltäglich sagen: wir »haben Differenzen«, vielleicht unüberbrückbare. Es mag nach dem Gesagten normal sein, in allen möglichen Hinsichten anders und verschieden zu sein; es ist aber auch normal (hier: im Sinne des Gewöhnlichen, häufig Festzustellenden), die Erfahrung der Verschiedenheit als einer Differenz zu machen, die jegliche Normalität aufhebt oder ruiniert, wenn man gar keine Gemeinsamkeit mehr erkennen kann, die ein Zusammenleben mit Anderen noch möglich machen oder erträglich erscheinen lassen würde. An dieser Stelle wird deutlich, warum es (im 20. Jahrhundert) zu einem Politikum ersten Ranges werden konnte, »ohne Angst verschieden« sein zu wollen und sein zu dürfen. Bekanntlich stammt diese Formulierung von Theodor W. Adorno. 10 Sinngemäß ist sie aber auch bei Rosa Luxemburg, im Individualitätsdiskurs der Romantik, bei den Vorkämpferinnen der Rechte der Frauen (Mary Wollstonecraft, Olympe de Gouges u. a.), in der Kritik der Sklaverei und des Kolonialismus usw. zu erkennen. Inzwischen ist sie gängige Münze. Von den ›Erben‹ der sog. Kritischen Theorie über sonderpädagogische Fachverbände und angewandte Politikforschung bis hin zur offiziellen Sozialpolitik und 10

T. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 1978, S. 131.

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Zur »Politik der Differenz«

zum deutschen Bundespräsidenten beruft man sich auf sie. 11 Nicht selten so, als ob sie selbstverständlich wäre und keine weiteren Fragen nach ihrem angemessenen Verständnis aufwerfen würde. Der weit zurückreichenden Vorgeschichte der Forderung, »ohne Angst verschieden« sein zu dürfen, ist an dieser Stelle nicht auf den Grund zu gehen. Ich beschränke mich darauf, zu zeigen, wie DDS vor dem Hintergrund der skizzierten Politisierung der Verschiedenheit, des Verschieden- und Andersseins und der Differenz zu verstehen sind. Die Politisierung der Verschiedenheit – als einer gerade nicht uferlosen empirischen Diversität (wie sie den Biologen begegnet), sondern als einer Erfahrung, die für die Seins- und Lebensweise vieler, wenn nicht aller Menschen von zentraler Bedeutung zu sein scheint – ist am deutlichsten unter dem Titel »Politik der Differenz«, auf die ich nun näher eingehe, wohl wissend, damit nur einen Ausschnitt mannigfaltiger Diskurse zur Sprache zu bringen, die sich mit menschlicher Verschiedenheit auseinandergesetzt haben. Im Anschluss daran werde ich die DDS im Kontext einer Kultur der Differenzsensibilität situieren, die in dieser Politik ihre deutlichste Ausprägung gefunden hat.

2.

Zur »Politik der Differenz«

Erst in der Neuzeit ist die Verschiedenheit der Menschen als solche zu einer sozialen Herausforderung ersten Ranges geworden. Es lohnt sich, verschiedene Stränge dieser Vorgeschichte in Erinnerung zu rufen, denn nur so ist das historische Profil der gegenwärtigen Kultur der Differenzsensibilität angemessen zu verstehen. Genannt seien in diesem Sinne wenigstens die wichtigsten Katalysatoren der Auseinandersetzung mit menschlicher Verschiedenheit (a–g): https://www.freitag.de/autoren/liebernichts/das-ziel-ohne-angst-verschiedensein; http://www.ipp-muenchen.de/texte/ohne_angst_verschieden_sein_koennen. pdf; D. Katzenbach, J. Schroeder, »›Ohne Angst verschieden sein können‹. Über Inklusion und ihre Machbarkeit«, in: Zeitschrift für Inklusion-online.net, Nr. 1 (2007); http://www.inklusion-online.net/index.php?menuid=29&reporeid=31; http://www. cap-lmu.de/akademie/praxisprogramme/ohne-angst-verschieden-sein/; http://www. fr-online.de/meinung/gastbeitrag-zum-diversity-day–ohne-angst-verschieden-sein,1472602,27327874.html; http://www.sueddeutsche.de/politik/gauck-zum-jahrestagdes-nsu-anschlags-in-koeln-ein-land-in-dem-wir-ohne-angst-verschieden-seinkoennen-1.1992432.

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(a) Thomas Hobbes schrieb angesichts des Bürgerkrieges im England des 17. Jahrhunderts: Meine Mutter hat Zwillinge zur Welt gebracht: mich und die Furcht. Gemeint war die Furcht vor allen Anderen als möglicherweise gewalttätigen Subjekten, die »das Größte« vermögen: Andere zu töten. Als von ihnen Unterschiedene haben wir allen Grund, uns vor ihnen zu fürchten, lehrte Hobbes. 12 (b) Immanuel Kant beschreibt in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht einen weltbürgerlichen »Pluralism«, im dem sich die Fähigkeit bewähren sollte, sich jederzeit in den unterschiedlichen Standpunkt oder in die Perspektive Anderer zu versetzen. 13 (c) Gegen Hobbes und Kant wendet sich Georg W. F. Hegel mit seiner Beschreibung eines Kampfes um Anerkennung, die in der Wirklichkeit des Staates die Differenz aller in einer gemeinsamen Identität sollte aufheben können. (d) Friedrich Nietzsche fragte demgegenüber: Ist Leben nicht »Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Differentsein-wollen«, und zwar auf ›unaufhebbare‹ Art und Weise? 14 Man ist demnach nicht einfach verschieden, man besteht auf Differenz 15 (vielleicht gerade dann, wenn sie kaum zu erkennen ist). Nähe verschärft Konflikte, sagte Nietzsche in diesem Sinne. (e) Das kommt auch in Georg Simmels Konzeption einer Differenzsensibilität zum Tragen, die deutlich macht, dass Verschiedenheiten nicht einfach vorliegen. Simmel hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass es einen Unterschied macht, welche Differenz man wahrnimmt und beachtet und auf welche es ankommt. Dabei konzentriert sich der Soziologe auf das Geschehen der Differenzierung selber, durch das sich überhaupt erst Verschiedenes abzeichnet. Unterschiede liegen nicht einfach vor; sie werden auf der Grundlage einer mehr oder weniger ausgeprägten »Unterschiedsempfindlichkeit« überhaupt erst wahrgenommen oder realisiert, akzentuiert, hervorgehoben und mit einer Bedeutung ausgestattet, die ihnen ›an sich‹ gar nicht ohne weiteres zukommt. Das gilt vor allem unter Bedingungen sozialer Dissoziation durch Streit oder Feindschaft, in der man sich am Ende nur noch durch die »Verneinung des Anderen« selbst definiert; und zwar um so radikaler, je mehr Gemeinsamkeit zuvor bestanden hat, wie SimT. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/M. 1984, S. XI, XXI. 13 I. Kant, Werkausgabe Bd. XII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 401. 14 F. Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«, in: Sämtliche Werke Bd. 5 (Hg. G. Colli, M. Montinari), Stuttgart 1980, S. 9–244, hier: S. 22. 15 Vgl. E. Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974, S. 164. 12

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Zur »Politik der Differenz«

mel in seinen sozialpsychologischen Überlegungen ausführt. 16 In der extremen, feindseligen Dissoziation lässt man schließlich gar keine Gemeinsamkeit mehr gelten; stattdessen wird eine verabsolutierte Differenz hypostasiert, die bis in die Sinne hinein durchschlägt. Gleichsam allergisch reagieren sie dann auf die bloße Nähe des Anderen, die speziell der »dissoziierende Sinn« des Geruchs mit einem verschärften Affekt unaufhebbarer Trennung quittiert. 17 Wenn es darauf ankommt, mit Anderen nichts mehr gemeinsam zu haben, folgt am Ende selbst die unmittelbare Wahrnehmung dieser Vorgabe wie einem Gebot und zeigt sich in eine Politik der Differenz verwickelt, für die entscheidend ist, nicht dass man, sondern wie verschieden man ist; und zwar unter Umständen in unannehmbarer Art und Weise. (f) Letzteres geht ähnlich aus Pierre Bourdieus Sozio-Ästhetik der »feinen Unterschiede« hervor, die denjenigen, die sie ›machen‹, subtil wirksame Mittel kultureller Distinktion an die Hand gibt. Auch hier ›zählt‹ allein, wie verschieden oder anders wir sind, wobei die Differenz aber eigens gesucht und hervorgehoben wird, um sie zum Zweck der Distinktion aufrechtzuerhalten. So hebt die Distinktion die Erfahrung von Differenz aus einer Gemengelage von Verschiedenheiten heraus, der nicht einfach abzulesen ist, inwiefern es uns auf Differenz ankommt oder ankommen muss. 18 (g) Genau darauf stellt nun eine dezidiert als »Politik der Differenz« auftretende Strömung in der Sozialphilosophie, in Diskursen über die Rechte von Minderheiten, in Antidiskriminierungspolemiken und im jüngeren Feminismus ab. Adorno und Jean-François Lyotard waren sich darin scheinbar einig: was unaufhebbar verschieden bzw. anders ist, sei zu »retten« bzw. davor zu bewahren, »ausgemerzt« zu werden. 19 Wo es um Rechte von Minderheiten, Kindern, Behinderten, Schwarzen und Frauen

G. Simmel, Soziologie, Frankfurt/M. 1992, viertes Kapitel, sowie S. 657, 684, 801. Und zwar nach aller Erfahrung gerade dann, wenn die fragliche Differenz zunächst kaum ausgeprägt ist; vgl. D. Lapeyronnie, »Die Ordnung des Formlosen. Die soziale und politische Konstruktion von Rassismus in der französischen Gesellschaft«, in: H. Bude, A. Willisch (Hg.), Exklusion. Die Debatte über die ›Überflüssigen‹, Frankfurt/M. 2008, S. 161–177, hier S. 167 zu P.-A. Taguieffs Formel der »Verabsolutierung des Unterschieds«. 18 P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987. 19 J.-F. Lyotard, Postmoderne für Kinder, Wien 1987, S. 31; Adorno, Minima Moralia, S. 11. 16 17

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XXI · Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit?

ging, sprach man aber nicht von ›etwas‹, sondern vom Anderssein Anderer, das ihr Leben geradezu ausmacht. Von der differenzsensiblen Wahrnehmung, Würdigung und Anerkennung hänge, so wurde u. a. von Judith Butler behauptet, geradezu die Lebbarkeit des Lebens Anderer ab, die bis dahin politisch unbeachtet geblieben seien. Und diese Lebbarkeit gelte es praktisch zu garantieren. Jedenfalls in politischen Lebensformen, die menschliche Verschiedenheit, Differenz oder Andersheit nicht einfach als normal hinnehmen (sofern sie sich überhaupt mit ihr auseinandersetzen), sondern sie auch zum Vorschein, zum Ausdruck und zur Geltung kommen lassen müssen. Warum ›müssen‹, wird man fragen. Ist das eine Selbstverständlichkeit? Wie (genau) wird eigentlich aus dem Befund, dass wir verschieden sind, ein normativer und vorrangiger Anspruch? Und zwar u. U. ein unbedingter, so dass sich politische Lebensformen mit der kategorischen, bedingungslosen Forderung 20 konfrontiert sehen, nicht nur wahrzunehmen, zum Ausdruck und zur Geltung kommen zu lassen, dass und wie verschieden wir sind, sondern auch praktisch zu gewährleisten, dass gemäß dieser Verschiedenheit zu leben ist. Demnach geht es also um ein in Verschiedenheit, angesichts unübersehbarer Verschiedenheiten, die ›Differenzen‹ heraufbeschwören, trotz und mit Verschiedenheit (gemeinsam, politisch) zu lebendes Leben, dessen Lebbarkeit durch nichts garantiert ist. Durch nichts, heißt das, es sei denn eben durch uns. Durch uns? Wer ist hier ›wir‹ ? Wen geht die normativ gewendete Forderung der Wahrnehmung, Anerkennung und der praktischen Sicherstellung und Förderung ›verschiedenen‹ Lebens überhaupt etwas an? Etwa nur diejenigen, die sich selbst als ›verschieden‹ begreifen – im Unterschied zu jenen, die in ihrer Verschiedenheit, im Differieren von Anderen und Differenziertwerden durch Andere kein Problem sehen? Kann es sich hier nur um eine mehr oder weniger ignorante Mehrheit handeln, die einfach nicht realisiert, dass und wie verschieden wir tatsächlich sind? Ist Verschiedenheit womöglich nur ein Problem derer, die unter ihr leiden? Die »Politik der Differenz« gibt sich nicht damit zufrieden, ›Differenz‹ in diesem Sinne als bloßes Sonderthema der Sozial- und Kulturwissenschaften einzustufen. Für sie wird Differenz, im Gegenteil, zum eigentlichen Politikum, ausgehend von folgenden Prämissen (1– Vgl. H. Bielefeldt, Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, Berlin 32009, S. 5.

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Zur »Politik der Differenz«

5): (1) Jeder ist anders, wird aber keineswegs in der für ihn/sie entscheidenden Hinsicht auch als solche(r) ohne weiteres auch wahrgenommen, anerkannt und praktisch in ein politisch zu organisierendes Zusammenleben einbezogen, sondern erfährt aufgrund seines/ ihres Andersseins ggf. Marginalisierung, Deprivation, Ungerechtigkeit usw. 21 (2) Es bedarf demnach in politischen Lebensformen, zu deren Selbstverständnis es unabdingbar gehören muss, der Andersheit eines jeden gerecht zu werden (oder es zumindest zu versuchen), der Wahrnehmung, der Artikulation und des öffentlichen Austauschs über mangelnde Differenzsensibilität, über Ignoranz oder Gleichgültigkeit gegenüber Differenzen, auf die es Anderen entscheidend ankommen muss, insofern die Lebbarkeit ihres Lebens davon abhängt. (3) Differenz ist niemals einseitig als (negative) Abweichung von Anderen einzustufen, die sich ihrerseits womöglich als nicht (wesentlich) verschieden begreifen. Wer sich im Verhältnis zu wem als verschieden im Sinne der Abweichung, der Diskriminierung, der Benachteilung begreift, ist überhaupt erst eigens im Dissens zur Diskussion zu stellen. (4) Es gibt keine einfach ›gegebene‹ Normalität eines Wir, von dem aus Andere als abweichend, different oder im pejorativen Sinne fremd usw. einzustufen wären. Jegliche Normalität ist im Gegenteil Produkt einer Normalisierung dessen, was nicht einfach normal (oder, alternativ) pathologisch ›ist‹. (5) Wie – und durch wen – Differenz so oder anders bewertet wird, bedarf der Aufklärung – sowohl in dem Fall, dass sie als Quelle von Vielfalt gelobt, als auch für den Fall, dass sie als ›Differenzen‹ und unlösbaren Konflikt heraufbeschwörende Gefahr gefürchtet wird. So werden mit Differenzen Unterschiede gemacht, die niemals einfach vorliegen, sondern eben als Unterschiede zum Vorschein gebracht, artikuliert, gegebenenfalls auch beklagt und ›konstruiert‹ werden, die einen Unterschied machen. 22 Für wen aber, und in welcher Hinsicht? Verteidiger eines ›multikulturellen‹ Lebens sagen: für uns dürfen ethnische Unterschiede keinen (politischen) Unterschied machen. Verteidiger von Minderheitenrechten sagen: wir, als so oder ob ›Abweichende‹, wollen, dass man unserer Diskriminierung per Gesetz

N. Fraser, Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt/M. 2001, S. 27. 22 Vgl. C. Geertz, »The Uses of Diversity«, in: Michigan Quaterly Review 25 (1986), S. 105–123, hier: S. 107. Von den ›identitätspolitischen‹ Fragen einer interkulturellen Politik der Differenz sehe ich im Weiteren ab. 21

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entgegenwirkt, so dass wir gerade dadurch als Gleiche zählen können. Andere halten dagegen: für uns kann es keinen (politisch-rechtlichen) Unterschied machen, ob ihr euch als ›different‹ begreift. Das ist eure Privatsache. Mitnichten, antworten die Kontrahenten: eine Gesellschaft, die Fragen der Lebbarkeit des Lebens eines jeden tangierende Erfahrungen des Andersseins gleichgültig lässt oder privatisiert, verdient ihren Namen nicht. Entweder wir leben zusammen, indem wir für eine politsche Lebensform Sorge tragen, in der es um diese Lebbarkeit gehen muss, oder wir leben am Ende überhaupt nicht zusammen – schon gar nicht als sehr Verschiedene, die in und mit ihrer surface-level diversity und mit ihrer deep-level diversity leben müssen, so tief sie auch reichen mag. Wie tief sie reicht, das ist immer noch Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen, an der sich xenologische Beiträge, Ethnografien, diversity studies, Analysen und Kritiken der Gastlichkeit europäischer Lebensformen und nicht zuletzt feministische Theoretikerinnen beteiligt haben, auf die ich gleich näher eingehe. Auffällig ist, dass es vor allem Frauen waren, die den sozialphilosophisch-sozialpsychologischen und ethischen Diskurs über eine »Politik der Differenz« vorangebracht haben. Zu denken ist hier u. a. an Iris M. Young, Martha Minow, Nancy Fraser, Seyla Benhabib, Judith Butler und Luce Irigaray. 23 Ich will mir nicht anmaßen, hier eine Bilanz ihrer weitläufigen Diskussionen zu ziehen, aber doch einige Punkte herausheben, die mir für ein angemessenes Verständnis der »Politik der Differenz« wesentlich zu sein scheinen, in die ich die gegenwärtigen Aktivitäten der DDS gleichsam einhängen möchte. Mit Nancy Fraser lassen sich vier Haltungen zur Differenz und ihren politischen Bedeutungen unterscheiden: – »Die [mit Iris M. Young als humanitär eingestufte] Auffassung, daß die von Mitgliedern unterdrückter Gruppen bekundeten Differenzen gerade die von der Unterdrückung hervorgerufenen Schädigungen sind oder genau die Lügen, die durch sie rationalisiert wurden.« 24 Differenz gilt hier als »Kunstprodukt der Unterdrückung« durch Andere. – Die Auffassung, derzufolge Differenzen Ausdruck der Überlegenheit bislang Unterdrückter sind – beispielsweise weibliche Vgl. S. Stoller, H. Vetter (Hg.), Phänomenologie und Geschlechterdifferenz, Wien 1997. 24 Fraser, Die halbierte Gerechtigkeit, S. 295 f. 23

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Zur »Politik der Differenz«





Fürsorge für Abhängige (Carol Gilligan). 25 Ob entsprechende Eigenschaften oder Fähigkeiten nicht »universalisiert« werden sollten, gibt Fraser zu bedenken. Andere sollten sie sich womöglich zum Vorbild nehmen. Differenzen sind nach einer dritten Auffassung einfach Varianten bzw. Quellen zu bejahender menschlicher Vielfalt, die für wertvoll gehalten wird. (Manchmal in pauschaler und naiver Art und Weise, die ignoriert, wie dramatisch ein ›vielfältiges‹ Zusammenleben durch seine eigene Vielfalt überfordert werden kann.) Schließlich ist eine differenzierte Politik der Differenz zu nennen, die sich um Unterscheidungen bemüht zwischen Differenzen, auf die es (politisch-rechtlich etwa im Hinblick auf die Umverteilung von Ressourcen) ankommt, und solchen, für die das weniger oder gar nicht gilt. Die Schwierigkeit dieser Position liegt u. a. darin, dass sie einen Begriff des Politischen einfach vorauszusetzen scheint. Aber über eine klar erkennbare, eindeutige und unstrittige Linie zwischen dem Politischen und dem Nicht-, Außer- oder A-Politischen verfügen wir gar nicht. Bemerkenswert an den DDS ist gerade, dass sie das geläufige Verständnis des Politischen radikal dem Dissens aussetzen. So werfen sie auch die Frage auf, ob »Anderssein ein Menschenrecht« 26 sein kann und ob es als solches zu einer elementaren bzw. grundlegenden Maßgabe des Politischen werden muss. Ist das überhaupt denkbar, wenn wir es, wie Judith Butler feststellt, etwa im Bereich der »geschlechtlichen Ausdrucksweisen sowie sprachlicher und psychophysischer Ursprünge menschlicher Sexualität« mit einer unübersehbaren »Diversität« zu tun haben, d. h. mit Differenzen, die als Differenzen gar nicht einfach auf einen Nenner zu bringen sind? 27 Drohte das Recht einer politischen Lebensform nicht absolut überfordert zu werden, wenn man es dem Anspruch unterwerfen würde, derartiger Diversität Rechnung zu tragen?

C. Gilligan, In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge/Mass. 1982. 26 S. Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt/M. 1999, S. 31. 27 J. Butler, »Geschlechtsideologie und phänomenologische Beschreibung. Eine feministische Kritik an Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung«, in: Stoller, Vetter, Phänomenologie und Geschlechterdifferenz, S. 166–186, hier: S. 183. 25

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Schauen wir genauer hin, indem wir vor dem skizzierten Hintergrund einer »Politik der Differenz« in Betracht ziehen, wie der in der Erfahrung von disability liegenden Verschiedenheit gerecht zu werden wäre.

3.

Disability und diversity

In Zeiten einer elektronischen, globalen Vernetzung der Kommunikationsverhältnisse ist es kein Wunder, dass die auf der Erde gesprochenen Sprachen immer mehr miteinander interferieren. Trotzdem lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie es bspw. zu Anglizismen kommt, die tradierte Begriffe durch Neologismen ersetzen, nicht selten ohne rechte Klärung, was dabei auf semantischen Wegen vor sich geht. Was den Begriff der diversity angeht, so fällt auf, dass er gelegentlich nicht nur pauschal gegen ein medizinisches Gesundheitsmodell in Stellung gebracht wird, sondern auch mit einer fragwürdigen political correctness einhergeht, die es in den Augen Heiner Bielefeldts etwa als unangemessen erscheinen lässt, Kinder mit Behinderungen »immer noch (wohlmeinend!) als ›Sorgenkinder‹« zu bezeichnen. Dagegen markiere die UN-Behindertenrechtskonvention »einen grundlegenden Wechsel, indem sie den traditionellen, primär an Defiziten der Betroffenen orientierten Ansatz durch einen ›diversity-Ansatz‹ ersetzt«. Ist es aber wirklich ein Zeichen politisch unkorrekter Rückständigkeit, wenn man ein behindertes Kind als Sorgenkind erlebt oder bezeichnet? Kann man so nicht zum Ausdruck bringen, dass es einem besonders am Herzen liegt? Soll nun der sprachliche Ausdruck dieser besonderen Nähe als politisch unkorrekt gelten? 28 Und läuft die (generelle) Umdefinition von Behinderung zur »Quelle von Bereicherung« nicht Gefahr, die im Behindertsein vielfach liegende Negativität zu leugnen? 29 Was den Ausdruck disablity angeht, so hat er für viele den Vorzug, im Gegensatz zu einer scheinbar als ›gegeben‹ hinzunehmenden und unveränderlichen Behinderung, die sich als Behindertsein (imGenauso wie eine als »Defizit-Ansatz« abgetane »Behindertenpolitik der Fürsorge und des Ausgleichs gedachter Defizite«; https://de.wikipedia.org/wiki/%C3% 9Cbereinkommen_%C3%BCber_die_Rechte_von_Menschen_mit_Behinderungen, Anm. 18, 19. 29 Vgl. Bielefeldt, Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, S. 6 f. 28

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Disability und diversity

pairment) manifestiert, auf die möglicherweise flexible und reversible Dynamik eines Behindert-werdens hinzuweisen. In der Tat muss man fragen: sind wir oder werden wir (momentan oder auf Dauer, in einem Aspekt oder im Ganzen unseres Lebens) behindert? 30 Liegt die fragliche Behinderung in uns selbst und/oder in unserer Umwelt? 31 Markiert sie ein starres, beeinträchtigtes Verhältnis zu ihr oder ließe sich in dieses Verhältnis eingreifen? Ist die Behinderung nur ein Negativum, eine Beeinträchtigung oder Beschädigung eines andernfalls ›integren‹ (nicht beschädigten oder nicht verletzten) und nur so auch wertzuschätzenden Lebens? Wenn ja, für wen gilt sie dann als solche? Wenn nein, inwiefern liegt in der Erfahrung von Behinderung möglicherweise das Potenzial eines ›abweichenden‹ Lebens, von der sich eine bornierte Normalität keine Vorstellung macht oder machen kann, wenn sie gar nicht realisiert, wie Verletzung, Beschädigung und Behinderung unvermeidlich (mehr oder weniger) auch zu einem äußerlich ›normalen‹ Leben gehören? Und zwar konstitutiv. Genau auf diesen Zwiespalt weist das englische Wort dis-ability hin. Es steckt ja noch die (wie auch immer im Konkreten modifizierte) ›Fähigkeit‹ in ihm. Und es macht auf die Frage aufmerksam, für wen die fragliche Fähigkeit eigentlich (in welcher Hinsicht) als eingeschränkt bzw. als Potenzial gilt oder zählt. Darüber hinaus wirft es die Frage auf, ob es überhaupt eine deutliche Grenze gibt zwischen Normalität und (nicht beeinträchtigten) Fähigkeiten einerseits und Pathologie und Beeinträchtigungen, Behinderungen, Verletzungen andererseits. Auf diese strittige Problematik möchte ich im folgenden Exkurs ausgehend von einer genaueren Beleuchtung der Fähigkeiten zu sprechen kommen, die hier zur Debatte stehen. Und zwar am Leitfaden der Ontogenese.

Gemäß der Devise der »Aktion Mensch« steht scheinbar bereits fest: »Man ist nicht behindert, man wird behindert.« 31 Vgl. die Präambel (e) der am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen UN-Behindertenrechtskonvention (Convention on the Rights of Persons with Disabilities – CRPD), wo es generalisierend heißt: »[…] disability results from the interaction between persons with impairments and attitudinal and environmental barriers that hinders their full and effective participation in society on an equal basis with others«. 30

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4.

Exkurs: Fähigkeiten in ontogenetischer Perspektive

Elementare physische Fähigkeiten werden bereits in den U 1 – U 9 (oder 12) genannten standardisierten medizinischen Untersuchungen physischer Reflexe, der Muskelgrundspannung (Tonus), im Neugeborenenhörscreening, in Kontrollen der Koordinationsfähigkeiten des Kindes und seiner Aussprache bis hin zum ADHS untersucht. Um elementare kognitive Fähigkeiten geht es von der Phase der Sensomotorik à la Jean Piaget, in der die sog. Objektkonstanz erworben wird, über den Erwerb von Invarianzbegriffen (bzgl. Anzahlen, Substanzen, Längen, Flächen, Gewichten, Volumen) in der konkret-operationale Phase der kognitiven Entwicklung bis hin zum formal-operatorischen Denken am Beginn der Adoleszenz. 32 Schon die mittlere Kindheit geht mit sozial-kognitiven Kompetenzen der Perspektivendifferenzierung und -übernahme in einer irreduziblen sozialen Pluralität einher, wie Untersuchungen von John H. Flavell, Robert Selman, William Damon, Eliot Turiel, Robert Kegan u. a. gezeigt haben. Darüber hinaus formt sich besonders in moralisch-ethischen Angelegenheiten eine praktische Vernunft durch Fähigkeiten geduldiger und umsichtiger Konfliktschlichtung aus, die nach Martha Nussbaum bereits eine hoch entwickelte praktische Klugheit (phrónesis) erfordern. 33 Ich hege allerdings Zweifel, ob man in jedem Fall von Fähigkeiten im Sinne eines Könnens sprechen kann. Nussbaum spricht auch weniger von abilities als von capabilities. Mit diesem Begriff verbindet sie, wie auch Amartya Sen, ein erheblich erweitertes Verständnis von Fähigkeiten bzw. Befähigungen. Mit dem Begriff capability hat Sen darauf aufmerksam gemacht – und darauf kommt es mir hier an –, wie sehr menschliche Fähigkeiten mit Erfahrungen des Befähigtwerdens (empowerment) zusammenhängen. Dabei geht es nicht um ein abstraktes Vermögen, wie man es menschlicher Freiheit zugeschrieben hat, sondern primär um »real opportunities« ausgehend von der Devise first things first, wie sie v. a. von basic-needsapproaches verteidigt wird. Die elementarsten Bedürfnisse und An-

An dieser Stelle ist kein (überholtes) Phasen- oder Stufenmodell kognitiver Entwicklung, sondern lediglich vorauszusetzen, dass die hier en passant angesprochenen kognitiven Fähigheiten die operativen Möglichkeitsspielräume des Erkennens erweitern. 33 M. C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1999, S. 193 ff. 32

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Exkurs: Fähigkeiten in ontogenetischer Perspektive

sprüche sind demnach zuerst und unbedingt zu erfüllen. Auf diese Weise sollen Kinder dazu befähigt werden, ihre Grundfähigkeiten (capabilities 34 als abilities to achieve) im Erwerb differenzierter Funktionen ihres Lebens zu entfalten. 35 Wenn alles gut geht und wir zu einem eigenständigen Leben (sei es im Sinne der klassischen Eudämonie, sei es im Sinne einer well being freedom 36) befähigt worden sind, ›vergessen‹ wir normalerweise, wie weitgehend es seine Möglichkeiten der Ermöglichung durch Andere verdankt. Vielfach führen erst Erfahrungen der Unzulänglichkeit, des Scheiterns, des Versagens, der Entmutigung, der Unterminierung oder gar der Zerstörung jeglichen Selbstvertrauens auf die Spur dieses Zusammenhangs. Zugleich verweisen sie uns auf ein ›existenzielleres‹ Verständnis von abilities oder capabilities, das bei Nussbaum zumindest mit anklingt. So spricht sie von Fähigkeiten, Trennungen, Schmerz und Verlust zu empfinden (!), aber auch zu ertragen. Ich sehe hier davon ab, das individualistische und ›aktivistische‹ Vokabular der Autorin in Frage zu stellen, die selbst das, was passiv zu ertragen ist und was uns ohne unser Zutun affiziert, widerfährt und erlitten wird, in ein Tun-Können umdeutet 37, und beschränke mich auf die Frage, wie man Verlust und das Mit-ihm-um-

Zur Frage, ob man von einer einzigen Grundfähigkeit ausgehen kann, wie es Rousseau mit seinem Begriff der perfectibilité nahegelegt hat, vgl. J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité, Paderborn, München, Wien, Zürich 1984, S. 102 f. 35 Vgl. die Differenzierung von capability und functioning bei A. Sen, »The Standard of Living«, The Tanner Lectures on Human Values, March, 11/2 1985, S. 48. Zit. n. der Web-Seite der Tanner Lectures. 36 Vgl. T. Munk, »Neoaristotelische Befähigungstheorie: Amartya Sen«, in: R. Gröschner, A. Kapust, O. W. Lembcke (Hg.), Wörterbuch der Würde, München 2013, S. 92 ff. 37 Es ist ein Desiderat, den Folgen dieser Anlehnung an ein überkommenes Vokabular auf den Grund zu gehen. Sie liegen m. E. nicht zuletzt darin, den Passivitäts-, Widerfahrnis- und Leidenscharakter von impairments, dis-abilities, Behinderungen und Verletzungen einer generellen »Charakterisierung des Menschlichen überhaupt durch das Vermögen zu handeln [agency]« zu unterwerfen; vgl. P. Ricœur, Wege der Anerkennung, Frankfurt/M. 2006, S. 175, 183, 186, im Anschluss an A. Sen. Die hier besprochenen Autoren von Amartya Sen bis Bernard Williams treffen sich nach Ricœurs Bekunden »im Lob des Wunsches, ein frei gewähltes Leben zu führen« (ebd., S. 191). Was m. E. völlig übersehen wird, ist die Frage, ob nicht gerade aus der Erfahrung von Behinderung, Verletzung und Verwundung heraus Anlass zur Revision des Modells jener agency und eines Könnens besteht, das sie nur als mehr oder weniger starke Beeinträchtigung eines sujet capable gelten lässt. 34

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gehen-können deutet. Nur als Überwindung – so wie Freud die Trauerarbeit gedacht hat? D. h. als Rückkehr zu einem möglichst unbeschädigten, von keinem Verlust mehr dauerhaft gezeichneten Leben? (Sei es auch dadurch, dass man die Erinnerung an das Verlorene tilgt?) Inzwischen hat auch die Psychoanalyse dieses Modell der Trauerarbeit gründlich revidiert und gezeigt, wie mit Verlust (sei es eines Körperteils, eines Kindes, Elternteils, der Familie, der Heimat usw.) zu leben ist und wie daraus eine ästhetische, literarische und musikalische Inspiration eines sensibilisierten Lebens erwachsen kann. So hat auch diese Revision maßgeblich dazu beigetragen, die bornierte Vorstellung von einer Normalität zu entkräften, die Behinderungen, Beschädigungen und Verletzungen nur als möglichst rasch zu überwindende und sogar zu vergessende ›Negativität‹ gelten lässt und es Anderen überlässt, ihre von einem solchen Verständnis des Normalen abweichende Verschiedenheit zur Geltung zu bringen. Ich beende damit den Exkurs zur Ontogenese menschlicher Fähigkeiten und komme nun auf die disability-studies im Kontext der »Politik der Differenz« zu sprechen.

5.

»Politik der Differenz« und in der Erfahrung von disability liegende Verschiedenheit

Heute sehen wir uns nicht nur mit der Herausforderung der Wahrnehmung, Artikulation, Anerkennung und praktischen Gewährleistung vielfältiger Lebensweisen konfrontiert, die mit Erfahrungen der Behinderung, Beschädigung und Verletzung einhergehen. Vielmehr sind wir auch aufgefordert, das normative Gegenbild einer Normalität zu revidieren, die von all dem nichts wissen will, insofern es als konstitutiv zu menschlichem Leben gehörig verstanden werden muss. 38 Zu dieser Revision hat das medizinische Denken, das in der Kultur des Westens lange Zeit die paradigmatische Normalitätsvorstellung geliefert hat, seinerseits viel beigetragen. Es hat sich, wie am Beispiel der einschlägigen Arbeiten Georges Canguilhems ohne weiDarauf zielt der Artikel 3 (d) der CRPD ab mit den Worten: »Respect for difference and acceptance of disability as part of human diversity and humanity«; http://www. behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-vonmenschen-mit-behinderungen-3101/#artikel-3–-allgemeine-grundstze

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»Politik der Differenz«

teres zu zeigen ist, längst vom Objektivismus einer Normativität verabschiedet, die im Fall der physischen Gesundheit allgemein vorzugeben scheint, was normal und was pathologisch ist. Canguilhem zeigte, dass der menschliche Organismus selbst als normgebend verstanden werden muss. Organismisches Leben geschieht in ständiger Auseinandersetzung mit potenziell krank Machendem. Normalität ähnelt insofern einem Fließgleichgewicht. Erst wenn der Organismus in seiner normativ sich selbst regulierenden Funktion versagt, beginnen sich ggf. subjektive Symptome abzuzeichnen, die nach einem Arzt verlangen lassen. So muss das Ethos der ärztlichen Tätigkeit vom Primat der negativen Erfahrung des Kranken her verstanden werden. 39 Am Anfang steht für die medizinische Erfahrung so gesehen niemals die Verletzung einer allgemeinen physischen Norm, sondern stets das, was dem Kranken widerfahren ist und ihn zwingt, sich mit der Bitte um Hilfe an jemand anderen zu wenden. Die Beeinträchtigung unseres eigenen (allerdings mit dem Leben Anderer vielfältig verflochtenen) Lebens ist die Maßgabe einer Normalität, deren dauerhafte Störung unser Leben gefährdet. Das heißt aber nicht, dass nur gegen eine solche Beeinträchtigung zu leben wäre oder dass nicht gerade aus ihr, wenn sie sich nicht überwinden lässt, neu inspiriertes Leben entstehen könnte. Das gilt selbst für Kinder, die an einer kurzoder mittelfristig tödlichen Krebserkrankung leiden und scheinbar keine ›Zukunft‹ mehr haben. 40 Wenn man an dieser Stelle weitere Beispiele in Betracht ziehen möchte, muss man gewiss deutlich unterscheiden, von welchen Beeinträchtigungen und von welcher Normalität in welchem Rahmen überhaupt die Rede ist: von subjektiv-physischen Beeinträchtigungen und Normen (= gesundheitliche Probleme im engeren Sinne); von sozialen Beeinträchtigungen und Normen etwa im Kontext einer wie auch immer gestörten Familie; von politischen Beeinträchtigungen und Normen, wo Fragen der Legitimität und der Rechte eine besondere Rolle spielen. In jedem Falle aber bleibt der Ausgang medizinischer, sozialer und politischer Untersuchungen aller von einer Normalität abweichenden Differenzen zunächst der subjektiven Er-

Vgl. G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, München 1974; ders., Grenzen medizinischer Rationalität, Tübingen 1989, S. 61; H. Schipperges, Homo patiens. Zur Geschichte des kranken Menschen, München, Zürich 1985. 40 Vgl. C. Schües, C. Rehmann-Sutter (Hg.), Rettende Geschwister. Ethische Aspekte der Einwilligung in der pädiatrischen Stammzelltransplantation, Münster 2015. 39

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fahrung derer verpflichtet, die in dieser Abweichung (und ggf. gegen sie oder mit ihr) ihr eigenes Leben leben müssen. Es ist der Respekt vor diesem elementaren Befund, der auch im Zeichen einer »Politik der Differenz« zur Geltung kommt. Wie gezeigt, setzen die VertreterInnen dieser Politik gerade keine Normalität eines (geschlechtlich klar differenzierten, mehr oder weniger wohlhabenden, ›weißen‹, gebildeten) Lebens mehr voraus, um überall an ihm zu messende Defizite festzustellen, sondern werfen konsequent die Frage auf, mit welchem Recht man überhaupt irgendjemandem eine verallgemeinerte Normalität fremden Lebens überstülpen darf. Handelt es sich nicht eo ipso um eine Form der Gewalt, die schon damit einsetzt, dass man nicht einmal das schiere Anderssein Anderer wahrnehmen, sich artikulieren, repräsentieren und Geltung verschaffen lassen will? Dagegen haben sich vor allem seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zahlreiche Forschungen gewandt: Erving Goffmans Untersuchungen über Stigmatisierungsprozesse; Howard Beckers Erforschung von Abweichungen; Thomas Szasz’ und Thomas J. Scheffs Demaskierungen des labels Geisteskrankheit; von Minderheiten vorangetriebene Aktionsforschungen mit dem Ziel einer affirmative action sowie race, cultural und women’s studies etc. An sie schließen gegenwärtige, nicht zuletzt in postcolonial studies kulturkritische Untersuchungen eines machtvollen othering an, das aus Anderen diskriminierbare Andere macht 41, deren scheinbar einfaches Anderssein infolgedessen ein für sie unlebbares Leben nach sich zu ziehen droht. Diese Forschungen haben mit Nachdruck die Frage aufgeworfen, für wen Normen eigentlich da sind und ob sie die ›rücksichtslose‹ Unterwerfung Anderer, Abweichender unter sie rechtfertigen können. 42 Diese Frage läuft nicht darauf hinaus, nun jegliche Normativität und Normalität über Bord zu werfen. Wo das Verlangen nach einem lebbaren Leben auf dem Spiel steht, müssen wir uns auch der Frage stellen, ob nicht die Orientierung an Normen für ein subjektiv leb-

Von einer »production of [naturalized] otherness« sprechen in diesem Sinne Michael Hardt und Antonio Negri, Empire, Cambridge, London 2001, S. 125 ff. 42 Christa Wolf hat diese existenzielle Herausforderung anhand fiktiver Gespräche zwischen Heinrich v. Kleist und Karoline v. Günderrode in Kein Ort. Nirgends, Frankfurt/M. 1981, exemplifiziert. Hier heißt es kurz und bündig: »Unlebbares Leben. Kein Ort. Nirgends« (S. 108). 41

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»Politik der Differenz«

bares Leben entscheidend ist. (Man denke nur an aus gescheiterten Beziehungen und Familien hervorgegangene Kinder, die nur durch ein hohes Maß sozusagen nachholender Verlässlichkeit, Geduld und Ausdauer wieder ein gewisses Vertrauen in soziale Verhältnisse werden setzen können, die in ihrem bisherigen Leben vielfach nachhaltig erschüttert worden sind.) Gleichwohl ist die skizzierte »Politik der Differenz«, die vor allem von Differenz-TheoretikerInnen beschrieben und betrieben worden ist, politisch vor allem dadurch, dass sie uns das Achten auf das Leben jedes Anderen als eines/einer Anderen abverlangt hat; und zwar insofern es in diesem Leben um dessen eigene, individuelle Lebbarkeit geht, sei es in einem weitgehend normalisierten Leben, sei es in einem deutlich abweichenden, sei es in einem heterosexuellen, sei es in einem homosexuellen oder anders ›sexuierten‹. Diese Lebbarkeit kann jedoch überhaupt niemand allein aus eigener Kraft garantieren. Sie ist elementar auf die Unterstützung, auf den Schutz und die Förderung Anderer angewiesen; und zwar umso mehr, wie individuelles Leben geschwächt, beeinträchtigt oder behindert ist. Darüber hinaus steht dabei auf dem Spiel, ob ein wie auch immer ›anders‹ gelebtes Leben, sei es durch seine bloße (augenfällige oder subtile) Verschiedenheit, sei es durch ein wirkliches Leiden an ihr oder an Ablehnung, Diskriminierung, Benachteilung usw., als (mit Hilfe Anderer oder unabhängig) lebbares Leben in Frage gestellt, gefährdet oder sogar unmöglich gemacht zu werden droht. (Die sog. Independent Living-Bewegung setzt hier an. 43) Daraus erwächst die normative, kultur-, gender- und differenzsensible Forderung, das solle nicht sein und, oft weit darüber hinaus gehend, das Verlangen nach rechtlicher Abhilfe, die letztlich darauf abzielen müsse, niemanden von der Teilhabe und Teilnahme, d. h. in einem sehr weiten Sinn von sozialer und politischer Partizipation auszuschließen.

V. Schönwiese, »Disability Studies und integrative/inklusive Pädagogik. Ein Kommentar«, in: Behindertenpädagogik, Heft 3 (2009), S. 284–291. Oft beruft man sich in diesem Zusammenhang auf einen Autonomieanspruch, der irreführende ideengeschichtliche Assoziationen weckt, obwohl der Anspruch auf ein eigenes, möglichst eigenständiges Leben »in der Verflochtenheit« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, Abschnitt 5) mit dem Leben Anderer gemeint ist – und gewiss keine Selbstgesetzgebung, wie sie von der Etymologie her nahegelegt wird (autós, nómos).

43

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XXI · Von der Angst, ›anders‹ zu sein, zur normalisierten Verschiedenheit?

6.

Das »Recht auf Anderssein«, tatsächliche Lebenspraxis und das Versprechen der Inklusion

Genau daran, am Sinn und an der Erfüllbarkeit dieser Forderung 44 und dieses Verlangens, bestehen erhebliche Zweifel. Ihre gewiss stärkste Bedeutung liegt darin, jegliche Enttäuschung, Zorn und Wut, aber auch tiefe Demütigung und Resignation hervorrufende Benachteiligung Anderer auszuschließen, soweit sie an der institutionellen Grundstruktur einer Gesellschaft liegt und durch sie bedingt ist. Tatsächliche Partizipation ist aber nicht allein durch ein verallgemeinertes Recht auf Anderssein zu reglementieren oder durch rechtlich geregelte Institutionen zu gewährleisten, sondern nur durch wirklich geteiltes Zusammenleben selbst. 45

Wie weit diese Forderung gehen kann, wird bspw. bei C. Barnes deutlich: »Clearly […] the concept of ›independent living‹ is a broad one that encompasses the full range of human experience and rights. It follows therefore that regardless of the nature and complexity of impairment disabled people should have the right to be born and have access to appropriate medical treatments as and when they are needed. Other rights include the right to be educated alongside ›non-disabled‹ peers, equal access to work, leisure activities, political institutions and processes, the right to personal and sexual relationships and parenthood, and to participate fully in community life. Further, although the disabled people’s movement is commonly associated with disabled people with ›physical‹ or ›sensory‹ conditions in the younger or middle age groups, advocates of the ›independent living‹ philosophy are quite clear that it applies to all sections of the disabled population in all countries across the world. This includes people with complex and high support needs, people with cognitive conditions and labelled in various ways; examples include with ›learning difficulties‹, ›behavioural difficulties‹, or ›mental illness‹. Equally important disabled activists point out that disabled women, disabled lesbians and disabled gay men, disabled people from minority ethnic groups, disabled children and older disabled people are particularly disadvantaged due to sexism, heterosexism, racism, ageism and other forms of structural oppression and prejudice. Consequently, to enable all disabled people to achieve a meaningful autonomous lifestyle necessitates the eradication of all forms of structural and cultural disadvantage.« C. Barnes, »Independent Living, Politics and Implications« (2003), http://www.independentliving.org/docs6/barnes2003.html. 45 Das zeigt sich ganz deutlich dort, wo beklagt wird, Behinderte müssten vielfach den Eindruck gewinnen, »dass man sie aus dem öffentlichen Leben fernhält, sie dort zumindest für überflüssig hält oder sie gar, als ob man sich ihrer schäme, bewusst absondert und im Grenzfall regelrecht versteckt«. Es lässt sich kaum vorstellen, dass der tatsächliche Umgang mit Behinderung und diversity generell durch Rechte und Verordnungen (allein) zu verbessern ist. Vgl. Bielefeldt, Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, S. 6. Von der uferlosen Verschiedenheit, die der 44

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Das »Recht auf Anderssein«, tatsächliche Lebenspraxis und Inklusion

Wir sind verschieden, erscheinen so und werden verschieden unterschieden – in unabsehbar vielen verschiedenen Hinsichten 46, darunter vergleichsweise triviale, aber auch einschneidende. Das sehen wir immer dann, wenn wir die Erfahrung des für uns oder Andere völlig Inakzeptablen, Unannehmbaren oder auch Verwerflichen machen. Auch so kann sich ja zeigen, dass und wie verschieden wir sind. Kann aber das Anderssein je ein Recht darauf bedeuten, es ohne weiteres auszuleben? Wäre ein solches Recht nicht das Ende des Rechts? Wo von einem Recht auf Anderssein die Rede ist, ist wohl eher gemeint: erst einmal überhaupt zu akzeptieren, dass Andere so und so sind, so schwer es fallen mag. Erst in zweiter Linie kann es darum gehen, auszuloten, wie ein konkret manifestiertes ›Anderssein‹ (als ein Anders-Denken, Anders-Handeln, Anders-Leben) zu berücksichtigen, einzubeziehen, zu tolerieren oder auch zu bejahen wäre. Dabei sollte man aber nicht den weltfremden Anschein erwecken, es könne je eine sog. ›Lebenseinstellung‹, ein Berufsethos, die Sittlichkeit einer Lebensform oder eine weitgehend verrechtlichte Politik geben, die einer uferlosen Diversität menschlicher Verschiedenheit gegenüber das Versprechen einer niemanden draußen lassenden Inklusion zu halten vermöchte. 47

Begriff der Behinderung seinerseits überdeckt, sehe ich hier ebenso ganz ab wie von der Gewaltsamkeit einer um jeden Preis und gegen alle praktische Erfahrung mit diversen Behinderungen durchgesetzten Inklusionspolitik. 46 Denen man sich völlig ausliefert, wenn man wie Dieter Wagner und Peyvand Sepehri unter diversity sämtliche Unterschiede fasst, durch die sich Menschen auszeichnen; zit. n. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Diversity_Management&old id=138837530 47 Ausdruck des sich wandelnden Selbstverständnisses von Menschen mit Behinderungen und einer veränderten gesellschaftlichen Sichtweise ist der Ansatz der Inklusion, heißt es im Faltblatt zur Ausstellung »›Ohne Angst verschieden sein …‹ über Menschen mit Behinderungen: Von ihrer Ausgrenzung und Ermordung im Nationalsozialismus zu ihrer Integration und Inklusion heute«. Demnach ist Inklusion ein Menschenrecht und bedeutet, dass kein Mensch ausgeschlossen oder ausgegrenzt werden darf. http://www.ohne-angst-verschiedensein.de/fileadmin/bilder/ausstel lung_ohne_angst/faltblatt_ausst.pdf. Bei M. Minow mündete das bereits in die schlichte Formel: »include the excluded« (Making all the Difference, S. 241). Erklärtes Ziel ist eine »more inclusive definition of what is normal« (ebd., S. 95), an deren Ende wohl eine allgemeine Normalität stünde, die überhaupt nichts mehr ›draußen‹ lassen würde, so dass sie sich selbst aufheben und jegliche Kontur einbüßen müsste.

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Inklusion 48 heißt allenfalls: Einbeziehung. 49 Und zwar erstens in der für diejenigen, die in das soziale und politische Leben Anderer einbezogen werden möchten, annehmbaren Art und Weise. Einbeziehung sollte also nicht einfach verordnet und Anderen übergestülpt werden – etwa aufgrund pauschaler Ablehnung segregierter Sozialsysteme. Was einmal eine gute, den Betroffenen menschlich zugewandte Idee war (wie im Fall der italienischen Anti-Psychiatrie 50), kann ohne weiteres in einen sie wiederum auf neue Weise ausschließenden Paternalismus umschlagen, wie das Beispiel alter Psychiatrieinsassen zeigt, die man im Namen der Inklusion aus ihrem vertrauten Umfeld reißt, um sie einem sie gänzlich überfordernden Leben in einer großen Stadt auszusetzen, wo sie künftig ein ›inkludiertes‹, nicht selten aber von ihren bisherigen Leidensgenossen isoliertes Leben führen sollen. Was konkrete Handlungsstrategien angeht, so hängen sie entscheidend davon ab, wodurch konkret ein lebbares Leben in Frage gestellt erfahren wird und wodurch es im Gegenzug zu unterstützen und zu fördern wäre: Verschiedene Paradigmen der Forschung akzentuieren ganz unterschiedlich impairment, oppression of minorities, unfaire Diskriminierung und das Fehlen von Unterstützung (assistierenden Handelns), das im Independent Living-Paradigma im Vordergrund steht. Dem entsprechend unterscheiden sich die in Betracht gezogenen Gegenstrategien: Delegitimation und normative Kritik in einem Discrimination-and-fairness-Paradigma; Gewährleistung von Partizipation in einem sog. Access-and-legitimacy-

Der Inklusions-Begriff wird sowohl in der »Salamanca-Erklärung« der UNESCO als auch in der UN-Konvention zu den Rechten behinderter Menschen verwendet (Artikel 3 [c] CRPD: »[…] full and effective participation and inclusion in society«). Z. T. wurde er aber mit »Integration« übersetzt, was schon darauf hinweist, wie unklar das begriffliche Verständnis in diesem Fall noch ist. Für Bielefeldt (Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention, S. 11) signalisiert Inklusion über Integration hinaus »geforderten Wandel hin zu einer selbstverständlichen Zugehörigkeit«. Aber ist die Nicht-Selbstverständlichkeit sogleich als Verletzung eines Rechts auf Zugehörigkeit zu deuten? Kann es ein Recht auf Selbstverständlichkeit geben? Stoßen wir hier nicht an Grenzen einer bloß auf Fragen der Verrechtlichung abstellenden Kritik nicht erfolgter Inklusion? 49 So bei J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 21997, der Inklusion nicht etwa wie Niklas Luhmann funktional, sondern als einen moralischen Anspruch begreift, der dem Anderen als Anderem zustehe oder von ihm ausgehe. 50 Vgl. F. Basaglia (Hg.), Was ist Psychiatrie?, Frankfurt/M. 1974. 48

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Paradigma; Bereitstellung von Ressourcen in einem Learning-andeffectiveness-Paradigma; usw. 51 Und zweitens muss es bei der als Einbeziehung verstandenen Inklusion darum gehen, was für die Einzubeziehenden selbst und für diejenigen, die sie einbeziehen sollen, gut, tragfähig und realisierbar ist. Man muss Andere so oder so, konkret und in dieser oder jener Hinsicht einbeziehen, indem man ihnen Gehör und Aufmerksamkeit schenkt, indem man sie beteiligt und ihnen gegebenenfalls ›Recht gibt‹. So gesehen bedeutet Einbeziehung nicht ›bedingungsloses Annehmen‹ und Aufnehmen ohne Wenn und Aber (wie es eine alte Praxis der Gastlichkeit bspw. verlangt) oder ein unbedingtes Recht auf Zugehörigkeit zu einer politischen Lebensform, wie es Hannah Arendt postuliert hat. 52 Wer Inklusion als eine Praxis der Einbeziehung verstehen wollte, durch die jeder sich gewissermaßen unverkürzt, in jeder Hinsicht und bedingungslos im sozialen oder politischen Leben aufgehoben und angenommen wissen sollte, der würde wohl auch der alten Devise beipflichten: nichts Menschliches ist mir fremd. Jeder wäre ja »inkludiert«; und zwar sozusagen restlos in einer nichts ›draußen‹ lassenden Zugehörigkeit. So würde man freilich nur zu erkennen geben, dass einem nicht einmal die eigene Fremdheit bekannt ist – eben die Fremdheit, durch die wir nicht nur von Anderen verschieden, sondern auch im Verhältnis zu uns selbst radikal, d. h. hier: unaufhebbar ›anders‹ sind, ohne dass je ganz zu durchschauen wäre, wie, warum und mit welchen Folgen für Andere. 53 Mit dieser skeptischen Überlegung bestreite ich nicht, dass es gute Gründe für eine möglichst sensible Achtung der ›Differenz‹ Anderer In diesem Zusammenhang hat man allerdings primär Probleme eines opportunen diversity management im Auge, das darauf hinausläuft, »einen entpolitisierten Begriff von Differenzen« zu propagieren (s. o., Anm. 47). 52 H. Arendt, »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«, in: Die Wandlung 4 (1949), S. 754–770; Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, Zürich 31993, S. 462 ff. 53 Nur en passant kann ich hier auf die in der einschlägigen Literatur ausführlich diskutierten Differenzierungen zwischen Ander(s)heit, Differenz, Verschiedenheit und Fremdheit hinweisen; Differenzierungen, die im Diskurs der DDS vielfach nivelliert werden, so dass die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, dass sie am Ende zur Aufklärung der Angst, verschieden (oder fremd) zu sein bzw. nicht verschieden und nicht fremd sein zu dürfen, wenig beitragen. Das radikalisierte Differenzdenken bei Jacques Derrida, Maurice Blanchot oder Jean-Luc Nancy operiert jedenfalls nicht mit einem quasi-botanischen Begriff der Diversität, wie er bei einem objektivierenden Unterscheiden und Sortieren von Dingen und Lebewesen zum Tragen kommt. 51

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gibt, gebe aber zu bedenken, ob sie nicht in einem ›guten Willen‹ überschätzt wird, der sich selbst nicht kritisch befragt. Darauf sollten auch disability and diversity studies und diejenigen gefasst sein, die für ihren Beruf von ihnen praktisch profitieren möchten. Vor einer fragwürdigen Normalisierung menschlicher Differenz werden die DDS jedenfalls nur dann zu bewahren sein, (a) wenn sie zu einer rigorosen Revision ihrer Grundbegriffe bereit sind – und sei es als Anderssein oder Fremdheit zum Tragen kommende Differenz nicht auf eine quasi-biologische Diversität verkürzen; wenn sie (b) in einer überkomplexen Verschiedenheit diejenigen – politisch virulenten – Differenz-Erfahrungen ausmachen, die zeigen, wie ›verschieden‹ wir sind – bis hin zu der häufig polemogenen Feststellung, man habe mit Anderen nichts (mehr) gemeinsam; wenn sie (c) diese Differenzen nicht als irgendwie vorliegende nehmen, sondern so begreifen, dass für ihre Wahrnehmung, Artikulation und Darstellung erst einmal zu sensibilisieren ist; und zwar (d) im Wissen darum, dass diese Differenzen zu einem tief greifenden Dissens darüber führen können, was (für wen) als ›normal‹ gilt und akzeptabel ist; und schließlich (e), wenn sie sich vor dem Fehlschluss hüten, einer ihrerseits generell und vorschnell für ›normal‹ erklärten Differenz-Erfahrung sei allein auf dem Wege einer Verrechtlichung beizukommen, die es scheinbar allen abverlangt, menschliche Verschiedenheit zu achten, die nicht selten zur bloßen Vielfalt verharmlost wird, der man (f) auch gewaltsam unter dem Dach einer nichts und niemanden mehr ausschließenden Inklusion gerecht zu werden versucht. Läge menschliche Verschiedenheit nur in einer bunten, angeblich vor allem ›bereichernden‹ Vielfalt, so wäre kaum zu erklären, warum das Verlangen nach einem Zusammenleben, in dem man »ohne Angst verschieden« sein dürfte, zu einem derart herausragenden Politikum hat werden können, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute festzustellen ist. Immerhin ist hier von Angst (oft auch von Furcht) die Rede, die angesichts Anderer vielfältige, von der Politischen Theorie der Frühen Neuzeit bis hin zur »Politik der Differenz« zur Sprache gebrachte Quellen und Gründe hat: nicht nur die Furcht vor tödlicher Macht Anderer, wie sie bei Hobbes zum Vorschein kommt, auch die Furcht davor, durch Exklusion zu einem letztlich unlebbaren Leben selbst dann verurteilt zu bleiben, wenn einem ›auf dem Papier‹ uneingeschränkte Menschenund Bürgerrechte zustehen; aber auch die Furcht vor ›restloser‹ Integration. So gesehen sollten DDS nicht eine fragwürdig pauschale 792 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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Normalisierung menschlicher Differenzerfahrungen vorantreiben, sondern das Bewusstsein für Grenzen einer Verrechtlichung schärfen, die sich trotz ihres guten Rechtes 54 letztlich als hilflos erweisen wird, wenn sie nicht von einer gelebten Kultur der Differenzsensibilität getragen wird. Eine solche Kultur muss der Erfahrung menschlicher Verschiedenheit und Fremdheit nachgehen, ohne zu beschönigen, welche Überforderungen sie mit sich bringt und wie sie in tief greifenden, sogar polemogenen Dissens münden kann, der genau das in Abrede stellt, was Martha Minow in den eingangs zitierten Worten für erwiesen ausgibt: dass wir nämlich genauso verschieden seien wie Andere und dass in dieser Einsicht die Aufforderung zur Anerkennung einer Inklusion liege, die am Ende niemanden mehr ›draußen‹ lassen würde – auch diejenigen nicht, die die Erfahrung ihres eigenen Anders- und Fremdseins in einer derartigen Normalisierung des bloß ›Diversen‹ kaum mehr wiedererkennen dürften. Abschließend möchte ich wenigstens in Grundzügen deutlich machen, was man sich unter einer solchen Kultur vorstellen könnte – bzw. was man sich besser nicht unter diesem Begriff vorstellen sollte. Von der Gerechtigkeit, ohne die sich Platon und Aristoteles politische Lebensformen nicht vorstellen mochten, über den Frieden – nicht nur für Kant eine unaufgebbare Idee – bis hin zur Inklusion haben wir es heute mit einer Vielzahl von Begriffen zu tun, die sich scheinbar jedermann zu eigen macht bzw. machen sollte, ohne jede Möglichkeit vernünftiger Ablehnung. Wie kann man Gerechtigkeit, Frieden und Inklusion nicht wollen? Wie kann man diesen Begriffen mit guten Gründen ablehnend gegenüberstehen? Wie kann man der Verschiedenheit Anderer im Rahmen einer Kultur der DifferenzsenDieses Recht wird hier nicht etwa bestritten, sondern in der Perspektive einer Radikalisierung bedacht, die besagt: die Würde des Menschen ist zu achten – und zwar als eines/einer Anderen, dem/der es in seinem/ihrem Leben um ein wirklich/praktisch lebbares Leben geht, das nur im Zusammenleben mit und unter anderen Anderen zu ›befähigen‹ und zu realisieren sein wird. In dieser Sicht ist jeder Mensch ein ›Anderer‹, in dessen Anderheit weit mehr liegt als bloße Diversität oder vergleichsweise Verschiedenheit, wie sie bei M. Minow zur Sprache kommt. Vielmehr geht es um die Erfahrung und um den Begriff einer nicht nivellierbaren Differenz, die es ausschließen muss, jeden Anderen einer letztlich indifferenten, quasi-botanischen Verschiedenheit zu unterwerfen. Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit Levinas und Kant bei P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, Kap. 10, S. 403 f., Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 277, sowie ders., Verletzlichkeit und Friede. Schriften über die Politik und das Politische, Berlin, Zürich 2007, S. 97 ff. zu einer entsprechenden Reinterpretation der Menschenrechte.

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sibilität, die sie zum Politikum gemacht hat, nicht Rechnung tragen wollen? Kommt die verlangte, propagierte oder im Sinne des alten Kulturbegriffs (Cicero) durch Beachtung und Anerkennung ›gepflegte‹ Verschiedenheit Anderer nicht ganz und gar ihrem Anderssein, ihrer Differenz und Fremdheit zugute? Was sollte daran falsch sein? Am deutlichsten wird das genau dort, wo gewissermaßen verfügt wird, Verschiedenheit, Anderssein und Differenz seien ›normal‹ – so als ob das nicht zuallererst von den ›Betroffenen‹ selbst abhinge; als ob es nicht zunächst die Angelegenheit ihrer Wahrnehmung wäre, worauf es im Hinblick darauf ankommt, ob und wie jemand sich oder Andere als ›anders‹, ›verschieden‹ oder ›different‹ erfährt, vorstellt, darstellt und politisch ins Spiel bringt. Wer sich diese heterogenen Attribute ohne weiteres zu eigen macht und gleichsam dekretiert, wofür sie zu halten sind (für Merkmale einer scheinbar nichts mehr auslassenden Normalität etwa), läuft Gefahr, sich die Erfahrung des Anders-, Verschieden- und Differentseins, so wie sie von Anderen gemacht wird, anzueignen 55 – mit oder ohne paternalistische Folgen – und damit der so oft als ›irreduzibel‹ und als ›unaufhebbar‹ bezeichneten Alterität Anderer Gewalt anzutun. Eine Kultur der Differenzsensibilität wäre demgegenüber an erster Stelle der Frage verpflichtet, ob und wie Andere sich selbst als ›anders‹ wahrnehmen, sehen, vorstellen, darstellen etc. und inwiefern das für sie selbst lebenspraktisch maßgeblich wird. Dabei ist von vornherein zu erwarten, dass keineswegs nur physisch oder seelisch Behinderte – noch, muss man wohl sagen, ist das keine diskriminierende Vokabel –, sondern Andere jeglicher Couleur ihr Anderssein, ihre Verschiedenheit und Differenz keineswegs als ›normal‹ betrachten und dass sie sich das auch in keiner Weise ausreden oder weginterpretieren lassen möchten. Eine Kultur der Differenzsensibilität, die wenigstens das respektiert, wäre zuallererst der Frage verpflichtet, was für Andere in einem nicht trivialen Sinne (schmerzhaft, das Leben empfindlich beeinträchtigend, aber auch inspirierend, ästhetisch-künstlerisch herausfordernd usw.) ›anders‹ ist, so dass die Lebbarkeit des eigenen Lebens mit und unter Anderen damit gewissermaßen steht und fällt. Hier geht es zunächst um eine Sensibilität des Gehörschenkens, die ihr (unkalkulierbares) Maß an der Alterität der Anderen und daran hat, wie sie in einem Ich bringe hier mit Bedacht lediglich eine gewisse Gefahr zur Sprache, denn von einer Zwangsläufigkeit kann an dieser Stelle keine Rede sein. Genauso wenig davon, die DDS müssten ihr generell zum Opfer fallen.

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lebenspraktisch sich zeigenden, auf bloßen Respekt, auf Toleranz oder auch massive Unterstützung angewiesenen Anderssein sich manifestiert. Unkalkulierbar muss sie deshalb sein, weil jedes Anderssein gewissermaßen über sich hinaus weist. Letzteres erschöpft sich eben nicht in der äußerlichen Verschiedenheit von Hautfarben, Charakteren und ethnisch ›Typen‹, die man distanziert in einer quasi-botanischen Kulturwissenschaft miteinander vergleichen könnte; vielmehr sind wir Andere und Fremde auch im Verhältnis zu uns selbst, wie eine reichhaltige Literatur seit Michel de Montaigne, Friedrich Hölderlin und Arthur Rimbaud bezeugt. Sogar das (eigene und fremde) Selbst ist »(wie) ein Anderer« (comme un autre; nicht bloß: ein anderes), schließt Paul Ricœur daraus. Aber die darin liegende Alterität muss sich allemal zeigen – wenn auch als uns entzogene; und das kann nicht geschehen ohne eine entsprechende Sensibilität Anderer, durch die sie sozial überhaupt erst als womöglich jeglicher Vergegenwärtigung sich widersetzende zum Vorschein kommt, sofern man dafür ›aufgeschlossen‹ ist. Wenn eine Kultur der Differenzsensibilität darauf die Aufmerksamkeit lenkt, so kann es nicht bloß darum gehen, ›Werte‹ wie Achtsamkeit aufs Neue zu propagieren und sich auf die Fahnen zu schreiben, sondern mit zu bedenken, was in einer Sensibilität, die Anderen als unabsehbar Anderen verpflichtet ist, jeglicher Aneignung dieser Art widerstreitet. Es wäre eine bizarre Pointe, wenn ausgerechnet eine Politik der Inklusion das vergäße. Sensibilität für die Alterität des Anderen ist nichts, was wie eine organismische Reizbarkeit oder physiologische Irritabilität als Eigenschaft eines menschlichen Körpers gelten könnte. 56 Sie ereignet sich vielmehr zwischen uns – als im Verhältnis zueinander Anderen, die als solche in überhaupt keiner Normalität je ganz und gar aufgehen können. Wer das nicht sehen oder anerkennen wollte, müsste die moderne Alteritätsphilosophie im Ganzen als sozialwissenschaftlich unbeachtlich beiseite schieben. Allerdings ist es nicht damit getan (wie ein naheliegender Einwand lauten könnte), sich ›sensibel‹ der Alterität des Anderen auszusetzen. Mit Recht betonen die DDS, dass es entscheidend darauf ankommt, wie sie lebenspraktisch in einem Anderssein zum Tragen kommt, das die Lebbarkeit eines individuellen Lebens in Gefahr bringt, die nur mit der mehr oder weniger großen oder anhaltenden Unterstützung Anderer zu gewährleisten ist. Den Anschein hatte es allerdings zunächst im maßgeblich von A. v. Haller angeregten Diskurs der Aufklärung über diese Begriffe.

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Genau an dieser Nahtstelle entsteht das Problem einer politischen Kultur der Differenzsensibilität: da nämlich, wo es darum geht, was diese Gefährdung Dritte und somit institutionell geregeltes Leben mit und unter Anderen angeht oder angehen muss. Soziale Sensibilität ist kein Naturprodukt, sondern ihrerseits Ausdruck einer Kultur, die sie im ältesten Sinne pflegt – aber so, dass niemand sie sich zu eigen macht als politische Parole, als humanitären Kampfbegriff oder Inbegriff einer fragwürdigen political correctness, die vor allem dem eigenen Selbstbewusstsein dienen mag. So gesehen steht eine solche Kultur vor einer paradoxen Herausforderung: eigene Sensibilität zu ›kultivieren‹, die ihr niemals ganz als zu eigen gemachte wird gehören können. (Dem entsprechend wäre der Kulturbegriff ›im Zeichen des Anderen‹ radikal zu revidieren und keineswegs, wie bislang oft üblich, auf lokale Lebensformen und deren symbolische Repräsentation zu beschränken.) Eine solche Kultur müsste eine Kultur der Aufmerksamkeit für das sein, was sich ihr angesichts Anderer entzieht, und die Bereitschaft dazu beinhalten, sich das von ihnen sagen zu lassen. Wird sie als politisch kultivierte Bereitschaft aber nicht stets dazu neigen, sich dieses Entziehende ›identitär‹ zu eigen zu machen? Wo dieses Paradox einer Kultur der Differenzsensibilität wenigstens erkannt wird, die Anderen als Anderen und der prekären Lebbarkeit ihres Lebens gelten soll, während man sie sich doch selbst auf die Fahnen schreibt und damit eine scheinbar unüberbietbar ›sensible‹ Politik macht, wäre schon etwas gewonnen.

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Teil F Vertrauen und Transparenz im Horizont des Politischen

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Kapitel XXII Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen – in historischer Perspektive Auf der Vertrauenswürdigkeit des anderen beruht alles Zusammenleben […]. Margaret Boveri 1 Wir alle sind […] auf bemitleidenswerte Weise vertrauenswürdig. Alles in allem kann sich der Staat darauf verlassen, dass wir unsere Pflicht tun […]. Ernest Gellner 2 The trusting man is simply a fool. Judith N. Shklar 3

1.

Prekäres Vertrauen – vor historischem Hintergrund

Dass von Vertrauen seit geraumer Zeit viel die Rede ist, kann nur ein schlechtes Zeichen sein, wenn es stimmt, dass man überhaupt keine Veranlassung hat, von ihm verbales Aufheben zu machen, sofern man mit und unter Anderen, so ›verschieden‹ sie auch sein mögen, wirklich im Vertrauen lebt. So gesehen spricht schon die bloße Thematisierung des Vertrauens dafür, dass man es teilweise oder ganz eingebüßt hat. Zwar ist durchaus fraglich, ob es überhaupt denkbar ist, dass man wirklich jegliches Vertrauen verlieren kann. Aber Hinweise darauf, dass es um das Vertrauen sehr schlecht bestellt sein muss, gibt es zumal in historischer Perspektive zuhauf. War nicht bislang jeder vermeintliche Frieden doch nur ein vorübergehender Waffenstillstand, der wieder in neuen Krieg mündete? Verdiente insofern überhaupt je eine Situation, in der nur die Waffen schwiegen, in dem aber der Naturzustand zwischen den Staaten in Wahrheit andauerte, den Namen Frieden und insofern Vertrauen? Genau diese 1 2 3

M. Boveri, Der Verrat im XX. Jahrhundert, Bd. I, Hamburg 1956, S. 141. E. Gellner, Nationalismus und Moderne, Berlin 1995, S. 153. J. N. Shklar, Political Thought and Political Thinkers, Chicago 1998, S. 296.

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XXII · Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen

Frage verneinte Kant, der diesen Naturzustand wie schon Rousseau vor ihm unmissverständlich als einen Kriegszustand deutete, in seinem philosophischen Entwurf »Zum ewigen Frieden« (1795), dem viele Beiträge zum 200-jährigen Jubiläum seines Erscheinens ungebrochene Aktualität bescheinigten. Einem Frieden, der nicht bloß auf einen vorübergehenden Waffenstillstand hinauslaufen, sondern jeglichen Krieg »auf immer zu endigen« 4 versprechen sollte, verlangt Kant viel ab: er möchte ihn nämlich auf den unbedingten Willen gegründet sehen, ohne jeden (geheimen) Vorbehalt auf kriegerische Gewalt gegeneinander künftig zu verzichten. 5 Kant sagt nicht, ob in diesem Sinne jener gute Wille ausreichend ist, von dem gleich zu Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als dem Einzigen die Rede ist, was »ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden« 6, oder ob vielmehr unbedingtes wechselseitiges Vertrauen für einen solchen Friedensschluss erforderlich ist. Er legt nur nahe, man solle nicht zu neuem Misstrauen Anlass geben, das jeden künftigen Frieden im Vorhinein zu unterminieren drohte. Nicht von einem vorbehaltlosen Vertrauen, das dagegen gefeit wäre, wohl aber vom Zutrauen spricht er dagegen im 6. Präliminarartikel seines Entwurfs. Dort führt Kant aus: »Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind: Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats (perduellio)« etc. 7 Kant war davon überzeugt, dass der Gebrauch solcher Mittel jeden künftigen Frieden infizieren und vergiften müsste. Und er war sich dessen bewusst, dass genau das auch für jeden (bloß scheinbaren) Frieden seiner Zeit anzunehmen war, da man sich all jener inkriminierten Mittel zweifellos ständig und ganz selbstverständlich bedient hatte: von »wechselseitigem Zutrauen« konnte auch in seiner, Kants, Zeit keine Rede sein. Weil vom Eintreten eines ewigen Friedens bislang nicht auszugehen ist, müsste letzteres nach wie vor gelten, so dass vom Vertrauen insoweit immer noch nichts Besseres zu berichten wäre. Im Gegenteil. I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, in: Werkausgabe, Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 193–251, hier: S. 211; vgl. J.-J. Rousseau, Friedensschriften (frz./dt.), Hamburg 2009. 5 Kant, »Zum ewigen Frieden«, S. 196. 6 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1994, S. 10. 7 Kant, »Zum ewigen Frieden«, S. 196–200. 4

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Prekäres Vertrauen – vor historischem Hintergrund

Aus heutiger Sicht listet Kant ja lauter Harmlosigkeiten auf. Zwar kennt er bereits den Begriff des »Ausrottungskrieges«, auf den auch seine Kommentatoren, unter ihnen Johann G. Fichte (1796) und Joseph Görres (1798), Bezug genommen haben 8; doch handelte es sich für ihn eher um eine bloße Denkmöglichkeit. Reale Destruktionsmittel, die einen solchen Krieg hätten durchführbar erscheinen lassen, standen ihm nicht vor Augen. Inzwischen sind in Vernichtungskriegen und Genoziden Dinge geschehen, die, wie Hannah Arendt in Anlehnung an Kant sagt, »niemals hätten geschehen dürfen«. 9 Denn sie sprengten nicht nur jede Vorstellung möglicher Strafbarkeit, sondern auch jeglicher Vergebung, durch die man sich moralisch wieder von ihnen absolviert wissen dürfte. 10 Mehr noch: sie bleiben möglich, können sich in gewandelter Form wiederholen und drohen so das Vertrauen der Menschen in ihre Gattung zu ruinieren. Mit jenen »Dingen« sei auch später Geborenen keine Versöhnung möglich, schreibt Arendt. So denkt sie im Horizont einer nicht mehr versöhnbaren Geschichte, die ihren abgründigsten Punkt dort erreicht zu haben scheint, wo man es mit einer Vernichtungspolitik zu tun hatte, die sich gegen unzählige, »überflüssig« gemachte Menschen richtete. Die bedrohliche Wiederholbarkeit einer solchen, ihrem Namen spottenden ›Politik‹ würde fortan nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein, glaubte Arendt. 11 So lastet ein gegen die Menschheit selbst sich richtendes Misstrauen schwer auf ihrer Geschichte – zumal wenn es stimmt, dass wir alle »vom selben Schlag« sind, wie Tzvetan Todorov mit Blick auf Primo Levis Die Untergegangenen und die Geretteten schreibt 12, und kaum glaubhaft machen können, was radikales Misstrauen gegen die menschliche Gattung auf den Plan gerufen hat, werde die Zukunft nicht mehr belasten. Daran ändert es nichts, sich etwa durch die Verhängung der Todesstrafe von gewissen Un-Personen befreien zu wolEbd., S. 200; J. G. Fichte, »Zum ewigen Frieden – Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant«, in: Z. Batscha, R. Saage (Hg.), Friedensutopien. Kant, Fichte, Schlegel, Görres, Frankfurt/M. 1979, S. 83–92, hier: S. 85; J. Görres, »Der allgemeine Frieden – Ein Ideal«, ebd., S. 111–176, hier: S. 123. 9 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München, Zürich 31993, S. 704 f. 10 Vgl. H. Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München, Zürich 22006, S. 17, 43. 11 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 702. 12 Vgl. T. Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993, S. 287. 8

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XXII · Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen

len, die für außerordentliche Un-Taten verantwortlich sind und mit denen man keinerlei menschliche Gemeinsamkeit mehr anerkennen kann (wie es Arendt selbst in ihrer Rechtfertigung dieser Strafe für Adolf Eichmann nahelegte). 13 Tatsächlich kommen derartige ›Lösungen‹ nicht mehr in Betracht, insofern es feststeht, »dass die Menschheit aufhört, menschlich zu sein, sobald es für die Vorstellung des Feindes in dem Bild, das sie sich von sich selbst und ihrer Bestimmung macht, keinen Platz mehr gibt«. 14 In einem solchen Fall wird gegen radikale Feinde ›schlimmste‹, vernichtende Gewalt heraufbeschworen, auf die sich schlechterdings kein Friede je gründen lässt. 15 So stehen wir heute vor der Herausforderung, wie Friede selbst nach jegliches Vertrauen zerstörenden Un-Taten noch denkbar scheint, und zwar so, dass er nicht um den Preis der Vernichtung radikaler Feinde erkauft wird. Nachdem derartige (Kants Vorstellungshorizont gewiss längst sprengende) Un-Taten immer wieder vorgefallen sind und bis heute weiter vorfallen, scheint aber nur allgemeines Misstrauen herrschen zu können. Ohne dabei an Kant, Arendt oder spezielle Un-Taten zu denken, befand der Historiker Michael Stürmer genau dies: »Misstrauen regiert« 16 – ohne aber zu verraten, ob es unumschränkt über uns herrscht und ob wir es aufgrund weitgehender Preisgabe des Vertrauens haben dahin kommen lassen. (Könnte nicht auch beides zuH. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Leipzig 1986, S. 425 ff. Zu Arendts Urteil in dieser Sache mit Blick auf die aktuelle Diskussion neuer, vor allem systemischer Formen des Bösen vgl. Vf., »Neue Formen des Bösen als Herausforderung des Politischen. Kritische Überlegungen zum späten regenerativen Projekt Paul Ricœurs – mit Blick auf Hannah Arendt«, in: Journal Phänomenologie 37 (2012), S. 45–56. 14 A. Finkielkraut, Die vergebliche Erinnerung, Berlin 1989, S. 84 f. 15 Der deutlichste Hinweis darauf findet sich in Arendts Begründung für die Todesstrafe gegen Eichmann, wo sie am Ende ihres Berichts über die Banalität des Bösen in einem fiktiven Urteilsspruch über ihn befindet, »keinem Angehörigen des Menschengeschlechts kann zugemutet werden, mit denen, die solches wollen [nämlich das Recht sich zu nehmen, darüber zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll] und in die Tat umsetzen, die Erde zusammen zu bewohnen. Dies ist der Grund, der einzige Grund, daß Sie sterben müssen.« Nirgends wird deutlicher, wie sich das Recht und die Politik in genau dieselbe Logik der Verfeindung zu verstricken drohen, die man radikalen Feinden zum Vorwurf gemacht hat. Schließlich würde auch ein solcher Urteilsspruch genau darauf hinauslaufen: jemandem abzusprechen, mit Anderen weiterhin die Erde zu bevölkern. Vgl. Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 429. 16 M. Stürmer, »Vertrauen im modernen Staat«, in: P. Kemper (Hg.), Opfer der Macht?, Frankfurt/M. 1994, S. 86–96, hier: S. 87. 13

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Prekäres Vertrauen – vor historischem Hintergrund

treffen?) ›Regiert‹ das Misstrauen (wie allgemein auch immer) aufgrund eines fatalen, der geschichtlichen Erfahrung angemessenen oder desperat aus ihr ausscherenden Versagens unseres Vertrauens oder stimmt es, dass es durch gewisse Ereignisse endgültig zerstört worden ist, so dass es keinen Ausweg im Sinne der Stiftung neuen Vertrauens mehr geben kann? Überschattet demnach die Herrschaft des Misstrauens infolge des Gebrauchs schlimmster Gewaltmittel jeden künftigen Frieden (im Sinne Kants) und für alle Zeit, sogar im Leben derer, die nach uns kommen? So weit mochte offenbar selbst Arendt nicht gehen, wie vor allem ihre zentral auf das Vertrauen ins gegebene Wort gestützte Philosophie politischer Lebensformen beweist, die sie in ihrem Buch Vita activa dargelegt hat, wo bekanntlich das Vermögen, einen neuen Anfang zu machen, als Natalität eine hervorragende Rolle spielt. Wie sollte sich die aus menschlicher Generativität hervorgehende Natalität in neu zu stiftendem Vertrauen je bewähren, wenn es ihr nicht gelingen könnte, sich einer geschichtlich wie auch immer näher begründeten Herrschaft des Verdachts in jedem künftigen Frieden (Kant) und gegen grundsätzlich jedes Mitglied der menschlichen Gattung zu widersetzen? 17 Vor einer derart weitreichenden Konsequenz schreckte man auch im Kalten Krieg zurück, der schließlich infolge des KSZE-Prozesses in eine energische Suche nach ›vertrauensbildenden Maßnahmen‹ mündete. So setzte man nicht direkt auf das Vertrauen (sei es zwischen Staaten, sei es zwischen deren Repräsentanten oder Mitgliedern), wohl aber darauf, dass es sich im Sinne der Anbahnung eines künftigen Friedens gewissermaßen im transnationalen Horizont regenerieren könnte. Nicht nur in diesem Horizont, auch im Kontext der Debatten um eine denkbare ›Desintegration‹ heutiger Gesellschaften und zuletzt angeregt durch die Exzesse des globalen Finanzkapitalismus hat das Vertrauen inzwischen gleich mehrfach rhetorisch Karriere gemacht. In einer weitläufigen kulturwissenschaftlichen Literatur bemüht man es als soziale Ressource öffentlicher Glaubwürdigkeit, als brüchiges Fundament demokratischer Politik, ja sogar als Bestandsgarantie einer funktionierenden Ökonomie, Warum, fragt man sich, gegen ›jedes Mitglied‹ ? Weil und insofern es lediglich von glücklichen Umständen abzuhängen scheint, ob man in die Lage gerät, jedes Vertrauen zu verraten oder nicht. Differenziert dazu: Todorov, Angesichts des Äußersten, der sich mit gutem Grund und auf empirisches Material gestützt davor hütet, einfach mit einer schwarzen Anthropologie aufzuwarten, die diese schwierigen Fragen mit einem Handstreich beantworten würde.

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XXII · Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen

deren vielfaches und andauerndes Versagen man in moralischer Sprache bemänteln möchte. 18 So fragwürdig diese vielfache Vereinnahmung des Vertrauens auch erscheinen mag, nach einem »Jahrhundert des Verrats« 19, das auch ein Jahrhundert zerstörten Vertrauens war, rückte durch sie in den Blick, was dagegen sprechen mag, dass sich gestörtes oder zerstörtes Vertrauen nach gewissen Erfahrungen je wieder erholen kann. Darüber hinaus geht es nun auch darum, ob nur neu zu stiftendes, wie eine Gabe zu schenkendes Vertrauen, das sich von Vorleistungen nicht ganz und gar abhängig macht, Kräften der Zerstörung sich zu widersetzen vermag, die tatsächlich zu endlosen Vorbehalten Anlass geben und jedes dennoch geschenkte Vertrauen als geradezu irrational erscheinen lassen. Es scheint sich herauszustellen, dass nur ein solches Vertrauen Gewähr dafür bieten kann, nicht von einer Vorgeschichte erdrückt zu werden, in der alles dagegen sprechen mag, je wieder vorbehaltlos zu vertrauen, wie es ein echter Friedensschluss im Kantischen Sinne eigentlich verlangt. Vor diesem historischen Hintergrund gehe ich im Folgenden den Gründen dafür nach, die soziales Vertrauen radikal in Frage zu stellen zwingen. Es wird sich ausgehend vom personalen Vertrauen in konkrete Andere zeigen, dass es sich um Erfahrungen handelt, in denen Vertrauen als Vertrauen unvertraut wird und aussetzt (2.), um daraufhin Reaktionen moralischer Enttäuschung heraufzubeschwören. Sodann werfe ich mit Niklas Luhmann die Frage auf, ob gerade dieses Vertrauen überhaupt als »gesellschaftlich adäquates« gelten kann, wo es um das Funktionieren hochgradig anonymisierter Systeme geht, und setze mich mit dem meta-theoretischen Vorschlag auseinander, der darauf hinausläuft, die Frage, wozu das Vertrauen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ›gut ist‹ (und wozu nicht), ihrerseits als restlos entmoralisiertes Problem aufzuwerfen (3.). In diesem Sinne würde man sich indifferent zu der Frage verhalten, ob wir vertrauen sollen oder müssen. Der damit einhergehenden Annahme, zu vertrauen oder nicht zu vertrauen sei allemal eine Frage Vgl. J. Hart Ely, Democracy and Distrust, Cambridge, London 1980; L. Boltanski, È. Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006, S. 419, 427, 434, 550; sowie die Diskussion um T. Strulik, »Vertrauen. Ein Ferment gesellschaftlicher Risikoproduktion«, in: EWE 22, Heft 2 (2011), S. 239–251. Siehe auch die Angaben in Anm. 27 zu Kap. XXIV. 19 Siehe Kap. XVI, 1, und dagegen U. Frevert (Hg.), Vertrauen. Eine historische Annäherung, Göttingen 2003. 18

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Aussetzen des Vertrauens

von Optionen, die uns frei stehen, widerspreche ich unter Hinweis auf soziale Praktiken, die Vertrauen stiften und zumuten, ohne zuvor unsere Zustimmung einzuholen. Solche Praktiken, in denen uns das Vertrauen als Gabe begegnet, führen vor Augen, wie es auf unberechenbare Art und Weise neue Zukunft stiften kann, statt nur darauf abzuzielen, deren Zeitlichkeit im Rekurs auf erwartbare Sicherheit, die man aus vergangener Erfahrung glaubt ableiten zu können, zu »vernichten«. 20 Was ein derartiges Vertrauen stiftet, ist keine sichere und berechenbare Zukunft, wohl aber die Chance, aufs Neue nicht enttäuscht zu werden und selbst nicht zu enttäuschen (4.). Und das, so scheint es, haben wir nur dem Vertrauen des Anderen zu verdanken, niemals eigener Freiheit, die nur darauf aus ist, ihre eigenen Risiken zu minimieren. Auf den zunächst abgeblendeten geschichtlichen Horizont der vorangestellten Überlegungen komme ich sodann am Schluss kurz zurück (5.).

2.

Aussetzen des Vertrauens

Am Anfang unseres Fragens nach dem Vertrauen – nach seinen Gründen, Motiven, Dimensionen, zeitlichen, existenziellen, sozialen und politischen Horizonten, nach seiner Stabilität, Brüchigkeit, Zerstörbarkeit, Wiederherstellbarkeit, individuell und kollektiv, in geschichtlichen, gegenwärtigen und zukünftigen Horizonten – steht die Erfahrung, dass es wenigstens vorübergehend aussetzt. Das bedeutet nicht nur, dass fraglich wird, ob bzw. wem wir wie (unbedingt oder bedingungslos, bis auf weiteres oder unbefristet, in gewissen Hinsichten oder uneingeschränkt) vertrauen können, wollen, müssen oder sollen, sondern auch, dass fraglich wird, was wir überhaupt ›tun‹, wenn wir Vertrauen riskieren, stiften, schenken oder im Vertrauen auf Andere die Fraglichkeit des Vertrauens gewissermaßen wieder vergessen. Es geht insofern um eine Infragestellung des Vertrauens als Vertrauen, in der sowohl das Vertrauen als auch unser Verständnis des Vertrauens aussetzt. So fraglos wir zuvor im Vertrauen gelebt haben mögen, so wenig kennen wir uns dann noch aus mit dem Vertrauen: worauf es beruhte, wodurch es brüchig oder zerVgl. W. Bonß, »Die gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit«, in: E. Lippert, A. Prüfert, G. Wachtler (Hg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997, S. 21–42.

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XXII · Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen

stört wurde, wie es wieder zu gewinnen ist, wie es vielleicht wieder fraglos werden kann, etc. Sofern und solange wir vertrauten, d. h. im Vertrauen lebten, konnte es uns nicht zu Gesicht kommen. Und wenn wir wieder vertrauen, tritt es erneut in den Hintergrund unserer Erfahrung. Wir vergessen es gewissermaßen, wenn es sich in erneuerter Fraglosigkeit von neuem bewährt – und zwar gerade so, dass es sich unserer Aufmerksamkeit entzieht. Nur gestört oder zerstört aber kommt es als – fragliches, ausgesetztes – Vertrauen zum Vorschein. 21 Insofern muss es uns zunächst selbst unvertraut, ja fremd erscheinen, wenn wir Grund dazu haben, es als solches zu befragen. Denn im ausgesetzten Vertrauen müssen wir uns buchstäblich damit auseinandersetzen, was wir eigentlich ›getan‹ haben, als wir (jemandem, auf etwas etc.) vertrauten. Ist Vertrauen, das sich zunächst ungestört bewährt, überhaupt eine Art Tun? Oder zeigt es sich nur in einer Art und Weise zu leben? Wenn wir nicht (länger) vertrauen können, stoßen wir auf diese Fragen auf regressivem Wege – ausgehend von der fragwürdig gewordenen Vertrauenswürdigkeit dessen her, worauf wir zuvor vertraut zu haben scheinen. Zuerst steht das ›Objekt‹ des Vertrauens in Frage, dann auch das Vertrauen selbst und schließlich das Subjekt des Vertrauens. In dieser kritischen Erfahrung, die sich selbst als Erfahrung, die wir mit Vertrauen und mit unserem Verständnis des Vertrauens machen, befragen muss, treten zunächst im Hinblick auf das Objekt des Vertrauens zwei Fragen auseinander: (a) ob wir auf etwas vertraut haben oder (nicht mehr) vertrauen wollen; oder (b) ob wir jemandem vertraut haben oder wieder vertrauen sollen. Der normale Sprachgebrauch zieht hier keine klare Trennlinie. Deshalb schlage ich vor, zunächst im Fall von (a) von Verlässlichkeit und nur im Fall von (b) von Vertrauen im engeren Sinne zu sprechen. Auf Dinge, Prozesse, Strukturen, Institutionen etc. können wir uns verlassen, nur Anderen aber streng genommen vertrauen – und uns infolgedessen auch auf sie verlassen. Jedoch deckt sich das Sich-Verlassen auf Andere nicht mit dem Vertrauen, das wir in sie setzen, da man sich auch auf normalerweise zu erwartendes Verhalten Anderer verlassen kann, ohne ihnen ›selbst‹ zu vertrauen. Genau das aber steht im fraglichen Vertrauen auf dem Spiel: ob man Anderen selbst vertrauen kann oder nicht. Das bedeutet, dass in Frage steht, ob sie Vgl. Vf., »Violated trust and the self. A negativistic approach«, in: A. Grøn, C. Welz (Hg.), Trust, Sociality, Selfhood, Tübingen 2010, S. 173–192.

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Aussetzen des Vertrauens

(für uns) vertrauenswürdig erscheinen oder sind. Letzteres geht entschieden darüber hinaus, dass Andere einen ›vertrauenerweckenden‹ Eindruck machen. Denn der Eindruck kann täuschen. Und derjenige, dessen Vertrauen erschüttert wurde, will sich definitiv nicht mehr mit einem bloßen Eindruck zufriedengeben, sondern wissen, wie es sich wirklich mit der Möglichkeit verhält, jemandem (wieder) zu vertrauen. Dabei sind zwei fragwürdige Unterstellungen im Spiel: dass man es wissen könne, ob jemand Vertrauen verdient (und nicht nur den Eindruck erweckt, vertrauenswürdig zu sein); und dass Vertrauenswürdigkeit eine Art Eigenschaft sei, die jemandem zukommt oder nicht zukommt. So ergibt sich folgende Genealogie im Zutagetreten kritischen Vertrauens: (1.) Am Anfang steht die Infragestellung von Vertrauen als Vertrauen, das als solches infolgedessen unvertraut erscheint; darauf folgt (2.) die Differenzierung von Vertrauen und Verlässlichkeit; sowie (3.) die Besinnung auf die Abhängigkeit der Frage, ob man jemandem (wieder) vertrauen kann, von dessen Vertrauenswürdigkeit; und schließlich (4.) die Frage nach der Erkennbarkeit dessen, ob jemand durch Vertrauenswürdigkeit Vertrauen verdient. Daraus folgt umgekehrt: bejaht man letzteres (4.), hält man jemanden für vertrauenswürdig, schenkt ihm/ihr (wieder) Vertrauen, so tilgt oder suspendiert man damit bis auf weiteres die Infragestellung von Vertrauen als Vertrauen. So kann die Krise des Vertrauens davor bewahrt werden, in dessen Zerstörung zu münden, und es ›wiederherstellen‹, wie man sagt. Am Ende wird, nachdem man wieder Vertrauen in jemanden ›gesetzt‹ hat, das Vertrauen auch nicht mehr als Vertrauen in Frage gestellt. Man lebt wieder im Vertrauen in genau dem Maße, wie es überhaupt nicht mehr als solches fraglich und insofern vergessen wird. Nur wo ich nicht eigens Vertrauen in jemanden setzen muss, herrscht wirklich Vertrauen; jedoch so, dass es paradoxerweise geradezu überflüssig zu werden scheint. Nur weil ich jemandem wirklich vertraue, brauche ich ihm/ihr nicht eigens zu vertrauen. Wo dagegen letzteres geschieht, wird denkbarer Zweifel am Vertrauen durch prekäres Vertrauen möglicherweise überwunden, keineswegs aber ungetrübtes Vertrauen nur affirmiert. Die Alternative dazu wäre: zu misstrauen, insbesondere jemandem zu misstrauen; und zwar gerade insofern, als Grund zu der Annahme besteht, dass jemand nicht als derjenige in Erscheinung tritt, der er in seinen Absichten ist oder zu sein behauptet. Auch und gerade hinter einem Vertrauen erweckenden Anschein vermutet das 807 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXII · Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen

Misstrauen Gründe dafür, nicht vertrauen zu sollen, ohne diese Gründe aber erkennen zu können. Es muss sich daher einer Semiologie und Hermeneutik des Verdachts bedienen, um aus Anzeichen und Spuren Hinweise darauf zu gewinnen, wie es sich wirklich verhält. Wo das Misstrauen dem Vertrauen vorgezogen wird, hält man sich lieber an den eigenen Verdacht als eine Form der Wachsamkeit angesichts möglicher Quellen von Enttäuschungen des eigenen Vertrauens. Man sieht sich entschieden lieber im Grund zum Misstrauen bestätigt als erneut im Vertrauen enttäuscht. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, ist allerdings außerordentlich hoch. Man muss, wie es scheint, generalisiert misstrauisch werden, da offenbar im Sinne einer Hermeneutik des Verdachts viel mehr als zweifelhaft bzw. verdächtig erscheinen muss, als umgekehrt eindeutige Gründe für Vertrauenswürdigkeit vorliegen können. Eindeutig erkennbar sind solche Gründe genau genommen in keinem Falle. Das Vertrauen ist kein Problem richtiger Erkenntnis objektiver Vertrauenswürdigkeit Anderer, sondern, mangels jeglicher Erkenntnismöglichkeit in dieser Sache, eine Frage des Glaubens an jemanden. Und für diesen Glauben kann es überhaupt keine zureichenden Gründe geben. (Was nicht bedeutet, es könne gar keine Gründe dafür geben, Vertrauen zu schenken.) Das aber bedeutet, dass ein Misstrauen, welches nach solchen Gründen forscht und jegliches Vertrauen verweigert, das sich nicht auf solche Gründe stützen könnte, gar nicht zu überwinden ist. Wer so misstraut, muss immer misstrauen und reduziert sich insofern unweigerlich auf ein generalisiert misstrauisches Wesen, dem schließlich überhaupt kein Weg des Vertrauens mehr offensteht. Gegenwärtige Anzeichen für ›wirkliche‹ Vertrauenswürdigkeit Anderer könnten doch schon in der nächsten oder übernächsten Zukunft in die Irre führen. Es lassen sich aber gar keine Hinweise auf die Vertrauenswürdigkeit Anderer denken, denen zweifelsfrei zu entnehmen wäre, dass ihnen nicht nur bis auf weiteres, sondern dauerhaft und womöglich unbeschränkt zu vertrauen ist. Insofern ist die Lage des Misstrauens wirklich hoffnungslos: denn nichts scheint mehr aus ihm herausführen zu können, wenn man einmal jener Option den Vorzug gegeben hat, sich lieber in misstrauischer Erwartung bestätigt, anstatt im Vertrauen enttäuscht zu sehen. Damit ist deutlich, dass im Fall der Entscheidung zwischen fortgesetztem Misstrauen einerseits und erneuertem Vertrauen andererseits keineswegs nur auf dem Spiel steht, was die kritische Ver808 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Aussetzen des Vertrauens

trauensfrage zunächst nahelegt: die fragliche Vertrauenswürdigkeit Anderer, die man am liebsten ›feststellen‹ möchte, um darauf ein möglichst keine neue Enttäuschbarkeit in sich bergendes, erneuertes Vertrauen zu gründen. Auf dem Spiel steht mehr noch das Selbst, das sich zwischen Misstrauen und Vertrauen zu entscheiden hat; und zwar nicht nur in Einzelfällen (die jeweils ganz verschieden gelagert sein können), sondern im Sinne einer generalisierten Einstellung, die weit bis in eine anonyme Sozialität hinein ausstrahlt, in der wir es nur noch mit Unbekannten, Zeitgenossen und Fremden zu tun haben, denen wir ggf. jedoch mit einer gewissen Haltung begegnen, die sich unvermeidlich auf gewisse Vorerfahrungen stützen wird und nur selten ganz neue Chancen eröffnet. Allerdings geschieht der Übergang von mehr oder weniger tief enttäuschenden, einzelnen Erfahrungen mit einem oder einer Anderen weder automatisch noch induktiv in einem Schritt gleichsam zu generalisierten Einstellungen im Horizont einer anonymen Sozialität. Man schließt in der Regel nicht von einer einzigen Erfahrung auf mögliche weitere Erfahrungen, die man mit allen anderen machen könnte. Auf vorgängige Erfahrungen können andere folgen, die enttäuschende Nachwirkungen tilgen; von enttäuschenden Einzelfällen mag man sich abwenden, um sich anderen zuzuwenden. Schließlich kann man Beziehungen aufgeben und das Feld verlassen, um anderswo neu zu beginnen, etc. In abgestufter Nähe und Ferne kommt bestätigtes und enttäuschtes Vertrauen mit unterschiedlichem Gewicht zur Geltung; und in gewissen Regionen des Sozialen erfährt man sich mehr auf Vertrauen angewiesen als in anderen. Man kann es in diesem Sinne exklusiven persönlichen Beziehungen vorbehalten, um von weitgehend anonymen Milieus und Systemen überhaupt keine Vertrauenswürdigkeit, sondern nur noch eine Art Verlässlichkeit, Zuverlässigkeit oder Berechenbarkeit zu erwarten. In diesem Sinne reserviert Luhmann den Begriff des Systemvertrauens für soziale und politische Verhältnisse 22, die von grundsätzlich austauschbaren Personen getragen werden, an die wir generell keine persönlichen Erwartungen herantragen – solange sie nicht als Einzelne aus der Anonymität sozialer Systeme heraustreten als Entscheidungs- und Verantwortungsträger etwa.

N. Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1989 (= V).

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So gesehen wäre das Vertrauen also primär eine Frage der Vertrauenswürdigkeit konkreter Anderer, von denen in gewisser Weise abhängt, wie sich das Selbst, das allein Vertrauen schenken kann, zur Option verhält, die Bestätigung generalisierten Misstrauens jederzeit dem Risiko (oder vielmehr der Gefahr) erneuter Enttäuschung eines zwischenzeitlich wiederhergestellten Vertrauens vorzuziehen. In diesem Falle würde man mehr oder weniger allen misstrauen in ständiger Wachsamkeit, die nur darauf zu warten bräuchte, wann sie sich wieder bestätigt sehen dürfte – besonders im zweifelhaften Verhalten ausgerechnet derer, die Vertrauenswürdigkeit für sich in Anspruch nehmen wie einen Kredit, den ihnen niemand eingeräumt hat. Wer sich partout nicht in seinem Vertrauen enttäuscht sehen will 23, der scheint in der Tat gut beraten, sich zum Misstrauen in Andere zu entscheiden. 24 Wenn die Vertrauenswürdigkeit Anderer ohnehin nicht erkennbar ist und wenn sie niemals mit zureichenden Gründen vorauszusetzen ist, dann bietet sich generalisiertes Misstrauen als kluge und rationale Einstellung an, wie es auch jene penetrante Redensart besagt, die da lautet, Vertrauen sei gut, Kontrolle aber in jedem Falle besser. Das bedeutet, zugespitzt gesagt, Vertrauen sei eine Art Unklugheit, über die man sich nicht bei anderen beschweren sollte, hat der Vertrauende doch selbst darauf verzichtet, sich durch Kontrolle der Absichten Anderer etwa Klarheit zu verschaffen, wo Enttäuschung von Erwartungen drohen könnte. Der in dieser oft strapazierten Devise liegende Vorschlag, Vertrauen durch Techniken der Kontrolle geradezu zu »erübrigen« (V, S. 73), läuft bei näherem Hinsehen darauf hinaus, die fraglichen Enttäuschungen auf Enttäuschungen eigener Erwartungen zu beschränken, sich aber davor zu bewahren, selbst enttäuscht zu sein, weil man sich im Anderen getäuscht hat. Genau genommen handelt es sich bei einem solchen Vorschlag, das Vertrauen auf ein technisches Problem der Kontrolle der Enttäuschbarkeit eigener Erwartungen zu reduzieren, um eine Immunisierung gegenüber der Zumutung, Vertrauen zu schenken, d. h. an Andere zu glauben und sich von diesem Glauben im Geringsten abEs bleibt noch zu erforschen, was daran eigentlich so heikel ist, dass man dem ein generalisiertes und scheinbar unwiderlegliches Misstrauen vorzuziehen bereit ist. 24 Allerdings ist fraglich, ob das offen bzw. öffentlich möglich ist oder ob der Anschein, Anderen grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen, nicht so weit wie möglich gewahrt bleiben muss, wenn derjenige, der ihnen in Wahrheit generell misstraut, sich nicht selbst ausschließen will. 23

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Aussetzen des Vertrauens

hängig zu machen. 25 Denn wer an jemanden glaubt, gibt – aus freien Stücken und ganz unnötigerweise, wie es scheint – Anderen die Gelegenheit, Verrat zu üben, oder nötigt Andere (auch gegen deren Willen) in eine Position, in der ihr Verhalten als Verrat erscheinen kann. So werden am Ende auch Personen zu ›Verrätern‹, die nie darum gebeten haben, Adressaten eines ihnen selbst geltenden Glaubens zu werden. Wer Vertrauen durch Kontrolle ersetzen möchte, will überhaupt nicht vertrauen und wahrt insofern eine reservatio moralis, die vor den Risiken bzw. Gefahren des Vertrauens zu schützen verspricht. 26 So gesehen spricht bislang wenig dafür, Anderen ›selbst‹ zu vertrauen. Denn das Vertrauen beschwört scheinbar nur eklatante Nachteile herauf: Nur weil wir vertrauen, indem wir an Andere glauben, werden wir selbst (und nicht nur eine unserer Erwartungen) persönlich restlos enttäuschbar; und nur weil wir an Andere glauben, werden sie u. U. in unseren Augen zu Verrätern und erfahren infolgedessen unter Umständen eine absolute moralische Diskreditierung. Dem Verräter glaubt man nichts mehr, wie es scheint. Er ist gewissermaßen nur noch pro forma eine Person, deren Glaubwürdigkeit aber irreversibel beschädigt ist und insofern völliger Verachtung anheimzufallen droht. Was spricht angesichts derartiger Dramatisierungen des Sozialen, die das Selbst durch den riskierten Glauben an Andere und diese durch den Glauben an sie derart aufs Spiel setzen, überhaupt für das Vertrauen? Handelt es sich am Ende lediglich um einen fragwürdigen Euphemismus, der das Potenzial radikaler Moralisierungen und Moralismen kaschiert, die durch ihn überhaupt erst heraufbeschworen werden? 27 Indem jemand Vertrauen ›schenkt‹, wie man nicht selten gedanAllerdings auch mit dem Vorteil, Andere vor der eigenen Enttäuschung über ihren ›Verrat‹ geschenkten Vertrauens zu bewahren. 26 Zumal in pädagogischer Perspektive spricht allerdings viel dafür, dass Vertrauen und Kontrolle einander auf schwer zu durchschauende Art und Weise ergänzen können und müssen, wenn etwa das Vertrauen nicht ohne weiteres ein Zutrauen derer zu sich selbst voraussetzen kann, die einer Aufsicht noch bedürfen. 27 Wenn schließlich festzustehen scheint, dass jemand überhaupt kein Vertrauen mehr verdient, muss der auf diese Weise Geringgeschätzte oder Verachtete gewissermaßen sprachlos werden, auch wenn man ihm nicht den Mund verbietet oder anders zum Schweigen bringt. Denn wer kein Vertrauen mehr verdient, dem glaubt man ›kein Wort‹ mehr, wie es in einer Redensart bezeichnenderweise heißt. Das aber bedeutet streng genommen: die Betreffenden können überhaupt nichts mehr zur Geltung bringen. 25

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kenlos sagt, glaubt er/sie an einen Anderen und bringt diesen in die Lage eines potenziellen Verräters am geschenkten Vertrauen und an demjenigen, dem es zu verdanken ist. Viel tiefer, als ich durch das geschenkte Vertrauen in den Augen Anderer steigen mag, werde ich fallen, wenn ich es enttäusche. Im drohenden Verrat stehe nämlich ich selbst auf dem Spiel, ich als Selbst, d. h. als Antwort auf die Frage, wer ich eigentlich bin. So liegt im geschenkten Vertrauen ein bedrohliches Potenzial moralischer Disqualifikation, das schließlich in die endgültige Feststellung mündet, jemand verdiene keinerlei Vertrauen mehr. So präsentiert sich ein Verdikt über die zerstörte Glaubwürdigkeit Anderer als Bilanz aus der Erfahrung, sich verraten zu fühlen. In dieser Erfahrung erscheint der Andere als Verräter auch dann, wenn er nicht als solcher bezeichnet wird. Der explizite Gebrauch dieses Begriffs ist heute weitgehend dem politischen Sprachgebrauch vorbehalten, in dem es um die Illoyalität von Abweichlern geht, die sich dem (nicht selten verbrecherischen) exklusiven Codex gewisser Gruppen, Sekten und mafioser Organisationen nicht mehr fügen. Gleichwohl muss man feststellen, dass mit dem geschenkten Vertrauen generell die Erfahrung des Verratenwerdens auch dann korreliert, wenn diejenigen, die das Vertrauen enttäuscht haben, nicht explizit als Verräter gebrandmarkt werden. Dass man im Glauben an jemanden selbst enttäuscht wurde, lässt sich eben nicht darauf reduzieren, dass sich irgendeine Erwartung nicht mehr aufrechterhalten lässt. Vielmehr ist man vom Anderen selbst enttäuscht und fühlt sich getäuscht oder hat sich im Anderen getäuscht. Diese gängige, aber selten genauer bedachte Formulierung zeigt an, wie in dieser Erfahrung das eigene und fremde Selbst ins Spiel kommen; und zwar nicht allein aufgrund irgendwelcher Erwartungen, auf die ohne weiteres auch zu verzichten wäre. Sich im Anderen getäuscht zu sehen, entspricht genau der Erfahrung des Verrats an dem, wer man ist. Schlägt diese Erfahrung nun aber nicht ganz und gar auf diejenigen zurück, die unklugerweise Vertrauen geschenkt und damit überhaupt erst die Möglichkeit des Verrats eröffnet haben? Das wäre wiederum ein starker Grund, Vertrauen allenfalls äußerst zurückhaltend und sparsam zu schenken; und wenn, dann so, dass für den Fall der Enttäuschung nicht gleichsam mit einem Schlag eine ›restlose‹ Diskreditierung des Anderen erfolgen muss. 28 Bleiben nicht in der Tat zwischen der Erfahrung einmaliger Enttäuschung (»wer einmal 28

So gesehen besteht in der Tat eine Verantwortung für das Vertrauen, die sich davor

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Vom persönlichen Vertrauen zum Systemvertrauen

lügt, dem glaubt man nicht« bzw. nie wieder) einerseits und einer endgültigen Einstufung des Anderen als Verräter andererseits erhebliche Verhaltensspielräume, in denen nicht nur das Selbst und der Andere, sondern auch der Kontext der Lebensformen auf dem Spiel steht, in denen Vertrauen als zweifelhaftes zum Vorschein kommt? Geht es in diesen Spielräumen nicht stets auch um die Frage, welches relative Gewicht einmalig, wiederholt oder chronisch enttäuschtem persönlichem Vertrauen in sozialen Kontexten zukommen soll, die sich nicht auf persönliche Verhältnisse reduzieren lassen? 29 – Diese Frage hat in systemtheoretischer Perspektive Luhmann entfaltet, dem es nicht darum ging, warum (wie gezeigt) Vertrauen in Andere zu starken Moralisierungen Anlass geben kann, sondern vielmehr darum, ob und inwieweit es überhaupt gesellschaftlich zuträglich ist. Damit hat Luhmann Fragen nach der Funktion unterschiedlicher Erscheinungsformen des Vertrauens aufgeworfen, die er gerade nicht in moralischen Begriffen glaubte beschreiben zu sollen. Denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es durchaus zweifelhaft ist, wozu Vertrauen ›gut ist‹, und dass dieses Prädikat keineswegs ausschließlich als ein moralisches zu verstehen ist.

3.

Vom persönlichen Vertrauen zum Systemvertrauen: eine entmoralisierte Analyse

In gängigen Theorien der Politik und sozialer Systeme wird seit langem behauptet, ihr Gegenstandsbereich lasse sich nur noch als ein durch und durch entmoralisierter begreifen. Die Theorie der Politik hätte sich demnach mit in diesem Sinne neutralisierten Formen der Macht zu befassen 30 und die soziale Systemtheorie mit funktional verknüpften Formen kontingenten »Anschlusshandelns« 31, die von hüten müsste, es gerade durch seine übermäßige Inanspruchnahme (oder auch durch die Weigerung, sich auf das Wagnis des Vertrauens einzulassen) zu verlieren. 29 Besonders Paul Ricœur insistiert in Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 154, mit Recht darauf, wie sogar die Institution Sprache durch die Erschütterung des Vertrauens in das Gesagte mit betroffen sein kann. 30 Vgl. W. Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, mit Blick auf aktuelle Positionen: S. 18, 48, sowie mit Blick auf die Karriere des Machtgedankens S. 149, 153, der am Ende aber wissenschaftstheoretisch relativiert wird (S. 299, 360). 31 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 2 1985, Kap. 3. Luhmann bestreitet keineswegs das empirische Vorkommen von Mo-

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XXII · Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen

keiner Morallehre mehr zureichend beschrieben und begriffen werden. Auf theoretischer Ebene scheint das Vertrauen in dieser Perspektive somit nur unter der Voraussetzung einer moralischen Neutralisierung des Politischen zur Sprache kommen zu können, die deutlich mit Erfahrungen des Verrats im Fall enttäuschten Vertrauens kontrastiert. Wer vertraut, kann verraten werden und riskiert selbst Verrat. Insofern kann das Vertrauen zur Quelle dramatischer Moralisierungen werden, die aber in der Perspektive einer Theorie sozialer bzw. politischer Systeme als eigentümlich verfehlt gelten, insofern hochkomplexen und primär funktional differenzierten Gesellschaften nur noch ein sog. Systemvertrauen scheint angemessen sein zu können, das vor allem mit Erwartungen rechnet und sich auf deren Berechenbarkeit verlässt. 32 Dieses Vertrauen kann offenbar nicht verraten werden; es kann sich nur noch täuschen. Die moralisch enttäuschende Erfahrung des Verrats bliebe demnach mehr oder weniger engen persönlichen Beziehungen vorbehalten. Dagegen sollte man sich im Horizont weitgehend anonymisierter sozialer und politischer Systeme mit einem ernüchterten Vertrauen begnügen, das zu derartigen Moralisierungen kaum mehr Anlass böte und so weit wie möglich das

ralisierungen im Politischen, wohl aber distanziert er sich von der Erwartung, sich auf theoretischer Ebene zu derartigen Phänomenen wiederum moralisch wertend verhalten zu sollen. 32 Die öffentliche Rhetorik des Vertrauens trägt viel zur Unklarheit in dieser Hinsicht bei. Nicht zuletzt dadurch, dass sie für eine quasi-persönliche Vertrauenswürdigkeit von Institutionen wirbt, für die im Fall enttäuschten Vertrauens dann regelmäßig doch niemand konkret einstehen will. Infolgedessen provoziert diese Rhetorik in diesem Fall moralische und moralistische Reaktionen, die an der anonymen ›Eigenlogik‹ besonders politischer, rechtlicher und ökonomischer Prozesse und Strukturen eigentümlich abgleiten. Beispiele liefern die öffentlichen Diskussionen um die Machenschaften der Lehman Brothers und Konsorten, der Hypo Real Estate-Bank und diverser Landesbanken zuhauf. Zurück bleibt zumal bei mehr oder weniger ahnungslosen Anlegern von Privatvermögen das verbreitete Gefühl, enttäuscht und verraten worden zu sein, ohne dass man benennen könnte, wer eigentlich geschenktes Vertrauen verraten haben soll. So kann das enttäuschte Vertrauen nur in symbolischen Ausnahmefällen ›Verräter‹ identifizieren und sich an ihnen moralisch schadlos halten, die ihrerseits darin eine abwegige, ja sogar heuchlerische Moralisierung branchenüblicher Praktiken und finanz-systemischer Normalität sehen. Kritisch zur Annahme, ein ungeschminkt ›rein ökonomisch‹ motiviertes Handeln bewahre vor dem Vorwurf der Heuchelei, und zur Vermutung, in jeglicher Moralisierung stecke womöglich ein hypokritisches Moment, vgl. R. W. Grant, Hypocrisy and Integrity. Machiavelli, Rousseau and the Ethics of Politics, Chicago, London 1997.

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Vom persönlichen Vertrauen zum Systemvertrauen

Vertrauen in Andere zugunsten des Sichverlassens auf etwas ersetzen müsste. 33 Luhmann befleißigt sich erklärtermaßen einer konsequenten »Umrüstung moralischer in soziologische Begriffe« (V, Vorwort), um das Vertrauen in einer a-moralischen Perspektive daraufhin beurteilen zu können, inwieweit und in welcher Form es für vergesellschaftetes Leben überhaupt als zuträglich bzw. als »gesellschaftlich adäquat« gelten kann. Nur so glaubt er dem Vertrauen systemtheoretisch gerecht werden zu können mit Blick auf funktional differenzierte Gesellschaften mit Teilbereichen, deren Verhältnisse untereinander scheinbar nicht mehr in moralischen Begriffen beschrieben werden können. 34 Moral wird unter dieser Voraussetzung selbst zu einem Teilbereich, in dem ein bestimmter Code angemessen ist, der sich im Gebrauch von Kategorien wie ›gut‹ und ›schlecht‹ zeigt – im Gegensatz zur Wissenschaft, die mit Kategorien wie ›wahr‹ und ›falsch‹ arbeite, und im Gegensatz zur Politik, die mit Kategorien der Regierung bzw. der Herrschaft und Macht einerseits, der Opposition, des Beherrschtwerdens etc. andererseits operiere. Die jeweils bereichsspezifischen Funktionscodes müssen, meint Luhmann, »auf einer Ebene höherer Amoralität eingerichtet« sein, damit es nicht dazu kommt, dass bspw. Erkenntnisprozesse moralisiert und moralische Probleme als Erkenntnisfragen ausgegeben werden (PL, S. 23 f.). 35 Daraus ergibt sich für Luhmann zweifellos, dass »eine in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaft auf eine moralische Integration verzichten« muss (PL, S. 25). 36 Das bedeutet aber nicht, dass Moralisierungen aus ihr gänzlich zu verschwinden hätten. Vielmehr bleiben sie weitgehend bestimmten Kommunikationen vorbehalten, in denen man es mit »ganzen Personen« zu tun hat; und zwar so, dass deren Achtung oder Missachtung auf dem Spiel steht. Die Systemtheorie beobachtet derartige Kommunikationen und besonders deren polemogene Folgen. Sie ergeben sich daraus, dass moralische KomWeiter unten wird sich zeigen, dass Luhmann in seiner Soziologie des Vertrauens keineswegs so weit geht, für eine generelle Ersetzung persönlichen Vertrauens durch ein systemisches Vertrauen zu plädieren. 34 Vgl. Luhmanns Rede anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989 in: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt/M. 1990, S. 7–46 (= PL). 35 Zur Kritik an diesem Ansatz, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, vgl. O. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, Frankfurt/M. 1995, Kap. 3. 36 Vgl. N. Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt/M. 2 1997, S. 46–63. 33

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XXII · Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen

munikation zur Gewalt neigt, da sie »im Ausdruck von Achtung und Mißachtung zu einem Überengagement der Beteiligten« führt. Denn wer moralisch kommuniziert, gibt zu erkennen, »unter welchen Bedingungen er andere und sich selbst achten bzw. mißachten wird« und setzt so »seine Selbstachtung ein – und aufs Spiel« (PL, S. 26). Wer sich oder Andere nicht mehr achten kann, ist aber mit der Frage konfrontiert, ob überhaupt noch irgendein Verhältnis zu ihnen aufrechterhalten werden kann oder soll. So gesehen beschwören Moralisierungen die Zerstörung des Sozialen in den von ihnen betroffenen Sektoren herauf. Der Systemtheoretiker fragt sich deshalb, ob man der Ethik (die er als Reflexionsform der Moral begreift) anraten kann, »Moral umstandslos für moralisch gut zu halten«, oder ob es nicht »die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik« sein muss, »vor Moral zu warnen« (ebd., S. 27, 41). In dieser Perspektive werden Moralisierungen in Begriffen der Achtung (oder auch des Vertrauens) und deren Folgen zum Beobachtungsgegenstand innerhalb eines Teilbereichs funktional differenzierter Gesellschaften (sofern die Moral nicht gänzlich funktions- und sozusagen sozial ortlos werden muss). Die Bewertung dieser Folgen im Hinblick auf die jeweilige Gesellschaft soll aber nicht ihrerseits mit Hilfe derselben Begriffe erfolgen können. Denn Gesellschaft sei als funktional vielfach differenziertes System überhaupt keinem für sie insgesamt gültigen Code mehr zu unterwerfen. Sie ist als Ganzes »kein möglicher Gegenstand moralischer Bewertung«, da sie gerade als Bedingung dafür gelten muss, dass es unterschiedliche Funktionssysteme gibt, in denen jeweils irreduzibel verschiedene Codes zum Einsatz kommen (PL, S. 39). Den Systemtheoretiker interessiert unter diesen Voraussetzungen vor allem, was man mit Hilfe gewisser (etwa moralischer) Kategorien (gut vs. schlecht; gut vs. böse) ›sehen‹, d. h. theoretisch und empirisch in den Blick bekommen kann und was nicht. Moral wird zu einem Gesichtspunkt unter mehreren anderen und ist ihrerseits danach zu beurteilen, »wann es denn gut ist«, jene Kategorien zu verwenden und wann nicht (PL, S. 43). Ihre Verwendung impliziert selektive Unterscheidungs- und Beobachtungsmöglichkeiten, die ihrerseits nicht als moralisch gut oder schlecht, sondern nur noch im Hinblick darauf zu beurteilen sind, was mit ihnen zu erkennen ist und was nicht (ebd.). Als gewissermaßen über allen kontingenten Unterscheidungs- und Beobachtungsmöglichkeiten stehend verteidigt der Systemtheoretiker allerdings das Interesse da816 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Vom persönlichen Vertrauen zum Systemvertrauen

ran, was in verschiedenen Perspektiven oder ausgehend von unterschiedlichen Standpunkten anders zu sehen ist. Unter diesen metatheoretischen Voraussetzungen nimmt Luhmann nun auch das Vertrauen in den Blick; und zwar zunächst als personales Vertrauen, dann auch als sog. Systemvertrauen, das ganz und gar auf die Belange funktional differenzierter und weitgehend anonymisierter Gesellschaften zugeschnitten scheint. Im Folgenden hebe ich nur die bemerkenswertesten Aspekte von Luhmanns überaus komplexer Analyse heraus, die (auch schon bei ihm selbst) dagegen sprechen, ein gewissermaßen depersonalisiertes und entmoralisiertes Systemvertrauen könne das in Andere gesetzte Vertrauen wirklich überflüssig machen und die in ihm liegenden Quellen der Moralisierung überwinden. Am Ende werfe ich in historischer Perspektive die Frage auf, ob und wie sich die Theorie des Vertrauens dazu verhalten muss. (1) Luhmann begreift Vertrauen zunächst als »Zutrauen zu eigenen Erwartungen«, realisiert dann aber, dass es durch Andere herausgefordert wird, die wie nichts sonst eine ›radikale Verunsicherung‹ heraufbeschwören. Sie können sich nicht nur ›ganz anders‹ als jeweils erwartet verhalten, sondern dabei auch zu äußerster Gewalt greifen. In einer Welt, in der jederzeit in diesem Sinne ›alles möglich‹ wäre, könnte man aber nicht einmal morgens sorglos sein Bett verlassen und nicht einmal ein unumschränkter Machthaber sich gedankenlos zur Ruhe betten. »Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen« müssten uns befallen (V, S. 1). Die Überkomplexität einer (nur fiktiv auszumalenden) Welt, in der grundsätzlich jederzeit alles (anders) möglich wäre, muss um jeden Preis abgewehrt werden – durch Reduktion dieser Komplexität. Dazu dient u. a. das Vertrauen. 37

In phänomenologischer Perspektive setzt Luhmann hier eine generelle Welt-Vertrautheit voraus. Ihr gegenüber sei weder Vertrauen noch Misstrauen als universelle Einstellung möglich; V, S. 80. Die Welt könne schließlich nicht im Ganzen als jederzeit kontingent erscheinen; V, S. 20 ff. Der Hypothese, jene Welt-Vertrautheit fundiere sowohl das Vertrauen als auch das (stets selektive) Misstrauen, steht bei anderen Autoren die fundierende Rolle des Vertrauens entgegen. Demnach kommt man mit ungebrochenem Vertrauen zur Welt; und dieses bei E. H. Erikson sog. Urvertrauen wird erst nachträglich eingeschränkt, spezifiziert oder zerstört. Aber kann man vertrauen, wenn man nicht einmal misstrauen kann? Lebt ein Kleinkind im Zustand eines von jeglichem Misstrauen ungetrübten Vertrauens oder diesseits der Alternative von Vertrauen und Misstrauen? Dieser Theorie steht wiederum die Vermutung eines uneingeschränkten Misstrauens gegenüber, wie es Hobbes mit Blick auf den Bürgerkrieg seiner Zeit beschrieben (und als anthropologisch grundlegend eingestuft)

37

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(2) Insoweit ist es aber auch funktional äquivalent mit dem Misstrauen, das die gleiche Leistung scheint erbringen zu können, ohne je ›blindlings‹ vertrauen zu müssen. Worauf es im Sinne dieser Leistung ankommt, ist lediglich die Erhaltung von Identität in einer überkomplexen Welt (V, S. 3); und zwar im Verhältnis zu Anderen, durch deren »originären Zugang zur Welt« sich in der Tat alles einem anderen Erleben darstellen und bereits auf diese Weise radikal verunsichern kann (V, S. 5). Dagegen soll Vertrauen ermöglichen, sich so zu verhalten, als ob man »der Zukunft sicher« wäre, obgleich es in dieser Hinsicht »kein Gewissheitsäquivalent zu bieten vermag« (V, S. 8, 13). Deswegen kann alles und jeder unter Verdacht geraten, wogegen sich Vertrauen »nur dann erhalten kann, wenn es eine Form findet, in der es mit diesem Verdacht leben kann und gegen ihn immun wird« (V, S. 15). 38 (3) Sich so eines uferlosen Verdachts zu erwehren wird möglich, indem »anderen Menschen das Angebot einer bestimmten Zukunft« gemacht wird 39; und zwar so, als ob für die gemeinsame Zukunft bestimmte Möglichkeiten, die Verdacht erregen müssten, ausgeschlossen wären (V, S. 20). Im Rahmen einer weitgehend bereits vertrauten Welt werden bestimmte Quellen des Misstrauens und des Verdachts gleichsam eingeklammert, aber nicht einfach vergessen oder eliminiert (wie es bei der Hoffnung der Fall zu sein scheint). Man vertraut Anderen vielmehr im Wissen darum, dass »der Schaden beim Vertrauensbruch größer sein kann als der Vorteil, der aus dem Vertrauenserweis gezogen wird« (V, S. 24 f.). Was so eine bloße – manchmal unbedachte und leichtsinnige – Risikokalkulation zu sein scheint, ist hat. Diese drei Ansätze zusammenzuführen, um ihr relatives Recht zu bestimmen, ist ein Desiderat. 38 Das kann, wenn überhaupt, nicht (allein) durch »Ereignisbeherrschung« geschehen, wie Luhmann ausdrücklich feststellt (V, S. 16 f.). 39 Zuvor aber muss man überhaupt in eine gewisse Beziehung eintreten, was nicht wiederum voraussetzen darf, dass man ein solches Angebot macht, das sich als solches nur demonstrieren lässt, wenn eine gewisse Beziehung schon besteht. Die weiter unten einfließenden Bemerkungen zur Anthropologie der Gabe zielen genau darauf ab. Im Übrigen trifft auch die Annahme nicht zu, es werde jedes Mal das Angebot einer bestimmten Zukunft gemacht. Im Fall eines Heranwachsenden, dem man vertraut, gilt das Vertrauen als Glauben an den betreffenden Anderen vielmehr einer unbestimmten, ihm eigenen und unabsehbaren Zukunft. Auch hier rächt sich die Beschränktheit einer risikotheoretischen Engführung des Vertrauens, das man, so scheint es, niemals der eigenen Kontrolle entgleiten lassen will. In Wahrheit ist niemals im Vorhinein abzuschätzen, ob man zu wenig oder zu viel vertraut.

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Vom persönlichen Vertrauen zum Systemvertrauen

aber wie gesagt tatsächlich ein Angebot, das ganz und gar davon abhängt, ob die Adressaten, denen Vertrauen – in »letztlich immer unbegründbarer« (und unbeweisbarer) Art und Weise (V, S. 26) – erwiesen wurde, es auch annehmen werden. »Zuerst und vor allem«, betont Luhmann, wird Vertrauen »dem anderen Menschen geschenkt«; und zwar als freiem Wesen, das die ›Gabe‹ des Vertrauens zurückweisen oder das geschenkte Vertrauen verraten kann (V, S. 32, 40), das sich aber niemals diese Gabe aus eigener Kraft zu verschaffen vermag. Unsere Freiheit hat darin ihre Grenze, dass sie uns nicht aus eigener Kraft in die Lage bringen kann, dass uns dank der Gabe des Vertrauens die Gelegenheit geboten wird, den Anderen nicht zu enttäuschen. (4) Insofern ist das ›Vertrauen-schenken‹ tatsächlich ein doppeltes Wagnis. Nie kann man im Vorhinein wissen, ob das geschenkte Vertrauen als solches gewürdigt wird und ob man es nicht doch verraten wird. Aber gerade darin liegt die spezifische Leistung des Vertrauens: es gibt die Möglichkeit, diejenigen, die vertraut und sich dadurch verletzbar gemacht haben, nicht zu enttäuschen. Erst wenn sich das Nicht-enttäuscht-werden bewahrheitet, zunächst bis auf weiteres, dann auch buchstäblich endlos, lebt man ›im Vertrauen‹, das sich im gleichen Maße wieder der Aufmerksamkeit entzieht. So hat es den Anschein, als neige das dauerhaft bewährte Vertrauen von sich aus dazu, sich wieder einem ›unmotivierten‹ Vertrauen anzunähern, das in komplexen Gesellschaften unmöglich angemessen sein kann. Dieses Vertrauen muss man geradezu verlernen, um fälligen Differenzierungen dessen, wer oder was (bedingt, befristet usw.) Vertrauen rechtfertigt, Rechnung tragen zu können. (5) Dabei geht es laut Luhmann darum, die »eigene Risikobereitschaft unter Kontrolle zu halten« und gerade nicht »bedingungslos«, sondern nur in Grenzen »vernünftiger Erwartungen« zu vertrauen (V, S. 31). Gleichwohl soll es in einer überkomplexen Gesellschaft, die jede reale Kontrollmöglichkeit überfordert, tatsächlich Vertrauen bleiben können und sich nicht auf ein bloßes Sichverlassen auf und Rechnen mit Kontingenzen reduzieren. Genau das, meine ich, kann Luhmann indessen nicht zeigen. Er behandelt das Vertrauen dort, wo es sich zunehmend von persönlichen Adressaten entfernen muss, weitgehend als ein riskantes Sichverlassen auf funktionale Zusammenhänge, das sich darüber hinwegsetzt, dass für eine ganz rationale Risikokalkulation nicht ausreichende Informationen vorliegen (V, S. 33). Dann handelt man mit unzureichenden Gründen und mit 819 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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mangelhaftem Wissen, gleichsam in freiwilliger und manchmal fahrlässiger Blindheit. So aber hat das Systemvertrauen mit dem personalen Vertrauen nur noch den Namen gemeinsam. In keiner Weise, so scheint es, läuft ersteres noch Gefahr, dass man sich selbst in jemandem täuscht, den Glauben an ihn oder sie verliert bzw. aufgibt und sich infolgedessen verraten fühlt. 40 Gleichwohl fundiert in Luhmanns Sicht das personale Vertrauen (das in jemanden gesetzte Vertrauen) letztlich auch das nur auf etwas sich verlassende Systemvertrauen. Und das, obwohl auch im Verhältnis zu Vertrautem »eine Kluft voll Unbekanntheit« sich auftut – »gerade auch gegenüber dem Nächsten, den der Zweifel in eine überraschende Fremdheit entrückt« (V, S. 34 f.). Ersatzweise mag man sich auf Konventionen zurückziehen, wo Misstrauen zum Affront würde, weil Vertrauen erwartet wird; und zwar auch dann, wenn es eigentlich niemand jemandem schenken möchte. »Der Misstrauische kann unter solchen Umständen seinen Gefühlen und Befürchtungen nicht Ausdruck geben, ohne sich sozial zu isolieren« (V, S. 35). So gesehen spricht wenig dafür, das Vertrauen könnte in der ihm eigenen Zerbrechlichkeit ungeschminkt überhaupt zum Vorschein kommen. Überdies verhilft das Recht als Vertrauenssurrogat dazu, sich über die Brüchigkeit des Vertrauens hinwegzusetzen, um nicht Anderen vertrauen zu müssen. Auch das ist freilich ein Irrweg, wenn »in Wahrheit […] der Vertrauensgedanke das gesamte Recht, das gesamte Sicheinlassen auf andere Menschen [fundiert]« (V, S. 37; Hervorhebg. B. L.). Vertrauen lässt sich demnach »nicht auf Vertrauen in das Recht und seine Sanktionsmöglichkeiten reduzieren«. Und man kann persönliches Vertrauen zwar einzuschränken, zu zügeln, zu kontrollieren und auch zu suspendieren versuchen. Früher oder später holt es aber jeden wieder ein, wenn es unvermeidlich ist, sich auf Andere (wieder) einzulassen. Dann steht in Frage, ob »die Beteiligten […] einander wieder in die Augen blicken können« 41 – im vollen BewusstIn der Nähe des Anderen, dem man vertraut, begibt man sich tatsächlich in die Gefahr der ›restlosen‹ Enttäuschung und nimmt nicht bloß ein mehr oder weniger berechenbares Risiko in Kauf. In dieser Gefahr büßt man am Ende jegliche Möglichkeit ein, noch an irgendjemanden zu glauben, und bleibt dem ›Wissen‹ ausweglos ausgeliefert, dass jeder als (potenzieller) Verräter gelten muss. Selbst Machiavelli war offenbar nicht darauf eingestellt, dieses ›Wissen‹ auch in nicht-politischen Beziehungen unumschränkt herrschen zu lassen. 41 Ob wir in jedem Falle »maskiert« auftreten, wie man es sich von Helmuth Plessner 40

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Vertrauen als Gabe

sein des »unheimlichen Potenzial[s] [ihrer] Handlungsmöglichkeiten«, d. h. ihrer Freiheit (V, S. 39 f., 71). In dieser Lage gibt es scheinbar nur eine Alternative: entweder vorbehaltlos Vertrauen zu schenken oder schon durch Zurückhaltung oder Vorbehalte Misstrauen zu signalisieren (wenn auch unfreiwillig). 42 Zurückhaltung darin, Vertrauen zu erweisen, schlägt aber unweigerlich in den Nachteil um, kein »Vertrauen zu erwerben«, so dass eine Beziehung, in der man sich nicht sofort vertrauensvoll verhält, fast unvermeidlich zu fortgesetztem Misstrauen verurteilt bleibt (V, S. 42).

4.

Vertrauen als Gabe

In Praktiken der Gabe ist dieses uralte Wissen bis heute aufbewahrt: Indem man Anderen eine Gabe überreicht, signalisiert man nicht nur gute Absichten, sondern mutet ihnen auch die Annahme des Gegebenen im Geist des Vertrauens auf diese Absichten zu. 43 Die Annahme der Gabe manifestiert ihrerseits eine Würdigung dieses Vertrauens und erwidert es, ohne in Frage zu stellen, worauf sich das Vertrauen überhaupt stützen kann. Weder im Fall der Anbahnung noch im Fall der Wiederanknüpfung einer Beziehung kann es überhaupt einen zureichenden derartigen Grund geben. In beiden Fällen ist es gerade das Ausbleiben jeglicher Infragestellung des prekären Vertrauens, was es unzureichend ›begründet‹. (Was keineswegs ausschließt, dass daran anschließende Erfahrungen schließlich sogar jegliches Vertrauen in das Vertrauen unterminieren und so dahin führen, sich auf überhaupt keine vertrauensvolle Beziehung mehr einlassen zu wollen.) Im Akt des Gebens zeigt sich nicht nur das Vertrauen des Gebenden; in ihm manifestiert sich auch die dem Anderen nicht trotz, sondern angesichts seiner Freiheit gleichsam attestierte Vertrauenswürdigkeit. Er oder sie ist es, dem oder der das Vertrauen gilt, ohne dass es in irgendeinem Wissen zureichend fundiert sein könnte. So bleibt alternativ nur ein Glauben an den Anderen, wie es die Hermebis hin zu Richard Sennett mit Blick auf gesellschaftliches Leben vorgestellt hat, oder nicht, bleibe dahingestellt; vgl. Z. Bauman, Postmoderne Ethik, Hamburg 1995, S. 173; ders., Flüchtige Moderne, Berlin 72016, S. 114 f. 42 Kant sah sich mit dieser Schwierigkeit konfrontiert, als er den Ersten Präliminarartikel seines Entwurfs »Zum ewigen Frieden« ausführte. Das zeigt, was er zur reservatio moralis zu sagen hat (S. 196). 43 Vgl. den Exkurs zum Kap. VII.

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neutik des Vertrauens auch lehrt, der Luhmann bei näherem Hinsehen erstaunlich weit entgegenkommt, wenn er feststellt, dass Vertrauen überhaupt nicht zu verlangen, sondern nur zu gewähren ist – »dadurch, daß der Initiator selbst Vertrauen schenkt«. So ist »seine Verwundbarkeit das Instrument, mit dem er eine Vertrauensbeziehung [zum ersten Mal oder wieder] in Gang bringt«; und zwar mit Hilfe der Zumutung, nicht enttäuscht zu werden, um so den Anderen »in seinen Bann zu ziehen« (V, S. 36). So spricht die Zumutung von Vertrauen den Anderen an und nimmt ihn auch in Anspruch (V, S. 68 f.). Sie erzeugt im doppelten Sinne Ansprüche, schreibt Luhmann, die aber niemals vorzuschreiben, allenfalls »nachzunormieren« sind. Demnach gibt es im engeren Sinne keinen Anspruch und kein Recht auf Vertrauen, obwohl (oder vielmehr gerade weil) auf ihm das Soziale im Ganzen zu beruhen scheint. Vom ersten Anspruch an stiftet man Vertrauen, das, wenn es sich bewährt, ein Leben im Vertrauen möglich macht. Ob es sich aber bewähren wird, steht stets dahin. Ob diejenigen, denen man wie zurückhaltend auch immer, Vertrauen schenkt, es wirklich verdienen, ist im Vorhinein niemals zu erkennen. Daher rührt die starke Neigung, es ersetzen zu wollen – sei es durch ein angeblich funktional äquivalentes Misstrauen, sei es durch ein abstraktes Systemvertrauen, das mit normalerweise zu Erwartendem schlicht rechnet. In beiden Fällen handelt es sich aber nur noch darum, sich auf etwas (auf das eigene Misstrauen oder auf die Zuverlässigkeit von Anschlussmöglichkeiten in sozialen Systemen) zu verlassen, so dass man damit kalkulieren kann, nicht aber darum, jemandem zu vertrauen. Der übliche Gebrauch des gleichen Begriffs in tatsächlich vollkommen verschieden gelagerten Fällen kaschiert die unaufhebbare, konkret aber nur schwer auszulotende Differenz in der Sache. Am sozialen Verhalten ist kaum je eindeutig zu erkennen, ob man sich auf etwas verlässt oder ob man jemandem vertraut. So kann eine Gabe als Zeichen des Vertrauens erscheinen und doch einem Kalkül entspringen oder so aufgefasst werden. Diese Ambiguität gehört, wie es scheint, konstitutiv zum Phänomen des Vertrauens in allen seinen Erscheinungsformen: Das Vertrauen kann nicht beweisen, dass es sich um ein Phänomen des Vertrauens in jemanden handelt (und nicht um ein Rechnen mit etwas, worauf man sich nur verlässt). Nicht zuletzt deswegen insistiert Luhmann darauf, die zunehmende Komplexität heutiger sozialer Systeme erfordere weithin geradezu 822 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Vertrauen als Gabe

Indifferenz gegenüber der Frage der Vertrauenswürdigkeit Anderer. Manche gehen so weit, den personalen Sinn des Vertrauens für historisch überlebt zu halten. Viel wichtiger als personales Vertrauen sei die Verlässlichkeit eines anonym funktionierenden sozialen Systems, das schließlich das personale Vertrauen geradezu scheint absorbieren zu können (V, S. 67). Vertrauen würde dann in mehr oder weniger rationalen Erwartungen bestehen, von denen man glaubt, dass sie sich bewähren werden. In diesem ernüchterten Sinne kann man dann auch davon sprechen, dass man in Krisenzeiten sein ganzes Vertrauen auf Investitionen in Gold setze. Aber kann man in diesem Sinne wirklich auf Gold oder Geld vertrauen (V, S. 55)? Oder handelt es sich hier lediglich um irreführende Vorstellungen einer Berechenbarkeit und Verlässlichkeit, die konkret stets nur unter Rekurs auf ein Minimum personalen Vertrauens einzulösen sind? (Kann jemand, der überhaupt kein Vertrauen in diesem Sinne zu ›investieren‹ bereit ist, auch nur riskieren, sein Geld bei irgendeiner Bank abzugeben?) Luhmann sagt selbst, »die Vertrauensfrage schwebt über jeder Interaktion«; sie werde schon beim ersten In-Erscheinung-Treten vor Anderen virulent (V, S. 42). Und letztlich ruhe das Systemvertrauen auf dem »Vertrauen in das Vertrauen anderer« (V, S. 77); und zwar anderer, die man nicht kennt. Selbst generalisiertes und in gewisser Weise anonymisiertes Vertrauen beruht demnach niemals auf der Struktur eines »Systems, das Vertrauen schenkt« (V, S. 93 f.). Systeme vertrauen niemandem und schenken nichts; auch dann nicht, wenn ihr reales Funktionieren sich weitgehend vom Vorliegen individueller Voraussetzungen unabhängig gemacht hat, so dass sie normalerweise Abläufe sozialer Interaktion vorsehen, in denen sich nicht jedes Mal neu jene Vertrauensfrage stellt. Luhmann wirft demgegenüber die Frage auf, »wie ein System intern organisiert sein [muss], damit es in der Lage und bereit ist, Vertrauen zu schenken« (V, S. 85). Wie aber ein System Vertrauen schenken können soll, erklärt er nicht. Ebenso wenig, was es dabei riskiert und was davon für es ggf. abhängt. (Können Systeme enttäuscht werden oder gar sich verraten fühlen? Ist es Systemen nicht vollkommen gleichgültig, ob und wie sie bestehen bleiben? Wird die Indifferenz ihrer autopoietischen Selbsterhaltung nicht allein durch Menschen durchbrochen, denen nicht gleichgültig ist, ob und unter welchen Bedingungen soziale Systeme weiter bestehen?) Viel spricht dafür, dass die Rede von »vertrauenden Systemen« 823 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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(V, S. 94) eine Art abkürzende Formulierung für hochkomplexe Sachverhalte ist, in denen es darum geht, dass man sich in anonymen gesellschaftlichen Kontexten generalisiert darauf verlässt, dass Unbekannte die an soziale Systeme gerichteten Erwartungen mit großer Wahrscheinlichkeit erfüllen werden und dass man ihnen insoweit auch vertrauen kann. So gesehen kann auch eine ungestörte Normalität der Bestätigung solcher Erwartungen, die kaum je nach diesen Unbekannten zu fragen veranlasst, nicht darüber hinwegtäuschen, dass es letztlich allemal Andere sind, die soziales Vertrauen rechtfertigen. Natürlichen Abläufen vertrauen wir so wenig wie systemischen Verkettungen irgendwelcher Funktionen; wir verlassen uns nur auf sie (wie auf die regelmäßigen Bahnen von Sonne und Mond, auf den Rhythmus der Jahreszeiten etc.). Dagegen ruht die Verlässlichkeit sozialer Systeme mit ihrem mehr oder weniger eingespielten Funktionieren letztlich nur auf Anderen, deren – fragliche – Vertrauenswürdigkeit stets mit im Spiel ist (auch wenn man vielfach nicht weiß, was man über sie sagen soll 44). Luhmann hat zweifellos Recht, wenn er auf dem großen Vorteil insistiert, von jener ›Vertrauensfrage‹ und zugleich von deren Moralisierung weitgehend entlastet zu sein. Seine funktionale Analyse des Vertrauens führt aber in die Irre, insoweit sie dahin tendiert, die Differenz zwischen Vertrauen in Andere und einem Rechnen mit sozialfunktionaler Verlässlichkeit zu nivellieren, und zudem nahelegt, ein abstraktes Systemvertrauen könne das in Andere zu setzende Vertrauen weitgehend »erübrigen«, statt es nur vorübergehend zu suspendieren. Tatsächlich lehnt sich die theoretische Rede von Systemen, die angeblich Vertrauen schenken, an eine Praxis des Stiftens von Vertrauen an, wie wir sie in elementaren Formen des Gebens beobachten können. Indem sie das gleiche Wort, Vertrauen, aber von persönlichen Beziehungen auf anonyme soziale Verhältnisse überträgt, die Vertrauen nur im Sinne berechenbarer Zuverlässigkeit ermöglichen, bringt sie zugleich zum Verschwinden, was im originären Stiften von Vertrauen auf dem Spiel steht, nämlich die Instituierung Anderer als vertrauenswürdig; und zwar mittels der Verletzbarkeit (d. h. hier: der moralischen Enttäuschbarkeit) derer, die Anderen VerGenau das geht auch aus dem Begriff der Zivilität hervor, der gerade nicht voraussetzt, man könnte je wissen, ob man Anderen generalisiert vertrauen darf bzw. worauf ihr äußerlich normales, umgängliches Verhalten eigentlich beruht. Vgl. Grant, Hypocrisy and Integrity, S. 31.

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trauen schenken, ohne beweisen zu können, dass und wie sie dies tun. Streng genommen gibt es keinen Vertrauensbeweis. Wer ihn verlangt, verkehrt das ihm zugemutete Vertrauen bereits in Misstrauen. Auch die ›Annahme‹ des geschenkten (bzw. zugemuteten) Vertrauens beweist freilich nichts. Indem sie zunächst lediglich auf jegliche Infragestellung des Vertrauens verzichtet, eröffnet sie aber einen Zeitspielraum, in dem sich erst klären kann, ob, inwieweit, bedingt oder unbedingt und unbefristet Vertrauen wirklich ›besteht‹, das niemals substanziellen Bestand hat. Es zeigt sich nur indirekt im Modus eines Lebens mit Anderen, das sich in hohem Maße der Verletzbarkeit durch Missbrauch und Enttäuschung des Vertrauens ausliefert und dem dennoch diese Erfahrungen weitgehend erspart bleiben; und zwar nicht zufälligerweise, sondern gerade deshalb, weil Andere das ihnen zugemutete Vertrauen nicht enttäuschen. Insofern ist es keineswegs nur engeren, persönlichen Beziehungen vorbehalten, sondern schon dann im Spiel, wenn man die eigene Wohnung nicht etwa deshalb unbewaffnet verlässt, weil man nicht mit Gewalt glaubt rechnen zu müssen, sondern weil man selbst unbekannten Anderen, Mitbürgern und Zeitgenossen in der Tat mindestens im Geist gegenseitigen Gewaltverzichts vertraut. Nur unter dieser Voraussetzung kann sich schließlich jeder öffentlich frei bewegen. Wie jeder weiß, ist diese Möglichkeit nicht nur in sog. no-goareas und nicht nur für Kinder, Farbige oder Frauen in heruntergekommenen und vernachlässigten, ›zwielichtigen‹ und dunklen Zonen unserer Städte erheblich eingeschränkt, so dass sich in soziologischer Perspektive die Frage stellt, unter welchen Bedingungen ein solches minimales Vertrauen Anderen nicht oder nur höchst eingeschränkt entgegengebracht werden kann. So gesehen wird Vertrauen zur Frage von bewussten, kontextsensiblen Optionen angemessenen Verhaltens, die im Extremfall auch dahin führen können, sich überhaupt keiner – sei es bloß physischen, sei es darüber hinausgehenden persönlichen – Begegnung mit Anderen mehr aussetzen zu wollen. Abgesehen davon, ob die Möglichkeit eines nicht nur temporären und lokalen, sondern radikalen Rückzugs aus sozialem Leben tatsächlich besteht, zeigt die Anthropologie der Gabe jedoch, inwiefern sich das Vertrauen niemals auf eine Verhaltensoption unter anderen reduzieren lässt, wie es die Rede von ›geschenktem‹ oder ›gewährtem‹ Vertrauen suggeriert, das man scheinbar jederzeit auch wieder entziehen kann. In dem Moment nämlich, wo auch nur die Chance einer zufäl825 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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ligen Begegnung mit Anderen besteht, ist die Zumutung der Vertrauensfrage immer schon im Spiel, bevor man sich entscheiden kann, sich so oder so zu ihr zu verhalten. Niemand kann einem Anderen auch nur einmal (oder gar wiederholt) unter die Augen treten, den Blick auf ihn richten oder das Wort an ihn richten, ohne sich so oder so zu dieser Frage verhalten zu müssen, die allerdings niemand ausdrücklich stellt. Originär entsteht sie zwischen uns und lässt nur die Wahl, sich nachträglich und zunächst einseitig zu ihr zu verhalten. Indem ich mich vertrauensvoll an Andere wende, schenke ich ihnen kein Vertrauen, das ich zuvor ›hatte‹, sondern liefere mich ihnen aus und mache mich zusätzlich verletzbar durch eine unter Umständen nachfolgende Enttäuschung. Ein solcher Akt ist aber bereits eine Stellungnahme zur vorgängigen Vertrauensfrage, die niemand explizit aufwerfen muss, damit sie sich von Anfang an stellt. Mit einem solchen Akt wird sie überdies nicht schon eindeutig beantwortet; vielmehr lädt er nur zu Erwiderungen ein, die ihrerseits durch fortgesetzte Nichtenttäuschung überhaupt erst zeigen können, wer wem wie und inwieweit vertraut – womöglich bis hin zum vollen und blinden Vertrauen, das durch nichts mehr enttäuschbar zu sein und jeglichen Verrat auszuschließen scheint, so dass man die Vertrauensfrage schließlich vollkommen vergessen kann. Hier haben wir es weniger mit der moralischen Frage, ob man vertrauen muss oder sollte (V, S. 95), sondern vielmehr mit der Herausforderung zu tun, ob man sich überhaupt auf jene originäre Vertrauensfrage einlässt, die mit jeder (Wieder-)Begegnung mit Anderen einhergeht. Sich ihr zu verschließen in »rechtmäßiger Melancholie« angesichts eines Übermaßes an Verrat, ist grundsätzlich jederzeit möglich und galt selbst Kant nicht als verwerflich, der kategorisch verlangte, in jedem Anderen die Menschheit dadurch zu achten, dass man ihm glaubt. Wer sich der Vertrauensfrage aber verschließt, gibt soziales Leben überhaupt preis, das sich ohne ein nur zwischen uns originär zu stiftendes Vertrauen überhaupt nicht entfalten kann 45 und das offenbar durch gewisse funktionale Äquivalente (wie ein nur dem Namen nach verwandtes Systemvertrauen) in dieser Bedeutung nicht zu ersetzen ist. 46

Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von schöpferischem Vertrauen. Vgl. V, S. 97, wo Luhmann ausdrücklich »funktionale Äquivalente« vom »Vertrauen im eigentlichen Sinne« abhebt.

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Erneut sich aussetzendes Vertrauen

Aber soll es solches Leben geben – oder muss man sich an ihm beteiligen? Luhmann macht wiederum mit Recht darauf aufmerksam, dass wir es hier nicht mit einer Moral des Vertrauens, sondern mit der Frage nach Bedingungen zu tun haben, unter denen das Vertrauen überhaupt erst moralisiert werden kann. Erst dann, wenn man sich in der Begegnung mit Anderen auf jene originäre Vertrauensfrage und damit auf diese Bedingungen eingelassen hat, kann wie auch immer prekäres, bedingtes, befristetes Vertrauen einer moralischen Kritik unterzogen werden – bis hin zur Klage über Verrat. Sowohl der Vertrauensbruch selbst als auch (ironischerweise) die dramatische Moralisierung gebrochenen Vertrauens als Verrat ist dazu geeignet, die originäre Herausforderung zum Vertrauen, die in jeder neuen Begegnung liegt, ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen und auf diese Weise im Sozialen aus ihm auszubrechen. Der Vertrauensbruch und seine Einstufung als Verrat können als Erfahrungen absoluter moralischer Enttäuschung jeglichem Vertrauen zuwiderlaufen, das nur als geschenktes, als Antwort auf diese Herausforderung, erneut wirklich zu werden vermag. Diese Herausforderung selbst steht uns freilich nicht zur Disposition – es sei denn, wir weichen jeglicher Begegnungsmöglichkeit mit Anderen aus. Wo sie aber nicht zu vermeiden ist, stellt sich jedes Mal von neuem die Frage, ob man schon im Sicheinlassen auf sie Vertrauen schenkt bzw. stiftet oder nicht. Diese Frage ist offenbar nicht moralisierbar, denn erst die auf sie gegebenen Antworten zeitigen ein Vertrauen, auf das man sich verlassen und gegebenenfalls berufen könnte. In der Begegnung mit Anderen hat das Vertrauen als ›Zumutung‹ zunächst nur etwas Unausweichliches. Wenn es sich aber als Glauben an jemanden manifestiert hat, zieht es in der Tat diesen durch die Enttäuschbarkeit des Anderen in dessen Bann.

5.

Erneut sich aussetzendes Vertrauen

Tangieren nun aber die vorangegangenen, scheinbar auf das sog. zwischenmenschliche Vertrauen beschränkten Überlegungen überhaupt die eingangs aufgeworfenen Probleme der radikalen Fragwürdigkeit des Vertrauens in geschichtlicher Perspektive? Reflexionen der geschichtlichen Dimensionen des Vertrauens zeigen, wie es nicht nur durch Vorbehalte, sondern auch durch die Erinnerung an zerstörtes Vertrauen selbst eingeschränkt wird oder geradezu unmöglich zu 827 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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werden droht, so dass es aussichtslos zu werden scheint, neues Vertrauen zu stiften. Eben das aber geschieht, aller geschichtlichen Erfahrung zum Trotz, durch geschenktes Vertrauen, in dem man sich erneut radikaler Enttäuschung und schlimmstem Verrat aussetzt, um, wie Arendt sagt, einen neuen Anfang zu machen. So werden wir auf ein sonderbares, nicht-ökonomisches ›Kapital‹ aufmerksam, das niemand je sich selbst verschaffen kann: nur dank des Anderen, der uns vertraut und der sich dabei in seiner Verletzbarkeit exponiert, können wir uns selbst als vertrauenswürdig erweisen. Den entsprechenden Anschein mag man noch so sehr selbst erwecken wollen; was am Vertrauen ursprünglich nicht bloß Schein ist, haben wir doch niemals uns selbst zu verdanken. Zugleich beruht gerade darauf eine trotz all jener Dinge, die niemals hätten geschehen dürfen, wieder zu eröffnende Zukunft, die eventuell nicht enttäuscht. An dieser Stelle setzt die Systemtheorie mit ihren Warnungen vor Moralisierungen ein, indem sie zu bedenken gibt, ob bereits enttäuschtes Vertrauen als Verrat (und sogar künftiges Vertrauen als virtuell bereits verratenes) zu werten gesellschaftlich zuträglich oder adäquat sei. Auf diese Weise suggeriert sie, der Begriff des gesellschaftlichen Systems (gleich welcher Art) definiere das Maß der fraglichen Angemessenheit. Indem sie diesen Begriff so fasst, dass sich keine funktional differenzierte Gesellschaft moralisch integrieren lässt, legt sie zugleich nahe, auf keine Gesellschaft lasse sich im Ganzen die Erfahrung enttäuschten Vertrauens und des Verrats projizieren. Sie steht damit aber nicht über jeglichem gesellschaftlichen Leben, sondern bezieht in der Weise der Theoretisierung ihrerseits eine Stellung, die im gesellschaftlichen Leben selber angefochten werden kann. Wie der Begriff des Bürgerverrats 47 ohne weiteres zeigt, sind ganze Gesellschaften (wie die des NS-Systems) in historischer Perspektive nicht ohne Grund der Zerstörung eines Vertrauens bezichtigt worden, das man speziell auf eine bürgerliche Lebensform glaubte setzen zu dürfen. 48 Dieser Vorwurf zielte nicht auf die systemische Unzuverlässigkeit irgendwelcher funktionaler Abläufe, sondern besonders auf eine prekäre Zivilität des Schutzes vor Rücksichtslosigkeit und willkürlicher Gewalt, für den nicht bloß gewisse Staatsorgane, sondern gerade auch anonyme Mitbürger – ggf. persönlich – 47 48

E.-W. Böckenförde, Staat, Nation, Europa, Frankfurt/M. 1999, S. 99, 276 ff. Vgl. S. Márai, Land, Land. Erinnerungen, München 2001, S. 7, 196–205.

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Erneut sich aussetzendes Vertrauen

einzustehen hätten. 49 (Dem wird die schematische Gegenüberstellung von personalem und Systemvertrauen nicht wirklich gerecht.) Diese Zivilität lebt nur in dem Maße, wie sie selbstverständlich scheint und von jedem erwartet werden kann. Darin liegt, was bürgerliche Lebensformen vor allem und mindestens versprechen müssen. Dass sie angesichts dieses Anspruchs seinerzeit eklatant versagt haben, hat zu einer Moralisierung des Begriffs geführt, den wir uns von gesellschaftlichem Leben machen, das im Geringsten Vertrauen verdient. Eine Systemtheorie, die dem Begriff des Vertrauens dennoch in merkwürdig ahistorischer Art und Weise zu Leibe rückt, um in Frage zu stellen, ob und wofür es ›gut‹ sei, gesellschaftliche Verhältnisse zu moralisieren, muss sich ihrerseits die Frage gefallen lassen, ob und wofür es ›gut‹ sein soll, sie nicht zu moralisieren. Wenn sich beide Fragen gleichgewichtig stellen, steht auch der Begriff einer zum System stilisierten Gesellschaft auf dem Spiel. Während er in Systemtheorien gelegentlich wie das Maß aller Dinge auftritt, das es nahelegt, Gesellschaften insgesamt für schlechterdings nicht moralisierbar zu halten, artikuliert sich in Begriffen gebrochenen Vertrauens umgekehrt ein moralischer Standpunkt, der darauf hinausläuft, keine wie auch immer komplexe Gesellschaft aus der Verpflichtung zu entlassen, Vertrauen in die Gewährleistung von Ansprüchen zu rechtfertigen, die nicht (und um keinen Preis) verraten werden dürfen. Wenn die Autopoiesis einer erklärtermaßen in a-moralischen Begriffen rekonstruierten Gesellschaft systemtheoretisch das Maß aller Dinge wäre, dürfte man auch gegen organisierten Verrat nichts einzuwenden haben. Wenn dagegen eine unbedingte moralische Kritik an ihm triumphierte, spräche am Ende nichts dagegen, nach als ›absolut‹ eingestuften Enttäuschungen, wie sie uns die Geschichte reichlich vor Augen führt, jegliches gesellschaftliche Leben – und zwar auch im Vorhinein – rigoros zu verwerfen, das nicht vor ihnen geschützt wäre. 50 (Welches Leben könnte je glaubwürdig versprechen, vor derartigen Enttäuschungen absolut verlässlich zu schützen?) Vgl. Vf., »›Menschliche‹ Lebensformen (heute). Umrisse einer bedenkenswerten intertextuellen Ironie«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 61, Heft 4 (2008), S. 393–410. 50 Vgl. in diesem Sinne die Ausführungen Jean Amérys zum sog. Weltvertrauen, das sich auf die Erwartung sollte gründen können, »verschont« zu werden, in Jenseits von Schuld und Sühne, München 1988, S. 44. So wie es hier beschrieben wird, impliziert es als zerstörtes bereits die Erwartung, auch künftig nicht verschont zu werden, wenn es darauf ankommt, und widersetzt sich so gesehen jedem Versuch, in der Welt wieder 49

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XXII · Ausgesetztes und sich aussetzendes Vertrauen

So drängt sich am Schluss dieser Skizze ›ausgesetzten‹ Vertrauens die Frage auf, ob dieser Widerstreit theoretisch fruchtbar zu machen ist – wenn wir uns weder Systemen gesellschaftlichen Lebens widerstandslos einfügen können, die sich auch durch institutionalisierten Verrat ausgezeichnet selbst erhalten könnten, noch einem Moralismus ausliefern wollen, der sie samt und sonders verächtlich zu verwerfen neigt, wenn sie gegen den Bruch des Vertrauens in das, was nicht verraten werden darf, keine Garantie aufzubieten haben. Dass wir auf eine solche Garantie niemals mehr setzen können, zeigen die eingangs skizzierten Überlegungen zum Verrat in historischer Perspektive. Fraglich aber ist, ob diese, historisch begründete Erfahrung in eine irreversible Herrschaft des Misstrauens münden muss, die es im Vorhinein auch über die Zukunft triumphieren lassen würde. Dagegen spricht freilich kein Beweis, nur ein als Gabe zu begreifendes, ›umsonst‹ geschenktes, erneut bis auf weiteres sich aussetzendes Vertrauen – nicht trotz, sondern gerade angesichts eines Horizonts historischer Erfahrung, der es als ganz vergeblich erscheinen lässt. In dieser Perspektive bleibt auch ein abstraktes Systemvertrauen, wie es Luhmann und andere beschrieben haben, auf Dauer fundiert in einem Vertrauen, welches unumgänglich in Andere angesichts ihrer unverfügbaren Alterität gesetzt werden muss. Andererseits kann dieses Vertrauen sich nur im weiteren politischen Horizont eines Vertrauens bewähren, das sich auf erkennbare Art und Weise rechtfertigen lassen muss. Das jedenfalls besagen Forderungen nach ›Transparenz‹, die suggerieren, was politisches Vertrauen rechtfertigt, könne öffentlich sichtbar gemacht werden. Hier knüpft das folgende Kapitel an.

heimisch zu werden. – Hart an der Grenze zur Verwerfung jeglichen (gesellschaftlichen) Vertrauens bewegt sich George Orwells einschlägiger Roman, der Vertrauen schließlich nur noch zwischen zweien, »vollkommen machtlosen«, kennt; G. Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig, Stuttgart 121963, S. 151 f., wo es heißt, es komme »doch einzig und allein darauf an, daß wir einander nicht verraten«.

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Kapitel XXIII Transparenz und/oder Vertrauen Ideen öffentlicher Sichtbarkeit in Zeiten gesellschaftlichen Unfriedens The modernist faith that visuality and rationality can be reconciled was decisively rejected. […] but the power of visuality has certainly survived the attack. Martin Jay 1 Das Licht gibt dem Denken die reine Sichtbarkeit zum Maßstab. Maurice Blanchot 2 Unauflösliche Verbindung zwischen dieser Sichtbarkeit, dieser Transparenz, und dem Urteil der Bürger. Marcel Hénaff 3

Unfrieden ist zweifellos ein weiter Begriff, unter den vieles fällt, allzu vieles. Doch drängt gerade dieser Begriff sich auf, wo weder offener Krieg noch auch wirklicher Friede herrscht. Von letzterem haben wir heute kaum mehr eine Vorstellung, die sich mit der politischen Wirklichkeit verknüpfen ließe. Kann und wird überhaupt je Friede ›herrschen‹ ? Oder bleibt der uns erreichbare Frieden allemal eine höchst prekäre zwischenmenschliche, politisch-institutionell nur indirekt zu stabilisierende Angelegenheit? Und beginnt er nicht schon in dem Moment zu verfallen, wo man glaubt, er ›herrsche‹ tatsächlich, so dass man sich nicht mehr um ihn sorgen müsste? Wenn ein echter, das konnte für Rousseau und Kant nur heißen: ein ewiger Friede nicht in Reichweite ist, auf den man wirklich vertrauen könnte, bleiben wir dann nicht einem Naturzustand auf Dauer verhaftet, der

M. Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley, Los Angeles, London 1994, S. 585, 594 (= DE). 2 M. Blanchot, »Nietzsche und die fragmentarische Schrift«, in: W. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Wien 2003, S. 71–98, hier: S. 83. 3 M. Hénaff, »Globale Urbanität. Die Stadt als Monument, Maschine, Netzwerk und öffentlicher Raum«, in: Lettre International 95 (2011), S. 98–111, hier: S. 106. 1

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XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

zwar nicht in einen ›klassischen‹ und ohne weiteres erkennbaren Krieg münden muss, aber ständig mehr oder weniger den bedrohlichen offenen Ausbruch von Feindseligkeiten befürchten lässt, die sich heute weniger denn je an eine konventionelle Form halten? So gesehen muss tatsächlich der Unfrieden unsere Hauptsorge sein, so wie er nach Kriegen gleich welcher Art oder vor neuen Gewaltausbrüchen herrscht, sei es in Gestalt andauernder Feindseligkeiten, in denen man die kommende Gewalt buchstäblich herbeiredet, sei es in fortgesetzter Polemik, die das politische Klima vergiftet, durch ständige Diskriminierung von Minderheiten oder auch in nur mit Mühe unterdrückten Ressentiments, die das soziale Leben nach und nach zerrütten. Wo das schließlich der Fall war und ganze Staaten wie auf dem Balkan zerfallen sind, herrscht vielfach bis auf weiteres ein amorpher Residualzustand zwischen Krieg und Frieden, in dem man nicht mehr weiß, worauf überhaupt noch Verlass ist, zumal die Bevölkerung in gescheiterten oder mutwillig zerstörten Staaten schlimmste Gewalt in Erinnerung hat, deren sogenannte Aufarbeitung eine schier unlösbare Aufgabe darzustellen scheint, von einer wirklichen Versöhnung ganz abgesehen, von der man kaum zu sprechen wagt. 4 In einer solchen Lage, wo der gesellschaftliche Unfrieden schier ausweglos herrscht und nicht zuletzt durch die Erinnerung der Einen und durch das brutale Vergessen der Anderen immer wieder angefacht wird, sollen sich nun aber zwei Phänomene bewähren, von denen man zwar noch keine effektive Befriedung, wohl aber die Eröffnung eines politischen Weges dorthin erwartet: Transparenz und Vertrauen. Im Folgenden gehe ich dem inneren, in den eingangs angegebenen Zitaten bereits anklingenden Zusammenhang von Transparenz und Vertrauen nach und werfe in einer sozialphilosophischen Untersuchung die Frage auf, was man sich von diesen Begriffen erwartet bzw. erwarten kann und was nicht. Dabei kann ich im verfügbaren Rahmen auf politische und sozialwissenschaftliche Beschreibungen konkreten, in jedem Fall anders ausgeprägten gesellschaftlichen Unfriedens nur en passant Bezug nehmen, habe sie aber immer wieder mit im Blick.

Vgl. Verfolgung und Vertreibung. Zum Streit um Perspektiven der Versöhnung; epd Dokumentation 31/32 (2011).

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Öffentliche Sichtbarkeit als Politikum

1.

Öffentliche Sichtbarkeit als Politikum

Einen unüberbietbaren Anspruch entfaltete Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes, wo er zeigte, wie die beharrliche »Arbeit des Negativen« nach und nach ein Wissen hervorzubringen vermag, das endlich reflexiv, sich selbst wissend und restlos durchsichtig werden muss, wie er meinte. Was auch immer als intransparent begegnen mag, bis das Telos eines absoluten Geistes verwirklicht ist, wurde so zum bloß Vorläufigen herabgestuft oder aber wie das radikal Fremde gänzlich ausgeschieden aus dieser Theorie der Vernunft, die vor der Exteriorität des Anderen als einer »Nacht der Welt« zurückschreckte, ohne jemals wieder bei einem »ruhigen unmittelbare[n] Vertrauen« Zuflucht suchen zu dürfen. 5 Inzwischen hat man diese Philosophie der Transparenz zwar vielfach revidiert und ihr eine ihr selbst innewohnende, untilgbare Intransparenz nachgewiesen. 6 Aber es grassieren ungeachtet dessen Phantasmen einer ›restlosen‹ Durchsichtigkeit für Andere, die mit dem Ungeist einer technischen, auf einseitige Kontrolle, instrumentelle Manipulation und ökonomische Verwertung aller möglichen Informationen abzielenden Vernunft in Verbindung gebracht werden, die keinerlei Vertrauen erweckt. So wird Intransparenz womöglich zur Zuflucht und das dem Wissen und jeglichem Zugriff Entzogene zur letzten Hoffnung derer, die glauben, niemand könne oder dürfe in Wahrheit restloser Sichtbarkeit ausgeliefert werden. Auf diesem Wege macht eine Apologie der Unsichtbarkeit rhetorisch Karriere, die nicht müde wird, eine weder dem sinnlichen Sehen noch auch der Gnosis begrifflicher Einsicht zugängliche Alterität zu beschwören, die nicht als absolut befremdliche Nacht des Verstehens und des Begreifens gewissermaßen vergessen oder verdrängt, sondern als Herausforderung der Achtung jedes anderen als eines Anderen zur Geltung gebracht werden soll. Das geschieht allerdings in einer Zeit, in der sich (inzwischen Milliarden) Menschen in der Nutzung virtueller Medien in gänzlich unerwarteter Manier selbst der ›Sichtbarkeit‹ durch anonyme Andere 5 G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, Hamburg 1987, S. 172; ders., Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 41980, S. 513; vgl. Vf., »Fluchtlinien einer sensibilisierten Vernunft«, in: B. Keintzel, B. Liebsch (Hg.), Hegel und Levinas. Kreuzungen – Brüche – Überschreitungen, Freiburg i. Br., München 2010, S. 352–416. 6 Vgl. G. Gamm, Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 2012, S. 116, 130 ff.

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XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

ausliefern; vielleicht deshalb, weil sie hoffen, in einer unüberschaubaren Sozialität wenigstens auf diese Weise sozial zu existieren, sei es auch um den Preis einer Alteritätsvergessenheit, die es eines Tages gestatten könnte, die Frage, was man von einem Menschen wissen kann, algorithmisch zu erledigen. 7 Idealisierungen aufgeklärter Durchsichtigkeit, der Verständlichkeit (für das »Auge des Begriffs«, wie Hegel sich ausdrückte) und einer reflexiven, vermeintlich sich selbst transparenten Vernunft sind zwar vielfach rigoroser Kritik unterzogen worden. Und diese Kritik hat vor Begriffen wie ›Einsicht‹, ›Aufklärung‹ und ›Transparenz‹ nicht haltgemacht. So lehrte Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung, wie sich ein rückhaltlos auf diese Begriffe verpflichtetes Denken gegen uns wenden kann. Dessen ungeachtet gilt Transparenz nach wie vor fast uneingeschränkt als hohes Gut, insofern sie unverzichtbare Ansprüche an die institutionelle Grundstruktur einer politischen Lebensform betrifft. 8 Man sagt, sie sei in liberalen und demokratischen Gemeinwesen und im Fall ihrer erforderlichen Wiederherstellung schlechterdings grundlegend für eine freie Willensbildung und eine fundierte Wahlentscheidung, die Einsicht in durchsichtig gemachte Angelegenheiten öffentlichen Interesses voraussetze; sie gestatte es den Bürgern, diese Angelegenheiten nicht nur wahrzunehmen, sondern sich auch darüber zu beschweren, wenn ihnen nicht angemessen Rechnung getragen wird; und sie ermögliche auf dieser Basis politische Mitwirkung, begründe (oder regeneriere) damit Loyalität und Bürgernähe einer andernfalls gefährlich vom dêmos entfremdeten Politik. Nur als so weit wie möglich transparent gemachte sei letztere schließlich auch verständlich, erfahre ihrerseits Akzeptanz und erwecke Vertrauen. Im Allgemeinen ist mit Transparenz indessen kaum mehr gemeint, als dass man politische Prozesse in Grundzügen verständlich, nachvollziehbar und einsichtig findet bzw. finden will, auch wenn man sie gegensätzlich beurteilt. Wäre Transparenz in dieser Form weitgehend gegeben, hätten wir freilich kaum Anlass, nach diesem 7 Vgl. J.-P. Sartre, Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821–1857, Bd. 1, Reinbek 1977, S. 7; S. Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017; Kap. XII, 4. 8 ›Fast‹ muss man sagen, denn es kann nicht verschwiegen werden, dass sie in den Verdacht eines euphemistischen Missbrauchs geraten ist, wie man ihn in einem neoliberalen Fahrwasser häufig feststellt; vgl. A. Ehrenberg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2012, S. 472 f.

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Öffentliche Sichtbarkeit als Politikum

Begriff zu fragen. Das tun wir aber, wenn wir die Erfahrung der Intransparenz machen; und zwar einer Intransparenz, die sich nicht nur zufällig dann und wann bemerkbar macht, sondern im Verdacht steht, systematisch politische Grundstrukturen und das Zustandekommen der wichtigsten Entscheidungen zu betreffen, die in einem Gemeinwesen zur Diskussion stehen. Unter der Voraussetzung systematischer Unverständlichkeit, Nichtnachvollziehbarkeit und Uneinsichtigkeit wird die Forderung nach Transparenz laut und nimmt in dem Maße einen verschärften Ton an, wie Grund zu der Annahme besteht, an der beklagten Intransparenz hätten Andere ein Interesse und sie werde womöglich absichtlich herbeigeführt oder aufrechterhalten. Dieser Verdacht kann von der Anderen zugeschriebenen Taktik der Verschleierung in normaler Lobbyarbeit, die die Organe des Staates infiltriert, über fragwürdige, mit versteckten Nebeneinkünften verknüpfte Loyalitäten, die an Bestechlichkeit grenzen, bis hin zu handfesten Intrigen gewisser Seilschaften, die den Zusammenbruch eines alten Regimes überdauert haben, und zum Hochverrat reichen. Breitet dieser Verdacht sich aus, vergiftet er das politische Klima am Ende genauso wie all das, wogegen er sich zunächst richtet. So liegt nicht nur in systematischer Intransparenz, sondern auch in dem Misstrauen, das sie hervorruft, eine eminente Herausforderung für jedes politische Gemeinwesen, das darauf angewiesen ist, sich auf der Basis seiner allgemeinen Verständlichkeit auch als seinen Mitgliedern gegenüber legitim zu erweisen und in beiden Hinsichten Vertrauen zu verdienen. Eine mehr oder weniger tief greifende Krise, in der das nicht mehr der Fall ist, stellt sich nun aber keineswegs von sich aus ohne weiteres als eine Krise der Transparenz dar. 9 Mit diesem Wort wird vielmehr in spezifischer, historisch voraussetzungsreicher Art und Weise eine Vertrauenskrise mit einer normativen Implikation auf den Begriff gebracht, die suggeriert, wie diese Krise zu beheben wäre: durch eine Aufklärung nämlich, die ›durchsichtig‹ zu machen hätte, was sich zunächst als ›undurchsichtig‹ darstellt und somit dem rationalen Verstehen, Begreifen und Urteilen entzieht. So steht am Anfang der Forderung nach Transparenz das mangelnde Vertrauen. Auf die Herausforderung des Misstrauens wird dann aber nicht mit dem Oft ist dagegen eine solche Krise als eine Art Treuebruch beschrieben worden, in dem es sich um einen Bürgerverrat (siehe oben, Kap. XXII, 5) oder um einen Staatsverrat an den Bürgern handelt. Darauf wird in Kap. XXIV, 1 zurückzukommen sein.

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XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

Versuch geantwortet, Vertrauen unmittelbar ›wiederherzustellen‹, wie eine gängige Redeweise lautet. Vielmehr soll das Vertrauen durch Transparenz, d. h. durch eine spezielle, politisch gedeutete Art der ›Sichtbarkeit‹ wiedergewonnen werden. Diese vor allem auf allgemein zugängliches Wissen gestützte politische Sichtbarkeit soll erneuertes Vertrauen ermöglichen. Den Weg aus der Krise soll trotz mangelnden Vertrauens eine Transparenz weisen können, der man zutraut, Vertrauen ›wiederherzustellen‹, ohne selbst auf Vertrauen angewiesen zu sein. Verspricht aber Transparenz von sich aus Vertrauen in das Gemeinwesen – bzw. in Andere, die verantwortliche Positionen in ihm einnehmen – wiederherzustellen? Ist Transparenz nicht ihrerseits auf Vertrauen angewiesen? Setzt sie also in einer Krise des Misstrauens selbst ein Vertrauen voraus, das in ihr gerade nicht gegeben zu sein scheint? Richtet sich das Misstrauen auf Andere, in die wir buchstäblich nicht hineinsehen können, kann ihm dann eine Transparenz entgegenwirken, die gerade die politische Sichtbarkeit dessen verbürgen soll, was Andere uns auf illegale oder illegitime Art und Weise vorenthalten haben? 10 Liegt hier nicht ein kaum zu überbrückendes Missverhältnis zwischen Vertrauen und Misstrauen einerseits, Transparenz und Intransparenz andererseits vor? Dürfen wir wirklich erwarten, als politische Sichtbarkeit könne Transparenz wie eine Art Ersatz für Vertrauen fungieren, ohne ihrerseits Vertrauen vorauszusetzen? Erfordert sie nicht wenigstens Vertrauen in diese Sichtbarkeit? Um was für eine Sichtbarkeit kann es sich speziell in politischer Hinsicht überhaupt handeln? In ideengeschichtlicher Perspektive liegt zweifellos die Antwort nahe, dass es um eine Sichtbarkeit für den Bürger (civis) geht, der einer Bürgerschaft (civitas) bzw. einer politischen Lebensform (bíos) angehört. Im Rahmen einer solchen Lebensform, so lehrt es die Politische Philosophie der Antike, bedeutet politische Sichtbarkeit Öffentlichkeit in dem Sinne, dass alles Öffentliche dem Blick und der kritischen Beurteilung derjenigen ausgesetzt ist, die ihr zugehören. 11 Das Konzept der Öffentlichkeit verstehen wir ungeachtet aller einschneidenden virtuellen Transformationen, die sie inzwischen durchgemacht hat, nach der festen Überzeugung von Marcel Hénaff nach wie vor so, dass es eine nicht aufVgl. Vf., »Andere – jenseits des Wissens. Nicht-Wissen in generativer Hinsicht«, in: In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität, Zug 2016, Kap. IV. 11 Vgl. R. Geuss, Privatheit. Eine Genealogie, Frankfurt/M. 2002, S. 58 f., 76. 10

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Öffentliche Sichtbarkeit als Politikum

zulösende innere Verbindung zwischen transparenter politischer Sichtbarkeit einerseits und dem Urteil der Bürger andererseits impliziert. 12 Dieses Verständnis politischer Sichtbarkeit wirft allerdings viele ungelöste Fragen auf. So ist fraglich, ob es sich aufrechterhalten lässt, – auch wenn diese Sichtbarkeit kaum mehr an einem privilegierten Ort (méson; agorá) oder in einem Raum (pólis) konkret Gestalt annehmen kann; – wenn sie Fremde jenseits abgegrenzter Lebensformen einschließen soll, so dass ganz und gar fraglich wird, wie ein – in sich vielfach gespaltener – dêmos 13 zwischen Gleichen eine (Welt-) Bürgerschaft (politeía) sollte bilden können; – wenn sie unter diesen Bedingungen gleichsam neue Aggregatzustände virtueller, dezentrierter, offener, flexibler und spezifischer Vernetzungen annehmen muss; etc. Wenn darüber hinaus sogar ein »Verschwinden des öffentlichen Raumes im traditionellen Sinne« des Wortes festzustellen ist, wie Hénaff in seinen Erörterungen einer »globalen Urbanität« diagnostiziert, welche die Welt zur Stadt werden lasse 14, wie kann dann unter diesen Bedingungen noch ein »Raum des Öffentlichen« 15 Bestand haben, der allgemeine politische Sichtbarkeit für alle zu garantieren hätte, die sie angeht? Laufen die Bedingungen komplexer Vernetzungen multipler Öffentlichkeiten nicht einer allgemeinen Öffentlichkeit zuwider, die wir traditionell mit der Vorstellung eines zentralen, allen Bürgern zugänglichen Ortes politischer Sichtbarkeit verknüpfen? Gehen Öffentlichkeit und Sichtbarkeit politisch noch so ohne weiteres zusammen, wenn wir uns beide Konzepte dezentriert denken müssen? 16 Lässt sich Sichtbarkeit noch mit Transparenz geradezu gleichsetzen, wie es Hénaff an der zitierten Stelle suggeriert? Und können beide Konzepte heute – nach Jahrzehnten radikaler Kritik an der Metaphysik des Lichts, an der Modernität der an diese Metaphysik sich anlehnenden Aufklärung und nach einer rigorosen machtkritischen Befragung des Auges und des Sehens (in seinen wörtlichen Siehe oben, Anm. 3. Vgl. J. Rancière, »Politique, identification, subjectivation«, in: Au bords du politique, Paris 1998, S. 83–92, hier: S. 84; ders., Le partage du sensible, Paris 2000. 14 Nicht ohne dass die Stadt ihrerseits nunmehr aufhöre, eine Welt zu sein, wie Hénaff meint (»Globale Urbanität«, S. 98). 15 Vgl. ebd., S. 108. 16 Vgl. Geuss, Privatheit, S. 121. 12 13

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XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

und auf menschliches Wissen übertragenen Bedeutungen) als deren bevorzugten Organen und Modalitäten der Erfahrung – überhaupt noch begrifflich attraktiv erscheinen? 17 Folgen wir Martin Jay 18, der sich mit diesen Fragen in ideengeschichtlicher Perspektive ausführlich auseinandergesetzt hat, so kann die auf eine optisch-physikalische Analogie sich stützende Forderung nach Transparenz als solche nur vor dem historischen Hintergrund der Durchsetzung eines »okularen Regimes« verstanden werden, welches dem Sehen, der (perspektivischen) Durchsicht und der Souveränität eines auf luzide Visualität und Evidenz angelegten Subjekts alle Klarheit und Einsichtigkeit menschlicher Rationalität vorbehielt. Obgleich dieser ideengeschichtliche Hintergrund inzwischen verblasst ist, gilt Transparenz immer noch – wenn auch vielfach nur metaphorisch – als zentraler Anspruch einer Rationalität, die sich als eine Form des Sehens und nach dem Vorbild idealisierter Leistungen einer visuellen Perspektivität verstehen lassen sollte. 19 Jay verteidigt zwar keine Gleichsetzung von Transparenz und »perfekter Intelligibilität« (DE, S. 86); und er versucht seine Leser nicht von einer gleichsam schattenlosen, von jeglicher Opazität befreiten Rationalität zu überzeugen, die nach dem Vorbild restloser Klarheit zu denken wäre, wie man sie dem »nobelsten« aller Sinne 20, dem Sehen, aber auch dem menschlichen Erkennen vor allem seit Descartes zugeschrieben hat (DE, S. 90 f., 588). Jedoch verteidigt Jay eine ungeachtet aller Kritik am sinnlichen und theoretischen Sehen für ihn nach wie vor denkbare »Versöhnung von Sichtbarkeit und Rationalität«, auf deren Basis allein auch am »modernen Projekt der Aufklärung« festzuhalten und die moderne und postmoderne Vernunftkritik davor zu bewahren sei, in einen irrationalen Obskurantismus zurückzufallen (vgl. DE, S. 585, 588 f.). Allerdings ist fraglich, ob sich der heutige normale SprachVgl. Blanchot, »Nietzsche und die fragmentarische Schrift«, S. 83. Zur Kritik am Ansatz M. Jays vgl. die Rezension d. Vf. in: Philosophische Rundschau 42 (1995), S. 270–272. 19 Auch dort, wo schließlich eine a-perspektivische Rationalität verteidigt wird, die nicht mehr von der Endlichkeit partikularer ›Sichtweisen‹ abhängig sein sollte, wird sie meist als Transzendierung jener Perspektivität begriffen, so dass sie letztere unumgänglich voraussetzt; vgl. P. Ricœur, Die Fehlbarkeit des Menschen, Freiburg i. Br., München 21989, Zweites Kapitel. 20 Vgl. H. Jonas, »Der Adel des Sehens. Eine Untersuchung zur Phänomenologie der Sinne«, in: ders., Organismus und Freiheit, Göttingen 1973, S. 198–225. 17 18

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Zur metaphorischen Rede von Transparenz

gebrauch in der Rede von Transparenz und politische Forderungen, die sich auf diesen Begriff stützen, überhaupt mehr als nur vage und ›rhetorisch‹ an die von Jay aufgerufene Überlieferung anlehnen. Insofern kann man nicht umhin, die Frage aufzuwerfen, von welchen Ideen sich diejenigen leiten lassen, die Transparenz in einer mehr oder weniger akuten Krise des Misstrauens in ihr Gemeinwesen oder nach dessen Zusammenbruch polemisch einfordern, und worauf diese Forderung eigentlich hinaus will. An dieser Stelle ist mit einer unbedachten metaphorischen Rede von Transparenz nicht weiterzukommen. Denn prima facie ist sie tatsächlich kaum geeignet, erschüttertes Vertrauen in als intransparent erlebtes Handeln Anderer, in ihre Politik bzw. in das Politische als solches zu erneuern. Das zeigt sich in einer ersten sprachkritischen Besinnung auf die physikalisch-optische Analogie, deren man sich vielfach in einer Art und Weise bedient, die den Sinn der Forderung nach Transparenz geradezu konterkariert. 21

2.

Zur metaphorischen Rede von Transparenz

Als ›transparent‹ gilt im üblichen politischen Sprachgebrauch, woran nichts Verborgenes, insbesondere nichts Geheimes ist, das der öffentlichen Wahrnehmbarkeit, der Beurteilbarkeit und der Anfechtbarkeit durch Andere entzogen wäre, sei es unabsichtlich, sei es mit der ihrerseits öffentlich unkenntlichen Absicht der Irreführung, der Täuschung, der Geheimhaltung aus welchen konkreten Gründen auch immer. Demnach dürfte das Transparente in öffentlicher Hinsicht als vollkommen Unverborgenes gelten. Nichts wäre an ihm, was nicht ohne weiteres zumindest öffentlich sichtbar gemacht werden könnte. Von ›Sichtbarkeit‹ kann hier nur in einem elliptischen Sinne die Rede sein, denn sie impliziert komplexe Bedingungen der öffentlichen Zugänglichkeit, der Hörbarkeit, der öffentlichen Darstellbarkeit, der Lesbarkeit, Anfechtbarkeit etc. dessen, was als ganz und gar transparent gilt. Ohne spezielle Rücksicht auf diese komplexen Bedingungen suggeriert der Begriff der Transparenz zweifellos jedoch eine reichlich Im beschränkten Rahmen dieser Untersuchung konzentriere ich mich im Folgenden auf eine Erörterung dieser Forderung selbst, ohne den angedeuteten transnationalen und globalen Implikationen virtuell transformierter Öffentlichkeit(en) nachgehen zu können.

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XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

abgegriffene Metaphorik der Visualität, die kaum mehr als im Sinne Ricœurs »lebendige« 22 gelten kann, denn die zweifelhaften visuellen Implikationen, die mit der Forderung nach Transparenz einhergehen, werden kaum je eigens bedacht. Infolgedessen ist auch der Zusammenhang zwischen Transparenz (als idealiter restloser öffentlicher Sichtbarkeit) einerseits und Vertrauen andererseits, das wir in Andere setzen, obgleich all das, was man gemeinhin ihrem Inneren zuschreibt, keinerlei direkten ›Einblick‹ erlaubt, weithin unaufgeklärt. 23 Kant legte einen solchen Zusammenhang in seinem Entwurf Zum Ewigen Frieden nahe, wo er behauptete, Recht und Politik könnten ihren Zweck (die Glückseligkeit des Volkes zu gewährleisten) nur erfüllen »durch die Publizität, d. i. durch die Entfernung alles Misstrauens gegen die Maximen derselben« 24 – vor allem insoweit sie auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen betreffen. 25 Wenn wir die Publizität wie angedeutet reinterpretieren, wird so ein indirekter Zusammenhang von Transparenz und Vertrauen erkennbar. Publizität kann, wenn wir Kant folgen, gewissermaßen als politi-

P. Ricœur, Die lebendige Metapher, München 1986. Vgl. dazu J. Starobinskis Ausführungen zu Rousseau, die in französischer Sprache unter dem Titel La transparence et l’obstacle erschienen sind. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Autor die Rousseau’sche Not der Erfahrung, einer Welt der Intransparenz ausgeliefert zu sein, im Sinne des generalisierten Verdachts deutet, belogen und getäuscht zu werden (J. Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Frankfurt/M. 2003, S. 22–26). Dieser Erfahrung wird die Sehnsucht nach einem unmittelbaren (keiner Interpretation bedürftigen) und »absoluten Vertrauen« unter den Augen eines (bzw. einer) privilegierten Anderen entgegengesetzt (und auf diese Weise zugleich entpolitisiert); vgl. ebd., S. 129. Rousseau hielt (im Gegensatz zu Kant) tatsächlich eine politische Welt für möglich, in der niemand etwas täte, was verborgen bleiben müsste. Infolgedessen gäbe es eigentlich kein Privatleben mehr und die Gesellschaft, in der sich alle integriert fänden, käme einem Gott gleich, für den es nichts Verborgenes geben kann. Vgl. A. Hirsch, Rousseaus Traum vom ewigen Frieden, München 2012, S. 119, 128. In die gleiche Richtung zielt m. E. Blanchots Beschreibung eines Staates, in dem es überhaupt »keine rätselhaften Vorkommnisse« mehr geben würde, allerdings um den Preis, dass der Staat schließlich »überall« wäre und eine »unerforschliche« Klarheit herrschen würde, zu der niemand mehr Distanz hätte (M. Blanchot, Der Allerhöchste [Le Très-Haut], Berlin 2011, S. 262 ff.). Ein »grenzenloses Vertrauen« würde demnach den Staat und die Bürger versöhnen, mit der Folge aber, dass jegliches Misstrauen liquidiert wäre (ebd., S. 293 f., 298) und die Bürger nur umso rückhaltloser dem Staat ausgeliefert sein müssten (ebd., S. 300, 333). 24 I. Kant, »Zum ewigen Frieden«, in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 191–251, hier: S. 250. 25 Ebd., S. 245. 22 23

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Zur metaphorischen Rede von Transparenz

sche Operationalisierung von Transparenz gelten, insofern von ihr zu erwarten ist, dass sie dem Misstrauen in die Beweggründe des Handelns Anderer entgegenwirkt (oder es sogar »entfernt«, wie es an der zitierten Stelle heißt). Indessen spricht Kant selbst nicht von Transparenz. Und er argumentiert primär nicht in den Registern des Sehens und der Sichtbarkeit, sondern in den Registern der Rede, der Sagbarkeit, der Hörbarkeit und der Beurteilbarkeit. D. h., es geht ihm um einen »praktischen Gebrauch der Vernunft« von »Weltbürgern«, die (1) selbst denken, die (2) »sich (in der Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes anderen denken« und (3) »jederzeit mit sich selbst einstimmig« denken sollten. Neben den Prinzipien der Zwangsfreiheit (1) und der Konsequenz (3) beinhaltet der zweite Punkt den Pluralismus einer »liberalen, sich den Begriffen anderer bequemenden« Denkungsart. 26 Diese setzt in der Öffentlichkeit voraus, dass man seine Stimme erheben kann und tatsächlich erhebt, um das eigene Urteil »am Verstande anderer zu prüfen«, statt sich logisch, moralisch und ästhetisch selbst genügen zu wollen. Wir bedürfen selbst der auf diese Weise erfolgenden Überwindung des »Privatsinns«, weil wir nicht einmal den eigenen Sinnen ganz und gar vertrauen können 27 und weil wir uns nur in der Auseinandersetzung mit Anderen als Weltbürger verhalten können, die zu werden wir bestimmt sind, wie Kant meint. Und zwar in einem »Ganzen anderer, mit [uns] in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt)«. 28 Anteil an dieser Welt haben wir im Kantischen Verständnis als deren Bürger, die im Pluralismus ihrer »liberalen Denkungsart« jederzeit dazu bereit sein sollten, sich in die »Stelle«, in den Stand- oder Gesichtspunkt bzw. in die ›Perspektive‹ Anderer zu versetzen. Dass diese vier Begriffe bis heute vielfach promiscue verwandt werden, wie u. a. Jürgen Habermas’ Anlehnung an die von Jean Piaget ausgehenden einschlägigen Theorien sozial-kognitiver Perspektivität (bis hin zu Robert L. Selman u. a.) zeigt 29, macht darauf aufmerksam, wie eng der zumindest metaphorische Zusammenhang

I. Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Werkausgabe Bd. XII, S. 41, 511, 549. 27 Ebd., S. 409. 28 Ebd., S. 411. Siehe auch Bd. I, S. 111 und Bd. II, S. 639. 29 Vgl. J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, Kap. 4; zum ideengeschichtlichen Hintergrund K. Röttgers, »Der Standpunkt und die Gesichtspunkte«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 257–284. 26

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zwischen weltbürgerlicher Rationalität und perspektivisch gedeuteter Visualität nach wie vor ist. Habermas hat, von der metaphysischen Grundierung jenes Weltbegriffs absehend, gezeigt, wie sich im 18. Jahrhundert dort, wo vorher von der Welt oder auch von der mankind die Rede war, der Begriff des »Publikums« einbürgerte, das als öffentlich in Erscheinung tretendes und urteilendes »Publicität« gewinnt und sich mittels einer vielfältig sich ausbreitenden Medialität selbst hervorbringt, um eine dezentrierte politische Welt zu stiften. 30 Diese Welt sollte ganz und gar »im Licht der Öffentlichkeit« erkennbar werden, in dem »erst das, was ist, zur Erscheinung [kommt]« und »allen alles sichtbar [wird]«. An die »normative Kraft« dieses Modells der Öffentlichkeit hellenischer Herkunft will Habermas ausdrücklich (auch in europäischer Perspektive) anknüpfen, ungeachtet längst tief greifend veränderter gesellschaftlicher Bedingungen ihrer Formation. 31 Deutlicher als bei Kant wird hier, auf den Spuren Hannah Arendts 32, auf ein Register der Visualität – und in diesem engeren Sinne auf ein Inerscheinungtreten – Bezug genommen, das eine umfassende, restlose Sichtbarkeit all dessen suggeriert, was von öffentlichem Belang ist – wenn tatsächlich »allen alles« sichtbar werden können soll. Dann würde es in der Tat nichts Verborgenes mehr geben. Alles wäre öffentlich gleichsam ›ausstellbar‹ und niemand davon ausgenommen, sich dessen vergewissern zu können. Diesem Modell zufolge wäre von der als öffentliche Sichtbarkeit definierten Transparenz zu erwarten, dass sie allgemeines Vertrauen bewirkt bzw. alles Misstrauen »entfernen« können sollte. So würden Transparenz und J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied, Berlin 81976, S. 41. Ebd., S. 16. Vgl. G. Raulet, »Zur Kritischen Theorie Europas«, in: W. Eßbach (Hg.), Welche Modernität?, Berlin 2000, S. 49–66; J. Derrida, J. Habermas, »Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas«, in: FAZ 125 (2003), S. 33 f., zur Geburtsstunde einer demokratischen europäischen Öffentlichkeit. 32 Auch Arendt spielt auf ein Modell allseitiger Sichtbarkeit an, wo sie die Öffentlichkeit des sog. Gemeinsinns beschreibt. Allerdings hält sie die Singularität jeder »Perspektive« für unaufhebbar. Ob sie damit radikal von Habermas abweicht, der eher einem Hegel’schen Schema der Integration von Allgemeinheit und Besonderheit verpflichtet zu bleiben scheint, bleibe dahingestellt. Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, § 7; dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München, Zürich 1994, S. 298 f., 334., 343 f. Hier ist ausdrücklich von einer perspektivisch zugänglichen »Gesamtansicht« die Rede, die gewährleisten sollte, dass ein Gegenstand »von allen Seiten […] für das Verstehen transparent werde«. 30 31

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Forderungen nach Transparenz nach ruiniertem Vertrauen

Vertrauen gewissermaßen zur Deckung kommen – und wir hätten überhaupt keinen Anlass, nach dem Verhältnis beider Begriffe zu fragen. Diesen Anlass haben wir aber; und zwar aufgrund ihres vielfach weitgehenden Auseinandertretens; d. h. aufgrund der Erfahrung, dass das, was öffentlich (wie eingeschränkt auch immer) ›sichtbar‹ ist, keinerlei Vertrauen erweckt oder sogar ausdrückliches Misstrauen hervorruft. So steht die negative Erfahrung weitgehend ruinierten Vertrauens am Anfang des Verlangens nach Transparenz. 33

3.

Forderungen nach Transparenz nach ruiniertem Vertrauen

Allgemein ruiniertes Vertrauen 34 wird von einschlägig engagierten NGOs wie Transparency International (mit Filialen wie TransparIm Folgenden beschränke ich mich weitgehend auf diesen negativistischen Ausgangspunkt, also darauf, dass die Vertrauenskrise das jeweilige politische Gemeinwesen im Ganzen in Frage stellt. Zugleich sehe ich ab von differentiellen Abwägungen von Vor- und Nachteilen mehr oder weniger für Dritte transparenter politischer Prozesse. Zu den politikwissenschaftlich vielfach analysierten Nachteilen zählen die Erschwerung von Kompromissfindungen, wenn die Beteiligten jederzeit damit rechnen müssen, dass ihr Verhalten von denen kontrolliert werden kann, die sie zu vertreten haben, der sog. political correctness effect, die Behinderung eines ungezwungenen, offenen Austauschs zwischen den Beteiligten usw. Ein Zwang zur Transparenz durch Veröffentlichung kann auch Taktiken der Verschleierung in der Veröffentlichung selbst provozieren, um die fraglichen politischen Prozesse weiterhin vor übermäßiger Kontrolle durch Dritte abzuschirmen. Genau diese Strategie wird vielfach höchsten Gremien der EU zugeschrieben: nach außen eine Pseudo-Einheit vorzuspiegeln, die intern gar nicht besteht. Ob das den Vorwurf einer allgemein vorherrschenden organized hypocrisy rechtfertigt, ist allerdings fraglich. Wenn Gremien unter forciertem Öffentlichkeitsdruck dahin tendieren, ihre Beratungen gleichsam in wiederum nicht öffentlich kontrollierbare Abstimmungsprozesse auszulagern, so kann das ja auch dazu dienen, einen freien Meinungsaustausch und die Auslotung von Kompromissmöglichkeiten zu befördern. Von solchen, vielfach ins Kasuistische übergehenden Überlegungen sehe ich im Folgenden ab und beschränke mich auf das begriffliche Missverhältnis zwischen Vertrauen und Transparenz. Vgl. D. Stasavage, »Does Transparency Make a Difference?« http://as.nyu.edu/docs/IO/5395/transparency.pdf. 34 Ich übernehme solche Diagnosen nur mit Vorbehalten. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, dass bspw. zwischen ehemaligen Bürgerkriegsparteien durchaus eine ›Kultur der (In-) Transparenz‹ gepflegt wird; allerdings ganz anders, als man es sich wünschen möchte. So ›checkt‹ man Unbekannte möglichst rasch auf ihre vergangenen Verstrickungen und auf ihre ethnischen und politischen Loyalitäten hin, um abschätzen zu können, ob man auf sie zählen, ob man sie erpressen kann oder als Feinde behandeln soll. Selbst in von Bürgerkriegen fast ganz zerrütteten failed states 33

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ency Serbia 35) vor allem als Folge von Korruption beschrieben, die derart um sich greifen kann, dass die »Substanz des Staates« 36 und das »öffentliche Interesse« geradezu zerstört zu werden drohen und sich niemand mehr auf ein reguläres Funktionieren staatlicher Institutionen verlassen will. 37 Infolgedessen kann Bestechung zu einem normalen und unvermeidlichen way of life werden, der die ganze Bevölkerung demoralisiert und einen befriedeten Neuanfang nach dem Zusammenbruch des Staates unmöglich zu machen droht. Nicht einmal das Minimalziel »to restore at least a semblance of order to everyday life« 38 erscheint dann noch als erreichbar, wenn man weder durch ein »rapid clean up« das für administrative Positionen wichtigste Personal komplett austauschen noch sich darauf einlassen kann und will, »to languish in a long and messy transition« auf dem Weg zu einer politischen Ordnung, die wieder allgemeines Vertrauen verdienen würde. 39 So sieht man sich in Fällen kollabierter oder durch und durch korrupter Staaten mit einer fatalen Zirkularität konfrontiert: ohne Vertrauen ist eine solche Ordnung nicht (wieder) aufzubauen; aber angesichts der tatsächlich zerstörten oder weitgehend ruinierten politischen Ordnung fehlt gerade die Grundlage für (neues) Vertrauen, zumal man die Menschen, die sie in verschiedenen Funktionen tragen müssten, nicht zur Gänze ersetzen kann. 40 Darüber vermag nicht hinkann im Übrigen im öffentlichen Verkehr eine weitgehende Normalität herrschen, so dass man von einer unumschränkten Herrschaft des Misstrauens, wie sie im sog. Naturzustand zu erwarten wäre, weit entfernt ist. Niemand kann ja auch auf Dauer generalisiert Anderen vertrauen oder misstrauen. Auf Dauer muss sowohl das Vertrauen als auch das Misstrauen seine Fähigkeit der Diskriminierung zwischen beidem einbüßen – und damit genau das, worauf es im Vertrauen und im Misstrauen eigentlich ankommt. Beides muss schließlich in eine Normalität übergehen, die nur anlässlich von Störerfahrungen die akute Frage wieder auf den Plan ruft, ob und wem man vertraut oder misstrauen muss. 35 Auf die ich mich hier passenderweise beziehe, da die folgenden Überlegungen am Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie in Belgrad zur Diskussion gestellt worden sind. 36 Vgl. A. Fatić, A Greco Paper. Corruption and Anti-Corruption Policy in Serbia, Belgrad 2001, S. 9. 37 Vgl. N. Nemadić, Conflict of Public and Private Interest and Free Access to Information, Belgrad 2003; M. Hénaff, »Die pervertierte Gabe«, in: Lettre International 93 (2011), S. 54 ff. 38 Fatić, A Greco Paper, S. 8. 39 Ebd., S. 12. 40 Ebd., S. 13.

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Forderungen nach Transparenz nach ruiniertem Vertrauen

wegzutäuschen, dass man mit verschärfter Kontrolle etwa durch anticorruption squads gegen Infiltration neu aufzubauender staatlicher Strukturen durch alte Seilschaften und quasi-mafiöse Organisationen vorgehen will und strikte Regularien für die Vergabe öffentlicher Aufträge, gegen Geldwäsche und für die Annahme von ›Geschenken‹ vorsehen will. Die Vielzahl in diesem Zusammenhang vorgeschlagener Maßnahmen – von der Schaffung unabhängiger Kontrollgremien über die Offenlegung von Interessenkonflikten und ökonomischen Verflechtungen bis hin zum public blacklisting und zur Etablierung formeller Verfahren zur Aufhebung parlamentarischer Immunität – ändert nichts daran, dass es entscheidend darauf ankommt, wer in welchem Geiste die jeweiligen Funktionen in einer wiederherzustellenden Staatlichkeit ausüben wird. Kontrollgremien, die über Antikorruptionsgesetze und deren Anwendung wachen sollen, sind schließlich mit einer Aufgabe betraut (entrusted), die Vertrauen in die fraglichen Personen erfordert. 41 Das Wie der Ausübung ihrer Funktionen ist nicht regelbar. Auch das strengste Gesetz kann nicht garantieren, dass ein solches Gremium nicht zu einer dummy institution schrumpft, die beweist: »the Law exists, but it is practically of no effect«. 42 Wenn dagegen behauptet wird, nach dem weitgehenden Zusammenbruch eines Staates, der in den Augen der Bürger aufgrund alles durchdringender Korruption keinerlei Vertrauen mehr zu verdienen scheint, »the first task is etablishing of a state ruled by law« 43, so wird damit die Aporie verdeckt, die darin liegt, dass kein Gesetz seine eigene Anwendung regulieren kann. Wie soll man aber aus einer ihrerseits angeblich weitgehend korrumpierten Bevölkerung jene Kräfte rekrutieren, die dem neu zu etablierenden Staat gegenüber loyal zu bleiben und die Gesetze entsprechend anzuwenden versprechen? Kann es ein Department of Institutional Integrity oder ein Integrity System 44 geben, das allein aufgrund seiner Unabhängigkeit und Zuständigkeiten dieser Anforderung gerecht zu werden verspricht? Gewiss: man kann Behörden, Kommissionen und Einsatzkräfte mit der Aufgabe der SiVgl. Transparency Serbia (ed.), Capacity Building as one of the key factors in developing a transparent and non-discriminatory public procurement system in Serbia. http://www.transparentnost.org.rs/english/ACTIVITIES/CAPACITY/index.html 42 Ebd., S. 2. 43 The Working group for drafting the text of the national strategy for combating corruption, Belgrade 2004, S. 3. 44 Fatić, A Greco Paper, S. 35. 41

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cherstellung staatlicher Integrität betrauen und die Umsetzung einer verschärften Antikorruptionsgesetzgebung überwachen; aber wie das geschieht und dass tatsächlich die Praxis dem Namen einer solchen Institution nicht spotten wird, kann kein noch so ausgefeiltes institutionelles Design vorab garantieren. Wenn die Mitarbeiter solcher Institution einigermaßen gut bezahlt werden, mag das immerhin der Versuchung entgegenwirken, sich wiederum bestechen zu lassen, um ein Auskommen zu haben. Und durch eindeutige Regularien wird man Interessenkonflikten vorbeugen können, die korruptionsanfällig zu machen drohen. Aber gleichsam wasserdichte Institutionen, die aus eigener Kraft, allein durch die sie konstituierenden Regeln, davor geschützt wären, ihrerseits auf mehr oder weniger korrupte Art und Weise missbraucht zu werden, kann es nicht geben. Stets bleiben sie auf ein ihren Geist mit Leben erfüllendes Ethos der Beschäftigten 45 angewiesen, dessen effektive Umsetzung erst das Vertrauen in die jeweilige Institution rechtfertigen kann. Im Zweifelsfall müssen whistle-blower auch die zur Korruptionsbekämpfung installierten Institutionen ›verraten‹, wenn diese ihrem Auftrag nicht gerecht werden. Und wenn diese ›Abweichler‹ durch ihren öffentlich werdenden ›Verrat‹ sich selbst exponieren, fragt es sich, ob eine Gesellschaft oder ein Staat ihnen auch dann noch Schutz gewähren kann. Wenn ja, steht auch diejenige Institution, die ihn gewährleisten sollte, vor dem gleichen Problem. Wenn nein, laufen die ›Verräter‹, die eine unzulängliche oder sogar ihrerseits korrupte Korruptionsbekämpfung öffentlich brandmarken und sie im gleichen Zug an ihren eigentlichen Sinn wieder erinnern, Gefahr, ihrer eigenen Loyalität zu eben diesem Sinn zum Opfer zu fallen. 46 Jedenfalls müssten gerade diejenigen, welche ihre abweichende Meinung freimütig öffentlich zu äußern wagen, das Vertrauen in eine zu rehabilitierende Staatlichkeit stärken. Und diese müsste die public dissenters nicht etwa als Gefahr einstufen, sondern schützen, statt sie einem untragbaren existenziellen Risiko auszusetzen für den Fall, dass sie die Illusion durchkreuzen, es genüge bereits, eine für Korruptionsbekämpfung zuständige Institution zu haben, damit der Staat seine ›Substanz‹ und ›Transparenz‹ zurückgewinnt. – Aber ist das überhaupt eine sinnvolle Zielperspektive? Was kann dieser Begriff, Transparency Serbia (ed.), Capacity Building, S. 11. Vgl. in diesem Sinne Heinrich Bölls Erinnerung an Verse Ingeborg Bachmanns in seinen Frankfurter Vorlesungen, München 41977, S. 50.

45 46

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Vertrauen in Transparenz?

der vielfach unreflektiert durch die einschlägige Literatur geistert, politisch überhaupt besagen?

4.

Vertrauen in Transparenz?

Wir würden so überhaupt nicht fragen, wenn Vertrauen und Transparenz tatsächlich zusammenfallen könnten, wenn also das, was wirklich Vertrauen verdient und genießt, uns (allen, die es im Kontext einer politischen Lebensform angeht) als solches ›transparent‹ gegeben wäre, so dass für »alle alles« an ihm sichtbar wäre (s. o.). Wie gesagt steht die gegenteilige Evidenz am Anfang unseres Fragens nach dem Zusammenhang von Vertrauen und Transparenz: Im weitgehend zerstörten Vertrauen machen wir die Erfahrung politischer Intransparenz, so dass generalisiertes Misstrauen ständig den Verdacht nährt, Sachverhalte, Informationen, Personen und ihre Handlungen seien womöglich systematisch verzerrt oder gar nicht einsehbar und zu beurteilen. Spezifisch politisch virulent wird diese Erfahrung, wenn sie sich auf die Substanz des Staates und seiner Institutionen sowie auf diejenigen bezieht, die ihr normales Funktionieren zu garantieren hätten. In diesem Fall wird das Verlangen nach Transparenz so ins Spiel gebracht, als würde es sich um das wichtigste Heilmittel handeln, durch das Vertrauen in die Institutionen wiederzugewinnen und der gesellschaftliche Unfrieden aufzuheben wäre. Und zwar in einer Situation, in der die Öffentlichkeit aufgrund einschlägiger negativer Vorerfahrungen nur allzu bereit ist, nicht an diese Transparenz zu glauben und auf diese Weise dazu verurteilt scheint, auf unabsehbare Zeit weiterhin im Unfrieden zu leben. Paradox: So nimmt die fragliche Transparenz ein anfängliches, geradezu irrationales Vertrauen bereits in Anspruch, das sich ihr eigentlich erst verdanken sollte. Durch das Transparentmachen von Entscheidungsprozessen, Auswahlverfahren, Finanzflüssen und Interessenlagen sollte es ja gerade möglich werden, Vertrauen neu zu bilden, das ganz und gar verloren gegangen zu sein schien. Jetzt aber stellt sich heraus, dass man dem Anspruch des Transparentmachens selbst schon Vertrauen schenken muss, das nicht wiederum darauf bauen kann, zu wissen, dass und inwieweit dieser Anspruch begründet oder berechtigt ist. Selbst das zögerlichste, vorsichtigste Vertrauen, das man anfänglich in eine politische Praxis des Transparentmachens setzt, kann nicht umhin, gewissermaßen umsonst geschenkt 847 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

werden zu müssen. Es kann sich als Vertrauen in das Transparentmachen niemals auf ein vorheriges Wissen darüber stützen, ob es (zureichend) begründet oder berechtigt ist. 47 Heißt das, dass es nur als ein unbefriedigendes Surrogat für nicht verfügbares Wissen in Betracht kommen kann, das durch vollkommene Transparenz zu erübrigen wäre? 48 Dieser Schluss führt in die Irre. Es geht hier überhaupt nicht darum, dass ein Mehr an Transparenz das Vertrauen überflüssig machen könnte, sondern in ein anfängliches Vertrauen in die Transparenz selbst, das sich nicht selbst wiederum auf eine Art Transparenz stützen kann. Dieses Vertrauen ist kein Surrogat für Wissen (und Transparenz), sondern kommt gerade dort zum Zug, wo es kein zureichendes Wissen und insofern nur weitgehende Intransparenz geben kann. Es handelt sich nicht um ein Vertrauen trotz ungenügenden Wissens, sondern gerade um ein Vertrauen angesichts niemals genügenden Wissens. Aber daraus folgt nun gerade nicht, man brauche einander in einem zerrütteten Staat gleichsam in einem Schlag nur wieder kollektiv Vertrauen zu schenken, um seinen Institutionen wieder zu einer gewissen Glaubwürdigkeit zu verhelfen. Das anfängliche, primäre Vertrauen, das man in der Tat nur schenken kann (trotz und angesichts aller ihm zuwiderlaufenden politischen Vorerfahrungen), bedarf der Bestätigung durch ein sekundäres Vertrauen, in dem sich das primäre Vertrauen nur nachträglich als begründet erweisen kann. 49 Zunächst macht letzteres diejenigen, die es schenken, nur aufs Neue und infolgedessen sogar verstärkt verletzbar durch erneute Enttäuschung, durch Verrat und zwielichtiges Verhalten. Aber geInsofern zeigt sich auch im primären Vertrauen, das man in Andere trotz ihm widerstreitender Vorerfahrungen setzt, etwas von der Unbedingtheit eines ›ersten Schrittes‹, der den Weg der Entfeindung und zum Frieden zu bahnen verspricht. Kant verlangte im Namen des »Ende[s] aller Hostilitäten« radikalen Verzicht auf jeglichen »geheimen Vorbehalt«, der echten (endgültigen) Frieden zu unterminieren droht (»Anthropologie«, S. 196). Dieser Verzicht kann zweifellos auf keinerlei Wissen darüber bauen, ob auch Andere zu ihm bereit sind. Vor der gleichen Schwierigkeit stehen soziale Gabe- und Austauschprozesse, die vor die Alternative stellen: »entweder volles Vertrauen oder volles Misstrauen« (vgl. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 31984, S. 180; A. Callié, Anthropologie der Gabe, Frankfurt/M. 2008, S. 59 ff., 108 f.). 48 Vgl. N. Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 31989, S. 73. 49 In diesem Zusammenhang spricht Callié von einer bedingten Unbedingtheit (inconditionnalité conditionelle) des Vertrauens; Anthropologie der Gabe, S. 108 ff. 47

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Vertrauen in Transparenz?

rade dadurch gibt es die Gelegenheit, es nicht zu enttäuschen, und stiftet auf diese Weise aufs Neue den Geist eines Zusammenlebens, ohne den kein Staat bestehen kann, mag man auch noch so sehr auf Hegels Spuren dessen ›Substanz‹ beschwören. Das bedeutet indessen nicht, dass das primäre Vertrauen ohne Bestätigung durch ein sekundäres Vertrauen auskommen könnte. Es kommt spezifisch politisch überhaupt nur dann zum Tragen, wenn es als Herausforderung an die Adresse verlässlicher Institutionen begriffen wird, die sich ihrerseits das in sie zu setzende Vertrauen erst verdienen müssen, um auf diese Weise dem gesellschaftlichen Unfrieden entgegenzuwirken. Genau hier setzt die Forderung nach Transparenz ein. Wenn sie nicht in utopischer Art und Weise darauf hinauslaufen soll, »allen alles« sichtbar zu machen, so kann sie nur bedeuten, dass die fraglichen Institutionen von sich aus eine Politik der Offenlegung von kritischen Informationen, der Zugänglichkeit, des Sichinfragestellenlassens usw. betreiben, durch die sie freilich ihrerseits nichts beweisen können. Durch keine noch so forcierte Politik der Offenheit können sie jeglichen Verdacht gegen sich ausräumen. Im Gegenteil: je mehr sie auf diese Weise zu beweisen suchen, desto mehr müssen sie wiederum Misstrauen auf sich ziehen. Wenn überhaupt, dann können sie nur durch eine lang anhaltende Praxis der Vertrauenswürdigkeit zeigen, dass sie diesem Anspruch tatsächlich genügen, so dass am Ende dieses Prozesses die von Misstrauen gespeiste Frage, ob sie Vertrauen verdienen, wieder ›vergessen‹ werden kann. Gerade das Verschwinden der Frage nach dem Vertrauen in Institutionen macht am ehesten deutlich, dass es vorhanden ist. Lebt man (wieder) ›im Vertrauen‹, so braucht man sich nicht um es zu sorgen. Paradoxerweise kommt es stets erst als getrübtes, eingeschränktes oder zerstörtes Vertrauen zum Vorschein, d. h. nachträglich, wenn man es bereits irgendwie eingebüßt hat. Wiederzugewinnen ist es primär stets nur so, dass es erneut geschenkt wird und eigene Verletzbarkeit durch erneute Enttäuschung riskiert. Auch wenn das nicht ohne Grund und Zweck erfolgt (denn man schenkt Vertrauen mit Blick auf zu rehabilitierende politische Institutionen, die ihre tatsächliche – sekundäre – Vertrauenswürdigkeit stets erst noch erweisen müssen), wohnt dem Vertrauenschenken doch ein anökonomisches Moment inne – wie einer einseitigen Gabe, die in jeder Hinsicht ›umsonst‹ gegeben wird und auf diese Weise zu einer relativen gesellschaftlichen Befriedung beiträgt. Trägt es nun aber überhaupt zum Verständnis primären und 849 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

sekundären politischen Vertrauens bei, (a) ihm ein Verlangen nach Transparenz zuzuschreiben und es (b) seinerseits durch Transparenz begründet zu sehen? Ist der Begriff der Transparenz nicht mit außerordentlich irreführenden ideengeschichtlichen Assoziationen belastet?

5.

Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht?

Im politischen Diskurs hat sich eine eindeutig metaphorisch-optische Redeweise von Transparenz durchgesetzt, die sich eher vage an die Physik anlehnt, in der man von der Durchlässigkeit eines Materials wie Glas oder auch von Kristallen etwa in Bezug auf elektromagnetische Wellen spricht. 50 Unterschiedlichste Materialien werden aber auch für Wärme oder als akustisch mehr oder weniger »transparent«, d. h. hier: als durchlässig bezeichnet. So stellt sich jedes Mal die Frage, was wofür (und in welcher Art und Weise) transparent ist. Das gilt auch bei analoger Rede von Transparenz. Das fragliche ›Was‹ ist ein Stoff, ein Raum oder das Medium, das von etwas Anderem (teilweise oder ganz) durchquert wird auf einem Weg von A nach B. 51 So durchquert die elektromagnetische Strahlung bzw. das Licht das Glas, hinter dem das menschliche Auge dank der Transparenz dieses Mediums ein Objekt ausmachen kann. Wie das Beispiel der getönten Brille zeigt, die gewisse (UV-)Strahlen abschirmt und andere in verminderter Stärke durchlässt, so dass das Objekt gefärbt erscheint, ist Transparenz ohne Selektivität nicht zu haben, die um so weniger auffällt, wie das selektiv-transparente Medium nicht auch ausgeschaltet oder durch ein anderes ersetzt wird. So kann das Medium in einer selektiv transparent machenden Funktion seinerseits zur Selbstverständlichkeit und insofern selbst geradezu unsichtbar werden. Der Blick, den In der Akustik spricht man von Transparenz im Sinne der Unterscheidbarkeit zeitlich aufeinander folgender Töne, bei Computergrafiken von durchscheinenden Elementen in einer Bilddatei; bei Signalverarbeitung von einer transparenten Signalübermittlung. Etc. 51 Vgl. Starobinski, Rousseau, S. 379 ff., zur Transparenz von Wasser oder eines Kristalls. Wie auch diese Vergleiche zeigen, kann gerade das Ernstnehmen der metaphorischen Funktion der Rede von Transparenz deutlich machen, inwiefern sie womöglich auch in die Irre führt. So legt die physikalisch-optische Analogie ja nahe, die Transparenz medial zu deuten, nicht aber, die Subjektivität der (sinnlich oder begrifflich) sehenden Instanz selbst auf eine sie konstitutiv bestimmende Transparenz oder Intransparenz hin zu erforschen. 50

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Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht?

es freigibt, bezieht sich dann ganz und gar auf das zu Sehende; er vergisst aber, welchen Voraussetzungen sich der Zugang zum Sichtbaren überhaupt verdankt. Und das menschliche Auge, das, von Licht getroffen, retinale Reize verarbeitet, macht uns glauben, seinerseits das Medium zu durchdringen. Dem Auge selbst wohnt aufgrund seiner Konstruktion eine unhintergehbare Medialität inne, was mehr oder weniger empfindlich in vielfältigen Sehstörungen offenkundig wird. Ungestört aber ›vergisst sich‹ diese Medialität – ebenso wie die der Luft, die normalerweise als solche unsichtbar bleibt, solange nicht winzige Wassertröpfchen oder gewisse Partikel die Sicht trüben und auf diese Weise darauf aufmerksam machen, dass sich das Sehenkönnen jederzeit einem Medium oder sogar mehreren Medien verdankt, die in dem Maße, wie sie selbst in ihrer Transparenz unsichtbar werden, den Zugang zum Sichtbaren verbürgen. Immer und unvermeidlich handelt es sich dabei um eine selektive, nie um eine ›reine‹ oder uneingeschränkte Transparenz. Kein noch so klares Wasser, keine noch so saubere Glasscheibe, keine noch so reine Luft lässt je alles durch. Und wie bei jenen Spezialbrillen, die man bei einer Sonnenfinsternis verwenden muss, ist es oft gerade die Selektivität des Mediums, die überhaupt oder etwas Neues zu sehen erlaubt, wofür wir unter anderen Umständen buchstäblich blind bleiben (oder werden) müssten. Nur unter derart außergewöhnlichen Bedingungen springt die Selektivität des Mediums als das, was das Sehen überhaupt erst ermöglicht, derart buchstäblich ins Auge; wohingegen sie in dieser Funktion normalerweise unbedacht bleibt. So ist es paradoxerweise gerade die selektive Transparenz, die sich unserem Blick am meisten entzieht. Wir ›sehen‹ nicht sie, sondern durch sie, was sie selektiv wahrzunehmen erlaubt. So könnte man geradezu von einer durch Transparenz (bzw. durch die Vorstellung, die man sich politisch von ihr macht) bewirkten Blindheit für die Selektivität der Transparenz sprechen. Wie sehr die medial zu verstehende selektive Transparenz vielfach buchstäblich übersehen wird, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass man von transparenten Objekten spricht, so als ob sie ganz und gar ›durchsichtig‹ wären, nicht das Medium, das sie den Blicken anderer aussetzt. Die gängige Rede vom »gläsernen Abgeordneten« und vom »gläsernen Bürger« macht das unverkennbar deutlich. Die fragliche Transparenz wird hier weniger der öffentlichen Information (über die finanziellen Verstrickungen der Volksvertreter) oder einer anonymen Datenerhebung (über die Bevölkerung), sondern den Menschen attestiert, die nichts mehr sollten verbergen können, wenn wir die Me851 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

tapher wörtlich nehmen. Aber würde nicht der wie restlos durchsichtiges Glas transparente Abgeordnete oder Bürger gerade unerkennbar? Wenn die Objekte nicht nur durch Transparenz dem öffentlichen Blick zugänglich gemacht, sondern selbst transparent sein sollen, wie es die Rede von »gläsernen« Menschen ja suggeriert, hieße das nicht, dass ihr Inneres aufgrund seiner Durchsichtigkeit vollkommen unerkennbar werden müsste? Muss, anders gefragt, die Transparenz eines Mediums nicht früher oder später auf ein mehr oder weniger intransparentes Objekt stoßen, wenn die geforderte Durchsichtigkeit nicht in eine Unsichtigkeit umschlagen soll? Längst ist die Rede von Transparenz im Politischen zu einer toten Metapher verkümmert. Das zeigt sich gerade an solchen kritischen Befunden, auf die man nur stößt, wenn man das metaphorische Etwas-als-etwas-Sehen beim Wort nimmt. Nur wenn wir wieder die physikalische Analogie ernst (nicht aber die Metapher allzu wörtlich) nehmen, stoßen wir (a) auf jene Paradoxie der selektiven Ermöglichung von Sichtbarkeit durch eine ihrerseits (relativ) unsichtbare Transparenz; und (b) auf den Widersinn, eine möglichst ideale Durchsichtigkeit nicht einem Medium, sondern Objekten (darunter Menschen) zuzuschreiben, die sich unter dieser Bedingung der Sichtbarkeit gerade weitgehend entziehen müssten. Darüber hinaus fällt auf, wie positiv im Politischen die Vorstellung von Transparenz besetzt ist und wie nachhaltig eine unbedachte Anlehnung an die physikalisch-optische Analogie eine weit zurückreichende und tief greifende Erfahrung negativer Sichtbarkeit verdrängen konnte. Vergessen scheint der religiöse Schrecken und die paranoide Faszination angesichts eines Gottes, von dem man befürchtete, er könne jederzeit »ins Verborgene sehen« 52 und das Privateste durchdringen, ohne sich je selbst zu erkennen zu geben. 53 Vergessen auch die an diesen Schrecken gemahnenden Vorstellungen souveräner Macht von Thomas Hobbes’ Leviathan über Jeremy Benthams Panoptikum bis hin zu George Orwells »Big Brother«. Und das, obwohl zahllosen anonymen virtuellen Instanzen des gegenwärtigen Internet nachgesagt wird, niemand könne sich mehr ihrem »Blick« und Zugriff entziehen. Durch die Geschichte jener Vorstellungen geistert der J. Derrida, »Den Tod geben«, in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt/M. 1994, S. 331–445, hier: S. 361, 417; E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 17. 53 Vgl. J. Starobinski, Das Leben der Augen, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984. 52

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Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht?

Schrecken einer absoluten Machtasymmetrie, die darin liegt, selbst restlos durchsichtig zu sein, während die Macht des durchdringenden Blicks sich nicht begrenzen oder nicht einmal orten lässt. Gegen eine solche Macht richtet am Ende auch der Rückzug hinter die äußeren Grenzen der eigenen Körperperipherie nichts mehr aus. Denn der ›Blick‹ einer derart mächtigen Macht bedarf womöglich gar keiner äußeren Anzeichen wie eines verräterischen Lächelns, eines verschlagenen Blicks oder einer finsteren Miene, um in Erfahrung bringen zu können, was sich dahinter verbirgt. Für eine absolute Macht, die sich über jegliche Intransparenz hinwegsetzen könnte, gäbe es, so scheint es, überhaupt nichts Verborgenes mehr; sie könnte sich über die selektive Zugänglichkeit eines Mediums jederzeit hinwegsetzen, das den Blick auf Jenseitiges stets ermöglicht und – selektiv – verstellt; und sie würde niemals Gefahr laufen, selbst sichtbar zu werden. So geht das Phantasma restloser Sichtbarkeit mit der Furcht vor einer absoluten Auslieferung und Schutzlosigkeit einher, die dem Blick eines Anderen eine radikale Vision zutraut – und gerade nicht nur ein Sehen, das an der Oberfläche von Körpern oder an irgendeiner anderen Abschirmung Halt machen müsste. 54 Einer solchen absoluten und vertikalen Asymmetrie der Sichtbarkeit und der Transparenz, in der letztere die Erfahrung einer rückhaltlosen Ohnmacht markiert, stehen Vorstellungen relativer und gewissermaßen horizontaler Symmetrien der Unsichtbarkeit und der Intransparenz gegenüber, wie sie vielfach mit zwischenmenschlicher Freundschaft verknüpft wurden. Wenn diese nicht mit einer restlosen Identifikation zweier Wesen gleichgesetzt wurde, die füreinander »ein Herz und eine Seele« und insofern restlos miteinander vertraut sein sollten, so beinhaltete sie stets auch eine irreduzible Verschiedenheit, Unzugänglichkeit und Intransparenz im Verhältnis zueinander. Statt diese aufzuheben, sollte die Freundschaft mit deren Unaufhebbarkeit leben können. So lesen wir es jedenfalls bei Jacques Derrida, Georges Bataille, Maurice Blanchot und vielen anderen. 55 Vgl. J.-L. Marion, Das Erotische, Freiburg i. Br., München 2011, S. 242 f. Ich sehe an dieser Stelle von der Frage ab, warum virtuelle Medien wie das Internet offenbar nicht in analoger Art und Weise ein derartiges Phantasma hervorrufen, obwohl sie in ungeahnter Radikalität digitalen Ersatz für eine solche Vision bieten und ihre Nutzer ohne ihr Wissen einem noch das Privateste durchdringenden Wissen Anderer ausliefern. 55 Vgl. dazu nur beispielhaft M. Blanchot, »Die Freundschaft«, in: G. Bataille, Abbé C., München 1990, S. VII–XIV, hier: S. XIII. 54

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XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

In der Freundschaft kann in dieser Perspektive gerade nicht aufgrund gegenseitiger Transparenz Vertrauen herrschen. Vielmehr vertraut man einander ungeachtet oder gerade angesichts gegenseitiger Intransparenz. Man behauptet nicht, sich gegenseitig restlos zu kennen und einander deshalb zu vertrauen. Nicht das Wissen verbürgt hier das Vertrauen. Umgekehrt vielmehr vertraut man sich gegenseitig, ohne nach einem Wissen zu fragen, welches das Vertrauen überflüssig zu machen verspräche. Man setzt sich im Nicht-Wissen einander gegenseitig aus, statt genau das zu vermeiden in einer dem Anschein nach weitestgehend transparenten Beziehung. So gesehen wäre es ein vollkommenes Missverständnis, zu glauben, man bräuchte die persönliche Freundschaft nur zu erweitern, um zu einer friedlichen »Politik der Freundschaft« 56 zu gelangen, in der Transparenz und Intransparenz, Vertrauen und Misstrauen die gleiche Rolle spielen könnten. In diesem Sinne wäre es auch abwegig, politische Transparenz durch Vertrauen (in Freunde) zu begründen. Das genaue Gegenteil wird denn auch meist suggeriert: dass es im Politischen Vertrauen überhaupt nur durch Transparenz geben kann. Wo sie nicht gegeben ist, will man sich durch die bekannten ›vertrauensbildenden Maßnahmen‹ behelfen, z. B. sich (teilweise) angreifbar machen, indem man (militärische) Informationen ohne Not preisgibt oder einseitig abrüstet und damit signalisiert, dass man die eigene Macht freiwillig einzuschränken bereit ist. Erfahrungsgemäß ist aber keine Macht der Welt ohne weiteres bereit, darin gleich bis zum Äußersten zu gehen und sich bspw. einseitig derart zu entwaffnen, dass man in jedem ernsthaften Konflikt sofort unterliegen würde. Genau das nährt allerdings neues und unwiderleglich erscheinendes Misstrauen gegen einseitige, effektive Entwaffnung eben nicht riskierende Schritte. Keine öffentlich zugänglich gemachte Information und keine einseitige Abrüstung kann von sich aus beweisen, dass man durch sie nicht seine Gegner zu täuschen beabsichtigt und dass man insofern Vertrauen verdient. Das lähmt nicht zuletzt Versuche atomarer Abrüstung bis heute. Unvorstellbar scheint, dass eine Seite tatsächlich auf diejenigen Waffen einseitig verzichten könnte, durch deren Verlust sie wirklich wehrlos würde. Solange das aber nicht geschieht, kann keine einseitige Vorleistung, die zur Transparenz beitragen soll,

56

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IX, 1171a, 11 ff.

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Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht?

einen Vertrauensbeweis erbringen. Gründe, Motive und Anlässe zum Misstrauen gegen die tatsächlichen Absichten, die eine Gegenseite mit scheinbar vertrauensbildenden Maßnahmen verfolgt, lassen sich immer ins Feld führen. Genau das macht das Misstrauen nicht selten zu einer fatalen Angelegenheit, aus der es scheinbar keinen Ausweg gibt. Transparenz schafft also nicht einfach Vertrauen. Sie kann keinen Beweis der Vertrauenswürdigkeit liefern und bleibt mit Misstrauen behaftet, zumal die Forderung nach Transparenz ihrerseits schon Ausdruck gesteigerten Misstrauens ist. Man muss deshalb zu dem Schluss kommen, dass sich diese Forderung nicht im Sinne einer politischen Technik der Befriedung sozialen und politischen Unfriedens umsetzen lässt. Nichts lässt sich als restlose Erfüllung dieser Forderung politisch so einrichten, dass man unterstellen dürfte, Transparenz sei wirklich gegeben. Der Verdacht, wichtige Informationen, Beweggründe taktischen Verhaltens und Ziele strategischen Tuns würden kaschiert, lässt sich grundsätzlich nicht definitiv ausräumen. Im Gegenteil: wer das Gegebensein von Transparenz in diesem Sinne postulieren wollte, würde nur in eine Ideologie der Transparenz verfallen und müsste so tun, als wäre ihrer Wirklichkeit der Beweis für etwas zu entnehmen, was sie prinzipiell nicht zu leisten vermag: nämlich zu beweisen, dass restlos alles (und jeder Beteiligte) ›durchsichtig‹ gemacht wurde. Eine solche Behauptung widerspräche auch der einfachsten Besinnung auf den Sinn der metaphorischen Rede von Transparenz. Wenn diese etwas lehrt, indem man die physikalisch-optische Analogie beim Wort nimmt, dann doch dies, dass stets selektive Transparenz nur medialen Zugängen zu etwas anderem zuzuschreiben ist, das seinerseits niemals ganz durchsichtig werden kann, wie es im Fall der irreführenden Rede vom »gläsernen Bürger« oder vom »gläsernen Angeordneten« ohne weiteres einsichtig zu machen ist. Darüber hinaus handelt es sich in beiden Fällen nicht um Dinge, in die man hineinsehen könnte. Der Einsicht, die ihre Motive, Gründe, Pläne und Strategien durchsichtig machen kann, müssen Andere selbst sich öffnen; d. h. sie müssen ›Einsicht gewähren‹. Und dazu kann sie letztlich kein noch so rigide institutionalisierter Zwang zur Transparenz bewegen, der es ihnen auferlegt, alles für politische Entscheidungsfindungen Relevante offenzulegen. So gesehen kommen wir nicht umhin, die zunächst an politisch institutionalisierte Prozesse adressierte Forderung nach Transparenz in eine ethische Richtung zu wenden und 855 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

infolgedessen die Frage aufzuwerfen, wie und durch wen diese Forderung konkret zu erfüllen ist. Niemals ist Transparenz in der Politik ein bloßer (technisch zu bewerkstelligender und dann als gegeben anzusehender) »Zustand mit freier Information, Partizipation und Rechenschaft im Sinne einer offenen Kommunikation zwischen den Akteuren des politischen Systems und den Bürgern«, wie man in verbreiteten Begriffsdefinitionen lesen kann. 57 Vielmehr muss diese Offenheit stets durch die Beteiligten selbst bewirkt und garantiert werden. Ihnen obliegt es, institutionelle Regularien und Gesetze so anzuwenden, dass sie für Dritte, die nicht beteiligt sind, verständlich, nachvollziehbar und einsichtig werden. ›Transparent‹ verhält sich in diesem Sinne, wer von sich aus und gewissermaßen ›ohne Not‹, d. h. ohne erst dazu angehalten werden zu müssen, Einsicht in die Beweggründe, Formen und Ziele des eigenen Tuns gewährt und sich auf diese Weise ›angreifbar macht‹. Nur ein solches (in einer machiavellistischen Perspektive höchst ›unkluges‹) Verhalten erscheint dazu geeignet, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Jedoch droht es im gleichen Maße sogleich wieder verspielt zu werden, wie man sich im Sinne eines kollektiven Ethos öffentlich demonstrierte Transparenz als einen sog. Wert zu eigen macht und sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Dabei kann Transparenz in Wahrheit stets nur aus der Perspektive Anderer attestiert werden, für die der Mangel an Transparenz zuvor ein außerordentliches politisches Vertrauensproblem aufgeworfen hatte. Diesem Problem können nicht Personen und Instanzen begegnen, die sich selbst Transparenz bescheinigen. Vielmehr müssen sie sich zum Zeichen ihrer Vertrauenswürdigkeit angreifbar machen und das Urteil darüber, ob sie dadurch (neues) Vertrauen verdienen, Anderen überlassen. In dem Maße, wie sich ein solcher Prozess wiederholt bewährt, kann man erwarten, dass sich in der Tat neues Vertrauen so bildet, dass die Forderung nach Transparenz politisch entschärft wird – d. h. dass man sie nicht derart ›überzieht‹, dass politisches Handeln blockiert zu werden droht. Wenn die tatsächlich politisch-praktisch unsinnige und unerfüllbare Forderung, »allen alles« öffentlich transparent zu machen, bevor wichtige politische Entscheidungen fallen, befolgt werden müsste, wäre nicht neues Vertrauen die Folge, sondern im Gegenteil ver57

https://de.wikipedia.org/wiki/Transparenz_(Politik).

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Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht?

schärftes Misstrauen, das sich womöglich niemals dessen sicher sein könnte, dass eine Grenze erreicht ist, über die hinaus keine weitergehende Transparenz mehr denkbar erscheint. Überzogene Forderungen nach Transparenz führen sie nicht herbei, sondern nähren nur immer neuen Verdacht, der aus sich heraus niemals dazu in der Lage sein wird, in neues Vertrauen umzuschlagen. Man misstraut niemals genug, wenn man unbedingt misstrauen will und sich nur von einem wörtlich genommenen Vertrauensbeweis überzeugen lassen möchte. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit sind, zumal nach einer tief greifenden politischen Erfahrung, die beides erschüttert hat, überhaupt nicht zu beweisen. Deshalb darf auch die Forderung nach Transparenz von vornherein nicht darauf hinauslaufen, von Anderen strikte Beweise ihrer Vertrauenswürdigkeit zu liefern. Denn auf diese Weise verurteilte sie sich nur selbst zu nicht endendem Misstrauen und böte keinerlei Aussicht auf effektiv wiederhergestelltes politisches Vertrauen, von dem man sich eine Aufhebung gesellschaftlichen Unfriedens verspricht. Überdies muss sie sich auf das öffentlich zu Verhandelnde beschränken, insofern es die Verantwortung, Vorstellungen vom guten Leben sowie Rechte und Pflichten aller Beteiligten betrifft. Dagegen darf sie nicht darauf abzielen, ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren, was Schutz vor ihr verdient. Andernfalls verkäme sie ihrerseits zur publicity. Und so würde sie Gefahr laufen, jeglichen Respekt einzubüßen, den man ihr zunächst als einer Forderung nach Wiederherstellung der elementarsten Bedingungen eines politischen Lebens entgegenbringt, das allgemeines Vertrauen verdient. So muss sich das Verlangen nach Transparenz selbst nach der Erfahrung einer weitgehenden Zerstörung politischen Vertrauens in die Institutionen, die die Verlässlichkeit einer politischen Lebensform hätten garantieren sollen, gleich in mehrfacher Hinsicht mäßigen: – Es darf nicht auf die Forderung nach rückhaltloser Transparenz hinauslaufen, die nichts mehr dem Licht der Öffentlichkeit zu entziehen gestattete. Aus einer derart überzogenen Forderung würde nur ein neuer Tugendterror durch privilegierte Personen und Instanzen folgen, die jederzeit den niemals definitiv zu begrenzenden Verdacht äußern dürften, Andere hätten der Öffentlichkeit etwas Wesentliches vorenthalten. – Das Verlangen nach Transparenz darf nicht mit einem einseitigen Anspruch einhergehen, zu wissen, wo zwischen dem in diesem Sinne Wesentlichen und dem Unwichtigen die Grenze ver857 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXIII · Transparenz und/oder Vertrauen

läuft. Vielmehr ist diese Grenze zwischen den Beteiligten selbst jedes Mal neu zu ziehen. Und das kann nicht darauf hinauslaufen, sie gänzlich aufzuheben. Das wiederum müsste dazu führen, auch Peinliches und Heikles gewissermaßen ohne Rücksicht auf Verluste öffentlich zu verhandeln. Wer aber befindet im Einzelfall darüber, wo jene Grenze zu ziehen wäre? – In politischen Gemeinwesen nennenswerter Größe fallen die jeweils am politischen Prozess Beteiligten niemals mit dem Umkreis derer zusammen, die direkt oder indirekt von ihm betroffen sind. Das Verlangen nach Transparenz mag sich für erstere in gewissen Grenzen erfüllen lassen, niemals aber zugleich auch für letztere. Selbst ein Runder Tisch, an dem nur öffentlich übertragene Auseinandersetzungen stattfinden, wirft das Problem einer Selektion und (gleichzeitigen) Exklusion auf, die schon im Zustandekommen der Situation wirkt, in der man um Transparenz streitet und um Vertrauen wirbt. Diese Situation kann allenfalls durch diejenigen im revidierten Sinne teilweise transparent werden, die in ihr Macht und Stimme haben – im Gegensatz zu Anderen, die unvermeidlich außen vor bleiben oder die ausgeschlossen werden. 58 So ziehen sich unvermeidlich diejenigen, die nach Transparenz verlangen und sie womöglich institutionalisieren wollen, ein Problem der Intransparenz im Verhältnis zu all jenen zu, die jeweils nicht berücksichtigt oder einbezogen werden können. (Auf dieses unaufhebbare Missverhältnis zwischen Betroffenen und Beteiligten, das in jede originäre politische Strukturierung von Sichtbarkeit und Sagbarkeit hineinwirkt, hat auch die Diskussion um die Politische Theorie Jacques Rancières immer wieder aufmerksam gemacht. 59) Allzu groß ist die Versuchung auch für diejenigen, die nach Transparenz verlangen, sich mit dem dêmos gleichzusetzen, für den sie stellvertretend diese Forderung geltend machen. Niemals aber kommen diejenigen, die öffentlich das Wort führen, mit all jenen zur Vf., »Der Tisch als Ding, Metapher und kommunikativer Ort des Politischen«, in: A. Pithan, A. Wuckelt (Hg.), Miteinander am Tisch – Tische als Ort sozialer Utopien, i. E. 59 Dabei stehen in Wahrheit plurale und kontingente Ordnungen von stets selektiven Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten zur Diskussion, die niemals etwas (öffentlich) in Erscheinung treten lassen, ohne zugleich den politischen ›Blick‹ auf anderes zu beschränken oder zu unterbinden; vgl. J. Rancière, Das ästhetische Unbewußte, Zürich, Berlin 2006, S. 16. 58

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Was bedeutet ›Transparenz‹ in politischer Hinsicht?

Deckung, die sie (mehr oder weniger legitimiert) vertreten. Das Allgemeine spricht sich nicht unmittelbar durch ihren Mund hindurch aus. So kann in der stellvertretenden Rede für Andere oder anstelle Anderer bereits das Bewusstsein dafür vernebelt werden, dass sie niemals mit den Anderen schlicht zu identifizieren ist. Niemand ist das Allgemeine, das er nicht nur als ›besonderes‹, sondern als singuläres Wesen verbal zum Vorschein bringt. Nach einer tief greifenden Krise des Vertrauens in politische Institutionen ist es jedoch in Zeiten gesellschaftlichen Unfriedens unvermeidlich und unabdingbar, dass einige (für alle) die Forderung nach Transparenz bzw. nach Öffentlichkeit aller Prozesse erheben, die im Horizont gemeinsamer Verantwortung für das Gemeinwesen sowie der Rechte und Pflichten, die es regeln sollten, von Belang sind. So bleibt auch ihnen, wenn sie nicht in selbstgerechtester Art und Weise Transparenz für sich in Anspruch nehmen wollen, nichts anderes übrig, als sich selbst dadurch angreifbar zu machen, dass sie von sich aus Einsicht in ihr Tun gewähren und das Urteil darüber, ob sie sich ihren eigenen Ansprüchen gemäß verhalten haben, wiederum Anderen überlassen. Andernfalls würden sie sich durch die von ihnen reklamierte Transparenz diese ihrerseits als einen Wert aneignen und gleichsam in Beschlag nehmen, um sie umso effektiver von Anderen verlangen zu können. Auf diese Weise mag man mit ›Transparenz‹ symbolische Politik machen können; aber so wird man vergessen, worin allein ihr Anspruch in Wahrheit liegen kann: nämlich darin, den Augen und Ohren Anderer nichts geheim Gehaltenes zu entziehen, das für sie, insbesondere für ihre öffentlich zu artikulierenden Rechte, von Belang sein könnte. Das entsprechende Urteil darüber aber steht unumgänglich Anderen zu. Das sollten, in gleichsam prophylaktisch-ideologiekritischer Absicht, gerade diejenigen nicht vergessen, die nach einer tief greifenden Vertrauenskrise ihres politischen Systems gegen die dafür Verantwortlichen im Namen der Aufhebung gesellschaftlichen Unfriedens eine kategorische Forderung nach Transparenz erheben. Läge nicht eine bizarre Ironie darin, wenn sie dieser Forderung selbst nicht Genüge tun würden, indem sie sie nur als von Anderen zu erfüllenden Anspruch begreifen?

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Kapitel XXIV Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen – mit Blick auf die Geschichte und Gegenwart des Staates Ausgelöscht war das Vertrauen von Mensch zu Mensch. Annedore Leber 1 Das Leben ist aber nicht lebbar, wenn man des Vertrauens beraubt ist. Georgias v. Leontinoi 2 A free society […] depends on trust, and so suspicion is always rife. For where is treason if not in trust? Judith N. Shklar 3

Wo Vertrauen wirklich gegeben ist, wird es mit Selbstverständlichkeit gelebt und als solches gar nicht in Frage gestellt. Man lebt nicht nur ›im Vertrauen‹, sondern lebt es auch – im transitiven Sinne des Verbs –, ohne dass es eigens zu Gesicht kommen müsste. Nach politischem Vertrauen in politische Institutionen fragen wir aber gerade deshalb, weil es – zumal in historischer Perspektive – alles andere als selbstverständlich ist. Besonders politische Institutionen sind so oft schon in politischen Verrat – unter tyrannischer oder totalitärer Herrschaft, in üblich gewordener Korruption oder im Zusammenbruch von failed states – verstrickt gewesen, dass es heute unumgänglich ist, die Frage nach Vertrauen in politischen Institutionen als Frage eines politischen Vertrauens in diese Institutionen aufzuwerfen, das um die Gefahr möglichen Verrats weiß – durch wen und woran, bleibt zu klären. 1 A. Leber (Hg.), Das Gewissen entscheidet. Bereiche des deutschen Widerstandes von 1933–1945 in Lebensbildern, Berlin, Frankfurt/M. 21958, S. 7. 2 Zit. n. T. Schirren, T. Zinsmaier (Hg.), Die Sophisten (griech./dt.), Stuttgart 2003, S. 99. 3 J. N. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge 1984, S. 177.

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XXIV · Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen

Dabei ist die Frage nach Vertrauen in Institutionen offenkundig zweideutig; und diese Zweideutigkeit ist nicht ganz zufälliger Art, sondern von systematischer Bedeutung: Es geht zum einen um im Innern von Institutionen mehr oder weniger gegebenes Vertrauen; zum anderen handelt es sich um Institutionen selbst entgegenzubringendes Vertrauen. Beides muss zusammenhängen, denn Institutionen, denen wir vertrauen wollen, ist nicht zu vertrauen, wenn in ihnen gar kein Vertrauen herrscht. Umgekehrt gilt: das in Institutionen gegebene Vertrauen ist höchst fragwürdig, wenn der jeweiligen Institution selbst nicht zu vertrauen ist. Vorrang hat dabei offenbar diese Frage: ob die jeweilige Institution überhaupt – und gemessen woran – Vertrauen verdient. 4 Eine Institution wie das ehemalige Reichssicherheitshauptamt, der KGB oder das Amt für Staatssicherheit der DDR verdiente kein Vertrauen, ganz gleich, welches Vertrauen zwischen den Mitarbeitern geherrscht haben mag. Institutionen, die einerseits unverzichtbaren Kriterien demokratischer Rechtsstaatlichkeit genügen und insofern prima facie Vertrauen verdienen 5, sind andererseits auf Vertrauen in ihrem Innern angewiesen, insofern ihr Funktionieren überhaupt nur durch die kommunikativen Verhältnisse derer zu verbürgen ist, die ihnen angehören. Ohne die damit verbundenen klassischen Fragen des methodologischen Individualismus und einer Ontologie der Institution an dieser Stelle en détail aufwerfen zu können, gehe ich im Folgenden davon aus, dass die zweideutige Rede von ›Vertrauen in Institutionen‹ nur eine Art Abkürzung für einen wesentlich komplexeren Sachverhalt darstellt; dafür nämlich, wie Vertrauen nach innen und außen durch diejenigen realisiert wird, die die jeweilige Institution mit Leben erfüllen. 6 Sieht die Rede von ›Vertrauen in Institutionen‹ davon ab, geschieht es allerdings leicht, dass die systematische Differenz zwischen Vertrauen in Andere einerEine Frage, die notorisch unterschätzt wird, wo man nach einem kommunitären Ethos des Vertrauens sucht, das angeblich das sittliche oder habituelle Fundament auch heutiger Gesellschaften noch abgeben kann, für die es sich nicht zuletzt ökonomisch auszahlen soll; vgl. F. Fukuyama, Trust. Social Virtues and the Creation of Prosperity, London 1996. 5 Ich betone prima facie, denn der Befund, dass politische Institutionen rechtsstaatlichen Kriterien im Allgemeinen genügen, ist kein Blankoscheck, was ihre Vertrauenswürdigkeit betrifft. Stets stellt sich doch die Frage, ob die jeweiligen Institutionen wirklich den Ansprüchen Genüge tun, denen sie entsprechen sollten. 6 Vgl. in diesem Sinne U. Schimank, »Handeln in Institutionen und handelnde Institutionen«, in: F. Jaeger, J. Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2004, S. 293–307. 4

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XXIV · Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen

seits und Verlässlichkeit von etwas andererseits nivelliert oder ignoriert wird. Streng genommen kann man nur Anderen vertrauen, deren Alterität in gar keinem Wissen aufzuheben ist. Wäre sie epistemisch zu kontrollieren, so bedürften wir überhaupt keines Vertrauens. Und gerade deshalb muss man auch nur Anderen vertrauen – es sei denn, man wollte sich weigern, sich überhaupt zu ihnen als epistemisch nicht in den Griff zu bekommenden Anderen zu verhalten. 7 Wie auch immer Institutionen sich als verlässlich erweisen, Vertrauen, das man ihnen über eine mehr oder weniger kalkulierbare Sicherheit von Erwartungen ihres künftigen Funktionierens 8 hinaus schenkt, gründet in diesem Verständnis letztlich auf denjenigen, durch die sie funktionieren. Institutionen verdienen also nur insoweit indirekt Vertrauen, als auch denen zu vertrauen ist, die sie mit Leben erfüllen. Genau genommen kann man überhaupt keiner Institution selbst – ohne jeglichen Rückbezug auf diese Frage – ›Vertrauen schenken‹. Vertrauen, das nicht mit bloßer Verlässlichkeit verwechselt wird, ist, wie sich zeigen wird, nur dort möglich, wo die Asymmetrie, die im Vertrauenschenken liegt, in eine Reziprozität zwischen einander Vertrauenden eingehen kann. Wer vertraut, muss seinerseits als jemand, dem möglicherweise vertraut werden kann, in Betracht kommen können. Genau das wird in der aktuellen rhetorischen Inanspruchnahme des Vertrauens zu ökonomischen Zwecken unterschlagen. Deshalb setze ich im Folgenden mit einer Zurückweisung dieses Missbrauchs ein (1.), gehe dann zu einer Klärung der Negativität über, die überhaupt erst dazu führt, dass Vertrauen als fragliches zum Vorschein kommt: und zwar so, dass nach einer ›Wiederherstellung‹ von Vertrauen verlangt wird (2.). Die Frage, ob und wie das durch die Stiftung von (neuem) Vertrauen (nicht aber technisch) möglich ist, ist Gegenstand einer quasi-ökonomischen Deutung des Vertrauens, auf die ich danach eingehe (3.), um sie anschließend auf die politisch-institutionelle Dimension des Vertrauens zurück zu beziehen (4.), in der es sich entscheidend darum handelt, ob und inwieweit auf politisches Vertrauen selbst Verlass sein kann.

7 Vgl. A. Baier, »Trust«, in: The Tanner Lectures on Human Values, Princeton, 6.–8. März 1991; http://tannerlectures.utah.edu/_documents/a-to-z/b/baier92.pdf, S. 109 f. 8 Vgl. G. Simmel, Soziologie [1908], Frankfurt/M. 1992, S. 393.

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Zum aktuellen historischen Kontext der Thematisierung von Vertrauen

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Zum aktuellen historischen Kontext der Thematisierung von Vertrauen

Vom Vertrauen ist in der Politischen Philosophie frühzeitig die Rede: In Platons Nomoi und in der aristotelischen Politik kommt es als pístis 9, im römischen Staatsdenken, etwa bei Cicero, als fides 10, in den naturrechtlichen Theorien der frühen Neuzeit als trust zur Sprache 11 – schon hier im doppelten Sinne: als Vertrauen im Staat und als Vertrauen in den Staat, wodurch die Frage aufgeworfen wird, wie beides zusammenhängt. 12 Während das Vertrauen für Aristoteles auf einer natürlichen Verbundenheit aller ruht, die einer politischen Lebensform zugehören und denen auf dieser Grundlage seines Erachtens alles daran liegen sollte, das télos des gemeinsamen Guten zu realisieren, steht für die radikalste neuzeitliche politische Theorie, die Thomas Hobbes im Leviathan dargelegt hat, nichts dergleichen mehr fest. So muss das Vertrauen die unmögliche Aufgabe übernehmen, einen deteleologisierten politischen Zusammenhalt überhaupt erst zu stiften, der keinerlei natürliche Grundlage mehr zu haben scheint. Und wo das Vertrauen – vor allem das Vertrauen in das gegebene Wort Anderer – dieser Aufgabe nicht gewachsen ist, muss die Furcht einspringen: sei es generalisierte Furcht voreinander, sei es Furcht vor einem mit allen erforderlichen Machtmitteln ausgestatteten Souverän, der die politischen Verhältnisse notfalls auch mit Gewalt befrieden wird, sei es die Furcht vor göttlichen Strafen, die im Fall eines Wortbruchs drohen. 13 Hobbes wollte Vertrauen in den Staat als Garanten inneren Friedens begründen, den dieser souverän, ganz aus eigener Machtvollkommenheit, sollte garantieren können. In dieser absoluten Überlegenheit sollte aber der Staat allemal wenigstens der Sicherheit des Lebens derer verpflichtet sein, die sich ihm unter dem Platon, Nomoi, 5. Buch, 738e; Aristoteles, Politik, V, 11, 1313b f., 1314a. M. T. Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), Stuttgart 2003, S. 23. Hier wird fides allerdings mit Verlässlichkeit übersetzt. 11 R. Tuck, Natural Rights Theories. Their Origin and Development, Cambridge 1979, S. 147 ff. 12 Eine zwar im modernen Staatsdenken frühzeitig aufgeworfene, aber keineswegs befriedigend beantwortete Frage. Vgl. F. Rosenzweig, Hegel und der Staat [1920], Berlin 2010, S. 147, 232, 235, 498, wo schon das Problem deutlich wird, ob das Vertrauen in ›den Staat‹ bzw. in Staatlichkeit als solche zu setzen ist oder ob es nur einer bestimmten Form des Regierens und der Verfassung gelten kann. 13 T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt/M. 1984, Kap. 14. 9

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Vorbehalt unterwerfen, dass er mit ihrer Selbsterhaltung nicht in Konflikt gerät. Rechtfertigt er das dem entsprechend in ihn gesetzte Vertrauen nicht, so muss die ihm übertragene Macht nach John Locke an diejenigen zurückfallen, die sie ihm verliehen haben. 14 Zweifellos sollte von einem modernen Rechtsstaat mehr zu erwarten sein, als (nur) die physische Integrität der Bürger zu gewährleisten. Doch bleibt es auch unter rechtsstaatlichen Bedingungen, die die Vereinbarkeit des freien Willens aller nach allgemein legitimierten Gesetzen garantieren sollen 15, dabei, dass sowohl die Bürger, die sich nach ihnen richten, als auch der Staat das entsprechende Vertrauen praktisch rechtfertigen müssen. Längst wissen wir freilich, historisch belehrt, wie eklatant Bürger und Staaten dieses Vertrauen verraten können. So sprach Martin Buber im November des Jahres 1939 anlässlich der sog. »Reichspogromnacht« von einem »der grauenhaftesten Beispiele für den Verrat des Staates« an seinen Bürgern. 16 Ernst-Wolfgang Böckenförde diagnostizierte später mit Blick auf die gleiche Zeit einen Bürgerverrat am Staat, der indirekt, nämlich durch einen Verrat der Bürger an ihren jüdischen (u. a.) Mitbürgern, katastrophale Ausmaße angenommen habe. 17 Diesen Verrat deuten wir heute als schutzlose Auslieferung von Mitbürgern, aber auch von displaced persons, Deportierten, Exilanten, Flüchtlingen und Fremden jeglicher Couleur an beliebige Gewalt, die ihnen schließlich überhaupt keinen rechtlichen, ethischen oder menschlichen Anspruch mehr zuerkannte und insofern absolut ›souverän‹ mit ihnen verfahren ist. 18 Der Begriff des Rechtsstaats ist in seiner heutigen Form die historische Antwort auf diesen Verrat. Mindestens besagt er, dass niemand, auch kein Fremder, der keine Bürgerrechte genießt, schutzlos der Gewalt Anderer ausgeliefert werden darf. Insofern ein Rechtsstaat dies tatsächlich gewährleistet, verdient er prima facie unser Vertrauen. Zweifellos ergab sich aus den einschlägigen historischen ErfahJ. Locke, Über die Regierung (The Second Treatise on Government), Stuttgart 1992, Kap. XIII. 15 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, §§ 43 ff., S. 429 ff. 16 M. Buber, »Zum Jahrestag der Kristallnacht« (November 1939), in: Politische Schriften, Frankfurt/M. 2010, S. 738–743, hier: S. 738 (Hervorhebg. im Zitat B. L.). 17 Siehe Anm. 9 zu Kap. XXIII. 18 Der Bürgerverrat etwa hatte, lange bevor er in tödliche Konsequenzen mündete, eine Vorgeschichte der Diskriminierung, der Ausgrenzung und Entrechtung. 14

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Zum aktuellen historischen Kontext der Thematisierung von Vertrauen

rungen mit staatlicher Souveränität im 20. Jahrhundert ein nachhaltiger Vertrauensverlust, nach dem es überhaupt nicht mehr möglich und denkbar scheint, Mitbürgern oder irgendeinem Staat vorbehaltlos Vertrauen zu schenken. 19 Das gilt auch für demokratische und liberale Rechtsstaaten. Unvermeidlich leiden sie nämlich am »Paradox des Politischen«, das darin liegt, dass ihnen im gleichen Maße neue, jederzeit zu missbrauchende Gewaltpotenziale zuwachsen, wie ihre Institutionen eine innere Pazifizierung der politischen Verhältnisse zu versprechen scheinen. Jacques Derrida verschärfte diese Diagnose Paul Ricœurs 20 noch, indem er nachwies, dass keineswegs nur ein als rogue state denunzierter Feind Amerikas, sondern grundsätzlich jeder Souveränität für sich in Anspruch nehmende Staat zum »Schurkenstaat« werden kann. 21 Es ist demnach keineswegs so, dass der moderne demokratische Rechtsstaat als unproblematische Garantie politischen Vertrauens in politische(n) Institutionen gelten kann, für deren Vertrauenswürdigkeit er einstehen müsste. Dieser Befund der Dekonstruktion souveräner Staatlichkeit als solcher wurde nach ›9/11‹ veröffentlicht, ein halbes Jahrzehnt also vor der internationalen Finanzkrise des Jahres 2008, die schonungslos offenbart hat, wie weitgehend die heute mächtigsten Staaten die Kontrolle über eine entfesselte Ökonomie verloren haben 22, die ihrem angestammten Namen geradezu spottet. Weder kennt sie einen nómos verbindlicher Regeln und Gesetze, an die sie sich in ihrem spekulativen Gebaren zu halten bereit sein müsste, noch weiß sie offenbar etwas von einem oíkos politischen Lebens, dem sie zu dienen hätte – wenn wir Kritikern eines Finanzkapitalismus Glauben schenken, die nicht müde werden, eine längst fällige, in der Ökonomik bereits von Karl Polanyi angemahnte Rückbesinnung auf den Primat des Politischen einzuklagen. Ausgerechnet der (noch längst nicht ausgestandenen) Krise dieser Form der Chrematistik 23 haben wir eine rhetorische Karriere des Vertrauens zu verdanken, mit dessen Verlust man vor allem auf dem Die Rede ist in diesem Zusammenhang von »zerstörtem« Vertrauen in Staatsangehörigkeit als solche; vgl. D. Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 402 f., 645. 20 P. Ricœur, Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 249, 264, 324. 21 J. Derrida, Schurken, Frankfurt/M. 2003. 22 J. Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Berlin 22011; W. Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Erweiterte Ausgabe, Berlin 2015. 23 K. Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 182. 19

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XXIV · Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen

euphemistisch so genannten ›Parkett‹ jener Börsen jederzeit drohen kann, an denen man sich nicht gescheut hat, gegen die finanzielle Stabilität ganz Europas zu wetten. Eine eilfertige Politik ist seitdem unablässig darum bemüht, sich in der nur vermuteten, öffentlich nicht namentlich identifizierten Perspektive der kapitalkräftigsten Investoren und Spekulanten als unbedingt vertrauenswürdig zu erweisen. So konnten die viel zitierten ›Märkte‹ 24 angeblich zum Weltgericht aller Staatlichkeit aufrücken, ohne dass gegen ihr Urteil Berufung einzulegen wäre. Demnach würden die Staaten einem kafkaesken Prozess unterliegen, den sie verlieren müssen, sobald er einmal in Gang gekommen ist. Seitdem sich die Politik transnationalen Märkten unterworfen hat, um sich ständig deren Vertrauen zu verdienen, tritt es als die wichtigste moralische ›Währung‹ auf, die man angeblich nicht verspielen dürfe, wenn man auch nur Geld geliehen haben möchte. Überschuldeten Staaten, die sich aus einer nicht mehr terminierbaren Schuldknechtschaft (debt bondage; debt enslavement 25) nach Lage der Dinge nicht mehr mit eigener Kraft befreien können, verlangt man ab, jederzeit zu dieser unbedingten Vorleistung bereit zu sein: sich das Vertrauen der Märkte in politische Institutionen zu verdienen – am besten so, dass man ihrer weitgehenden Deregulierung keinerlei Widerstand entgegensetzt. Ob das als »Neo-Liberalismus« treffend gekennzeichnet wird, bleibe dahingestellt. Doch ist es unerlässlich, den skizzierten historischen Kontext mit im Blick zu behalten, wenn man verstehen möchte, wie heute das Vertrauen zur Sprache gebracht wird – sei es als geradezu erpresserische Forderung, sich einseitig des Vertrauens von ›Geldgebern‹, Investoren, global players und Spekulanten würdig zu erweisen, die sich ihrerseits scheinbar gar keiner Frage nach ihrer Vertrauenswürdigkeit stellen müssen, sei es als bloßer Euphemismus, der kompensatorisch über unzuverlässig erscheinende politische Verhältnisse hinwegtäuschen soll. In dieser Lage zieht sich die auch in den Kulturwissenschaften populär gewordene Rede von Vertrauen ideologieBezeichnenderweise setzt Streeck diesen Begriff fast durchgängig in Anführungszeichen, offenbar auch um anzudeuten, dass den ›Märkten‹ quasi Subjektstatus zukommt, obgleich sich die Frage, »wer« sie »eigentlich sind«, für ihn derzeit kaum beantworten lässt (Streeck, Gekaufte Zeit, S. 162). Dem entsprechend ist auch von Vertrauen in ›Märkte‹ bzw. vom Vertrauen der ›Märkte‹, das sich massiv verschuldete Staaten ständig ›verdienen‹ sollen, fast immer ironisch die Rede (ebd., S. 69). 25 Vgl. Anm. 9 zu Kap. XXVI und Anm. 7 zu Kap. XXVII. 24

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Zum aktuellen historischen Kontext der Thematisierung von Vertrauen

kritisches Misstrauen zu, wenn sie nicht nüchtern zu Werke geht, um sorgsam zu unterscheiden: wer (wie) in was oder in wen überhaupt ›Vertrauen setzen‹ kann, will oder muss; wer danach verlangt, Vertrauen zur Sprache zu bringen und von neuem zu stiften oder zu ›investieren‹ ; und warum das geschehen soll – sei es in interpersonell-sozialen, sei es in anonymen staatlichen oder politisch-transnationalen, hochgradig institutionell und systemisch vermittelten Verhältnissen. Vor allem dem Umstand, dass offensichtlich geworden ist, wie prekär diese vor allem in ökonomischer Hinsicht sind – und zwar nach wie vor, da die Ursachen der Finanzkrise des Jahres 2008 im Wesentlichen fortbestehen –, ist die diskursive Konjunktur des Vertrauens zu verdanken, die nicht wenige Kritiker dazu veranlasst hat, dieses außerordentlich schwer zu beschreibende Phänomen gegen euphemistischen, moralistischen und ökonomistischen Missbrauch in Schutz zu nehmen. Wobei manche so weit gegangen sind, den Begriff ganz auf den Bereich des ›Zwischenmenschlichen‹ zu beschränken, trotz Niklas Luhmanns Versuch, ihm systemtheoretische Relevanz abzugewinnen. 26 Verbürgen aber nicht allein Menschen das Funktionieren von Institutionen – auch wenn diesen eine gewisse Eigenlogik zukommt? Schon diese einfache (und keineswegs neue) Frage steht jedem Versuch im Weg, das Vertrauen entweder dem sog. Zwischenmenschlichen vorzubehalten oder es als »Systemvertrauen« gänzlich von letzterem abzukoppeln. Bei näherem Hinsehen zeigt es sich immer wieder, wie sehr sich Phänomene eines Vertrauens, das Anderen gilt, mit Phänomenen eines Vertrauens verschränkt erweisen, die sich auch in einer Sprache der Verlässlichkeit beschreiben lassen. 27 Wir vertrauen jemandem; auf etwas verlassen wir uns. Aber worauf wir uns glauben verlassen zu können, wird vielfach durch Andere verbürgt, die ihrerseits das ihnen entgegengebrachte Vertrauen geraN. Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1989. 27 D. Gambetta (Hg.), Trust. Making and Breaking Cooperative Relations, Oxford 1988; M. Hartmann, C. Offe (Hg.), Vertrauen, Frankfurt/M., New York 2001; B. Dernbach, M. Meyer (Hg.), Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2005; L. Boltanski, È. Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006, S. 419, 427, 434, 550; A. Grøn, C. Welz (eds.), Trust, Sociality, Selfhood, Tübingen 2010; Erwägen – Wissen – Ethik (EWE) (2011); U. Frevert (Hg.), Vertrauen. Eine historische Annäherung, Göttingen 2003; dies., Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013; dies., »Vertrauen in der Krise«, in: Gegenworte 29 (2013), S. 69 f. 26

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de dadurch rechtfertigen, dass man sich auf sie verlassen kann. Allerdings haben wir normalerweise überhaupt keinen Grund, darauf Gedanken zu verschwenden, denn in (bruchlosem) Vertrauen und in (tatsächlicher) Verlässlichkeit leben wir, ohne dass uns beides als solches überhaupt zu Gesicht kommen würde. Auf Verlässlichkeit als solche braucht man keinerlei Gedanken zu verschwenden, solange man mir ihr rechnen kann; und Vertrauen wird als solches erst bedacht, wenn es gestört oder zerstört erscheint bzw. wenn wir mit der Erfahrung konfrontiert sind, uns auf Andere oder auf etwas nicht mehr verlassen zu können. Aufgrund der angedeuteten Verschränkung von Vertrauen und Verlässlichkeit kann es dabei zu gegenseitigen Übergriffen und Fehlinterpretationen kommen: Fragen des Vertrauens werden auf eine mehr oder weniger kalkulierbare Verlässlichkeit reduziert und umgekehrt Probleme der Verlässlichkeit ganz und gar als Vertrauensprobleme moralisiert. Letzteres geschieht paradoxerweise gerade im Verweis auf jene ›Märkte‹, deren Vertrauen wettbewerbsfähige Staaten und deren Bürger sich verdienen sollen, ohne dass klar wäre, wem das Vertrauen eigentlich geschuldet sein soll und ob hier Subjekte im Spiel sind, die ihrerseits das geringste Vertrauen verdienen. Wie ein Gott entziehen sie sich der Sichtbarkeit und stehen zugleich in dem Ruf, das ökonomische Gebaren aller ständig zu beobachten und ggf. strengstens, nämlich mit dem ökonomischen Ruin, zu ahnden. Gestützt auf die avancierteste virtuelle Technologie sehen sie alles, was sie finanziell angeht, lassen sich aber selbst nicht sehen. Von ihrem Urteil, dem auf diese Weise höchste, inappellable Macht zukommt, hängt das Wohl und Wehe ganzer Staaten und Wirtschaften ab, die sich dem Gebot, sich als ökonomisch ›vertrauenswürdig‹ erweisen zu müssen, nolens volens unterwerfen. So kann im Namen der ›Märkte‹ (der shareholder, der ›Anleger‹ und anonymer Spekulanten) Vertrauen eingefordert und erpresst werden, das jeglicher Gegenseitigkeit entzogen wird, so dass sie sich niemals einer Vertrauensfrage stellen müssen. Diese absolute, durch nichts kompensierte Asymmetrie ist ein starker Hinweis darauf, dass wir es im Fall des ökonomistischen Diskurses über Vertrauen, dem die jüngste Konjunktur dieses Themas zu verdanken ist, mit einem exzessiven rhetorischen und quasitheologischen Missbrauch dieses Begriffs zu tun haben. Denn abgesehen von der Theologie, die Gott in absoluter Asymmetrie ein unbedingtes, im Grunde keiner Rechtfertigung bedürftiges und den Menschen geschenktes Vertrauen (hier als Glaube fast gleichbedeutend 868 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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mit pistis, fides 28) zuschreibt 29, war in der Tradition politischen Denkens doch von Anfang an klar, dass diejenigen, die Vertrauen schenken oder entziehen können, auch ihrerseits unter Bedingungen niemals garantierter bzw. fragloser Vertrauenswürdigkeit existieren. Wer zwischen Vertrauen und Misstrauen schwankt, hat es demnach mit Anderen zu tun, die grundsätzlich in der gleichen Lage sind und dem Problem, in politischen Verhältnissen miteinander auf Vertrauen angewiesen zu sein, nicht dadurch ausweichen können, dass sie es auf kalkulierbares Wissen oder auf mehr oder weniger berechenbare Verlässlichkeit reduzieren. Nur wenn es im Verhältnis zu Anderen und als Verhältnis zu Anderen hinsichtlich seiner reziproken Dimension bedacht wird, ist das Vertrauen davor zu bewahren, einer quasi politisch-theologischen Instrumentalisierung zum Opfer zu fallen, durch die ökonomische Akteure, die sich selbst keiner Vertrauensfrage stellen müssen, dazu ermächtigt werden, allen anderen den Nachweis ihrer Vertrauenswürdigkeit abzuverlangen. Der begründete Verdacht, dass wir es heute mit einer ökonomistischen Okkupation des Vertrauens zu tun haben, die dieses Phänomen um seine politisch-reziproke Dimension zu bringen droht, ist m. E. Grund genug, sich ihm noch einmal phänomenologisch-hermeneutisch zuzuwenden, um zu klären, wie es sich überhaupt zeigt und wonach es als solches verlangt. Das ist es, was ich im Folgenden zeigen möchte: dass sich Vertrauen zunächst nur als in Frage gestelltes zeigt und dass es nach einer problematischen ›Wiederherstellung‹ verlangt, die überhaupt keiner (politischen oder ökonomischen) Technik zu Gebote steht.

2.

Negativität als Ausgangspunkt

Ungetrübtes Vertrauen ist menschlichen Beziehungen und Verhältnissen stets nur nachträglich zu attestieren: Wir haben ihnen bzw. Anderen vertraut. Das sagt aber zunächst nur: wir hatten keinen Anlass zu Misstrauen. In dem Moment, wo wir uns fragen, ob wir ›wirklich‹ vertrauen oder vertraut haben, kommt wenigstens mögliches 28 G. Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt/M. 2006, S. 127 ff. 29 M. Seckler, S. Berchtold, »Glaube«, in: P. Eichler (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 2, München 1991, S. 232–252.

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Misstrauen ins Spiel. Niemals reden wir so gesehen von ›reinem‹ Vertrauen. So ist die Negativität gestörten oder zerstörten Vertrauens, das zu Misstrauen Anlass gibt, der Ausgangspunkt unseres Fragens nach diesem Phänomen, das unserer Aufmerksamkeit normalerweise umso mehr entgeht, wie es soziales und politisches Leben positiv bestimmt. Prekäres und zweifelhaftes Vertrauen veranlasst dazu, nach Ursachen und Gründen zu fragen, die für diese Negativität verantwortlich zu machen sind – womit vielfach das Problem verknüpft wird, wie Vertrauen ggf. wiederzugewinnen wäre. Was für die Negativität eingebüßten Vertrauens verantwortlich ist, ist zu ändern, damit Vertrauen ›wiederhergestellt‹ werden kann. Diese Negativität verweist also auf anderes, durch das – stets indirekt – Vertrauen wieder möglich werden soll, vorausgesetzt, es gilt nicht als ganz und gar zerstört. Wer wiederholt gelogen, Andere hintergangen, intrigiert, verraten oder bestohlen hat, verdient kein Vertrauen mehr und läuft Gefahr, seine Vertrauenswürdigkeit endgültig einzubüßen, so dass ihn nichts mehr ›rehabilitieren‹ kann. Umgekehrt ergibt sich erst aus solchen Negativerfahrungen, was wir mit Vertrauen für unvereinbar halten. Im Vorhinein scheint es aber nicht möglich zu sein, eine erschöpfende Liste aufzustellen. Vertrauen kann durch unübersehbar viele Erfahrungen gestört und ruiniert werden. Auf den ersten Blick zeichnet sich nur dies als Gemeinsamkeit ab: wer vertraut, ist verletzbar und durch diese Verletzbarkeit Anderen ausgesetzt. 30 Im enttäuschten Vertrauen muss man realisieren, schutzlos verletzt worden zu sein. Was man Anderen im Vertrauen gesagt hat, haben sie weitergegeben; was man ihnen anvertraut hatte, wurde entwendet oder ohne unser Wissen missbraucht; nicht einmal unser ›Leib und Leben‹ war vor ihnen sicher. So kann alles, was uns ausmacht oder ausgemacht hat – was wir getan haben, was uns gehörte und selbst unser Dasein –, von enttäuschtem Vertrauen nachträglich in Mitleidenschaft gezogen, ruiniert und gegen uns gewendet »Es gibt kein größeres Vertrauen […] als das, in dem man sich entblößt«, heißt es bei J.-L. Nancy. Umgekehrt gilt jedoch auch: es gibt »kein Vertrauen, das nicht entblößt«. Die Frage ist aber, was bloßgelegt oder entblößt wird. Nur das Selbst dessen, der vertraut, oder darüber hinaus auch der Befund, »was vom Gemeinsamen nicht gegeben ist«? Vgl. J.-L. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 44. An dieser Stelle wäre der schon von N. Luhmann und A. Baier betonte Gedanke der im Vertrauen »akzeptierten Verletzbarkeit« zu vertiefen. Siehe auch M. Hartmann, »Akzeptierte Verletzbarkeit. Elemente einer normativen Theorie des Vertrauens«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51, Nr. 3 (2003), S. 395–412.

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werden. Im äußersten Fall so, dass wir uns ganz und gar verraten fühlen müssen. So drängt sich die Schlussfolgerung auf: auf Vertrauen angewiesene Wesen sind durch Andere rückhaltlos verletzbar; d. h. hier: dass sie in allem, was sie sagen, tun und sind, durch Andere verraten werden können. Im enttäuschten Vertrauen nagt der Verdacht des Verrats, sofern er nicht ohnehin offen zu Tage liegt. (Aus dem Affekt des Verrats folgt allerdings keineswegs, dass wir wirklich verraten worden sind.) Das Verraten-werden-können ist unvermeidlich, solange man überhaupt vertraut. Im Wissen darum, dass man den Verrat nur gleichzeitig mit dem Vertrauen aus seinem Leben zu eliminieren versuchen kann, lassen wir uns auf rückhaltlose Verletzbarkeit ein, indem wir vertrauen. Denn schlimmer, als nicht verraten werden zu können, insofern man gar kein Vertrauen schenkt, scheint es zu sein, gar nicht vertrauen zu können. Denn das schafft nicht nur den Verrat, sondern auch die Möglichkeit, in gerechtfertigtem Vertrauen nicht verraten zu werden, aus der Welt. Das bedeutet indessen nicht, dass wir hier ganz frei zu wählen hätten, so als stünden wir vor zwei gleichberechtigten Optionen. Wir können uns zwischen Vertrauen und Verrat einerseits sowie verweigertem Vertrauen und möglichst weitgehender Immunisierung gegen Verrat andererseits nur entscheiden wollen, nachdem wir die tief greifende Erfahrung enttäuschten Vertrauens bereits haben machen müssen. Sonst wüssten wir gar nicht, wovon die Rede ist. Wir kommen weder als jedem Anderen Misstrauende noch als jedermann Vertrauende fertig zur Welt. Die verbreitete Rede von einem Ur- und Weltvertrauen 31 unterschlägt genauso wie die generalisierte These, jedem sei zunächst zu misstrauen, dass sich die Differenz zwischen Vertrauen und Misstrauen bzw. Verrat überhaupt erst infolge negativer Erfahrungen abzeichnen kann, in denen gelernt werden muss, eigenes und fremdes Vertrauen in Frage zu stellen, zu beschränken, mit Vorsicht und Vorbehalten zu versehen, was so weit gehen kann, nur noch unter speziellen Voraussetzungen oder gar nicht mehr vertrauen zu wollen (selbst wenn sich das sensu stricto als unmöglich erweisen sollte). 32

Meist wird sie auf den Psychoanalytiker Erik H. Erikson zurückgeführt, der das Urvertrauen auch als Weltvertrauen deutet, etwa in: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/M. 61980, S. 62 ff. (siehe auch die Anm. 37 zu Kap. XXII). 32 Bei Erikson ist zwar von einem »Urmisstrauen« die Rede; aber es wird ebenfalls als erst nachträglich sich abzeichnendes beschrieben (ebd., S. 63). 31

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So schwer das Phänomen enttäuschten Vertrauens wiegt, insofern es in die Konsequenz münden kann, sich ganz und gar verraten zu fühlen und zu gar keinem Vertrauen mehr bereit zu sein, so rätselhaft muss es erscheinen, warum man überhaupt von der ›Wiederherstellung‹ zerstörten oder gestörten Vertrauens spricht – als ob es eine Technik des Vertrauens geben könnte und als ob wir dazu in der Lage wären, durch erneutes Vertrauen enttäuschtes Vertrauen aufzuheben. Steht uns aber Vertrauen überhaupt auf diese Weise zu Gebote? Können wir vertrauen? Ist das eine Frage des Könnens? Wer ›Vertrauen schenkt‹, wie man sagt, muss das wohl auch können. Was ›tun‹ wir aber eigentlich, wenn wir vertrauen? Ist Vertrauen überhaupt eine Art Tun? Ist die Rede von Vertrauen ein guter Wegweiser in dieser Hinsicht? Sprechakte wie diese: »ich vertraue dir …«, »mir kannst du vertrauen«, »vertraue mir!« 33 suggerieren tatsächlich, Vertrauen sei eine Art Können. Praktisch bedeutet Vertrauen zu schenken jedoch weniger eine Aktivität, die wie ein Können in unserer Macht liegt, als vielmehr eine Passivität des Sichauslieferns und des Verzichts. Indem wir vertrauen, setzen wir uns der Enttäuschung und Zerstörung des Vertrauens bis hin zum Verrat aus und verzichten dennoch darauf, uns durch irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen dagegen wappnen zu wollen. Wer darauf nicht verzichten mag, beweist nur, dass er das Vertrauen als solches gar nicht verstanden hat bzw. nicht zu vertrauen bereit ist, sondern Kontrolle für besser hält. Kontrolle ist aber niemals ein Ersatz für Vertrauen, wie es ein vermutlich fälschlicherweise Wladimir I. Lenin zugeschriebenes 34, stereotyp kolportiertes Zitat vermeintlich besagt. Wir vertrauen Anderen nicht etwa mangels besseren Wissens, durch das Vertrauen überflüssig werden könnte, sondern gerade angesichts dessen, dass sie sich als Andere jeglichem definitiven Wissen entziehen. Vertrauen geht so in unser Leben ein, dass es in diesem Sinne die Alterität des Anderen bekräftigt und gerade nicht leugnet oder zu kaschieren sucht. Was immer wir über Andere in der Form von Wissen in Erfahrung bringen können, sie werden niemals darin aufgehen. Vertrauen heißt, sich dem mehr oder weniger ungeschützt auszuliefern, um auf diese Weise Anderen die Gelegenheit zu geben, das darin liegende Vertrauen nicht zu entAnnette Baier (»Trust«, S. 113) versteht solche Sprechakte als Gefahrensignale, die anzeigen, dass das Vertrauen bereits prekär geworden ist. 34 http://www.zeit.de/stimmts/2000/200012_stimmts_lenin 33

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täuschen. Auslieferung stiftet Vertrauen, wenn man sich selbst zu ihr bereitfindet. Dass (und wie weitgehend etc.) vertraut wird, zeigt sich demnach indirekt daran, dass man nichts verschlossen verwahrt, die Haustür offen lässt, Andere herein bittet, ohne zuvor wissen zu wollen, um wen es sich handelt, dass man sein Haus Gästen überlässt, Nahrungsmittel an der Straße unbeaufsichtigt feilbietet, usw. Jedes Mal handelt es sich um mehr oder weniger harmlose oder auch rückhaltlos-radikale Formen des Sichaussetzens 35 oder des Sichauslieferns, die zahllose Möglichkeiten eröffnen, sie zu missbrauchen. Bevor es dazu kommt, ist im Einzelfall schwer zu entscheiden, ob es sich wirklich um Formen des Vertrauens, um Sorglosigkeit, um schiere Gedankenlosigkeit oder um bloße Unvermeidlichkeit handelt. Was man wirklich im Vertrauen oder gedanken- und sorglos oder bloß unvermeidlich getan hat, wird sich nur nachträglich klären lassen, wenn die Negativität einer Enttäuschungserfahrung zum Vorschein kommt. Dann steht auf dem Spiel, wodurch Vertrauen (nicht) ›gerechtfertigt‹ erschien, wer es (nicht) ›verdiente‹ oder ›erweckte‹, ggf. um Andere damit zu täuschen. Typischerweise heißt es dann, man habe ›sich‹ im Anderen getäuscht – mit der Folge, dass dem Betreffenden überhaupt kein Vertrauen mehr entgegengebracht und in jeder Hinsicht und jederzeit misstraut wird. Nach wiederholten Erfahrungen dieser Art mag die Generalisierung naheliegen: nicht nur diesem, sondern allen Anderen sei nicht zu vertrauen bzw. sie verdienten kein Vertrauen. Am Ende wäre das Vertrauen in Andere ganz und gar und irreversibel zerstört und würde sogar die Welt in Mitleidenschaft ziehen 36, die wir mit Anderen teilen und die nur durch das Zusammenleben mit und unter Anderen überhaupt Bestand hat. In der Frage, ob und inwieweit ein sogenanntes Weltvertrauen völlig ruiniert werden kann, herrscht allerdings eine bemerkenswerte Uneinigkeit. So beschreibt der Phänomenologe Klaus Held die Welt mit Edmund Husserl als einen »niemals abbrechenden Verweisungszusammenhang« 37 und attestiert ihr ein »ungebrochenes Vertrauen« in diesen Zusammenhang. Dagegen sah Hannah Arendt jegliches »Vertrauen in die Wirklichkeit« (nicht zuletzt in die eigene WirklichVf., »Ausgesetztes, unvertrautes Vertrauen«, in: Erwägen – Wissen – Ethik (EWE) 22, Heft Nr. 2 (2011), S. 287 ff.; sowie das Kapitel XXIII. 36 E. Diesel, Die Macht des Vertrauens, Stuttgart 1948, S. 60. 37 K. Held, Phänomenologie der politischen Welt, Frankfurt/M. 2010, S. 19, 22, 132. 35

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keit) bzw. in die »Welteigenschaft des Wirklichseins« nach einschlägigen Erfahrungen mit totaler Herrschaft in Frage gestellt. 38 Arendt unterstellte aber nicht, dass die von ihr beschriebenen historischen Erfahrungen für alle Zeiten jedes (politische) Vertrauen in Andere bzw. in Institutionen, die durch ein politisch formiertes Zusammenleben mit und unter Anderen getragen werden, unmöglich machen müsste. Im Gegenteil lag ihr (Vita activa macht das ganz deutlich) an der Wiederherstellung institutioneller politischer Strukturen, die Vertrauen verdienen und die nicht unmittelbar oder im Ganzen dadurch unglaubwürdig werden, dass man sich in bestimmten Anderen getäuscht sieht. So sehr sie auch das politische Denken durch »Dinge« in Frage gestellt sah, »die niemals hätten geschehen dürfen« und die jegliches »Zutrauen« in die Zukunft der menschlichen Gattung zu zerstören drohten, wie sie in Anlehnung an Kant sagte 39, so wenig wollte sie zugestehen, dass politische Institutionen nach dieser Erfahrung überhaupt kein Vertrauen mehr verdienen. 40 Weder berief sie sich auf ein von Fjodor Dostojewski beschriebenes unerschütterliches »Leben im völligen Vertrauen« 41, dem weder Erdbeben noch Feuersbrünste, Tsunamis oder größte Verbrechen scheinbar etwas anhaben können, weil es mit der ›felsenfesten‹, von keiner Theodizee-Kritik angefochtenen Überzeugung einhergeht, dass letztlich »alles zum Besten dient« (Charles Lyell 42), noch stellte sie angesichts »permanenter Korruptibilität« der politischen Verhältnisse, wie sie seit Niccolò Machiavelli immer wieder diskutiert worden ist 43, jegliches Vertrauen in Andere in Frage, wie es von René

H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Bd. 1. Das Denken, München, Zürich 21989, S. 60. 39 H. Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München, Zürich 2 2006, S. 17, 43. 40 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 41985, § 34. 41 F. M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, Frankfurt/M. 182002, S. 29. 42 Zit. n. S. J. Gould, Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde, München 1992, S. 253. Auch solches Vertrauen wird, daran kann seine Beschwörung nichts ändern, gegen eine Erschütterbarkeit gesetzt, die vorausgeht: Von unerschütterlichem Vertrauen weiß ich gar nicht, solange es nicht beeinträchtigt worden ist. Ist angeblich unerschütterliches Vertrauen nicht in Wahrheit eine Art Wette darauf, dass man stets wieder Vertrauen fassen wird im Vertrauen auf einen Anderen, der absolutes Vertrauen verdiene? 43 H. Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 22007, S. 265. 38

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Descartes’ dieu trompeur 44 bis hin zu Franz Kafka 45 geschehen ist. Stattdessen schlug sie in ihrer Politischen Theorie einen dritten Weg jenseits der schlechten Alternative ein, entweder volles, ungetrübtes Vertrauen zu haben 46 oder die Zerstörung jeglichen Vertrauens hinnehmen zu müssen. Auf diesem Weg schien ihr sowohl eine wiederholte Zerstörung von Vertrauen als auch dessen Wiedergewinnung denkbar. Um den Zusammenhang zwischen derart radikaler Gefährdung jeglichen Vertrauens einerseits und Bedingungen der Stiftung, der Stabilisierung und der Resistenz dauerhaften, enttäuschungsfesten Vertrauens andererseits besser verstehen zu können, ist es unerlässlich, das Vertrauen prozessual zu denken. In vollem, ungetrübtem Vertrauen mag man eine Zeitlang leben; aber als solches kommt es uns nach dem eingangs Gesagten allenfalls nachträglich als bereits getrübtes zu Gesicht. An die Stelle eines solchen Vertrauens kann dann kein reines, nichts auslassendes Misstrauen treten, das Anderen gar nichts mehr ›abnehmen‹ dürfte, nicht einmal eine Geste, eine simple Aussage oder Information. 47 Stets bewegen wir uns in Grauzonen zwischen mehr oder weniger Vertrauen und Misstrauen bzw. Verrat – und nicht nur mit Blick auf einen Anderen, sondern viele Andere im geschichtlichen Horizont zahlloser anonymer Anderer, die als Nachbarinnen, Kollegen, Mitbürgerinnen oder Zeitgenossen in ebenso weit gespannten Vertrauens- und Misstrauenshorizonten mit uns koexistieren. So gesehen steht von vornherein zu erwarten, dass wir es beim Vertrauen nirgends mit einem einheitlichen Phänomen, das unser Leben im Ganzen bestimmen würde, sondern mit einem vielfach spezifizierten, gleichsam regionalisierten, mehr oder weniger generalisierten, zeitlich und dimensional (sozial, politisch, ökonomisch usw.) differenzierten Phänomen zu tun haben. Der gängigen politischen Siehe die dritte der Meditationen über die Erste Philosophie. F. Kafka, »Der Bau«, in: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß, Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt/M. 1976, S. 132–165, hier: S. 144. »Vertrauen kann ich nur mir« selbst, sagt hier derjenige, der sich in seinem Bau verschanzt hat und es für unmöglich hält, »jemandem aus […] einer anderen Welt heraus […] völlig zu vertrauen«. 46 Vgl. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 31984, S. 180; A. Callié, Anthropologie der Gabe, Frankfurt/M. 2008, S. 59 ff., 108 f. 47 J. N. Shklar spricht in Political Thought and Political Thinkers, Chicago 1998, S. 109, von einem »Fetisch des Misstrauens«. 44 45

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Rhetorik, die den Eindruck erweckt, das Vertrauen, an das sie moralisch appelliert und das sie wie eine unerschöpfliche Ressource einfordert und beschwört, sei ein einheitliches Phänomen, das man jederzeit als eine Art soziales bzw. ökonomisches Bindemittel in Anspruch nehmen könne, sollte man in diesem Punkt keinen Glauben schenken. Hier gilt, was schon Bertolt Brecht im Leben des Galilei festgestellt hat: »Vertrauen wird dadurch erschöpft, dass es in Anspruch genommen wird.« 48 Deshalb weckt gerade diese Rhetorik nachdrückliche Zweifel an der Rede, die sie ständig im Munde führt. Mehr als alle anderen verdienen diejenigen Misstrauen, die immerzu von Vertrauen reden. Nichts droht Vertrauen derart zu verspielen und zu ruinieren wie das Reden davon, das es für sich in Anspruch nimmt. Wenn aber nicht die Rede von Vertrauen, die es einfordert, in Anderen Vertrauen bewirkt 49, wie kommt es dann (wieder) zustande, wie bewährt es sich und wie kann es sich dem Verrat entgegenstemmen (vorausgesetzt, Verrat ist nicht geradezu geboten, wo Andere oder Institutionen keinerlei Vertrauen verdienen)? Im Folgenden greife ich eine quasi-ökonomische Deutung des Vertrauens als eines ›fiduziären Funktionszusammenhangs‹ auf, um anschließend die Frage aufzuwerfen, ob sie sich auf politische Institutionen angewandt bewähren kann.

3.

Vertrauen stiften – eine Art Investition?

Wer sagt, er ›habe‹ kein Vertrauen, bringt entweder zum Ausdruck, dass er es verloren hat, oder dass er keines mehr zu ›schenken‹ bereit ist. Diese Redewendung legt nahe, Anderen entgegengebrachtes Vertrauen nach einer Logik der Gabe zu deuten. Die um diese Logik geführte Diskussion der letzten Jahre hat aber gezeigt, dass sie sich sowohl ökonomisch als auch an-ökonomisch rekonstruieren lässt. Während man in der von Marcel Mauss bis hin zu Marcel Hénaff reichenden Tradition jede Gabe und jedes Geschenk in eine Ökonomie der Reziprozität eingefügt gedacht hat, hat vor allem Jacques Derrida alles, was wirklich ›gegeben‹ wird, jeglicher Ökonomisierbarkeit zu

B. Brecht, »Leben des Galilei«, in: Stücke, Bd. VIII, Berlin, Weimar 1968, S. 100. Vgl. M. Buber, »Die Sowjets und das Judentum« [1960], in: Politische Schriften, S. 668–768, hier: S. 676.

48 49

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Vertrauen stiften – eine Art Investition?

entziehen versucht. 50 Wie eine Gabe dürfte in dieser Sicht auch das geschenkte Vertrauen keinesfalls darauf berechnet sein, von seinen Adressaten her erwidert zu werden. Genau das aber ist für Autoren das Entscheidende, die das Vertrauenschenken als einen ›fiduziären Funktionszusammenhang‹ auffassen, der laut Paul Valéry ein »Credo oder Kredit voraus[setzt]«, so dass die Rechtfertigung des Vertrauens zu einer Art Schuld wird, in der diejenigen stehen, denen Vertrauen geschenkt wurde. 51 Demnach versetzt derjenige, der vertraut, diejenigen, denen er vertraut, in die Position moralischer Schuldner. Das angeblich ›geschenkte‹ Vertrauen erscheint so als Vorleistung eines Gläubigers, der einen moralischen Anspruch darauf hat, dass man sein Vertrauen nicht enttäuscht. Es nicht zu enttäuschen oder vielmehr das Vertrauen positiv dadurch zu rechtfertigen, dass man es nicht enttäuscht, stellt dann die Einlösung dessen dar, was man dem als Gläubiger des Vertrauens aufgefassten Anderen schuldet. 52 Streng genommen schenkt man also gar kein Vertrauen, man investiert es vielmehr mit Blick auf einen Ertrag, der in der Rechtfertigung des Vertrauens durch den Schuldner zu sehen wäre. Auf diese Weise setzt man die Geltung einer moralischen Ökonomie, durch die die Beteiligten einander verbunden sind, bereits voraus. Kann eine solche Ökonomie dagegen nicht vorausgesetzt werden – wie in allen Fällen, in denen Vertrauen überhaupt erst originär Anderen zugemutet und nicht aufgrund bereits ›berechtigter‹ Erwartungen einfach verlangt wird –, bedeutet Vertrauen zu schenken zunächst nur: die Möglichkeit zu stiften, es nicht zu missbrauchen. Originäres Vertrauen, das keine moralische Ökonomie voraussetzt, eröffnet überhaupt erst den Spielraum einer Erwiderung ›im Vertrauen‹, die es rechtfertigt, impliziert aber keinewegs ohne weiteres einen moralischen Anspruch, der mit einem reziproken Verhalten des Vertrauensempfängers zu verrechnen wäre. (Wäre es so, dann könnte Siehe dazu den Exkurs in Bd. I. Siehe dazu Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, S. 42. Hier schwankt das, worauf man vertraut, allerdings innerhalb weniger Zeilen zwischen der »Gesellschaft selbst« und dem »Vertrauen in sich selbst«. Vgl. auch D. Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, München 2014, S. 311, wo die Fiduziarität mit dem Vertrauen gleichgesetzt wird, »das eine Gesellschaft in ihre Währung setzt«. P. Ricœur dagegen beschränkt diesen Begriff auf eine Glaubens-Zumutung, wie sie in jedem Zeugnis liegt (Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 251–255, 279, 747). 52 Vgl. die Unterscheidung von »Kredit, den wir haben«, einerseits von einem Glauben an Andere, den wir gewähren, andererseits bei Agamben, Die Zeit, die bleibt, S. 128 f. 50 51

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XXIV · Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen

man jedem gegenüber, dem man eigenes Vertrauen ungefragt zumutet, moralische Ansprüche erwerben, um ihn auch gegen seinen Willen durch Verpflichtung an sich zu binden.) Zudem liegt in der originären Stiftung von Vertrauen zunächst ein asymmetrisches, verwundbares Sichausliefern an den Anderen, das durch eine entsprechende Erwiderung nicht auszugleichen ist. Erwidert der Andere das ihm entgegengebrachte Vertrauen durch ein gleichsinniges Verhalten, so liefert er sich seinerseits aus und macht sich in einer zusätzlichen Asymmetrie verwundbar. So gehen zwei Asymmetrien der Verwundbarkeit in eine Reziprozität derer ein, die einander (bis auf weiteres) vertrauen und dabei ihre Verwundbarkeit nicht etwa aufheben in einer komparativen Bilanz, sondern steigern. Je länger vertrauensvolle Beziehungen zunächst bestehen, desto mehr wird zerstört, wenn sie durch Verrat scheitern und ruiniert werden. Davor ist auch die Vergangenheit nicht geschützt. Je mehr man vertraut, desto weitgehender zerstörbar wird man auch nachträglich durch enttäuschtes Vertrauen und durch Verrat. Gewiss setzt immer wieder geschenktes Vertrauen, in dem man sich möglichem Verrat unweigerlich ausliefert, darauf, dass es nicht dazu kommt. Aber es kann sich in keiner Weise dagegen versichern. Wird es weitgehend zerstört, büßt die ruinierte Beziehung ihren Status als Vertrauens-verhältnis ganz und gar ein, und jeder bleibt mit der Erfahrung zurück, sich ›umsonst‹ in allen Bedeutungen des Wortes durch Vertrauen Anderen ausgeliefert und sich ihnen im gleichen Zug ›umsonst‹ anvertraut 53 zu haben. Das enttäuschte bzw. zerstörte Vertrauen schlägt auf das Selbst derjenigen zurück, die sich im Vertrauen Anderen ausgeliefert haben, um womöglich nur durch ihr Verhältnis zu ihnen zu leben. Diese in das Selbstsein einschneidende Konsequenz enttäuschten Vertrauens kann im Rahmen einer Vertrauens-Ökonomie von Gläubigern und Schuldnern nicht deutlich werden, die im schlimmsten Fall damit rechnen müssen, dass ihre moralischen Außenstände nicht beglichen werden. Zerstörte Vertrauensverhältnisse haben nicht bloß unausgeglichene moralische Bilanzen zur Folge; vielmehr offenbaren sie schonungslos, dass man sich selbst (ein- oder gegenseitig) im Anderen getäuscht hat bzw. durch ihn verraten sehen muss. Verrat affiziert rückhaltlos das Selbst derjenigen, die zunächst ›umsonst‹, d. h. gratis und ohne Berufung

53

Vgl. K. Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1981, S. 171.

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Zur politisch-institutionellen Dimension des Vertrauens

auf eine moralische Ökonomie, Vertrauen gestiftet und infolgedessen selbst eine Geschichte möglichen Verrats in Gang gesetzt haben. Im Gegensatz zu einer moralisch-ökonomischen Deutung des Vertrauens vertrauen wir originär, d. h. wenn wir Vertrauen stiften, stets ›umsonst‹, nicht mit dem bereits berechtigten Anspruch auf eine bestimmte Erwiderung – und auf die Gefahr hin, dass es sich nachträglich als ganz und gar vergeblich erweisen wird. So gesehen ist das Vertrauen eine ökonomisch geradezu absurde Angelegenheit: im originären Vertrauen-stiften hat es Anspruch auf gar nichts, zieht eine radikale Auslieferung an Andere nach sich und läuft am Ende Gefahr, noch nachträglich ganz und gar zerstört zu werden – was im Fall eines Verrats eine dramatische, gewaltträchtige Moralisierung zur Folge haben kann. 54 Mit einem ›Verräter‹ will man nichts mehr gemeinsam haben, auch menschlich nicht. So droht im äußersten Fall die Aufkündigung jeglicher menschlichen Beziehung und, wenn sie nicht einfach beendet wird, deren Eskalation in Richtung auf unversöhnliche Feindschaft. Gewiss verhält es sich nicht unvermeidlich so; aber deutlich ist doch, dass gerade in einer Generosität eines umsonst geschenkten Vertrauens, in dem man sich ausliefert, ein eminent zerstörerisches Potenzial liegt. Dieses Potenzial so weit wie möglich zu entschärfen, müsste so gesehen eine wichtige Angelegenheit eines politischen Vertrauens sein, das als solches um seine Bedeutung für und Wirkungen auf institutionell vermitteltes und geregeltes Zusammenleben wissen sollte.

4.

Zur politisch-institutionellen Dimension des Vertrauens: Vertrauen in Vertrauen?

Politisch vertrauen wir nur dann überhaupt, wenn wir nicht nur einem Anderen, sondern Anderen in einer Vielzahl von Dritten – selektiv, partiell, bedingt, befristet – vertrauen; und so, dass die Gefahren für das Zusammenleben selbst mit im Blick sind, die nicht nur in überhandnehmendem Misstrauen, sondern auch in blindem und

Was die Frage aufwirft, warum man überhaupt Vertrauen schenken soll. Georgias v. Leontinoi sagt: weil das Leben nicht lebbar sei, wenn man nicht vertrauen könne. Siehe oben, Anm. 2. Im Übrigen müsste man an dieser Stelle den Begriff des Verrats genauer differenzieren (wie es auch das Englische nahelegt, das zwischen treason, betrayal und letting down unterscheidet).

54

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XXIV · Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen

enttäuschtem Vertrauen liegen. Vertrauen ohne Rücksicht auf diese Gefahren wäre politisch naiv und seinerseits gefährlich. Denn es droht, leicht, oft und tief enttäuscht zu werden – und würde gerade deshalb das Vertrauen Anderer nicht verdienen. Politisches Vertrauen muss grundsätzlich reziprokes und gewissermaßen belastbares Vertrauen sein können. Das heißt, dass wir Anderen und Dritten so vertrauen sollten, dass sie ihrerseits Vertrauen in dieses Vertrauen haben können. Einem Vertrauen, das jederzeit nachhaltig zerstört zu werden droht, ist aber nicht zu vertrauen. Deshalb muss in politisches Vertrauen eine Resistenz gegen seine Zerstörung gleichsam eingebaut sein, soll es sich als politisch tragfähiges erweisen können. Andernfalls droht bei jeder Enttäuschung geschenkten Vertrauens eine Erfahrung des Verratenwerdens, die allzu leicht um sich greift, so dass früher oder später alle als Verräter dastehen und allgemeines Misstrauen unumschränkt herrscht, in dem kein politisches Leben mehr lebbar wäre, das seinen Namen verdient. Solcher Resistenz dient eine Beschränkung des Vertrauens auf das, was Anderen im Rahmen politischer Institutionen obliegt, eine gleichsam tentative Vorsicht kritischen Vertrauens, die vor politischer Blindheit bewahrt, nicht-moralistische Nachsicht, die nicht sogleich jegliche Abweichung vom Erwarteten als Vertrauensbruch zu werten bereit ist, und eine gewisse Bereitschaft, Andere nach gestörtem Vertrauen zu rehabilitieren, usw. Solche und viele andere Kautelen mögen der taktischen und strategischen Absicherung des Vertrauens gegen die in ihm selbst liegenden Gefahren dienen. Sie müssen jedoch keineswegs als Ausdruck von Misstrauen oder grundsätzlich fehlender Bereitschaft gewertet werden, Anderen überhaupt Vertrauen zu schenken. Wie gesagt liegt in jedem originären Vertrauen ein an-ökonomisches Moment, durch das es möglich ist, ›umsonst‹ – ohne unbedingt auf eine Vorgeschichte gestörten Vertrauens Bezug zu nehmen und ohne normative Erwartung einer Erwiderung – Andere mit neuem Vertrauen zu bedenken. Wer dazu nicht bereit ist, macht das Vertrauen selbst unmöglich. Als scheinbar spieltheoretisch rekonstruierbares, mehr oder weniger berechenbares ›Vertrauen‹, das nur auf einer Art Risikokalkulation beruht, aber gar nicht Anderen als Anderen gilt, verdient es seinen Namen nicht. In diesem Fall handelt es sich um eine Ökonomie der Verlässlichkeit rational begründeter Erwartungen, in die eine nicht ökonomisierbare Alterität Anderer gar nicht einzugehen braucht. Wo sich Vertrauen überhaupt auf sie einlässt, geht unweigerlich 880 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Zur politisch-institutionellen Dimension des Vertrauens

eigene, politisch brisante Verletzbarkeit derjenigen mit ihm einher, die es stiften oder erwidern. Vor dieser Verletzbarkeit und vor ihren politisch destruktiven Folgen, die sich aus enttäuschtem und womöglich zerstörtem Vertrauen ergeben, können sich diejenigen, die vertrauen, politisch nur dadurch in Acht nehmen, dass sie das primär geschenkte und insofern unbedingte, umsonst gewährte Vertrauen sekundär (klug, umsichtig, maßvoll usw.) an Bedingungen seiner praktischen Bewährung knüpfen. 55 Das geschieht in politischen Institutionen, aber mehr noch umwillen politischer Institutionen und ihrer dauerhaften Verlässlichkeit selbst in gewissen politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen. Diese geben allerdings nicht eindeutig vor, was im gesellschaftlichen Zusammenleben als grundsätzlich vertrauenswürdig zählt. Letzteres entnehmen wir vielmehr der Negativität historischer Erfahrung mit totalitärer Herrschaft, mit korrupten und gescheiterten Staaten, die allesamt Mitbürger so oder so schutzlos diversen Formen unannehmbarer Gewalt preisgegeben haben – darunter solche, die auf einen vernichtenden Angriff auf die soziale, politische, rechtliche und menschliche Existenz Anderer hinausliefen. Das politische Vertrauen bewährt sich demnach heute – lange bevor es zu einer Frage des Rechts werden kann – im effektiven, zuerst zivilgesellschaftlich verbürgten Schutz Anderer vor derartiger Preisgabe. Nach jenen Erfahrungen kann nur eine historisierte, negativistische Sozialphilosophie noch dem Vertrauen angemessen Rechnung tragen, indem sie als Antwort auf diese Erfahrungen angibt, welches Vertrauen in historischer Perspektive überhaupt Vertrauen verdient. Danach müssen sich transnationale Machtgebilde wie die EU ebenso richten wie Nationalstaaten und politische Organisationen unterhalb dieser Schwelle. Das Vertrauen, das wir in die politischen Institutionen selbst setzen, die sich in dieser Perspektive legitimieren lassen, ist die Maßgabe unseres Vertrauens innerhalb von Institutionen, das nach den eingangs skizzierten Voraussetzungen von grundsätzlich reziprokem Vertrauen Anderer getragen wird. So schließt sich hier, was ich den Zirkel des Vertrauens nennen möchte: Wir vertrauen nur Anderen; und originär einseitig so, dass es ihnen in einem an-ökonomischen Geschehen umsonst entgegenHier kommen besonders Bedingungen der Transparenz in Betracht. Vgl. A. Hirsch, P. Bojanić, Ž. Radinković (Hg.), Vertrauen und Transparenz – Für ein neues Europa, Belgrad 2014.

55

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XXIV · Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen

gebracht wird. Dabei stehen wir unsererseits als mehr oder weniger Vertrauenswürdige aus ihrer Sicht mit auf dem Spiel. In den Augen derjenigen, denen wir Vertrauen entgegenbringen, sollten wir demnach auch vertrauenswürdig sein. So schert primäres, an-ökonomisches Vertrauen, das wir schenken, in sekundäres, gegenseitiges, praktisch erst zu bewährendes Vertrauen ein. Von diesem Vertrauen, das in politischen Institutionen mehr oder weniger ›herrscht‹, wie man irreführend sagt, wird das Vertrauen letztlich getragen, das wir politischen Institutionen selbst entgegenbringen. Aber die Frage, ob dieses – im Namen dauerhafter Verlässlichkeit dieser Institutionen – ihnen entgegengebrachte Vertrauen auch gut ist (und für wen) bzw. ob es verfehlten, korrupten, intriganten, mafiösen, das Licht jeglicher Publizität scheuenden Organisationen gewährt wird, muss mit Bezug auf historisch validierte Kriterien politischer Vertrauenswürdigkeit beurteilt werden, die letztlich besagen: kein Anderer ist schutzlos der Gewalt Anderer preiszugeben. Aber – das Paradox des Politischen zeigt es – kein politisches System, gleich welcher Provenienz, ist gegen den Verdacht immun, sich solcher Gewalt schuldig zu machen. 56 Deshalb bedarf jedes politische System eines ungeachtet eines zunächst geschenkten Vertrauens maßvollen, kritischen, besonnenen und dezentrierten, von keiner politischen Instanz zu monopolisierenden sekundären Misstrauens, das sowohl vor einem politisch blinden und insofern naiven Vertrauen als auch vor einer Zerstörung jeglichen Vertrauens bewahren sollte. 57 Wenn dieses Misstrauen politisches Leben nicht ganz und gar beherrschen soll, muss es sich immer wieder auf originäres Vertrauenschenken zurückziehen, durch das, umsonst, Anderen erneut die Gelegenheit gegeben wird, es nicht zu enttäuschen. Herrschendes Misstrauen lässt sich am Ende gar nicht mehr darauf ein und verbaut sich so selbst jeden Ausweg in erneutes Vertrauen. Jedes Vertrauen aber, das zunächst umsonst geschenkt wird, ist in seiner anfänglichen Siehe oben, Anm. 21. In diese Richtung zielen auch die Überlegungen von P. Sztompka, Trust – A Sociological Theory, Cambridge 1999, S. 145 f.; vgl. auch G. S. Schaal, Vertrauen. Verfassung und Demokratie: Über den Einfluss konstitutioneller Prozesse und Prozeduren auf die Genese von Vertrauensbeziehungen in modernen Demokratien, Wiesbaden 2004; P. Rosanvallon, La contre-démocratie: La Politique à l’âge de la défiance, Paris 2006, S. 12; F. Heidenreich, »Die Organisation des Politischen. Pierre Rosanvallons Begriff der ›Gegen-Demokratie‹ und die Krise der Demokratie«, in: Zeitschrift für Politische Theorie 7, Heft 1 (2016), S. 53–72.

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Zur politisch-institutionellen Dimension des Vertrauens

Blindheit und Naivität durch die Enttäuschungen, die es heraufbeschwört, eine Gefahr für ein dauerhaft verlässliches politisches Zusammenleben – es sei denn, es wird sekundär an Bedingungen praktischer Bewährung geknüpft, die das Vertrauen gewissermaßen vor sich selbst in Schutz nehmen, so dass es nicht allzu leicht, tief und nachhaltig zu enttäuschen ist. Ob es jedoch gut ist, dem zunächst geschenkten Vertrauen durch sekundäre Vorsichtsmaßnahmen politische Stabilität verleihen zu wollen, hängt entscheidend davon ob, was von den Institutionen selbst zu halten ist und ob sie in sie zu setzendes Vertrauen auch verdienen. Das gilt bis heute (trotz der Etablierung transnationaler Machtgebilde) nach wie vor besonders für den Staat als der mächtigsten und zugleich gefährlichsten politischen Institution überhaupt. Keiner anderen politischen Institution kommt vergleichbare Macht über Andere zu; keiner anderen politischen Institution müssen wir dringlicher abverlangen, Andere vor vermeidbarer Gewalt zu bewahren; keine andere politische Institution läuft derart Gefahr, sich als Quelle neuer Gewalt herauszustellen, wie der dazu ermächtigte Staat. Deshalb bedarf der Staat um seines Fortbestands als eines rechtlichen Gemeinwesens willen, das der Kritik und Minimierung jeglicher Gewalt verpflichtet ist, wie keine andere politische Institution derart des Vertrauens in die ihn stützenden politischen Institutionen; aber auch eines maßvollen Misstrauens, welches das Vertrauen vor rascher, tiefer und dauerhafter Enttäuschung bewahrt und zugleich Spielräume neuen Vertrauens offenhält. Wir misstrauen – im Modus zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens – denjenigen (maßvoll), die die staatlichen Institutionen tragen, um (berechtigtes, bewährtes, nicht leichtfertiges, nicht unkritisches) Vertrauen in diese Institutionen haben zu können. Wir schenken ihnen (neues) Vertrauen, um uns nicht infolge wiederholten Verrats an ihrem legitimen Sinn dazu hinreißen zu lassen, den Rechtsstaat denjenigen preiszugeben, die ihn verraten wollen. In diesem Falle würden wir ihn selbst verraten, so dass er nicht mehr als möglichst verlässlicher Garant eines Zusammenlebens Achtung verdienen würde, das jeden Anderen vor unannehmbarer Gewalt zu schützen verspricht. Vor diesem Verrat schützt nur ein maßvolles, nicht exzessives, blindes und naives Vertrauen; nur ein Vertrauen also, das sich vor sich selbst in Acht nimmt, ohne aber in generalisiertes Misstrauen umzuschlagen. Auch das politische Misstrauen bedarf der Mäßigung, soll es nicht jegliches Vertrauen in politische Institutionen, die den 883 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXIV · Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen

Staat ausmachen und tragen, unmöglich machen. So drängt sich die Schlussfolgerung auf: wir hegen Vertrauen und Misstrauen in politische(n) Institutionen umwillen eines rechtsstaatlich geregelten Zusammenlebens, das ungeachtet jenes Paradoxes des Politischen dem Versprechen verpflichtet ist, Andere vor unannehmbarer Gewalt zu schützen. Darauf, dass irgendein Staat je diesem Versprechen wirklich gerecht werden könnte, ist weder naiv zu vertrauen, noch ist dieser Aussicht mit absolutem Misstrauen zu begegnen. Beides würde einer prekären Staatlichkeit nicht gerecht, die mangels ›substanzieller‹ Realität nur durch diejenigen dauerhaft bestehen kann, die sich originär in einem an-ökonomischen Vertrauen aneinander wenden, um zivilgesellschaftlich reziprokes Vertrauen zugleich aufeinander und in politische Institutionen immer neu zu stiften, die sowohl durch enttäuschtes Vertrauen als auch durch bestätigtes Misstrauen jederzeit Gefahr laufen können, verraten und preisgegeben zu werden.

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Teil G Schuld und Schulden

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Kapitel XXV Schuld – Schulden – Verdanken Zur Revision des Verhältnisses von Moral und Ökonomie vor aktuellem Hintergrund Du schuldest Dank wie jemand, der Fremdes in Gebrauch gehabt hat. Boethius 1 Mit seiner Geburt übernimmt jedermann eine riesige Schuld, die er niemals abzuzahlen vermag. Charles de Montesquieu 2 Ständig reißt die Kette der Zeiten, und die Spur der Generationen verwischt sich. […] Sie sind niemandem etwas schuldig und erwarten sozusagen von niemandem etwas; [Individuen] stellen sich gern vor, dass ihr Schicksal nur von ihnen selbst abhinge. Alexis de Tocqueville 3 Wieso hätte mich die Vergangenheit bereichern sollen? Sie hatte mich nicht geschaffen. Jean-Paul Sartre 4

1.

Moral und Ökonomie, Schuld und Schulden: ursprüngliches, ausdifferenziertes und überkreuztes Verhältnis

Zweifellos gehören Probleme der Überschuldung, d. h. einer Verschuldung, die vermutlich niemals mehr zu begleichen sein wird, zu den drängendsten Herausforderungen unserer Zeit; u. a. deshalb, weil Boethius, Trost der Philosophie, Stuttgart 1986, S. 62. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze [1784], Stuttgart 1976, V. Buch, 3. Kapitel, S. 139. 3 A. de Tocqueville, Die Demokratie in Amerika, Frankfurt/M., Hamburg 1956, S. 148. 4 J.-P. Sartre, Die Wörter. Autobiographische Schriften 1, Reinbek 1968, S. 134. 1 2

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XXV · Schuld – Schulden – Verdanken

sie einzelne oder politische Systeme durch endlose Abzahlung in eine Art Knechtschaft versetzen, aus der sich ganze Gesellschaften auf absehbare Zeit nicht mehr werden befreien können, wenn ihnen die Schulden nicht wenigstens teilweise erlassen werden. Das trifft nach aller Erfahrung stets diejenigen am härtesten, die es am allerwenigsten ›verdient‹ haben: die Ärmsten. Wie sie durch maßlose Staatsverschuldung, die sie persönlich gar nicht zu verantworten haben, ausweglos ökonomisch subjektiviert werden 5, ruft eine moralische Kritik auf den Plan, die den Verdacht vorbringt, es handle sich um eine Form ökonomischer Unterwerfung, die nach entsprechenden Formen des Widerstands verlangt. 6 Wer trägt Schuld an exzessiver Verschuldung? Unfähige Regierungen? Nur korrupte Eliten, die jegliches Vertrauen verspielt haben? Oder ein transnationales Finanzsystem, das in unverantwortlicher Art und Weise immer neue Kredite vergibt 7 und gleichzeitig Wetten darauf zulässt, dass sie nicht zurückgezahlt werden können – ein System mithin, das in keiner Weise dem Wohl derer verpflichtet zu sein scheint, die auf es angewiesen sind, und systematischen Betrug an ihnen nicht verhindert? Ist einem ganzen Land Mitschuld zu geben, wie es im Fall von Griechenland immer wieder geschehen ist? Darf man davon absehen, wie es von vielen Wohlhabenden im Stich gelassen worden ist? Erfordert ein besseres Verständnis der inzwischen ausweglos erscheinenden Lage nicht eine genaue geschichtliche Kenntnis dessen, wie es zu ihr hat kommen können? 8 Zu diesem Begriff vgl. J. Rancière, »Politique, identification, subjectivation«, in: ders., Aux bords du politique, Paris 1998, S. 83–92. 6 So Maurizio Lazzarato unter Verweis auf Michel Aglietta und André Orléan in: M. Lazzarato, R. Nigro, »Der verschuldete Mensch«, in: E. Bippus, J. Huber, R. Nigro (Hg.), Ästhetik der Existenz. Lebensformen im Widerstreit, Zürich, Wien 2013, S. 41–54, hier. S. 43, 51. Fraglich ist, ob die vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen in »neuen Lebensformen« überzeugen. 7 D. Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, München 2014, S. 26 (= S). 8 Dazu gehört im Falle Griechenlands gewiss auch, daran zu erinnern, dass dieses Land seinen Beitrag zur Londoner Entschuldungskonferenz im Jahre 1953 geleistet hat, die Deutschland, wo man sich auf die »moralische Aufarbeitung« der eigenen Vergangenheit viel zugute hält, es aber mit Entschädigungs- und Reparationszahlungen bis heute nicht genau nimmt (wie zuletzt der beschämende Protest der Nachfahren der am 3. Oktober 1943 von deutschen Soldaten umgebrachten Einwohner des Dorfes Lingiades anlässlich des Besuches des derzeitigen deutschen Bundespräsidenten gezeigt hat), 50 % seiner Auslandsschulden und darüber hinaus aufgelaufene Zinsen erlassen hat. Vgl. http://www.deutschlandfunk.de/gauck-in-griechenlandneue-diskussion-um-kriegsreparationen.795.de.html?dram:article_id=279167; 5

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Moral und Ökonomie, Schuld und Schulden

Die aktuelle Diskussion um diese Fragen ist nur ein aktuelles Beispiel dafür, wie man in einen Taumel eines Schuld(en)diskurses geraten ist, der moralische Fragen zurechenbarer Schuld und ökonomische Probleme der Verschuldung auf individuellen und kollektiven, nationalen und internationalen, gegenwartsbezogenen und historischen Ebenen vielfach miteinander vermischt und eine Trennbarkeit von Moral und Ökonomie grundsätzlich in Frage stellt. Dagegen kann man sich nicht mit dem Argument verwahren, Moral und Ökonomie seien durch eine strikte, systemtheoretisch zu begründende Trennung moralischer und ökonomischer Logiken eigenständiger »Bereiche« funktionaler Integration von unterschiedlichen Handlungstypen längst voneinander getrennt, und das in Frage stellen zu wollen, könne nur auf eine unsachgemäße Konfusion hinauslaufen. Demgegenüber haben viele Autoren, die der Geschichte der Schuld und der Verschuldung auf den Grund gegangen sind, darauf aufmerksam gemacht, wie Moral und Ökonomie ursprünglich zusammengehörten und dass ungeachtet einer nicht zu bestreitenden Ausdifferenzierung der Begriffe Schuld und Schulden Verflechtungen bis heute nachzuweisen sind (S, S. 333, 496, 481); mehr noch: dass solche Verflechtungen unvermeidlich sind, wie es sich zeigt, wenn eine exzessive, Schulden im Übermaß produzierende Finanzökonomie, von der wenige nur so lange profitieren, wie das System nicht zusammenbricht, die Frage aufwirft, wozu es in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht eigentlich dienen soll. Theoretiker sog. Urschulden glauben die Antwort zu kennen: standen die Menschen nicht von Anfang an in einem Verhältnis der Schuld zueinander (angefangen beim Leben, das sie ihren Vorfahren und ihren Mitmenschen in der Aufrechterhaltung einer überlebens»Deutschland hat nie bezahlt« [Interview mit Thomas Piketty], in: Die Zeit 26 (2015), S. 24. Geht es in dieser historischen Perspektive an, dass man von hier aus »die Griechen« darüber belehrt, wie eine effektive Finanzpolitik auszusehen hätte, die doch im eigenen Land über 2 Billiarden Euro Schulden angehäuft hat? Sieht man nicht die Gefahr, sich in arroganter Art und Weise einem weitgehend verarmten Land gegenüber aufzuführen, das ungleich schlechtere Chancen eines Neustarts nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte und nun mit der sog. Globalisierung nicht mehr mithalten kann? Wo würde Deutschland heute in diesem Prozess stehen, wenn es den Reparationsforderungen im vollen Umfang nachgekommen wäre? Moralisierung der eigenen Vergangenheit kann kein symbolischer Ersatz für berechtigte ökonomische Forderungen sein. Bezahlt, statt zu moralisieren, so könnte man die polemischen Äußerungen gegen den seinerzeit amtierenden Bundespräsidenten anlässlich seines letzten Griechenlandbesuchs deuten.

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XXV · Schuld – Schulden – Verdanken

fähigen Ökonomie verdankten)? War nicht alles, was sie einander gaben und was sie miteinander austauschten, Teil dieser Urschuld 9 (S, S. 173)? Ließ sich die Ökonomie ihrer Austauschprozesse je von der Moral ihrer Beziehungen trennen? So haben Sozialanthropologen von Marcel Mauss bis hin zu Marcel Hénaff mit Blick auf »ursprüngliche« menschliche Lebensformen argumentiert, um an eine angeblich noch heute unabdingbare Verknüpfung von Schuld und Schulden zu erinnern. 10 Wo Schulden gemacht werden, soll sich deren Ökonomie demnach nicht von der Moral der Beziehungen ganz und gar ablösen, in denen wir einander im Grunde alles verdanken und in diesem Sinne ›schulden‹ (debere). 11 Haben Schulden und Schuld nicht darin – in diesem ›Verdanken‹ – ihre letzte Gemeinsamkeit? Hat diese aber bis heute unverändert Bestand? Der Forschung nach solchen Gemeinsamkeiten zwischen Schuld und Schulden steht auf den ersten Blick entgegen, dass sich Schuld und Schulden, obgleich semantisch und etymologisch engstens miteinander verwandt, heute auf ganz verschiedene Phänomenbereiche zu verteilen scheinen – zumindest wenn wir dem normalen Sprachgebrauch folgen. Schuld auf sich laden; jemandem die Schuld geben; sich zu seiner Schuld bekennen; Schuld von sich weisen; eine Schuld abtragen usw. – solche Ausdrücke gehören in das normalsprachliche Register des Moralischen, in dem man ›zwischenmenschlich‹ mit dem Begriff Schuld im Singular operiert. 12 Dagegen reden wir von Schulden im Plural im normalsprachlichen Register des Ökonomischen: man macht Schulden, muss Schulden begleichen oder hat Schulden, die man nicht mehr tilgen kann, usw. 13 Doch diese Register überBekanntlich ein Begriff Freuds, der ihn spekulativ allein aus einem gemeinschaftliche Solidarität stiftenden Urverbrechen abgeleitet hat. S. Freud, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt/M. 61974, S. 52, 262, 436 f. Auch hier stoßen wir demnach auf eine Spur dessen, was man einander ›verdankt‹. 10 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften [1925], Frankfurt/M. 31984, Kap. IV; M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie [2002], Frankfurt/M. 2009. 11 Vgl. J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854, Bd. 15, Sp. 1897. 12 Das gilt für »Gesolltes« im Sinne einer »verbindlichen Leistung« (debitum) ebenso wie für die Schuld im Sinne der Verfehlung (culpa); vgl. R. Litz, »Schuld«, in: P. Kolmer, A. G. Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3, Freiburg i. Br., München 2011, S. 1946–1956. 13 Der Ausdruck ›in jemandes Schuld stehen‹ kann moralisch und ökonomisch gemeint sein. Ich sehe hier davon ab, die ganze Semantik der Schuld bzw. der Schulden auszuleuchten. Insbesondere gehe ich auf das Register des Juridischen und auf das 9

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Moral und Ökonomie, Schuld und Schulden

schneiden sich: An erdrückenden Schulden trägt man schwer; und zwar ggf. gerade deshalb, weil man sich die Schuld für sie gibt, weil sie einem zugeschrieben wird oder weil man in der Schuld von jemandem steht. Man kann also Schuld an Schulden tragen; und Schulden können Schuld nach sich ziehen, zumal wenn sie zu andauernder Überschuldung führen. Man kann Schuld ›ökonomisch‹ deuten und umgekehrt Schulden ›moralisieren‹. Es gibt »Ökonomen der Moral« 14 und Moralisierer des Ökonomischen. 15 Die einen wie die anderen glauben offenbar nicht an eindeutige und ein für alle Mal gezogene Demarkationslinien zwischen Schuld und Schulden. »Am Ökonomischen ist nichts rein ökonomisch«, wurde deshalb behauptet. 16 Ähnlich könnte für das Moralische gelten: nichts an ihm ist rein oder nur moralisch. Es gibt demnach nicht nur Hinweise auf eine »ursprüngliche« Verbundenheit von Moral und Ökonomie; es sind darüber hinaus Überkreuzungen, Vermischungen und Kontaminationen jener Register festzustellen, die deren bereits im normalen Sprachgebrauch feststellbare Differenzierung allerdings nicht einfach aufheben. Im Register des Ontologischen wird zur Sprache gebracht, wie leibhaftige Subjekte Schuld und Schulden haben, an ihnen schwer tragen und unter ihnen leiden. Schuld und Schulden belasten und drücken diejenigen, die sie haben, so, dass sie ihre Seinsweise ausmachen. Schulden kann man allerdings im besten Fall ganz und gar tilgen. Sie erweisen sich als quantitativ messbar, disponibel und verrechenbar; sie sind Gegenstand von ökonomischen Prozessen der Verschuldung, der Register der Kausalität im Folgenden nicht näher ein. Wer sich überschuldet hat, kann Schulden womöglich nicht mehr zurückzahlen und wird am Ende dafür schuldig gesprochen. So berührt sich die ökonomische Rede von Schulden mit dem juridischen Register, in dem festgestellt wird, ob jemand Schuld trägt oder freizusprechen ist. Schuld sein an etwas kann man wiederum im Sinne kausaler Zurechnung und der Verantwortlichkeit. Usw. 14 Wie auch des Glaubens und der Wahrheit; vgl. F. Schlegel, »Athenäums«-Fragmente und andere Schriften, Stuttgart 2007, S. 127; B. H. F. Taureck, Metaphern und Gleichnisse in der Philosophie. Versuch einer kritischen Ikonologie der Philosophie, Frankfurt/M. 2004, S. 244, 360 f. 15 V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien 1998; G. Soros, Die Krise des globalen Kapitalismus. Offene Gesellschaft in Gefahr, Frankfurt/M. 2000, S. 27; N. Stehr, Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 2007, S. 25 ff.; M. Miegel, Exit. Wohlstand ohne Wachstum, Berlin 2011, S. 14–19. 16 J. Butler, A. Athanasiou, Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen, Zürich, Berlin 2014, S. 63.

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XXV · Schuld – Schulden – Verdanken

Umschuldung und Entschuldung, die am Ende von allen Schulden befreien kann. Schuld dagegen erfordert moralische, nicht quantifizierbare Prozesse der Entschuldigung, des Verzeihens, der Vergebung usw., die von ihr entlasten, aber niemals die Spur der Schuld selbst ganz tilgen können wie ein ökonomisches Negativsaldo. Diese Unterschiede sind unübersehbar und durch keine einseitige Reduktion von Ökonomie auf Moral oder umgekehrt von Moral auf Ökonomie aufzuheben; auch dann nicht, wenn man in einem theoretischen cross over Moral quasi-ökonomisch (etwa als Ausgleich miteinander verrechenbarer Ansprüche) oder umgekehrt Ökonomie quasi-moralisch (etwa als ein System des Austauschs von Werten) deutet 17, wie es insbesondere in kulturanthropologischen Versuchen der Aufklärung des Verhältnisses von Moral und Ökonomie verschiedentlich geschehen ist. Ausgehend vom aktuellen politisch-ökonomischen Diskurs über Schuld und Schulden diskutiere ich im Folgenden in der skizzierten Perspektive drei Versuche, Schuld aus Schulden bzw. Schulden aus Schuld abzuleiten (2, 3). Anschließend situiere ich diese kritisch bewerteten Versuche von Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Emmanuel Levinas im Kontext moderner Positionen, die in geschichtlicher Hinsicht besagen, man habe Anderen alles bzw. nichts zu verdanken (4). Wie dieses Verdanken, moralische Rede von Schuld und ökonomische Rede von Schulden begrifflich zu konfigurieren sind, ist die Leitfrage dieses Kapitels, die schließlich mit Blick auf eine moralisch-responsive Verantwortung aufgeworfen wird (5.).

2.

Schuld als Schulden (ökonomisch) oder Schulden aus Schuld (ethisch)? Friedrich Nietzsche und Emmanuel Levinas

Der am häufigsten als Kronzeuge einer genealogischen Aufklärung über das Verhältnis von Moral und Ökonomie in den Zeugenstand gerufene Friedrich Nietzsche legte eine ›ökonomische‹ Rekonstruierbarkeit von Schuld und darüber hinaus eine Reduzierbarkeit von Schuld auf eine Ökonomie von Schulden nahe. In der Genealogie der Moral (1887) beschrieb er den Menschen als immer schon »abschätzendes Tier«, das Preise macht, Werte abmisst, sich Äquivalente 17

Vgl. bspw. J. Piaget, Études sociologiques, Paris 1965.

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Schuld als Schulden (ökonomisch) oder Schulden aus Schuld (ethisch)?

ausdenkt, und das »in einem solchen Maße«, dass das Tauschen von etwas gegen etwas anderes »das allererste Denken des Menschen präokkupiert« zu haben scheint. Begreifen wir nicht bis heute jegliches Denken als eine Art des Verrechnens? Kennen wir überhaupt ein nicht auf Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich bedachtes, alles mit allem verrechnendes, bewertendes Denken? So wird scheinbar alles vergleichbar, berechenbar, austauschbar und abzahlbar, selbst die Gerechtigkeit und jede Schuld. 18 Sogar Leiden wäre demnach nur eine Frage der »Ausgleichung von Schulden« (GM, S. 300). »Ich leide: daran muss irgend Jemand schuld sein […].« 19 Und »alles kann abgezahlt«, beglichen, ausgeglichen, kompensiert, ersetzt werden (GM, S. 306, 309). So gibt es »kein ›Umsonst‹«, auch nicht im Verhältnis zwischen den Generationen (GM, S. 328), die eine Art »Gegenzahlung« verlangen. Warum und wozu aber? Eben darauf haben wir laut Nietzsche infolge der neuzeitlichen Destruktion des teleologischen Erbes der Antike keine Antwort mehr. Und aus dieser Not hat »der Mensch« die Untugend gemacht, sich stets etwas auszudenken, womit anderes zum Ausgleich gebracht werden muss: eine Schuld, die sich als verrechenbare gemäß Nietzsches Hypothese stets in der Form von Schulden gewissermaßen operationalisieren und rekonstruieren lassen muss. Schuld besteht demnach, wenn überhaupt, nicht etwa als eine vererbte, die man irgendeinem Anderen gegenüber angeblich ›immer schon‹ hat, wie es von Nietzsche beargwöhnte Theologen glauben machten, sondern allenfalls in der Form abzahlbarer Schulden, die man grundsätzlich jederzeit einklagen kann. In den Augen David Graebers, der zuletzt eine aufwändige Geschichte der Schuld(en)-Problematik vorgelegt hat, hat Nietzsche allerdings »nicht den Hauch eines Beweises dafür geliefert«, dass Schuld und Schulden »genealogisch« und »ursprünglich« so zusammengehören (S, S. 99). Um seine eigene Gegen-Hypothese, die auf einen quasi-kommunistischen Urzustand der Vergesellschaftung hinausläuft, in dem alle einander alles schuldeten, ohne dass es schon zu einer klaren Ausdifferenzierung von Moral und Ökonomie hätte kommen können, steht es allerdings kaum besser (S, S. 120 ff.). Für F. Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral«, in: Sämtliche Werke, Bd. 5 (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, S. 245–412, hier: S. 293, 299 (= GM). 19 »Aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, – du selbst bist an dir allein schuld!« (GM, S. 375.) 18

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XXV · Schuld – Schulden – Verdanken

Graeber erfüllt sie weniger einen archäologischen Zweck der Enthüllung der Ursprünglichkeit menschlicher Sozialität. Und er will der Ausdifferenzierung von Moral und Ökonomie, wie sie u. a. von Niklas Luhmann beschrieben worden ist 20, nicht ganz und gar widersprechen. Vielmehr tritt er mit dieser Hypothese einem Gründungsmythos der modernen, von Adam Smith inaugurierten nationalökonomischen Wirtschaftswissenschaft entgegen, die eine »Fantasiewelt« geschaffen habe, »in der Schulden und Kredit so gut wie keine Rolle spielten, weshalb sie frei von Schuld und Sünden war« (S, S. 36, 449). In dieser Welt treten ursprünglich überhaupt nicht miteinander verbundene und im Verhältnis zu einander zu nichts verpflichtete Einzelsubjekte nachträglich in Verbindung, um fruchtbare, d. h. gewinnbringende Austauschbeziehungen möglich zu machen. Menschen erscheinen unter dieser Voraussetzung als Wesen, die einander ursprünglich nichts schulden und die durch ihren Austausch im Prinzip jederzeit miteinander quitt werden können, so dass sie nach erfolgter Interaktion wiederum einander nichts mehr schuldig sind. 21 Wie auch immer es um die vermutlich ein für allemal unergründlichen »Ursprünge« der Schuld und der Schulden bestellt gewesen sein mag, und unabhängig davon, ob sich die Genealogie dieser Ursprünge bis in die Gegenwart hinein überhaupt narrativ plausibel nachzeichnen lässt, Graeber genügt es, auf die moderne, von Smith bis auf Hobbes zurückgehende Sozialphilosophie 22 mit ihrer individualistischen Voraussetzung eines zunächst ganz und gar ›schuldlosen‹ und im Prinzip jederzeit wieder zu ›entschuldenden‹ Lebens hinzuweisen, um deutlich zu machen, was im aktuellen Schuld(en)Diskurs zentral auf dem Spiel steht: die Fragen nämlich, ob uns im Modus der Schuld bzw. des Schuldens überhaupt etwas miteinander verbindet und ob wir uns durch (moralische und/oder ökonomische) Entschuldung grundsätzlich jederzeit wieder ganz und gar entbinden können von Anderen. Paradoxerweise werden diese Fragen in einer Zeit virulent, die Vgl. etwa N. Luhmann, R. Spaemann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt/M. 1990, S. 23 ff. 21 Ob das eine wirklich faire Beurteilung von Smiths Inquiry into the Wealth of Nations und seiner Theory of Moral Sentiments ist, ist an dieser Stelle nicht zu beurteilen. 22 Zweifellos müsste man weit hinter A. Smith zurückgehen, um diese bereits von Hobbes und in naturrechtlichen Freiheitskonzeptionen deutlich ausgesprochene Voraussetzung genealogisch aufklären zu können (vgl. S, S. 36, 39, 58). 20

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Schuld als Schulden (ökonomisch) oder Schulden aus Schuld (ethisch)?

uns mit einem Übermaß voraussichtlich überhaupt nicht mehr abzahlbarer Schulden konfrontiert und die Gefahr eines weitgehenden Zusammenbruchs des heute vorherrschenden ökonomischen Systems der Verschuldung und der Entschuldung heraufbeschwört. Weder die Frage nach der Schuld daran (im Sinne ursächlicher Verantwortung) noch die Frage nach zu verantwortenden Folgen wird gewiss durch Rückbesinnung auf eine ›ursprüngliche‹ Schuld, in der wir ›stehen‹, zu klären sein, zumal der ökonomische Diskurs der Moderne, der von Hobbes über Smith bis in die Gegenwart hinein die Vorstellung populär gemacht hat, wir schuldeten einander im Grunde gar nichts, jegliches Ursprungsdenken unter Mythologieverdacht gestellt hat. Dieser Diskurs beschränkt sich weitgehend auf ahistorische Modelle ökonomischen Verhaltens, die ohne Anleihen bei einem spekulativen Rückgang auf die Ursprünge menschlicher Kultur auskommen, in denen Anthropologen nach Gemeinsamkeiten zwischen Schuld und Schulden gesucht haben. Statt auf vermutete Ursprünge des Phänomens, Anderen (moralisch und/oder ökonomisch) etwas zu schulden, zurückzugehen, kann man auch gewissermaßen in die Gegenrichtung vorstoßen und sich fragen, wohin es führt, wenn man die Vorstellung zu Ende denkt, wir schuldeten einander nichts und könnten jederzeit miteinander quitt werden. In diese Richtung geht Bruno Latour in seiner Untersuchung heutiger »Existenzweisen«. Alles haben wir versucht, »um nicht immer zu schulden, um nicht immer abhängig zu sein, um nicht immer zurückzugeben« bzw. zurückgeben zu müssen, was wir Anderen angeblich ständig schuldig sind, ohne je ganz frei sein zu können. So seien wir zu Fremden geworden, die gelernt zu haben scheinen, »jeder anderen Bande ledig, quitt zu sein, am Ende der Fälligkeiten und bei Aushändigung der Quittungen«. 23 Aber in diesem Sinne sind wir laut Latour tatsächlich »nie modern gewesen«. 24 So gesehen konnte es nur auf ein Zerrbild der wirklichen menschlichen Verhältnisse hinauslaufen, wenn man sie so beschrieb, als seien wir ganz und gar ›ökonomische Wesen‹, die in keinem unauflöslichen Schuldverhältnis stehen, sondern allenfalls aus freien Stücken Schulden machen, die sie grundsätzlich auch restlos wieder tilgen können. In B. Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014, S. 604 (= E). 24 B. Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/M. 1998. 23

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Wirklichkeit, besagt Latours kulturanthropologische Forschung, sind wir »niemals quitt« miteinander und können es auch nicht werden. Warum? »Kurz«, weil es unmöglich ist, »die Ökonomie aus ihrem Bett von sozialen, moralischen, ästhetischen, legalen, politischen Relationen zu verjagen« (E, S. 581). Jegliches menschliche Tun erweist sich im Blick des Anthropologen als derart lateral mit anderem, was durch unser Tun »passiert«, verflochten, dass es ganz und gar unmöglich erscheint, rein Ökonomisches anders als fiktiv aus diesem Leben »in der Verflochtenheit« (Aristoteles) herauszupräparieren. 25 Aus dem gleichen Grund ist es so schwer, wenn nicht letztlich unmöglich, genau anzugeben, »was wir wert sind, vermögen und schulden« (E, S. 599). Latour weist so darauf hin, dass wir faktisch in vielfach miteinander verflochtene Schuld- und Schuldenverhältnisse verstrickt sind, die sich praktisch niemals (höchstens theoretisch in der Form ökonomischer Modellbildung) ganz und gar entflechten lassen. Aber kann man nicht dessen ungeachtet jegliche Verbindlichkeit solcher Verstrickungen (und jegliche ›Moralisierung‹ des Ökonomischen) zurückweisen? Kann man nicht jederzeit »die Nächsten als Fremde […] behandeln, denen man nichts schuldet« (E, S. 605)? Eine Ökonomie, die davon ausginge, müsste laut Latour unweigerlich »das Kainsmal auf der Stirn […] tragen« – das Kainsmal der Frage nämlich, »Bin ich denn meines Bruders Hüter?« (E, S. 623.) Sie würde demnach eine Frage der Verantwortung nachträglich zurückweisen, die sie sich bereits zugezogen hat, könnte aber nicht für sich in Anspruch nehmen, diese Verantwortung nie gekannt zu haben. So wendet sich die Sozialanthropologie unversehens und überraschenderweise einer Ethik zu, die, im Gegensatz zu Nietzsche, das, was wir einander schulden, nicht auf eine Ökonomie der Verrechnung von Schulden zurückführt, sondern genau umgekehrt jegliche Ökonomie dieser Art auf eine ursprüngliche Schuld bezieht, in der wir angeblich dem Anderen als Nächstem gegenüber ›immer schon‹ stehen. Bei dieser Schuld handelt es sich um nichts anderes als um »die Verantwortung für den Anderen«, sagte Levinas in seinen Sorbonne-Vorlesungen, d. h. um eine »Verantwortung ohne Maß, die nichts von einer Schuld hat, die man immer begleichen könnte; denn mit dem Anderen ist man niemals quitt«. 26 Wer sich für »quitt« erklärt mit jemandem, beendet der nicht die Beziehung selbst? – fragt 25 26

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, Abschnitt 5. E. Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, Wien 1996, S. 150.

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Schuld als Schulden (ökonomisch) oder Schulden aus Schuld (ethisch)?

sich auch Graeber ähnlich wie Latour und Hénaff. 27 Eine Beziehung zu beenden, mag im Einzelfall und in ökonomischer Hinsicht vollkommen legitim sein; aber setzt der moderne ökonomische Diskurs nicht voraus, dass man sich von jeglicher Beziehung zu jedem Anderen vollkommen entbinden kann – bzw. dass man von vornherein als vom Anderen ethisch ›entbunden‹ zu denken ist? Unterstellt er nicht ein originäres Entbundensein, das nicht einmal mehr realisiert, wovon uns die fragliche Entbindung getrennt haben könnte? Kennt er auch nur eine nicht-ökonomisierbare Schuld, die nicht zu begleichen wäre und die sich insofern jeglicher Ökonomie entziehen würde? So, wie Nietzsche das moralische Denken ökonomisiert und als ein Rechnen mit Schulden rekonstruiert hat, wird diese Frage gegenstandslos. Pointiert gesagt: er hat die Schuld auf Schulden reduziert und scheinbar spurlos in ihnen aufgehen lassen. 28 Auch die Moral wäre demnach nur eine Art Ökonomie. Levinas dagegen, auf den Latour mit seiner ›Kains-Frage‹ implizit und Hénaff explizit Bezug nehmen, schlägt umgekehrt vor, jegliche Schulden-Ökonomie von einer nicht zu tilgenden, an-ökonomischen Schuld her zu verstehen, in der wir angesichts des Anderen (jedes anderen) stehen. Nur Anderen gegenüber können wir uns verschulden; und nur im Verhältnis zu Anderen können wir Schulden abtragen. Aber das ändert nichts daran, dass wir ihnen die Verantwortung schuldig sind, die sie uns geben. Im Verhältnis zum Anderen können wir nicht umhin, als ›immer schon‹ verantwortlich zu sein – und zu bleiben. Die uns gegebene Verantwortung können wir nicht zurückgeben oder gegen anderes austauschen. Auch die Zurückweisung der Verantwortung, die bestreitet, irgendeines Anderen »Hüter« zu sein, steht in dieser nicht zu ökonomisierenden Schuld, die für Levinas letztlich bedeutet, dass wir dem Anspruch des Anderen ein moralisches Leben zu verdanken haben. Levinas bezeichnet diese Schuld auch als »Schuld des Überlebenden« 29 und gibt damit einen unübersehbaren Hinweis auf den historischen Kontext dieses (zweifellos biblisch inspirierten) Gedankens. Doch erschöpft sich seine Ethik der Schuld keineswegs in dem, was

Graeber, S, S. 133; Hénaff, Der Preis der Wahrheit, S. 370 f. Davon bleibt die oben en passant von der These der ökonomischen Reduzierbarkeit von Schuld auf Schulden unterschiedene These der ökonomischen Rekonstruierbarkeit von Schuld unberührt. 29 Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, S. 22, 49. 27 28

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man im Anschluss an den Psychiater William G. Niederland als »Überlebenden-Syndrom« bezeichnet hat und was Theodor W. Adorno in der Negativen Dialektik im gleichen Kontext als unablässig sich reproduzierende »Schuld des Verschonten« beschrieben hat. 30 Vielmehr bringt Levinas das In-der-Schuld-des-Anderen-stehen als den dem Anderen zu verdankenden Sinn menschlicher Subjektivität zur Sprache. 31 Menschliche Subjekte sind wir demnach nicht aus biologischen Gründen, über die eine entsprechende Anthropologie Rechenschaft ablegen könnte, oder als selbstbewusste Wesen aus eigener Kraft, sondern überhaupt nur deshalb, weil wir uns im Verhältnis zu jedem Anderen dessen ethischen, uns verantwortlich machenden Anspruch zuziehen. Dieser Anspruch liegt nach Levinas’ Überzeugung jeglichen Verhalten zu ihm voraus, begründet aber noch kein Anrecht auf irgendetwas und kann insofern auch nicht ohne weiteres in eine moralische Ökonomie eingehen, die genau bestimmen würde, was wir konkret einem Anderen (unter vielen anderen Anderen) schulden. 32 Das ethische, nicht-ökonomische In-Schuld-stehen kommt jeglicher Schulden-Ökonomie zuvor. 33 Levinas spricht auch vom »Anachronismus einer Schuld […], welche der Anleihe vorausgeht« und sogar jeglichem Bewusstsein zuvorkommen soll, das man von ihr hat (oder auch nicht hat). 34 Aber wie kann man von einer solchen Schuld überhaupt wissen und sprechen? Kommt nicht jedes Wissen und jede Rede von Schuld zu spät? Und läuft die Rede von einem Anachronismus einer nicht ökonomisierbaren Schuld nicht auf eine nachträgliche Belastung mit W. G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord, Frankfurt/M. 1980; T. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975, S. 356 f. 31 Siehe den Teil B in Bd. I. 32 Hier geht es also nicht um einen normativen Anspruch, dem man im Sinne des Gesollten (debitum) gerecht werden soll, oder um eine Verfehlung (culpa). 33 Das In-Schuld-stehen verlangt im Verständnis von Levinas immer nach konkret ›übernommener‹ Verantwortung; und zwar unter bestimmten Umständen und in Kontexten, die stets mehr oder weniger direkt Dritte und damit eine Ökonomie miteinander verrechenbarer Leistungen, Beiträge, Werte usw. ins Spiel bringen, wie bereits das erste Hauptwerk von Levinas deutlich macht: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987. So wirkt das an-ökonomische Schuld-Verhältnis zum Anderen stets in ökonomische Beziehungen zu Dritten hinein. 34 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 249; vgl. J. Derrida, Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, München, Wien 1999, S. 127. 30

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Schuld als Schulden (ökonomisch) oder Schulden aus Schuld (ethisch)?

einer Schuld hinaus, die man keineswegs einfach ›hat‹ oder ›tragen‹ muss? Woher rührt die erstaunliche Bereitschaft, sich als in einer jedem Menschen angeblich ›immer schon‹ gegebenen Schuld stehend zu begreifen und sich mit ihr zu belasten – ohne jede Aussicht, sich ihrer je wieder entledigen zu können? Und was rechtfertigt die Hyperbolik einer scheinbar maßlosen Rede von einem »grenzenlosen Sichschulden« verantwortlichen Lebens, das mit dem Anderen niemals quitt werden kann bzw. niemals quitt werden soll, damit es nicht zu einer Auflösung jeglichen ethischen Verhältnisses zu ihm kommt? 35 Handelt es sich um eine erhabene Selbstverleugnung, die darin liegt, das Selbst zu einem bedingungslosen Schuldner gegenüber dem Anderen zu machen, wie Hénaff mutmaßt? 36 Geht es um eine willentliche Selbst-Verschuldung und keineswegs um die Beschreibung einer tatsächlich uns ›immer schon‹ gegebenen Schuld, auf die man nur aufmerksam zu machen bräuchte? Handelt es sich um eine deskriptive Feststellung oder vielmehr um eine Selbst-Bezichtigung, wenn Levinas Fjodor Dostojewski als Kronzeugen für eine nicht ökonomisierbare Schuld mit den Worten zitiert: »in Wahrheit ist jeder vor allen und für alle schuldig«, »in Wahrheit bin ich für alle schuldig und vielleicht schuldiger als alle«? 37 In Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow heißt es in der deutschen Übersetzung abweichend: »du mußt wissen, daß in Wahrheit jeder allen gegenüber die Schuld aller und an allem trägt«. Dabei wird diese Einsicht nicht als Feststellung einer Tatsache ausgegeben, sondern als Ausdruck der »furchtbaren Macht« einer Demut eingeführt, die erkannt haben will, dass es »nur eine Rettung gibt: mache dich selber [!] für alle Sünden der Menschen verantwortlich. […] Sobald du dich aufrichtig für alles und für alle verantwortlich machst, wirst du einsehen, daß es tatsächlich so ist und daß du allen gegenüber an allem Schuld trägst.« 38 Wovor sich die extreme Demut retten soll, ist eine Welt, in der man restlos miteinander quitt werJ. Derrida, »Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus«, in: C. Mouffe (Hg.), Dekonstruktion und Pragmatismus. Demokratie, Wahrheit und Vernunft, Wien 1999, S. 171–195, hier: S. 192. In die gleiche Kerbe schlägt scheinbar Maurice Blanchot, wenn er schreibt, man schulde dem Anderen »alles […], auch den Selbstverlust«; M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005, S. 23. 36 M. Hénaff, Die Gabe der Philosophen, Gegenseitigkeit neu denken, Bielefeld 2014, S. 168. 37 E. Levinas, Ethik und Unendliches, Graz, Wien 1986, S. 79. 38 F. M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, Frankfurt/M. 182002, S. 388, 431. 35

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den könnte 39, wenn es stimmt, dass man jede Schuld begleichen, zurückerstatten oder sonstwie liquidieren kann, so dass man am Ende niemandem mehr etwas schuldig wäre. Wären in diesem Falle nicht alle menschlichen Beziehungen aufgelöst? Scheinbar ja, wenn das die Alternative ist: entweder Anderen etwas schuldig oder aber ihnen überhaupt nicht verbunden zu sein. Und wenn man einem Anderen gegenüber seine Schuld begleichen kann, kann nur eine weitere Schuld Anderen gegenüber davor retten. Die extreme Demut nimmt das vorweg: sie begegnet dieser Gefahr, indem sie sich im Vorhinein für alles allen gegenüber schuldig erklärt, auch für all das, wofür man ihr gar keine Rechenschaftsverantwortung aufbürden dürfte, wenn der Demütige ›nichts getan‹ hat und nicht einmal indirekt zurechenbare Schuld an etwas trägt. Aber es ist allemal besser, suggeriert die Logik der Demut, an allem Schuld zu tragen, als nur mehr in einer restlos ökonomisierten Welt zu leben, in der man mit Anderen allenfalls durch freiwillig aufgenommene und grundsätzlich ganz und gar rückzahlbare Schulden verbunden wäre. Wer seine Schulden beglichen hat, steht der überhaupt noch in irgendeiner (›verbindlichen‹) Beziehung zu Anderen? Verdankt ein ökonomisch entschuldetes Leben Anderen gar nichts mehr? Indem die Demut diese Vorstellung abwehrt, muss sie sich allerdings selbst die ganze Schuld der Welt geben, die sie nicht einfach haben kann. Wie ein neuzeitliches ökonomisches Subjekt, das sich von jeglicher Schuld entlastet, so verfügt auch der extrem Demütige scheinbar ganz und gar selbst über die Schuld, indem er sich mit ihr belastet. Während ein ganz und gar ökonomisch strukturiertes Subjekt Anderen überhaupt nichts schuldig zu sein scheint (es sei denn, es verschuldet sich selbst), will der Demütige der »Unwürdigste« sein, der »vor allen Menschen schuldig« ist und ihnen alles zu verdanken hat, vor allem die Schuld, die er doch sich selbst gegeben hat, um sich zu retten angesichts einer Welt voneinander ganz und gar entbundener Wesen, die einander überhaupt nichts zu schulden meinen. Beide aber wollen ganz und gar durch sich selbst etwas sein: von jeglicher Schuld Entlastete oder mit aller Schuld Belastete. Und beide haben immerhin dies miteinander gemeinsam: dass sie sich überhaupt mit der ›Frage der Schuld‹ konfrontiert sehen, sei es, um sich für ganz und gar unschuldig zu erklären, sei es, um sich selbst aller Schuld zu bezichtigen. Die Konfrontation fällt nur gegensätzlich aus: als unüber39

Ebd., S. 992.

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Was heißt »schuldig sein«? Zur Ontologie der Schuld

bietbares Geständnis eines Subjekts im einen Fall, das sich einer Schuld anklagt, die es sich überhaupt erst gibt und die es insofern keineswegs einfach ›hat‹ ; als restlose Exkulpation im anderen Fall, die jegliche Schuld in Abrede stellt und doch nicht umhin kann, sich bereits zur Frage möglicher Schuld zu verhalten, indem es sie zurückweist. Heißt das nun, dass jegliche Schuld zu menschlicher Disposition steht, sei es im Sinne der Belastung, der (Selbst-)Bezichtigung und des Bekenntnisses, sei es im Sinne der Entlastung, souveräner Exkulpation und gewollter Verantwortungslosigkeit? Oder stoßen wir hier auf eine vorgängige Schuld-Frage, die immer schon im Spiel ist, wenn man Schuld als Schulden ökonomisch rekonstruiert (Nietzsche) oder umgekehrt Schulden von menschlicher Schuld her im Verhältnis zum Anderen an-ökonomisch deutet (Levinas)? Untersteht auch diese Vorgängigkeit noch unserer Verfügung oder entzieht sich uns die Schuld-Frage radikal, wenn es zutrifft, dass sie uns ›immer schon‹ zuvorgekommen ist, wenn sie ›sich stellt‹, ohne darauf zu warten, ob wir sie eigens aufwerfen? Sind wir zuvor ›immer schon‹ schuldig? Als erster überhaupt hat Heidegger diese Frage genau so aufgeworfen und sich eine eindeutige Antwort zugetraut.

3.

Was heißt »schuldig sein«? Zur Ontologie der Schuld

»Wer sagt« nun in einer derart verwirrenden Lage, wo man mit dem Phänomen und Begriff der Schuld so gegensätzlich umgehen kann, »wie wir schuldig sind und was Schuld bedeutet?« So fragt Heidegger im ausdrücklichen Anschluss an die normalsprachliche Semantik der Schuld. 40 Er unterscheidet zunächst zwei Verwendungsweisen des Wortes: (a) jemandem etwas »Besorgbares« zurückgeben müssen, worauf dieser Anspruch hat; (b) verantwortlich sein für etwas im Sinne der Ursächlichkeit, der Urheberschaft, der Veranlassung. Die Bedeutungen (a) und (b) können zusammengehen in dem Ausdruck (c) »sich schuldig machen« im Sinne der Rechtsverletzung oder in einem »Schuldigwerden an Anderen«, speziell daran, »daß der Andere in seiner Existenz gefährdet, irregeleitet oder gar gebrochen wird«. Dieses Phänomen offenbart ein Schuldigsein, das Heidegger als eine Seinsart des Daseins begreiflich machen will. »Zu diesem Zweck muß 40

M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1984, § 58, S. 281 (= SZ).

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die Idee von ›schuldig‹ soweit formalisiert werden, daß die auf das besorgende Mitsein mit Anderen bezogenen vulgären Schuldphänomene ausfallen« (SZ, S. 282 f.). Ursprünglich schuldig sein kann menschliches Dasein demnach nur noch im Verhältnis zu sich selbst, als ein sich Verfehlendes, nicht aber im Sinne des Verrechnens von Ansprüchen gegeneinander (a), der Verursachung (b) oder des moralischen Verfehlens (c), das man an einem Sollen oder Gesetz messen könnte. Das Verhältnis zu sich selbst ist aber von einer nicht eliminierbaren Nichtigkeit durchsetzt, die darin liegen soll, dass es eigene Möglichkeiten nur um den Preis des Nichtwählenkönnens von anderen Möglichkeiten realisieren kann. Wir nennen das Kontingenz. Auf diesen Begriff scheint Heidegger den ontologischen Begriff einer Schuld reduzieren zu wollen, die jeglicher Schuld, die man sich gibt oder von der man sich entlastet, vorausliegen soll. »Das Dasein ist als solches schuldig«, weil es sich in seiner Kontingenz immer irgendwie verfehlen muss (SZ, S. 285). Das kommt schließlich im eigenen Gewissen zum Vorschein, das man nicht nicht haben bzw. dessen Stimme man nicht nicht hören, sondern allenfalls überhören kann (wie es schon Kant gelehrt hatte). Allerdings soll man das »Gewissen-haben« wählen können (SZ, S. 288); und zwar im Sinne der Bereitschaft, sich »anrufen« zu lassen durch das, was für das Gewissen bedeutsam sein könnte. Schuldig ›ist‹ man aber so oder so und unvermeidlich; allerdings in einem ontologisch primären Selbstverhältnis, das in seinem Schuldigsein »nicht erst aus einer Verschuldung [resultiert], sondern umgekehrt […] erst möglich [wird] ›auf Grund‹ eines ursprünglichen Schuldigseins« (SZ, S. 284). Nur Wesen, die ontologisch immer schon und unvermeidlich bereits schuldig sind, können sich verschulden. Und Entschuldung im ökonomischen Sinne des Wortes kann in dieser Sicht niemals das Schuldigsein aufheben. Letzteres reduziert sich hier allerdings nicht nur auf ein Verhältnis zum eigenen Dasein; es wird auch von jeglichem ›etwas‹, das man schuldig sein könnte, wie auch von jeglichem Bezug zum Anderen, dem man etwas schuldig sein könnte, entbunden. Dem immer schon im Verhältnis zu sich von Kontingenz durchsetzten Dasein steht es ganz frei, sich in seinem Schuldigsein so oder so zu ›konkreter‹ Schuld zu verhalten; es kann »faktische Verschuldungen« ebenso »aufsuchen« wie von jeglicher Schuld sich freizusprechen versuchen (SZ, S. 288). So will Heidegger sowohl jegliche Schulden-Ökonomie als auch jegliche Schuld-Moral unterlaufen, indem er aufzeigt, wie es überhaupt möglich ist, schuldig zu sein und aufgrund dessen Schuld 902 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Was heißt »schuldig sein«? Zur Ontologie der Schuld

zu tragen oder auch von sich zu weisen und Verschuldungen einzugehen oder abzutragen. Auf diesem Denkweg hat Heidegger scheinbar die Grundfrage beantwortet, die bereits Franz Kafkas Roman Der Prozeß aufgeworfen hatte: »Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.« »Das ist richtig«, antwortet ein Geistlicher Josef K., »aber so pflegen die Schuldigen zu reden«. 41 Wer so fragt, hat den »Prozess« bereits verloren (DP, S. 85), denn er hat sich die Schuld-Frage schon zugezogen, bevor er sie eigens aufwirft, um ggf. jegliche Schuld von sich zu weisen. Daran ändert auch das Insistieren auf eigener Unschuld nichts. »›Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht‹, sagte K.« Die bloße Frage nach Schuld evoziert schon einen anonymen Prozess vor einem unbekannten Gericht, das im Prinzip jederzeit »von irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine große Schuld hervor[ziehen]« könnte (DP, S. 128). Wenn »alles zum Gericht« gehört und wenn dieses sich niemals blicken lässt, gibt es keinen wirklichen Freispruch von der Schuldfrage selbst und kein Vergessen (DP, S. 129, 132, 136). So kann es sein, dass es »gar keine Schuld« gibt (DP, S. 109), während der ohne Ende vonstattengehende, zugleich immer auf der Stelle tretende Prozess gleichwohl »allmählich ins Urteil über[geht]« (DP, S. 180). Hier schlägt nicht etwa eine konkrete Schuld und Verurteilung in »auswegloses Unglück« und Verdammnis um, wie Paul Ricœur meint 42, sondern das bloße Sich-stellen der Schuldfrage, ohne erkennbare, appellable Instanz, vor der sie sich stellen würde, ohne Anklage aufgrund von etwas und ohne Kläger, dem man erwidern könnte, droht auf eine Verurteilung für nichts und vor niemandem hinauszulaufen. Zum Schuldigsein ›verurteilt‹ (um es mit Jean-Paul Sartre zu sagen), sind wir offenbar auch in der ontologischen Perspektive Heideggers, die allerdings mit einer weitgehenden Entleerung und Desozialisierung des Schuldbegriffs selbst erkauft ist. Schuldig sind wir demnach ontologisch ›an‹ nichts Besonderem, ›für‹ nichts Bestimmtes und ›vor‹ keiner bestimmten Instanz. Weder sind wir ›etwas‹ schuldig

41 F. Kafka, Der Prozeß. Gesammelte Werke, Bd. 2, Frankfurt/M. 1976, S. 180 (= DP). Hervorhebung B. L. 42 P. Ricœur, »Schuld und Ethik. Ethische und religiöse Dimensionen des Bösen«, in: K.-O. Apel, D. Böhler, A. Berlich, G. Plumpe (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik 1, Frankfurt/M. 1980, S. 328–344, hier: S. 334.

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noch gar aufgrund von etwas oder vor Anderen schuldig. So fallen alle normalsprachlichen Anknüpfungspunkte weg, von denen Heidegger zunächst ausgehen muss (SZ, S. 281); und das Schuldigsein fällt aus allen Bezügen heraus, die es im Sinne einer Relation zu etwas und vor Anderen verständlich machen könnten. Maßgeblich bleibt nur noch ein Verhältnis des Daseins zu sich selbst in seiner eigenen Kontingenz. 43 Diesen »fundamentalen« Einsichten steht der »vulgäre« Befund gegenüber, dass das Dasein in seiner Alltäglichkeit scheinbar alles, was ihm begegnet und widerfährt, »als ein Zuhandenes [nimmt], das besorgt, das heißt verwaltet und verrechnet wird. Das ›Leben‹ ist ein ›Geschäft‹, gleichviel ob es seine Kosten deckt oder nicht« (SZ, § 59, S. 289). Genauer: es handelt sich um das ›Geschäft‹ einer Ökonomie, in der jederzeit alles mit allem und jedem verrechnet wird. So rechnet Dasein auch mit Zeit und mit sich selbst als einem real Verzeitlichten (SZ, S. 414, 420), aber auch mit Anderen, die ggf. »nur noch als ›Nummern‹ behandelt werden« in einem »rücksichtslosen Mitsein«, das »mit den Anderen [›rechnet‹], ohne daß es ernsthaft ›auf sie zählt‹ oder auch nur mit ihnen ›zu tun haben‹ möchte« (SZ, S. 125). Ontologisch, in der »Faktizität« unseres Daseins, sind wir demnach so oder so ›schuldig‹ – ganz gleich, ob wir ›Schulden haben‹ oder ›machen‹, ob wir uns an etwas ›schuldig gemacht‹ haben oder ›von jeglicher Schuld freisprechen‹ wollen. Hannah Arendt hat genau darauf bereits aufmerksam gemacht: So, wie die existenziale Analytik des Schuldigseins im Grunde alle als (an nichts Besonderem und vor niemand anderem) ›schuldig‹ erscheinen lässt, so kann sie im gleichen Zug auch alle als gleichermaßen unschuldig dastehen lassen. »Wenn jeder schuldig ist, ist es keiner.« 44 Die ontologische Analytik des Schuldigseins verhält sich zu jeglichem konkretisierbaren Anspruch Anderer sowohl im ökonomischen Register der Schulden als auch im moralischen Register der Schuld indifferent. Wir sind demnach ontologisch ›schuldig‹, ohne dass daraus im Geringsten irgendeine moralische Schuld oder ökonomische Schulden folgen würden.

So lässt sich die existenziale Ontologie der Schuld ohne weiteres als eine Strategie der Entschuldung deuten – nicht zuletzt in historischer Hinsicht; vgl. J. Altwegg (Hg.), Die Heidegger-Kontroverse, Frankfurt/M. 1988. 44 H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Bd. 2. Das Wollen, München, Zürich 21989, S. 176, 184. 43

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Generative, soziale und geschichtliche Schuld im Horizont der Moderne

Aber haben wir nicht bereits unser bloßes Dasein Anderen zu verdanken? Wir sind eben nicht »in die Welt geworfen«, wie es Sein und Zeit glauben machen will, sondern geboren worden und existieren unsererseits als »gebürtige« Wesen. Indem Hannah Arendt auf diese Weise ihren Grundbegriff der Natalität an Heidegger anschließt, bahnt sie einen Ausweg aus der Sackgasse einer Ontologie, die mit dem Anspruch angetreten war, die zwischen Schuld und Schulden, Moral und Ökonomie, radikaler Belastung mit und vollkommener Entlastung von jeglicher Verschuldung rätselhaft gewordene Frage zu klären, wie ein Mensch überhaupt – moralisch und/oder ökonomisch (etwas) – schuldig sein kann (um Kafkas Prozeß noch einmal aufzugreifen). Als Sackgasse entpuppt sich diese Ontologie insofern, als sie das originäre Schuldigsein von jeglicher ökonomischen und moralischen Bedeutung abkoppelt und sowohl das »vulgäre« Phänomen der Schuld als auch das der Schulden in den Bereich eines alltäglichen Verrechnens, Vergleichens und Wertens von allem und jedem abschiebt, in dem sich die berüchtigte »Tyrannei der Werte« ungehindert durchsetzen kann. 45 Gegen die Herrschaft eines ›rechenhaften‹ Denkens im Alltäglichen richtet die Ontologie des Schuldigseins nichts aus, wenn sie zur Geltung bringt, »daß der Mensch seine Existenz etwas anderem verdankt«. Denn »schon weil er existiert, ist er verschuldet«. Er verschuldet und verdankt seine Existenz bzw. das »nackte Daß« seines Daseins dem Sein; und angesichts dieser »ursprünglichen Verschuldung« sollte man »gegenüber dem Sein dankbar sein«. 46 Auch diese ontologische Dankbarkeit schert erkennbar aus jeglichen ökonomischen und moralischen Bezügen aus. Und sie wird ihrerseits nicht im Verhältnis zu Phänomenen der Schuld und der Verschuldung verständlich, die das alltägliche Leben prägen.

4.

Generative, soziale und geschichtliche Schuld im Horizont der Moderne

Das ändert sich, wenn wir existierendes Leben mit Arendt als ein zwischenzeitliches verstehen, d. h. als ein von Anderen gezeugtes und zur Welt gebrachtes, das sie normalerweise überlebt und von

45 46

C. Schmitt, E. Jüngel, S. Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979. Arendt, Vom Leben des Geistes. Bd. 2, S. 176.

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wieder Anderen überlebt wird. 47 In generativer Perspektive gewinnt der unbestimmte Ausdruck, dass der Mensch seine Existenz etwas anderem verdankt, eine soziale und zugleich geschichtliche Dimension zurück. Jeder verdankt – im guten wie im schlechten Sinne – seine Existenz Anderen, mit denen er oder sie in komplexen generativen Überlebensverhältnissen steht. Auch dieser Ausdruck erweist sich als vieldeutig: er kann eine kausale Verursachung bezeichnen, die Zeugung, das Geborenwordensein in einer naissance continué (Merleau-Ponty 48), die uns nach und nach erst ›zur Welt kommen‹ lässt, indem wir gastliche Aufnahme in ihr finden; und er kann eine moralische Schuld und ökonomische Schulden bezeichnen, in die wir infolgedessen geraten können. Dass aus dem Geborensein ökonomische Schulden folgen sollen, hat allerdings schon Kant als illegitim zurückgewiesen. Die eigene Existenz Anderen ›zu verdanken‹ zu haben, durfte in seiner Sicht keinerlei ökonomische Schuld nach sich ziehen. Ausdrücklich spricht er von der »Anmaßung«, »eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt« gesetzt und sie »eigenmächtig in sie herüber gebracht [zu] haben«. Wer dergleichen zu verantworten hat, schulde es den Nachkommen, sie »so viel in ihren Kräften ist, mit diesem […] Zustande zufrieden zu machen« und dabei »allem Anspruch auf Kostenerstattung« für die dabei aufgewendete Mühe zu entsagen. 49 Kindern schreibt Kant nur eine »Tugendpflicht« der Dankbarkeit 50 für alles zu, was ihre Eltern für sie – als Weltbürger, nicht als ihr Eigentum oder ihr »Gemächsel« – getan haben. Weder aus der bloßen Tatsache des Geborenwordenseins noch aus der Mühe, die sich Andere für einen Menschen gemacht haben mögen, folgen demnach irgendwelche ökonomischen Ansprüche gegen letzteren. Vielmehr stehen Eltern in der Schuld bzw. Verantwortung dafür, ihre Nachkommen mit dem Geborensein so weit wie möglich auszusöhnen. Umgekehrt können diese ihnen dafür dankbar sein. 51 In generativer Perspektive bedeutet die Verantwortung der UrAusführlich dazu: Vf., In der Zwischenzeit. Profile menschlicher Generativität heute, Zug 2016. 48 M. Merleau-Ponty, »Schrift für die Kandidatur am Collège de France«, in: Vorlesungen I, Berlin 1973, S. 3–11, hier: S. 6. 49 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, § 28 f.; vgl. Graeber, S, S. 335. 50 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 32, 592. 51 Wird Dankbarkeit, wenn überhaupt, nicht umso eher möglich, wie sie nicht zu 47

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heberschaft also moralische Schuld im Sinne der Verpflichtung gegenüber den Nachkommen (auch wenn diese noch gar keine entsprechenden Ansprüche erheben können). Im Sinne dieser Verpflichtung schuldet sie letzteren einseitige Vorleistungen, die keinerlei Anspruch auf ökonomischen Ausgleich begründen, also ›umsonst‹ erfolgen müssen. Insofern kommen sie einer einseitigen, nicht bloß ›unentgeltlichen‹, sondern überhaupt nicht zu vergeltenden Gabe gleich, die auch moralisch nicht wie eine Schuld zu begleichen ist. Die Dankbarkeit gibt nichts zuerst Gegebenes zurück. Sie ist gerade keine Rück-Gabe, die darauf hinauslaufen könnte, Gegebenes und Erwidertes zum Ausgleich zu bringen 52, so dass man miteinander quitt werden könnte, sondern eine »zweite erste Gabe« 53, die das generative Verhältnis der Beteiligten nicht etwa auflöst, sondern im besten Falle gerade vertieft, indem sie es von jeglicher Ökonomie von Vorleistungen und Rückerstattungen, Gläubigern und Schuldnern befreit. Das schließt allerdings nicht aus, dass faktisch doch die moralische Dankbarkeit gleichsam als Kompensation für ökonomische Vorleistungen oder umgekehrt umsonst getragene vorsorgende Verantwortung mit Blick auf eine spätere, kostenträchtige Entschädigung missverstanden wird 54, so dass sich auch hier wieder die Register des Ökonomischen und des Moralischen überkreuzen. Je weiter man sich nun aber von persönlichen generativen Verhältnissen entfernt und ganze Generationen im geschichtlichen Horizont von Vorfahren, Zeitgenossen und Nachfahren bis hin zur Vorgeschichte aller Toten und zur Nachgeschichte der künftig Lebenden in Betracht zieht 55, desto unklarer wird, wie der mit Arendt auf zwischenzeitliches, gebürtiges und sterbliches Leben eines Einzelnen gemünzte Ausdruck, jeder habe seine Existenz Anderen zu verdanken, noch mit einer moralischen Dimension der Schuld oder mit einer ökonomischen Dimension von Schulden zu tun haben kann. Was erwarten ist? Widerstreitet die Verpflichtung zur Dankbarkeit nicht deren Gabecharakter? 52 Vgl. demgegenüber G. Marcel, Das grosse Erbe. Tradition, Dankbarkeit, Pietät, Münster 1952, S. 24. 53 P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen – Wiedererkennen – Anerkanntsein, Frankfurt/M. 2006, S. 301. 54 Von Einzelheiten mit Blick auf Probleme der Pflege im Alter usw. sehe ich hier ganz ab. 55 Vgl. A. Schütz, T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1/2, Frankfurt/M. 1979/1984.

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sollte man je anonymen Anderen moralisch oder ökonomisch schulden, die man gar nicht gekannt hat und die längst verstorben sind? Die gleiche Frage stellt sich im Hinblick auf die Zukunft derer, die nach uns kommen. 56 Sie musste sich verschärft stellen, seitdem man sich ausdrücklich einer grundsätzlich ›neuen‹ Zeit verschrieben hat, die sich dadurch auszeichnen sollte, dass sie ständig das Alte überwindet. Als Kraft solcher immer neu sich bewährenden Überwindung sollte sie gar nichts anderem zu verdanken sein. Auch eine sich autokatalytisch durch ständige Modernisierung selbst vorantreibende Moderne musste sich zwar an das Vorangegangene anlehnen und auf ihm aufbauen. Aber als eine solche Kraft der ständigen Innovation – sei es durch technische Erfindungen, sei es auf revolutionären politischen Wegen, sei es durch eine ständige évolution créatrice des Lebens – schien sie früheren Zeiten gar nichts zu schulden. Theoretiker des Neuen wie James M. Baldwin, William James und Henri Bergson insistierten darauf, dass sich die originäre Ermöglichung von Neuem, das nicht vorher schon möglich war, niemals auf zureichende antezedente Bedingungen zurückführen lässt. Aber verdankt sie sich nicht ihrerseits doch einer Vergangenheit, durch die allein sie zumindest angebahnt werden konnte? Gilt das nicht für evolutionäre Naturprozesse genauso wie für geschichtliche Formen der Zeitigung von Neuem? Jede Antwort, die man auf diese Frage geben wird, hängt davon ab, was man unter ›verdanken‹ versteht. Dass die Ermöglichung des Neuen an Altes irgendwie anknüpfen und dass es auf ihm aufbauen muss, hätten auch Futuristen nicht bestritten, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts wie Bergson als Apologeten des Neuen auftraten. Aber sie bestritten mit Nachdruck, dass dem Vergangenen im Allgemeinen oder den Toten im Besonderen im Sinne einer moralischen Verbindlichkeit oder Schuld irgendetwas zu verdanken sei. Sie verwarfen jegliche Vorstellung einer kausalen oder moralischen »Verkettung« von Vergangenheit und Gegenwart und propagierten sogar eine »Eliminierung« des Vergangenen, sofern es nicht ohnehin »Bankrott gemacht« hat. Mit Lust verwarfen Filippo Marinetti und seine Gesinnungsgenossen »die professorale Leidenschaft für die Vergangenheit, die Antikenmanie und Sammlerleidenschaft« und propagierten darüber hinaus eine »Politik der verbrannVon den längst zahlreich vorliegenden »zukunftsethischen« Ansätzen – allen voran Hans Jonas’ Verantwortungsethik –, die diese Frage zu beantworten versucht haben, sehe ich hier ab.

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ten Erde«, die »den futuristischen Menschen aus dem Rauch und den Trümmern« der Vergangenheit »neu erstehen« lassen sollte. Allenfalls »als Balsam für die Leiden derer, denen die Zukunft versperrt ist«, wollten sie noch eine »bewundernswürdige Vergangenheit« gelten lassen. 57 Aber jeglichen Gedanken an irgendeine Schuld ihr gegenüber quittierten sie mit äußerster Verachtung. Niemand hat demnach irgendjemandem irgendetwas zu verdanken; und wir Modernen, die das Neue zeitigen, sind niemandem etwas schuldig. Weder moralisch noch ökonomisch. 58 Damit war der extremste Gegenstandpunkt zu der Position bezogen, die in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung und des Deutschen Idealismus auf die Behauptung hinauszulaufen schien, alle hätten auch in der europäischen Moderne noch in historischer Hinsicht allen alles zu verdanken. Indem diese Philosophie darauf reflektierte, wie jede spätere Gegenwart ihre Vorgeschichte voraussetzt, an sie anknüpft und ggf. überwindet, legte sie genau diesen Schluss nahe. So überlegte Friedrich Schiller in seiner Jenaer akademischen Antrittsrede Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? im Jahre 1789, ob das, »was wir jetzt sind« – und zwar »in Wahrheit« –, nicht »das Resultat vielleicht aller vorhergegangenen Weltbegebenheiten« ist und »die ganze Weltgeschichte« zu seiner Erklärung erfordert. 59 Dabei stellte er sich Geschichte nicht bloß als (erklärbare) kausal-mechanische Verkettung von Ursachen und Folgen, sondern primär als ein moralisch-fortschrittliches Geschehen zugunsten der später Lebenden vor, die den gesamten geschichtlichen Ertrag aller ihnen vorausgegangenen Vergangenheiten gewissermaßen erben und für sich in Anspruch nehmen können. »Wie viele Kriege mußten geführt […] werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Bürgern vergönnt, ihre […] Kräfte zu einem verständigen Zwecke zu versammeln! Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen können wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu unsrer Kultur, wie die entlegensten Weltteile

H. Schmidt-Bergmann, Futurismus. Geschichte – Ästhetik – Dokumente, Reinbek 2009, S. 48, 60, 79. 58 Ob das sinngemäß auch für die sog. Postmoderne gilt oder für eine wieder ›neue Zeit‹ gelten muss, die auch sie ablösen könnte, bleibe dahingestellt. 59 F. Schiller, Universalhistorische Schriften, Frankfurt/M., Leipzig 1999, S. 20, 24. 57

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zu unserm Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Würze an unsren Speisen und der Preis, um den wir sie kaufen, viele unsrer kräftigsten Heilmittel, und eben so viele neue Werkzeuge unsers Verderbens – setzen sie nicht einen Columbus voraus, der Amerika entdeckte, einen Vasco de Gama, der die Spitze von Afrika umschiffte?« Mussten nicht alle »Greuel auf das Menschengeschlecht aus[geleert]« werden, damit ein »menschliches Jahrhundert« anbrechen konnte? 60 Bleiben wir in diesem Sinne auch »allen aufgeregten Wall- und Kreuzfahrern zu Dank verpflichtet, da wir ihrem religiösen Enthusiasmus, ihrem kräftigen, unermüdlichen Widerstreit gegen östliches Zudringen doch eigentlich Beschützung und Erhaltung der gebildeten europäischen Zustände schuldig geworden«, wie noch Johann W. Goethe in seinem West-östlichen Diwan (1819) behauptete? 61 ›Profitieren‹ wir in diesem Sinne auch von den Verheerungen, die sie in den Ländern des Orients angerichtet haben, noch heute? Stehen ›wir‹ Europäer in ihrer Schuld, auch wenn ›wir‹ für uns in Anspruch nehmen, ihre Vergangenheit längst überwunden zu haben und ihre religiöse und kolonialistische Gewalt zu verurteilen? 62 Stehen ›wir‹ so allen gegenüber – bis heute – in historischer Schuld, auch denen gegenüber, deren Makroverbrechen erst gewaltsam beendet werden mussten, um wenigstens Westeuropa zweihundert Jahre später dauerhaft zu befrieden?

5.

Schuld als nachträglich-responsive Verantwortung

In seinen auf das Jahr 1940 zurückgehenden Thesen zum Begriff der Geschichte hat Walter Benjamin energisch dagegen Einspruch erhoben, auf diese Weise weiterhin Geschichtsphilosophie zu betreiben und selbst Verbrechen als zum geschichtlichen Fortschritt dienlich und sogar unvermeidlich beitragend zu rationalisieren. Was andere Kulturgüter nannten und als hochkulturellen Reichtum einstuften, denunziert er ohne weiteres als »Beute«, die im Triumphzug der jeweiligen Sieger mitgeführt werde, welche die Geschichte der menschEbd., S. 24, 26 f., 34. J. W. Goethe, West-östlicher Diwan, Frankfurt/M. 1988, S. 231. 62 Welche Schwierigkeiten man damit bis heute hat, ist aus Charles Taylors Buch Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012, zu ersehen – vorausgesetzt, man überliest die entsprechenden Schlüsselstellen nicht. Vgl. Vf., »Humanismus, Gewalt und Religion«, in: M. Kühnlein (Hg.), Charles Taylor. Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2018, S. 179–196. 60 61

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Schuld als nachträglich-responsive Verantwortung

lichen Gattung über die Köpfe derer hinweg beherrschen, »die heute am Boden liegen«. Und er generalisiert diese Einsicht: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist.« 63 Gegen diesen fatalen Zusammenhang von Kultur, Geschichte und Barbarei setzt Benjamin das »messianische« Versprechen einer Rettung, die nachträglich auch die längst »Besiegten« noch davor sollte bewahren können, ihren Feinden endgültig zum Opfer zu fallen. Nicht allen uns vorangegangenen Toten und ihrer kulturellen Hinterlassenschaft gegenüber, sondern nur im Verhältnis zu den Besiegten stünden wir demnach in moralischer Schuld – was auch immer wir ihnen ansonsten in einem nicht-moralischen Sinne ›zu verdanken haben‹, sei es, weil wir davon ›profitieren‹, sei es, weil es sich in der Gegenwart als ›schweres Erbe‹ auswirkt. Wenige Jahre später sollten allerdings auch die Nazis, denen sich Benjamin auf der Flucht vor ihnen nur noch durch Suizid glaubte entziehen zu können, zu den Besiegten zählen. Sollte man in Anbetracht dessen die Frage »Was sind wir den Verstorbenen schuldig?« – und zwar selbst dann, »wenn alles vorbei« ist 64 – allein noch auf die Opfer der von Anderen verübten Gewalt beziehen? Von Walter Benjamin über Jacques Derrida bis hin zu Paul Ricœur zeichnet sich in der Tat genau diese Tendenz ab: die SchuldFrage von der Vergangenheit zu entkoppeln, der wir nach Schiller alles zu verdanken haben, was wir sind und uns in Wahrheit ausmacht, und sie nur noch darauf zu beschränken, was wir Vorangegangenen moralisch schuldig sind – und zwar im Sinne von Maßstäben, die wirklich Anerkennung verdienen. 65 Mit großem geschichtstheoretischem Aufwand hat Ricœur zu zeigen versucht, dass es sich hierbei nur um »die nicht gehaltenen Versprechen der Vergangenheit« handeln könne, die für die später Lebenden verbindlich bleiben müssten; sei es auch nur dadurch, dass sie in Erinnerung behalten, dass man den Opfern geschichtlicher Gewalt gegenüber elementarste Ver-

W. Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 1980, S. 251–263, hier: S. 254, Nr. VII. 64 G. Agamben, Nacktheiten, Frankfurt/M. 2010, S. 70 f. 65 Vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung III. Die erzählte Zeit, München 1991, S. 161, 223, 251 ff., 289, 306–311, 369, 410. 63 2

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sprechen gebrochen hat (als die sich vor allem die Menschenrechte deuten lassen). »Diesen [Versprechen] gegenüber stehen wir ursprünglich in Schuld«, behauptet Ricœur – in einer bemerkenswerten Abweichung von Heidegger, dessen Ontologie des Schuldigseins er selbstverständlich gekannt hat. 66 Wie kann man aber sagen, dass wir im Horizont der Geschichte, die doch als Kollektivsingular erst in der Neuzeit erfunden worden ist (vorher gab es dieser bekannten These zufolge Geschichten, aber keine Geschichte), »ursprünglich« in einer Dimension moralischer Schuld stehen bzw. existieren? Ricœur zögert nicht, von einer »ontologischen Dimension der Existenz« zu sprechen – in einem existenzial-hermeneutischen Vokabular, das erst im 20. Jahrhundert zur Verfügung stand, mit dessen Hilfe aber nachträglich deutlich gemacht werden soll, wie Menschen im Grunde immer schon existiert haben, zumindest seit sie ein Gewissen ›haben‹ und insofern scheinbar unter der Herrschaft eines Gesetzes leben, das ihnen das Falsche und Verbotene zu tun untersagt. Im Rekurs auf die überlieferte Symbolik des Bösen versucht Ricœur dem Befund Rechnung zu tragen, dass das Gewissen und das Gesetz eine (nur symbolisch-mythologisch aufzuklärende) Geschichte haben, die mit einer progressiven Verinnerlichung subjektiven Schuldbewusstseins einhergegangen ist. An deren vorläufigem Ende steht der performative Akt des Aufsichnehmens von Schuld, des Sichzurechnens von Handlungen, die man hätte unterlassen oder anders tun können. 67 Im Horizont der Geschichte, wie sie erst in der Moderne gedacht worden ist, stehen wir insofern vor dem Rätsel, wie es dazu kommen konnte, dass man sich angesichts einer Vergangenheit ›schuldig‹ fühlt und sich als in einer Schuld bereits ›stehend‹ realisiert, in der man als Handelnder noch gar nicht existiert hat, so dass eine Rechenschaftsverantwortung für Getanes hier gar nicht in Betracht kommen kann. Angesichts der Vergangenheit jener »gebrochenen Versprechen« 68 P. Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998, S. 65, 67; ders., Geschichte und Wahrheit [1955], München 1974, S. 102. 67 P. Ricœur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, Freiburg i. Br., München 21988. 68 Vf., »Sinn für Ungerechtigkeit und das (gebrochene) Versprechen der Gerechtigkeit in der globalen Krise der Ökonomie. Kritisches zum Vertrauen in transnationale Gerechtigkeit im Anschluss an Jeffrey Sachs und Margaret U. Walker«, in: G. Hartung, S. Schaede (Hg.), Internationale Gerechtigkeit: Theorie und Praxis, Darmstadt 2009, S. 47–72; »Die (gebrochenen) Versprechen der Moderne. Zur geschichtsphi66

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steht niemand, der nicht unmittelbar an ihr beteiligt war, in dieser Verantwortung. Wohl aber existieren wir (suggeriert Ricœur) in der nachträglich-responsiven Verantwortung für eine Geschichte, die uns nicht gleichgültig sein kann, soll sie sich nicht auf einen natürlichen bzw. indifferenten ›Lauf der Dinge‹ reduzieren, den man nur hinnehmen könnte. Dass Geschehenes, das später Lebenden ohnehin nicht zuzurechnen ist, nicht nachträglich ungeschehen oder ›wieder gut‹ zu machen ist, mag sein; doch daraus folgt nicht, dass die Erinnerung an jene Versprechen für die Zukunft bedeutungslos sein müsste. Im Gegenteil: Was Ricœur als geschichtliche Schuld gerade derer bezeichnet, die sich im Sinne der Rechenschaftsverantwortung nichts haben ›zu Schulden kommen lassen‹, verknüpft erinnerte Vergangenheit, der Andere zum Opfer gefallen sind, mit der Zukunft derer, die nach uns kommen: wenigstens ihnen soll nicht das Gleiche oder Ähnliches widerfahren. 69 Der geschichtliche Horizont, in dem dieses ethische Denken entfaltet wird, ist ganz offensichtlich ein spezifisch moderner. Und die »existenziale« Interpretation einer geschichtlichen Dimension schuldloser Schuld (dette vs. faute 70) lässt sich nur im Sinne einer historisierten Ontologie verstehen. 71 Dass und wie wir geschichtlich so leben, dass wir selbst in geschichtliche Verhältnissen zu uns vollkommen Fremden solche Schuld empfinden können und wenigstens durch sie affizierbar sind, ist eine Frage, die überhaupt erst in der Moderne aufkommen konnte. Erst diese geschichtliche Epoche hat die Geschichte zum Vorschein und zur Geltung gebracht; und sie erst musste die Frage aufwerfen, was uns Andere auch weit jenseits unserer eigenen Erfahrungs- und Erwartungshorizonte moralisch ›angehen‹ und ob und wie die bloße Möglichkeit, durch diese Frage affizierbar zu sein, zu den Grundstrukturen unserer Existenz zählt. 72 losophischen Dimension des Politischen: Paul Ricœur«, in: Unaufhebbare Gewalt. Umrisse einer Anti-Geschichte des Politischen. Leipziger Vorlesungen zur Politischen Theorie und Sozialphilosophie, Weilerswist 2015, Kap. XV. 69 Bei denen, ›die nach uns kommen‹, handelt es sich keineswegs nur um ›eigene‹ Nachkommen. Vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung III, S. 306. 70 P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 772 f. 71 Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass auch Heideggers auf den ersten Blick ahistorische Ontologie nur verständlich wird, wenn man bedenkt, wie sehr der Rückgriff auf die sog. Existenzialien von einem vorgängigen ›existenziellen Verstehen‹ abhängt (SZ, § 4, S. 12; § 63 f., S. 312, 328). 72 Vgl. I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, in: Werkausgabe Bd. XI, S. 191–251, hier: S. 216.

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Tatsächlich handelt es sich um bis heute virulente Forschungsprobleme, die nicht mehr im Rekurs auf vermeintliche Evidenz zu erledigen sind. Weder kulturhistorisch-ethnologischen Diskursen noch diversen Theologien und ihren Geschichten oder philosophischen Anthropologien und Ontologien ist eindeutig zu entnehmen, ob und inwiefern wir schuldig sind, schuldig werden können oder uns selbst schuldlos Schuld zurechnen und sie ›übernehmen‹ können oder müssen, wenn sich Geschichte nicht auf barbarische Art und Weise als ununterbrochener Gewaltzusammenhang wiederholen soll. Diese produktive ›Unklarheit‹ zeigt sich schon daran, dass derart extreme Gegenpositionen bezogen werden konnten wie die der Futuristen und derer, die sich nach Hegel mit Kierkegaard und Dostojewski in ein ›existenzielles‹ Denken einschreiben. Dieses Denken schreibt den Begriff der (moralischen) Schuld allein real existierenden Individuen zu und enthebt sie endgültig jeglichen kosmologischen Schuldzusammenhangs, wie man ihn unter Berufung auf Anaximanders vorsokratische Rede von einem unaufhörlichen Entstehen und Vergehen aller Dinge bis in die Renaissance hinein begriffen hatte. 73 Individuen sind demnach nicht schuldig und werden nicht schuldig, weil sie Teil eines alles umfassenden Geschehens des Werdens und des Sterbens sind, 74 in dem sie dem Sein, Gott oder der Natur »einen Tod schuldig« wären (William Shakespeare, John Milton, Sigmund Freud 75) und ihr Leben zurückgeben müssten, weil »nichts geschenkt ist« 76, sondern weil sie unvermeidlich handeln müssen, sobald sie ›da‹ sind. »Unschuldig ist daher nur das Nichttun wie das Sein eines Steines, nicht einmal eines Kindes«, heißt es in

J. Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1987, S. 73 f.; Arendt, Vom Leben des Geistes. Bd. 2, S. 180; Hénaff, Der Preis der Wahrheit, S. 349 ff. Graeber verweist in diesem Zusammehang auf François Rabelais, der die Denkbarkeit einer »Welt ohne Schuldigsein« erwog. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass dieser Autor kosmische Prozesse der Verursachung (im Verhältnis zwischen Jupiter und Saturn) mit sozialen Prozessen des Austauschs kontaminiert. Die Folgerung Graebers lautet: »eine Welt, in der nichts geliehen und geschuldet würde, wäre […] wild und chaotisch«, jedenfalls kein Kosmos (S, S. 159 f.). 74 Dass die Spur dieser vorsokratischen Idee keineswegs völlig verblasst ist, zeigt ihre ontologische Reinterpretation von Friedrich Nietzsche über Martin Heidegger bis hin zu Eugen Fink; vgl. E. Fink, Nietzsches Philosophie [1960], Stuttgart 31973, S. 40. 75 S. Freud, »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« [1915], in: Fragen der Gesellschaft, S. 33–60, hier: S. 49; H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1996, S. 105. 76 Siehe Anm. 1 zu Kap. XXVI. 73

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Hegels Phänomenologie des Geistes. 77 Wer handeln kann, muss schuldig werden. Schuldfähig, d. h. affizierbar durch Schuld, sind wir insofern von Anfang an. Das gehört insofern zu den ontologischen Bedingungen unserer Existenz, die Ricœur im Anschluss an Kant, Hegel und Heidegger auf den Begriff der culpabilité bringt. Dieser Begriff besagt zunächst nur, dass man als leibhaftiges, praktisches Subjekt nicht nur ›fehlen‹ kann, sondern als Handelnder unvermeidlich mit eigener Fehlbarkeit konfrontiert ist. Er besagt aber keineswegs, dass man an etwas Konkretem oder gar an allem Möglichen schuldig sein muss, wie es Dostojewski in Die Brüder Karamasow ausgedrückt hat. Zweifellos knüpft Ricœur an Heideggers Ontologie an, wenn er noch in seinem Spätwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen auf dieser Linie die Frage nach dem Schuldigsein in historischer Perspektive vertieft. Mit Bedacht spricht er hier allerdings von einer »conditio historica unseres jemeinigen Seins«, weil er nicht mehr daran glaubt, es lasse sich eine direkte Existanzialontologie des Schuldigseins von ›existenziellen‹ Erfahrungen der Schuld und der Verschuldung fein säuberlich trennen. 78 Sind es nicht gerade die durch und durch historisch bedingten Erfahrungen neuartiger Schuld und Verschuldungen, die auch den philosophischen Schuld-Diskurs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Plan gerufen haben? Von Jean Nabert über Vladimir Jankélévitch bis hin zu Jacques Derrida greift man zwar auf die einschlägigen Analysen von Kant, Hegel, Kierkegaard, Jaspers und Heidegger zurück. Aber man muss dabei dem Befund Rechnung tragen, dass selbst das Böse, das Unverzeihliche und niemals wieder gut zu Machende ›Geschichte gemacht‹ hat. 79 Von der Negativität dessen her, woran Menschen sich schuldig gemacht haben, mussten alle diese Autoren neu zu bestimmen versuchen, wie die Affizierbarkeit durch Schuld im Lichte unvorhergesehener historischer Erfahrungen zu verstehen ist. Im Gegensatz zu Heideggers Ontologie eines jeglichen Inhalts entleerten und desozialisierten Schuldigseins gewinnt dabei die Schuld ihre relationale Dimension zurück: Wie auch immer wir uns in unserer Kontingenz auch selbst verfehlen mögen, schuldig werden wir nur in einer mit Anderen geteilten Welt und in G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 41980, S. 327. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 702 ff. 79 Von der Radikalität im Sinne Kants bis hin zur Banalität im Sinne Arendts, könnte man verkürzt sagen. 77 78

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gewisser Weise auch nur an ihnen (bzw. an ihr). Eine Welt können wir nur mit Anderen teilen, weil sie uns in sie aufgenommen haben, d. h. weil wir ihnen unser Leben zu verdanken haben. Das ist die elementarste genealogische Voraussetzung eines generativen, zwischenzeitlichen Lebens, das nur durch Andere und als Verhältnis zu und mit Anderen möglich werden kann. Nur ›dank Anderer‹ existieren wir überhaupt. Dieses ›Verdanken‹ liegt jeglicher Schuld, in die man sich verstricken kann, ebenso voraus wie allen Schulden, die man machen, aufhäufen und ggf. wieder abtragen kann. Es handelt sich nach allem, was wir bislang darüber wissen, um ein an-ökonomisches Sich-Anderen-schulden, das weder eine moralische Schuld noch gar ökonomische Schulden nach sich zieht – wie auch immer man sich für das, was man Anderen verdankt, als dankbar erweisen mag oder nicht. Auch dieses Sich-Anderen-schulden kann aber nur als Struktur einer conditio historica verstanden werden, die keineswegs jeglichem moralischen oder ökonomischen Zugriff entzogen ist (wie es beim Heidegger’schen »Schuldig-sein« der Fall zu sein scheint). Im Gegenteil: von der antiken pietas über die Kantische Tugendpflicht der Dankbarkeit und Levinas’ Ethik der Verantwortung bis hin zum sog. Generationenvertrag, der in Zeiten demografischer Verwerfungen gerechte ökonomische Ansprüche zwischen Alten und Jungen regeln soll, haben wir es mit Versuchen zu tun, das, was man einander verdankt, in eine Logik der Verschuldung umzudeuten. Was man einander verdankt, ›schuldet‹ man Anderen dann so, dass man ihnen etwas zurückgeben (oder wenigstens an die nächste Generation weitergeben 80) muss, wovon man ›profitiert‹ hat. Dieses ›Müssen‹, das davon ›Rechenschaft‹ (!) ablegt, geht aber weder aus der menschlichen Generativität noch aus der Dynamik kultureller ›Erbschaft‹ ohne weiteres hervor. 81 Selbst wenn wir nichts je ganz aus uns selbst heraus und insofern allein uns selbst zu verdanken hätten, würde uns daraus nicht unmittelbar eine moralische Schuld erwachsen. Genausowenig würden daraus ökonomische Schulden resultieren – schon gar nicht im Verhältnis zur ganzen Vergangenheit, dem Sein oder allen gegen-

Friedrich Schiller spricht in seiner Jenaer Antrittsvorlesung von dem »stille[n] Wunsch […], an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten«, die dem vergangenen gegenüber nicht mehr abgetragen werden kann (Universalhistorische Schriften, S. 35). 81 Vgl. Graeber, S, S. 91. 80

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Schuld als nachträglich-responsive Verantwortung

über, die uns vorausgegangen sind und deren Hinterlassenschaft uns jetzt ›bereichert‹. Schließlich »bricht auch ihr Wahnsinn an uns aus«, würde Nietzsche einwerfen. 82 Deswegen ist es unerlässlich, zu unterscheiden und in kritischer Einstellung zu ›erben‹ 83, was man Anderen verdankt. Auch die Alterität des Anderen, für die Levinas so energisch eingetreten ist, um sie als Quelle aller Schuld vor jeglichen Schulden zur Geltung zu bringen, kann uns das nicht ersparen. Das zeigt gerade der Geschichtsdiskurs, der die Vergangenheit in Erinnerung ruft, der zahllose Andere menschlicher Gewalt zum Opfer gefallen sind. Auch diese furchtbare Erbschaft haben wir Anderen zu verdanken. Das kann bzw. darf eine Rhetorik der Wiederverschuldung nicht übersehen, die einer Zeit exzessiver ökonomischer, moralische Verbindlichkeit und Verantwortung ignorierender Verschuldungen die Erinnerung daran entgegensetzt, was wir einander schulden. Ob die Krise, in die exzessive Verschuldung geführt hat, im Rekurs gerade darauf kuriert werden kann, wird sich erst erweisen müssen. Unabhängig davon hat aber der Vorwurf an die Adresse rein ökonomischen Denkens Gewicht, es verhalte sich ganz und gar ignorant gegenüber dem Gedanken, in jemandes Schuld zu stehen. In niemandes Schuld stehen zu wollen, wird jetzt als Undankbarkeit moralisiert und mit dem Vorwurf verknüpft, so versuche man sich jeglicher Verbindlichkeit und jeglichem sozialen Verbundensein zu entwinden. 84 Dagegen wird förmlich der Wunsch nach Verschuldung zum Ausdruck gebracht, der auf eine ökonomischem Denken niemals zu entnehmende Verbundenheit abzielt. So wird moralische Schuld gegen ökonomische Schulden ins Feld geführt; und umgekehrt werden ökonomische Schulden, die aus der Überschuldung nicht mehr zu entkommen erlauben, als Formen der Knechtschaft und Ausbeutung F. Nietzsche, »Also sprach Zarathustra I«, in: Sämtliche Werke, Bd. 4, S. 9–102, hier: S. 100. Zum ›wahnsinnigen‹ Erbe, das uns eine lange Geschichte der Schuld hinterlassen hat, gehört zweifellos auch der exzessive Versuch, sich gerade durch massive Schuld von ihr befreien zu wollen, um also paradoxerweise »unschuldig zu sein vor Schuld«. So hat Maurice Blanchot de Sade gedeutet in: Sade, Berlin 21986, S. 62. 83 J. Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale Frankfurt/M. 1995, S. 92 f. 84 M. Kühnlein, »Religion als Auszug der Freiheit aus dem Gesetz? Charles Taylor über die Vermessungsgrenzen des säkularen Zeitalters«, in: ders., M. Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin 2011, S. 388–445, hier: S. 425, 428; M. Seel, »Glaube, Hoffnung, Liebe – und einige andere nicht allein christliche Tugenden«, ebd., S. 797–820, hier: S. 806. 82

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XXV · Schuld – Schulden – Verdanken

moralisiert. 85 Drohen nicht gerade solche Schulden jegliche Verbundenheit zu zerstören, durch die man Anderen gegenüber in Schuld steht? Aber ist das die einzige Alternative: entweder nur ökonomisch durch (im Prinzip freiwillige und wieder abzutragende) Schulden, im Grunde also gar nicht, oder moralisch verbunden zu sein – kraft einer Schuld, in der man bereits ›steht‹ und die so oder so ›die Schuldigen‹ verpflichtet? In der hier skizzierten Perspektive eröffnet sich noch ein dritter Weg, wenn man bedenkt, dass die Möglichkeit von Schuld und von Schulden immer schon ein generatives, zwischenzeitliches Leben voraussetzt, das jeder Anderen zu verdanken hat und das Dank nach sich ziehen kann, aber keineswegs erzwingen muss. Das Anderen und dem Zusammenleben mit ihnen zu verdankende Leben bedeutet keine »primordiale Lebensschuld«, »die kein Ende findet, weil [sie] in Wirklichkeit eine unendliche Schuld ist«, die die endlose Verpflichtung nach sich ziehen müsste, sie zu begleichen, wie manche meinen. 86 Wenn überhaupt, dann sind es die Anderen, die schon da sind und für die Existenz von Nachkommen direkt verantwortlich sind, schuldig, ihnen Spielräume eines eigenen, für sie wirklich und individuell lebbaren Lebens zu eröffnen, von dem sie später im bejahenden Sinne sagen können, sie hätten es Anderen zu verdanken. Gerade die Befreiung von jeglicher Schuld und von jeglicher Belastung mit Schulden kann einen solchen Weg eröffnen. Originär verbunden sind wir so gesehen als zur Welt Gebrachte, denen Andere Spielräume eines eigenen Lebens schuldig sind, die man ihnen im besten Falle verdanken kann. Auf dieses ›Schuldig-sein‹ stoßen wir heute erst im Horizont der Antizipation von weltweit ruinierten Lebensmöglichkeiten, die überhaupt nicht mehr als Anderen zu verdankende auch zu bejahen wären. Unter dem Eindruck der Negativität einer aus den Fugen geratenen Schulden-Ökonomie, die solche Aussichten heraufbeschwört, können wir die gedankliche Gegenprobe machen: ob es Anderen, die nach uns kommen, im Geringsten als annehmbar erscheinen kann, nicht zu bejahende Lebensumstände vorzufinden, die sie uns zu verdanken hätten. Hier oder anderswo.

D. Malone, The Debt Generation, Lancaster 2010, S. 56. Vgl. Lazzarato, »Der verschuldete Mensch«, S. 46. Hier wird allerdings auch zur Diskussion gestellt, ob nicht auch diese Lebensschuld nur eingeredet wird.

85 86

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Kapitel XXVI De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden Rückfragen nach einem ursprünglichen, wiederherzustellenden oder neu zu etablierenden Verhältnis von Moral und Gesellschaft Nichts ist geschenkt. Wisława Szymborska 1 We have a chance to stop further vast debt enslavement […] and the trumping of democratic control by economic fear. David Malone 2

1.

Gewaltsame Ökonomisierung?

Die noch lange nicht ausgestandene und möglicherweise gar nicht mehr lösbare Finanzkrise des Jahres 2008 hat jedermann vor Augen geführt, wie nationale und transnationale Schulden-Ökonomien aus den Fugen geraten sind. Massive Überschuldung von Staaten überschattet kommende Generationen und wirft neben Fragen finanzieller Haftung und ursächlicher Verantwortung auch moralische Probleme der Schuld auf, die man sich selbst oder anderen für exzessive Überschuldung zurechnet. Ein gewichtiges Indiz dafür, wie dabei ökonomische Schulden und moralische Schuld zusammenhängen, ist zweifellos, wie gegenwärtig nicht nur europäische Gesellschaften die kollektive Erfahrung einer gesellschaftlichen Demoralisierung durchmachen, die zu einem erheblichen Teil aus einer moralisch kritisierten, aber als überwältigend und lähmend erscheinenden Überschuldung resultiert. Diese Erfahrung zwingt dazu, den Zusammenhang von Moral und Gesellschaft neu zu bedenken, der von vielen Theoretikern gesellschaftlichen Lebens ganz in Abrede gestellt wird, so

1 2

W. Szymborska, Auf Wiedersehen. Bis morgen. Gedichte, Frankfurt/M. 1998, S. 36. D. Malone, The Debt Generation, Lancaster 2010, S. 56.

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XXVI · De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden

dass es den Anschein hat, als sei das Moralische kaum mehr zugleich als Gesellschaftliches und umgekehrt dieses kaum mehr zugleich als Moralisches zu begreifen. 3 Man vergleiche dagegen Emile Durkheims pädagogische Sorbonne-Vorlesungen der Jahre 1902/3 zum Thema Erziehung, Moral und Gesellschaft, wo es heißt: »moralisch« seien all jene Ziele, »die eine Gesellschaft zum Objekt haben«; und zwar »im Hinblick auf ein Kollektivinteresse«. 4 Ich verfolge kein ›erzieherisches‹ Programm mit der Absicht, eine derartige quasi-dingliche moralische Objektivität des Gesellschaftlichen zu restituieren. Und genauso wenig hege ich die Absicht einer ›moralistischen‹ Kritik an Positionen, die an ein ontologisches »Wesen sui generis« 5 des Gesellschaftlichen nicht länger glauben lassen, so dass sie – aus einer Durkheimianischen Sicht – das Phänomen des Moralischen unweigerlich verfehlen müssten, das in der Perspektive dieses Soziologen mit dem Gesellschaftlichen geradezu deckungsgleich ist. (Demnach gäbe es gar keine ›Moral‹, die nicht auch gesellschaftlicher Natur wäre; und umgekehrt gäbe es nichts Gesellschaftliches, das nicht auch ›moralischer Natur‹ wäre.) Vielmehr verfolge ich das negativistische Projekt einer Rekonstruktion des Zusammenhangs von Moral und Gesellschaft ausgehend von der Erfahrung des Verlusts, der Schwächung oder des Verschwindens dieses Zusammenhangs. Dabei muss ich in Rechnung stellen, dass das Moralische und das Gesellschaftliche eine erhebliche Differenzierung erfahren haben, die es unmöglich macht, beides auf einen einheitlichen, generellen Nenner zu bringen. So lässt sich Moral in gesellschaftlicher Hinsicht nicht mehr auf eine Deontologie reduzieren, der zufolge wir primär (wenn nicht gar allein) als durch Pflichten vergesellschaftet zu begreifen sind. Längst kennen wir auch ganz andere Formen gesellschaftlicher Verbindlichkeit, darunter die Verantwortung, die Loyalität, »moralities of everyday life« wie eine gewisse Zivilität und höfliche, respektvolle Umgangsformen. 6 Und Gesellschaft manifestiert sich nicht (allein) in Vgl. demgegenüber K. Kosik et al., Moral und Gesellschaft, Frankfurt/M. 21970. E. Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesungen an der Sorbonne 1902/1903, Frankfurt/M. 1984, S. 111. 5 Ebd., S. 112. 6 Vgl. neben H. Plessners bereits diskutierter Schrift Grenzen der Gemeinschaft bspw.: J. Sabini, M. Silver, Moralities of Everyday Life, New York 1982; G. P. Fletscher, Loyalität. Über die Moral von Beziehungen, Frankfurt/M. 1994; L. Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen 3 4

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Gewaltsame Ökonomisierung?

der quasi-sakralen Suprematie eines Kollektivs 7, das souverän den Tod der Einzelnen überlebt (wie Durkheim es sich vorstellte), sondern zunächst in Formen der Resonanz, der Responsivität, der Anknüpfung an Andere, sei es einseitig, sei es gegenseitig und agonal oder antagonistisch, und der Vernetzung, wie sie von Luhmann bis Latour beschrieben wird. In dieser Lage werden wir schwerlich eine Identität von Moral und Gesellschaft restituieren können, wie sie Durkheim offenbar im Sinn hatte. Aber wir können und müssen versuchen, gewissermaßen einer Interferenz des Moralischen und des Gesellschaftlichen nachzugehen, die sich überall dort abzeichnet, wo Phänomene gesellschaftlicher Moralisierungen zum Vorschein kommen, die sich gegen eine völlige Auftrennung von Moral und Gesellschaft richten. 8 Diese Phänomene bezeugen die Nichthinnehmbarkeit einer solchen Entwicklung, ohne aber auf eine Identität von Moral und Gesellschaft hinauszulaufen. Sie richten sich zunächst nur gegen ein völliges Unkenntlichwerden dieses Zusammenhangs; und zwar ausgehend von Erfahrungen gewaltsamer Ökonomisierung 9 eines Lebens mit und unter vielen Anderen, das nicht ›immer schon‹ ein ökonomisches ist, sondern unter bestimmten Bedingungen ›ökonomisiert‹ wird – u. U. bis zu einem Punkt, wo das als unerträglich zurückzuweisen ist. Ausgehend von diesem Befund müssen wir uns heute erst mühsam wieder einer womöglich unaufgebbaren internen Verknüpfung Kontexten, Weilerswist 2003; J. N. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge, London 1984; dt. Ganz normale Laster, Berlin 2014. 7 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, Kap. V, 2. 8 Infolgedessen werden die klassischen »Legitimationsprobleme« (nicht nur des sog. »Spätkapitalismus«) aufgeworfen. Allerdings beziehen sie sich heute weit mehr auf die »Profitabhängigen«, die auch den fortgeschrittensten, entdemokratisierten Kapitalismus zu ruinieren drohen; J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 51979; P. L. Berger, The Capitalist Revolution. Fifty Propositions About Prosperity, Equality & Liberty, New York 1986, S. 207; W. Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Erweiterte Ausgabe, Berlin 2015, S. 18, 78 ff. (= GZ). 9 Vgl. bspw. D. Malone, der mit seiner Beschreibung eines debt enslavement (The Debt Generation, S. 56, 66, 96, 128) genauso auf eine Kritik gewaltsamer Ökonomisierung heutiger Gesellschaften abzielt wie T. Di Muzio und R. H. Robins, die in ihrem Buch Debt as Power, Manchester 2016, eine auf andauernder Verschuldung basierende Ökonomie explizit als eine Form gesellschaftlicher Gewalt delegitimieren (S. 20, 40, 79). Vgl. auch E. Stimilli, »Exercices pour une vie en dette«, in: Revue du MAUSS, 30 avril (2016); http://www.journaldumauss.net/./?Exercices-pour-une-vie-en-dette

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XXVI · De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden

von Moral und Gesellschaft vergewissern. Am Anfang steht hier also die ›Erinnerung‹ an den Zusammenhang von Moral und Gesellschaft im Ausgang von dessen gegenwärtiger Unerkennbarkeit. Unerkennbar bzw. unsichtbar ist nicht ›Moral‹ als solche, die uns alltäglich in einer Vielzahl von Moralisierungen und Moralismen begegnet, vor allem im Gebrauch moralisierender Sprache, sei es auch nur zu Zwecken politischer Rhetorik, des Erhebens von Vorwürfen, der selbstgerechten Anklage, der Entlarvung von Lügen, Intriganz und Verrat usw. 10 Unsichtbar ist vielmehr der – vermutete – innere Zusammenhang von Moral und Gesellschaft, auf den uns ironischerweise gerade de-moralisierte und de-sozialisierte Gesellschaften verweisen. Wie, das soll im Folgenden näher untersucht werden.

2.

Gesellschaftliche Entmoralisierung und Demoralisierung

Ich spreche von de-moralisierten Gesellschaften ungeachtet dessen, dass man Gesellschaften für gar nicht mehr identifizierbar bzw. für »unmögliche Objekte« hält, denen überhaupt keine ›substanzielle‹ Realität zuzuschreiben sei. 11 Letzteres folgt schon aus Hegels Theorie der Gesellschaft. Hegel interessierte am gesellschaftlichen »System der Bedürfnisse« letztlich lediglich die »dialektische Bewegung« des Wahren, durch die sich der Geist der Vernunft in der Aufhebung alles Widersprüchlichen angeblich als Subjekt selbst hervorbringen muss. 12 Heute sehen wir demgegenüber Gesellschaften, die sich in einer unübersehbaren Pluralität von Lebensformen manifestieren, von vielfachem Widerstreit durchzogen, der sich als unaufhebbar erweist. Eine de-substanzialisierte, aber gerade durch diesen Widerstreit real erfahrbare Gesellschaft lässt sich infolgedessen nicht mehr als Subjekt ihrer eigenen dialektischen Entwicklung denken. Inzwischen hat der Weg gesellschaftstheoretischen Denkens von Begriffen der Substanz, des Subjekts und des Systems weiter zur Metapher des Netzes geführt, das sich aus immer neuen, unabsehbaren VernetzunVerwiesen sei nur beispielhaft auf M. Boveri (s. Kap. XXIV), auf A. Eggebrecht (Hg.), Die zornigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, Reinbek 1982; P. Kemper (Hg.), Opfer der Macht. Müssen Politiker ehrlich sein?, Frankfurt/ M. 1994; Shklar, Ganz normale Laster. 11 O. Marchart, Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013. 12 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1980, Vorrede. 10

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Gesellschaftliche Entmoralisierung und Demoralisierung

gen ergibt, ohne je eine quasi-dingliche Form anzunehmen, die für Durkheim im Sinne einer soliden soziologischen Methodologie unbedingt erforderlich war. Wenn sich Gesellschaften bzw. Phänomene der Vergesellschaftung nicht »wie Dinge« bzw. als Quasi-Dinge untersuchen lassen, kann es demnach keine sozial-wissenschaftliche Forschung geben. Davon war Durkheim überzeugt. Seine methodologische Programmatik belegt das klar. 13 Aus immer neuen und unabsehbaren kommunikativen Vernetzungen resultierende Prozesse der Vergesellschaftung nehmen jedoch kaum derart konsistente Formen an, wenn wir den entsprechenden Beobachtungen von Gesellschaftsdiagnostikern wie Luhmann oder Latour 14 Glauben schenken können. Und diese Vernetzungen funktionaler Abhängigkeiten lassen sich längst nicht mehr im Ganzen moralisch integrieren. 15 Insofern ist auch von ent-moralisierten Gesellschaften zu reden. Derartige Gesellschaften sollen sich von einer angeblich unsachgemäßen Moralisierung des Ökonomischen befreien. Im Gegensatz zu einer pejorativ gedachten Demoralisierung, die sich auf Phänomene einer mehr oder weniger ruinierten, aber im Spiel bleibenden Moral bezieht, meint Entmoralisierung hier eine Befreiung vom Moralischen selbst. Aus solchen Gesellschaften verschwindet »Moral« zweifellos nicht. Sofern sie nicht wie bei Bruno Latour als ephemeres und kontingentes Moment im unaufhörlichen Zirkulieren von Sinn quasi aufgelöst wird 16, wird sie in eine besondere Sphäre des Gesellschaftlichen oder in den Teilbereich eines gesellschaftlichen Systems (Luhmann) verwiesen. So soll deutlich werden, dass sich insbesondere ökonomische Fragen nicht mehr moralisieren lassen. Dergleichen wäre unsachgemäß und unzeitgemäß, suggerieren Niklas Luhmann, 13 E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M. 1984. Bekanntlich bildet der Grundsatz, soziale bzw. soziologische Tatbestände (auch Prozesse und Strukturen) »wie [nicht: als] Dinge« zu behandeln, den Kern der Methodologie dieses Gesellschaftstheoretikers (ebd., S. 89). Ob darin auch schon eine Reifizierung liegt, bleibe dahingestellt. Zweifellos hat Durkheim immer wieder mit der Vorstellung einer »besonderen Art des Seins« dieser »Dinge« geliebäugelt; siehe E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 70. 14 Vgl. K. Röttgers, Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie, Bielefeld 2012, S. 40, 45, 118, 123. 15 N. Luhmann, R. Spaemann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt/M. 1990, S. 25. 16 Vgl. die Rezension d. Vf. in: Philosophischer Literaturanzeiger 67, Nr. 4 (2014), S. 366–375.

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XXVI · De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden

Helmut Willke 17 und andere. Demnach sollte man Ökonomisches nicht moralisieren, weil allein zählt, dass vergesellschaftetes Leben inzwischen funktional differenziert so vorliegt, dass das, was sich als mehr oder weniger ökonomisch effektiv, erfolgreich, gewinnträchtig usw. erweist, nicht auch als moralisch falsch oder richtig, gut oder schlecht zu bewerten ist. Eine entsprechende Ausdifferenzierung sprachlicher Kriterien, mit deren Hilfe man gesellschaftliches Leben bewerten kann, lässt sich kaum bestreiten. Aber zeigt sie eine völlige Trennung des Ökonomischen und des Moralischen an? Und funktioniert das Gesellschaftliche allemal und unabänderlich so, dass ›Übergriffe‹ einer Sprache der Moral auf das Ökonomische (und umgekehrt) als unsachgemäß und als unzeitgemäß zurückzuweisen sind? 18 Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine kryptonormative Position, die unter der Hand die Rekonstruktion moderner und postmoderner Formen der Vergesellschaftung in Vorschriften übersetzt, nach denen wir uns angeblich zu richten haben. Ich schlage dagegen einen anderen Ansatz vor.

3.

Ein negativistischer Ansatz

Die von Luhmann u. a. reklamierte Ausdifferenzierung des Gesellschaftlichen wird vollzogen und nachvollzogen von Wesen, die ihrerseits vergesellschaftet existieren. Wie, das können sie sich allerdings stets nur im Nachhinein und niemals gewissermaßen in einem Zug deutlich machen, da ihnen das Soziale niemals ›frontal‹ als solches begegnet. 19 Bevor wir daran gehen können, uns Klarheit darüber zu verschaffen, wie (und wie tief greifend) wir vergesellschaftet sind, existieren wir bereits in mannigfaltige soziale, sozietäre und politische Verhältnisse verstrickt. Und der Klärung dessen dient das Nachdenken über den – sei es bloß ephemeren und kontingenten, sei es funktionalen, sei es internen – Zusammenhang von Moral und Gesellschaft. Als nolens volens vergesellschaftete Wesen wollen wir wissen, ob dazu ›existenziell‹, d. h. in einer unser Leben intern bestimH. Willke, Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 2003, Kap. 5. 18 Siehe Anm. 14 und 15 zu Kap. XXV. 19 Siehe den Hinweis auf M. Merleau-Ponty in der Einführung zu Bd. I. 17

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Ein negativistischer Ansatz

menden Art und Weise auch gehört, damit ggf. ein moralisches ›Problem‹ zu haben bzw. haben zu müssen. Daran bemisst sich, ob eine Differenzierung bzw. Trennung von Moral und Gesellschaft ›funktionieren‹ und wie weit sie gehen kann. So zu fragen bedeutet nicht, die gesellschaftliche Komplexität zu ignorieren oder geringzuschätzen, wie sie uns in der Form heutiger megacities anschaulich, in der Form des Internet virtuell auf überwältigende Art und Weise entgegentritt. Doch auch diese von niemandem mehr zur Gänze transparent zu machende Komplexität wird nach wie vor von Individuen hervorgebracht, die wir nicht nur als durch ›den Anderen‹, sondern als durch Dritte ansprechbare und Dritte ansprechende Wesen begreifen müssen. Ohne diese ein- und gegenseitige Ansprechbarkeit (auf Erwiderung hin) gibt es kein soziales und politisches Leben. Nur einander ansprechende und in Anspruch nehmende Wesen stiften letztlich auch eine kommunikative Komplexität, die sie in ihren massenhaften und globalen Dimensionen schließlich selbst nicht mehr durchschauen, die aber zurückwirkt auf sie und sie dabei u. U. mit der Frage konfrontiert, ob sie ihr individuelles Leben – etwa als verschuldetes und überschuldetes – überhaupt (noch) als lebbar erfahren. 20 Wenn das kaum oder gar nicht mehr der Fall ist, entzünden sich an der Negativität dieser Erfahrung gesellschaftliche Moralisierungen, die vielfach darauf hinauslaufen, empörende Ungerechtigkeit bzw. unerträgliches Unrecht zu brandmarken. 21 Ihren gemeinsamen Nenner haben sie darin, bestimmte Zustände oder Entwicklungen als mit menschlichem Leben (nicht nur mit dem eigenen) im Grunde unvereinbar einzustufen und zu entsprechender Kritik Anlass zu geben. Nicht in jedem Fall lässt sich der Grund solcher Kritik als Enttäuschung vorheriger (normativer) Erwartungen verstehen. 22 Vielfach führt genau umgekehrt erst die Negativität der Erfahrung des Unannehmbaren auf die Spur von Erwartungen, an denen man fortan gesellschaftliches Leben messen möchte. Solange dieses mehr oder weniger ungestört abläuft und solange man Störungen und Widrig20 J. Butler, A. Athanasiou, Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen, Zürich, Berlin 2014. 21 Ob das angemessen erscheint und ›mit Recht‹ geschieht, ist eine andere Frage. Vgl. J. N. Shklar, Über Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1997. 22 Vgl. A. O. Hirschmann, Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt/M. 1988; P. Furth, Phänomenologie der Enttäuschungen. Ideologiekritik nachtotalitär, Frankfurt/M. 1991.

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XXVI · De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden

keiten ausweichen oder umgehen kann, besteht kein zwingender Grund, sich über solche Erwartungen klar zu werden. Anders verhält es sich, wenn Grenzen des Erträglichen überschritten werden, so dass die Betreffenden darauf mit einem mehr oder weniger kategorischen »Nein« antworten müssen. Wir hätten tatsächlich kaum (moralischen) Anlass, uns darauf zu besinnen, was Vergesellschaftung bedeutet, wenn sie nicht auf diese Weise Kritik auf sich ziehen würde. Früher nannte man das, was Grund zu solcher Kritik gibt, »bestimmte Negation«. Und manche Gesellschaftskritiker zogen aus diesem Begriff den Schluss, das jeweils Negierte müsse wie von allein auf die Spur des Besseren und des zu Bejahenden führen. In diesem Sinne sprach Herbert Marcuse in Der eindimensionale Mensch von einer »Rationalität der Negation«. 23 Aber der Prozess der Negation eröffnet nur Alternativen, die ihrerseits keineswegs eindeutig durch das Negierte bestimmt sind. 24 So sehen wir uns zur Wahl und zur Entscheidung in der Frage gezwungen, wie man sich denn gegen das Negierte wenden soll, um etwa unerträgliche Lebensbedingungen in Zukunft abzuwenden. Wir müssen demnach nicht nur Alternativen entwerfen, sondern auch zwischen diesen wählen. »Keine der gegebenen Alternativen ist von sich aus bestimmte Negation, wofern und solange sie nicht bewußt ergriffen wird, um die Macht unerträglicher Bedingungen zu brechen.« So vollzieht sich die Negation »auf empirischem Boden; sie ist ein geschichtlicher Entwurf innerhalb eines bereits bestehenden Entwurfs und über diesen hinaus, und ihre Wahrheit ist eine auf diesem Boden zu bestimmende Chance«. 25 Entzündet sich so aber wirklich Protest gegen das »Ganze«, wie es eine Gesellschaftskritik nahelegte, die das Ganze bekanntlich mit dem Unwahren identifizierte, um es dem entsprechend zu verwerfen? Die Zeiten dieser »totalen« Kritik liegen hinter uns; und in ihre schon oft diagnostizierten kardinalen Fehler sollten wir nicht zurückfallen. 26 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied, Berlin 1967, S. 83. 24 Keineswegs ist »die Negation […] das, was am einfachsten« zu bewerkstelligen ist, wie Georg Simmel meinte. Sie kann sich zumal in komplexen politischen Lagen auch in bloßer Ablehnung erschöpfen und in die Suche nach Sündenböcken münden; vgl. J. Baudrillard, »Die Stadt und der Haß«, in: U. Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt/M. 2000, S. 130–141, hier: S. 136. 25 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 235. 26 Vgl. die Bestandsaufnahmen in R. Jaeggi, T. Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, Frankfurt/M. 2009; L. Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, Berlin 2010. 23

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Ein negativistischer Ansatz

Negiert wird zunächst nur das Unerträgliche hier und jetzt, das diesen oder jenen (nicht nur jedem selbst) widerfährt. Werden auch die Gründe und Ursachen des Unerträglichen begriffen, so führt diese erste negative Erfahrung auf die Spur gesellschaftlicher Zusammenhänge, die weit über den unmittelbaren Anlass dieser Erfahrung hinausreichen. Sind diese Zusammenhänge (wie die Ausbeutung der Arbeitenden 27 und heute systematische Ungerechtigkeit 28 oder Demütigung Anderer 29) mit systemischen, institutionalisierten Strukturen vergesellschafteten Lebens in Verbindung zu bringen, so nimmt die Kritik solidarische Form an – vorausgesetzt, sie erfolgt nicht bloß in ressentimentgeladener und selbstgerechter Art und Weise. 30 Sie weist, heißt das, keineswegs nur zurück, was einem selbst widerfahren ist; sie stuft das Gleiche vielmehr auch im Fall Anderer, Dritter, auch ganz Unbekannter als kritikwürdig und gegebenenfalls unannehmbar ein. 31 Darauf baut schließlich die Position auf, aus der gesellschaftskritische Forderungen entspringen, die universalisierte Position nämlich, diese Knechtschaft, diese Ausbeutung, diese Ungerechtigkeit, diese Demütigung, diese Marginalisierung, diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und Wohlergehen Anderer sei ›an sich‹ falsch und deshalb sei zu verlangen, dass deren Gründe untersucht und die entsprechenden Ursachen abgestellt werden. Aber aus einer solchen negativen Forderung, so klar, unmissverständlich und berechtigt sie auch sein mag, ergibt sich eben nicht, ob und wie ihr konkret, unter gegebenen Umständen, wirklich (wenigstens fürs Erste, wenn schon nicht endgültig) Rechnung getragen werden sollte bzw. kann. Das gilt auch für die Verletzung elementarster, als allgemein anerkannt geltender Ansprüche, wie wir sie in den Menschenrechten, häufig in national-staatlichem Recht positiviert, finden. 32 So ›unbedingt‹, wie diese Ansprüche gelten sollten, so sehr brechen sie sich gleichsam an kontingenten Umständen, die ihrer GeB. Moore, Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1982. J. D. Sachs, The End of Poverty, New York 2006. 29 A. Margalit, The Decent Society, Cambridge, London 1996. 30 Vf., »Zwischen dem páthos des Negativen und politischer Selbstgerechtigkeit. Zur zweifelhaften Politisierbarkeit negativer Erfahrungsansprüche«, in: Zeitschrift für Politische Theorie (2018), i. E. 31 Vgl. C. Pape, »The Phenomenon of Indignation and its Relation to Moral Law, Legal Law, and Emotion«, in: H. Landweer, F. Bernhardt (Hg.), Recht und Emotion II. Sphären der Verletzlichkeit, Freiburg i. Br., München 2017, S. 196–219. 32 C. Menke, A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007. 27 28

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XXVI · De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden

währleistung hartnäckig im Wege stehen. Gerade Versuche ›bedingungsloser‹ Gewährleistung solcher Ansprüche versprechen keineswegs ohne weiteres einen Ausweg aus der Gewalt ihrer Verletzung. So sehen sich sog. Wahrheits- und Versöhnungskommissionen (wie in Südafrika oder Argentinien) notorisch mit dem Dilemma konfrontiert, für Gerechtigkeit nur auf Kosten gesellschaftlichen Friedens und für Frieden umgekehrt nur auf Kosten der Gerechtigkeit sorgen zu können. 33 Was wie die verlangte Gerechtigkeit und der Frieden eigentlich gar keinen Aufschub gestattet, machen sie, wenn überhaupt (und begrenzt), nur auf langwierigen, schmerzhaften Umwegen möglich, die zu viel Zeit kosten und schon dadurch sowohl der Gerechtigkeit als auch dem Frieden zuwiderlaufen. 34 Nicht einmal die konsequente und unmittelbare Realisierung wenigstens eines elementaren, unverzichtbaren Anspruchs (etwa des Anspruchs auf ausreichende Nahrung und auf ein Obdach), die Verteidiger einer sofort gebotenen und unter keinen Umständen zu verweigernden Notfallhilfe für die Ärmsten dieser Welt für möglich halten 35, lässt sich so bewerkstelligen, dass keinerlei Verletzung anderer Ansprüche heraufbeschworen wird. Nach diesen Vorüberlegungen möchte ich nun auf das aktuelle Problem der Schuld bzw. der Schulden 36 in negativistischer Perspektive eingehen und zeigen, wie es Formen gesellschaftlicher Moralisierung auf den Plan ruft, die danach verlangen, den Zusammenhang von Moral und Gesellschaft neu zu bedenken, allen Kritikern zum Trotz, die das besonders aus systemtheoretischer Sicht für anachronistisch halten.

Vgl. G. Smith, A. Margalit (Hg.), Amnestie oder Die Politik der Erinnerung, Frankfurt/M. 1997; P. Duvenage, »Die Politik des Erinnerns und Vergessens nach Apartheid und Auschwitz«, in: B. Liebsch, J. Rüsen (Hg.), Trauer und Geschichte, Köln 2001, S. 307–337; C. Grüny, »Widerstreit – Wahrheit – Versöhnung«, in: B. Liebsch, J. Straub (Hg.), Lebensformen im Widerstreit, Frankfurt/M. 2003, S. 525–556, sowie die entsprechenden Aufsätze in: S. Schmidt, G. Pickel, S. Pickel (Hg.), Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung?, Wiesbaden 2009, und in: M. Bongardt, R. K. Wüstenberg (Hg.), Versöhnung, Strafe und Gerechtigkeit, Göttingen 2010. 34 P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 696. 35 https://en.wikipedia.org/wiki/The_Life_You_Can_Save 36 Zur Relation beider Begriffe vgl. das Kap. XXV. 33

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Schuld versus Schulden, Moral versus Ökonomie

4.

Schuld versus Schulden, Moral versus Ökonomie

Die aktuell ganze Staaten, Staatenverbünde wie die EU und selbst die globale Ökonomie bedrohende Schuldenproblematik hat einige Autoren dazu veranlasst, wieder nach dem »ursprünglichen« Zusammenhang von Schuld(en) einerseits mit vergesellschaftetem Leben andererseits zu fragen. Dabei haben sich u. a. Marcel Hénaff und David Graeber auf Marcel Mauss’ Theorie der Gabe, d. h. hier: der Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, zurückbesonnen und die Reziprozität als Fundament aller Ökonomisierungen im engeren Sinne des Wortes wiederentdeckt. Bevor das Geld und eine chrematistische Praxis des Wirtschaftens mit Geld erfunden wurde 37, haben Menschen einander nicht nur etwas gegeben und ausgetauscht, sondern darüber hinaus Anderen etwas gegeben, um sie dadurch zu einer Erwiderung zu bewegen. Und zwar speziell zu einer Art der Erwiderung, die die Beziehung der Beteiligten stabilisiert; etwa durch eine mit dem Austausch einhergehende Verpflichtung. In diesem Sinne, meinte Mauss, stiftet das Geben bzw. die Gabe, die nicht nur in Empfang genommen wird (und auf diese Weise einseitig bliebe), sondern mit einer Gegen-Gabe beantwortet wird, eine Beziehung, in der man sich gegenseitig erkenntlich zeigt; und zwar nicht nur für das konkret Gegebene selbst, sondern für den »Geist«, der darin zum Ausdruck kommt, dass man in der Erwartung einer (positiven) Erwiderung etwas gegeben und auf sie vertraut hat. 38 Ich möchte hier nicht diskutieren, ob Mauss oder seine Anhänger auf diese Weise wirklich die originäre Entstehung sozialer Verpflichtung erklären konnten. 39 Genauso wenig kann ich auf zahllose Variationen, Formen des Misslingens und eskalative Entgleisungen der von Mauss beschriebenen Reziprozität eingehen. Aufmerksam Vgl. zur fragwürdigen Terminologie jener Praxis K. Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978, S. 86; ders., Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 182. 38 Siehe den Exkurs zur Gabe in Bd. I, sowie M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 31984, S. 15 ff. Allerdings schließt die beschriebene Austauschstruktur keineswegs aus, dass man sich gegenseitig zu überbieten versucht und auf diese Weise eine schismogene Dynamik in Gang setzt, welche die Beziehung der Beteiligten früher oder später ruinieren muss. Darauf hat Mauss selbst eindringlich hingewiesen. 39 M. Sahlins, Stone Age Economics, New York 1972; J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 38, 99 ff. 37

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machen möchte ich dagegen auf zwei elementare Erfahrungen, die mit ihr ursprünglich verknüpft gewesen zu sein scheinen. Diese Reziprozität setzt voraus, dass jeder, der in sie eintritt, sowohl geben als auch (in Empfang) nehmen kann. Und durch das Hin und Her von Gaben und Gegengaben kann eine Art Ausgleich stattfinden, so dass man schließlich miteinander quitt ist. Wo das nicht möglich ist oder früher oder später unmöglich wird, entsteht ein Gefälle zwischen den Beteiligten, das schließlich ruinös für ihre Beziehung selbst zu werden droht. Vor allem dann, wenn einer von ihnen nicht(s) mehr erwidern kann und so in immer tiefere Schuld des jeweils anderen gerät. Das Rätsel der Gabe (Maurice Godelier 40) besteht eigentlich darin, (a) gegenseitigen Austausch möglich zu machen, ohne es zu einer derartigen Einseitigkeit kommen zu lassen, so dass man demnach wenigstens zwischenzeitlich annähernd ›quitt‹ miteinander werden kann; und (b) die jeweilige Beziehung bestehen bleiben und womöglich sich vertiefen zu lassen. Könnte gegenseitiger Austausch in keinem Fall zum Ausgleich kommen, wäre das für die Beziehung der Beteiligten ebenso ruinös wie der gegenteilige Fall, in dem sie ganz und gar quitt miteinander werden, so dass sie einander nichts mehr schulden würden. Auf den ersten Blick muss letzteres, wenn man nur auf die ausgetauschten »Gaben« schaut, die Beziehung selbst auflösen. Aber genau das ist Mauss zufolge in Gabe-Prozessen ja nicht der Fall; und zwar deshalb nicht, weil mit den ggf. ausgetauschten Sachen auch der »Geist des Gebens« 41, das dem jeweils Anderen zugute kommt, gleichsam mitgegeben wird. Dieser Geist aber wird nicht zurückgegeben, wenn eine Gegen-Gabe erfolgt, sondern durch immer neues Geben und Nehmen vertieft. Das Rätsel der Gabe besteht demnach in der Verknüpfung eines elementaren ökonomischen Moments mit einem elementaren moralischen Moment. Ersteres besagt: man kann in einen gegenseitigen (vor irreversibler Einseitigkeit bewahrten) Austausch treten, der zwischenzeitlich zur Ruhe kommt und neu einsetzen kann. Zwischenzeitlich setzt aber nicht die Beziehung der Beteiligten aus. Sie besteht im Gegenteil fort, auch wenn man ökonomisch gesehen wenigstens vorübergehend quitt miteinander ist und einander nichts mehr schulM. Godelier, Das Rätsel der Gabe, München 1999. Mauss spricht in Anlehnung an das magische hau der Maori vom »Geist der gegebenen Sache«. Damit hat er sich den Vorwurf zugezogen, selbst zu magischen Hilfsmitteln der Erklärung des fraglichen Sachverhalts zu greifen (Marshal Sahlins).

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det. Besteht aber die Beziehung fort, so schuldet man dem Anderen moralisch sowohl, früher oder später erneut etwas zu geben, als auch Gegebenes in Empfang zu nehmen und zu erwidern, d. h. sich erneut auf einen ›ökonomischen‹, aber vor absoluter Einseitigkeit bewahrten Austausch einzulassen. (Der Begriff des Ökonomischen hat hier den weitesten Sinn eines Austauschs, der für die Beteiligten irgendwie wertvoll ist und der das unterschiedlich Wertvolle einer gewissen Vergleichbarkeit unterwirft.) Wenn nun Autoren wie Marcel Mauss, Marcel Hénaff und David Graeber Recht damit haben, dass die skizzierte Moralökonomie der Reziprozität, in der das moralische und das ökonomische Moment integral zusammengehören (ohne aber einfach zusammenzufallen), bis heute die Grundlage jeglicher Sozialität darstellt 42, dann muss es einschneidende Folgen haben, wenn dieser Zusammenhang aus dem Blick gerät. Im Rahmen dieses Zusammenhangs finden wir zweierlei verknüpft: den moralischen Status eines sozialisierten Subjekts, das unangefochten als gebendes, empfangendes und erwiderndes in Betracht kommt, einerseits und die ökonomische Relation reziproken Austauschs andererseits, in dem sich Geben und Nehmen wie auch immer konkret entsprechen. Werden Moral und Gesellschaft demgegenüber voneinander getrennt und wird der gesellschaftliche Austausch auf eine in Geld messbare Kombinationen von Leistungen und Gegenleistungen reduziert, so ergeben sich dramatische Konsequenzen. Jetzt wird nämlich ein ökonomischer Austausch denkbar, der sich scheinbar auf keine vorgängige Beziehung stützt und der scheinbar keinerlei verbindliche Beziehung mehr bestehen lässt bzw. bestehen lassen muss. Er setzt nur irgendwie schon vorhandene, aber in keiner Weise einander verbundene ökonomische Subjekte voraus, die ihr Handeln mit dem zu erwartenden Tun Anderer im Hinblick auf eigenen künftigen Vorteil einschätzen können. Worauf die Existenz solcher Subjekte zurückzuführen ist, worauf sie beruht und wovon sie abhängt, bleibt außen vor. Und nach erfolgtem Austausch herrscht womöglich nichts als Leere, es sei denn ein neues ökonomisches Interesse stößt einen weiteren Austausch an, der dann das gleiche Ergebnis hätte. Das Schlimmste, was in einem solchen Austausch droht, ist – abgesehen 42 Mauss, Die Gabe, S. 19, 173; D. Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, München 2014; M. Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt/M. 2009, S. 40.

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von dieser Leere –, Anderen etwas schuldig zu bleiben, d. h. ökonomisch: Schulden zu haben, die man nicht mehr begleichen kann. Dann ist man ökonomisch entweder auf Dauer verknechtet oder bereits erledigt, d. h. ökonomisch so gut wie tot. Aber das wirft überhaupt kein moralisches Problem auf, wenn das Ökonomische zuvor einer nachhaltigen Entmoralisierung unterworfen worden ist. David Graeber spricht mit Blick auf Adam Smith in diesem Zusammenhang von einem Gründungsmythos der modernen Wirtschaftswissenschaften, der, offenbar weitgehend erfolgreich, suggerieren konnte, Menschen seien einander allenfalls aufgrund freiwillig eingegangener Verpflichtungen pekuniär etwas schuldig; beglichene finanzielle Schulden aber müssten jegliche Schuld auflösen. Eine darüber hinausgehende Verbindlichkeit gebe es nicht, usw. 43 In einer ›bloß ökonomischen‹ Sicht, die von jeglicher moralischen Schuld gelöste soziale Beziehungen fingiert, ist in der Tat dreierlei nicht verständlich: (a) ob man einander in einem nicht-ökonomischen Sinne etwas schuldet und (b) warum eine Beziehung vor einer irreversiblen Schieflage bewahrt werden sollte. Genauso wenig ist es ›rein ökonomisch‹ betrachtet verständlich, (c) warum und wie ein Austausch, durch den man quitt miteinander geworden ist, eine Beziehung fortbestehen lassen sollte. 44 Dagegen scheint die von Mauss beschriebene Moralökonomie, die weder eine an-ökonomische Moral noch auch eine a-moralische Ökonomie kennt, auf alle diese Fragen eine Antwort parat zu haben, die sich allerdings weder im Moralischen noch im Ökonomischen erschöpft: es geht nämlich um die Aufrechterhaltung und praktische Gestaltung sozialer Beziehung, die weder dadurch, dass man vorübergehend miteinander quitt ist, noch dadurch ruiniert werden sollte, dass der Austausch ganz und gar einseitig zu werden droht. Diese Graeber, Schulden, S. 36, 449. In wieweit jener Gründungsmythos allerdings das tatsächliche Funktionieren ökonomischer Prozesse angemessen repräsentiert, ist eine ganz andere Frage. 44 Ein weniger ökonomisch restriktives Denken kann dem selbstverständlich Rechnung tragen, etwa mit Blick auf die Erfahrung, sich gegenseitig als vertrauenswürdiger, zuverlässiger und fairer Handelspartner erwiesen zu haben, usw. Hier geht es aber gar nicht darum, solche Aspekte mittel- und langfristig aussichtsreichen ökonomischen Handelns zu diskutieren, sondern deutlich zu machen, was aus dessen fingierter radikaler Entmoralisierung folgen würde. Auf einem anderen Blatt steht, ob ökonomisches Handeln realiter je einer derartigen ökonomischen Fiktion entsprechen kann bzw. konnte. 43

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Schuld versus Schulden, Moral versus Ökonomie

Beziehung besteht demnach vor jeglichem ökonomischen Austausch im engeren Sinne; sie darf durch keine Einseitigkeit radikal gefährdet werden; und sie soll nach konkreten Austauschprozessen bestehen bleiben oder durch sie vertieft werden können. Diejenigen, die an Mauss heute wieder anknüpfen, betonen denn auch unaufhörlich, im Rahmen der von ihm beschriebenen, keineswegs auf »archaische Gesellschaften« beschränkten, sondern im Grunde bis heute das Soziale und das Politische fundierenden Moralökonomie werde man »niemals quitt« miteinander (insofern kein Austausch die Beziehung der Beteiligten einfach auflöst). 45 Und sie weisen eine kapitalistische Ökonomie zurück, die es offenbar nicht nur zulässt, sondern es geradezu darauf anlegt, dass durch immerfort einseitig nachteiligen Austausch Abhängigkeiten entstehen, die früher oder später in eine massive Verschuldung und schließlich in eine irreversible Schuldknechtschaft münden müssen, die allenfalls durch ein hartes Insolvenzrecht zu beenden wäre. Eine solche Knechtschaft muss letztlich jeglichem ökonomischen Austausch zuwiderlaufen, bringt sie doch eine der beteiligten Parteien in eine ganz und gar einseitige Abhängigkeit, aus der sie sich mit eigener Kraft niemals mehr scheint befreien zu können (es sei denn durch Gewalt gegen diese Abhängigkeit selbst). Daran ändert es grundsätzlich gar nichts, dass man den Zeitpunkt endgültiger Zahlungsunfähigkeit der ökonomischen Verlierer immer wieder hinauszuzögern versucht – gegebenenfalls auch durch immer neue Kreditvergaben, die doch nicht dazu führen (sollen 46), dass die Verlierer sich je wieder aus der Schuldenfalle befreien können. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt für die Gläubiger vor allem darin, den Status der Verschuldung ihrer Schuldner selbst aufrechtzuerhalten, um es nicht zu einem Zusammenbruch des ökonomischen Systems kommen zu lassen, der genau dann droht, wenn die völlige Aussichtslosigkeit, sich je wieder aus der Schuldknechtschaft 47 befreien zu können, politisch unmissverständlich und allgemein bewusst wird. 48 Um die in Vgl. Latour, Existenzweisen, S. 581 ff., 599, 604. Das betonen Di Muzio und Robins: Verschuldung als eine Technologie der Macht, die ganz und gar auf interest-bearing debt ruht, ist geradezu auf deren Permanenz angelegt (Debt as Power, S. 20, 40, 79). 47 Vgl. Malone, The Debt Generation, S. 56, 66, 96, 128; T. Armstrong, The Logic of Slavery. Debt, Technology, and Pain in American Literature, Cambridge 2012, S. 52. Siehe auch Anm. 8 zu Kap. XXVII. 48 Auch in Wolfgang Streecks Rekonstruktion der aktuellen Schuldenkrise spielt die 45 46

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einem bloß ökonomischen (entmoralisierten) System früher oder später unweigerlich eintretende Lage einseitiger Abhängigkeit von einer irreversiblen Schuldknechtschaft nicht offenkundig werden zu lassen, greift man ironischerweise zu Mitteln der Moralisierung genau da, wo es sich zeigen könnte, dass das ›rein Ökonomische‹ am Ende seines Lateins angekommen ist: Man gibt insbesondere verschuldeten Einzelnen die Schuld für ihre ökonomische Misere und hält sie auf diese Weise zusätzlich in ihr fest: Für die ökonomische Ausweglosigkeit tragen die Betroffenen selbst die Verantwortung. 49 Vielfach geben sie sich die Schuld aber auch selbst 50, wie Untersuchungen im Anschluss an David Malone, David Graeber, Maurizio Lazzarato, Elettra Stimilli, Tim Di Muzio und Richard Robins gezeigt haben, auf die hier nicht detailliert einzugehen ist. Aber im Unterschied zur Mauss’schen Moralökonomie handelt es sich hier gerade nicht um einen Begriff, der die Beziehung der Beteiligten bestimmt und diese im Sinne gegenseitigen Austauschs aufrechterhalten soll, denn von einer entsprechenden Verantwortung bzw. Schuld der Gläubiger ist gar nicht die Rede. Sie stehen in keinem moralischen, sondern lediglich in einem ganz und gar entmoralisierten ökonomischen Verhältnis zu ihren Schuldnern 51, wohingegen diese nicht nur an nicht mehr abzutragenden finanziellen Schulden, sondern auch an der ihnen zugeschriebenen Schuld dafür leiden, sich in diese Lage selbst gebracht zu haben. So demütigt man – wie im Aufrechterhaltung immer neuer Rückzahlungen an Gläubiger, deren Portfolio unter allen Umständen ›gerettet‹ werden soll, die entscheidende Rolle. Dabei wird deutlich, wie sowohl demokratische Staaten als auch deren Bürger in die Lage geraten, unter dieser Maßgabe ständig regelrecht erpresst zu werden. Am Ende erscheint es als »unbelehrbar romantische« Vorstellung, nicht endlos Schulden begleichen zu müssen, falls nicht (berechtigte) Angst, Wut und Empörung, also politische Potenziale negativistischer Affekte einen Ausweg weisen. Vgl. GZ, S. 177 f., 264 f. 49 Inwieweit eine solche Zuschreibung von Verantwortung in den größeren Kontext einer vielerorts festzustellenden sozialpolitischen »Rückkehr der Schuldfrage« (Antonio Brettschneider) im Sinne einer »Subjektivierung des Sozialen« gehört, wäre eigens zu untersuchen. Vgl. den entsprechenden Hinweis bei S. Lessenich, Theorien des Sozialstaats zur Einführung, Hamburg 2012, S. 127, 140, wo Remoralisierungen rechtlicher Verhältnisse in terms von Schuld als regressiv eingestuft werden, obgleich sie andererseits bestens in eine ständig stattfindende »marktkompatible Umerziehung« von ökonomisch passenden Subjekten passt (ebd., S. 142). 50 Deswegen wäre es gewiss zu einfach, wollte man in dieser Moralisierung von Schulden eine raffinierte Strategie oder geradezu eine Verschwörung von Gläubigern bzw. ›des Kapitals‹ sehen. 51 Di Muzio, Robins, Debt as Power, S. 135 ff.

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Demoralisierung und Remoralisierung

Falle Griechenlands – ein ganzes Land, das sich umso weniger dagegen wehren kann, als man nicht zuletzt auch den heimischen Eliten, darunter besonders Oligarchen, die es ausgebeutet, die EU belogen und sich bis heute der Besteuerung entzogen haben, tatsächlich erhebliche Mitverantwortung für die entstandene Misere geben muss. Am Ende, wenn es zur ökonomischen Offenbarung der tatsächlichen Verschuldung kommt, müssen aber nicht die sich klug im Hintergrund haltenden Eliten, vielmehr muss das Volk diese Verantwortung sich selbst zurechnen. ›Moral‹, heißt das kurz gesagt, ist nur etwas für ökonomische Verlierer, die sich über ihre finanzielle Haftbarkeit hinaus mit der Schuld für ihre Schulden auseinandersetzen sollen, ohne je moralische Ansprüche gegen ihre Gläubiger geltend machen zu können; und zwar auch dann nicht, wenn (wie zu erwarten) für ständig anfallende Rückzahlungen von Krediten die Ärmsten, die Alten und Kranken, also all jene, die am wenigsten die ökonomische Misere ihres Staates zu verantworten haben, zur Kasse gebeten werden. In tausenden Fällen derart, dass die Betroffenen den Suizid einem Weiterleben vorziehen, dem sie ökonomisch nicht mehr gewachsen sein können und das sie als absolute Demütigung erfahren würden. 52

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Demoralisierung und Remoralisierung

Den Verlautbarungen der sog. Troika, des Repräsentanten der sog. Institutionen und des seinerzeit amtierenden deutschen Finanzministers, der »die Griechen« mit Nachdruck an ihre internationalen Pflichten erinnert hat, war bislang m. W. keine Spur einer gewissen Sensibilität für diese ökonomisch-moralischen Zusammenhänge zu entnehmen. Man besteht vielmehr rigoros auf der Tilgung untilgbarer Schulden, für die allein die Schuldner haftbar sind, für die ihnen aber darüber hinaus vielfach auch Verantwortung im Sinne von Schuld zugeschrieben wird. Dieser Begriff ist aber niemals auf die Gläubiger selbst anwendbar. Indem sie auf einer solchen, moralisch nur gegen die Schuldner, nicht aber gegen die Gläubiger zu wendenden Logik insistieren, scheinen sie in Abrede zu stellen, überhaupt in einem moralischen Verhältnis zu den hoffnungslos Verschuldeten zu stehen, die sich selbst die Schuld dafür geben. So wird sehr effektiv http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015–02/suizid-griechenland-wirtschaftskrise-sparpolitik

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nicht nur jegliche reziproke Moralisierung des Verhältnisses zwischen Gläubigern und Schuldnern verhindert; unkenntlich wird auch, dass es sich als ›bloß ökonomisches‹ einer Entmoralisierung verdankt (wenn wir den Gabe-Theoretikern folgen), die sich von einer vorgängigen Moralökonomie herleitet, in der sich die Begriffe Schuld und Schulden ungeachtet ihrer Differenzierung niemals gänzlich voneinander haben trennen lassen. Zumal dann nicht, wenn diese Moralökonomie 53 Lebensformen im Ganzen geprägt hat. Dagegen gilt Schuld heute überwiegend als lediglich auf individuelle Selbstverhältnisse abwendbarer Begriff. Der Begriff der Kollektivschuld ist längst zu den historischen Akten gelegt worden. 54 Moralische Schuld können nur diejenigen empfinden, die ein (schlechtes) Gewissen haben oder sich eines machen, wie man auch sagt. Diese Individualisierung der Schuld verhindert zugleich eine Politisierung des Begriffs. Andere tragen allenfalls als Einzelne Schuld an etwas. Weder einem Kollektiv noch auch einer Institution ist moralische Schuld zu geben. (Ungeachtet einer weit verbreiteten Rhetorik des Verantwortlichmachens, deren sachlicher Kern sich doch meist darauf reduzieren lässt, dass man entmoralisierte Prozesse der Verursachung feststellt.) So wird der Begriff der Schuld politisch entschärft, indem er moralischen Selbstverhältnissen vorbehalten bleibt, auf die auch die Praxis der Zuschreibung von Verantwortlichkeit abzielt. Wem Verantwortung und in diesem Sinne Schuld zugeschrieben wird, sollte sich idealiter die Schuld einsichtig selbst geben. Das gilt auch für die Schuld an Verschuldung und Überschuldung, die unter den skizzierten Voraussetzungen als selbst verschuldete ökonomische Misere erscheint. Wenn sich diese Misere jeder ›Verlierer‹ selbst zurechnen muss, kann ein über den Zusammenhang von Schuld und Schulden aufklärendes politisches Bewusstsein nicht entstehen. In entmoralisierten Gesellschaften (und zwischen ihnen) herrscht prima facie eine ökonomisierte Logik vor, die in der Form eines sog. freien Marktes scheinbar zum Vorteil aller gereicht, ohne dass man einander irgendetwas schulden würde. Tatsächlich führt diese Logik jedoch früher oder später die ›Verlierer‹ (darunter ganze Gesellschaften) in eine irreversible Schuldknechtschaft, aus der sie Vgl. den Begriff der moral economy bei J. Oldham Appleby, Economic Thought and Ideology in Seventeenth-Century England, Princeton 1978, bes. ch. 3. Auch Streeck bemüht ihn am Ende; GZ, S. 312. 54 K. Jaspers, Mitverantwortlich, München o. J. 53

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Demoralisierung und Remoralisierung

sich mit eigener Kraft nicht mehr zu befreien vermögen – es sei denn, sie remoralisieren deren Zustandekommen und Konsequenzen selbst, wofür jene Logik freilich keinen Spielraum einräumt. In einer (fiktiv) ganz und gar entmoralisierten Ökonomie kann sich der Begriff der Schuld nicht mehr dafür eignen, eine reziproke Beziehung zu stabilisieren, um deren Erhaltung es im Rahmen einer Mauss’schen Moralökonomie stets gegangen war. So funktioniert also ›Moral‹ (d. h. hier: eine moralische Praxis der Zurechnung von Schuld) in entmoralisierten Gesellschaften: sie trägt paradoxerweise zu nachhaltiger gesellschaftlicher Demoralisierung derer bei, die nur sich selbst Schuld geben können – es sei denn, genau dieses Phänomen der Demoralisierung wird zum ›Politikum‹ im Zuge einer Remoralisierung der in archaischen Gesellschaften niemals abstrakt aufgeworfenen Frage: wer überhaupt zu wem wie in einem sozialen bzw. gesellschaftlichen Verhältnis steht oder stehen sollte. In diesen Gesellschaften wurde diese Frage ständig konkret durch andauernden Austausch praktisch beantwortet, indem man möglichst sowohl irreversible Einseitigkeiten als auch ein länger andauerndes Miteinander-quitt-werden vermied, das die bestehenden Beziehungen aufzulösen drohte. Jegliche Selbstverständlichkeit einer solchen konkreten Antwort ist uns dagegen abhandengekommen. Und sie lässt sich nicht mehr im Sinne einer Identität von Moral und Gesellschaft restituieren, wie sie noch in Durkheims Soziologie suggeriert wird. (Insofern ist es auch irreführend, den Begriff der Remoralisierung so zu verstehen, als müsste er eindeutig darauf hinauslaufen, eine frühere Moral zu reetablieren, wie es nicht nur gewisse Verteidiger viktorianischer oder anderer Tugenden gelegentlich insinuieren. 55) 55 A. MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 21984; G. Himmelfarb, The De-Moralization of Society. From Victorian Virtues to Modern Values, New York 1995; R. Crisp, M. Slote (eds.), Virtue Ethics, Oxford 1997; D. Sternberger, »Wohin verschwand die Tugend? Einige Anmerkungen zu einem Akademievortrag von Paul Valéry (1935)«, in: ders., Figuren der Fabel, Frankfurt/M. 1990, S. 101–109. Selbst ein Schulden-Kritiker wie Graeber ist vor restaurativen Tendenzen nicht gefeit. Das fällt überall dort auf, wo er sich mit einer Rhetorik der Ursprünglichkeit einer die Beziehungen der Menschen angeblich ›immer schon‹ (und deshalb weiterhin) charakterisierenden Schuld auseinandersetzt. Graeber weiß allerdings genau, dass sich auf bloßes »Geschäft« reduzierte und auf diese Weise eigentümlich dekontextualisierte, weltlose ökonomische Transaktionen nicht rekosmisieren und so in einen alle und alles umfassenden Schuldzusammenhang reintegrieren lassen (Schulden, S. 339, 490 f.). Die von Graeber in Erinnerung gerufenen »Grundlagen unseres Daseins«

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Deshalb empfiehlt sich der negativistische Weg, auf dem man die fragliche Überschneidung von Moral und Gesellschaft dort sucht, wo auf die Unannehmbarkeit einer scheinbar durchgängigen Trennung beider Begriffe reagiert wird. Das geschieht im Zuge einer Remoralisierung ausgehend von einer epidemisch um sich greifenden Demoralisierung, in der sich Einzelne Schuld geben, ohne sich noch eines gesellschaftlichen Beziehungssinns der Schuld vergewissern zu können, wenn Moral nur eine Sache der Verlierer ist. Genau das wird zunehmend als unannehmbar erlebt und führt deshalb zu Protest gegen Formen der Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen, die weder zu deren Grundlagen noch auch zu Fragen ihres Fortbestandes irgendein Verhältnis haben. 56 So lassen diese Formen vergessen, was sie auf ihre spezielle (kapitalistische) Art und Weise ›ökonomisieren‹. Zu ökonomisieren im transitiven Sinne des Wortes ist nur, was nicht von sich aus schon ökonomisch verfasst ist und möglicherweise niemals restlos im Ökonomisierten wird aufgehen können, zumal dann nicht, wenn dieses einer rückhaltlosen »Finanzialisierung« unterworfen worden ist. 57 Das zeigt sich am Leben der ›Verlierer‹ und daran, wie die Lebbarkeit ihres demoralisierten Lebens schließlich auf dem Spiel steht. Wenn nun genau das im Gegenzug re-moralisiert und zum Motiv politischen Einspruchs gegen eine scheinbar nichts mehr ›draußen‹ lassende Ökonomisierung wird, steht letztlich wieder die uralte Grundfrage zur Disposition, die archaische Gesellschaften durch Formen des Austauschs zu beantworten versucht haben: ob und wie man ›in Beziehung steht‹ bzw. bleiben kann, allen Unwägbarkeiten des Gebens, Nehmens und Erwiderns zum Trotz.

(ebd., S. 491), die er nicht in ein Geschäft verwandelt sehen möchte, kommen erst nachträglich in den Blick durch die Probe, zu der uns die umfassende Ökonomisierung der heutigen Lebensverhältnisse zwingt: Sie zwingen uns dazu, herauszufinden, wie weit sie gehen können bzw. sollten und inwiefern sie unerträglich bzw. mit einem »sozialen« Leben unvereinbar sind. Auch das, was wir unter diesem Prädikat verstehen, muss infolgedessen neu bestimmt werden und lässt sich nicht einfach unter Berufung auf Autoritäten früherer Zeiten sagen, die von einer ›globalen‹ Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse allenfalls etwas ahnen lassen konnten. 56 In diese Kerbe schlägt auch E. Pulcini, Das Individuum ohne Leidenschaften. Moderner Individualismus und Verlust des sozialen Bandes, Berlin 2004. 57 Streeck, GZ, S. 58. Hier wird behauptet, jene Finanzialisierung stoße mit der »Logik der Lebenswelt« zusammen (d. h. wohl, sie sei mit dieser unvereinbar).

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Bilanz/Ausblick

6.

Bilanz/Ausblick

Wie es scheint, hat die moderne Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse mit der Schuldknechtschaft ganzer Gesellschaften, in der sie heute an moralische Grenzen stößt, zu dieser Frage gar kein Verhältnis mehr. »The winner takes it all.« Verlierer dagegen sollen ruhig ausscheiden (wohin auch immer sie sich dann wenden mögen, sei es in ein gedemütigtes, marginalisiertes Leben, dessen Stimme mangels minimaler ökonomischer Voraussetzungen kein Gewicht mehr hat, sei es in den Tod) – solange sich neue potenzielle Verlierer finden lassen, ohne die das ökonomische Spiel nicht weitergehen kann, das nichts so sehr fürchten lässt wie die endgültige Zahlungsunfähigkeit derer, die nicht gewinnen können. Durch immer neue, immer absurdere Kredite wird genau das verhindert, obgleich keinerlei Aussicht darauf besteht, die betroffenen Schuldner könnten sich je von ihrer drückenden Schuldenlast wieder befreien und effektiven politischen Handlungsspielraum zurückgewinnen. Doch das ist nicht die vorrangige Maßgabe des ökonomischen Spiels, in dem es vielmehr darum geht, durch Zahlungsunfähigkeit ausgelöste Kettenreaktionen aufseiten der Gläubiger zu verhindern, die durchweg von den Schulden der Anderen leben und bis auf vergleichsweise minimales Eigenkapital praktisch nur deren Soll in ihren Bilanzen haben. Zugespitzt gesagt haben sie also nur das, was Andere nicht haben. Auf diese Weise erweisen sich Gläubiger als Schuldner anderer Schuldner, denen sie im Grunde alles zu verdanken haben. In dieser Verschuldungsverkettung drohen diejenigen zum höchsten Risiko für alle zu werden, die als Gläubiger von anderen auf Gedeih und Verderb abhängen. Deshalb wird durch sog. bail-outs mittels öffentlichen Geldes alles dafür getan, es nicht zu einer Kettenreaktion kommen zu lassen. Und solange das weitgehend vermieden werden kann (bis auf wenige Ausnahmen, in denen man Banken hat pleitegehen lassen), muss die ruinöse Logik dieses Systems nicht offen zutage treten. Bis es so weit ist, leben wir zwischen einer weitgehend verblassten, verkümmerten, jedenfalls gewiss nicht mehr das »Fundament« 58 heutiger Gesellschaften im Ganzen tragenden Moralökonomie einer58 Vgl. A. Callié, Anthropologie der Gabe, Frankfurt/M. 2008, S. 71 f. Hier ist mit Karl Polanyi von einem re-embedding des Marktes »in eine soziale und politische Ordnung« die Rede, die nicht mehr im Ganzen auf »ein Modell der Ökonomie der Gabe« zu gründen sei.

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seits und einer zukünftigen, möglicherweise desaströsen Offenbarung dieser Logik andererseits. Und zwar ohne uns auf eine Identität von Moral und Gesellschaft stützen oder uns mit deren endgültiger Dissoziation indifferent arrangieren zu können. Das geht jedenfalls aus Remoralisierungen gesellschaftlicher Demoralisierung hervor, die uns mit der Frage konfrontieren, ob es für die Betroffenen, aber auch für die Prekären, die noch nicht unmittelbar Betroffenen, und für diejenigen, die sich vorläufig in ökonomischer Sicherheit wähnen, akzeptabel ist, als Verlierer aus dem ökonomischen Spiel derart auszuscheiden, dass ihre Stimme keinerlei Gewicht mehr hat, so dass sie in allen Bedeutungen des Wortes nicht mehr ›zählt‹. Laut Jacques Rancière bedeutet das: geradezu aufzuhören, überhaupt politisch zu existieren, wie wiederholt deutlich gemacht wurde. Man ist dann niemand mehr, wird nicht mehr gehört und findet keine Beachtung mehr, welche Menschen- und Bürgerrechte man auch immer formell genießen mag. Genau das droht, wenn Schuldner in einer entmoralisierten ökonomischen Schuldknechtschaft festgehalten werden, in der sie allenfalls sich selbst die Schuld für sie geben können, wohingegen ihre Gläubiger ihnen überhaupt nichts schuldig zu sein scheinen. Die Politische Philosophie der Gegenwart hat von Hannah Arendt über Michel Foucault und Jean-François Lyotard bis hin zu Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy und vielen anderen darauf insistiert, dass es unannehmbar ist, derart der politischen Inexistenz zu verfallen, d. h. bei lebendigem Leibe einen politischen Tod zu erleiden, um fortan ein ökonomisch deklassiertes, gedemütigtes, marginalisiertes und geradezu unsichtbares Leben zu fristen, politisch aber mundtot zu sein. Jeder, heißt das, sollte wenigstens einen Anspruch darauf geltend machen können, politisch zu existieren. Demnach wären wir das jedem Anderen schuldig. Auf diese Weise beziehen die Genannten ihrerseits eine politisch-moralische Position, die besagt, dass niemand um den Status eines Subjekts gebracht werden sollte, das sich effektiv an Andere wenden kann. Nur politische Wesen, die dafür gegenseitig und kollektiv einstehen, weil sie das einander moralisch schulden, sofern sie überhaupt politisch leben wollen, können dann auch in reziproke Austauschbeziehungen treten – sei es in wechselseitigem Geben, Empfangen und Erwidern von Geschenken wie bei einem ersten Kulturkontakt, sei es in vertraglich geregelten Handelsbeziehungen, sei es in finanzkapitalistischen Transaktionen zu gegenseitigem Vorteil. Gewiss lassen sich diese angesichts ihrer spekulati940 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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ven »Kreativität« längst nicht mehr auf ritualisierte Formen des Austauschs zurückführen, in denen man sich nicht (ökonomisch) verschuldete, ohne sich zugleich in der (moralischen) Schuld Anderer zu wissen, die im Geist des Gebens ganz und gar der Aufrechterhaltung der Beziehung zu ihnen verpflichtet war. So weit sich aber auch immer ökonomische, entmoralisierte Transaktionen und Systeme von dieser Basis entfernt haben mögen, sie können bzw. sollten die zweifellos stark geschwächten Verbindungen zu einer Moralökonomie nicht gänzlich aus dem Auge verlieren, die von Anfang an die Frage aufgeworfen hat, ob nicht nur Subjekte, die sich gegenseitig die Achtung ihres moralischen Status schulden, auch ihre ökonomischen Schulden auf gedeihliche Art und Weise werden regeln können. Wenn man diese Frage gänzlich aus dem Blick verliert, muss am Ende erst das (ausstehende) Desaster einer globalen und hegemonialen Finanzwirtschaft darauf aufmerksam machen, dass ökonomische Beziehungen auf Dauer nicht um den Preis ihrer (fiktiven) völligen Entmoralisierung und Demoralisierung zu haben sind. Mit Recht stellen Kritiker einer demoralisierten Ökonomie wie Graeber u. a. fest, sie rühre an die Grundlagen menschlichen, sozialen, politischen und ökonomischen Daseins. Wie aber verfügt dieses Dasein überhaupt über ›Grundlagen‹ ? Sowohl dass und als was wir da sind, als auch wer wir sind und sein werden, ist rückhaltlos von nicht zu umgehender, insofern notwendiger Kontingenz affiziert. 59 Weder für unser Vorhandensein auf der Erde noch dafür, was und wer wir sind, gibt es je zureichende Gründe. 60 Das zeigt sich par excellence anlässlich der Geburt, die Kant als Schuld bzw. Verpflichtung derer, die schon da sind, aufgefasst hat, die Nachkommen damit »zufrieden zu machen«, ohne dafür irgendeine Vorleistung in Rechnung zu stellen. 61 Unabhängig davon, ob es denjenigen, die schon da sind, je Vgl. N. Ricken, »Menschen – Zur Struktur anthropologischer Reflexionen als einer unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension«, in: F. Jaeger, B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart, Weimar 22011, S. 152–172. 60 H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt/M. 1988, S. 57 ff.; ders., Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, S. 208. 61 Wieso schuldet man das, wird man fragen. Woraus folgt das? Wer befindet darüber? Anstelle einer an dieser Stelle ohnehin nicht möglichen Kantexegese empfiehlt sich die geistige Gegenprobe mit der Frage, was daraus folgen würde, wenn wir annähmen, wir/man schulde dem Neugeborenen überhaupt nichts. Vgl. oben, Kap. XXV, 4, sowie I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, § 28 f.; vgl. Graeber, Schulden, S. 335. 59

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gelingen kann, dieser hohen Anforderung gerecht zu werden, sehen wir die Nachkommen doch auf jeden Fall davon vollkommen entlastet, etwa in einen kosmischen, schicksalhaften Schuldzusammenhang einrücken zu müssen, wie man ihn – sei es mit Anaximander, sei es mit Fjodor Dostojewski oder noch mit Walter Benjamin – gedeutet hat. 62 Neugeborene stehen in niemandes Schuld; sie tragen und haben keine Schuld, selbst wenn es stimmen sollte, dass sie sich später unweigerlich in eine Fehlbarkeit verstricken müssen, die sie schuldig werden lässt. 63 Allenfalls sind wir ihnen, den neu Hinzukommenden, etwas schuldig, da wir ihr Dasein schließlich zu verantworten haben – und zwar sowohl im Sinne der Verursachung als auch im Sinne nachträglicher Rechenschaftsgabe vor ihnen. Der Begriff des Daseins musste für Kant von vornherein die künftige Existenz als Weltbürger, der auf Hospitalität Anspruch hat, einschließen und durfte sich keinesfalls auf den amoralischen Status als beliebiges »Gemächsel« Anderer reduzieren. 64 Dieser künftigen Existenz eines Wesens, das selbst, aus sich heraus und insofern als unverfügbares Selbst, leben wird, im Vorhinein gerecht zu werden, erfordert weit mehr als die übliche physische Pflege und gewisse Beiträge zur Zivilisierung, Kultivierung und Moralisierung des Einzelnen, denen sich heute eine wortreiche Pädagogik der Erziehung und der Rationalisierung annimmt. Gefordert ist mindestens, dieses Selbst nicht (von vornherein) zu verknechten, wie es heute überall zu geschehen droht, wo es kein Entkommen aus (kollektiver) Verschuldung mehr gibt und ganze Generationen insofern um ihre Zukunft fürchten müssen. Gefordert ist darüber hinaus ein komplexes

62 J. Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker (griech./dt.), Stuttgart 1987, S. 73; F. M. Dostojewski[j], Die Brüder Karamasow, Frankfurt/M. 182002, S. 388, 431; W. Benjamin, »Schicksal und Charakter«, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 21980, S. 42–49, hier: S. 46. 63 Für Herbert Marcuse war dagegen jegliche Schuld bereits zur bloßen »Privatangelegenheit« geworden, falls sie nicht längst einem schuldlos-glücklichen Bewusstsein anheimgefallen ist (Der eindimensionale Mensch, S. 98 f., 102). 64 Kant begriff das Recht der Hospitalität bekanntlich als Anspruch darauf, anlässlich der Ankunft auf dem Boden Fremder nicht feindselig behandelt und nicht abgewiesen zu werden, wenn das eine Gefahr für Leib und Leben bedeuten würde. Dabei übersah er, dass wir alle als Fremde bei Fremden zur Welt kommen und vertraut erst werden, um auf diese Weise nicht ganz und gar fremd zu bleiben. Vgl. I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, in: Werkausgabe Bd. XI, S. 191–251, hier: S. 213.

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Set von Befähigungen zur konkreten Ausübung von Fähigkeiten (capabilities; Amartya Sen), die niemand von Anfang an fertig mitbringt, die sich vielmehr nur in geeigneten sozialen, politischen und rechtlichen Umwelten entfalten können. Gefordert ist außerdem eine vorsorgliche Regelung der wichtigsten Fälle (wie Behinderung, Arbeitslosigkeit und Krankheit), in denen die entsprechende Entwicklung des Einzelnen zwischenzeitlich oder auf Dauer einschneidend derart beeinträchtigt werden kann, dass individuelles Leben kaum mehr als lebbar erscheint. Dafür war in Kants Verständnis eine gewisse bürgerliche Selbständigkeit, d. h. die Fähigkeit erforderlich, »nach eigenem Betrieb, [nicht] nach der Verfügung anderer […], seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten«. 65 Von der industry und action John Lockes über die Neugier und Industriosität der Aufklärer bis hin zur gegenwärtigen Apologie einer Flexibilität, die jeden zum Unternehmer seiner selbst machen sollte 66, ist dieser Status der Selbständigkeit nachhaltig dynamisiert worden. 67 Demnach genügt es längst nicht mehr, sich irgendwie im status quo zu »erhalten«, wie Kant schreibt. Vielmehr muss man sich (angeblich) um sein ökonomisches Hoch- und Vorankommen unter ständig und beschleunigt sich wandelnden ökonomischen Bedingungen sorgen; und zwar antizipativ, bevor einen dieser Wandel schachmatt setzen kann. So konnten selbst Sozialdemokraten die uralte, auch schon von August Bebel, Adolf Hitler und Josef Stalin variierte Devise des Zweiten Briefes des Paulus an die Thessalonicher 68 (Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen) zeitgemäß uminterpretieren und zusätzlich in die Dynamik heutiger Gesellschaften moralisch investieren. 69 Diese Devise besagt nunKant, Die Metaphysik der Sitten, § 46, Werkausgabe Bd. VIII, S. 432 f. Nicht nur in das eigene Leben, auch in das Leben der eigenen Nachkommen und in deren künftiges Leben gilt es demnach, als Humankapital zu investieren. 67 G. Buck, »Selbsterhaltung und Historizität«, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1976, S. 208–302, hier: S. 243 f. 68 http://de.wikimannia.org/Wer_nicht_arbeitet,_soll_auch_nicht_essen 69 Wer nicht arbeitet, verdient sein Leben nicht, da er ja nichts verdient; und wer nichts verdient, hat nichts und verdient es nicht zu essen, scheint doch ohne weiteres aus den zitierten Worten zu folgen. Wer nicht arbeitet, hätte es also verdient, dass man ihn verhungern lässt? Noch steht der Sozialstaat dagegen. Vgl. zum Hintergrund der fraglichen Äußerung K. Schreiner, »Arbeiten fürs Essen«, http://www.zeit.de/ online/2006/20/Schreiner; D. Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 204. 65 66

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mehr: Dasein muss ökonomisch ›verdient‹ werden. 70 Gegebenenfalls eben auch im Rahmen einer unüberwindlichen Schulden-Ökonomie. Was auch immer man dir (implizit) versprochen 71 haben mag anlässlich deiner Geburt, du wirst fortan selbst verdienen müssen, ob du etwas zu essen hast und was du darüber hinaus bist oder werden willst. Alles, was du bekommst, musst du verdienen. Verdienst du nichts, bekommst du nichts. Und je mehr du dir verdienst, desto mehr wirst du verdienen. Suggeriert wird so ein direkter, im Einkommen gewissermaßen operationalisierter Zusammenhang zwischen Moral und Ökonomie, der den Umkehrschluss nahelegt: was verdient wurde, war verdient. (Zynischerweise nimmt auch eine Finanzwirtschaft diesen bei Managergehältern und spekulativem Gewinn nicht selten ad absurdum geführten Zusammenhang für sich in Anspruch, die nur noch das Geld ›arbeiten‹ lässt – und zwar idealerweise stets das Geld Anderer, das man selbst nicht verdient hat.) Unter dieser Voraussetzung setzt die zu beobachtende Demoralisierung an allen genannten Punkten an, angefangen beim schieren Dasein. Dasein bedeutet demnach keinerlei Verdienst; und man ist ihm, bloß ökonomisch gesehen, nichts schuldig. Durch sein bloßes Dasein verdient man allenfalls Achtung (der nichts kostenden Würde) und einen bürgerlichen Respekt (wie einen Vorschuss), den man mehr oder weniger einbüßen kann, wenn man wenig oder nichts verdient. Wenn das aber der Fall ist, hat man Geringschätzung bis hin zur Verachtung zu gewärtigen. Und die ist erfahrungsgemäß bei denen am meisten ausgeprägt, die auf der vorletzten Sprosse der gesellschaftlichen Leiter stehen, glauben sie doch vielfach, nur so noch einen letzten Abstand wahren zu können, bevor sie mit den Geringsten gesellschaftlich unsichtbar werden müssen. Wer sich mit anderen Worten sein bürgerliches Dasein nicht durch Verdienst verdienen kann, büßt es ein bzw. fällt in eine passive Mitgliedschaft zurück, in der man – ob mit oder ohne Stimmrecht 72 – kein Gehör findet, so dass Forrester, Der Terror der Ökonomie, S. 15. P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt/M. 1970, S. 66 f. Dieser Soziologe geht so weit, aus der menschlichen Generativität das metaphysische Versprechen eines im Ganzen »in Ordnung« befindlichen Seins herauszulesen. So weit muss man nicht gehen, wenn man (nur) darauf besteht, in ihr müsse der Sinn einer Bürgschaft für eine politisch verlässliche Lebensform liegen. Ich komme darauf am Schluss kurz zurück. 72 Vgl. oben, Anm. 65 zu Kants Unterscheidung aktiver und passiver Staatbürgerlichkeit. 70 71

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man geradezu Gefahr läuft, politisch nicht mehr zu existieren. Denn auch darauf besteht scheinbar gar kein Anspruch, den man sich nicht eigens verdienen müsste. Mit anderen Worten: wo man nichts ist als das, was man verdient (und wo man sonst nichts – moralisch – verdient), droht man bis auf sein schieres Dasein sein Leben ›einzubüßen‹, wenn man nichts verdient (weil man nicht arbeitet bzw. arbeiten will). In einer rein ökonomischen Logik wäre das nicht zu moralisieren; allenfalls handelt es sich um jedes Einzelnen eigene Schuld, die er sich selbst zurechnen muss. Und aus Erfolglosigkeit erwachsen keinerlei Ansprüche gegen Andere. Das ist es, worauf eine exzessive Schuldenökonomie schließlich scheint hinauszulaufen zu müssen: die massenhaft demoralisierte Existenz Verschuldeter, die für ihr unverdientes Dasein niemand anderem als sich selbst die Schuld geben können. Moral kann für sie keinen Anspruch mehr auf etwas (etwa auf ein in seiner Kontingenz lebenswertes Leben) oder gegen Andere mehr begründen, sondern nur noch zur Selbstdemütigung derer beitragen, die ›verloren‹ haben. Verlierern aber schuldet man in dieser Logik rein gar nichts. Sie scheiden einfach aus dem ökonomischen Spiel aus und büßen dafür unter den gegenwärtigen Bedingungen ihre politische Existenz ein, wenn sie schließlich weder ein Recht noch einen nicht-juridischen, etwa ethischen Anspruch darauf haben, auch als Verlierer gehört zu werden. So ist man zwar am Leben, aber doch (politisch) tot. Von einem ›bloß ökonomischen‹ Standpunkt aus ist dagegen scheinbar nichts einzuwenden – solange diese Erfahrung nicht epidemische Ausmaße annimmt und das ökonomische Spiel selbst zu gefährden beginnt. Genau das droht allerdings im Zuge einer Remoralisierung des Gesellschaftlichen, die mit einer rein individuellen Zurechnung von Schulden als Schuld Schluss macht und sich auf diese Weise zugleich der Depolitisierung sowohl der aufgehäuften Schulden als auch der individualisierten Schuld widersetzt. Sie widersetzt sich auf diese Weise im Wesentlichen der wichtigsten Konsequenz einer rückhaltlosen Ökonomisierung des Gesellschaftlichen, der Konsequenz nämlich, dass man bei lebendigem Leibe aufhört, (politisch) zu existieren, sobald man ›verloren‹ hat. Und von dieser derzeit massenhaft zu beobachtenden Konsequenz her veranlasst sie in der Tat dazu, die eingangs aufgeworfene Frage nach den Grundlagen des Gesellschaftlichen neu aufzuwerfen. Kann mit anderen Worten ein vergesellschaftetes Dasein auch 945 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXVI · De-moralisierte Gesellschaften – Zwischen Schuld und Schulden

um den Preis als erträglich, annehmbar oder bejahbar erscheinen, dass es den Verlierern, zu denen in nächster Zukunft jeder gehören kann, zumutet, nur noch ein selbst verschuldetes, ggf. zugleich überschuldetes Dasein in der Weise des (politischen) Nichtmehrdaseins zu fristen? Wenigstens mit Blick auf jene Urszene, die Kant im Blick hatte, als er sich fragte, unter welchen Bedingungen man eine Person »ohne ihre Einwilligung auf die Welt« setzen darf, kann man die Gegenprobe machen, ob man Nachkommen, sollten sie einst zu den ›Verlierern‹ zählen, sagen dürfte: politisch schuldeten wir euch nichts – außer der Achtung einer unverdienten Würde, die euch nicht davor schützt, euch euer Leben erst verdienen zu müssen, und die, wenn ihr das nicht mehr könnt, allenfalls noch eurem bloßen Vorhandensein zukommt. Positiv gewendet ergibt sich aus dieser Aussicht, dass jene Urszene das Versprechen einschließen muss, nicht nur für diese abstrakte Würde moralisch, sondern auch für die Existenz künftiger Mitglieder der Gesellschaft, sei es auch eine Welt-Gesellschaft, politisch zu bürgen – das heißt: sie niemals als absolute ›Verlierer‹ aus einem rückhaltlos ökonomisierten Leben indifferent herausfallen zu lassen. In diesem Sinne remoralisierte Gesellschaften würden nicht mehr auf eine ›konservative‹ Identität von Moral und Gesellschaft zurückfallen, sondern allenfalls aus dem negativen Einspruch gegen ein derartiges, kaum als annehmbar erscheinendes Leben erwachsen. Sie haben ihre Zukunft also nicht hinter sich, sondern bestenfalls vor sich.

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Kapitel XXVII Perspektiven gewaltsamer Ökonomisierung Schuld(en) zwischen Moralökonomie und Schuldknechtschaft I’sdained subjection, and thought one step higher Would set me highest, and in a moment quit The dept immense […], So burdensome still paying, still to owe […]. John Milton 1

1.

Ausweglose Schuld(en)?

Längst verblasst scheint der urzeitliche Horizont, in dem man sich den Ursprung einer Verschuldung mythologisch zu erklären versuchte, die sich infolge des bekannten Sündenfalls angeblich vererbte, so dass sie immerfort abzutragen war und sich dennoch schier endlos erneuerte. »Zugleich verschuldet und der Schulden bar«, »zahlend stets, doch stets in Schuld verbleibt«, wer ihr unterworfen war, heißt es in der deutschen Übersetzung von John Miltons Paradise lost (1670). 2 Das derart kontaminierte Vokabular der Schuld, der Schulden, des Zahlens und Entschuldens lässt sich heute kaum mehr bruchlos zusammenfügen. Nicht nur scheint jegliche Verbindung zum mythischen Ursprung der Verschuldung abgerissen zu sein; die inzwischen eingespielte Semantik suggeriert auch, dass Schuld und Schulden rein gar nichts miteinander gemeinsam haben. Der gegenwärtige Diskurs über Schuld und Schulden bestätigt diesen Eindruck auf den ersten Blick. Er driftet seit geraumer Zeit in zwei extrem entgegengesetzte Richtungen und behandelt Schuld und Schulden als zwei vollkommen heterogene Phänomene. 3 Auf der einen Seite ten1 J. Milton, »Paradise Lost« [1670], in: Das verlorene Paradies. Werke (engl./dt.), Frankfurt/M. 2008, S. 170. 2 Ebd., S. 171. 3 Laut Abschnitt I. 4. c) des Lemmas »Schuld« im Bd. XV, Sp. 1871 f., des Deutschen Wörterbuchs von J. u. W. Grimm, I–XVI, Leipzig 1854 ff., findet sich noch im 17. Jh. eine Rede von Schulde ohne ›n‹ gleichsam zwischen Singular und Plural. Erst im Neuhochdeutschen habe sich die Rede von Schulden im Sinne des lat. debitum

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diert der philosophische Diskurs über Schuld wie in Kap. XXV, 1 gezeigt dahin, sich auf äußerste, durch nichts abzutragende oder zu tilgende Schuld zu konzentrieren. (Hier knüpft mit Vladimir Jankélévitch und Jacques Derrida der Diskurs über das moralisch Unverzeihliche von Schuld im Singular an.) Auf der anderen Seite tendierte der ökonomische Diskurs über Schulden im Plural dahin, sich auf aktuelle Probleme scheinbar irreversibler Überschuldung zu konzentrieren. (Verwiesen sei nur stellvertretend auf Namen wie David Malone, Thomas Piketty, David Graeber, Tim Di Muzio, Maurizio Lazzarato und Richard Robins.) Bei beiden Diskursen 4 hat man es prima facie mit einer gewissen Ausweglosigkeit zu tun: mit Aporien des Verzeihens im Fall übermäßiger Schuld; mit der Unmöglichkeit der Entschuldung im Fall übermäßiger Schulden. 5 Aber haben die Moral der Schuld und die Ökonomie der Schulden abgesehen davon, dass eine Befreiung von (Schuld, die zu bezahlen ist) verbreitet durchgesetzt (siehe II. 2.), stellen die Brüder J. u. W. Grimm fest. Ähnlich wurde credit, Geborgtes und Geliehenes verstanden: man muss zurückgeben, was anderen zusteht. Schuld kann auch die einzelne (ökonomische) Schuldforderung bedeuten, ohne speziell moralisch gemeint zu sein. 4 Ich sehe hier ganz von einem dritten Diskurs ab, der sich primär weder mit moralischer noch mit ökonomischer Schuld befasst, sondern davon ausgeht, dass die zeitgemäßeste Form der Schuld das tendenziell neurotische Gefühl einer Unzulänglichkeit ist, die man als eigenes Defizit empfindet, insofern man immer neuen Aufgaben in einer temporalisierten Gesellschaft nicht gerecht wird. An solchen Beobachtungen notorischer Überforderung und daraus folgender Erschöpfung mag einiges ›dran‹ sein; ohne zureichende empirische Grundlage bleiben sie gleichwohl weitgehend spekulativ. Und von einem weitgehenden Verschwinden der Schuld, wie sie hier zur Sprache kommt, kann nicht die Rede sein. Vgl. A. Ehrenberg, Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2012, S. 12. 5 Speziell Piketty insistiert aber darauf, »[that] the public debt is not our major worry« (T. Piketty, Capital in the Twenty-first Century, Cambridge, London 2014, S. 568). Der Grund dafür ist, dass ein »immediate reimbursement of all outstanding public debt is possible«. »A flat tax of 15 percent on private wealth would yield a year’s worth of national income«, so dass bereits nach fünf Jahren in der Regel die derzeit festzustellende Staatsverschuldung zu beseitigen wäre (ebd., S. 542). Besonders die europäischen Gesellschaften leiden unter einem krassen, so gesehen aber relativ leicht abzuwendenden Missverhältnis zwischen privatem Reichtum und Überschuldung der öffentlichen Finanzen (ebd., S. 540). Zwar stellt Piketty fest, »[that] capitalism automatically generates unsustainable inequalities that radically undermine the meritocratic values on which democratic societies are based« (ebd., S. 1; Hervorhebg. B. L.), doch hält er eine demokratische, deliberative Kontrolle dieses Missverhältnisses für möglich, so dass eine »endless inegalitarian spiral« vermieden werden kann, die sich aus dem Missverhältnis zwischen Kapitaleinkommen einerseits und ökonomischem Wachstum andererseits ergibt (ebd., S. 8, 25 f., 568 f.).

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Ausweglose Schuld(en)?

unverzeihlicher Schuld genauso aussichtslos zu sein scheint wie die Befreiung von jedes vernünftige Maß übersteigenden Schulden, überhaupt noch etwas miteinander gemeinsam? Sind Schuld und Schulden nach den Ergebnissen der vorangegangenen Kapitel nun doch miteinander verknüpft zu denken? 6 Oder sind wir gut beraten, Schuld und Schulden, Ökonomie und Moral genauso voneinander zu trennen wie Fragen ihres mythologischen Ursprungs und der Befreiung von Schuld resp. von Schulden? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass der gegenwärtige Diskurs über beide Begriffe eine übersichtliche und bequeme theoretische Flurbereinigung solcher Art tatsächlich unterläuft. Einerseits greift der moralische Diskurs (nicht selten in moralistischer Art und Weise) auf den ökonomischen über – z. B. dort, wo Habsucht, Gier, ökonomische Maßlosigkeit, Verantwortungslosigkeit und Hybris gebrandmarkt werden. Andererseits lassen sich ökonomische Probleme der Überschuldung als Phänomene der Schuldknechtschaft (debt bondage, debt enslavement 7) deuten, in die Staaten und ganze Bevölkerungen scheinbar ausweglos geraten sind, so dass deren ökonomische Alle begrifflichen Differenzen überspielt P. Sloterdijk, indem er feststellt, für die »Schlüsselfigur des neuen Zeitalters«, den »Schuldner-Produzenten«, werde »aus einem moralischen Makel […] ein ökonomisch sinnvolles Anreizverhältnis«; P. Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt/M. 2006, S. 79. Genauso wenig wie die generalisierte These einer weitgehenden »Umwandlung moralischer Schuld in monetäre Schulden« (ders., Zorn und Zeit, Frankfurt/M. 32013, S. 51) überzeugt die These einer nach wie vor »guiltbased morality« ökonomischer Verschuldung (T. Terranova, »Debt and Autonomy: Lazzarato and the Constituent Powers of the Social«; http://thenewreader.org/ Issues/1/DebtAndAutonomy). Beide Verallgemeinerungen machen auf das Desiderat einer genauen Aufklärung des Verhältnisses von Schuld und Schulden aufmerksam. Dazu genügt weder ein beliebter Rekurs auf Nietzsches Genealogie der Schuld(en) noch auf eine Sozialanthropologie, die Gefahr läuft, das Verhältnis beider Begriffe zu enthistorisieren und sie infolgedessen genau um diejenigen Transformationen zu verkürzen, die etwa eine spezifisch neo-liberale Konstellation von Schuld und Schulden erklären könnten. Vgl. A. Toscano, »Alien Mediations: Critical Remarks on The Making of the Indepted Man«; http://thenewreader.org/Issues/1/AlienMediations. 7 Vgl. D. Malone, The Debt Generation, Lancaster 2010, S. 56, 66, 96, 128. T. Armstrong spricht in The Logic of Slavery. Debt, Technology, and Pain in American Literature, Cambridge 2012, S. 52, von einer »slavery of debt [as] continued inability to make income cover expense«. Insofern es eine Politik der Verschuldung geradezu darauf anlegt, dass letztere keinen Ausweg mehr zulässt, wie Di Muzio und Robins gezeigt haben, kann man sagen, dass eine solche Politik auf Generationen übergreifende Schuld-Knechtschaft hinausläuft; vgl. T. Di Muzio, R. H. Robins, Debt as Power, Manchester 2016, S. 20, 40, 79 (= DaP). 6

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Lage ihrerseits geradezu nach einer Moralisierung verlangt. Der Begriff der Schuldknechtschaft 8 ist zweifellos kein rein ökonomischer; vielmehr verweist er wie von selbst auf eine moralische Dimension des Ökonomischen zurück, ohne dass das leichthin als ›moralistische‹ Moralisierung des Ökonomischen abzutun wäre. Das Phänomen dieser Knechtschaft 9 ist der aktuelle Anlass unseres Fragens danach, worum es in der gegenwärtigen Schuldenkrise geht, die nicht zuletzt auch begrifflich gewissermaßen aus den Fugen geraten ist. Das gilt einerseits zunächst für Fragen meist individuell zurechenbarer, unverzeihlicher Schuld, von der man sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien kann und die in Aporien führt, denen kaum mehr mit überlieferten Begriffen beizukommen ist, die Theologen, Ethiker und Moralphilosophen traditionell verwenden. Zieht eine solche Schuld nicht eine Un-Möglichkeit des Verzeihens nach sich? 10 Das Ökonomische dagegen gerät andererseits begrifflich aus den Fugen, insofern die aktuellen Probleme der Überschuldung 11 auf neue, im Horizont der Globalisierung zu bedenkende Formen der Knechtschaft hinauslaufen, die den ökonomischen Rahmen selbst sprengen, in dem man bislang Schulden als quantitative Defizite bzw. Außenstände berechnet hat. 12 Der Begriff der Schuldknechtschaft ist zwar als ökonomischer, rechtlicher und politischer längst vertraut. Gegenwärtig nimmt er aber eine neue Bedeutung an, insofern er mit einer Abgesehen von einer speziellen Rechtsstellung (Obnoxiation) wird Schuldknechtschaft definiert als »ein auf Dauer angelegtes, sklavereiähnliches Abhängigkeitsverhältnis, das von einer einseitigen wirtschaftlichen Ausbeutung gekennzeichnet ist, sowie dadurch, dass der Gläubiger allein und willkürlich über die Art und die Dauer der Abhängigkeit entscheiden kann«; https://de.wikipedia.org/wiki/Schuldknecht schaft. Obwohl als Form der Sklaverei verboten, ist diese Form der Ausbeutung noch heute weit verbreitet. In Indien heißt sie bonded labour, in Lateinamerika peonaje. Dabei kann sie auf eine unbefristete Verpfändung des nackten Lebens der Schuldner hinauslaufen, die ihre Schuld endlos durch Arbeit abtragen sollen. So wird ihr Leben beliebig verfügbar. 9 Zur Frage, inwiefern hier ›nur‹ metaphorisch von Knechtschaft die Rede sein kann, vgl. T. Armstrong, The Logic of Slavery. 10 V. Jankélévitch, Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, Frankfurt/M. 2004; J. Derrida, »Avowing – The Impossible: ›Returns,‹ Repentance, and Reconciliation«, in: E. Weber (ed.), Living Together. Jacques Derrida’s Communities of Violence and Peace, New York 2013, S. 18–41. 11 Die wenigsten werden ganz und gar verstehen, was in der gegenwärtigen Schuldenkrise eigentlich finanztechnisch vor sich geht. Was nicht zuletzt an der oft beklagten »Intransparenz« der wichtigsten Institutionen liegt; vgl. Piketty, Capital, S. 560. 12 D. Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, München 2014. 8

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Ausweglose Schuld(en)?

Re-Moralisierung des Ökonomischen selbst verknüpft ist, sofern dieses in den finanzkapitalistischen Exzessen der letzten Jahre im globalen Maßstab auf eine gewaltsame Unterwerfung ganzer Bevölkerungen hinauslief, die offenbar nicht als vorübergehende pathologische Erscheinungsform einer ansonsten normal funktionierenden Ökonomie abzutun ist. Zeigt sich in dieser Unterwerfung nicht gerade das, was passieren muss, wenn man dem Ökonomischen (entgegen dem ursprünglichen Wortsinn von oîkos und nómos 13) in seinem scheinbar unbegrenzten Erfindungsreichtum freien Lauf lässt – d. h. hier: wenn man mit dem Kapital und den Schulden Anderer auf deren Kosten spekulativen Gewinn ohne Rücksicht auf die Frage zu erzielen versucht, ob ein darauf beruhendes ökonomisches System mitteloder langfristig überhaupt Bestand haben kann? 14 Wenn man den Zusammenbruch des Systems so lange wie möglich vermeiden will, muss man sich durch Handel mit Schulden Schuldner halten, die ständig dazu gezwungen sind, sich neu zu verschulden, ohne ihre Haushalte auf Dauer in Ordnung bringen können. So geraten sie früher oder später in ein ökonomisches Elend, aus dem es kein absehbares Entkommen mehr gibt. Infolgedessen besteht aber ständig die Gefahr, dass die Schulden nicht mehr beglichen werden können, von denen die Profiteure leben. Und wenn diese ungeachtet immer neuer bail-outs, mit denen sie ›gerettet‹ werden sollen, selbst zahlungsunfähig werden, droht im Extremfall eine Auflösung des ökonomischen Systems, das zu einer solchen Entwicklung geführt hat – und vielleicht führen musste. Wenn letzteres der Fall ist: muss man dann G. Bien, »Die aktuelle Bedeutung der ökonomischen Theorie des Aristoteles«, in: B. Biervert et al. (Hg.), Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handelns, Frankfurt/M. 1990, S. 33–64. 14 Ohne die neuen, hochspekulativen Formen exponentieller Gewinnmaximierung wie etwa das computerisierte high frequency trading im Blick zu haben, hat schon Karl Polanyi diese Frage aufgeworfen, wo er die Emanzipation der alles dem Gewinninteresse unterwerfenden Marktwirtschaft vom Gesellschaftlichen beschrieben hat. Dieses Problem mag so alt sein wie die Aristotelische Politik, in der es Polanyi bereits beschrieben fand, doch hat auch dieses Interesse eine Geschichte hervorgebracht, die nicht zu antizipieren war; insbesondere nach der Institutionalisierung privater Kreditvergabe nach dem Vorbild der Bank of England. Vgl. K. Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M. 1978, S. 86; Di Muzio, Robins, DaP, S. 17 ff., 31 ff. Wie der gegenwärtige Finanzkapitalismus seine exzessiven Gewinne erzielt, steht hier nicht zur Diskussion. Es geht mir allein um die Folgen für ganze Gesellschaften, die er in eine neue Knechtschaft stürzt. 13

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nicht nach einem anderen ökonomischen System suchen? Kann es aber überhaupt ein ökonomisches System geben, welches die inkriminierte Konsequenz der Schuldknechtschaft nicht heraufbeschwört? Das glauben offenbar diejenigen, denen die beobachtbaren Auflösungserscheinungen Grund zum Optimismus sind. Sie hoffen – ob vergeblich bzw. illusorisch oder nicht, bleibe dahingestellt – auf eine ganz andere Welt-Wirtschaft. Dagegen fürchten andere für den Fall des Zusammenbruchs der bislang vorherrschenden Welt-Wirtschaft eine ökonomisch überhaupt nicht mehr zu steuernde Katastrophe. Sind wir alle – Verschuldete wie auch nicht Verschuldete – also Knechte eines Systems, das irreversible Schuldknechtschaft früher oder später erzeugen muss und dazu zwingt, sie aufrechtzuerhalten? Müssen daran in Zeiten massiver Überschuldung auch diejenigen ein vitales Interesse haben, die nicht unmittelbar von ihr profitieren und nicht mit ihr spekulieren? Diese doppelte Knechtschaft, die eine entfesselte und darüber hinaus erfinderische, sich bis zur Unkenntlichkeit selbst transformierende Ökonomie 15 selbst heraufbeschwört, lässt die Kritik an der gegenwärtigen Schulden-Ökonomie in eine moralische Infragestellung des Ökonomischen selbst umschlagen. Wenn letzteres als entfesseltes, d. h. von jeglicher gesellschaftlichen Bindung gelöstes und nur noch dem Gewinn interessierter Kreise verpflichtetes, in eine solche Knechtschaft mündet (und vielleicht münden muss), stellt es radikal in Frage, ob diejenigen, die unter ihr leiden, überhaupt noch ein Leben leben können, das seinen Namen verdient. Auf dem Spiel steht die Lebbarkeit eines menschlichen, soDie Metapher der ›Entfesselung‹ suggeriert (irreführend) lediglich die Freisetzung einer bereits vorhandenen Kraft ›des‹ Ökonomischen. Bedenkt man aber die Kultur-, Begriffs- und Ideengeschichte dieses Wortes (ausgehend von der Haushaltung der Antike über die Physiokraten der Neuzeit und die Begründer der Nationalökonomie bis hin zur reinen Marktwirtschaft und zum gegenwärtigen Finanzkapitalismus), so kommt man zu paradoxen Ergebnissen: Was Aristoteles als Ökonomie beschreibt, ist keine Marktwirtschaft und insofern gerade keine Ökonomie im modernen Sinne. Wenn letztere sich nach der bekannten These Karl Polanyis aus jeglicher sozialen »Einbettung« löst, kann es sich umgekehrt nicht um eine Ökonomie im ältesten Sinn des Wortes handeln. So gesehen hat die Geschichte des Ökonomischen zu einer weitgehenden Befreiung von der Erbschaft dieses Begriffs geführt, was es nahezu unmöglich macht, ihr einen einheitlichen Sinn des Ökonomischen zugrunde zu legen. Vgl. K. Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 149 ff., 156, 195–207, 218. Gegen die Entstellung des Ökonomischen durch diese Befreiung bringt dieser Autor den Gedanken einer Wiedereinbettung des Ökonomischen ins Gesellschaftliche ins Spiel, ohne die das Ökonomische im Grunde seinen Namen nicht länger verdient, wenn wir uns dieser Perspektive anschließen.

15

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zialen, politischen, jedenfalls niemals ›nur‹ ökonomisch determinierten Lebens. Paradoxerweise ist es so gesehen der exzessive ›Erfolg‹ einer verselbständigten bzw. finanzkapitalistisch pervertierten Ökonomie, was bewirkt, dass sie radikale Kritik auf sich zieht, in der ihr moralisches Scheitern diagnostiziert wird. Von dieser Ökonomie hatte man jedoch behauptet, sie könne nur entmoralisiert begriffen werden. Moral und Ökonomie seien funktional differenziert und jeder Versuch, eine Sprache in terms von gut/schlecht bzw. böse oder richtig/falsch auf letztere anzuwenden, sei ökonomisch schlicht anachronistisch. Jetzt aber hat die SchuldenÖkonomie moralische Konsequenzen: die Verknechtung ganzer Gesellschaften. Damit gerät sie, zumal als ultimativ moderne, in Widerspruch zu ihrer eigenen Modernität, die nur als Freiheit von jeglicher Sklaverei zu begreifen war. 16 Schuldknechtschaft ist aber eine Form der Sklaverei. Sie führt Staaten wie Griechenland bzw. die überwiegende Mehrzahl derjenigen, die ihnen angehören, in die Situation einer kollektiven Versklavung. Allerdings ohne dass sich noch Agenten der Versklavung ohne weiteres identifizieren ließen, gegen die man sich persönlich wenden könnte. Und sie reduziert Einzelne auf ein ›bloßes‹ Leben, das nur noch irgendwie vorhanden ist, aber kaum mehr wirklich gelebt werden kann. Unter dem Joch der Schuldknechtschaft droht die livability eines menschlichen, sozialen und politischen Lebens schließlich ruiniert zu werden. So führen Schulden auf die Spur einer Dimension der Schuld, die mindestens in folgender Weise auszudifferenzieren ist.

2.

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Fragen der Verursachung und der Erklärung beziehen sich darauf, worin – letztlich oder aktuell – die Ursache für das Aus-dem-Ruderlaufen der globalen Ökonomie liegt. Handelt es sich um ein Problem der »Erwerbskunst« (kapēlikē bzw. chrēmatistikē) im Allgemeinen, die »keinerlei Grenze« von Reichtum und Besitz zu kennen scheint 16 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, S. 437. Adam Smith, der Begründer der modernen Nationalökonomie, hegte jedenfalls keinen Zweifel daran, dass eine Marktökonomie, in der jeder zum Kaufmann wird, zugleich auf die beste Realisierung menschlicher Freiheit hinauslaufen müsste. A. Smith, Inquiry into the Wealth of Nations [1776], Oxford 2008.

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(Aristoteles)? 17 Oder um Wuchern mit Zinsen? Oder, wie im Fall der niederländischen Tulpenkrise der Jahre 1636/37 18, um ein Problem kollektiver Spekulation auf einem entmoralisierten Markt? Oder um eine nach dem Vorbild der 1694 gegründeten Bank of England privatisierte Form systematischer Schuldenerzeugung? 19 Oder erst um ein Problem des modernen, erstmals ganze Gesellschaften als »Systeme des Bedürfnisses« erfassenden, gnadenlosen Konkurrenz-Kapitalismus mit seiner unaufhörlichen Akkumulation von Mehrwert zum Zwecke der Bereicherung (auf Kosten Dritter) auf einem alles beherrschenden Markt? 20 Oder erst um die globale Liberalisierung der Finanzmärkte (infolge der Aufhebung des Goldstandards nach dem Vietnamkrieg und der durch eine amerikanische und eine britische Regierung propagierten Deregulierung)? Oder erst um eine Entmachtung der Massendemokratie infolge einer »endgültigen Freisetzung der kapitalistischen Wirtschaft« in Verbindung mit einer »hegemonialen Umerziehung« aller zum depolitisierten »Marktvolk«, das nunmehr zu resignieren beginnt angesichts endgültig aussichtsloser Hoffnungen auf eine politische Wiedereinhegung ›des‹ Ökonomischen? 21 Wenn das inzwischen geflügelte Wort zuträfe, dass es »no such thing as society« gibt, dann dürfte es nur Individuen geben, die lediglich (bei Bedarf) ökonomische Beziehungen eingehen und sie auch wieder lösen können, wenn man miteinander quitt ist. Wenn wir demgegenüber davon ausgehen müssen, dass es sehr wohl Gesellschaften gibt (allerdings nicht in der schlichten Positivität von ›Dinglichem‹ bzw. eines Objekts), müssen wir auch damit rechnen, dass sich Schuld-Fragen nicht auf Fragen der Verursachung ökonomischer Krisen beschränken lassen, die nur nicht-vergesellschaftete Individuen betreffen würden. Gesellschaftliche Schuld-Diagnosen werden vielfach in moralisierender Form vorgetragen. Bei finanzkapitalistischen Exzessen, bei Aristoteles, Politik, Buch I, 1257 a; zur umstrittenen Wortbedeutung vgl. Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft, S. 182 ff. 18 https://de.wikipedia.org/wiki/Tulpenmanie. 19 Di Muzio, Robins, DaP, S. 31–40. 20 M. Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 1969, S. 135 ff.; Piketty, Capital, S. 9, 565. 21 W. Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Erweiterte Ausgabe, Berlin 2015, S. 119 f., 126, 132. Zur Differenz von Markt- und Staatsvolk vgl. ebd., S. 26, 160. 17

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der künstlichen Erzeugung von Spekulationsblasen, beim Handeln mit Derivaten usw. handle es sich um eine Frage der Gier und der Maßlosigkeit, die meist individuell, Cliquen, Eliten oder auch Klassen zugerechnet wird. 22 Darüber hinaus werden auch die Märkte und der Kapitalismus als ökonomisches System ›moralisiert‹ ; sei es als sogenannter Spätkapitalismus, sei es speziell mit Blick auf neuere spekulative Varianten des Wirtschaftens, die auch von linken, sich meist eines traditionellen moralischen Vokabulars bedienenden Kapitalismus-Kritikern nicht vorhergesehen wurden. 23 (Die Rede war doch vorrangig von Ausbeutung, Entfremdung, Verstoß gegen verallgemeinerungsfähige Interessen; usw.) Man beklagte darüber hinaus demoralisierende Konsequenzen für ganze Gesellschaften. 24 Dabei konnte der Eindruck entstehen, es gehe hier um einen Verlust zu rehabilitierender Tugenden. 25 Dieser Diskurs hatte jedoch vielfach de-politisierende Konsequenzen, indem er suggerierte, zu rehabilitierende Tugenden würden die ökonomische Krise schon bewältigen helfen. Nicht selten gehen Plädoyers für zu rehabilitierende Tugenden mit einem restaurativen Geist einher, der sich gar nicht kritisch gegen eine verselbständigte Ökonomie oder gegen rezente Entwicklungen des Wirtschaftens selbst richtet, sondern allenfalls lehrt, wie man sich mit ihnen arrangieren soll. Statt immanent-restaurative Moralisierung zu betreiben, verlangen Anthropologen, die sich von Marcel Mauss über Karl Polanyi bis Marcel Hénaff gegen die Herrschaft einer verselbständigten Ökonomie wenden, einen Rückgang auf die Ursprünge des Ökonomischen selbst. Im Rekurs auf die Ursprünge des Ökonomischen hoffen sie herauszufinden, wie es sich zum Moralischen verhält – und womöglich verhalten muss, wenn es nicht in schiere Gewalt umschlagen soll, wie es überall dort nicht mehr zu leugnen ist, wo es in Formen der Schuldknechtschaft mündet. Dieser Rückgang unterläuft sowohl die Entmoralisierung des Ökonomischen als auch dessen auf mehr Malone, The Debt Generation, S. 222, 238. Streeck, Gekaufte Zeit, S. 71, 76, 151. 24 Siehe Kap. XXVI,2, sowie die allgemeine Situationsbeschreibung bei C. Offe, Europa in der Falle, Berlin 2016; zu Schuld und Schulden S. 135 ff. 25 »Der Verlust der Tugend: Zur moralischen Krise der Gegenwart« ist der Titel der dt. Übersetzung von A. MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 21984. Dieser Autor beschäftigt sich nicht primär mit Ökonomie-Kritik. Ihm geht es um die Diagnose einer Erosion moralischer Sprache und um einen »substanziellen« Verlust an Moralität (ebd., S. 2). 22 23

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oder weniger ›verlorene‹ Tugenden verweisende Remoralisierung, die einer gesellschaftlichen Demoralisierung entgegenwirken soll. Er geht auf die gemeinsamen Ursprünge des Ökonomischen und des Moralischen zurück und wartet mit der These auf, dass wir es in ethnologisch-gattungsgeschichtlicher Hinsicht, wie sie Einblicken in die »Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften« (Mauss 26) entspricht, ursprünglich mit einer Moralökonomie zu tun haben, die unter Zugrundelegung einer abstrakten Trennung eines ›rein Moralischen‹ von einem ›rein Ökonomischen‹ überhaupt nicht zu verstehen ist. 27 Hier handelt es sich vielmehr um ein reziprokes Geben und Nehmen, in dem sich Schuld und Schulden als unauflöslich miteinander verflochten erweisen. 28 Ich werde nun im folgenden Teil meiner Überlegungen die Frage aufwerfen, was der anthropologische Rückgang auf eine solche Moralökonomie zum besseren Verständnis unserer Gegenwart beitragen kann, in der Moral und Ökonomie, Schuld und Schulden so weit wie nur möglich auseinandergetreten zu sein scheinen. Infolgedessen hätten wir es demnach nur noch mit entmoralisierter Ökonomie und mit entökonomisierter Moral zu tun. Aber damit wollen sich Kritiker nicht abfinden, die darauf bestehen, dass vergesellschaftetes Leben, so wie wir es seit der Moderne antreffen, nicht ohne eine gewisse Überschneidung von Moral und Ökonomie zu denken ist. Gewiss lässt sich keine Identität von Moral und Ökonomie mehr denken. 29 Aber wir haben es mit ›gesellschaftlichen Moralisierungen‹ zu tun, die sich einem Schisma von Moral und Ökonomie widersetzen. Das zeigt sich deutlich dort, wo der Zusammenhang von Schuld und Schulden untersucht wird. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 31984. 27 Das beweist schon die zentrale Rolle, die Mauss dem Vertrauen in archaischen Formen des Ökonomischen zugeschrieben hat; vgl. M. Mauss, F. Simiand, »Debatte über die Funktion des Geldes (1934)«, in: H. P. Hahn, M. Schmidt, E. Seitz (Hg.), Marcel Mauss. Schriften zum Geld, Berlin 2015, S. 120–142. 28 Polanyi, der in diesem Sinne so großen Wert auf den Reziprozitätsbegriff gelegt hat, spricht in Ökonomie und Gesellschaft in diesem Zusammenhang von einer »nichtökonomischen Schuldhaftigkeit« (S. 340). Als nicht-ökonomisch ist letztere allerdings nur aufzufassen, wenn man einen modernen, etwa marktwirtschaftlichen Ökonomiebegriff zugrunde legt – und nicht einen weiteren, auf ständigen Ausgleich von Gütern, Werten und Akten des Gebens und Nehmens zu beziehenden Ökonomiebegriff (auf den es Polanyi eigentlich ankam). 29 Siehe dazu das vorangegangene Kap. XXVI. 26

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3.

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Was hier ich Moralökonomie genannt habe, erschöpft sich zweifellos nicht in Prozessen einseitigen Gebens. Durch Derridas Auseinandersetzung mit Mauss ist dagegen der Eindruck entstanden, es müsse in einer Theorie der Gabe genau darum und nur darum gehen. Insofern habe Mauss sein eigentliches Thema im Grunde vollkommen verfehlt. Aber hat nicht genau umgekehrt Derrida verfehlt, worum es Mauss eigentlich ging – nämlich um eine Theorie der Reziprozität, in der das Geben mit dem Empfang und mit der Erwiderung des Gegebenen unauflöslich zusammenhängt? Und zwar doppelt: im gegenseitigen Austausch und in der Verpflichtung auf Reziprozität selbst? Demnach ›schuldet‹ man einander nicht nur im Einzelfall, Gegebenes zu erwidern, sondern die Bindung an das Geben und Erwidern als solches. Und diese Bindung schließt ein, dass jeder Beteiligte unangefochten Subjekt und Adressat des Gebens, Empfangens und Erwiderns ist und bleibt. Diese Bindung wird durch einzelne reziproke Transaktionen niemals völlig aufgelöst, auch wenn man zwischenzeitlich miteinander quitt ist. Wohl wissend, dass letzteres ökonomisch betrachtet durchaus möglich ist, läuft Graebers Analyse des Schuldens deshalb darauf hinaus, dass man niemals ›endgültig‹ miteinander quitt wird. 30 Und aus dieser Feststellung möchte er offenbar eine gegen heutige Schuldenökonomien gewendete kritische Schlussfolgerung ableiten. Aufbauend auf dem mit dem Namen Adam Smith verknüpften Gründungsmythos der modernen Wirtschaftswissenschaft 31 meint man, man sei einander ursprünglich zu nichts verpflichtet, man trete in Austauschprozesse nur zum gegenseitigen Vorteil ein und könne sich von diesen Prozessen auch wieder vollkommen entbinden; auch dann, wenn sie einen der Beteiligten ganz und gar ruiniert haben. In allen drei Punkten widerspricht eine auf diesem Mythos aufgebaute Form des Wirtschaftens der skizzierten Moralökonomie. 32 Aber was kann eine anthropologische Erinnerung an diese gegen erstere ausrichten? Sie wirft offenbar die Frage auf, wie sich eine modern ökoVgl. Graeber, Schulden, S. 82, 89, 110, 141, 153, 155, 333. Ebd., S. 36, 42. 32 Zum historischen Hintergrund einer »moral economy in retreat« speziell mit Blick auf das England des 17. Jahrhunderts vgl. die ausgezeichnete Untersuchung von J. Oldham Appleby, Economic Thought and Ideology in Seventeenth-Century England, Princeton 1978, bes. ch. 3. 30 31

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nomisierte Form gesellschaftlicher Koexistenz zu historisch weit zurückliegenden (kaum mehr gegenwärtigen), archaischen Lebensformen verhält. Weist sie, mit Hegel zu reden, die Momente, die sie hinter sich hat, nach wie vor in ihrer gegenwärtigen Tiefe auf? 33 Muss man sich so gewissermaßen die diachrone Vorgeschichte moderner Gesellschaften in eine synchron-vertikale Dimension ihrer Gegenwart transformiert denken? Man wird diese Frage nur beantworten können, wenn man kardinale Differenzen (1–5) zwischen alten, auf Reziprozität gegründeten Moralökonomien einerseits und modernen, weitgehend entmoralisiert dem Ökonomischen unterworfenen Gesellschaften andererseits nicht unterschlägt: (1) Die Mauss’sche Moralökonomie betrifft nicht »Gesellschaften« im modernen Sinne (Mauss selbst spricht allerdings von sociétés archaiques), sondern allenfalls lokale Lebensformen mit weitgehend »gewinnloser und marktloser Wirtschaft« (Polanyi). 34 (2) Daraus folgt unmittelbar: sie erstreckt sich nicht im Horizont einer anonymen Koexistenz auf eine Vielzahl Dritter, die man nicht kennt, mit denen man aber eine gesellschaftliche Zugehörigkeit teilt. (3) Die Zugehörigkeit zu einer solchen Gesellschaft kann ihrerseits überwiegend nicht in der Form konkreter Austauschbeziehungen in face-to-face-Beziehungen realisiert werden. So kann sich auch nicht in der Reziprozität solcher Beziehungen manifestieren, was man einander schuldet – und zwar in einem sowohl ökonomischen als auch moralischen Sinne. (Auf die integrale Verknüpfung beider Momente kommt es den Mauss-Anhängern ja gerade an.) (4) Ist also ein völliges Auseinanderfallen des Ökonomischen und des Moralischen in modernen Gesellschaften unvermeidlich? Nein, gewiss nicht, antworten die modernen Theoretiker des Staates, die dem Bürgerstatus eine Subjektivität zuschreiben, welche allein schuldfähig sein kann; und zwar sowohl im moralischen als auch im ökonomischen Sinne. Der Bürger ist ein moralisches Subjekt; ihm eignet von Geburt an ein esse morale 35, das in seinem Gewissen zum G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 61994, S. 182 f. 34 Polanyi, The Great Transformation, S. 80. 35 Zum ideengeschichtlichen Hintergrund vgl. T. Kobusch, »Person und Subjektivität: Die Metaphysik der Freiheit und der moderne Subjektivitätsgedanke«, in: R. L. Fetz, R. Hagenbüchle, P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd. 2, Berlin, New York 1998, S. 743–761. 33

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Ausdruck kommt. Zugleich ist er Mitglied einer Gesellschaft, die ihn zur Einhaltung dessen anhält, wozu er (als vernünftiges Subjekt) verpflichtet ist, wozu er sich (vertraglich) verpflichtet oder (im Namen des Staates) verpflichtet werden kann. Seit Kants Metaphysik der Sitten und Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts hält der Streit darüber an, ob das Bürgersein allein eine moralische oder (auch) eine sittliche Grundlage hat. 36 Emile Durkheim meinte diese Fragen im Rahmen einer »Physik der Sitten und des Rechts« klären zu können (so der Titel seiner Vorlesungen zur Soziologie der Moral). Dabei kam er bekanntlich zu dem Ergebnis, dass ökonomisch und moralisch vergesellschaftetes Leben niemals ohne die quasi-sakrale Suprematie eines Kollektivs zu begreifen sei. Letztlich sei immer sie es, was die Mitglieder einer Gesellschaft dazu anhält, ihren moralischen und ökonomischen Verpflichtungen nachzukommen. Moral ist demnach ein gesellschaftliches Phänomen; und umgekehrt ist Gesellschaft eine durch und durch moralische Realität. Fallen also Moral und Gesellschaft in einer bruchlosen Identität zusammen? 37 Und bestätigt das ganz und gar, wie nahe auch moderne Gesellschaften noch jener Moralökonomie sind, die Mauss, Durkheims Neffe, in sociétés archaiques wiederentdeckt hatte? Handelt es sich sowohl bei dieser alten Ökonomie als auch bei moderner Moral um totale gesellschaftliche Phänomene 38, bei denen sich Schuld, Schulden und diejenigen, die sie haben, überhaupt nicht voneinander trennen lassen? So, wie Durkheim als Gesellschaftstheoretiker Moral und Ökonomie miteinander verklammert, gelingt ihm allerdings deren Integration gewissermaßen zu gut. Er kann nämlich auf diese Weise dem Phänomen des indifferenten Geldes bzw. eines indifferenten Wirtschaftens mit Geld in keiner Weise Rechnung tragen. Geld macht scheinbar nicht nur alles konvertibel, miteinander austausch- und verrechenbar. Es verhält sich als Medium des Handel(n)s auch ganz und gar indifferent zu allem, womit man handelt. Diese Indifferenz oder »Qualitätslosigkeit« des Geldes, überträgt sich laut Georg

H. Schnädelbach (Hg.), Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt/M. 1984; W. Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt/M. 1986. 37 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt/M. 1991. 38 Mauss, Die Gabe, S. 178. 36

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Simmel 39 auch auf die miteinander Handel Treibenden 40 – und zwar alle Grenzen überschreitend, wie es schon Karl Marx gezeigt hatte, als »raumüberspringende Macht« 41, so dass letztlich vollkommen gleichgültig wird, wo jemand sich aufhält, als wer sich jemand versteht und welcher Gemeinschaft, Lebensform oder Gesellschaft jemand angehört, der ökonomisch handelt und Gewinn macht oder ökonomisch zugrunde geht. (5) Kurz gesagt sprengt das Geld – bzw. ein bestimmter, entmoralisierter Gebrauch, den man von ihm macht – jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhang; zumal wenn es allein noch dem Interesse an Gewinn um jeden Preis dient. 42 Es droht sich infolgedessen schließlich von jeglicher moralökonomischen Einbindung zu lösen und wird von jeglicher Schuld getrennt. Grenzüberschreitend gäbe es demzufolge nur noch eine moralfreie Ökonomie – sei es denn, es bildet sich eine Welt(-Bürger-)Gesellschaft auf den Spuren des antiken Kosmopolitismus, der spanischen Scholastik oder eines Kantischen Weltbürgerrechts aus. 43 Ich möchte hier nicht diskutieren, ob es eine solche Weltbürgergesellschaft bereits gibt, die Moral und Ökonomie ›global‹ wieder zusammenführen müsste, wie manche annehmen. 44 Sollte sie sich aber zumindest in statu nascendi befinden,

G. Simmel, Aufsätze 1887 bis 1890, Frankfurt/M. 1989, S. 61. Wie aber, ist die Frage. Die Literatur hat diese Frage seit der Romantik vielfach durchgespielt. Unter dem Einfluss des Geldes, das alles konvertibel macht und als Substitut von allem und jedem fungieren kann, wird man »kalt-« oder »hartherzig«, »gefühllos« wie Metall oder ein Stein, »gleichgültig« und schließlich »unmenschlich«. Ob man all das nun bloß diagnostiziert oder beklagt, die entsprechenden Diagnosen zeigen doch, dass die dem Geld Unterworfenen und sich Unterwerfenden in ihrer Unterwerfung nicht aufgehen können; vgl. M. Frank, »Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext«, in: Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt/M., Leipzig 2005, S. 411–552. 41 P. v. Flotow, Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt/M. 1995, S. 140. 42 Das musste für Marx schon damit anfangen, dass »der Warentausch beginnt, wo die Gemeinwesen enden«. Schon dieser Tausch implizierte aus seiner Sicht ein Verhältnis »wechselseitiger Fremdheit«; K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart 1957, S. 63. 43 M. Lutz-Bachmann, A. Niederberger, P. Schink (Hg.), Kosmopolitanismus, Weilerswist 2010. 44 H. Brunkhorst, M. Kettner (Hg.), Globalisierung und Demokratie. Wirtschaft, Recht, Medien, Frankfurt/M. 2000. Wobei als das Bedenklichste die projektierte »Überwindung der Kategorie des Fremden« in einer niemanden mehr ›draußen‹ lassenden Inklusion erscheint; vgl. É. Balibar, »Fremde, nicht Feinde. In Richtung eines 39 40

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falls sie nicht schon besteht, so kann sie nur aus einer originären globalen Vergesellschaftung hervorgehen, welche unzählige Fremde miteinander vergesellschaften müsste, die nicht immer schon vergesellschaftet sind bzw. waren. Dieser Prozess müsste radikal neu zur Diskussion stellen, was für Theoretiker des Bürgertums, der Bürger- oder Zivilgesellschaft (von Kant über Durkheim bis hin zu Habermas und Balibar) allzu selbstverständlich war: ob wir einander etwas schulden (moralisch und/oder ökonomisch), und wenn ja, was und wie – und nicht zuletzt: wer ›wir‹ ist. 45 Statt schlicht von »Leuten wie wir« (Richard Rorty 46) auszugehen und Modelle sozialer Zugehörigkeit oder politischer Mitgliedschaft und der Staatsangehörigkeit einfach in weltgesellschaftlicher oder auch weltstaatlicher Perspektive zu verallgemeinern, wie es nicht selten geschieht, schlage ich einen eher induktiven, negativistischen Weg ein. Auf diesem Weg könnte es gelingen, sich mit Fremden, mit denen einen keine vorherige Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft verbindet, darüber zu verständigen, was wir – diesmal in einem offenen welt-weiten Horizont – einander (moralisch und/oder ökonomisch) schulden – und zwar ausgehend von negativen Erfahrungen des Unannehmbaren, die uns hier und anderswo lehren, was wir nicht hinnehmen, akzeptieren, in Kauf nehmen und wollen können. Das fragliche Wir bildet sich in weltweiten kommunikativen Artikulationen entsprechender Erfahrungen überhaupt erst ›lateral‹ aus und sollte niemandem als fertig vorgedachtes gleichsam übergestülpt werden. 47 Nur so ist auch ein problematischer Eurozentrismus und Paternalismus zu vermeiden, der immer schon wissen will, was für Andere das Richtige ist. 48 D. h. nicht, dass man eine vom europäischen Erfahrungshorizont ausgehende Phänomenologie des Unannehmbaren neuen Kosmopolitismus?«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 42, Nr. 2 (2017), S. 127–143. 45 Von historischen Transformationen der Begriffe ›Bürger‹, ›bürgerlich‹ und ›zivil‹ sehe ich hier ab; vgl. M. Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, S. 120–127, 143, 147; J. Schmidt, Zivilgesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Kommentare, Reinbek 2007. 46 R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, S. 302 ff. 47 In diesem Sinne sprach schon Maurice Merleau-Ponty (1959) von einem »lateralen Universalen«; M. Merleau-Ponty, »Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss«, in: A. Métraux, B. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, S. 13–28, hier: S. 20. 48 Vgl. K. Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: Die Frühschriften, Stuttgart 1971, S. 207–224, hier: S. 216.

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unterlassen müsste. Im Gegenteil: wir können gar nicht anders, als – anknüpfend an aus diesem Erfahrungshorizont erwachsene Begriffe und Deutungen der moralischen, politischen und ökonomischen Gegenwart – entsprechende Vorschläge an die Adresse Anderer zu unterbreiten, um uns über nationale, kulturelle, kontinentale Grenzen hinweg darüber zu verständigen, wie weit etwa die Ausdifferenzierung bzw. Entkoppelung von Moral und Ökonomie gehen kann, sollte oder darf. An dieser Stelle möchte ich auf den Begriff der Schuldknechtschaft zurückkommen, um zu überlegen, ob und wie er uns von gewissen ökonomischen Exzessen aus wieder auf die Spur einer (vielleicht unaufgebbaren) Verbindung von Moral und Ökonomie führt – ohne uns aber auf eine archaische Moralökonomie zurückzuführen, deren Identität von Moral und Ökonomie kein Vorbild mehr sein kann.

4.

Perspektiven der Schuldknechtschaft

Wir haben es aus den skizzierten Gründen heute nicht mehr mit moralisch-ökonomisch integrierten Lebensformen zu tun. Selbst wenn es solche Lebensformen heute noch geben sollte: es ist nicht abzusehen, wie aus ihnen eine ›Grundlage‹ heutiger Gesellschaften im Ganzen abzuleiten wäre, an die man sich normativ erinnern sollte. Weder gibt es einen einfach einzuschlagenden Rückweg zu solchen Lebensformen, noch ist deren moralisch-ökonomischer Verfassung zu entnehmen, wie das Verhältnis von Schuld und Schulden in heutigen Gesellschaften beschaffen sein sollte. Und zwar umso weniger, wie wir es heute mit Medien der Kommunikation (allen voran das Geld) zu tun haben, die jeden etablierten gesellschaftlichen Zusammenhang sprengen bzw. überschreiten. Das bedeutet aber nicht, dass nun das Geld bzw. ein bestimmter Gebrauch, den man von ihm macht, weltweit triumphieren muss. Selbst dann nicht, wenn es sich bestätigen sollte, dass in der spekulativen Entfesselung des Geldes eine gewisse Zwangsläufigkeit liegt, mit der sie Schuldknechtschaften zur Folge hat. 49 Denn wie jede Knechtschaft, so beinhaltet auch die Schuldknechtschaft stets ein Moment der Freiwilligkeit, mit der man sich ihr unterwirft oder bis auf weiteres unterworfen bleibt. Und eben 49

Siehe oben, Anm. 4 ff.

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deshalb ist Knechtschaft im Prinzip reversibel, wie es schon Étienne de la Boëtié, der Freund Michel de Montaignes, gelehrt hat. 50 Daran erinnert man sich freilich gegebenenfalls erst, wenn sie zu einer prima facie ausweglosen Unterwerfung geführt hat, um auf diese Weise die Absurdität einer Ökonomie zu enthüllen, welche keinesfalls mehr für diejenigen da sein kann, die unter ihrer Herrschaft eine Verknechtung erfahren, die ihnen schließlich kein wirklich lebbares Leben mehr ermöglicht. Wozu sollte man an einer solchen Ökonomie noch festhalten? Wodurch sollte sie überhaupt noch verbindlich sein? Warum sollte man seine Schulden zurückbezahlen, wenn man sie doch niemals mehr loswerden kann und wenn das für ganze Gesellschaften gilt, die infolgedessen große Teile in dauerhafter Armut halten müssen? Zwangsläufig, so scheint es, muss eine anhaltende, ausweglose Schuldknechtschaft jegliche Motivation unterminieren, sich ihr längerfristig zu fügen. (Gegenwärtig beobachten wir genau das in Griechenland und anderen Staaten vor allem Südeuropas. 51) Hierbei geht es jedoch nicht etwa nur um kollektiv-psychologische Fragen der Motivation. Vielmehr schlägt die in der dauerhaften Schuldknechtschaft erkennbare Absurdität eines ökonomischen Systems, das nicht nur Einzelne und Klassen, sondern ganze Gesellschaften und künftige Generationen in diese Lage bringen muss und das nur so lange weiter funktionieren kann, wie eben diese Lage durch immer neues debt trading aufrechtzuerhalten ist, statt auch nur die geringste Aussicht zu eröffnen, sich aus der ökonomischen Knechtschaft wieder befreien zu können, unvermeidlich in Fragen nach der (mehrfach zu differenzierenden, s. o.) Schuld an einem solchen System um. Bevor es zu Fragen nach der Verursachung und Erklärung des Zustandekommens einer fatalen Schuldknechtschaft kommen kann, stellt sich allerdings das Problem, wie diese Lage überhaupt zu beschreiben ist. Was liegt m. a. W. vor, wenn ganze Gesellschaften in eine Lage gebracht werden, wie wir sie derzeit in Griechenland beobachten? Was wir sehen, ist – abgesehen von einer kaum mehr weiter zu treibenden Abwirtschaftung des gesamten Sozialsystems von den É. de la Boëtié, Von der freiwilligen Knechtschaft, Frankfurt/M. 1980, S. 45. Griechenland ist nicht bloß ein kontingentes Beispiel, wenn es stimmt, was D. Malone für gewiss hält: »Greece is the future that awaits us all« (The Debt Generation, S. 190). – Zur gänzlichen moralischen Delegitimierung einer Ökonomie, die systematisch auf der anhaltenden (und niemals zu überwindenden) Verschuldung Anderer basiert, vgl. Di Muzio, Robins, DaP, S. 135–141.

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XXVII · Perspektiven gewaltsamer Ökonomisierung

Hospitälern über die Kindergärten, Schulen und weiterführenden Ausbildungseinrichtungen, Krankenversicherungen bis hin zu Renten, von denen Zigtausende nicht mehr leben können – eine indifferente Reduktion weiter Teile der Bevölkerung auf ein bloß noch vorhandenes Leben, das den allein noch der Schuldentilgung verpflichteten Staat und dessen Gläubiger scheinbar nichts mehr angeht. Die bloß noch Vorhandenen mögen sehen, wie sie zurechtkommen, d. h. ein nacktes, depolitisiertes Leben fristen 52, bis es zu Ende ist; aber einen Staat, eine Gesellschaft oder eine Union wie die europäische, die ihm noch etwas schulden würde, gibt es scheinbar nicht mehr. Die Empfindung, solchem Leben noch (moralisch) etwas zu schulden, bleibt Individuen und privaten Initiativen überlassen, die umsonst Verantwortung für es übernehmen. Aber solches Leben zählt nicht mehr als eines, dem man politisch etwas schuldig wäre. So entlarvt die massive, ausweglose ökonomische Verschuldung eines Gemeinwesens (wer auch immer Schuld an ihr trägt und sie zu verantworten hat) eine radikale De-Moralisierung des Lebens, zu dem man politisch in überhaupt keinem Schuld-Verhältnis mehr steht. Solches Leben ist, wie es scheint, die unvermeidliche Kehrseite einer entfesselten Schulden-Ökonomie. Eine Ökonomie, die solches Leben zur Folge hat, kann niemand wollen, der realisiert, was es bedeutet, ihm ausgeliefert zu sein. Ausgehend von diesem negativistischen Befund müssen wir die Gegenprobe machen und fragen, wie eine Ökonomie beschaffen sein müsste, die von vornherein gegen eine derartige De-Moralisierung gefeit wäre. Und zwar im Verhältnis zu jedem beliebigen Anderen, wenn es stimmt, dass es überhaupt niemand ›verdient‹ haben kann, einem solchen Leben indifferent überantwortet zu werden. Würde das nicht einen minimalen Anspruch verletzen, ohne den sich menschliches Leben überhaupt nicht als solches vorstellen lässt? ›Menschlich‹ in dem hier gemeinten minimalen Sinn ist nur ein Leben, das unumgänglich wenigstens die Frage aufwirft, was man ihm schuldig ist, dem gegenüber man aber niemals die Haltung absoluter Indifferenz einnehmen kann – wie es ein ökonomischer Diskurs nahelegt, der

Dass den Betroffenen ein solches Leben zugemutet wird, bedeutet freilich keineswegs, dass sie ihrerseits ihre Lage nicht politisch-moralisch begreifen. Im Gegenteil. Nichts verlangt so sehr nach einer moralischen Repolitisierung der ökonomischen Verhältnisse wie gerade deren Entpolitisierung. Wie es in ökonomischer Not um entsprechende Solidarisierungspotenziale tatsächlich bestellt ist, ist eine andere Frage.

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Perspektiven der Schuldknechtschaft

scheinbar nur Schulden, aber keine Schuld kennt. Dieser Diskurs beschreibt aber nicht ›realistisch‹ oder ›objektiv‹, wie menschliches Leben ökonomisch strukturiert ist. Vielmehr verdankt er sich einer nachträglichen Ent-Schuldung der menschlichen Verhältnisse in dem Sinne, dass er sie um die Dimension der Schuld-Frage bringt und sie auf Schulden-Verhältnisse reduziert. Wenn diese Reduktion als solche erkannt ist, kann deutlich werden, worauf man von Mauss bis Hénaff und Graeber insistiert: dass wir als soziale Wesen von Anfang an im Horizont dieser Frage existieren. ›Von Anfang an‹ heißt hier: (a) in kulturgeschichtlicher Perspektive, so weit die gattungsgeschichtliche Erinnerung und ethnografische Erforschung ›archaischer‹ Erbschaft zurückreicht, einerseits und (b) in ontogenetischer Hinsicht andererseits. Letztere hatte Kant im Auge, als er sich in der Metaphysik der Sitten fragte, was man Anderen schuldig ist, die man ungefragt hat zur Welt kommen lassen. 53 Entscheidend ist an dieser Stelle zunächst nicht, in welcher Schuld man jeweils genau steht, sondern dass sich die Frage danach, was man Anderen schuldig ist, überhaupt stellt und dass man sich ihr gegenüber nicht in eine vollkommene Indifferenz zurückzieht, die am Ende gar kein Verständnis mehr für diese Frage aufbringen würde. Bin ich denn meines Bruders oder meiner Schwester Hüter (ganz gleich, um wen es sich im Einzelnen handelt)? Will sagen: was gehen mich Andere überhaupt moralisch an? Absolute Indifferenz dieser Frage gegenüber ist theoretisch denkbar. Tatsächlich aber müsste sie erst durch nachträgliche Neutralisierung eines Anspruchs des Anderen möglich gemacht werden, der in menschlichem Leben, so wie wir es bislang kennen bzw. kannten, ›immer schon‹ im Spiel ist. Demgegenüber setzt eine exzessive Ökonomisierung der menschlichen Verhältnisse massenhaft nacktes Leben Verschuldeter frei, dem man ›rein ökonomisch‹ gar nichts zu schulden scheint. Was sollte ›rein ökonomisch‹ dagegen sprechen, es ganz und gar sich selbst zu überlassen und sich im gleichen Maße von jeglicher moralischen Beziehung entbunden zu behaupten? Genau diese radikale Konsequenz einer exzessiven Ökonomisierung veranlasst dazu, sich darauf zurückzubesinnen, was man – und ob man überhaupt etwas – Anderen schuldet und ob es ökonomische Beziehungen nicht nur allein auf der Grundlage moralischer Verhältnisse geben kann, in denen sich diese Frage ›immer schon‹ gestellt 53

Siehe oben, Kap. XXV, 4.

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XXVII · Perspektiven gewaltsamer Ökonomisierung

hat. Das bedeutet nicht, dass wir zu einer ›ursprünglichen‹ Moralökonomie zurückehren können, wie sie von Mauss und anderen beschrieben worden ist. Erst durch eine weitgehende Liquidierung des Moralischen selbst – im Zeichen einer exzessiven Ökonomisierung, die gar keine moralischen Fragen mehr zu kennen scheint –, werden wir auf ein ›unhintergehbares‹ moralisches Moment wieder aufmerksam: Wir sind es Anderen, gleich welcher Zugehörigkeit, schuldig, wenigstens die Frage danach, was wir ihnen schuldig sind, aufzuwerfen. Wir schulden ihnen in diesem Sinne die Schuld-Frage selbst; d. h. nicht schon eine bestimmte Schuld, sondern zunächst die Frage nach ihr. Diese Frage ziehen wir uns von Anderen her auch dann gewissermaßen pathisch zu, wenn sie uns fremd sind. Was wir ihnen konkret schulden, ist nur zu fragen, solange man akzeptiert, sich überhaupt in einem moralischen Verhältnis zu befinden. Radikale Ökonomisierung der menschlichen Verhältnisse läuft darauf hinaus, genau das in Abrede zu stellen. Ihr zu widersprechen angesichts dieser durch Schuldknechtschaft offenkundig werdenden Implikation bedeutet, eine nicht zu tilgende Schuld im Verhältnis zu jedem Anderen anzuerkennen. Sobald jemand da ist, heißt das, steht man angesichts des Anderen in einem Verhältnis der Schuld im Sinne der Frage, was man ihm schuldig ist. Konkrete Antworten, die auf dieses ›was‹ abzielen, aber dabei das primordiale In-Schuld-stehen bereits voraussetzen, werden sich nur in komplexen, von negativen Erfahrungen angestoßenen Findungsprozessen ausmachen lassen, die auf gesellschaftlicher Ebene die Form demokratischer Deliberation annehmen müssen. Allemal setzen sie aber voraus, sich nicht damit abzufinden, dass Andere in großer Zahl einem demoralisierten, bloß noch auf der Welt vorhandenen Leben indifferent überlassen werden, während eine exzessive Schulden-Ökonomie immer neue Schuldknechtschaften hervorbringt, solange sie nicht zusammenbricht. * Wir haben jene Moralökonomien längst genauso hinter uns gelassen wie moralisch-ökonomisch integrierte Gesellschaften, wie sie noch Durkheim vorschwebten. Schuld und Schulden lassen sich, heißt das, nicht mehr gesellschaftlich zur Deckung bringen. Das Geld und der Markt haben jegliche Integrität des Gesellschaftlichen gesprengt, in dem beides mit dem Moralischen gewissermaßen kongruent sein müsste, wenn wir Durkheim folgen. Aber in den äußersten Kon966 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Perspektiven der Schuldknechtschaft

sequenzen, die diese fatale (vielleicht unvermeidliche, aber keineswegs schicksalhaft-irreversible) Entwicklung zeitigt, beginnen wir Momente der Widersetzlichkeit gegen sie zu entdecken, die sich am Unannehmbaren entzünden. 54 Unannehmbar ist es vermutlich für jeden, auf bloßes Leben reduziert zu werden, dem niemand mehr etwas zu schulden glaubt, nicht einmal mehr die Frage, ob (und was ggf.) man ihm schuldig ist. Ein solches Leben wäre ein gänzlich gleichgültiges. Gegenwärtig zeigt sich, dass es massenhaft hervorgebracht wird, wo man vor lauter Gewinn und Reichtum nicht mehr weiß, wohin mit ihm. So hat der exzessive Kapitalgewinn die massenhafte Vergleichgültigung des depolitisierten Lebens Anderer gleichsam als Kehrseite, die sie der Erfahrung aussetzt, nur noch vorhanden zu sein, aber Andere nichts mehr anzugehen. Vergleichgültigen kann man allerdings nur, was nicht von sich aus schon gleichgültig ist. Insofern weist die entmoralisierte Ökonomie der Gegenwart ihrerseits nach wie vor eine Spur eines moralisch nicht ›immer schon‹ gleichgültigen Lebens auf, das sich seiner moralischen und politischen Dimension niemals sicher sein kann. Der Gefahr einer radikalen Entmoralisierung und Entpolitisierung ist insofern jeder, von Geburt an, grundsätzlich ausgesetzt. Unter der Voraussetzung moralisch-ökonomischer Gleichgültigkeit hätte wohl niemand zur Welt kommen wollen. Andere zur Welt kommen lassen und sie in sie aufnehmen heißt (mindestens): ihnen quasi zu versprechen, sie niemals in einem bloßen Leben im Stich zu lassen, dem niemand mehr etwas schuldig zu sein meint, nicht einmal die Schuld-Frage selbst. Rückhaltlos ökonomisierte Systeme brechen dieses Quasi-Versprechen fortwährend. Letztlich geht wohl darauf die Erfahrung zurück, die ich hier provisorisch auf den Begriff einer ›gewaltsamen Ökonomisierung‹ gebracht habe. Einem Leben gegenüber, dem man wirklich nichts (moralisch) schuldig wäre, wäre auch die Knechtschaft einer ausweglosen Überschuldung nicht mehr als Gewalt verständlich zu machen. Aber genau darauf kommt es an. 55 Ob das, in allerdings ganz anderer Art und Weise, nicht auch für die eingangs zur Sprache gebrachte Hyperbolik unverzeihlicher Schuld gilt, bleibe dahingestellt. 55 Damit benenne ich lediglich ein Desiderat, das durch die inzwischen vielerorts anzutreffende Kritik einer Ökonomie nicht zu ersetzen ist, der man eine gewaltsame Subjektivierung derer zuschreibt, die ihr unterworfen werden. Worin genau die an dieser Stelle fragliche Gewalt liegt, wäre erst zu zeigen. Vgl. Di Muzio, Robins, DaP, S. 40 (zur Gewalt), sowie die S. 17, 19, 88, 100, 105 zur »Produktion« einer gewaltsam unterworfenen Subjektivität. 54

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Teil H Horizonte der Verletzbarkeit Gewalt, Hass und Kriege heute

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Kapitel XXVIII ›Der‹ Gewalt ausgesetzt Zum Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik Stille. Kasemattenstille, Felsenkellerstille. Manchmal unterbrochen von Geräusch: […] ein Schritt: jener der Gewalt die viele Namen trägt. Zu viele. Günter Kunert 1

1.

Gewalt in und versus Sprache

Abgesehen von bislang relativ wenigen reproduktionstechnischen Ausnahmefällen gilt: Wir alle sind geboren (worden). Wann, besagt das Geburtsdatum. Aus ihm geht allerdings nicht hervor, was es in sozialer Hinsicht vor allem bedeutet: nämlich fortan Anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bzw. ausgesetzt zu sein. Selbst wenn man Neugeborene nicht aussetzt, wie es vielerorts noch heute häufig vorkommt, bleiben sie Anderen ausgesetzt. Die möglichen Folgen reichen von Vernachlässigung über Verletzung und Verwundung bis hin zur Vernichtung. Auch diejenigen, die all diese Gefahren überleben und durch nahezu ideale Für- und Vorsorge in die Lage versetzt werden, später ein selbstständiges und durchaus wehrhaftes Leben zu führen, bleiben Anderen ausgesetzt; auch dann, wenn sie mit ihnen im Rahmen intern weitgehend pazifizierter Lebensformen zusammenleben. Diese können am ursprünglichen Ausgesetztsein nichts ändern, wohl aber ausschließen, dass es auf eine rückhaltlose Auslieferung hinauslaufen muss. In diesem Sinne hat man von Aristoteles über Thomas Hobbes bis hin zu Jean-Jacques Rousseau unter verschiedenen Titeln (phóbos, metus, fear, terreur) die Gewalt bedacht, nämlich als Herausforderung zur inneren Befriedung politischer LeG. Kunert, »Interfragmentarium« [1966; Franz Kafkas Werk zugeeignet], in: Vaterland. Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute, Berlin 1979, S. 211.

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bensformen, die die Gewalt so weit wie möglich entschärfen und bändigen, einhegen und aufheben, reduzieren und womöglich liquidieren sollten. Im Anschluss an Rousseau folgte Immanuel Kant dabei der Devise ›Frieden durch Recht‹ und erwog, ob sich nicht die Beendigung des kriegerischen Naturzustandes zwischen den Staaten ebenfalls nach diesem Schema bewerkstelligen ließe. Selbst er glaubte indessen, dass die scheinbar extremste Form der Gewalt, der Krieg 2, die Geschichte der menschlichen Gattung voranbringe, indem er sie daran hindert, in Trägheit zu stagnieren. Auch Georg W. F. Hegel und Karl Marx dachten so. Und selbst Hannah Arendt zitiert, nicht ohne Sympathie, Marx’ Rede von der Gewalt als Geburtshelferin der Geschichte. 3 Dabei hatte ihr philosophischer Mentor, Karl Jaspers, mit Blick auf die Atomwaffen schon die Gefahr der Selbstzerstörung der menschlichen Gattung durch eine vernichtende Gewalt bedacht, die sich nicht länger als Mittel der Kriegsführung beherrschen lassen würde. 4 Paralysiert die Gewalt insofern sich selbst? Erzwingt sie so den Übergang von innerer zu äußerer, am Ende globaler Pazifizierung nach dem alten Schema: Friede durch Recht, das sich nunmehr nicht bloß innerhalb politischer Lebensformen und Systeme, sondern auch zwischen ihnen, nämlich inter- und transnational bewähren sollte? 5 So lässt sich knapp der Fragehorizont skizzieren, in dem sich bis vor kurzem die meisten philosophischen Beiträge zum Thema Gewalt bewegten. Entweder man befasste sich mit Fragen innerer oder mit Problemen äußerer, vor allem auf rechtlichem Wege zu bewerkstelligender Befriedung der menschlichen Verhältnisse. Ironischerweise muss man allerdings feststellen, dass in der entsprechenden Literatur zur Gewalt selbst wenig zu finden ist. Einer der dafür möglicherweise ausschlaggebenden Gründe wird in Arendts Revolutionsbuch deutlich, wo sie feststellt: (a) die Gewalt selbst sei ihrem Wesen nach stumm und unfähig, »sich im Wort wirklich adäquat zu äußern«; (b) sie erscheine nicht politisch, denn die politischen Phänomene bedürften der sprachlichen Artikulation; und (c) Gewalt sei im Grunde Nach der Ächtung und Kriminalisierung des Angriffskrieges, die mit dem BriandKellogg-Pakt (1928) einherging, gilt allerdings inzwischen nicht wenigen der Genozid (R. Lemkin) als »crime of crimes«; davon sehe ich hier ab. Vgl. https://de.wikipedia. org/wiki/V%C3%B6lkermord#cite_note-Jean_Kambanda-2 (siehe dort Anm. 2). 3 H. Arendt, Über die Revolution, München 41994, S. 21. 4 K. Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1961. 5 M. Lutz-Bachmann, J. Bohman (Hg.), Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, Frankfurt/M. 1996. 2

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Gewalt in und versus Sprache

antipolitisch. 6 Demnach spricht die Gewalt nicht 7, sie tritt gar nicht (politisch) in Erscheinung und sie zerstört allenfalls das Politische, wohnt ihm aber nicht inne. So gesehen erscheint es nur zu verständlich, wenn vor allem die Philosophen die Gewalt keiner besonderen Aufmerksamkeit für würdig befanden und sie allenfalls als zu Überwindendes voraussetzten. Folgt man der zitierten Position Arendts 8, so ergibt es im Grunde gar keinen Sinn, von sprachlicher Gewalt und von politischer Gewalt zu sprechen. Wo Gewalt herrscht, würde die Sprache genauso wie das Politische ausfallen, versagen oder ruiniert werden. Gewalt wäre immer auch Gewalt gegen die Sprache und gegen das Politische selbst. Und umgekehrt: wo die Sprache und das Politische zu sich selbst kommen, gäbe es keinen Platz mehr für Gewalt. In allen drei Punkten hat die philosophische Gewaltforschung der letzten Jahre nun aber Einspruch eingelegt: (a’) Gewalt geschieht in und mit Worten (auch solchen, die ausbleiben); (b’) sie tritt politisch in Erscheinung (nicht nur zerstörerisch) und (c’) sie ist dem Politischen selbst eigen, zumal wenn es stimmt, dass selbst politische Institutionen, die Gewalt kontrollieren und in Schach halten sollen, aufs Neue ihrerseits Gewalt heraufbeschwören. 9 Demnach wäre es durchaus sinnvoll, von sprachlicher Gewalt und von politischer Gewalt zu sprechen. Und sprachlich in Erscheinung tretende Gewalt wäre nicht als schlechterdings anti-politische zu verstehen. Darüber hinaus kann nun allerdings in der Perspektive dieses Ansatzes Gewalt derart in der Sprache und im Politischen gewissermaßen als ›heimisch‹ erscheinen, dass es schwierig wird, sich vorzustellen, wie sie wenigstens bis auf Weiteres abzustellen, in Schach zu halten oder je zu überwinden sein soll. Wenn Gewalt wie bei Arendt als sowohl der Sprache als auch dem Politischen geradezu wesensfremd gelten müsste, wäre sie gleichsam als eine Verunreinigung von Sprache und Politik zu betrachten und entsprechend, durch eine Art Reinigung, gegen 6 Arendt, Über die Revolution, S. 20. Zu diesem Ergebnis kommt man auch, wenn man im jederzeit möglichen Einbruch von Gewalt nur einen »Abbruch aller sozialen Beziehungen« sieht; vgl. D. Baecker, Wozu Gesellschaft?, Berlin 2007, S. 29. 7 Wie es auch ein einschlägiger Buchtitel besagt: J. P. Reemtsma, Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Stuttgart 2002. 8 Ich sehe hier davon ab, ob Arendts Philosophie bzw. Politische Theorie der Gewalt nicht an anderer Stelle wesentlich über die zitierten Bemerkungen hinausgeht. 9 J. Baudrillard, Die göttliche Linke. Eine Chronik der Jahre 1977–1984, München 1986, S. 86.

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sie vorzugehen. Das Miteinanderreden und -handeln aber wäre im Grunde bzw. seinem eigentlichen Sinn nach jeglicher Gewalt fremd und sollte nach Möglichkeit ganz und gar ohne sie auskommen oder so weit wie möglich von ihr gereinigt werden. Wenn allerdings Gewalt nicht einfach als vor-politisch oder als anti-politisch zu verstehen ist, insofern sie dem Politischen auch innewohnt, bietet sich ein solcher Ausweg aus ›der‹ Gewalt nicht an. Nicht nur steht dann in Frage, wie sie je vorläufig abzustellen, in Schach zu halten oder zu überwinden sein soll; fraglich erscheint auch, worauf sich eine normative Kritik ›der‹ Gewalt überhaupt stützen kann. Zweifellos doch nicht auf einen einfachen Gegensatz von Politik und Gewalt, der besagen würde, wo »Gewalt in die Politik selbst eindringt, ist es um die Politik geschehen«. 10 Wäre es so, so wäre Gewalt ohne weiteres im Namen der Selbsterhaltung des Politischen zu kritisieren. Gewalt wäre als tödliche Bedrohung für das Politische zu verstehen und eben deshalb auch zu kritisieren – immer vorausgesetzt, wir wollen ›politisch‹ existieren und zusammen leben. In aristotelischer Sicht, von der auch Arendt ausgeht, versteht sich das wie von selbst. Wir können gar nicht anders, als dies zu wollen, wenn es stimmt, dass es in unserer Natur liegt, politisch zu (ko-)existieren; und zwar umwillen des Guten, das wir vorrangig durch das Miteinanderreden und -handeln realisieren. So hat es den Anschein, als markierten die Begriffe Sprache, Ethik und Politik einen integralen Zusammenhang, der durch Gewalt scheinbar nur verunreinigt, gefährdet oder zerstört werden kann. Wäre es so, so wäre Gewalt, die in die Sprache und in das Politische eindringt, in der Tat normativ schon deshalb angreifbar, weil bzw. wenn sie diesen Zusammenhang in Frage stellt. Theorien, die demgegenüber besagen, dass Gewalt der Sprache und dem Politischen innewohnt, gehen weit über Arendts Einsicht hinaus, dass jeder politischen Ordnung unvermeidlich Gewalt (ob revolutionär oder nicht) vorausgeht; und sie bleiben auch nicht bei Jacques Derridas Nachweis stehen, dass sich sogenannte Gründungsgewalt in eine politische Ordnung erhaltende Gewalt hinein fortsetzt. 11 Sie zeigen vielmehr darüber hinaus auf, wie wir der Gewalt – scheinbar auf unabsehbare Zeit – auch ausgeliefert bleiben, die wir selbst in unserem sprachlichen und politischen Verhalten zueinander immer von neuem heraufbeschwören. 10 11

Arendt, Über die Revolution, S. 20. Vgl. Kap. XXX, 4.

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Alter und neuartiger Gewalt ausgesetzt – ursprünglich und unabsehbar?

Dass vor dem hier knapp skizzierten Hintergrund der Zusammenhang von Sprache, Politik und Ethik heute neu zu bedenken ist, haben wir wesentlich einer politisierten Gewalt zu verdanken, die scheinbar die menschlichen Verhältnisse ganz und gar versehren und zerstören kann (2.). Genau dagegen hat man immer wieder die Sprache als einzige, vielleicht aber vergebliche Hoffnung gesetzt (3.); eine Hoffnung, die ethisches, vor allem jüdisch inspiriertes Sprachdenken von Franz Rosenzweig über Martin Buber bis hin zu Emmanuel Levinas mehr und mehr an einer Gewalt zu messen sich gezwungen sah, die schließlich alles zu beherrschen schien (4.). Levinas ging so weit, das Sein selbst als stets im Krieg sich offenbarend zu brandmarken, um daraufhin zu fragen, ob nicht nur ein dem Sein entzogenes ›Wort‹ halten kann, was man ethischem Denken unbedingt abverlangen müsse: uns einen wirklichen Ausweg aus der Gewalt Richtung Frieden zu weisen (5.). Die Kritik an diesem vielleicht radikalsten Versuch, Sprache und Ethik zusammen zu denken, zeigt aber, wie letztere ihrerseits auf eine Politik angewiesen ist, die sie vor einer gewaltsamen Verabsolutierung des Anderen bewahren muss, der uns doch nur in einer irreduziblen Pluralität begegnet. So kann sich aber keine Politik je selbst genügen, wenn sie im Verdacht steht, sogar in jenen Institutionen, die der Gewaltkontrolle und -begrenzung dienen sollen, neue Gewalt heraufzubeschwören. In diesem Missverhältnis zwischen Ethik und Politik lassen sich Spielräume sprachlichen Verhaltens ausmachen, die uns vor einer fatalen Auslieferung an ›die‹ Gewalt ebenso bewahren sollten wie vor irenischen Illusionen, ihr jenseits einer scheinbar der Gewalt verfallenen Welt ganz entkommen zu können (6.).

2.

Alter und neuartiger Gewalt ausgesetzt – ursprünglich und unabsehbar?

Es mag sich biologisch, mit Rücksicht auf die – chronologisch weit über die Ursprünge der menschlichen Gattung hinausweisende – Erbschaft der DNS, verhalten, wie es wolle, sozial erweisen Menschen sich ironischerweise durch nichts derart miteinander verbunden wie durch die Gewalt, die sie gegeneinander verüben können und die offenbar jegliche Verwandtschaft, jegliches soziale Band zu zerstören vermag. Das jedenfalls scheint der Mythos von Kain und Abel ebenso

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zu lehren wie Heraklits Ontologie des pólemos 12 und der griechische Begriff des Bürgerkrieges (stásis 13), Titus Livius’ Geschichte der Gründung Roms 14, die neuzeitliche Sozialphilosophie mit Thomas Hobbes, die psychoanalytische Archäologie Sigmund Freuds, JeanPaul Sartres dialektischer Ansatz, Brüderlichkeit und Gewalt zusammen zu denken, und noch René Girards Versuch, »Wege aus der Gewalt« zu finden. 15 Bis hin zu diesem Versuch schwankt man zwar zwischen zwei theoretischen Optionen: Besteht zunächst eine Verwandtschaft (genetisch bzw. kraft Abstammung von einem Vater oder von einer Mutter, sei es ein Gott oder die Erde oder ein Surrogat wie die moderne Nation), die nachträglich ruiniert wird, oder entsteht die Verwandtschaft gerade aus der Gewalt, wie Sartre mutmaßte? Doch unterläuft die Sozialontologie des 20. Jahrhunderts diese Alternative, indem sie, vielfach von Martin Heidegger ausgehend, nachweist, dass es das Soziale (als »Mitsein« 16) überhaupt nur geben kann in der Form eines Miteinanders im Gegeneinander, das allerdings höchst verschiedene Formen annehmen kann (von Dissens und Streit bis hin zum Bürgerkrieg, zum internationalen Krieg, zum Weltkrieg und zur endgültigen, einseitigen Extermination). Sozialontologisch gesehen gründen alle diese Formen in einem pólemos, dem wir immer schon ausgesetzt sind und scheinbar für immer ausgesetzt bleiben. 17 Wie aber, das ist die Frage. Diese Frage ist umso schwerer zu beantworten, als die indifferente Rede von Gewalt mit bestimmtem Artikel in Wirklichkeit E. Fink, Nietzsches Philosophie [1960], Stuttgart 31973, S. 13 ff. N. Loraux, »Das Band der Teilung«, in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M. 1994, S. 31–64. 14 T. Livius, Ab urbe condita. Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch (lat./dt.), Stuttgart 1981, S. 7, 25. Livius zufolge hat das römische Volk unter Berufung auf den »Vater Mars« seine Urgeschichte ins Heilige erhoben, aber auch »in Menge Gelichter und minderwertiges Volk« angezogen, um dann vorzugeben, »es sei ihnen aus der Erde Nachwuchs entstanden, an der Stelle, die jetzt umzäunt ist« (ebd. S. 31). 15 J.-P. Sartre, Brüderlichkeit und Gewalt, Berlin 1993. »Überall«, liest man bei R. Girard (Hiob. Wege aus der Gewalt, Zürich 1990, S. 186 f.), bestätigt sich das gleiche Muster: aus einer mörderischen »Gründungsgewalt« selbst soll das entstehen, was sie zu überwinden gestattet. 16 Von ähnlichen Begriffen wie »Milieuwelt« (Aron Gurwitsch) oder »Mitwelt« (Karl Löwith) sehe ich hier ab. Zum Mitsein vgl. E. Fink, Traktat über die Gewalt des Menschen, Frankfurt/M. 1974, S. 164 f. 17 J. Patočka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Berlin 2010. Auch Girard deutet den pólemos so in Gewalt und Religion. Ursache oder Wirkung?, Berlin 2010, S. 57. 12 13

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Alter und neuartiger Gewalt ausgesetzt – ursprünglich und unabsehbar?

eine schier unübersehbare Vielzahl von Gewalt-Phänomenen kaschiert 18, von denen man gerne wissen würde, welchen von ihnen wir vermutlich unvermeidlich ausgesetzt sind bzw. bleiben und welche von ihnen sich vielleicht vermeiden ließen oder für die Zukunft sogar auszuschließen wären. 19 Wird diese Frage nicht aufgeworfen, drohen Gewaltanalysen und -theorien letztlich entweder auf eine Art Fatalismus hinauszulaufen, der uns (jeden, für immer und unabänderlich) zur Gewalt verurteilt sieht, oder aber in einen naiven Optimismus der Befreiung von jeglicher Gewalt zu münden. Zumal nach dem gewaltvollsten aller bisherigen Jahrhunderte können wir uns weder mit einem solchen Fatalismus indifferent abfinden noch auch Illusionen über vermeintliche Auswege aus ›der‹ Gewalt leisten, die vollkommene Gewaltfreiheit in Aussicht stellen. Vielmehr müssen wir auf dritten Wegen, die nicht auf eine dieser Alternativen hinauslaufen, sondieren, wie es um Möglichkeiten einer nachhaltigen Reduktion wenigstens eklatanter, massiver, exzessiver Gewalt auf erträglichere Formen bestellt ist, die vielleicht zu verwinden wären, ohne zu fataler Gegengewalt zu verleiten. Dieser Frage haben sich auch von philosophischer Seite zwar viele Autoren gewidmet, um zu ermitteln, ob etwa durch gewisse Formen des Verzeihens, der Versöhnung und schließlich auch des Vergessens 20 zu verhindern ist, dass Gewalt immer neue Gewalt nach sich zieht (u. U. auch mit einer Verspätung von Jahrhunderten, nach denen man sich an die Untaten früherer Feinde erinnert). Doch die Literatur, die sich mit der eingangs aufgeworfenen Frage befasst, wie wir ›der‹ Gewalt grundsätzlich ausgesetzt sind, gibt wenig Anlass zur Hoffnung. So leitet René Girard scheinbar die ganze von Menschen zu verantwortende Gewaltgeschichte von einem »mimetischen«, niemals ganz stillzustellenden Begehren 21 ab, dem sich angeblich »nichts« entziehen kann (HG, S. 438). Zwar mögen die Anfänge und Umgekehrt kann unter diesem Begriff allzu Vieles unterschiedslos subsumiert werden, was zu theoretischen Gewaltsamkeiten eigener Art führen muss. 19 Von der Frage ganz abgesehen, ob wir nicht auch mit ganz neuen Formen der Gewalt konfrontiert sind; man denke nur an die Praktik der Liquidierung Anderer mittels ferngesteuerter sog. Drohnen. 20 Siehe die Literatur in Anm. 10 zu Kap. XXVII. 21 Girard, Gewalt und Religion, S. 8. Bei Girards Theorie handelt es sich um eine Apologie des Opfers, das die Gewalt soll beenden können, das jedoch »nicht ›erfolgreich sein‹« kann (Girard, Hiob, S. 198). – Erinnerung an das Opfer wird immer wieder deshalb notwendig, weil das Begehren und damit der Ursprung der Gewalt virulent bleibt und weil, wie Girard meint, auch Gewalt sistierende Versöhnung stets nur 18

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XXVIII · ›Der‹ Gewalt ausgesetzt

Wurzeln der Gewalt weit zurück liegen, aber sie stehen im Lichte der Girard’schen Theorie in dem Verdacht, immerzu reaktiviert zu werden – mit dem Effekt, uns endlos wiederholten Ursprüngen der Gewalt schicksalhaft auszuliefern (HG, S. 455). Girard besteht darauf, dass, »wer Gewalt unterbinden will, […] ohne Gewalt nicht auskommen« könne. »Gerade deshalb ist die Gewalt endlos.« »Früher oder später kommt anscheinend immer jener Moment, wo man sich der Gewalt nur noch mit Gewalttätigkeit entgegenstellen kann; dabei ist es unwichtig, ob man gewinnt oder verliert – die Gewalt geht immer als Siegerin hervor« (HG, S. 43 f., 50). Gilt aber wirklich unabänderlich und für alle Formen von Gewalt, dass sie wie einst die Rache auf fatale Art und Weise Gegen-Gewalt nach sich ziehen müssen, ohne dass die daraus resultierenden Gewaltverkettungen je wirklich aufhören könnten? Wer wie Girard diesen fatalen Anschein erweckt, kann schließlich nur noch einen religiösen, ›innerweltlich‹ kaum gangbaren Ausweg suchen. 22 Pierre Clastres kommt in seiner Archäologie der Gewalt, die ebenfalls an einer kulturanthropologischen und -genetischen Bestimmung der bis heute virulenten Erbschaft der Gewalt interessiert ist, zunächst zu ganz anderen Ergebnissen: (a) Jede primitive Gesellschaft formiert sich als ein Kollektiv, das sich in dem »entschiedenen Willen« manifestiert, »ungeteiltes Wir zu bleiben«. Sie will »sich ihr Sein selbst bewahren; sie will bei ihrem Sein verharren«. 23 Und zwar um jeden Preis. (b) »Alle Anderen« sind ihr gegenüber nicht nur »Fremde«, sondern darüber hinaus potenzielle Feinde, die scheinbar schon durch ihr bloßes Anderssein dieses ›Wir‹ bedrohen. (c) »Das ist gleichbedeutend mit dem permanenten Kriegszustand« 24 – auch wenn kein offener bewaffneter Konflikt ausbricht. (Das erinnert stark an den Hobbesianischen Begriff des Naturzustandes, den Kant als latent andauernden Kriegszustand deutet und so in seinen philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden integriert.) (d) Dieser Kriegszustand herrscht nicht, weil es Feinde gibt, gegen die man sich mit Gegengewalt zur Wehr setzen muss, sondern weil das Kollektiv auf sie förmlich angewiesen ist, um überleben zu können. »Gäbe es die

auf Kosten eines Dritten möglich zu sein scheint; R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1994, S. 380 (= HG). 22 Girard, Gewalt und Religion, S. 76. 23 P. Clastres, Archäologie der Gewalt, Zürich, Berlin 2008, S. 75. 24 Ebd.

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Alter und neuartiger Gewalt ausgesetzt – ursprünglich und unabsehbar?

Feinde nicht, müßte man sie erfinden«, schlussfolgert Clastres dem entsprechend. 25 Sofern sich soziales Leben kollektiv in einem ›Wir‹ ausformt, das sich in seinem Sein nur gegen Andere glaubt behaupten zu können, deren Fremdheit ihm nicht genügt, muss es sie demnach mindestens als potenzielle Feinde begreifen. So wäre denn kollektive Identitätsbildung auch heute noch eine politisch höchst gefährliche Angelegenheit. Enthüllt die Archäologie der Gewalt also nicht nur eine Vorgeschichte heutiger Gesellschaften, sondern darüber hinaus eine in deren Gegenwart noch immer virulente Gefahr? Während Clastres meint, die skizzierte Logik kollektiver Identitätsbildung sei auf vor-staatliche Gesellschaften beschränkt und der Staat sei »der beste Feind« des Krieges, insofern er jedes einheitliche ›Wir‹ durch eine Aufteilung von Macht durchkreuze 26, nehmen viele bis heute an, gerade der (National-)Staat etabliere sich seinerseits als ein solches ›Wir‹. Braucht nicht auch er Feinde, um zu existieren – fragt man mit unterschiedlichen Akzentsetzungen von Carl Schmitt bis hin zu Chantal Mouffe und zahlreichen Beobachtern der aktuellen politischen Lage, in der nach 1989 nichts anderes als derart notwendig erschien wie die Suche nach einem neuen Feind. 27 Wie auch immer Gewalt im Innern moderner Staaten beschränkt, delegitimiert und aufgehoben worden sein mag, sie monopolisieren sie und stellen sie derart in ihrer inneren Struktur auf Dauer, dass ihre Potenziale gegebenenfalls massiv nach außen aktiviert werden können. Aber sie bedürfen dessen auch, wenn wir jenen Beobachtern glauben können. So ist die vordergründige innere Pazifizierung dieser Staaten nur Schein, der kaschiert, wie gerade sie die Akkumulation unerhörter Gewaltpotenziale in nach außen verlagerten Prozessen der Verfeindung möglich macht, gegen die sich moderne Staaten keineswegs nur zur Wehr setzen, die sie vielmehr auch selbst heraufbeschwören, wenn es denn stimmt, dass sie ohne Feinde nicht existieren können. Weit entfernt, generell gebändigt, beschränkt und reduziert zu werden, erfährt die Gewalt durch ihre Verstaatlichung einen noch im 19. JahrEbd., S. 77. Ebd., S. 80 f. 27 C. Mouffe, »Democratic Citizenship and the Political Community«, in: dies. (Hg.), Dimensions of Radical Democracy. Pluralism, Citizenship, Community, London, New York 1992, S. 225–239; dies., »Schmitt’s Vision of a Multipolar Order«, in: The South Atlantic Quaterly 104, nr. 2 (2005), S. 245–251; Vf., »Die ›offene Gesellschaft‹ als ihr eigener Feind«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7 (2016), S. 93–102. 25 26

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hundert allenfalls geahnten Zuwachs, der sich (wie schon im Ersten Weltkrieg zeitweise 28) jeglicher instrumentellen Kontrolle zu entwinden droht, nicht zuletzt auch durch technische Innovationen (man denke nur an die ABC-Waffen), die sich kaum mehr als bloße Mittel der Gewalt handhaben lassen. So kann keine Rede davon sein, es drohe sich (nur) eine »ursprüngliche«, altbekannte Gewalt endlos zu wiederholen. Gewalt ist auch in neuen, in staatlich organisierten und technologisch raffinierten, aber auch in ›entstaatlichten‹ Formen sog. Neuer Kriege zu Tage getreten und lässt infolgedessen alle Versuche ihrer institutionellen politischen Bändigung (ganz abgesehen von deren relativem Erfolg) als außerordentlich ambivalent erscheinen. Denn was Gewalt zu kontrollieren verspricht, droht zugleich auch – eben dadurch – neue Gewaltpotenziale freizusetzen; und zwar nicht nur ›uralter‹, längst bekannter Gewalt, sondern auch neuartiger Gewalt, die ihrerseits ›Geschichte macht‹ und bis auf Weiteres jede Hoffnung auf eine fortschreitende Bewältigung der Gewalt zerstört hat. 29 Während Girard uns als immerzu wiederholten Ursprüngen der Gewalt auf fatale Weise ausgeliefert beschreibt, bestehen andere auf politischen Potenzialen der Bändigung kollektiver Gewalt, die sich allerdings als zwiespältig erwiesen haben: Sie können nicht nur für eine unaufhörliche Verkettung von Gewalt und Gegengewalt, sondern auch für neue Feindschaften in Dienst genommen werden, die man, ohne auf vorgängige Gewalt Bezug nehmen zu müssen, gegebenenfalls erst konstruiert bzw. erfindet, wenn man glaubt, nur kraft eines polemogenen Gegensatzes zu Anderen überhaupt politisch existieren zu können (wie es in der Perspektive von Clastres als geradezu unvermeidlich erscheint). Wie man es auch dreht und wendet: endgültige Auswege aus ›ursprünglicher‹ oder ständig produzierter ›neuer‹ Gewalt sind im Lichte der meisten Theorien kaum auszumachen, die herausarbeiten, wie wir ›der‹ Gewalt grundsätzlich ausgesetzt sind – und bis auf Weiteres ausgesetzt bleiben.

H. Münkler, Der grosse Krieg. Die Welt 1914–1918, Reinbek 2015, S. 787, 790. Das bestreitet, in allerdings sehr anfechtbarer Art und Weise, S. Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M. 2011.

28 29

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Sprache als einzige (vergebliche) Hoffnung?

3.

Sprache als einzige (vergebliche) Hoffnung?

Was anders sollte dagegen, dass wir sei es uralter, sei es neuartiger Gewalt ausgesetzt bleiben, etwas ausrichten als eine an Andere, gerade auch an Feinde gerichtete Rede, die auf Gewalt zu verzichten verspricht und ihnen das Gleiche zu tun empfiehlt? Kann es Friedlicheres als ein solches, womöglich immer neues Vertrauen stiftendes, aber auch als Zumutung zu empfindendes Angebot geben? Haben Menschen, seitdem sie sprechen können, nicht seit jeher über dieses Register verfügt? Und wird sich das durch Vertrauen möglicherweise Frieden stiftende Potenzial solcher Rede je erschöpfen? Trug nicht sogar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die gewaltfreie Rede wenigstens einen vorläufigen Sieg über die Gewalt davon, als man sich im Briand-Kellogg-Pakt (1928) auf die künftige Ächtung des Angriffskrieges verständigte? Wie wenig das ausrichten konnte, macht der wenig später (1938) erfolgte Übergriff Hitlerdeutschlands auf die ehemalige Tschechoslowakei, der Überfall auf Polen (1939) und, zwei Jahre danach, auf die frühere Sowjetunion zwar überdeutlich. Ungeachtet dieser alle naiven Fortschrittshoffnungen zerstörenden Karriere der Gewalt hat man sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch wieder auf die Sprache als das scheinbar einzige Medium und Mittel besonnen, wirklichem (wenn auch nicht im Sinne Kants »ewigem«) Frieden eine Chance zu geben. 30 Dass allein mittels der Sprache immerhin Inseln der Gewaltfreiheit in andauernder Gewalt möglich zu machen seien, daran hat man unbeirrt bis in die Gegenwart hinein festgehalten. (Vielleicht deshalb, weil man sich von Gewalt unter dem Eindruck der Weltkriege einen allzu groben Begriff gemacht hat.) Je radikaler, exzessiver und extensiver die Gewalt herrscht, desto kostbarer kann schließlich eine Gewaltlosigkeit erscheinen, die trotz allem als denkbar erscheint. Zwar brachten schon Platon, die antike Rhetorik und Sophistik vielfach Phänomene subtiler, symbolisch vermittelter Gewalt zum Vorschein 31, aber noch in den ersten Ansätzen zu einer eigenständiDer Begriff des »ewigen Friedens«, in dessen Geist auch absolut vorbehaltlose, gleichwohl aber vorläufige Friedensschlüsse erfolgen müssten, wenn es nach Kant geht, beinhaltet einen eschatologischen Vorgriff. Wie weit der im Jahre 1951 mit Japan geschlossene Friedensvertrag, die ebenfalls 1951 von Seiten der Westmächte und 1955 von der UdSSR erklärte Beendigung des Kriegszustands mit Deutschland davon entfernt war, bleibe dahingestellt. 31 Allerdings thematisiert sie Gewalt (bía) nur nebenher und bringt primär die Kraft 30

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gen Sprachphilosophie, die nach Vorarbeiten Johann G. Herders, Wilhelm v. Humboldts, Gottlob Freges und Ferdinand de Saussures von Ludwig Wittgenstein über Ernst Cassirer bis hin zur ordinary language philosophy erst im 20. Jahrhundert unternommen worden sind, spielt Gewalt allenfalls eine ganz nebensächliche, systematisch indessen gar keine Rolle, so sehr konzentriert man sich auf die Frage, was es in normativer Hinsicht heißt, von sprachlichen Äußerungen im Kontext einer Lebensform richtigen Gebrauch zu machen. 32 Selbst bei Autoren wie Eric Weil, Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas, denen der propagandistische und demagogische Missbrauch politischer Sprache zur Zeit des Nationalsozialismus unzweifelhaft vor Augen stand, hat es den Anschein, als sei die Gewalt, die sich in menschlicher Rede manifestieren kann, grundsätzlich kein Hindernis für eine Philosophie gewaltloser und sogar »herrschaftsfreier«, angeblich von jeglicher störenden Macht befreiter Kommunikation. So verteidigt Habermas eine mit dem »Prinzip gewaltloser Kommunikation« geradezu identifizierte Vernunft, die allein es ermögliche, eine »durch Gewalt verzerrte Kommunikation« als solche zu entlarven, über ihre Gründe aufzuklären und sie hermeneutisch-kritisch im Sinne nicht verfehlter Verständigung zu läutern. Dabei dient die Vorstellung eines »idealisierten Gesprächs«, aus dem jegliche Herrschaft und Gewalt getilgt wäre, erklärtermaßen als regulatives Ideal. 33 (dýnamis oder auch energeía) der Rede zur Sprache; vgl. die Bestandsaufnahme von A. Hetzel, Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld 2014, S. 39, 68 f., 264, 280, 337, sowie die bereits gegebenen Hinweise in Kap. XI des ersten Bandes. 32 F. v. Kutschera, Sprachphilosophie, München 21975; E. v. Savigny, Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die ›ordinary language philosophy‹, Frankfurt/M. 1974; ders., Zum Begriff der Sprache, Stuttgart 1983; G. Grewendorf, G. Meggle (Hg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung einer Metaethik, Frankfurt/M. 1974; R. Brandom, Expressive Vernunft, Darmstadt 2000; S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2001; A. Wellmer, Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, Frankfurt/ M. 2004; F. Kambartel, P. Stekeler-Weithofer, Sprachphilosophie. Probleme und Methoden, Stuttgart 2005. 33 J. Habermas, Kultur und Kritik, Frankfurt/M. 21977, S. 295 ff. Ich sehe hier davon ab, wie der seinerzeit besonders strittige Gegensatz von Überredung und Überzeugung diskutiert wurde. Rechtfertigen etwa rhetorische Momente der Rede eo ipso einen Gewaltverdacht, oder beruht Rhetorik selbst schon auf einem Gewaltverzicht? Vgl. J. Kopperschmidt, Rhetorica, Hildesheim, Zürich, New York 1985, S. 8, 153, 164; ders. (Hg.), Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, S. 30, 32.

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Warum sollte man es beargwöhnen, wenn in diesem Sinne an Gewaltlosigkeit festgehalten und behauptet wird, sie sei durchaus keine bloße Utopie? Weil mit guten Gründen der Verdacht besteht, Gewalt habe sich überall eingenistet und nichts sei absolut vor ihr sicher. Das kann allerdings so nur erscheinen, weil wir uns im Vergleich mit der Zeit der beiden Weltkriege von Gewalt inzwischen einen subtileren Begriff machen. Wir messen gewissermaßen bereits mit anderen Maßstäben. Wo massive, ›rohe‹ Gewalt verschwunden ist, kann doch subtile Gewalt – vor allem die Gewalt stillschweigender Exklusionen, die Andere (wie sog. »Überflüssige«, illegal aliens, sans papiers und Flüchtlinge in einem Niemandsland zwischen Staaten) politisch mundtot macht und auf nacktes, depolitisiertes Leben reduziert – auf kaum weniger folgenreiche und einschneidende Art und Weise herrschen. Darf man diese Gewalt vernachlässigen, weil sie weniger auffällt? Müssen wir nicht vielmehr mit neuen Maßstäben zu ermitteln versuchen, inwiefern die Rede von Gewalt gerechtfertigt erscheint, die vielfach überhaupt erst als solche kenntlich zu machen ist? Das ist tatsächlich umso notwendiger, als überhaupt keine einfache, definitorisch befriedigende Antwort auf die Frage in Sicht ist, was Gewalt ist. (Fraglich ist allerdings, ob diese ›Unklarheit‹ zum Wesen der fraglichen Phänomene gehört oder ob sie bloß unserem unzureichenden Gewaltverständnis geschuldet ist.) Statt zu fragen, was Gewalt ist, um sie leicht identifizieren und infolgedessen auch begrenzen oder sogar ausschließen zu können, fragen wir deshalb: wie sie geschieht und wem sie widerfährt. Und das müssen wir uns von der Subjektivität Anderer her vorgeben lassen (auch wenn wir ihnen nach entsprechender Prüfung nicht unbedingt darin zustimmen werden, was unter Gewalt zu verstehen ist). Dabei steht die Subjektivität Anderer ihrerseits unter dem Verdacht, eine ihr selbst innewohnende Gewalt unerkannt zu reproduzieren. Gewalt widerfährt Anderen nicht nur von außen. Sie wohnt, wie nicht nur die Psychoanalyse lehrt, der Konstitution menschlicher Subjektivität vielmehr von Anfang an inne; und zwar so, dass es als eine weltfremde Illusion erscheint, sie ganz hinter sich zu lassen und gleichsam am Eingang zur gewaltfreien Kommunikation wie eine unpassende Konfektion abgeben zu können. Man nimmt sie unbewusst und unwillentlich dorthin mit und überträgt sie aufeinander in einer kommunikativen Resonanz (Georges Bataille 34), die uns nicht zu Ge34

B. Mattheus, Georges Bataille. Thanatographie I, München 1985, S. 325; G. Batail-

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bote steht. Kommunikativ treffen gewaltsam mehr oder weniger tief verletzte Subjekte aufeinander, die sich auch im erklärten Interesse an Gewaltfreiheit kaum glaubwürdig gegenseitig versprechen können, einander keinesfalls erneut zu verletzen. Sich zur Gewaltlosigkeit bekennen und ihr gemäß handeln und leben zu wollen, genügt nicht. Dieser Begriff wird ungeachtet bester Absichten am Ende zur leeren Phrase, wenn er nicht hart daraufhin befragt wird, ob, wo und wie es überhaupt als möglich erscheint, der Gewalt zu entkommen, wenn nicht endgültig, so doch wenigstens zwischenzeitlich. Besteht aber überhaupt die geringste Aussicht darauf, wenn der Verdacht mit Recht besteht, dass wir nicht nur in uns selbst immerfort Gewalt reproduzieren, sondern nolens volens auch das Erbe einer Gewalt übernehmen, die wie ein ontologisches Verhängnis erscheinen muss, wenn es denn stimmt, dass uns bis heute und in alle Zukunft ein polemologisches Sein beherrscht?

4.

Das ›Wort‹ als Ausweg aus dem Krieg?

Genau so verstehe ich die Frage, mit der Levinas sein erstes Hauptwerk, Totalität und Unendlichkeit (1961), einleitet, in dem er – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – die Gewalt zur Maßgabe einer Philosophie erhebt, für die die Frage nach dem Anderen bzw. das Infragegestelltwerden durch den Anderen absolut vorrangig sein muss. 35 In diesem Sinne handelt es sich um eine im Zeichen der Gewalt ganz neu einsetzende, historisch grundierte Sozialphilosophie 36, in deren Begriff all das aufgeht, was man üblicherweise als Praktische Philosophie und Sprachphilosophie bezeichnet. Wenn das Verhältnis zum Anderen par excellence im Modus der Rede oder eines Sagens (dire) Gestalt annimmt, indem es uns zur Verantwortung bestimmt, und wenn darin geradezu der Sinn der Sprache liegt, wie Levinas – zweifellos besonders inspiriert von Rosenzweig 37 und Buber 38 – ofle, Die Freundschaft und Das Halleluja (Atheologische Summe II), München 2002, S. 40, 43; A. R. Boelderl (Hg.), Welt der Abgründe. Zu Georges Bataille, Wien 2015. 35 Jenes ›vielleicht‹ markiert ein wichtiges Forschungsdesiderat. Zweifellos reicht die philosophische Thematisierung der Gewalt weiter zurück; das Gleiche gilt erst recht für die Frage nach dem Anderen und nach einer zeitgemäßen Sozialphilosophie. 36 Vgl. zu diesem Begriff siehe den Teil A in Bd. I. 37 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 51996, S. 122 f. 38 Man vergleiche nur die Begriffe »Sagen«, »Antwort« und »Rede« in M. Bubers

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Das ›Wort‹ als Ausweg aus dem Krieg?

fenbar meint, dann kann Sprachphilosophie keine bloß epistemologische Angelegenheit sein, die ein symbolisches, apophantisches und zeichenhaftes Weltverhältnis bedenkt; vielmehr muss sie von Anfang an von einem Geschehen des Anspruchs und der Erwiderung angesichts des Anderen Zeugnis ablegen. 39 Im Vorwort zu Totalität und Unendlichkeit heißt es: »Jeder wird uns ohne weiteres darin zustimmen, daß es höchst wichtig ist zu wissen, ob wir nicht von der Moral zum Narren gehalten werden.« 40 »Jeder von uns« soll wohl bedeuten: angesichts der historischen Erfahrungen, die ausnahmslos alle, die einen Begriff von Moral im Munde führen, nach 1945 vor Augen haben müssen bzw. vor Augen haben müssten. Levinas spielt auf diese Erfahrungen nur an, ohne sie im Einzelnen zu benennen (etwa als Weltkrieg, totalitäre Herrschaft, Vernichtungspolitik oder Völkermord). Doch erschöpft sich das Vorwort keineswegs in einem solchen kontingenten Zeitbezug, um bloß einleitend zu plausibilisieren, warum gleich darauf vom Krieg die Rede ist. Vielmehr radikalisiert es sogleich die Gewalt, für die stellvertretend nur »der Krieg« steht, zur Herausforderung jeglicher Moral, die fortan versprechen muss, sich ihr absolut zu widersetzen, ohne im Geringsten zu beschönigen, wie sehr wir der Gewalt ausgesetzt sind. An der kriegerischen Gewalt, die in Totalität und Unendlichkeit wie ein ontologisches, unabwendbares Verhängnis erscheint, muss in diesem Sinne eine Moral Maß nehmen, die niemanden mehr in die Irre führen sollte, etwa dadurch, dass sie vorgaukelt, dass es auf dem Weg vernünftiger Kommunikation möglich wäre, ein von jeglicher Gewalt befreites Terrain zu betreten. Nährt sie auf diese Weise bloße Illusionen, die am Ende eine weiterhin ungehindert andauernde Herrschaft

»Zwiesprache« [1929], in: Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1962, S. 137–196, hier: S. 152, 161 f. 39 Zunächst dient die Sprache, ihrem ursprünglichen Sinn nach, also keinem epistemischen Weltverhältnis und dessen Ausdruck (vgl. E. Cassirer, »Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften« [1921/2], in: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1977, S. 160–200), sondern ist ganz und gar Bezeugung der Beziehung zum Anderen (vgl. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 196 f.). Gerade dieser Begriff verlangt allerdings nach einer Verknüpfung mit dem Zeugnis, in dem sich eine solche Bezeugung niederschlagen kann, und insofern nach einer Vermittlung von Sozialität und Episteme, wie sie auch in der neueren Literatur angedacht wird. 40 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 19.

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der Gewalt (sei es in ›ursprünglichen‹ oder ›neuartigen‹ Formen) bemänteln? Scheinbar um dem vorzubeugen, beginnt Levinas Totalität und Unendlichkeit mit einem unerhörten, kaum zu überbietenden Vorwurf, indem er behauptet, alles sei dem Krieg verfallen, ja, er mache geradezu »die eigentliche Offenbarkeit des Wirklichen« aus. Und das sei derart offensichtlich, dass es dazu »keines Beweises anhand dunkler Heraklitischer Fragmente« bedürfe. 41 So fällt der Begriff des Krieges mit dem des Seins letztlich zusammen. Das aber bedeutet scheinbar, dass er weder begonnen noch beendet werden kann. Wenn für ein Seiendes, gleich welcher Art, bereits die bloße Faktizität seines Existierens eine Auslieferung an das Sein bedeutet, das alles in der Weise eines ontologischen pólemos beherrscht, kann es dann überhaupt einen Ausweg aus dem Krieg geben? Es handelt sich bei diesem Begriff gar nicht um ein historisches bzw. politisches Ereignis, sondern um eine universale Auslieferung an eine nichts auslassende Auseinandersetzung, die alles Unterschiedene beherrscht. 42 Was Levinas »Moral« nennt, soll nun offenbar dagegen etwas ausrichten können; andernfalls, so fürchtet er, führt uns dieser Begriff in die Irre und nährt illusionäre Vorstellungen davon, wie der Gewalt zu entkommen wäre. Am Ende sieht Levinas nur einen Ausweg (évasion 43) aus dem derart totalisierten, das Sein durchherrschenden Krieg: die Erinnerung an ein »Jenseits des Seins«, das uns in Wahrheit immer schon vom »absolut« oder »radikal« Anderen her in Anspruch nehme, nicht viel anders als das platonische Gute. Kann aber dieser Rekurs auf das Gute irgendetwas daran ändern, dass wir dem ontologischen Krieg ausgeliefert bleiben? Für Jacques Derrida keineswegs, der in seiner außerordentlichen Besprechung von Totalität und Unendlichkeit zu dem eindeutigen Resultat gelangt: der »Ökonomie des Krieges« entrinne man nie. 44 Doch ist Derrida genauso wenig wie Levinas ein Zyniker oder Defätist. Dass wir ›der‹ Gewalt nicht entkommen, bedeutet eben nicht, dass wir sie nicht zurückweisen und brandmarken könnten/müssten, um sie zu verEbd.; vgl. HG, S. 133, 213. Darauf wird in Kap. XXX zurückzukommen sein. Derrida hat das als kapitales Missverständnis herausgearbeitet: Das Sein ist kein Seiendes, das Anderes beherrschen könnte. Wenn etwas nicht »herrscht«, dann das Sein. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz [1967], Frankfurt/M. 1976, S. 207, 209. 43 E. Levinas, Ausweg aus dem Sein. De l’évasion [1935/36] (frz./dt.), Freiburg i. Br., München 2005. 44 Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 227. 41 42

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Das ›Wort‹ als Ausweg aus dem Krieg?

winden, zu begrenzen, aufzuheben oder zu überwinden, sofern das als möglich erscheint. Aber wie soll das möglich sein, wenn ›alles Gewalt ist‹ oder ihr widerstandslos zu verfallen droht? Noch im Jahre 1952 schloss sich Levinas an dieser Stelle Eric Weil an, der in Logique de la philosophie (1951) mit einem strengen Gegensatz von Gewalt und Rede operiert hatte und auf diese Weise doch von einer Gewaltfreiheit der Vernunft auszugehen schien. 45 Wenige Jahre später, 1959 um genau zu sein, schreibt Levinas dann aber, »daß man den Worten nicht mehr glauben kann, denn man kann nicht mehr sprechen in dieser gepeinigten Welt« (SF, S. 128). Die Wissenschaften hätten das Ihre dazu beigetragen, »alles Vertrauen in die Sprache« (insbesondere in die Sprache[n] der Philosophie) »schwinden« zu lassen. 46 Nur »dem Wort«, dem »prophetischen Wort«, »das zu hören unmöglich ist, dem nicht zu antworten unmöglich ist« und das »dazu zwingt, das Gespräch aufzunehmen«, sei noch zu trauen (SF, S. 126). Abgesehen davon aber habe man in einer »Welt ohne Wort« ganz und gar »die Sprache verloren« (SF, S. 157). 47 Das wirft Levinas nun offenbar einem dem Krieg verfallenen Sprechen ebenso vor wie der kohärenten Rede, auf die es besonders den Philosophen ankommt. »Vor lauter Kohärenz hat das Wort die Sprache verloren. Von nun an hat kein Wort mehr genügend Autorität, um der Welt das Ende seiner eigenen Verkommenheit anzukündigen« (SF, S. 158). Demnach mögen die Philosophen schreiben und sagen, was sie wollen, sie bleiben doch sprach- bzw. wort-los, auch dort, wo sie sich daran machen, eine Jahrhunderte währende »Sprachvergessenheit« (Hans-Georg Gadamer) »Sprachunbewusstheit« (Jürgen Trabant) oder »Sprachverkennung« (Albrecht Wellmer) zu beenden. 48 So verfällt auch die scheinbar gelingende, kohärente Kommunikation einer totalen Gewaltkritik; und diese Kritik nimmt ihrerseits 45 E. Levinas, Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt/M. 1992, S. 15 (= SF); E. Weil, Logique de la philosophie, Paris 1950. 46 E. Levinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, Freiburg i. Br., München 21988, S. 158. 47 Vgl. das Kap. V in Bd. I. – Jene Gedanken liegen weitgehend auf der Linie eines schon bei Rosenzweig (allerdings unter wesentlich anderen historischen Umständen) festgestellten Vertrauensverlusts in die Sprache; Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 162 f.; vgl. zum Kontext G. Hartung, Sprach-Kritik. Sprach- und kulturtheoretische Reflexionen im deutsch-jüdischen Kontext, Weilerswist 2012, S. 215. 48 Siehe die entsprechenden Hinweise in Kap. VI, 1 und IX, 2 im ersten Band.

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zu Gewalt – zu »guter Gewalt« 49 – Zuflucht. Ihr allein traut Levinas offenbar zu, wenigstens den Krieg zu durchkreuzen, wenn er schon nicht für immer zu beenden ist. Das, was sich ihm soll wenigstens widersetzen können, das Wort – d. h. diese eine Maßgabe: »Du sollst nicht töten« (SF, S. 18) – wird ebenfalls als Gewalt eingestuft, die in das Sein und in das Denken »einbricht« 50, um uns angesichts des Anderen auf unhintergehbare Art und Weise verantwortlich zu machen. Diese ›gute‹ Gewalt läuft allerdings Gefahr, sich im Namen eines einzigen Anderen von der Verantwortung für Dritte zu entbinden. So verstrickt sich die ›gute‹, ethische, verantwortlich machende Gewalt in politische Gewalt schier unüberwindlicher Missverhältnisse zu Dritten, denen man niemals gleichermaßen und zugleich gerecht werden kann. Im Zeichen eines entsprechenden Gerechtigkeitsanspruchs kann es demzufolge überhaupt keine Gewaltlosigkeit, sondern allenfalls ›geringere Gewalt‹ geben. Selbst das, was sich der Gewalt zu widersetzen verspricht, wird hier explizit als eine Art von Gewalt bezeichnet. Das verstärkt den Eindruck nachhaltig, aus der Gewalt könne es überhaupt kein Entkommen geben – im Gegensatz zu allen Sprachphilosophen und Theoretikern des Politischen, die uns wie Hannah Arendt glauben machen wollen, die Gewalt sei überhaupt kein sprachliches und politisches Phänomen und sie könne insofern nur als dem Miteinanderreden und -handeln fremdes Moment gelten. Sowohl bei Arendt als auch bei Levinas vermisst man allerdings, was Gewalt überhaupt zu Gewalt macht: ihr verletzendes, verwundendes oder zerstörendes Moment. 51 Hier muss die Phänomenologie der Gewalt einsetzen, indem sie sich zunächst darauf besinnt, dass es jemanden geben muss, den Gewalt trifft, dem sie unter die Haut geht und der sie als verletzend, verwundend oder zerstörend wahrnimmt. Das verletzende – keineswegs ohne weiteres auch tödliche – Moment, auf das ich mich hier beschränke, changiert zwischen subjektiver Verletzlichkeit und objektiver Verletzung. Dem Gefühl des Verletztseins wird man nicht unbedingt ›Recht geben‹, wohingegen eine objektive E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 107 (= JS). Im gleichen Sinne, scheint mir, spricht bereits Buber von »dialogischer Gewalt« (»Zwiesprache«, S. 165). 50 Wie es der entsprechende dt. Buchtitel besagt: Wenn Gott ins Denken einfällt (s. Anm. 46). 51 Vgl. zur faiblesse und vulnérabilité de l’autre E. Levinas, Parole et silence et autres conférences inédites. Œuvres 2, Paris 2009, S. 312. 49

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Das ›Wort‹ als Ausweg aus dem Krieg?

Verletzung auch dann vorliegen kann, wenn die Betreffenden sich gerade nicht speziell verletzt fühlen. In diesem Falle ist die Feststellung vorliegender Verletzung auf Dritte angewiesen. Bei einer solchen Feststellung handelt es sich niemals um eine bloße Beschreibung eines Vorkommnisses. Wer sich als verletzt beschreibt, stellt etwas fest, was sich eo ipso als Abzuwehrendes, Widriges, Unberechtigtes etc. darstellt: Die Verletzung hätte nicht geschehen dürfen; sie ist insofern kein neutrales Vorkommnis, sondern ein widriges oder widerwärtiges Ereignis, das nach einer Klärung der Verantwortlichkeit für es verlangt. Das Gleiche gilt, wenn Dritte eine Verletzung feststellen. Dabei begeben sie sich unvermeidlich auf ein dissensuelles Feld, in dem strittig ist, welche Art der Verletzung, welcher Grad und welches Ausmaß der Verletzung sozial und politisch maßgeblich sein muss oder sein sollte. Für die ständig reklamierte Verletzung des notorischen Querulanten gilt das nicht. Umgekehrt sind weitgehend unbemerkt vor sich gehende Verletzungen wie bspw. ständige Demütigungen auch dann politisch außerordentlich relevant, wenn sie nur von wenigen (und nicht einmal von den Gedemütigten selbst) geäußert werden; in dem Falle nämlich, dass nachzuweisen ist, dass die Demütigung mit institutionellen Grundstrukturen eines Gemeinwesens verknüpft ist. 52 Dissens in diesen Fragen kann nur politisch ausgetragen werden, d. h. in Verbindung mit gesellschaftlichen Institutionen, die ihrerseits im Verdacht stehen, Gewalt zu reproduzieren. Um in dissensuellen Auseinandersetzungen bestimmten Formen der Gewalt entgegentreten zu können, sind wir auf Formen der Auseinandersetzung angewiesen, die sich wiederum nicht neutral zur Gewalt verhalten. In diesem Sinne war vom »Paradox des Politischen« die Rede 53, das darin liegt, dass genau die politischen Formen, die man instituiert, um der Gewalt entgegenzuwirken, ihrerseits deren Reproduktion heraufbeschwören. Ricœur zögert nicht, in diesem Zusammenhang vom politisch Bösen zu sprechen, da politische Institutionen nicht nur als kritikwürdig erscheinen, insofern sie bspw. mit fortgesetzter Demütigung von Mitbürgern, mit schlechterdings Inakzeptablem, Unannehmbarem, nicht zu Rechtfertigendem einhergehen. Das Politi-

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Vgl. A. Margalit, The Decent Society, Cambridge, London 1996. P. Ricœur, Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 248–276 (= GW).

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sche gerät so ins Zwielicht des Bösen, wenn es stimmt, dass das Böse genau das Nichtzurechtfertigende ist, das dennoch getan und Anderen angetan wird. 54

5.

Frieden als ethischer Sinn der Sprache? Eine Moral, die uns nicht zum Narren hält?

Man sieht, dass der Begriff der Gewalt zwischen Gewaltsamkeit und Gewalttätigkeit ein breites Spektrum aufweist, das mit einer Ontologie des Krieges kaum angemessen zur Sprache zu bringen ist, die letztlich alles ausnahmslos einer undifferenzierten Gewalt verfallen sieht. Allerdings kann man Levinas nicht vorwerfen, dieses Spektrum überhaupt nicht im Blick gehabt zu haben. 55 Für ihn beginnt die nicht dem Sein, sondern menschlichem Tun und Unterlassen zuzuschreibende Gewalt damit, dass man so tut, als ob man allein auf der Welt wäre. (Was ebenfalls keineswegs im Sinne jener biblischen Maßgabe tödliche Konsequenzen haben muss.) Und sie reicht bis hin zu institutionalisierter Gewalt, wie sie Ricœur in seiner Arbeit über das politische Paradox und Hannah Arendt unter der Überschrift totalitärer Herrschaft beschrieben haben. Wenn es stimmt, dass wir bislang keine wirklich der Gerechtigkeit verpflichtete Gesellschaft kennen oder auch nur entwerfen können, die nicht zugleich Ungerechtigkeit heraufbeschwören würde, und wenn es keine der Achtung menschlicher Würde verschriebene Gesellschaft gibt, die nicht auch zu entwürdigen droht (etwa durch die Art und Weise, wie sie staatlicherseits soziale Leistungen gewährt und dabei deren Empfänger zu Bittstellern macht), fragt es sich, ob man institutionalisierter Gewalt überhaupt je entkommen wird. Genau auf diesen Anspruch zieht sich Levinas schließlich zurück, indem er in seinem zweiten Hauptwerk, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974), feststellt: »Das eigentliche Problem besteht für uns Abendländer nicht mehr so sehr darin, die Gewalt abzulehnen, als vielmehr darin, uns zu fragen, wie wir die Gewalt so bekämpfen sollen, daß wir – ohne in der Widerstandsverweigerung gegenüber dem Bösen zu verkümmern – die In-

Ricœur stützt sich hier auf Jean Nabert. Vgl. E. Levinas, Eigennamen, München, Wien 1988, S. 7, 103; ders., Zwischen uns, München, Wien 1995, S. 125 ff. (= ZU).

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Frieden als ethischer Sinn der Sprache?

stitutionalisierung der Gewalt infolge ebendieses Kampfes verhindern können« (JS, S. 378). 56 Ein überaus ernüchterndes Ergebnis! Zuvor hatte es den Anschein, dass ein ohne jegliche Beschönigung diagnostizierter, schließlich mit dem Sein zusammenfallender Begriff des Krieges der Maßstab sein müsste, an dem zu bemessen wäre, ob uns »die Moral« wirklich einen Ausweg aus der Gewalt weist. Später gibt Levinas diese ›ontologische Kampflinie‹ offenbar ganz auf – als ob er geahnt hätte, dass auch die von ihm selbst offerierte Moral gar nicht halten kann, was sie verspricht, nämlich einen Ausweg aus dem Sein und damit zugleich auch aus dem Krieg und aus aller Gewalt zu weisen. Dem Sein bleiben wir überantwortet – ungeachtet eines uns zur Verantwortung bestimmenden ›Wortes‹, dessen Quelle Levinas ›jenseits‹ des Seins vermutet. Aber diese Auslieferung an das Sein entbindet in keiner Weise von der Aufgabe, den »Krieg aller gegen alle« zu bekämpfen, der, wie Levinas mit Blick auf Spinozas conatus essendi meint, bereits in einem »Beharren im Sein« 57 angelegt scheint, an dem »die Seienden« von Anfang an und bis zum Schluss unbedingt interessiert zu sein scheinen (JS, S. 26 f.). Wiederum liest sich das wie ein ontologisches Verurteiltsein zum Krieg. Wenn daran aber nichts zu ändern ist, will der Philosoph wenigstens darauf hinwirken, dass man nicht einen »Krieg mit gutem Gewissen« führt (JS, S. 348) – als ob es nur darum gehen könnte, Krieg wenigstens schlechten Gewissens zu führen, wenn es schon kein Entkommen aus ihm gibt. Tatsächlich redet Levinas einer »Rückkehr zum schlechten Gewissen« das Wort, die aber gewiss nicht dafür genügt, eine anvisierte »Aufhebung des Krieges« (ZU, S. 166, 185) herbeizuführen. Frieden mag ›angesichts des Anderen‹ immer schon geboten sein, wie Levinas unter Berufung auf die »unausrottbare Existenz des Sozialen« glauben machen will, die ihm überhaupt kein ›neues Phänomen‹ zu sein scheint (ZU, S. 235). Immer schon, so meint er, war angesichts des Anderen der »Frieden selbst« geboten. Und dieses Gebot ist es, was die Sprache als solche überhaupt erst zu einer sprechenden macht.

56 Schon in einem Brief an Le Monde aus dem Jahr 1954 hatte sich Levinas anlässlich des Struthof-Prozesses für die Notwendigkeit »vernünftiger Institutionen« ausgesprochen (SF, S. 114 f.). 57 B. de Spinoza, Tractatus theologico-politicus. Theologisch-politischer Traktat [1670] (lat./dt.), Darmstadt 1979, S. 467; ders., Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt [1677], Hamburg 1976, S. 118.

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Wer für diesen Frieden buchstäblich keinen Sinn und für dieses Gebot kein ›offenes Ohr‹ hat, muss zugleich den ethischen Sinn der Sprache bzw. menschlicher Rede verfehlen. Den Frieden verfehlen, ist gleichbedeutend damit, die Sprache zu verfehlen, d. h. einer gewaltsamen »Welt ohne Wort« zu verfallen. Demnach würde es genügen, an den dem Anspruch des Anderen zu verdankenden Sinn der Sprache zu erinnern, um im Zeichen des Friedens zu handeln, der wenigstens als gebotener immer schon ›da‹ zu sein scheint. Das praktische Problem des Friedens würde sich so gesehen darauf reduzieren, zu tun, was angesichts des Anderen ohnehin geboten ist und immer schon geboten war. Liegt aber in der »guten Gewalt«, die wir uns angeblich unwidersprechlich vom Anderen her zuziehen, wirklich die Eröffnung eines Königswegs zum Frieden, insofern sie wenigstens sicherstellt, dass wir nicht von einer entsprechenden Moral zum Narren gehalten werden? Hätte sich mit anderen Worten eine Moral, der das nicht länger vorzuwerfen wäre und die es wirklich radikal mit Gewalt und Krieg aufzunehmen verspräche, nur an das zu halten, was angesichts des Anderen geboten ist? Dagegen erheben sich nachdrückliche Bedenken. Die von Levinas in Anspruch genommene und als evident bezeichnete Basis dieser Moral erscheint als außerordentlich anfechtbar. Kann man wirklich zeigen bzw. deskriptiv aufweisen, dass kraft des Gesichtes ein Gebot zur Geltung kommt, nicht am Tod des Anderen schuldig zu werden? Verlässt Levinas hier nicht den Boden der Phänomenologie 58 und damit den methodologischen Atheismus (dem er sich ausdrücklich verpflichtet hat), um sich einfach auf biblische Quellen zu berufen? Gebietet diese Moral überhaupt etwas Bestimmtes? Oder sensibilisiert sie lediglich für die Frage, ob (und wenn ja, wie) eigenes Leben, Tun oder Unterlassen den Tod eines Anderen bedeuten könnte? Setzt sie damit nicht gleichsam zu hoch an? Verfehlt sie nicht alle nicht-tödliche Gewalt? Gewalt muss nicht gleich töten bzw. physisch liquidieren. Schon gar nicht, wenn man sich so verhält, als ob man allein auf der Welt wäre, womit für Levinas bereits die Gewalt beginnt. Diese Formulierung kann auch für bloße Rücksichtslosigkeit im Sinne eines mehr oder weniger eklatanten Frühzeitig hatte Levinas mit Verweis auf Edmund Husserl betont, dass die Alterität, von der her er das ›Sagen‹ des Gesichts deuten wird, jeglicher »Sinngebung« vorausgehe; E. Levinas, Carnets de captivité suivi de Écrits sur la captivité et Notes philosophiques diverses. Œuvres 1, Paris 2009, S. 277, 451.

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Mangels an Zivilität 59 stehen, d. h. für eine wenig intensive und alltägliche Gewaltsamkeit, die rechtlich kaum belangbar ist, wenn sie sich keiner inkriminierten Gewalttätigkeit schuldig macht. Nicht immer ist die Gewalt ein Skandal; oft ist sie, zumindest als Gewaltsamkeit, unvermeidlich. Z. B. dann, wenn Rücksicht für den einen mangelnde Rücksicht anderen gegenüber notwendigerweise nach sich zieht oder wenn das Wort zu ergreifen bedeutet, es anderen im gleichen Zug abzuschneiden oder zu entziehen. Das heißt nicht, dass wir uns von kaum zu vermeidender Gewaltsamkeit (die Levinas von Gewalttätigkeit nicht unterscheidet) einfach exkulpieren könnten. Ob man sie als kaum zu vermeidende überhaupt realisiert und wie man sich zu ihr verhält, macht immer noch einen erheblichen Unterschied. Schließlich kann man sie auch billigend in Kauf nehmen und sich ihr umso bedenkenloser überlassen (und sie sogar nutzen), als man sich nicht für sie verantwortlich halten muss. Aber bereits dann, wenn wir sie indifferent hinnehmen, ziehen wir uns im Verhältnis zu Anderen die Frage der Verantwortung für eine Gewalt zu, an der wir mindestens mitbeteiligt sind. Und eine eindeutige, unstrittige Grenze zwischen Unvermeidlichkeit und Verantwortlichkeit ist nirgends in Sicht. Das aber bedeutet, dass grundsätzlich jederzeit damit zu rechnen ist, dass auf den ersten Blick nicht zu vermeidende Gewaltsamkeit doch zuzurechnen ist. Und das ist auch eine Frage kontextuell variabler Schwellen, die je nach geschichtlichen, kulturellen und sozialen Umständen festlegen, wo auf Gewaltsamkeit sensibel reagiert wird. Eine Gewaltsamkeit, die wir nicht zu unseren eigenen Gunsten ausnutzen, wird man uns vielleicht nachsehen; weniger oder gar nicht aber eine Gewaltsamkeit, die wir uns zu Nutze machen, die in mehr oder weniger vermeidbare Gewalttätigkeit übergeht, und schließlich: die man selbstherrlich ausübt. Doch dabei steht nicht jedes Mal der physische Tod des Anderen auf dem Spiel. Genau das der Gewalt in allen ihren Formen zuzuschreiben, würde bedeuten, zahlreiche – auf den ersten Blick weit weniger dramatische – Gewaltphänomene aus dem Auge zu verlieren, die mindestens eines voraussetzen: dass diejenigen, die sie trifft, verletzt werden und dass sie sich dazu niemals indifferent verhalten werden. Nicht ein uraltes, phänomenologisch nicht nachzuweisendes Gebot, vielmehr das in dieser Nicht-Indifferenz liegende, implizite Ich beziehe mich wiederum auf H. Plessners, Grenzen der Gemeinschaft, Bonn 1924.

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oder explizite ›Nein‹ zur Gewalt, die Anderen (unvermeidlich oder mutwillig …) angetan wird, muss am Anfang einer Analyse stehen, die sich erst einmal der Erfahrung zu versichern hat, die der Gewalt ausgesetzte Subjekte machen. Gewalt widerfährt demnach leibhaftigen Subjekten auf nicht-indifferente Art und Weise; und zwar auch dann, wenn die fragliche Gewalt nicht tief eindringt, rasch vorübergeht und keine Spuren hinterlässt. Nur wenn man den Gewaltbegriff entsprechend weit fasst, besteht die Chance, nicht von vornherein (gewaltsam) eine Vielzahl von Gewalterfahrungen auszublenden, die wir als sowohl verletzende als auch als verletzte Subjekte machen. Bei niemandem, den Gewalt trifft, ist jemals vorauszusetzen, dass er dies gleichgültig hinnehmen wird bzw. übergehen kann, auch dann nicht, wenn es sich um subtile, kaum auffällige Gewaltsamkeiten handelt. Umgekehrt folgt nicht, dass auf jede Art von Gewaltsamkeit oder Gewalttätigkeit entsprechend reagiert werden muss. René Girard erweckt diesen Anschein zumindest dort, wo er von »wesenhafter« Gewalt spricht, die mit fataler Konsequenz Gegengewalt nach sich zieht und deshalb stets einen Horizont ein- oder gegenseitiger Vernichtung heraufbeschwört (HG, S. 49, 455). Wenn Gewalt unvermeidlich Gegengewalt hervorruft, so dass auch diese wiederum Gewalt nach sich ziehen muss, dann gibt es überhaupt keine »Wege aus der Gewalt«, wie sie Girard unter Hinweis auf Hiob sucht, es sei denn die Hinwendung zu einer Religion des Opfers, die allerdings ebenfalls nicht zeigen kann, wie sie ›innerweltlich‹ der Gewalt entkommen kann. Dabei ist eine solche Unvermeidlichkeit durch nichts bewiesen. Zu zeigen wäre erst, dass Gewalt nicht auch in der leibhaftigen Subjektivität derer, die sie trifft, resorpiert werden kann wie ein Schlag, dessen Wirkung elastisch aufgefangen wird und schließlich verpufft. Wenn die Gewalt nicht zu resorpieren ist und eine mehr oder weniger bleibende Verletzung nach sich zieht, steht es dem getroffenen Subjekt in gewissen Grenzen immer noch frei, sie mit eigenen Mitteln zu entschärfen, sei es, indem es sie nur verwindet, sei es, indem es sich nicht zu einer unmittelbaren gewaltsamen Gegenreaktion verleiten lässt, sondern diese bis auf Weiteres suspendiert oder (vergessend, verzeihend, versöhnlich …) ganz aussetzt, um auf diese Weise einen gewissen Spielraum dafür zu schaffen, dass es nicht zu einer fatalen Gewaltverkettung kommen muss. So kann das getroffene Subjekt dem Anderen durch Nachgiebigkeit, Nachsicht und Friedfertigkeit die Chance geben, seinerseits auf fortgesetzte Gewalt zu verzichten; 994 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

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und das kann so weit gehen, ihm »die andere Wange hinzuhalten« 60, auch in dem Wissen, dass nichts, weder die Resorption von Gewalt noch deren zeitweilige Suspendierung, noch auch der Verzicht auf jegliche Gegengewalt allein dazu ausreichen kann, jegliche Fortsetzung der Gewalt effektiv zu unterbinden. Jederzeit ist der eigene Gewaltverzicht, der bis hin zur absoluten Wehrlosigkeit gehen kann, als Einladung zu weiterer Gewalt misszuverstehen, die in jeder Schwäche des Anderen nur eine günstige Gelegenheit dazu erkennt, ihn zu unterjochen, zu besiegen oder endgültig zu vernichten. Wir entkommen der Gewalt – liege ihr Ursprung nun im Sein, in einem mimetischen Begehren, in der Logik kollektiver Identitätsbildung, in einem auch zwischen Staaten weiterhin andauernden Naturzustand oder worin auch sonst – weder durch ein unbedingtes Friedensgebot, wie es Levinas aus dem Gesicht des Anderen herausliest 61, noch allein durch Zurückhaltung und Vermeidung jeglicher Gegengewalt bis hin zum radikalen Gewaltverzicht. Letzterer ist nicht nur deshalb nicht generell zu versprechen, weil ein konsequenter Irenismus seit langem im Verdacht steht, sich als bester Komplize der Gewalt im Allgemeinen und des Krieges im Besonderen zu erweisen (GW, S. 219–231). Wir können allgemeinen und durchgreifenden Verzicht auf Gewalt auch deshalb nicht versprechen, weil diese sich als normalisierte vielfältig unserer Aufmerksamkeit entzieht. Wir können sie umso weniger als intentionalen Gegenstand unseres Verhaltens vor uns bringen, als sie strukturell unser Leben bestimmt, so dass dieses selbst gewaltsame Form annimmt, ohne es recht zu realisieren. Mit Recht insistiert Jacques Rancière darauf, dass vielfach »nur durch die Gewalt des Konflikts« 62 deutlich zu machen ist, wo und wie sich unser Leben unmerklich gewaltsam vollzieht – unmerklich zumindest für diejenigen, zu deren Normalität eine Gewaltsamkeit oder Gewalttätigkeit geworden ist, deren verletzende Wirkungen ihnen infolgedessen entgehen. Mit einem Friedensdenken, das generellen Gewaltverzicht fordern würde, ist es schon deshalb nicht getan, weil wir vielfach auf Gewalt angewiesen sind, um überhaupt herausarbeiten zu können, wo Gewalt vorliegt 63, wie sie unser Leben durchdringt 60 61 62 63

Matthäus 5, 39. Levinas, Parole et silence, S. 373. J. Rancière, Die Politik der Bilder, Berlin, Zürich 22009, S. 70. Das gilt für die gewaltsame Entlarvung kolonialistischer Gewalt (von Frantz

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und es derart zu einem gewaltsamen macht, dass es schließlich als ganz und gar abwegig erscheinen muss, sich durch einen Akt des Verzichts ganz von ihr zu befreien. Ein Friedensdenken, das sich lediglich auf Fragen des Gewaltverzichts konzentriert, aber nicht näher untersucht, ob bzw. inwieweit uns Gewalt überhaupt derart zur Disposition steht, dass wir auf sie verzichten könnten, muss als naiv gelten. Diese Naivität ist nur abzubauen, wenn die Gewalt auch mit allen ihren subtilen, strukturellen, unser Leben durchherrschenden Momenten so weit wie möglich zum Vorschein gebracht wird – angefangen bei einer Gewaltsamkeit der Gleichgültigkeit, des Ignorierens und des Übersehens, die dazu führt, dass Andere in unseren Augen nicht einmal ›existieren‹, so dass sie auch nicht zur Sprache kommen können und ihrer Stimme effektiv beraubt sind. Wer so an jeglicher Artikulationsmöglichkeit gehindert ist, kann auch nicht als politisches Subjekt Andere in Anspruch nehmen und fällt am Ende aus jeder mit Anderen zu teilenden Welt heraus. Das zu übersehen, zu verkennen oder nicht wahr haben zu wollen, nimmt zwangsläufig die Form mehr oder weniger chronifizierter Rücksichtslosigkeit im Hinblick auf die Existenz Anderer an, die nicht erst durch manifeste Gewalttätigkeit, sondern schon dadurch radikal bedroht ist, dass sie nicht ›gesehen‹ oder ›ignoriert‹ wird. Lässt sich aber ein politisches Gemeinwesen oder System auch nur vorstellen, das ›versprechen‹ könnte, jeden Anderen wenigstens seiner politischen Existenz zu versichern, d. h. vor dieser gewaltsamen Bedrohung in Schutz zu nehmen? Ist es vorstellbar, dass angesichts jedes Anderen das Gebot, nicht an seinem Tod schuldig zu werden, wenigstens dadurch Rechnung getragen wird, dass man ihn nicht übersieht und ignoriert, sondern wahrnimmt und zur Sprache kommen lässt, so dass immerhin die Chance besteht, dass die Betreffenden auch Gehör finden? Wäre auf diese Weise wenigstens der elementaren Gewalt entgegenzuwirken, die darin liegt, zwar physisch vorhanden zu sein, aber in den Augen Anderer praktisch bzw. politisch nicht zu existieren? Steht jenem ›Versprechen‹ nicht eine Ökonomie der Aufmerksamkeit entgegen, die unvermeidlich bewirkt, dass die Wahrnehmung der einen auf Kosten der Wahrnehmung anFanons Anklage Die Verdammten dieser Erde [1961] bis hin zu Achille Mbembes Kritik der schwarzen Vernunft [2013/4]) ebenso wie für die Kritik an Bedingungen ökonomischer Reproduktion heutiger Gesellschaften, die sich wie des sog. Westens nur auf Kosten anderer aufrechterhalten.

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derer geht? Ist hier nicht eine nicht zu umgehende Selektivität und Exklusivität im Spiel? Geht nicht die Gewaltsamkeit, die für die jeweils Ausgeschlossenen darin liegt, in deren Augen unversehens in zu verantwortende Gewalttätigkeit über, wenn sie Grund zu der Annahme haben, dass ausgerechnet sie ausgeschlossen bleiben oder ausgeschlossen werden? Die aktuelle sog. Flüchtlingskrise ist in dieser Hinsicht ein Lehrstück. Hunderttausende begehr(t)en Einlass in Europa. Aber keineswegs konnten alle gleich berücksichtigt werden. Und was sich im Kontext der Schließung der sog. Balkan-Route für die einen als gerechtfertige Reaktion auf eine nationale Überforderung darstellt, ist für die anderen, die zu spät Gekommenen, die ohne Bleibe-Perspektive vor geschlossenen Grenzen endlos ausharren müssen, ein brutaler Akt des Ausschlusses, der zur Folge hat, dass sie vor Ort weder gehört noch mit ihrem Anspruch wahrgenommen werden, so dass sie sich auf ein depolitisiertes, nacktes Leben zurückgeworfen sehen. Bislang ist kein Grenzregime in Sicht, das mit derartigen gewaltsamen Exklusionen überhaupt nicht belastet sein müsste. Jedes neue Grenzregime wird in der einen oder anderen Weise wieder ungerecht sein, indem es sich selektiv-exklusiv zu einer Vielzahl Fremder verhält, die teilweise Aufnahme finden, teilweise einer Ungastlichkeit überantwortet bleiben, die sie einem kaum mehr lebbaren Leben im Niemandsland zwischen Staaten oder in provisorischen Lagern überlässt. 64 Darin liegt in den Augen derer, die darunter zu leiden haben, gewiss eine eminente Gewaltsamkeit, die allerdings nicht einfach als unvermeidliche abzufertigen ist. Denn sie wirft stets die Frage auf, ob ihr nicht durch bessere institutionelle Regelungen der Aufnahme Fremder entgegenzuwirken wäre. Auch diese Regelungen mögen wiederum als gewaltsam erscheinen und keine ideale Lösung versprechen. Doch auch das heißt nicht, dass man sich mit einer anscheinend unvermeidlichen Gewaltsamkeit indifferent abfinden dürfte. Andernfalls würde man eben diese Unvermeidlichkeit der Gewaltsamkeit auch schon als Vorwand dazu nehmen können, sie so oder so (billigend) in Kauf zu nehmen, statt wenigstens Perspektiven geringerer Gewaltsamkeit auszuloten. Vgl. A. Oberprantacher, »Ungastliche Gastfreundschaft am Rande des Staates«, in: B. Liebsch, M. Staudigl, P. Stoellger (Hg.), Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik, Weilerswist 2016, S. 619–651.

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Hier zeigt sich das Paradox des Politischen wiederum darin, dass eben die Institutionen, die man einrichtet, um der Gewalt entgegenzuwirken, sie in anderer Form aufs Neue heraufbeschwören. Auch wenn das unvermeidlich so sein sollte, entbindet uns das nicht von einer Kritik der Gewalt, die sich der Suche nach geringstmöglicher Gewalt verpflichtet und sich weigert, die angebliche Unvermeidlichkeit ›der‹ Gewalt in den Vorwand umzumünzen, sie einfach hinzunehmen oder in Kauf nehmen zu müssen (um sich ihrer sodann umstandslos zu bedienen). Maurice Merleau-Ponty hat zweifellos Recht, wenn er feststellt, dass man sich der Gewalt umso bereitwilliger bedient, als sie angeblich »den Dingen innewohnt«. 65 So macht er darauf aufmerksam, dass es möglicherweise gar keine klar erkennbare Grenze zwischen unvermeidlicher Gewaltsamkeit und zurechenbarer Gewalttätigkeit gibt, wenn diese sich jederzeit auf erstere berufen kann, um im gleichen Zug die Frage auszublenden, ob sie nicht Spielräume wenigstens geringerer Gewalt auszuloten hätte. Das Paradox des Politischen ist, insoweit man es als Freibrief dafür nimmt, unvermeidliche Gewalt auszuüben, nur so kritisieren, dass es ethisch durch eine sich damit nicht gleichgültig abfindende Untersuchung der Gewalt relativiert wird. Genau das besagt beim frühen Ricœur der Begriff des Nächsten, der im Sinne der Herausforderung zur Nicht-Gewalt »die persönliche Art und Weise« bezeichnen sollte, »mit der ich dem anderen über jede soziale Vermittlung hinaus begegne«; und zwar so, »daß die Bedeutung dieser Begegnung von keinem der Geschichte immanenten Kriterium abhängt« (GW, S. 113). Trotz gewisser Bedenken gegen eine religiös-sentimentale Verwendung dieses Begriffs hält Ricœur ihn für unverzichtbar und glaubt nicht, dass man zwischen dem Nächsten und dem Sozius (dem politisch Zugehörigen, dem Mitglied in gewissen Organisationen oder Leidensgenossen in der Fabrik, im Gefängnis oder KZ) wählen müsse. Vielmehr repräsentiert der Begriff des Nächsten, der jeder Andere sein kann, für ihn ein zu radikaler Gewaltkritik anhaltendes Moment des Ethischen, das es ausschließen muss, dass man die Gewalt, die im Namen politischer Institutionen, des Staates und transnationaler Machtgefüge unumgänglich zu sein scheint, jemals indifferent hinnimmt oder rechtfertigt. Mit anderen Worten: die Gewalt, die man in politischer Hinsicht für unvermeidlich hält, ist darum nicht weniger falsch und zurückzuweisen – auch wenn überhaupt kein Ausweg in 65

M. Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1974, S. 113.

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völlige Gewaltlosigkeit denkbar erscheint. So kommt der frühe Ricœur einem starken Begriff des Anderen, wie wir ihn bei Levinas antreffen, gleichsam auf halbem Wege entgegen. Aber verfügen wir mit diesem Begriff (oder mit dem »Nächsten«) auch schon über eine zureichende Basis für eine ethische Kritik des Staates sowie inter- und transnationaler politischer Institutionen? 66 Und genügt dafür die aus dem Gesicht des Anderen abgeleitete, bloß negative ›Devise‹ des Gebotes, nicht zu töten (GW, S. 230)? Muss die Verabsolutierung dieses Gebotes nicht in eine Gewalt des Ethischen umschlagen, wenn sie bedingungslos einem Anderen (ohne Rücksicht auf Dritte) gelten soll? Die Kritik der Gewalt kann jedenfalls keine bloß ethische Basis haben, wenn es eine Gewalt des Ethischen selbst gibt, insofern sich der ethische Anspruch des Anderen und jeder Versuch, ihm gerecht zu werden, von anderen Anderen entbindet. Sie hat aber auch keine zureichende politische Basis, wenn das Politische niemals die Gewalt einhegt, begrenzt, entschärft, ohne zugleich neue Gewaltpotenziale heraufzubeschwören bzw. in sich zu bergen, mit denen wir uns nur dann nicht gleichgültig abfinden und die wir nur dann nicht einfach in Kauf nehmen oder sogar zur Rechtfertigung eigener Gewalt missbrauchen werden, wenn sich die ethische, dem Anspruch des Anderen verpflichtete Gewaltkritik ihrer Aufhebung im Politischen widersetzt. So gesehen werden wir niemals ein bloß ethisches Leben (im Sinne von Levinas) führen und niemals bloß politisch leben können, sondern gewissermaßen zwischen Ethik und Politik, in deren unaufhebbarem Widerstreit, existieren – in sprachlich strukturierten Lebensformen, die, wenn Levinas Recht hat, ständig Gefahr laufen, den gewaltkritischen Sinn der Sprache aus dem Blick zu verlieren und die ihnen einbeschriebene Gewaltsamkeit zu vergessen, so dass sie vielfach nur mit Gewalt aus dem Schlaf dieses Vergessens zu rütteln sind, in dem sich ein normalisiertes politisches Leben am Ende überhaupt keiner Schuld angesichts Anderer mehr bewusst ist, die es nicht einmal wahrnimmt und so um ihr politisches Dasein zu bringen droht. Auf der Suche nach Spielräumen des Verhaltens zwischen vermeidbaren und unvermeidlichen Gewaltsamkeiten wird uns weder eine Ontologie des Krieges weiterhelfen, die uns als unabänderlich in unserer Seinsverhaftung zur Gewalt verurteilt beschreibt, noch Mehrfach spricht Levinas auch davon, Kulturen im Ganzen ethisch beurteilen zu wollen; so in Parole et silence, S. 380.

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auch eine Ethik, die glauben macht, wir müssten uns nur an das aus dem Gesicht des Anderen sprechende ›Wort‹ erinnern, um einen rettenden Ausweg aus der Gewalt zu finden. Auch ein derart verabsolutiertes Ethisches zieht den Verdacht eminenter Gewaltpotenziale auf sich, die nur politisch, d. h. in Horizonten der Koexistenz mit Dritten, in Schach zu halten sind. Auch das Politische aber kann sich dabei nicht selbst genügen, wenn es bei jeder Institutionalisierung neue Gewaltpotenziale heraufbeschwört, die als nicht zu umgehende auch schon zur Rechtfertigung neuer Gewalt missbraucht werden können. Wer das nicht hinnehmen will, sieht sich dazu gezwungen, sich auf eine ethische Kritik der Gewalt zurück zu besinnen, die sich nach dem hier entfalteten Verständnis allerdings nicht auf ein eindeutiges und politisch unproblematisches absolutes Gebot (allein) stützen kann. Vielmehr ist sie methodisch in erster Instanz auf eine Phänomenologie der Gewalt angewiesen, die erst einmal zu ermitteln hat, wodurch Gewalt zu etwas Unannehmbaren wird – durch ihren verletzenden Charakter nämlich, zu dem sich niemand indifferent verhalten kann. Auch daraus ergibt sich allerdings nicht ohne weiteres eine absolute ethische oder politische Maßgabe – etwa im Sinne eines unbedingten Verletzungsverbots (anstelle des Gebotes, nicht zu töten). Keineswegs ist jede noch so geringfügige Verletzung zu vermeiden oder politisch ausschlaggebend, auch nicht dadurch, dass sie Gegengewalt nach sich zu ziehen droht. Vielfach resorpieren und unterbinden wir widerfahrene Gewalt, um es nicht zu deren fataler Fortsetzung kommen zu lassen. Daran hindert uns weder die angebliche Herrschaft des Seins, ein ontologischer Krieg (pólemos), noch auch das Interesse an der eigenen Selbsterhaltung, weder eine Logik politischer Identitätsbildung durch Verfeindung noch auch ein das politische Leben im Staat und zwischen Staaten prägender Naturzustand.

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Resümee

Weder sind wir der Gewalt gänzlich verfallen noch auch ohne weiteres von ihr zu befreien. Weder ein düsterer Fatalismus noch auch ein naiver Optimismus hilft uns bei der differenziellen Frage weiter, wie welcher Gewalt wenn schon nicht ein für alle Mal, so doch gegenwärtig mit Erfolg entgegenzutreten ist, ohne dabei sogleich neue Gewalt heraufzubeschwören. Dabei kommt nach wie vor der Sprache – nicht als virtuellem ›System‹, sondern als Rede, die sich an Andere 1000 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Resümee

wendet und ihnen Antwort gibt – die zentrale Rolle zu. Was, wenn nicht die menschliche Rede, sollte wenigstens den Hauch einer Chance bieten, selbst nach Ausrottungs- und Weltkriegen, Genoziden und sonstigen Desastern Auswege aus der Gewalt zu eröffnen? Was, wenn nicht die in diesem Sinne ›sprechende‹ Geste oder die neues Vertrauen stiftende Anrede im Modus des Vokativs 67, die allerdings über keinerlei Gewissheit verfügt, ob sie den Anderen überhaupt erreicht, und die nicht einmal wissen kann, ob sie nicht ihrerseits unerkannt Gewalt reproduziert und ihren Adressaten zumutet? Bei allen Beteiligten handelt es sich unumgänglich um leibhaftige Subjekte, die niemals in diesem Sinne für sich bürgen können, da sie nicht von einem ›transparenten‹ Selbstverhältnis ausgehen können. Selbst im Zeichen erklärten Gewaltverzichts kann niemals davon ausgegangen werden, dass man sich auf diese Weise ganz und gar der Gewalt zu entziehen vermag. Verdient also die als Rede aufgefasste Sprache überhaupt noch irgendwelches Vertrauen? Von Franz Rosenzweig über Martin Buber bis hin zu Emmanuel Levinas kontert eine überwiegend jüdisch inspirierte Sprachphilosophie: Wenn überhaupt etwas Vertrauen stiftet (wenn nicht verdient), so gerade die Rede, die sich an den Anderen als solchen wendet und sich von ihm als solchem in Anspruch nehmen lässt. Mag darin auch eine ›gute‹ Gewalt liegen, die sich gegen eine angeblich ganz und gar dem Sein, der Selbsterhaltung, dem Naturzustand und damit dem Krieg verfallene Welt soll behaupten können, so muss man dem allerdings entgegenhalten, dass eine derartige ›ethische‹ Wende der Sprachphilosophie ihrerseits politischer Gewalt in die Hände zu spielen droht, wenn sie nicht das unaufhebbare Missverhältnis zwischen dem Anderen und Dritten und darüber hinaus die Paradoxien politischer Institutionalisierungen in Rechnung stellt, die Gewalt nur bändigen und mäßigen können um den Preis, ihr neue Potenziale zuzuführen. Dagegen ist wiederum nur im unaufhebbaren Widerstreit von Ethik und Politik Einspruch einzulegen, der es niemals zulässt, dass eine Ethik im Zeichen des Anderen über eine Politik triumphiert, die sich um institutionalisierbare Spielräume möglichst geringer Gewalt bemüht. Umgekehrt wird eine solche Politik niemals sich selbst genügen, wenn sie nur für ›Dritte‹ gemacht ist und die Anderheit des Anderen Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, S. 196; E. Levinas, Eros, littérature et philosophie. Essais romanesques et poétiques, notes philosophiques sur le thème d’éros, Paris 2013, S. 223.

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vergisst, die uns, wie man von Rosenzweig bis Levinas glauben macht, ›das Wort‹ gibt. Daraus im Sinne des biblischen Gebotes eine absolute politische Maßgabe abzuleiten, kann indessen kaum überzeugen. Auf diese Weise würde man Ethik und Politik gewissermaßen kurzschließen, statt sie in ihrem Zusammenspiel und Widerstreit zu bedenken. Überdies würde man eine reichhaltige Phänomenologie der Gewalt übergehen, die zeigt, wie wir diesseits des physischen Todes von einer Vielzahl von Gewalterfahrungen heimgesucht werden, die allemal verletzen, es aber einer dissensuellen Auseinandersetzung überlassen müssen, zu klären, inwiefern sie ethisch und/oder politisch und rechtlich maßgeblich sein müssen. 68 Solche AuseinanderKeineswegs ergibt sich aus der ›Negativität‹ von Verletzungserfahrungen ohne weiteres, inwiefern sie politisch maßgeblich sein müssen, wie es Albert Camus unterstellt, der dem Sklaven die Worte in den Mund legt: »Ich rebelliere, also sind wir.« (A. Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, S. 203.) Wogegen sich eine individuelle Rebellion richten mag, kann nicht ohne eine problematische Solidarisierung in derselben Angelegenheit zum Grund der politischen Existenz eines Kollektivs werden, für das ggf. stellvertretend und mit – stets erst zu legitimierendem – Recht ein Repräsentant sprechen darf. (Leiden allein verleiht keine Rechte, wie schon die Kontroverse zwischen Sartre und Camus deutlich gemacht hat.) Niemals aber so, dass dieser das Recht hat, seine Stimme unmittelbar für die des Ganzen auszugeben, das er nur stellvertretend repräsentiert. Andernfalls schlägt die Repräsentation in eine Art Substitution um und eine partikulare Stimme maßt sich an, mit dem Allgemeinen identisch zu sein, das durch sie zur Sprache kommen soll. Darin liegt der Keim zu einer Tyrannei, die man nicht erst bei Mehrheiten antrifft, wie sie bereits Tocqueville im Blick hatte. Auch Minderheiten, nicht zuletzt solche, deren Vertreter behaupten, sie seien »das Volk«, neigen dazu, zu vergessen, wie problematisch der Zusammenhang von Gewalt, politischer Solidarisierung und ›repräsentativer‹, stellvertretender Rede tatsächlich ist. Schließlich können sich auch innerhalb von Minderheiten wiederum Mehrheiten bilden, die zu einer Tyrannei à la Tocqueville neigen. Vgl. A. de Tocqueville, Die Demokratie in Amerika, Frankfurt/M. 1956, Kap. 8, 9. Keine Minderheit, keine Menge und keine Masse ›ist‹ im Übrigen je einfach ein oder das Volk, sofern man darunter sein schlichtes Vorhandensein versteht. Ein Volk entsteht, stets nur vorübergehend, allenfalls aus rhetorischen Formen der Inanspruchnahme ›im Namen des Volkes‹, die niemals jegliche Distanz zum derart Inanspruchgenommenen aufheben können, wie es sich offenbar Rousseau vorgestellt hat. Niemals kann es als fertig gegebene Entität seiner politischen Repräsentation eindeutig vorausliegen; und letztere wird durch turba, Rottieren (lt. Kant »die gesetzwidrige Vereinigung« des Pöbels [vulgus]; »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Werkausgabe Bd. XII [Hg. W. Weischedel], Frankfurt/M. 1977, S. 648 f.), Insurrektion, Aufstände und Rebellionen immer bedroht werden können, zumal sich kein Volk denken lässt, das nicht auch Formen inneren Ausschlusses heraufbeschwört, die gerade diejenigen rufen lässt, »wir sind das Volk«, die sich bislang am wenigsten zu ihm zählen konnten. So kann ein Volk nur eine notorisch instabile Angelegenheit sein, ein ständiges Kommen und Gehen, in dem vor allem auf dem Spiel steht, ob diejenigen, die es für sich in 68

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Resümee

setzungen werden uns nur weiter bringen, wenn sich diejenigen, die diesen Erfahrungen kaum ausgesetzt sind, von Anderen darüber belehren lassen, wie ›einschneidend‹ sie sind, ob sie sich verschmerzen lassen und nachzusehen sind oder ob sie die Grenzen des Erträglichen überschreiten. Dazu bedarf es keineswegs eklatanter Gewalt, die aufgrund ihrer Salienz nicht zu übersehen ist. Viel effektiver setzt sich eine subtile Gewalt der Ignoranz, des Übersehens, Überhörens und Verschweigens durch, die vielfach nur gewaltsam als Gewalt kenntlich zu machen ist. Das aber geschieht umwillen derjenigen, die auf unzumutbare Art und Weise unter ihr leiden, und im Namen ethischpolitischer Lebensformen selbst, denen wir heute abverlangen, dass sie sich genau dem so weit wie nur möglich widersetzen; denn nur so können sie ihren Namen verdienen, niemals dann, wenn sie Andere indifferent einem im Grunde nicht lebbaren, weil unter unzumutbarer Gewalt leidenden Leben überantwortet sein lassen und sie insofern ›vergessen‹. Auch das kann auf eine Art Tod hinauslaufen: auf einen sozialen und politischen Tod bei lebendigem Leibe derer, die ihn erleiden. 69 In der Frage, ob und wie wir uns dazu – nicht-indifferent Anspruch nehmen, dabei zugleich Andere mehr oder weniger durchgreifend ausschließen. Kann man überhaupt ›im Namen des Volkes‹ sprechen, ohne diese Gefahr heraufzubeschwören? Vgl. É. Balibar, Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg 2006; F. Heidenreich, »Was ist und wie entsteht demokratische Identität?«, in: S. Wendel (Hg.), Was ist und wie entsteht demokratische Identität?, Göttingen 2014, S. 15–32, sowie die folgende Anm. 69 Was schlimmer sein kann als der physische Tod, wie schon Alexis de Tocquevilles Schrift über die Demokratie in Amerika zu entnehmen ist. – Jenes Vergessen kann allerdings ganz verschiedene Formen annehmen: angefangen vom schieren Nichtwahrgenommenwerden über das Übersehen und Wegsehen bis hin zur Verdrängung aus dem Horizont politischer Wahrnehmung und zur aktiven Unterdrückung, die jegliche Wahrnehmung Anderer zu unterbinden versucht und sie auf diese Weise gleichsam aus der (politischen) Welt hofft tilgen zu können. Tocqueville dachte darüber im Kontext seiner Überlegungen zu einer »Tyrannei der Mehrheit« nach, die er als die größte Gefahr für demokratische Lebensformen begriff. Unter der Herrschaft der Majorität wird die tödliche Gefahr, die in ihr liegt, nicht länger durch offene Repression oder Drohungen damit, »sterben zu lassen« (M. Foucault), erkennbar, wogegen man sich offen auflehnen könnte. Vielmehr besagt der Despotismus der Mehrheit: »du bist frei, nicht so zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten, aber von [nun] an bist du unter uns ein Fremder. […] Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren.« (Vgl. Tocqueville, Die Demokratie in Amerika, S. 97 f.; B. Moore, Zur Geschichte politischer Gewalt, Frankfurt/M. 21968, S. 76.) Damit ist hier gemeint: du magst noch reden, demonstrieren und gewissen politischen Lärm machen, aber zuhören wird dir keiner mehr. Insofern weigern wir uns, dir dadurch, dass wir dir Gehör schenken, zu

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XXVIII · ›Der‹ Gewalt ausgesetzt

oder gleichgültig – verhalten, verhalten können und wollen, sehe ich den eigentlichen Brennpunkt einer sozialphilosophisch revidierten Theorie, die Sprache – als Rede – auf das Phänomen eines ›ansprechenden‹ und ›in Anspruch genommenen‹ Lebens gegründet sieht, das im Zeichen des Anderen nur in einer Pluralität vieler Anderer Gestalt annehmen kann und infolgedessen weder in einer sich selbst genügenden Ethik noch in einer autonomen Politik zur Ruhe kommen wird. Gerade deshalb muss es sich immer von neuem des Sinns menschlicher Rede versichern, der weniger denn je in der absoluten (wenn auch ›guten‹) Gewalt eines Wortes oder in vollkommen gewaltfreier Kommunikation verbürgt zu sehen ist. So ist diese Frage nach dem Sinn der Sprache ihrerseits der Gewalt rückhaltlos ausgesetzt, gegen die man die Erinnerung an ihn aufruft.

versichern, dass du (politisch) existierst (R. Barthes). Wichtig an Tocquevilles Beobachtungen ist, dass ein Leben mit verbürgten Rechten sehr wohl mit der Erfahrung eines politischen Todes einhergehen kann. (Der allerdings nicht irreversibel sein muss.) Barrington Moore, der an Tocqueville anschloss, erschien ein System, das sich im Unterschied zu George Orwells Vision von 1984 »auf die spontane Unterstützung fast der gesamten Bevölkerung« verlassen kann, weit gefährlicher als ein eindeutig als solches erkennbares Herrschaftsmonopol, das lediglich in vertikaler Richtung unterdrückt, indem es Andere an jeglicher Artikulation hindert, um sie schließlich in Vergessenheit fallen zu lassen, obwohl sie noch am Leben sind.

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Kapitel XXIX Andere hassen – Im Horizont weltweiter Vergesellschaftung Schon Empedokles lehrt, dass die Affinität von Gleichem zu Gleichem von Haß diktiert wird. Sarah Kofman 1 Es hat nichts mit Haß zu tun. […] Es waren Leute, mit denen man nichts gemein hatte […]. Franz Stangl 2 Der Mensch ist ein geselliges Tier, das seinesgleichen verabscheut. Eugène Delacroix 3

1.

Hass – eine Absurdität?

Im Hinblick auf das Schlimmste, dem Menschen durch Andere ausgesetzt werden können, wurden in der Literatur vielfach zwei Extreme genannt: die Erfahrung absoluter Vergleichgültigung, die zu besagen scheint, dass der Andere gar nicht existiert oder einer Dunkelheit überantwortet bleiben muss, wo er nicht mehr in Erscheinung treten kann 4, einerseits und äußerste Intensivierung der Gewalt andererseits, mit der man ›hasserfüllt‹ gegen ihn vorgeht oder vorzugehen droht. »Das Äußerste« als solches, wie es Carl v. Clausewitz zum ersten Mal überhaupt als Gegenstand einer Theorie des Krieges beschrieben hat, entspringt allerdings nicht unbedingt aus Hass, zumindest nicht aus persönlichem Hass, der, wie Hegel glaubte, im Krieg einer »abstrakten«, »individualitätslosen« Gewalt weicht, in der »der Tod kalt empfangen und gegeben werden« muss, »nicht durch die

S. Kofman, Erstickte Worte, Wien 1988, S. 45. Zit. n. G. Sereny, Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker. Franz Stangl und die Morde von Treblinka, München 1995, S. 276. 3 E. Delacroix, Dem Auge ein Fest. Aus dem Journal 1847–1863, Frankfurt/M. 1988, S. 133. 4 H. Arendt, Über die Revolution, München 41994, S. 86 f. 1 2

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XXIX · Andere hassen

statarische Schlacht, wo der Einzelne den Gegner in das Aug faßt und im unmittelbaren Hasse denselben tötet«, sondern so, dass der Tod »unpersönlich, aus dem Pulverdampf« der Gewehre und Kanonen naht. 5 Theodor W. Adorno gab dagegen zu bedenken, ob nicht ein Krieg, der ganz ohne Hass und insofern technisch neutralisiert geführt wird, die Unmenschlichkeit vollendet, in der es, wie in der absoluten Gleichgültigkeit, keinerlei Beziehung zu den Opfern mehr geben kann, die er kostet. 6 Zwar mag der mit virtuellen Mitteln geführte Krieg heute einer derart neutralisierten Liquidierung Anderer sehr nahe kommen, die man nicht einmal mehr zu Gesicht bekommt. Aber der Hass hat sich in der Zwischenzeit, die uns von Hegel und Clausewitz trennt, keineswegs auf das Persönliche beschränken lassen. Reichlich belegte Geschichten kollektiver Verfeindung 7 im Nationalhass, zu dem man aufgestachelt hat, um ›Vaterländer von Feinden‹ gegeneinander in Stellung zu bringen, zeugen davon. 8 Und dieser Mechanismus funktioniert, wie die zahlreichen ›Ausbrüche‹ ethnisch motivierter Gewalt in der Gegenwart beweisen, selbst im Horizont einer sich derzeit formierenden Weltgesellschaft noch ausgezeichnet, wenn auch weniger in der Form eines ›klassischen‹ Krieges, wie ihn Clausewitz vor Augen hatte, als in der Form sogenannter ›Neuer Kriege‹. Dabei zeigt sich jedes Mal, dass der Hass längst nicht mehr als quasi kosmologisches, aus immerwährender Mischung und Wechsel von Gutem und Schlechtem, Leben und Tod, Liebe und Hass resultierendes Verhängnis zu begreifen ist, wie es Empedokles in der Antike beschrieben hatte. 9

5 G. W. F. Hegel, »Jenaer Realphilosophie [1805/6]«, in: Frühe politische Systeme, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1974, S. 201–290, hier: S. 278; vgl. zu einer »hostilité sans affect« auch F. Balke, Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996, S. 214. 6 T. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1978, S. 66; E. Traverso, Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah, Hamburg 2000, S. 51, 168, 185, 292. 7 Vgl. Vf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, S. 191, 271. 8 Vgl. bspw. H. Steffens, »National-Enthusiasmus«, in: H.-J. Schmidt (Hg.), Romantik I, Stuttgart 2008, S. 182–187; zum Kontext: M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde: Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. 9 J. Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker (griech./dt.), Stuttgart 1987, S. 403.

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Hass – eine Absurdität?

Schon damals fragte man sich, ob es überhaupt vermeidbar wäre, sich in der Polis verhasst zu machen. 10 Sei es dadurch, dass man sich ganz von ihr abwendet, sei es dadurch, dass man anders redet als man denkt 11 oder sich überheblich auf reine Wahrheit beruft und sie für sich in Anspruch nimmt, statt sich als Gleicher unter Gleichen mit der Äußerung der eigenen Meinung (dóxa) zu begnügen. 12 Zwar wussten die Griechen der Antike um die Unvermeidlichkeit von Streit, der im Prinzip jederzeit zum Bürgerkrieg ausarten kann, doch bildeten sie sich ein, im Innern ihres politischen Lebens eine ›zwieträchtige Harmonie‹ wahren, reinen Hass aber nach außen, gegen Barbaren und ›fremde Natur‹ jeglicher Art ablenken zu können. 13 Vergebens aber hasste man den Krieg 14, der sich so wenig als abschaffbar erwiesen hat wie der Hass selbst, der ihn bis zur ›modernen‹ Erfindung einer im Sinne Hegels ›indifferenten‹ Gewalt stets angetrieben hat. Der »schwerste Sieg« scheint derjenige zu sein, den wir – wie Enzo Traverso mit Albert Camus zu bedenken gibt – in uns selbst zu erringen versuchen müssen: gegen den »ungesättigten« Hass auf radikale Feinde, der sich an ihnen nicht schadlos halten kann, ohne es ihnen gleichzutun. 15 Zudem flackert Hass vielfach auch ohne erkennbaren äußeren Anlass wieder auf. Deshalb wird man nicht müde zu fragen, worin der tiefere Grund dafür liegen könnte. Die vorliegenden Interpretationsangebote zu dieser Frage könnten gegensätzlicher kaum sein. In Platons Lysis wird zu bedenken gegeben, ob nicht »das Ähnliche dem Ähnlichen, also auch der Gute dem Guten, am meisten feind« sein muss. 16 Bei Meister Eckhart lesen wir dagegen: »Alle gleichen Dinge lieben sich gegenseitig und vereinigen sich miteinander, und alle ungleichen Dinge fliehen sich und hassen einander.« 17 Wenn selbst »das Verhältnis des Henkers zu seinem Opfer […] in ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zur ›menschlichen Gattung‹« gründet, wenn sie insofern von gleicher Art sind, Pythagoras; zit. n. Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart 1998, S. 389. 11 Platon, Hippias II, 365a. 12 Platon, Apologie oder des Sokrates Verteidigungsrede. Kriton. Ein Dialog, Stuttgart 1957, S. 18, 22. 13 Platon, Menexenos, 242d, 245d. 14 Wie Vergil von Menoetes sagt: Aeneis, Stuttgart 2007, S. 342. 15 E. Traverso, Im Bann der Gewalt. Der Europäische Bürgerkrieg 1914–1945, München 2008, S. 162. 16 Platon, Lysis, 215 c. 17 Predigt 48; zit. n. K. Flasch (Hg.), Mittelalter, Stuttgart 1985, S. 452. 10

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XXIX · Andere hassen

warum lieben sie sich dann nicht? Sind »wir […] uns eben zu ähnlich« 18 und allein deshalb dazu verurteilt, uns zu hassen? Erwächst gerade daraus »das ethische Problem des radikalen Hasses, der Erniedrigung, der Grausamkeit im Allgemeinen und des nationalsozialistischen Totalitarismus im Besonderen«, wie Georges Didi-Huberman mutmaßt? 19 Oder trifft beides zu? Müssen wir uns als einander Ähnliche bzw. Gleiche hassen? Und sind wir als einander Hassende, die nichts miteinander gemeinsam zu haben glauben, gleich bzw. ähnlich? Und zwar gerade angesichts der Gewalt, die wir einseitig oder gegenseitig heraufbeschwören, in welchen neuen oder altbekannten Formen auch immer? 20 In diese Richtung zielt Jean-Paul Sartres Deutung des Hasses in Das Sein und das Nichts (1943). Unsinnigerweise verfolge der Hass die Absicht, den Anderen loszuwerden; und zwar radikal und als Anderen. Dabei könne er nicht umhin, als gerade im Bezug auf den Gehassten dessen Existenz und Freiheit in gewisser Weise ›anzuerkennen‹. 21 Nur ein freies, anderes, von mir ganz unabhängiges Wesen kann und muss ich gegebenenfalls hassen. Dieses Wesen will der Hass wie ein Objekt zerstören, um gleichzeitig die Transzendenz, vor der er sich verwahren will, zu beseitigen. 22 Hass verabscheut nicht nur etwas, ein »objektives Detail« etwa, am Anderen, sondern gerade das, was ihn als Anderen ausmacht. Er zielt insofern auf eine Welt ohne den Anderen ab und offenbart darin seine eigentliche Absurdität. Was ich an einem Anderen hasse, ist »das allgemeine Prinzip der Existenz Anderer« (SN, S. 718). Ich will also den Anderen schlechthin beseitigen – und befinde mich im Hass insofern von Anfang an in einem radikalen Konflikt mit allen Anderen, auch wenn ich glaube, nur einen von ihnen nachhaltig schädigen, unschädlich machen oder beseitigen zu müssen. Irritierend an dieser Deutung ist besonders, dass die Transzendenz des Anderen als solche den Grund des Hasses abgeben soll, der K.-M. Gauß, Die fröhlichen Untergeher von Roana. Unterwegs zu den Assyrern, Zimbern und Karaimen, Wien 2009, S. 29. 19 G. Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007, S. 219. 20 Vgl. Kofman, Erstickte Worte, S. 43. 21 Wie es lt. Sartre auch die Gewalt in allen ihren Formen tun muss; J.-P. Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, S. 314. 22 J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie [1943], Reinbek 1993, S. 716 (= SN). An der angegebenen Stelle steht allerdings »es« statt »er«, wie es m. E. heißen muss. 18

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Hass – eine Absurdität?

in dieser ontologischen Perspektive eigentlich gar keinen konkreten Anlass bräuchte. Die Existenz des Anderen als solche erscheint bei Sartre bereits als ›hassenswert‹ (so wie bei Blaise Pascal das eigene Ich). Es genügte demnach, dass der Andere als ›transzendentes‹, d. h. hier: sich meiner Verfügung entziehendes, freies Wesen da ist, und schon müsste er mir demzufolge als hassenswert erscheinen. Selbstverständlich kann man so nicht erklären, warum die Einen tatsächlich hassen (und wie sie es tun, wie nachhaltig, wie radikal, allein oder in brutaler Vergemeinschaftung), während sich die Anderen dem Hass auch dann, wenn er sie heimsucht, wenigstens nicht hingeben oder ihn ›ausleben‹. Und Sartres Deutung des Hasses wirft die Frage auf, wie man im Hass glauben kann, ›nur‹ dem Anderen schaden oder ihn am Ende ganz aus der Welt schaffen zu müssen, um sein Ziel zu erreichen. Wie auch immer man den Gehassten schadet: so vermag man doch überhaupt nichts gegen ihre ›Transzendenz‹ auszurichten. Selbst dann, wenn es gelingt, sie durch eine umfassende genozidale Aktion auszulösen, ohne auch nur einen Nachkommen überleben zu lassen, kann der Hass nicht verhindern, dass die Hassenden »für Andere gewesen« sein werden, für immer, unauslöschlich. Jeder ist auf diese Weise »für den Rest seiner Tage kontaminiert«. »Auch wenn der Andre völlig beseitigt worden wäre: er wird auch weiterhin seine Dimension des Für-Andere-seins als eine permanente Möglichkeit seines Seins erfassen […], denn der vernichtete Andere hat den Schlüssel dieser Entfremdung mit ins Grab genommen. Was ich für den andern war, ist durch den Tod des andern erstarrt« (SN, S. 719). Sartre hat dabei vor allem im Sinn, dass selbst radikal vernichtender Hass nicht umhin kann, ›anzuerkennen‹, »daß der Andere existiert hat«. »Folglich wird mein Für-Andere-sein, indem es in die Vergangenheit sinkt, eine unabänderliche Dimension meiner selbst« (SN, S. 718 f.). Wenn es sich so verhält, muss aber diese »Vergangenheit« ihre Spur in denjenigen hinterlassen, die den Anderen gehasst haben. Radikal vernichten könnten sie sie nur, wenn sie in ihrer Erinnerung auch diese Spur noch auszulöschen vermöchten. Sartre ist offenbar davon überzeugt, dass das nicht gelingen kann. Abgesehen von dieser ›Finalität‹ des Hasses meint er darüber hinaus, dass Hass in jeglicher Form ›letztlich‹ mit der Absurdität konfrontiert ist, vernichtend gegen eine Transzendenz des Anderen vorzugehen, die ihm radikal entzogen ist. Er ›missversteht‹ also vollkommen das, was Sartre das »Prinzip der Existenz Anderer« genannt hat. Verstrickt sich auch der prima facie zunächst weniger radikale, 1009 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

XXIX · Andere hassen

passagere, ›kleine‹ Hass, der hier und dort auflodert, der uns befällt wie eine akute Infektion und uns ›überkommt‹, um bald wieder zu verlöschen, wenn man ihn nicht hegt und, rhetorisch immer von neuem befeuert, gedeihen lässt, um politisches Kapital aus ihm zu schlagen, in diese Absurdität? Ist es möglich, den Hass davor zu bewahren, derart in Dienst genommen zu werden? Kann man ihn rechtzeitig entschärfen, vorausgesetzt, man erkennt überhaupt, worauf er – absurderweise – hinauswill? Muss man ungeachtet aller Versuche, die menschlichen Verhältnisse von der Nachbarschaft bis hin zur sich abzeichnenden Welt-Gesellschaft zu befrieden, ›mit ihm leben‹ ? Gehört Hass – zusammen mit anderen hässlichen Begleiterscheinungen wie Neid und Intoleranz – zu den »Schattenseiten der Weltgesellschaft«? 23

2.

Hass ›im Schatten‹ weltweiter Vergesellschaftung

Auf den ersten Blick scheint diese Frage auf die gängige Redensart anzuspielen, die bekanntlich lautet, wo Licht ist, da sei auch Schatten (leider, aber unvermeidlich). Hier steht das Licht in sehr gutem, der Schatten aber offenbar in einem notorisch schlechten Ruf: Nicht nur als negative Begleiterscheinung des Lichts, sondern auch als Sphäre, Zone oder Dimension, in der sich ›Dunkles‹ verbirgt, darunter vermutlich Übles, welches das Licht scheut wie irgendein Gesindel und nicht im Hellen, angeblich für jedermann Sichtbaren gedeiht. Es ist allerdings fraglich, wie belastbar diese Metaphorik ist. Gedeiht Übles nicht auch im viel zitierten ›Licht der Öffentlichkeit‹, das auf manche Phänomene – man denke nur an die von Hannah Arendt beschriebene Güte und das Mitleid – seinerseits eine geradezu zerstörerische Wirkung haben kann? 24 Kann der Schatten wirklich als metaphorischer Inbegriff einer Sphäre, Zone oder Dimension des moralisch Negativen gelten, das am besten vollkommen ausgeleuchtet werden sollte, so dass sich einer blendenden Helligkeit am Ende nichts mehr zu entziehen vermöchte? Führt die verführerische Metaphorik des Lichts nicht in die Irre, wenn sie die Möglichkeit einer idealiter restDiese Frage hat eine Veranstaltungsreihe des Studium Generale der Universität Mainz im Wintersemester 2013/4 aufgeworfen, an die ich hier anknüpfe. 24 Arendt, Über die Revolution, S. 122; dies., Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 2003, S. 61 f., 205. 23

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Hass ›im Schatten‹ weltweiter Vergesellschaftung

losen Be- und Durchleuchtung suggeriert, die schließlich jeglichen Schatten vertreiben müsste? Bringen veränderte Lichtverhältnisse nicht unvermeidlich neue Schattenverhältnisse hervor? Ist eine schattenlose Helligkeit unter endlichen und irdischen Bedingungen, die das Licht stets auf etwas treffen lassen, von dem es reflektiert, absorbiert und abgeschirmt wird, überhaupt vorstellbar? Wenn wir die Licht-Metaphorik ernst nehmen, müssen wir uns fragen, von was für einem ›Licht‹ hier die Rede ist und inwiefern es womöglich unvermeidlich einen Schatten wirft, dessen relative Dunkelheit sich doch dem Licht unseres Begreifens nicht entziehen soll. Auch das suggeriert jene Frage nach ›Schattenseiten‹, indem sie verlangt, dunkle Seiten einer sich formierenden Welt-Gesellschaft als solche gedanklich zu durchdringen, sofern das möglich ist. Eine zweieinhalb Jahrtausende alte okzidentale Überlieferung legt uns nahe, das Durchdringen als ein Verfahren der Beleuchtung, der Erhellung und der Aufklärung zu verstehen, so dass sich sofort die Frage aufdrängt, ob das aufklärende Denken einem schattenlosen Licht gleichkommt 25 – oder ob es ebenfalls (und unvermeidlich) unter endlichen Bedingungen Schattenseiten aufweist und wie es sich zu diesen verhalten kann. Lässt sich überhaupt ein Denken denken, das sich zu dem, was es selbst gleichsam verschattet, noch aufklärend zu verhalten vermöchte? So zu fragen, ist keine Sophisterei. Denn was speziell den Hass angeht, der hier in weltgesellschaftlicher Perspektive zur Sprache kommen soll, so geraten wir genau in diesen doppelten Zweifel: ob er sich wie relative und zugleich unvermeidliche Dunkelheit zu den hellen (positiven, bejahten, Gewinn bringenden, fortschrittlichen) Seiten der Etablierung einer Weltgesellschaft verhält (einerseits) und ob er (andererseits) als sprichwörtlich ›abgründiger‹ Hass jedes Denken als solches überfordert, das den Versuch unternimmt, das Hassen selbst in seinen finstersten, radikalsten und angeblich unvorstellbarsten Formen aufzuklären, die, wie wir sehen werden, auf das Ende jeglicher Welt hinauszulaufen drohen, die wir mit Anderen teilen könnten. 26 Abgesehen von der Aussicht auf eine solche Finsternis,

Vgl. H. Blumenberg, »Licht als Metapher der Wahrheit«, in: Studium Generale 10 (1957), S. 432–447. 26 Offensichtlich handeln wir uns jenen doppelten Zweifel demnach auf der Gegenstandsseite des hier verhandelten Themas und auf der Ebene des theoretischen Denkens selbst ein, das sich ihm zuwendet. 25

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XXIX · Andere hassen

die sich doch so oft im hellsten Lichte internationaler Öffentlichkeit medial in Szene zu setzen weiß, und bevor ich darauf eingehe, was wir von einer Theorie des Hasses erwarten können, die gemäß jenem alten, proto-phänomenologischen Sinn von theoría sehen lässt und sichtbar macht, was ist 27, möchte ich zunächst deutlich machen, inwiefern im Folgenden eine weltgesellschaftliche Perspektive ins Spiel kommt. In der Diskussion um den Begriff der Weltgesellschaft herrscht noch immer erhebliche Uneinigkeit: manche geben als längst vorhandene Realität aus, wofür dieser Begriff steht 28, andere fragen, ob es sich nicht um eine bloße Wunschvorstellung handelt, die ähnlich zwiespältig zu beurteilen ist wie ein (nur noch von wenigen verteidigter) Weltstaat. Ich halte einen Mittelweg für den vorläufig überzeugenderen und nehme an, dass wir gegenwärtig mit Prozessen einer originären weltweiten Vergesellschaftung zu tun haben, von denen wir bislang nicht sagen können, ob sie je eine jedermann einbeziehende Weltgesellschaft hervorbringen werden und welche institutionelle Gestalt diese dann haben wird. Diese Prozesse entzünden sich primär an existenziellen Herausforderungen, die die Dringlichkeit einer weltweiten Vergesellschaftung deutlich machen, vor allem dort, wo Gewalt erfahren wird, die sowohl im Hinblick auf ihre Verursachung als auch im Hinblick auf ihre Artikulation als Gewalt, ihre Beklagung und Forderungen nach Abhilfe lokale Grenzen sprengt – oft mit der Folge, dass sich Fremde an Fremde als Adressaten wenden oder dass sich Fremde für Fremde advokatorisch einsetzen. Bereits Kant mag das im Blick gehabt haben, als er in seinem philosophischen Entwurf einer dauerhaften Befriedung der internationalen Verhältnisse auf »Rechtsverletzungen« hinwies, die weltweit gespürt würden. 29 Damit brachte er eine globale Sensibilität ins Spiel, die die Erfahrung von Gewalt anderswo zur kosmopolitischen Maßgabe für Fremde machen kann, wenn vor Ort nicht für Abhilfe zu sorgen ist. Diejenigen, die bis heute an Kant (und vermeintliche ›Vorläufer‹ H.-G. Gadamer, Lob der Theorie, Frankfurt/M. 1983, S. 43. U. Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/M. 1998; Vf., »Das Verlangen nach Gerechtigkeit in welt-gesellschaftlicher Perspektive: Sinn für Ungerechtigkeit zwischen unabdingbarem Anspruch und absoluter Überforderung«, in: M. Heimbach-Steins (Hg.), Ressourcen – Lebensqualität – Sinn. Gerechtigkeit für die Zukunft denken, Paderborn 2013, S. 163–196. 29 I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf«, in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977 (= WA), S. 191–251, hier: S. 216. 27 28

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Hass ›im Schatten‹ weltweiter Vergesellschaftung

kosmopolitischen Denkens wie Diogenes von Sinope, die Stoiker und die spanische Scholastik) anknüpfen, stellen sich die Etablierung einer Welt-Bürger-Gesellschaft überwiegend als einen Prozess zunehmender Erweiterung der Kreise derer vor, die zu einer solchen Gesellschaft ›zählen‹ dürfen oder zählen sollen. Kandidaten, die dafür in Frage kommen, werden als auf der Welt irgendwie vorhandene Menschen vorausgesetzt, denen es aber nicht ohne weiteres zukommt, als Bürger einer solchen Gesellschaft zu zählen. 30 Fortan sollen sie aber zu all jenen gezählt werden, denen gewisse Rechte zustehen oder zuzuerkennen sind. Die Frage, wer hier wen ›zählt‹ und wem Rechte attestiert, wer in diesem Sinne Andere und Fremde einbezieht, wird im Allgemeinen wenig bedacht – offenbar deswegen, weil man es für unproblematisch hält, dass jedem Anderen wenigstens minimale Rechte zustehen, die eine Weltbürgergesellschaft garantieren sollte. Die in diesem Sinne verlangte »Einbeziehung« des bzw. jedes Anderen soll schließlich keinen draußen lassen, auch keinen radikalen politischen Gegner oder gewalttätigen Feind. Versteht man die globale Vergesellschaftung so, dann wird rätselhaft, wie sie eine Schattenseite haben könnte, in der Hass, Neid und Intoleranz gedeihen. Gerade Kant hat indessen deutlich gemacht, dass die Etablierung einer Weltbürgergesellschaft nicht aus dem Nichts heraus erfolgen kann. Vielmehr setzt sie an einer »ungeselligen Geselligkeit« 31 an, die eine Vielzahl von Untugenden einschließt. Kant hat nirgends in Aussicht gestellt, dass eine Weltbürgergesellschaft die Negativität einer solchen ungeselligen Vergesellschaftung liquidieren oder aufheben könnte. Bekanntlich hat er nur geglaubt, dass sie durch eine Verrechtlichung der staatlichen und der internationalen Verhältnisse in Schach zu halten sein müsste, so dass sich die Idee des Rechts selbst in einem »Volk von Teufeln« – sofern sie nur bei Verstand sind – bewähren könnte (WA XI, S. 224). Demnach würde sich auch eine weltweite Verrechtlichung gesellschaftlichen, d. h. unvermeidlich antagonistischen und zwieträchtigen Lebens neutral verhalten zu Problemen einer weitgehend entgrenzten Sozialität, in der Neid, Hass und Intoleranz weiterhin eine Rolle spielen. Kant lag der Gedanke fern, dass eine weltweite Verrechtlichung ihrerseits dergleichen heM. Wischke (Hg.), Freiheit ohne Recht? Zur Metamorphose von Politik und Recht, Frankfurt/M. 2012. 31 I. Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, in: WA XI, S. 31–50, hier: S. 37–40. 30

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XXIX · Andere hassen

raufbeschwören könnte. Sie sollte solche Affekte allerdings im Rahmen des Rechts im Zaum halten. Ob und inwieweit es überhaupt möglich ist, Neid, Hass und Intoleranz als Dimensionen gesellschaftlicher Negativität durch Verrechtlichung welt-gesellschaftlicher Verhältnisse in den Griff zu bekommen, erfahren wir bei Kant allerdings nicht. Bis heute bleibt die Diskussion um Neid, Hass und Intoleranz von einer Perspektive weltweiter Verrechtlichung überschattet, die sie nur als Manifestationen einer misslichen Ungeselligkeit hinnimmt, mit der man scheinbar unabänderlich leben muss. Zu einem eingehenderen Verständnis dieser Negativität kommt es so nicht. Menschen werden demnach unter bestimmten Umständen immer zu Hass, Neid und Intoleranz neigen. Und das Recht kann dem gewisse Grenzen setzen; aber mehr sollte man sich nicht von ihm versprechen. Mit dieser Negativität muss und kann man demnach leben, sofern wenigstens eine äußerliche Befriedung der (welt-)gesellschaftlichen Verhältnisse durch deren Verrechtlichung erreicht ist, die ihrerseits (als solche) gar keine negative Schattenseite aufzuweisen scheint, welche eine ungesellige Vergesellschaftung bedingen oder befördern würde. Selbst dann nicht, wenn die Verrechtlichung einseitig zunächst von bestimmten, etwa ›westlichen‹ Gesellschaften ausgeht und Gefahr läuft, durch dabei heraufbeschworene Antagonismen die friedlichen Aussichten einer weltweiten Vergesellschaftung zu konterkarieren. Diese global erweiterten Aussichten bedingen demnach wohl eine entsprechend ausgeweitete Wahrnehmung von Neid, Hass und Intoleranz; aber darauf, dass dergleichen Affekte geradezu durch die Etablierung einer verrechtlichten Weltgesellschaft hervorgerufen werden und sie wie ›Schattenseiten‹ begleiten könnten, haben wir bislang keinen Hinweis. Anders verhält es sich, wenn wir dem Hass auf den Grund gehen und eruieren, woher er rührt, wie er entsteht, wie er sich manifestiert und wohin er führt.

3.

Hassen – sprachlich-phänomenologisch expliziert

Ziehen wir Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu Rate, so finden wir hier zum letzten Punkt die Auskunft, wie »ein unter der Asche glimmendes Feuer« münde der Hass vielfach in einen Groll, den wir (gegen Andere) hegen und der bei geeigneter Energiezufuhr 1014 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Hassen – sprachlich-phänomenologisch expliziert

im Prinzip jederzeit wieder entflammbar zu sein scheint. So spricht Kant vom Hass als der sowohl heftigsten als auch »am tiefsten sich einwurzelnden« Leidenschaft, die »wenn sie erloschen zu sein scheint, doch immer noch ingeheim einen Haß, Groll genannt, […] überbleiben lässt«. 32 Demnach würde der Hass niemals wirklich aufhören, wenn er sich einmal entzündet hat. Umso dringlicher wird die Frage, woran er sich entzündet (wenn man nicht unterstellen will, leidenschaftliche Subjekte, die als solche auf andere Menschen gerichtete Neigungen hegen, kämen als hassende Wesen schon auf die Welt 33). Kants Antwort: Hass entsteht aus erlittenem Unrecht als Begierde nach Rache, die oft »bis zum Wahnsinn« derart heftig sei, dass sie es hinnimmt, »sich selbst dem Verderben auszusetzen, wenn nur der Feind demselben nicht entrinnt«. Um diesen Preis scheut man auch nicht davor zurück, »diesen Haß gar selbst zwischen Völkern erblich zu machen« (WA XII, S. 607). Demnach sinnt Hass nicht grundlos auf das Verderben Anderer; aber er nimmt abgründige und geradezu endlose Formen an, wenn er sich nicht befriedigt weiß. In schlechter Unendlichkeit kann er gleichsam erblich gemacht werden und vermittels Dritter, die vom ursprünglichen Unrecht noch nicht betroffen waren, künftigen Anderen ein Verderben verheißen, die für das fragliche Unrecht gar nicht verantwortlich sein konnten. Kant gibt hier und im Entwurf Zum ewigen Frieden einen wichtigen Hinweis darauf, wie Hass und weltweite Vergesellschaftung zusammenhängen könnten. Nach seiner Beobachtung ist letztere durch kolonialistische Expansion und zunehmenden weltweiten Handel derart »inhospitabel« verlaufen, dass man Fremde vielfach »für nichts« erachtete. 34 Infolgedessen machten sich Subjekte der Kolonialisierung massiven und anhaltenden Unrechts schuldig, das, nach Kants eigener Voraussetzung, Hass nach sich ziehen musste 35, gegen den es im Übrigen nichts hilft, dass sich die Erben dieser Subjekte bei opportuner Gelegenheit als Exporteure eben der (kosmopolitischen) I. Kant, »Anthropologie in pragmatischer Absicht«, in: WA XII, S. 395–690, hier: S. 606. 33 Siehe unten, Anm. 42. 34 Kant, WA XI, S. 215; ausführlich dazu Vf., Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg i. Br., München 2008, Kap. V und VI. 35 Hier sind wir weit entfernt von der Annahme einer in den Tiefen der Seele wurzelnden Destruktivität, der der Hass ihren »Weg« weisen muss, wie Freud meinte (»Das Ich und das Es« [1923], in: Psychologie des Unbewussten, Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt/M. 1975 [= SA], S. 273–330, hier: S. 309). 32

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Rechte aufführen, die sie selbst so exzessiv verletzt haben und weiterhin verletzen. Was aber ist eigentlich Hass, woran entzündet er sich, worauf bezieht er sich, wogegen richtet er sich – und worauf will er hinaus? Anstelle dieser scheinbar direkt auf ein Wesen des Hasses abzielenden Was-ist-Frage gehe ich im Folgenden von der bescheideneren Voraussetzung aus: es gibt vielfältige Formen des Hassens, die sich zeigen. Am Anfang der Erforschung des Hasses steht in dieser Perspektive die Frage, wie er sich zeigt. Dabei ist nicht sicher, ob das, was sich auf den ersten Blick als Hass zeigt, tatsächlich als Hass zu verstehen ist und ob sich die vielfältigen Formen des Hassens gleichsam auf den gemeinsamen Nenner eines Begriffs bringen lassen, von dem wir unterstellten dürften, er spiele überall dort implizit eine Rolle, wo gehasst wird. Tatsächlich haben wir Grund zu der Vermutung, dass vielfach geradezu leichtfertig von Hass die Rede ist 36, dem man sich überlässt, ohne recht zu wissen, worauf man sich eigentlich einlässt. Die folgenden Punkte (1–14) haben deshalb zunächst lediglich den Sinn einer provisorischen sprachlich-phänomenologischen Explikation einer zur Vernichtung des Anderen tendierenden emotionalen Praxis, die wir Hassen nennen. 37 (1) Immer und unvermeidlich sind wir in das Hassen ganz und gar, rückhaltlos involviert, so dass es aus uns kommt und uns – zumindest im Hinblick auf das Gehasste – geradezu ausmacht. Dennoch: nicht etwas in uns hasst etwas; sondern wir selbst sind es, die hassen, selbst wenn uns Hass ›überkommt‹, so dass wir uns selbst fremd erscheinen. Nichts und niemand kann gewissermaßen an unserer statt hassen. Hass geht allemal von uns selbst aus; auch dann, wenn wir ihn auf anderes zurückführen, das uns anscheinend einen Grund gegeben hat zu hassen; und auch dann, wenn uns das Hassen am Ende derart vereinnahmt, dass es den Anschein haben kann, als seien nicht wir selbst, sondern Hass das Subjekt unseres Lebens. (2) Wir hassen nicht etwas, sondern andere Menschen – oder doch zunächst etwas an ihnen; und zwar derart, dass wir schließlich wirklich sie selbst hassen. Sie aber sind Andere und werden als solche Siehe unten die Bemerkungen zu Aurel Kolnais Differenzierung von Intention, Zweck und Atmosphäre des Hassens. 37 Dabei ist nicht zu erwarten, im Prozess der Explikation werde gleichsam nur ans Licht gebracht, was begrifflich implizit in der Praxis des Hassens ohnehin und immer vorliegt. Vielmehr kann es sein, dass erst durch die Explikation überhaupt realisiert wird, worauf Hass letztlich hinaus will. 36

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gehasst, die uns ihrerseits als Andere hassen, wenn Sartre Recht hat. Wir können nur Andere wirklich hassen; und nur Andere können uns hassen – anders lautenden alltäglichen Redewendungen zum Trotz, die besagen, dass wir auch etwas hassen – von irgendeiner Misslichkeit, die uns in die Quere kommt, über Unordnung bis zur Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. 38 Direkt oder indirekt richtet sich Hass demnach immer gegen jemanden, der uns seinerseits hassen könnte. Freilich richtet er sich nicht nur gegen Einzelne, sondern auch gegen Gruppen, Klassen oder anonyme und abstrakte Subjekte einer bestimmten Art – die wir gar nicht zu kennen brauchen. (3) Wir hassen Andere für etwas, das uns einen Anlass, ein Motiv oder einen Grund bietet. Wenn Kant Recht hat, hassen wir Andere für das Unrecht, das sie uns angetan haben 39; und entsprechend werden wir für nicht wiedergutgemachtes, also fortbestehendes Unrecht selbst gehasst, durch das wir uns verhasst gemacht haben; und zwar umso mehr, wie es vermeidbar war und scheinbar nur auf Willkür zurückzuführen ist. 40 Das genügt, um nicht nur etwas an Anderen, sondern schließlich diese selbst, und zwar als Andere, als verhasst Schon oft ist darauf hingewiesen worden, wie verbreitet und alltäglich ein gewisses Reden von Hass geworden ist, das bei genauerem Hinsehen keine Spur echten Hasses verrät (sondern nur verschärfte Wut über eigenes Misslingen bspw.). Demnach ist es nicht möglich, der zunächst wichtigsten Frage, wie sich Hass zeigt, allein mittels einer sprachanalytischen Rekonstruktion der entsprechenden verbalen Sprachspiele zu Leibe zu rücken. Hass zeigt sich auch dort, wo nicht von ihm (sondern bspw. von Verachtung) die Rede ist; und umgekehrt verrät gerade der geäußerte Hass auf etwas vielfach keine Spur davon, was es mit dem Hass auf Andere auf sich hat, worauf er hinauswill, etc. Zur Beziehung zwischen Hass und Verachtung vgl. Vf., Subtile Gewalt. Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit. Eine Einführung, Weilerswist 2007, Kap. VI. 39 Das fragliche »Unrecht« hat hier allerdings einen sehr weiten Sinn, der sich nicht an einem bereits etablierten rechtlichen Maßstab bemessen lässt, wenn es sich um einen subjektiven Schaden oder um eine subjektive Verletzung handelt, für den man den oder die Gehassten verantwortlich hält. Aurel Kolnai stuft das, was bei Kant Unrecht heißt, ohne Weiteres als »Böses« ein, das »an einen herantritt«, dem man dann aber auch nachgibt und an dem man sich geradezu interessiert zeigen kann, wenn es einem einen Grund geben kann, gegen Andere vorzugehen. (Vgl. A. Kolnai, »Versuch über den Haß« [1935], in: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt/M. 2007, S. 100–142, hier: S. 110 [= VH]). 40 Wofür wir Andere hassen und wofür wir selbst gehasst werden, bedürfte allerdings genauerer Untersuchung. Scheinbar setzt Kant mit dem »Unrecht« einen bereits vorhandenen Maßstab der Verletzung, auf die mit Hass reagiert wird, voraus. Gerade im Horizont einer Weltgesellschaft in statu nascendi kann ein solcher Maßstab aber 38

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erscheinen zu lassen. Das gilt umso mehr, wie die Gehassten ihrerseits in ihrer Position verharren. Das scheint den Hassenden geradezu beweisen zu können, wie ›hassenswert‹ die Gehassten tatsächlich sind. 41 (4) So kann das Gehasste als solches jedoch gegenüber dem, wofür ursprünglich gehasst wurde, eigentümlich verschoben erscheinen. Die Anlässe, Gründe und Motive des Hassens können in eine komplexe Hass-Geschichte eingehen, aus der alter Hass verwandelt hervorgeht. 42 Schließlich kann Hass nicht gedeihen, solange er sich nicht auf eindeutig zu Hassendes richten kann. Hass funktioniert umso besser, je eindeutiger sich den Hassenden das zu Hassende darstellt. Solcher Eindeutigkeit ist jegliche genauere Kenntnis des Gehassten abträglich. Man hasst umso besser, je weniger man vom Gehassten weiß (oder je mehr man von ihm vergessen hat). Andernfalls drohen die Gehassten ihre Eindeutigkeit einzubüßen, die der Hass stets voraussetzt, wenn er die Objekte, denen er gilt, als hassenswert und daher zum Verderben bestimmt einstuft. Wen man aber (besser) kennt, den kann man nicht mehr als ganz und gar hassenswert einnicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden, insofern Prozesse originärer Vergesellschaftung auch neue Maßstäbe hervorbringen können. 41 Kolnai bestreitet mit Recht, dass es objektiv ›Hassenswertes‹ überhaupt gebe (VH, S. 108). Dieses Prädikat haftet nichts und niemandem je als ein reales an wie scheinbar eine objektive Eigenschaft. Dass Andere als hassenswert eingestuft werden, ist stets das Ergebnis einer Verfeindung, die demnach von überhaupt keinem Übel, das jemandem angetan wird, kausal zu bewirken ist, sondern allemal voraussetzt, dass man eine Zumutung, zu hassen, aufgreift und selbst den »Weg des Hassens« einschlägt. 42 Zu dieser Einsicht hat wiederum Freud das Meiste beigetragen. In »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) bekannte er freilich, die »Herkunft« menschlicher »Hassbereitschaft« nicht zu kennen. An anderer Stelle führt er sie auf eine primäre Destruktivität, Aggressionsneigung und Feindseligkeit zurück (»Triebe und Triebschicksale« [1915], in: SA III, S. 75–102, hier: S. 99 ff.), die sich selbst in Liebesbeziehungen ambivalent manifestiere, ursprünglich besonders in der Beziehung zum Vater, die Elemente des Hasses nicht ohne ein für sie eingehandeltes Schuldgefühl beinhalten. (S. Freud, »Das Unbehagen in der Kultur« [1927], in: SA, Bd. IX, S. 191– 270, hier: S. 240 f.) Sowohl diese Elemente als auch diese Gefühle können auf Ersatzobjekte verschoben werden (»Totem und Tabu« [1912/3], in: SA, Bd. IX, S. 287–444, hier: S. 427; »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« [1939], in: SA, Bd. IX, S. 455–581, hier: S. 578 f.). Entscheidend bleibt aber der Einfluss menschlicher Gesellschaft, wenn sie vom Schuldgefühl entbindet und dann dem Hass freien Lauf lässt, der erst unter dieser Voraussetzung gewissermaßen zu sich selbst kommt – gerade nicht aber in einer ›ursprünglichen‹ Form. Vgl. S. Freud, »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« [1915], in: SA, Bd. IX, S. 33–60, hier: S. 41.

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Hassen – sprachlich-phänomenologisch expliziert

stufen. Niemand ist je ganz und gar ›hassenswert‹. Jedes Kennen (-lernen) bedeutet in diesem Sinne das Ende der Eindeutigkeit. Hass bedarf aber der Eindeutigkeit; er funktioniert bzw. ›lebt‹ umso besser, je weniger Zweifel daran bestehen, dass er sich wirklich nur auf ganz und gar Hassenswerte bezieht. Deshalb greift er bei Bedarf zu Mitteln der Vereindeutigung dessen, was nicht an sich eindeutig – eindeutig anders und darüber hinaus mit dem Hassenden unvereinbar, völlig abzulehnen, zu verwerfen und zu vernichten – ist. 43 (5) Hass hat es nicht einfach mit (abgelehnter) Andersheit, Verschiedenheit oder Differenz als solcher zu tun, der man auch aus dem Wege gehen könnte, solange die Welt »groß genug für uns alle« (Kant, WA XII, S. 728) zu sein scheint. Er fixiert sich vielmehr bewusst oder unbewusst auf den Anderen als (verdächtigen, vermuteten oder phantasierten) Grund eines äußerst gefährlichen Übels, welches das Subjekt des Hasses unter keinen Umständen gleichgültig lassen kann, sondern zu äußerster Wachsamkeit und dazu zwingt, gleichsam eine affektive Brandgrenze zwischen sich und dem Anderen zu ziehen. Doch in der Furcht, keine Grenze werde je vor dem Gehassten Ruhe und Sicherheit verschaffen, selbst dann nicht, wenn man sich ihm so weit wie nur irgend möglich entzieht, sieht sich der Hassende dazu genötigt, dem Gehassten ständig zuvorzukommen und schließlich dessen absolute Unschädlichmachung zu imaginieren. So tendiert Hass – praktisch allerdings nicht immer mit letzter Konsequenz – in Richtung auf eine ultimative Finalität. Kant nennt es »Verderben« – worunter man sich vieles vorstellen kann. Nicht nur die »Hölle«, zu der man verhasste Andere schickt, die aber noch eine Rechtsfiktion war, in der nicht etwa das Unrecht, sondern eine göttliche Gerechtigkeit walten sollte. Nichts dergleichen ist gemeint, wo man sich daranmacht, aus eigener Machtvollkommenheit Andere »zur Hölle zu schicken« (die man ihnen eigens bereiten muss). Dadurch soll ihnen gerade nicht Gerechtigkeit, sondern absolutes Verderben drohen, das allenfalls als solches noch als ›verdient‹ zu gelten hätte. Aurel Kolnai, dem wir einen bemerkenswerten Versuch über den Hass (1935) verdanken, hat an dieser Stelle genauer die (aktuelle) Gerade die Nähe zum Anderen kann zur Einsicht in eine – unannehmbare – Ähnlichkeit führen, die verdrängt werden muss, wenn sie ›nicht sein darf‹. Auf dem verleugneten Untergrund realisierter Ähnlichkeit funktioniert dann eine projizierte Unvereinbarkeit mit dem Anderen, die das Hassen zum Ausdruck bringt, aber so, dass es die Ähnlichkeit möglichst konsequent zum Verschwinden bringt, so dass man nichts mehr mit den Gehassten gemeinsam zu haben meint.

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»Intention« des Hasses, seinen »Zweck« und eine eigentümliche »Atmosphäre« unterschieden, die auch ein nicht aktuell auf Vernichtung des Anderen abzielender Hass heraufbeschwöre. Dieser Unterscheidung zufolge kann es sein, dass ein gegenwärtig nicht ›lodernder‹ oder ›wilder‹, vielmehr kalter, disziplinierter, gleichsam auf Dauer gestellter oder zur schlechten Gewohnheit gewordener Hass, der keinen natürlichen Zweck hat (wie Kolnai sagt), dennoch eine Finalität der Vernichtung heraufbeschwört, ohne direkt auf sie abzuzielen. 44 Manches lässt sich von der Sprache des Hasses ablesen, die verhassten Anderen nicht bloß mitteilt, dass sie verhasst sind, sondern auch ihrerseits Hass ausdrückt und von neuem antut. Worte bringen Hass zum Ausdruck und sind eine Form des Hasse(n)s selbst – gemäß jener nicht erst John L. Austin und der Sprechakttheorie, sondern schon dem Alten Testament (fiat lux) und Platons Hinweis auf eine »Gewalt des Mundes« 45 zu verdankenden Einsicht, dass man etwas mit Worten tun kann. Dem Hass genügen am Ende aber keine bloßen Worte mehr. Das kommt deutlich genug zum Ausdruck, wenn Parolen wie diese skandiert werden: »Tod den …«, »Down with …«, »Écrasez l’infâme …« – und wenn man einschlägige Symbole verbrennt, auf deren Asche herumtrampelt und sie zerstreut. Genau das soll schließlich mit den verhassten Anderen selbst geschehen: Man Kolnai, VH, S. 106–108. Der Autor hält den Hass im Hinblick auf jene Finalität für letztlich ziemlich phantasielos (VH, S. 117–120). Nur der Liebe traut er eine weltstiftende Vielfalt zu, wohingegen sich Hass in allen seinen Erscheinungsformen immer auf das Gleiche fixiert erweise: auf die Vernichtung des Anderen (als des Anderen, wie ich hinzufügen möchte). Der Begriff der Vernichtung kann indessen vom Bewirken des »Nichtseins eines Gegenstandes« (VH, S. 117), über ein Aus-demSinn-schlagen und vollkommenes Übersehen bis hin zum bürgerlichen Ruin, zur Verbannung, Tötung und »metaphysischen Entweihung« (VH, S. 105) ganz Unterschiedliches meinen. Und schließlich hat auch dieser Begriff eine Geschichte, wie bes. die desaströsen Verbrechen des 20. Jahrhunderts beweisen, in denen bis dahin ungeahnte Projekte der Vernichtung für immer ausgedacht und teilweise in die Tat umgesetzt worden sind. Kolnais, aus den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammender, Text reflektiert das nicht. Allerdings bringt er eine Historizität des Vernichtungsgedankens ins Spiel, wo er darauf hinweist, dass eine vom Anderen gereinigte bzw. befreite Welt einen (politischen) Manichäismus impliziere (VH, S. 133), der in der einschlägigen Religionsgeschichte seine Wurzeln habe. Die aber habe das antike Griechenland bspw. nicht gekannt. Im Übrigen wäre Kolnai mit Nietzsche auch eine ›Kreativität‹ des Hassens entgegenzuhalten, die immerhin Gleichgesinnten zugutekommen kann, wenn sie ihre Welt gegen Gehasste abgrenzen. So bedürfen aber auch sie stets Anderer; niemals kann Hass eine kosmopolitische Welt stiften. 45 Platon, Symposion, 215c; Euthydemos, 284c; Nomoi, 679e, 701d, 935a. 44

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will ihnen das Schlimmste antun, zunächst in der Phantasie und symbolisch, wenn sich die Gelegenheit bietet auch ›wirklich‹ ; und zwar vor dem Tod, im Tod und über den Tod hinaus, so dass am Ende nicht einmal mehr Asche zurückbleibt – wohl aber, unvermeidlich, die Erinnerung an die vernichtende Konsequenz des Hassens selbst. So ist es ironischerweise das Hassen selbst, was einer endgültigen, rest- und spurlosen Vernichtung am Ende im Wege steht. Es kann sich nur so zu den Verhassten verhalten, als hätte es sie nie gegeben. Genau dadurch aber verrät es, dass es sie gegeben hat und bleibt von ihnen selbst dann noch abhängig, wenn es sie nicht weitergehend vernichten kann. Dann sieht sich Hass auf sich selbst und auf die nur noch in ihm präsenten Objekte des Hassens zurückgeworfen. Die vernichtende Konsequenz des Hassens kann sich letztlich nicht mit bloßen Worten begnügen (so einschneidend Andere – auch in ›verklausulierter‹ Sprache – symbolisch der Vernichtung preisgegeben werden können – man denke nur an den »Wind«, den man im ruandischen Radio angekündigt hat, kurz bevor es in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Genozid kam 46). Hass tendiert letztlich dahin, ganz, restlos und endgültig zu vernichten (auch wenn die Praxis des Hassens selbst, unter gegebenen sozialen, kulturellen, politisch-rechtlichen Umständen, vielfach selbst vor dieser Konsequenz zurückschreckt). Infolgedessen droht sich Hass vermittels der Vernichtung des Gehassten selbst aufzuheben. So käme am Ende den Hassenden ihr Hass durch diesen selbst abhanden. (6) Demgegenüber gefällt Hass sich darin, die Verhassten zu Lebzeiten und im Sterben noch ein wenig aufzuhalten, um sich selbst zu genießen. Zerstörung und gewöhnlicher Tod genügen dazu nicht. Noch vor dem Tod sollen die Anderen – möglichst auch deren Angehörige, durch die sie am meisten zu verletzen sind, Kinder, Frauen, Greise, Wehrlose aller Art – vor den Augen der Verhassten nach eigenem Gutdünken der Hassenden ihren Ruf, dann ihr Hab und Gut, schließlich auch alles andere und den Verstand verlieren, ums Leben kommen, dann möglichst für immer vernichtet werden. So diskriminiert und verleumdet man sie in einem ersten Angriff, sondert sie dann aus, konzentriert sie an geeigneten Orten und vergast, verbrennt oder verscharrt sie schließlich und macht über ihren gegebenenfalls noch identifizierbaren Überresten den Erdboden gleich, als 46 E. Mujawayo, S. Belhaddad, Ein Leben mehr. Zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda, Wuppertal 22005, S. 81 f., 144, 180.

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ob es die Gehassten niemals gegeben hätte, und so, dass sie niemals mehr zurückkommen können – möglichst auch nicht in der eigenen Erinnerung der Hassenden, deren Hass eigentlich mit der restlosen Vernichtung ihrer vermeintlichen Feinde zur Ruhe kommen müsste. (7) So tendiert Hass dazu, sich selbst aufzuheben – oder sich neue Opfer suchen zu müssen – wenn die Hassenden nicht ohne ihren Hass auskommen können, wenn sie Feinde weniger ›haben‹ als vielmehr ›brauchen‹, um sich wenigstens auf diese Weise ihrer Existenz versichern zu können nach der Devise: ich hasse, also bin ich; wir hassen (euch), also sind wir. 47 Wir hassen euch oder Andere, gleichviel, Hauptsache wir hassen überhaupt. So kann Hass bzw. seine Aufrechterhaltung zu einer Frage des Überlebens für diejenigen werden, die die Verhassten bereits losgeworden sind und infolgedessen nun mit leeren Händen dastehen. Schlimmer, so scheint es, als hassen zu müssen, ist es, nicht mehr hassen zu können, obwohl man eigentlich hassen muss, wenn die eigene Existenz davon abhängt, die sich vom Hass abhängig gemacht hat. Wenn aber die Anderen, denen er galt, nicht mehr da sind, wohin soll sich der Hass dann wenden? Kann es ihm genügen, die verhassten Anderen in Erinnerung zu behalten und sich darin zu befriedigen? Oder wird er sich mangels greifbarer Hassobjekte schließlich gegen diejenigen wenden, die den Hass überlebt haben – bis schließlich nur noch ein hassendes Subjekt übrig bleibt? (8) Geht man den Anlässen, Motiven und Gründen von Hass nach, so hat es zunächst den Anschein, als gelte Hass stets nur dem (an sich) hassenswerten Unrecht, als müssten wir hassen, weil die Gehassten, die es verschuldeten, den Hass hervorgerufen (!) haben und ihn auf sich ziehen mussten. 48 Wenn man sich dem Hass aber hingibt – und man kann überhaupt nicht einfach hassen; stets überlässt man sich ihm, gibt sich ihm hin und liefert sich ihm infolgedesVgl. G. Anders, »Die Antiquiertheit des Hassens«, in: R. Kahle, H. Menzner, G. Vianni (Hg.), Haß. Die Macht eines unerwünschten Gefühls, Reinbek 1985, S. 11–32, hier: S. 12. 48 Das ist eine schlechte und daher weiter bedenkenswerte Alternative: entweder hat Hass seinen zureichenden Grund im Gegebensein von objektiv Hassenswertem (das man nicht umhin kann, zu hassen), oder aber Hassenswertes ruft unseren Hass ›hervor‹, so als ob er uns immer schon bewohnte und nur noch bestimmter Objekte bedürfte, um sich zu äußern. Historische Befunde belegen, dass selbst schlimmste UnTaten nicht absolut zwangsläufig Hass nach sich gezogen haben, so dass es den Anschein hat, als könne Hass erst dann über uns zu herrschen beginnen, wenn wir uns ihm auch ausliefern und insofern entgegenkommen. 47

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sen auch aus –, dann wird man derart zu einem Hassenden oder zu einem Hasskollektiv, dass es kaum mehr möglich scheint, wieder von ihm abzulassen. Hassende kommen nicht zur Ruhe. Ihre Unruhe liegt nicht allein im eventuell gegebenen und fortbestehenden Anlass zu Hass, sondern auch in der eigentümlichen Virulenz unbefriedigten Hasses, der, wie Kant feststellte, nicht ruht, bevor die Verhassten ihre verdiente Strafe ereilt hat. In der Vorstellung dieser Strafe mag eine eindeutige Befriedigung liegen (nicht zuletzt die Befriedigung einer Vereindeutigung, die das soziale und das politische Leben kaum je gestattet). Aber Hass kann sich, wie es scheint, nicht damit begnügen, sich diese Strafe nur auszumalen. Sie muss die Anderen wirklich wenigstens irreversibel schädigend (wenn schon nicht endgültig vernichtend) treffen. Davon sollen sie sich niemals mehr erholen. Aber wie könnte das je als gesichert gelten? Solange das nicht endgültig erreicht ist, bleibt Hass voller Unruhe, die den Hassenden zugleich intensives Leben bedeutet – aber auch Abhängigkeit von der ungestillten Dynamik des Hassens selbst, das es niemals ausschließen kann, dass die Verhassten sich wieder von ihm erholen werden – wenn nicht vor ihrem Tod, dann doch vielleicht in einem anderen, neuen Leben derer, die sie beerben werden. (9) Die eigentümliche Unruhe des Hasses zeigt: man kann nicht souverän hassen. Für Nietzsche wäre das der einzig akzeptable Hass gewesen: der souveräne Hass, nicht etwa der niederträchtige, bloß aus Ressentiments gespeiste Hass. Aber man kann nicht hassen und jederzeit von ihm lassen. Im Hass wird man schließlich derart zu einem Hassenden, dass einen der Hass ausmacht, so dass er nicht mehr ›abzulegen‹ ist wie irgendeine Marotte. So wird Hass zu einer Form des In-der-Welt-seins, die die Hassenden existenziell ausmacht. Insofern führt es in die Irre, wenn diese sagen: »ich hasse dich«, »wir hassen euch«. Solche Rede ist nur der Versuch, sich den Hass wieder zu eigen zu machen, der viel mehr die Hassenden ›hat‹, als dass sie den Hass hätten. Sie ›haben‹ den Hass nicht, wenn sie sich ihm überlassen haben und ihn in sich tragen; der Hass hat vielmehr sie, indem sie ihn leben und auf diese Weise zulassen, dass er ihr Leben durchdringt. 49 So leidenschaftlich und aktiv-bösartig sich Hass auch aufführen mag, Dennoch haben wir den Hass allemal uns selbst zuzurechnen, wie oben (Abschnitt 3 [1]) festgestellt wurde. So wie man sein Leben lebt (Heidegger sprach in diesem Zusammenhang von transitiv-intransitiver Zweideutigkeit), so lebt man auch

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als eine Art und Weise des Lebens im Modus des Hasses, die ihn lebt, muss er doch die Form einer pathologischen Leidenschaft annehmen, die den Hassenden ungeachtet ihres hasserfüllten Tuns widerfährt wie eine schleichende Selbstvergiftung. So verquickt sich die Leidenschaft, der man sich im Hassen überlässt, mit einem Leiden an ihm, das den Hassenden unweigerlich auch selbst widerfährt. (10) Aber wie ist dergleichen überhaupt möglich? Wie kann es sein, dass sich das Leben Einzelner oder ganzer Kollektive im Hass, der doch Anderen zu gelten scheint, selbst vergiftet – und mit der letzten Konsequenz, auf eine Welt ohne die Anderen abzuzielen, in der die Hassenden mit sich allein wären? Von Max Scheler über Carl Schmitt bis hin zu Jean-Luc Marion treffen wir mit unterschiedlichen Begründungen auf die These, dass wir ursprünglich uns selbst hassen, dass also ›der‹ Hass immer schon auf der Welt ist. 50 Demnach hasse ich mich – wie einen Anderen (oder wie ein Anderer). In uns selbst würden wir demzufolge auf jene Alterität treffen, ohne die es keinen Hass geben kann. Wir sind selbst (wie) Andere oder wir begegnen uns als solche – oder wir machen uns zu Anderen, um nicht wir selbst sein zu müssen (Søren Kierkegaard 51). Alle diese Spielarten der ›Veranderung‹ 52 beschäftigen mehr oder weniger ein Selbstsein, dem eine beunruhigende Alterität von Anfang an innewohnt. Nur als in sich veranderte erfahren wir auch eine Vergesellschaftung, die dem Hassen ungeahnte Aussichten eröffnet. (11) Vergesellschaftet werden Wesen, die allesamt eine für sie selbst und für Andere weitgehend intransparente Vorgeschichte hinter sich haben. Vor fragwürdigen anthropologischen Verallgemeinerungen sollte man sich allerdings in Acht nehmen und nicht daraus den Schluss ziehen, es müsse sich um die Sozialisation immer schon sich selbst hassender Wesen handeln, die nur nach passenden Geden Hass. Allerdings in ganz verschiedener Art und Weise. Ihn leben, heißt nicht unbedingt auch, ihn auszuleben. 50 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bern 1974, S. 154; C. Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951, Berlin 1991; J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg i. Br., München 2011, § 12. Im Gegensatz zu dieser m. E. leichtfertigen und in ihrer Anlehnung an metaphysische Interpretamente auch überholten Redeweise mit Hilfe des bestimmten Artikels ziehe ich wo immer möglich die verbale Form des Hassens vor, da sie nicht suggeriert, was erst zu zeigen wäre: dass in höchst unterschiedlichen Äußerungsformen von Hass tatsächlich jedes Mal das gleiche Phänomen ›des‹ Hasses in Erscheinung tritt. 51 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Frankfurt/M. 1984. 52 Siehe dazu das Kap. VIII.

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legenheiten suchen, ihr soziales (oder ungeselliges) Unwesen zu treiben. Es genügt zu sagen: immer werden Hassende dabei sein, auch solche, die nicht erst durch Andere in Hass verstrickt werden, sondern förmlich nach Hassobjekten suchen, auch dann, wenn sich gerade keine passenden anbieten. Fehlten nicht dem hasserfüllten Antisemitismus die wirklichen Juden? 53 War es den NS-Antisemiten nicht gleichgültig, wer sich als Jude verstand? Haben sie nicht ohne Umschweife erklärt, »wer Jude ist, bestimmen wir«? 54 Hier haben wir es mit einer Vergesellschaftung des Hasses zu tun, in der man (a) kollektive Ziele ausmacht und definiert und (b) sich (Pseudo-) Gemeinschaften bilden, die durch Hass zusammenhalten, (c) indem sie sich Andere verhasst machen (weit über persönliche feindselige Gefühle hinaus, die Unbekannten eigentlich gar nicht gelten können). Bis zu diesem Punkt gediehen, kann schließlich (d) die Sprache des Hasses um sich greifen und hingenommen werden, so dass sie ohne weiteres als akzeptabel erscheint. Werden in dieser Sprache Affekte verbalisiert, so spielt man immer ein soziales, politisches Sprachspiel, in dem hasserfüllte Rede nicht ohne weiteres selbstverständlich ist. 55 Unter öffentlichem Druck kann sich diese Rede dazu gezwungen sehen, ihren Hass zu kaschieren. Dann muss sog. hate speech erfinderisch werden, so dass sie von keiner Sprachpolizei in den Griff zu bekommen ist. 56 Nicht das Recht, vielmehr nur die gelebte Demokratie, die demokratische Lebensform kann versprechen, eine angemessene Antwort auf hate speech zu geben – indem sie einerseits nicht das ganze SpekVgl. L. Poliakov, The Harvest of Hate. The Nazi Program for the Destruction of the Jews of Europe, New York 1954, S. 111, 285; J.-P. Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek 1994; E. Levinas, »Sartre entdeckt die heilige Geschichte«, in: ders., Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 131 ff. 54 Ein Spruch, der in verschiedenen Varianten u. a. dem ehemaligen Wiener Bürgermeister K. Lueger und J. Goebbels zugeschrieben worden ist – worauf es hier aber nicht ankommt. Es geht vielmehr um die Logik einer hasserfüllten Verfeindung, die keinerlei Rücksicht auf das Selbstverständnis der Verhassten nehmen kann und will. https://de.wikipedia.org/wiki/N%C3%BCrnberger_Gesetze#cite_note-9. 55 Sie kann aber auch derart selbstverständlich werden, zumindest rein verbal, dass man kaum noch darauf schließen kann, ob Hass wirklich vorliegt, wo er scheinbar zum Ausdruck gebracht wird. Heute wird alles Mögliche ›gehasst‹, von der kleinsten Widrigkeit bis hin zu Weißen, Schwarzen, Amerikanern usw., so wie auch alles Mögliche als ›Desaster‹ bezeichnet wird, von schlichter Unordnung bis hin zu gewissen Naturereignissen oder einer ökologischen oder menschlichen Katastrophe. 56 J. Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. 53

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XXIX · Andere hassen

trum von Ausdrucksformen von Hass inkriminiert 57, andererseits aber auch subtilen Äußerungsformen nachgeht und nicht müde wird, die politischen Absichten des Hassens bloßzustellen, die sich darin ankündigen, dass man Andere heruntermacht, bis man sie verächtlich mit Füßen treten kann – und zwar ohne Ende, bis in den Tod hinein und über den Tod hinaus (VH, S. 105). (12) Gerade in seinen ›vergesellschafteten‹ Formen offenbart Hassen am deutlichsten seinen eigenen, inneren Widersinn: (a) Es kann nicht aus eigener Kraft am Leben bleiben; es braucht die verhassten Anderen, obwohl es auf eine Welt ohne ›Andere‹, denen es das Verderben wünscht, hinausläuft; eine Welt, in der man am Ende dem Selbsthass ausgeliefert wäre. (b) Zu diesem Verderben darf es deshalb nicht endgültig kommen: die Anderen müssen als immer wieder zu Hassende im Spiel bleiben. Deshalb muss Hass seinen Opfern häufig eine Atempause gönnen, sie wieder zu Kräften kommen lassen, um ihnen erneut zusetzen zu können. (c) Er braucht also seine Opfer; er ist uneingestanden schwach; er ist die gewaltsamste Manifestation menschlicher Schwäche (die dadurch nicht Macht wird, sich aber gerne mit ihr verwechselt). (d) Hass darf seine Objekte nicht einmal wirklich kennen – insofern muss er auch sich selbst notorisch missverstehen. Ständig drohen ihm seine Objekte zu entgleiten, denn sie verändern sich und erweisen sich ihrerseits als verandert. Am Ende muss Hass zum Notbehelf greifen: wer (wie) zu hassen ist, bestimme ich bzw. bestimmen wir, heißt es dann. Es ›interessiert‹ ihn überhaupt nicht und darf ihn gar nicht interessieren, wer die Anderen ›wirklich‹ sind, als wer sie sich verstehen. Denn wüsste er es, so wäre es um die Eindeutigkeit des (aus seiner Sicht) Hassenswerten geschehen. Deshalb muss sich der Hass zur Alterität der Anderen rücksichtslos verhalten und sich gerade darin gefallen. Er muss aus seiner ›Not‹ eine Untugend machen. Wie auch immer die Gehassten sich ändern oder sich als Andere herausstellen können, der Hass muss beim Gehassten bleiben. Er zwingt sich dazu, in einer ungeschichtlichen Identität zu verharren. Indem er das politische Leben durch stärkste Affekte intensiviert, mauert er es ein. Virtuell stellt er die Welt ohne Andere bereits her, u. U. paradoxerweise mit Anderen in einer identitären Solidarität, die es leugnen muss, mit einer inneren Veranderung zu tun zu haben. Alles in allem scheint Hass auf einen Traum der Selbstherrlich57

Man denke an die Rap-Kultur.

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Hassen – sprachlich-phänomenologisch expliziert

keit hinauszulaufen. 58 Wer hasst – eindeutig – ohne Rücksicht – unbedingt – zusammen und vollkommen einig mit Anderen –, der scheint ganz er selbst sein zu können. Tatsächlich aber handelt es sich um diejenige Position der Schwäche, die am konsequentesten leugnet, derart schwach zu sein, wie es hier beschrieben wurde. (13) Mündet all das nun nur in die Frage, wie wir dafür sorgen können, dass man nicht hassen muss bzw. dass man nicht zum Hass als Notbehelf eines in die Defensive geratenen Lebens greifen muss, das sich anders nicht zu helfen weiß (aber das niemals eingestehen wird)? Das würde dafür sprechen, das Hassen auf ein Problem fehlgeleiteter Sozialisation und klinischer Pathologie zu reduzieren – mit der Konsequenz, eine Vergesellschaftung des Hassens so weit wie möglich zu unterbinden – und den Schwachen schonend beizubringen, wie schwach sie wirklich sind. Wirklich Überlegene brauchen scheinbar überhaupt keinen Hass. Sie bedienen sich eher der kalten Verachtung, deren Triumph sich nicht im wutentbrannten Hass, sondern im mitleidig-herablassenden Lächeln à la Nietzsche zeigt. 59 Dazu ist der Hass des Unterlegenen 60 niemals in der Lage. Er bringt weder dieses fadenscheinig humane Lächeln noch irgendeinen Humor auf. Ihm ist es gnadenlos ernst, mit Anderen und mit sich selbst. 61 Und in der eingebildeten äußersten Verschiedenheit im Verhältnis zu den Gehassten kann er doch die Distanz zu ihnen nicht wahren, schon gar nicht mit dem geringen Aufwand eines Lächelns. In der Distanz, die der Hassende selbst durch Hass aufrechterhält, weiß er sich den Anderen doch so nahe, dass er sie hassen muss. Er kann sie nicht nicht hassen und bleibt zu weiterem Hass verurteilt. (14) Und wir? Müssen wir nicht hassen, sind wir nicht so schwach, hassen zu müssen? Stehen wir über dem Hass und brauchen ihn nicht? Das möchte ich abschließend zu bedenken geben: Hass Ähnlich sagt T. Eagleton vom Bösen: »pure autonomy is a dream of evil«; in: On Evil, New Haven, London 2010, S. 12. 59 Vgl. F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 5, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, S. 271 f. 60 Dabei handelt es sich nach dem oben zur Schwäche Gesagten typischerweise gerade um hasserfüllte Täter, nicht um deren Opfer. 61 Das betont auch Kolnai, wenn er sagt, der Hassende müsse das Gehasste bzw. die Gehassten ganz ›vollnehmen‹, d. h. nicht nur ›ernst nehmen‹, sondern auch gewärtigen, dass das Gehasste bzw. die Gehassten (wieder) gefährlich werden können (ob ›wirklich‹ oder aufgrund einer Einbildung des Hassenden, bleibe dahingestellt). 58

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kommt nicht nur aus uns, er kommt auch auf uns zu in der scheinbar objektiven Form des Hassenswerten 62, das man in der heute vorherrschenden Pathologisierung und Moralisierung des Hasses leicht zu übersehen neigt. Man stelle sich ein ökologisches Desaster vor – wie es im von westeuropäischen Firmen hinterlassenen ölverschmierten afrikanischen Nigerdelta angerichtet worden ist, in vermutlich vollem Bewusstsein, die Lebensgrundlagen der dort Lebenden ruiniert zu haben. 63 Oder man denke an Fälle wie den offenbar von höchster Stelle Jahrzehnte lang gedeckten, inzwischen aber akribisch rekonstruierten, exzessiven sexuellen Missbrauch gehörloser und bewusst wehrlos gemachter Kinder in kirchlichen Einrichtungen des amerikanischen Bundesstaates Wisconsin oder in den Gemeinden Irlands. 64 Oder man rufe sich Praktiken systematischer Grausamkeit in Erinnerung, wie sie im ruandischen Genozid verübt worden ist. 65 Wie könnte man in solchen Fällen (wenn man ihnen nahe genug gekommen ist) Gefühle der Empörung, des Zorns oder auch des Hasses vermeiden? 66 Zeigt sich Hass aber überhaupt als eindeutig von diesen gewissermaßen verwandten Affekten zu unterscheidende ›Leidenschaft‹ (so wie Kant sie beschrieben hat)? Sortieren sich unsere politischen Gefühle nicht erst im Nachhinein? Was zu Hass Anlass gibt und wütend macht, ist noch kein politischer Zorn; und ungerichteter Zorn ist noch lange keine politisch sinnvolle Empörung, die in gezielten Protest übergehen kann. Keines dieser Gefühle stellt sich ohne weiteres, d. h. ohne unsere deutende Mitbeteiligung, eindeutig Womit ich nicht sagen möchte, es könne ›an sich‹ Hassenswertes geben. Auch wenn wie eine Art Evidenz festgestellt wird, etwas oder jemand sei hassenswert, so handelt es sich immer um eine attestierte ›Objektivität‹, niemals um einen davon unabhängig bestehenden Sachverhalt. 63 www.amnesty.ch/de/themen/wirtschaft-menschenrechte/shell-nigeria/dok/2011/ uno-bericht-oelverschmutzung-nigerdelta. 64 Die Sendung dazu wurde unter dem Titel Mea Maxima Culpa. Stille im Haus des Herrn am 22. 10. 2013 auf arte ausgestrahlt. Siehe http://www.arte.tv/guide/de/0505 20-000/mea-maxima-culpa. 65 S. Lindquist, Durch das Herz der Finsternis, Frankfurt/M., New York 1999; Mujawayo, Belhaddad, Ein Leben mehr. Zehn Jahre nach dem Völkermord in Ruanda. 66 Solche Gefühle sind als Widerfahrnisse grundsätzlich nicht zu moralisieren bzw. ohne weiteres moralisch zu verurteilen, wie es heute vielfach in einer Kultur geschieht, die sich weitgehend der Gewaltlosigkeit verpflichtet, ohne angemessen der Gewaltsamkeit Rechnung zu tragen, die man sich vielfach affektiv zuzieht, ohne darum schon zum Gewalttäter werden zu müssen. 62

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Der ›inkonsequente‹ Hass bleibt uns erhalten

als solches dar. Auch Gefühle bedürfen der Interpretation, zumal im politischen Horizont einer Vergesellschaftung, die speziell dem Hass heute nicht nur jegliche moralische Berechtigung zu entziehen scheint, sondern ihm auch nachweisen kann, wie widersinnig seine eigentliche Grundintention ist, die auf eine finstere Welt ohne Andere hinausläuft.

4.

Der ›inkonsequente‹ Hass bleibt uns erhalten

So mag der Anderen geltende Hass eine wirklich hoffnungslose Angelegenheit sein; gleichsam ein existenziell und politisch abschüssiges Gelände, das vor allem die Hassenden nicht mehr überwinden werden, sobald sie sich ihrem Hassen hingegeben haben, das den Ausdruck ihres Selbst zugleich erfüllt und verzerrt bzw. mit Verzerrung erfüllt. Aber wir sind über Hass nicht einfach moralisch erhaben, sobald wir unausweichlich mit unverantwortlichem und grausamem Tun konfrontiert sind, das vielfach eine mélange von Hass, Wut, Zorn und Empörung hervorruft, die erst nachträglich eine Klärung der Gefühle erlaubt, welche berechtigterweise in Bewegungen politischen Protests eingehen können, dürfen und müssen, wenn sie kraftvoll und nachhaltig sein sollen. 67 Hier stellt sich die Frage, wie die unabdingbare Mobilisierung politischer Affekte so erfolgen kann, dass sie ihrem politischen Sinn nicht zuwiderläuft. Politisch kann dieser Sinn nur sein, wenn er sich an Andere wendet und sie nicht, als Andere, leugnet, preisgibt oder ihnen Verderben androht – selbst dann nicht, wenn sie ihrerseits Andere ins Verderben gebracht haben. Politisch müssen wir glauben, sie seien allemal besser als das, was sie angerichtet haben. 68 Andernfalls wäre die Konsequenz womöglich nicht zu vermeiden, sie selbst für das zu hassen, was sie getan Vgl. S. Hessel, Empört euch! Indignez-vous!, Berlin 2010. Bezeichnenderweise glaubt dieser Autor dazu eigens auffordern zu müssen, sich »umzuschauen«, um »genug Themen« zu finden, sich zu empören. Offenbar geht er davon aus, es mangele weitgehend an einer entsprechenden Wahrnehmung dessen, was um uns vorgeht, darunter Formen eines zweifellos nicht nur aus schierer Verzweifelung, sondern aus Hass gespeisten Terrorismus, den Hessel unter Hinweis auf Sartre relativiert, der gesagt hatte, Terrorismus sei »in einem gewalttätigen Universum« »verständlich«. Allerdings dürfe man es »nicht zulassen«, dass sich »Hass anstau[e]«, der dann zum Nährboden des Terrorismus werden könne. 68 P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 759. 67

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haben. So würde am Ende der Hass im Hass gegen das Hassenswerte triumphieren, insofern er darin seinen letzten Grund zu finden scheint. Was auch immer Politik in lokalen, nationalen, internationalen und globalen Horizonten versuchen kann, sie muss mindestens versprechen, sich dem zu widersetzen. Andernfalls würde sie Hass nicht nur als ›Schattenseite‹ ihrer selbst bedingen, sondern ihrerseits eine weltweite Vergesellschaftung in und durch Hass nach sich ziehen. Das aber wäre eine in sich widersinnige Form der Vergesellschaftung, wenn es denn stimmt, dass Hass, der sich nicht allein an hassenswerten Sachverhalten entzündet, sondern auf Andere selbst abzielt, sie letztlich aus jeglicher menschlichen Welt zu tilgen sucht und sich womöglich nur deshalb nicht zu dieser letzten Konsequenz hinreißen lässt, weil er dann ohne sie auskommen müsste und auf sich selbst zurückgeworfen wäre. So gesehen ist es paradoxerweise die dem Hass vielfach innewohnende Inkonsequenz, die bewirkt, dass er uns erhalten bleibt als ein oft glühendes und immer wieder aufflackerndes Begehren nach einer Welt, in der jegliche Spur des Anderen, d. h. letztlich: aller anderen gelöscht wäre, insofern sie Andere sind und unserem Hass niemals restlos zu Gebote stehen können. Das Thema dieses Kapitels (»Andere hassen«) ist vor dem skizzierten Hintergrund zweideutig, denn es lässt Andere sowohl als Objekte des Hassens als auch als dessen Subjekte in Betracht kommen. Beides trifft nach der hier vertretenen Auffassung zu: nur Andere können hassen; und nur Andere können wirklich gehasst werden – gerade insofern sie Andere sind und sich infolgedessen jeglichem theoretischen und praktischen Zugriff letztlich entziehen. Zumindest in seinen radikalen Formen scheint Hass das zu leugnen. Er bezieht sich radikal auf Andere, deren Anderheit er doch symbolisch oder physisch aus der Welt zu schaffen sucht. Kraft dieser Anderheit aber weiß er sich zugleich zutiefst verstrickt mit ihnen und insofern den Anderen gleich. Nur Gleiche, die zugleich auch für einander Andere sind, können derart (einseitig oder gegenseitig) gegen Andere vorgehen, dass sie gerade das, was sie eigentlich zu »Anderen« macht, in letzter Instanz liquidieren wollen – sei es auch dadurch, dass jegliche Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft mit ihnen abgestritten wird. Die Frage ist, wie dazu ein nicht seinerseits von Hass erfülltes Verhalten möglich ist, das sich nicht in die gleiche Aporie verstrickt: Muss nicht jeder Versuch einer solchen Liquidierung als par excellence hassenswert gelten? Wenn ja, wie wäre es dann zu vermeiden, gerade diejenigen zu hassen, die ihn unternehmen? Wie sollte man 1030 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Der ›inkonsequente‹ Hass bleibt uns erhalten

es also vermeiden, seinerseits nicht jegliche Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft mit ihnen, die im Hass jegliche menschliche Verbindung zu Anderen abgebrochen haben, in Abrede zu stellen? Muss aber nicht gerade ein solcher Abbruch (oder Versuch des Abbruchs) als par excellence ›menschlich‹ gelten? Nach allem, was wir wissen, können in der Tat nur Menschen ihr Un-Wesen derart treiben, dass sie jegliche Verbindung zum Anderen, der ihnen gleicht, abbrechen wollen (wie es schon aus der Rhetorik eines einfachen Zerwürfnisses hervorgeht, an dessen Ende die vermeintliche Einsicht steht, man habe nichts mehr miteinander gemeinsam). Das gilt auch für diejenigen, die ›radikal‹ gegen den Hass selbst vorgehen wollen. Das dem Licht des Begreifens unzugängliche ›Unvorstellbare‹, nämlich eine Welt ohne den Anderen, auf die Hass abzuzielen scheint, kündigt sich auch in einem Verhalten an, das vernichtend gegen Hassende jeglicher Couleur vorzugehen verlangt. Der bedrohliche Schatten, den Hass auf eine Welt-Gesellschaft in statu nascendi wirft, fällt auch durch ein Denken auf sie, das auf diese Weise vom Hass zu befreien verspricht.

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Kapitel XXX Dem ›alten‹ Krieg und ›neuen‹ Kriegen ausgesetzt – im Zeichen des Äußersten Revision der menschlichen conditio historica im Lichte der neueren Gewaltgeschichte? In der verzerrtesten Gestalt kann man das Menschliche noch spüren. […] man könnte also füglich mit Salomo sagen: es gibt nichts Neues unter der Sonne. Georg W. F. Hegel 1 Wir hatten keine Zukunft und konnten tun, was wir wollten […], und wir kannten keine Angst. Wir waren nicht menschlich. Nuruddin Farah 2 Woran merken Sie, ob ein neuer Gedanke wirklich wichtig ist? […] Daran, daß mich ein Gefühl tiefen Schreckens ergreift. Heinar Kipphardt 3

1.

Der Gewalt und dem Krieg ausgesetzt – wie seit jeher? Rückfragen an die conditio humana

›Immer schon‹, so weit menschliches Gedächtnis und anthropologische Forschung zurückreichen, waren die Menschen einander rückhalt- und bedingungslos ausgesetzt – »im Guten wie im Schlechten vereint« in einer »Gemeinschaft ohne Gemeinschaft«, »zum Besten und zum Schlimmsten versammelt«, wie es bei Maurice Blanchot bzw. bei Jacques Derrida heißt. 4 Hat sich daran irgendetwas geändert infolge diverser Prozesse der Moralisierung, der Disziplinierung, der G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 61994, S. 51. 2 N. Farah, Yesterday, Tomorrow. Stimmen aus der somalischen Diaspora, Frankfurt/ M. 2003, S. 54. 3 H. Kipphardt, In der Sache J. Robert Oppenheimer, Frankfurt/M. 2005, S. 92. 4 J. Derrida, Politik der Freundschaft [1994], Frankfurt/M. 2002, S. 492; M. Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 87. 1

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Der Gewalt und dem Krieg ausgesetzt – wie seit jeher?

Zivilisierung, der Kultivierung oder der Humanisierung der menschlichen Gattung, von denen man seit der Aufklärung so viel Aufhebens macht und die sogar zu ›menschlicheren‹ Arten der Kriegsführung geführt haben sollen? Oder haben wir es im Gegenteil längst mit viel entsetzlicheren Kriegen zu tun, die sich »weigern, dem Vorbild der Antike« oder angeblich noch weit älteren ›natürlichen‹ Bestimmungen zur Austragung kriegerischer Gewalt gegeneinander »zu folgen«? 5 Vom Guten und vom Besten handelt eine wortreiche philosophische Überlieferung seit der Antike fast ununterbrochen. Zum ›Schlechten‹ und gar zum ›Schlimmsten‹ aber hat sie vergleichsweise wenig zu sagen, obgleich beides nicht weniger zu denken geben dürfte als das Staunen (thaumázein), das man bis heute oft und stereotyp als die einzige Quelle allen Philosophierens ausgibt. Angesichts des Schlechten und des Schlimmsten – in der Antike als bía (Gewalt), stásis (Aufruhr) und pólemos (Krieg) verhandelt, vor allem unter dem Einfluss der monotheistischen Religionen als ›Böses‹ moralisiert 6 – nimmt das, was zu denken gibt, allerdings die Form des Erschreckenden (phóbos) an. Und angesichts des Äußersten, das Menschen einander antun, droht es derart die Sprache zu verschlagen, dass bis heute in Frage steht, ob es – sei es in ›alten‹ Formen wie dem Bürgerkrieg, vor dem sich die Griechen der Antike am meisten fürchteten 7, sei es in angeblich ganz ›neuen‹ Formen wie systematischer Liquidierung, ideologisch-nationalistisch oder -rassistisch begründeter genozidaler Gewalt oder in Anbetracht neuerer Erscheinungsweisen des Terrors – diskursiv ›verhandelbar‹ ist. 8 Lässt sich das Äußerste überhaupt als Gegenstand von Theorien der Gewalt und des Krieges vorstellen? 5 S. Bellow, Herzog, Köln, Berlin 1976, S. 96 f.; I. Eibl-Eibesfeldt, Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung, München, Zürich 1975, S. 192–223. 6 C. Colpe, »Religion und Mythos im Altertum«, in: ders., W. Schmidt-Biggemann (Hg.), Das Böse: eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen, Frankfurt/M. 1993, S. 13–89. 7 Vgl. zu Platons Nomoi in diesem Sinne: U. Kleemeier, Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges, Berlin 2002, S. 70. 8 Als symptomatisch dafür mag hier nur ein Hinweis stehen. Angeblich erfahren wir durch antike Gewaltberichte »nichts über die alltägliche Gewalt«, die »vermutlich weitaus schlimmer war, als wir uns ausmalen können«. Eine »stereotype Ästhetik des Grässlichen« habe damals wie heute nicht verraten, was die Betreffenden »wirklich« gesehen haben. Die Einsicht in dieses Missverhältnis habe »bis heute Gültigkeit«; lt. M. Zimmermann, »Neues aus der Alten Welt (III). Antike und moderne Gewalt«, in: Merkur 68, Nr. 6 (2014), S. 540 ff.

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XXX · Dem ›alten‹ Krieg und ›neuen‹ Kriegen ausgesetzt

Mit dieser Frage hält sich allerdings eine Sozialphilosophie nicht lange auf, die die Gewalt primär, wenn nicht gar ausschließlich unter dem Oberbegriff des Krieges diskutiert und dessen Wirklichkeit weitgehend auf Fragen der Legitimation und der jeweils passenden Gewaltmittel reduziert. So definiert Michael Walzer die »reality of war« als »divided into two parts«: »War is […] judged twice, first with reference to the reasons states have for fighting, secondly with reference to the means they adopt.« 9 Abgesehen davon, dass kriegerische Gewalt hier allein dem Staat vorbehalten wird, der in weiten Teilen der Welt gar nicht mehr dazu in der Lage ist, die Gewalt zu monopolisieren, fällt an dieser Definition auf, dass sie die fragliche Wirklichkeit der Gewalt selbst, also das, was sie Anderen antut und wie sie es tut, einfach überspringt, um sogleich zu der Frage überzugehen, wie man sie ggf. rechtfertigen kann im Namen ›gerechter Kriege‹. Wie aber sollte man rechtfertigen können, wovon man sich phänomenologisch gar keine genaue Vorstellung gemacht hat? An dieser Stelle genügt es nicht, Plattitüden wie die zu bemühen, dass Krieg in allen seinen Erscheinungsformen massive und organisierte Gewalt gegen Andere bedeutet. 10 Denn ›der‹ Krieg begegnet in höchst unterschiedlichen, darunter spezifisch ›modernen‹ und inzwischen auch als ›postmodern‹ titulierten Formen sogenannter low intensity conflicts im Kontext global verflochtener Kriegswirtschaften. Er beschwört infolgedessen unterschiedliche Gewalterfahrungen herauf, darunter auch solche, die auf die Spur des Äußersten führen, was Menschen einander antun können. Existieren sie nicht im Horizont des Äußersten auch dann, wenn es ihnen vorerst nicht widerfahren ist? Doch was heißt hier ›Horizont‹, ›Äußerstes‹ und ›widerfahren‹ ? Ob man an dieser Stelle überhaupt noch eine intentionale und horizontal erschlossene Erfahrbarkeit des Äußersten unterstellen darf, erscheint jedenfalls fraglich. 11 Das wirft erhebliche Schwierigkeiten auf, wenn man wissen will, wie ›alte‹ und womöglich ›neue‹ Formen kriegerischer Gewalt die conditio humana M. Walzer, Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations, New York 42006, S. 21 (= JuW). 10 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 61996, S. 33. 11 Gerade auch im Lichte besonders ›eloquenter‹ Literatur, die durchgehend den Eindruck erweckt, das Äußerste verschlage ihr nicht die Sprache. Ob man bei eingehenderer Prüfung nicht selbst bei Ernst Jünger auf dem zuwiderlaufende Hinweise trifft, bleibe dahingestellt; vgl. E. Jünger, In Stahlgewittern, Stuttgart 321990, S. 35, 105, 112, 252, 288. 9

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Der Gewalt und dem Krieg ausgesetzt – wie seit jeher?

tangieren, die ich hier provisorisch als die unhintergehbare Bedingung menschlichen Lebens auffasse, von Geburt an und bis in den Tod hinein Anderen rückhaltlos ausgesetzt zu sein. Waren ›wir‹ das ›immer schon‹ – und auf die gleiche Art und Weise? Oder gilt es neuen Formen der Gewalt Rechnung zu tragen, die nicht nur eine Geschichte ›haben‹, sondern geradezu ›Geschichte machen‹, indem sie neue, unvermutete Spielräume menschlicher Verletzlichkeit offenbaren und uns auf diese Weise dazu zwingen, die Frage, was oder wer wir im Verhältnis zu Anderen sind, ganz neu aufzuwerfen? Die für die Frage nach der conditio humana heute zuständige philosophische Anthropologie rechnet seit langem mit dem Eindringen radikaler Geschichtlichkeit in alles, was man traditionell für ›substanzielle‹ oder ›essenzielle‹ Merkmale menschlichen Seins gehalten hat. Von Natur aus, verkündet sie wie schon die Pädagogen der Aufklärung, sei »der Mensch ›als‹ Mensch« geradezu »nichts«. 12 ›Er‹ könne aber womöglich Unabsehbares aus sich machen, wie es kurz zuvor der Renaissancephilosoph Giovanni Pico della Mirandola gelehrt zu haben scheint. Mehr noch: von einer noch nicht antizipierbaren Zukunft her wird sich im Nachhinein auch das ›Bild‹ tief greifend ändern, das ›er‹ sich von sich und seiner Vergangenheit macht. Auch für den Menschen und seine Geschichte gilt demnach: »das Vergangene ändert sich vom Kommenden her«. 13 Eines Tages wird auch unsere Gegenwart in eine Neo-Geschichte einrücken, wer auch immer sie künftig erzählen mag. Vorläufig müssen wir uns indessen damit begnügen, in der politischen Gegenwart, von der wir im Vorhinein nicht wissen können, welche Zukunft sie hat bzw. vorbereitet, rückblickend auf die weiterhin im Gang befindliche Geschichte kriegerischer Gewalt zu ermitteln, ob und wie sie die Bedingungen tangiert, unter denen wir einander ausgesetzt sind. In dieser Perspektive gehe ich im Folgenden auf die gegenwärtige Kriegstheorie und besonders auf die Frage ein, ob ›neue‹, zur Lebensform gewordene 14 und womöglich auch die europäische Zukunft 15 überschattende Kriege dazu

12 H. Plessner, Die Frage nach der Conditio humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie, Frankfurt/M. 1976, S. 69; R. Rorty, Philosophie & die Zukunft, Frankfurt/M. 22001, S. 14. 13 Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, S. 9. 14 H. Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2004, S. 20. 15 T. v. Trotha, »Die Zukunft liegt in Afrika«, in: Leviathan 28 (2000), Heft 2, S. 253– 279.

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XXX · Dem ›alten‹ Krieg und ›neuen‹ Kriegen ausgesetzt

herausfordern, die conditio humana neu zu bedenken. Dabei wird es sich zeigen, dass man dem Erschrecken angesichts des ›Schlimmsten‹ nicht ausweichen kann und dass man nicht den Anspruch erheben sollte, es als Altbekanntes oder als neuerdings zu Tage getretenes ›Äußerstes‹ angemessen zur Sprache bringen zu können. Das Äußerste menschlicher Gewalt entzieht sich uns radikal. Wer ihm zu nahe kommt, überlebt es allenfalls traumatisiert und sprachlos oder kommt in ihm um. Dem Äußersten des Schrecklichen ist niemand gewachsen. Seine Extreme lassen sich nicht einmal erfahren, denn aus der Finsternis ihrer zerstörerischen Wirkung kehrt niemand zurück. Das gilt für das intensiv Äußerste des Schrecklichen, wie es grausamste Folter heraufbeschwört, ebenso wie für das extensiv Äußerste des Schrecklichen, wie es im Massenmord, im Völkermord oder in der seriellen Liquidierung bzw. Eliminierung Anderer wirklich wird. Wer dergleichen überlebt, kann davon allenfalls gebrochen erzählen. 16 Einem Diskurs, der von der Geschichtlichkeit menschlicher Gewalt selbst Rechenschaft ablegen und sich nicht auf Rationalisierungen von Gründen und Mitteln der Kriegsführung beschränken will, muss dennoch daran gelegen sein, sich dem ›Schlimmsten‹ bzw. ›Äußersten‹ wenigstens zu nähern. Es muss sich um einen Diskurs ›in der Nähe des Äußersten‹ handeln, wenn er nicht theoretischer ›Ahnungslosigkeit‹ verfallen will. Auf diesen (keineswegs einheitlichen) Begriff des Äußersten gehe ich deshalb zuerst ein (2.), um dann Konzeptionen sogenannter ›neuer‹ Kriege zur Sprache zu bringen (3.), die die Frage aufwerfen, ob sie das ›Bild‹, das man sich von der conditio humana als einer conditio historica machen muss, tief greifend betreffen (4.).

Genau diese Gebrochenheit vermisst man in einer apologetischen Literatur, die nicht müde wird, die Gewalt des Krieges als eine heroisch zu genießende auszumalen. Hier kommen keineswegs nur notorisch als Kronzeugen Zitierte wie Joseph de Maistre oder Ernst Jünger, sondern auch unverdächtigere Zeitgenossen wie Theodore Roosevelt in Betracht; vgl. D. Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, Köln 2013, S. 122, wo Roosevelt mit den Worten zitiert wird, »jeder Mann, der die Kraft in sich hat, sich der Schlacht zu erfreuen […], genießt […] den Schmerz, das Leid, die Gefahr, so als ob sie seinen Triumph schmückten«.

16

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In der Nähe des Äußersten

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In der Nähe des Äußersten

Dagegen, die gegenwärtige conditio humana als eine gänzlich ›neue‹ zu verstehen, spricht in Anbetracht der seit Urzeiten durch und durch gewaltsamen Gattungsgeschichte, die sich noch Sigmund Freud »im wesentlichen [als] eine Reihe von Völkermorden« darstellte 17, mindestens, dass die ›Gründung‹ menschlicher Lebensformen seit jeher und bis heute in dem Verdacht steht, auf sie begründender Gewalt und gemeinsamer Schuld zu beruhen; darüber hinaus, dass menschliche Lebensformen sich seit jeher und nach wie vor vielfach durch Freund-Feind-Unterscheidungen 18 und durch eine »Politik des Ausschlusses« mit der Folge identitärer Verfeindung nach außen abgrenzen und – angeblich – nur so politisch existieren konnten bzw. können. Nach wie vor sät man Hass gegen Fremde, um dadurch die eigene politische Einheit zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. 19 Nach wie vor setzt man sich aber auch innerhalb menschlicher Lebensformen der Gefahr möglicher Eskalationen von Auseinandersetzungen aus, die in unbegrenzte Gewalt gegeneinander umzuschlagen drohen. 20 Man kann von kompetitivem und agonalem Verhalten »nicht lassen« 21 und projiziert es ständig in Andere, so dass eine Dynamik gegenseitiger Überbietung in Gang zu kommen droht, in der die Einen auf Kosten der Anderen an Macht gewinnen, was wiederum dazu führt, dass man aus Furcht vor zu viel Machtgewinn Anderer zu präventiven Mitteln bis hin zu dem des Krieges greift (ÜK, S. 20 f.). Selbst wenn das unterbleibt, herrscht angeblich der ›Naturzustand‹ gegenseitiger, wenn auch latenter Bedrohung, der von S. Freud, »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« [1915], in: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/M. 1989, S. 33–60, hier: S. 52; vgl. S. Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt/M. 2011, S. 254 f. 18 Hier mit rassistischem Einschlag: L. Gumplowicz, Sozialphilosophie im Umriss [1910], Aalen 1969, S. 41 ff. 19 H. Münkler, Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion, Weilerswist 32004, S. 141, 203 (= ÜK); zum Säen von Hass als Voraussetzung vgl. M. Kaldor, Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt/M. 2000, S. 69 f., 88, 91, 135, 157, 158 (= NaK). 20 Was schon in der politischen Theorie der Antike mit Blick auf die Gefahr des Bürgerkrieges (stásis) bedacht wurde, der in offenen Krieg (pólemos) umschlagen kann, wie er sonst nur Fremden gegenüber geführt wird. 21 Zu Fichte vgl. ÜK, S. 66; zu den Antrieben jenes Verhaltens S. 38, 194 f., sowie die Kap. XI–XIII zur Revision des Machtbegriffs. 17

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Hobbes, Rousseau und Kant als ein Kriegszustand gedeutet wurde. 22 Gerade dieser Zustand macht zwar deutlich, wie sehr die Menschen auf die politische Entschärfung und Eindämmung eben der Gewalt angewiesen sind, die sie in ihren Verhältnissen permanent selbst heraufbeschwören. Zugleich setzen sie sich aber auch im Vertrauen auf politische Institutionen, die Gewalt in Schach zu halten versprechen, der in der Hand dieser Institutionen selbst liegenden Gewalt wiederum aus. Darin liegt das besonders das staatliche Gewaltmonopol bis heute belastende Paradox des Politischen. 23 Selbst in weitgehend ungetrübtem Vertrauen auf einander, das angeblich in intern weitgehend pazifizierten Staaten herrschen soll, sind jene ›alten‹ Quellen der Gewalt nicht aus der Welt zu schaffen. Das hat nicht nur Machiavelli nahe stehende Autoren zu dem Schluss geführt, der Krieg sei »nie aufgehoben, nur aufgeschoben« (ÜK, S. 47, 51); infolgedessen hätten wir »to continue to occupy the middle ground« zwischen Krieg und Frieden »with its continued threat of war and destruction«. 24 Letzteres scheint auch in den Außenverhältnissen politischer Lebensformen zu gelten – zumal wenn es denn stimmt, was deutsche Idealisten wie Kant, Hegel und Fichte für gewiss gehalten haben: dass die Menschen des Krieges bedürfen, soll ihr geistiges Leben nicht in einem saturierten Wohlergehen ersticken. Glücklicherweise, meinte Fichte, »haben wir ja noch selbst in Europa, noch mehr aber in den anderen Weltteilen, Barbaren genug, welche doch über kurz oder lang, mit Zwang dem Reiche der Kultur werden einverleibt werden müssen« (ÜK, S. 68). Ein darauf zu bauender Fortschritt der menschlichen Gattung in Richtung auf ein erhofftes Ende der menschlichen Gewaltgeschichte ist indessen längst nicht mehr dialektisch zu positivieren (ÜK, S. 137). Aus der Asche der Vernichtung Anderer, die inzwischen radikalere Formen angenommen hat, als sie sich die Idealisten hatten vorstellen können, erhebt sich kein Phönix der Vernunft. 25 Doch keineswegs ist dieser ›Naturzustand‹, von dem terminologisch zuerst bei Hobbes die Rede war, eine von sich aus sich einstellende conditio humana. Als »Krieg aller gegen alle« jedenfalls (der bei Kant so nicht gemeint ist) muss er erst hergestellt werden, wie schon T. DesPres betont hat in: The Survivor, Oxford 1976, S. 142; s. a. Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993, S. 46; R. Tuck, The Rights of War and Peace. Political Thought and the International Order From Grotius to Kant, Oxford 2002, S. 126, 135. 23 P. Ricœur, Geschichte und Wahrheit, München 1974, S. 249, 264, 324. Siehe dazu das Kap. XX. 24 Tuck, The Rights of War and Peace, S. 230. 25 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. I. Die 22

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Längst hat sie die Illusion zerstört, kriegerische Gewalt lasse sich allemal als eine Art ›Instrument‹ souverän handhaben und selbst radikalste und exzessivste Gewalt trage doch letztlich zu weltweiter Befriedung bei. Wäre es so, dann würde letztere, um einen solchen ›Preis‹ erkauft, keinerlei Achtung verdienen. Statt zu geschichtlichem Forschritt beizutragen, ist die Gewalt immer wieder – und infolge der Steigerung der ihr zur Verfügung stehenden Mittel auch immer mehr – jeglicher Kontrolle in Richtung auf das Äußerste entglitten. So konnte sie zum Subjekt ihrer Eskalation werden, die schließlich niemand mehr ›in der Hand hat‹. 26 Für Clausewitz gehörte die Tendenz zum Äußersten bereits zur inneren Logik des Krieges. 27 Mary Kaldor, die an diese Einsicht von Clausewitz anknüpft, stellt allerdings fest, dass die neuen Kriege »nicht dieselbe zum Äußersten tendierende Eigenlogik wie die modernen« aufweisen (NaK, S. 197), insofern sie nicht einem »unbedingten und bis zum Äußersten« entschlossenen Freiheitswillen entspringen (ÜK, S. 71), sondern sich in erster Linie umwillen taktischer und strategischer Vorteile gegen Zivilisten wenden. 28 Gegen diese aber geht man mit äußerster Brutalität vor. Herfried Münkler spricht von einer »Wiederkehr des Massakers« (ÜK, S. 242). Und man muss sich fragen, ob nicht ›alte‹ und ›neue‹ Kriege, wenn sie nicht von Friktionen

Vernunft in der Geschichte, Hamburg 61994, S. 35, 152; E. Wyschogrod, Spirit in Ashes: Hegel, Heidegger, and Man-made Mass Death, New Haven, London 1985. Zum Motiv des sich aus Asche erhebenden Phönix vgl. A. Demandt, Zeit. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015, S. 67–70. 26 Auch Münkler gibt zu bedenken, dass »Krieg und Gewalt zeitweise selbst die Subjektrolle übernehmen« können (ÜK, S. 115). 27 Aber nicht unbedingt zur empirischen Wirklichkeit des Krieges (C. v. Clausewitz, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk. Ungekürzter Text [1832], Frankfurt/M., Berlin 4 1994, S. 19, 21 [= VK]). Clausewitz unterscheidet bekanntlich ein erstes, zweites und drittes Äußerstes. Zunächst gibt es für ihn in der Anwendung von Gewalt »keine Grenzen«. So hat jeder, der in sie verstrickt ist, auch angesichts des Anderen zu erwarten, dass sie sich durch ihn im Prinzip jederzeit über jede Grenze hinwegsetzen kann (sog. »erste Wechselwirkung« im Zeichen des Äußersten). Solange man den Anderen nicht als Gegner und Feind ausgeschaltet hat, wird dieser das Gleiche versuchen (sog. »zweite Wechselwirkung«); und zwar mit »äußerster Anstrengung«. »Dasselbe tut der Gegner; also neue gegenseitige Steigerung, die in der bloßen Vorstellung wieder das Bestreben zum Äußersten haben muß. Dies ist die dritte Wechselwirkung und ein drittes Äußerstes, worauf wir stoßen« (VK, S. 20 f.). 28 Ausführlicher wird das begründet in: M. Kaldor, »Inconclusive Wars: Is Clausewitz Still Relevant in these Global Times?«, in: Global Policy 1, Nr. 3 (2010), S. 271–281.

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daran gehindert wurden, sich der von Clausewitz beschriebenen »Logik« gemäß zum Äußersten zu steigern, immer dahin tendierten. 29 Gewiss: diese Logik sollte für »wechselseitige« Auseinandersetzungen im Rahmen symmetrischer Kriege gelten, wohingegen Kaldor vor allem asymmetrische Kriege vor Augen hat. Liegt aber darin nicht nach wie vor die einfache Wahrheit der Gewalt des Krieges in allen seinen alten und vermeintlich neuen Erscheinungsformen, dass er zum Äußersten hin tendiert? Läuft er nicht immer auf die massenhafte, ›rücksichtslose‹Verletzung, Verwundung und Vernichtung Anderer hinaus, die sich, ›je nach Bedarf‹, aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel bedient? Kann es, insofern Menschen immer schon und grundsätzlich nach wie vor dieser Gefahr ausgesetzt sind, die die Gewaltsamkeit der conditio humana bestimmt, überhaupt etwas Neues unter der Sonne geben? Betrifft die Rede von neuen Kriegen nicht allenfalls deren bandenmäßige, paramilitärische, ökonomische, asymmetrische und global ausstrahlende Organisationsformen, wohingegen sich die Gewalt, die letztlich stets Einzelne in mehr oder weniger großer Zahl betrifft, auf der Ebene ihrer verletzenden, verwundenden und vernichtenden Effekte, d. h. als leibhaftig Erlittenes, auch in ihren ›neuesten‹ (mit virtuellen Mitteln hervorgebrachten) Erscheinungsformen im Horizont des Äußersten bewegt, in dem sich die Geschichte der menschlichen Gattung von Anfang an abgespielt zu haben scheint? Oder macht auch die Gewalt Geschichte, insofern sie diesen Horizont überschreitet? Diese so naheliegende Frage stürzt uns allerdings in die größten begrifflichen Schwierigkeiten, wenn wir angeben wollen, was denn dieses ›Äußerste‹ ist – oder, wenn darüber kein Einvernehmen zu erzielen ist, wie es sich infolge menschlicher Gewalt zeigt. Dabei liegen Antworten auf die Was-ist-Frage in großer Zahl vor. Und sie können an eine reichhaltige Überlieferung anknüpfen, die sich seit jeher das Schlimmste ausgemalt hat, das absoluten Schrecken auf den Plan ruft. Was ihn hervorruft, firmiert unter verschiedenen Titeln – Gehenna 30, Tartarus, Hades, purgatorium, infernum, l’enfer, hell. Der prominenteste von ihnen ist zweifellos die Hölle 31 – angeblich

H. Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Reinbek 2015, S. 173. 30 Das Tal des Hinnom; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gehinnom 31 B. Lang, »Hölle«, in: P. Eicher (Hg.), Neues Handbuch religiöser Grundbegriffe, Bd. 2, München 1991, S. 362–373, hier: S. 365. 29

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eine »griechische Erfindung« 32 –, wo das Sterben kein Ende nimmt. Denn dort werden die Verdammten »Tag und Nacht gequält […], in alle Ewigkeit« 33, ohne in den endgültigen Tod entkommen zu können. Über diesen Ort verfügen wir dank Vergil, Dante Alighieri und Hieronymus Bosch reichlich Anschauungsmaterial – wenn auch nur menschliches, allzu menschliches. So konnte lange vor Jean-Paul Sartre, der einen Protagonisten seines Dramas Huis clos bekanntlich erklären ließ, die Hölle seien »die Anderen«, klar werden, dass Menschen das Höllische allemal von Anderen angetan wird. 34 Längst ist zwar die Hölle rhetorisch gewissermaßen auf den Hund gekommen, so dass sie vielfach nur noch als Plattitüde fungiert. 35 Auch in Kriegstheorien bezeichnet die Hölle aber bis heute häufig das Schlimmste, was Menschen einander bereiten können. Allerdings nur in der Zeit, nicht ›auf ewig‹, im Anderen der Zeit. Noch Michael Walzer lehnt sich mehrfach an den schlichten Befund des amerikanischen Generals Sherman an: »War is hell.« 36 Im Krieg tun Menschen einander – mit oder ohne mehr oder weniger gute Begründung – das Schlimmste, extremste Gewalt und das Grausamste an. War es nicht seit jeher und bis heute so, ob in archaisch-präkonventionellen, in konventionell geregelten oder in postkonventionellen neuen Formen? Mit genauen Beschreibungen dessen, was Menschen einander im Krieg antun, halten sich Kriegstheorien allerdings wenig auf. Das mag auch daran liegen, dass seit langem tief greifende Zweifel daran bestehen, ob ›das Schlimmste‹ extremster Gewalt, das Entsetzliche und »noch schrecklichere Dinge« überhaupt sprachlich ›fassbar‹ sind, von denen Bartolomé de Las Casas berichtete und die sein Landsmann Francisco Goya später als desastres de la guerra vor Augen geführt hat. Keine »Zunge« könne sie erzählen, insistierte Las Casas, kein menschlicher Verstand das Unaussprechliche erfassen. 37 Vor der gleiLt. M. P. Nilsson; zit. ebd. Offenbarung, 20, 10; zit. n. Lang, ebd., S. 364. 34 Allerdings nicht als selbst Gewähltes, wie es bei Sartre den Anschein hat; vgl. J.-P. Sartre, Dramen, Reinbek 1970, S. 82, 97. 35 So etwa, wo von der – anscheinend recht komfortablen – »Hölle einer Gesellschaft im Überfluss« die Rede ist; H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied, Berlin 1967, S. 44. 36 Walzer, JuW, S. 22, 32, 230, 265. 37 B. de Las Casas, Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, Frankfurt/M. 1981, S. 41, 97. 32 33

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chen Schwierigkeit stehen nach wie vor zahllose Berichte von Überlebenden der Genozide, Kriege und Folterungen 38 des 20. Jahrhunderts sowie die Schriften derjenigen Theoretiker, die es sich zugetraut haben, die fragliche Gewalt philosophisch zur Sprache zu bringen. Die Semantik reicht von der altbekannten crudelitas 39 über »slaughter« – »the killing of men as if they were animals« 40 – bis hin zu stereotypen Verweisen auf die (theologisch offenbar längst liquidierte, insofern anachronistische) Hölle, die auch Walzer ›menschlich‹ deutet. Die »Hölle« des Krieges sei »limitless« mit einem »thrust toward moral extremity«, d. h. »›towards the utmost exertion of forces‹, and that means toward increasing ruthlessness« (JuW, S. 23), die wiederum mit uralten Begriffen wie Grausamkeit und Barbarei charakterisiert wird. Das Entscheidende sei hinsichtlich der »hellishness of war [that it] drives us to break with every remaining restraint« (JuW, S. 32). So gesehen kommt es zum Äußersten nur dann, wenn sich diejenigen, die die Gewalt ausüben, über den Widerstand erfolgreich hinwegsetzen, der sich ihr zunächst in den Weg stellt; sei es die manifeste Gegengewalt, sei es auch nur die abwehrende Geste der bereits Unterlegenen und wehrlos Gemachten (angesichts derer der Krieg seinen Zweck eigentlich erreicht haben soll-

E. Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzbarkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt/M. 1992; K. Millett, Entmenschlicht. Versuch über die Folter, Hamburg 1993; C. Grüny, Zerstörte Erfahrung. Eine Phänomenologie des Schmerzes, Würzburg 2004. Analysen wie diese zeigen, wie wenig es ausreichen kann, sich mit Plattitüden wie der Rede vom Schlimmsten, Äußersten und Grausamen, als dessen Inbegriff die Hölle gilt, aufzuhalten. So zeigt Kate Millett, worin die Grausamkeit liegt: nicht zuletzt in einer Sprachlosigkeit, die selbst dann, wenn man jene überlebt, keine Rückkehr in irgendeine menschliche Gemeinschaft mehr gestatten soll. Das Schlimmste ist nicht der Tod (der unter der Folter als letzte Zuflucht erscheinen kann), sondern das sprachlos gemachte Überleben im nicht enden wollenden Schmerz, von dem »niemand etwas erfahren«, »niemand etwas hören« wird (Millett, Entmenschlicht, S. 289). Insofern handelt es sich um einen Sturz in radikale Weltlosigkeit und Verlassenheit (vgl. ebd., 96). 39 M. T. Cicero, De officiis. Vom pflichtgemäßen Handeln (lat./dt.), Stuttgart 2003, S. 261. 40 Walzer, JuW, S. 22. Wie unzureichend diese Begriffsbestimmung ist, ist schon daraus zu ersehen, wie man heute über ganz unterschiedliche Arten der Tötung von Tieren diskutiert; darunter möglichst nicht qualvolle. Mit solchen Unterschieden hält sich eine Sozialphilosophie gar nicht erst auf, die das Äußerste einfach mit dem Schlachten von Tieren gleichsetzt, ohne überhaupt zu bedenken, was letzteres mit dem ›Abschlachten‹ von Menschen zu tun hat. W. Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt/M. 1996, Kap. 10. 38

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te, wenn er sich nach Clausewitz’ Modell richten würde), sei es auch nur deren bloße Präsenz, in der allein schon der absolute (nicht ›reale‹, sondern ›moralische‹) Widerstand des Gebotes liegen soll, sich nicht am Leben des Anderen zu vergehen, wie Levinas und Ricœur meinen. 41 Dabei berufen sich letztere auf das Alte Testament. Ist nicht jedes Gesicht eine Offenbarung des göttlich Gebotenen, fragt Ricœur. 42 Und läge nicht dem entsprechend das Äußerste in der Liquidierung jenes Gebotes selbst – und weniger in manifester extremer und exzessiver Grausamkeit oder Brutalität? Das Äußerste würde sich so gesehen auch dort ereignen, wo man stillschweigend, ignorant oder radikal gleichgültig jegliche Spur dieses Gebots übergeht oder leugnet. Dafür würde es genügen, Andere indifferent ihrem Schicksal zu überlassen. Besonderer Brutalität bedürfte es nicht. Ich vermute, dass speziell Levinas die Radikalität menschlicher bzw. unmenschlicher Gewalt genau so versteht, ohne überhaupt auf spezielle Formen der Gewaltausübung oder des Krieges Bezug zu nehmen. So legt er nahe, das fragliche Äußerste als radikale Indifferenz auszulegen, die überhaupt keinen moralischen Anspruch des Anderen mehr ›kennt‹, ›wahrnimmt‹ oder ›anerkennt‹ und ihn aufgrund dessen der Gewalt in jeglicher Form ausliefert. 43 Infolgedessen würde der Andere als Anderer, der uns in Anspruch nehmen kann, geradezu aufhören zu existieren – und die Gewalt, die in ihrer verletzenden, verwundenden und vernichtenden Wirkung des Anderen geradezu bedarf, wenn sie sich gegen ihn als solchen richtet, liefe Gefahr, sich selbst aufzuheben. Ganz anders verhält es sich, wenn ihm ›mutwillig‹, ›mit voller Absicht‹, ihn zu verletzen, zu verwunden und schließlich zu vernichten, Schmerz zugefügt wird. In diesem Fall ist es gerade der wahrgenommene Anspruch des Anderen, nicht verletzt zu werden, auf dessen moralischem Register die Gewalt mehr oder weniger grausam spielt und ihre Souveränität genießt. Wie sie das tut, mit welchen Mitteln, impulsiv und voller Lust oder hinhaltend und hinterhältig zermürbend usw., wäre wieder eine andere Frage unter dem Aspekt

Zu diesem Widerstandsbegriff vgl. den Teil C in Bd. I. P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 404, 411. 43 Hier liegt ersichtlich erheblicher Interpretationsspielraum, der an dieser Stelle nicht ausführlich zur Sprache kommen kann. 41 42

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der Exzessivität und Intensität. In quantitativer Hinsicht wäre diese wiederum als mehr oder weniger extensiv zu beschreiben. Ohne an dieser Stelle in eine fragwürdige Begriffsscholastik zu verfallen, wird so doch deutlich, dass wir es mit unterschiedlich akzentuierten Begriffen des Äußersten zu tun haben. Das Äußerste, von dem schon Clausewitz im Kapitel über die »äußerste Anwendung der Gewalt« in dreifacher Hinsicht handelte, zersplittert gleichsam in moralische, instrumentelle, qualitative und quantitative Bedeutungen. Moralisch (im Sinne von Levinas) kann einem Anderen auch ohne spezielle, intensive und exzessive Gewaltanwendung das Äußerste widerfahren; instrumentell können qualitativ schlimmste Mittel zum Einsatz kommen, die den Opfern eine höllische Agonie bereiten, ohne sie in den Tod entkommen zu lassen; und in quantitativer Hinsicht kann genozidale Gewalt ›restlos‹ alle zu erfassen suchen, um sie für immer zu liquidieren. In der einschlägigen Literatur schwankt die Rede vom Äußersten erkennbar zwischen diesen oft nur schwer voneinander abzuhebenden Bedeutungen. So spricht der britische Historiker Eric Hobsbawm in seinem Buch Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991 vom 20. Jahrhundert als dem bislang »mörderischsten« – und stellt so auf eine quantitative Skala ab, auf der sich mehr oder weniger viele Morde vergleichen ließen. 44 Tzvetan Todorov dagegen deutet in seinem Buch Face à l’extrême, das im Deutschen den Titel trägt Angesichts des Äußersten, das Extreme bzw. Äußerste zweifach: Die Konzentrationslager seien »die Extremform der totalitären Regime, und diese wiederum die Extremform des modernen politischen Lebens« gewesen. Das soll aber nicht so zu verstehen sein, als würden sie nur besonders ausgeprägt genau das realisieren, was auch ›normales‹ politisches Leben ausmacht. Im Gegenteil: vom Extrem ist hier im Sinne einer »Negation« die Rede, die auf das genaue »Gegenbild« eines solchen Lebens hinausläuft. Dagegen seien die Lager der »intensivste und konzentrierteste Ausdruck« der totalitären Regime. Denn sie führten ein vollkommen schutzloses Leben unter ständiger und nichts auslassender Drohung des Terrors herbei. Normales politisches Leben und diese Regime sind demnach durch einen Abgrund

44 E. Hobsbawm, The Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994, S. 13; vgl. G. Gamm, Philosophie im Zeitalter der Extreme. Eine Geschichte philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 18 f.

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der Negation voneinander getrennt 45, während jene Lager nur in extremster Form die Logik einer Terrorisierbarkeit offenbaren, die den Kern dieser Regime ausmacht, wie Todorov unter Berufung auf Hannah Arendt annimmt. 46 Auch der Begriff des Terrors ist allerdings mehrdeutig. Als genozidaler erfasst der Terror eine große Zahl von Opfern; als ständig gegen Andere gerichtete Drohung, sie jederzeit mit jeglicher Form intensivster Gewalt überziehen zu können, und als ausgeführte Gewalt stellt er in instrumenteller Hinsicht das Äußerste dar. Darüber hinaus beinhaltet er jedoch auch eine moralisch radikale Dimension des Äußersten, wenn er sich über jeglichen der Gewalt entgegenstehenden Anspruch Anderer hinwegsetzt oder nichts dergleichen zu kennen vorgibt. Im Werk Zygmunt Baumans treffen die drei Bedeutungen des Äußersten zusammen: im Anschluss an Levinas spricht er von einer »social production of moral indifference« 47, die sich über jeglichen Anspruch des Anderen hinwegsetzt, trägt dann aber auch dem genozidalen und quantitativen Charakter eines »Verwaltungsmassenmordes« Rechnung, der ohne spezifisch moderne Mittel wie die einer aufwändigen Logistik und bürokratischen Steuerung nicht durchführbar gewesen wäre. 48 Bei allen diesen Ansätzen handelt es sich um typologische oder dimensionale Charakterisierungen einer Gewalt, die mehr oder weniger weit zurückliegende, sei es im Ursprung der conditio humana liegende, sei es kulturgeschichtliche, sei es soziale und politische Gründe gehabt haben mag, die aber auch ›Geschichte gemacht‹ hat Was allerdings keineswegs ausschließt, dass in der Normalität politischen Lebens genau das keimt, was sie schließlich im Zuge einer totalitären Negation weitgehend vernichtet; vgl. T. Todorov, Angesichts des Äußersten, S. 315; Vf., »Von der Wahrheit moralischer Normalität« [Rez. v. T. Todorov, Angesichts des Äußersten], in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, Nr. 1 (1995), S. 173–176, sowie P. Lacoue-Labarthe, »Weder Unfall noch Irrtum«, in: J. Altwegg (Hg.), Die Heidegger-Kontroverse, Frankfurt/M. 1988, S. 121–125; G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002; ders., Ausnahmezustand (Homo sacer II.1), Frankfurt/M. 2004; Vf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, Kap. VIII. 46 Demgegenüber insistiert Domenico Losurdo, der mit Recht an oft vergessene ›Vorbilder‹ für jene Lager erinnert, auf dem Moment »totaler Kontrolle«, zunächst ohne ausdrücklich die Terrorisierbarkeit mit zu nennen, in: Das 20. Jahrhundert begreifen, S. 46 f. 47 Z. Baumann, Modernity and the Holocaust, New York 1991, S. 18 ff. 48 Ebd., S. 102 ff.; von einem »Verwaltungsmassenmord« spricht H. Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 31993, S. 309, 349. 45

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durch das im 20. Jahrhundert in Kontexten totalitärer Herrschaft unverkennbare Zusammentreffen aller Aspekte des Äußersten: der moralischen, der instrumentellen, der qualitativen und der quantitativen, wie ich sie hier schematisch nennen möchte. Wie ›nahe‹ die genannten Autoren der fraglichen Gewalt auch immer gekommen sein mögen, um glaubwürdig über sie schreiben zu können, sie waren dazu in der Lage, sie als ›Thema‹ von sich zu distanzieren, wohl wissend, dass sie sie nur so zu bezeugen vermochten – im Gegensatz zu all den ›authentischen‹, primären Zeugen, die sie nicht überleben konnten. Ob infolgedessen das sekundäre Zeugnis dieser und vieler anderer Autoren jeglichen Authentizitätsanspruch einbüßen und dies auch eingestehen muss, wird von Primo Levi über Jean-François Lyotard und Maurice Blanchot bis hin zur neueren Auseinandersetzung um den Begriff der Zeugenschaft immer wieder diskutiert 49 – in dem Wissen, dass man sich dem Äußersten nicht beliebig nähern kann, ohne Gefahr zu laufen, in ihm umzukommen. Höchst fragwürdige Versuche, die traumatische, schließlich nicht zu überlebende Nähe des Äußersten auf dem Weg des Schreibens auf heutige Leser zu übertragen, um ihnen so eine ›Ahnung‹ vom Bezeugten zu vermitteln, führen letztlich in desaströses Gelände, wo auch die Worte und Begriffe versagen. Maurice Blanchot hat das in dem offenbar bewusst doppeldeutig betitelten Buch L’écriture du désastre (1980) deutlich gemacht. Es handelt sich nicht nur um Die Schrift des Desasters, wie der deutsche Titel lautet, sondern um ein desaströses Schreiben, das als solches nur im nachträglichen Lesen nachzuvollziehen ist, ohne dabei den Anspruch erheben zu dürfen, das Äußerste ›selbst‹, von dem es handelt, auf diese Weise in der Gegenwart des Schreibens und Lesens hermeneutisch ›wiederholen‹ zu können, was auf den Gipfel der Anmaßung den Untergegangenen gegenüber hinauslaufen müsste. 50 Vom Äußersten, dem sie ausgesetzt waren und in dem sie schließlich untergegangen sind, kann man nicht handeln, ohne einzugestehen, dass es als solches niemals einfacher Gegenstand eines Diskurses werden kann. Das in moralischer, instrumenteller und quantitativer Hinsicht Äußerste, das im Zuge der von Clausewitz beschriebenen »Wechselwirkungen« im 49 P. Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990, S. 83 f.; J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 21989; M. Blanchot, Vergehen, Zürich 2011, S. 84, 91, 113, 120 ff.; siehe Anm. 90 zu Kap. VIII. 50 M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005.

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symmetrischen Krieg, aber auch in asymmetrischen neuen Kriegen und in einseitiger genozidaler Gewalt zum Vorschein kommen kann, bedeutet, wenn Menschen ihm wirklich ausgesetzt sind, einen Untergang, in dem alles untergeht, auch das Verstehen und Begreifen. So gesehen führt auch die Rede von einem ›Horizont‹ des Äußersten (s. o.) in die Irre, suggeriert sie doch wie auch der phänomenologische Erfahrungsbegriff eine kontinuierliche Verweisung von vertrauter Erfahrung auf unvertraute und schließlich befremdliche Erfahrung, die hier gerade in Frage steht. Vom Äußersten gibt es in diesem Sinne keine ›Erfahrung‹, aus der man unbeschädigt zurückkehren könnte, um von ihr zu berichten, keine bruchlose narrative Vergegenwärtigung und keine intentionale Repräsentation. Angesichts des Äußersten ist man ihm rückhaltlos, schutzlos und irreversibel ausgesetzt. Davon handeln und darüber schreiben kann man allenfalls so, dass eine Spur auf dieses traumatische Widerfahrnis hindeutet, ohne dass sich dieses aber in einer ›Bedeutung‹ fassen, repräsentieren und aussagen ließe. Seit jeher mögen die Menschen »im Guten wie im Schlechten vereint« sowie »zum Besten und zum Schlimmsten versammelt« gewesen sein (s. o.); doch die neuere Gewaltforschung verlangt uns ab, letzteres als Äußerstes neu zu bedenken, das von Carl v. Clausewitz bis Tzvetan Todorov historisch zu spezifizieren ist – als fatale »Wechselwirkung«, die in der Logik des klassischen Krieges liegt, einerseits, als Extrem des Totalitären andererseits, das erst die Moderne im Zuge sog. Vernichtungspolitik hervorgebracht hat. Dabei stellt sich für Hannah Arendt, für Emmanuel Levinas und Zygmunt Bauman aber das Problem, ob sich die aus dem Krieg, aus genozidaler Gewalt und totalitärer Herrschaft hervorgegangene Gewalt nicht über einen moralischen, angeblich ›uralten‹ Widerstand hinwegsetzt, den sie als solchen nicht aus der Welt schaffen kann. Vermöchte sie auch dieses moralisch Äußerste, wäre ihr so gesehen »alles erlaubt« 51, würde es sich dann nicht wirklich um eine radikal neue Erscheinungsform der Gewalt handeln? Konfrontieren uns auch sogenannte neue Kriege mit dieser gewissermaßen zersplitterten Bedeutung des Äußersten? Ich komme darauf zurück; vgl. zu diesem von Dostojewski über Sartre und Levinas bis hin zur aktuellen politischen Theorie variierten und nicht selten trivialisierten Diktum Anm. 64 zu Kap. VI. Man muss sich fragen, ob wir es hier nicht in der Tat mit einer »Landschaft« zu tun haben, »die selbst Dostojewski nicht vorausgesehen hat« (E. Jünger, Strahlungen III. Kirchhorster Blätter. Jahre der Okkupation, München 1966, S. 169). 51

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3.

›Alter‹ Krieg – ›neue‹ Kriege?

Kriege mögen als Begleiter der menschlichen Gattungsgeschichte ›uralt‹ sein. Und ihre höchst verschiedenen Erscheinungsformen mögen darüber hinwegtäuschen, dass es sich jedes Mal um dasselbe handelt, was wir mit diesem einen Begriff – ›Krieg‹ – bezeichnen. Wenn die Ontologen des Krieges, die sich bis heute auf Heraklit berufen, darüber hinaus Recht haben, dann wurzelt auch diese Geschichte selbst im Krieg (pólemos) als »Vater aller Dinge«. 52 Demnach wäre alles aus ihm hervorgegangen, alles letztlich auf ihn zurückzuführen und bis heute im Grunde nichts als eine Variation desselben: des Krieges als Konstituens und antreibender Kraft dieser Geschichte. 53 Es gäbe allenfalls dem Anschein nach sogenannte neue Kriege und sie wären sämtlich Erscheinungsformen desselben, von Anbeginn der Zeiten oder menschlicher Geschichte an herrschenden ›alten‹ Krieges, von dem auch zukünftig nichts wesentlich Neues zu erwarten wäre. Nach wie vor würde uns die Archäologie des Krieges alles lehren, was wir über ihn – als dasjenige, was die ›Natur der Dinge‹ ausmacht 54 – wissen müssen. Aber archaische Stammeskriege, wie sie in der Ur- und Frühgeschichte geführt worden sind, waren gewiss noch keine politischen Kriege, wie man sie ansatzweise bereits in der Antike, die das Politische überhaupt erst zur Sprache gebracht hat, und systematisch v. a. seit Clausewitz als Instrumente einer mit Waffen ›fortgesetzten‹ Politik zu deuten begann. Und von dieser ›instrumentellen‹ Deutung des Krieges (ÜK, S. 14, 82, 90, 94), der nicht etwa auf einen ontologisch gedachten pólemos, sondern nur auf eine menschliche creaJ. Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker (griech./dt.), Stuttgart 1987, S. 259; vgl. jedoch die nüchterne Untersuchung zu Heraklits Diktum von J.-E. Pleines, Heraklit. Anfängliches Philosophieren, Hildesheim 2002. 53 Genau so ließe sich Emmanuel Levinas’ Diktum lesen, dass es »keines Beweises anhand dunkler Heraklitischer Fragmente« bedürfe, »daß sich dem philosophischen Denken das Sein als Krieg zeigt« (Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 19). Ich stimme Tzvetan Todorov darin zu, dass es heute darum geht, den »müden Dauerbrenner der westlichen Philosophie, [den] unaufhörlichen Krieg aller gegen alle«, besonders im theoretischen Geschichtsdenken zu überwinden. Längst ist er zum bloßen Schlagwort geworden und wird nicht selten für einen praktischen Bellizismus missbraucht. T. Todorov, Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Frankfurt/M. 1998, S. 41. 54 Vgl. Lukrez, Von der Natur der Dinge, Frankfurt/M. 1960, S. 63, 210. 52

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›Alter‹ Krieg – ›neue‹ Kriege?

tion 55 zurückführbar schien, wurde bereits ein Jahrhundert später behauptet, sie könne dem totalen, angeblich in seinem ganzen Wesen veränderten, sich über jegliche Politik hinwegsetzenden Krieg unmöglich gerecht werden. 56 Die Frage, ob die entsprechenden theoretischen Interpretationen des – vor-politischen, des instrumentell-politischen und des post-politischen 57 – Krieges darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg, »ein wahres Chamäleon« (Clausewitz), womöglich doch »nur seine Erscheinungsform« (bzw. seine Farbe) gewechselt hat, wie es Münkler im Anschluss an den Meister der klassischen Kriegstheorie vermutete 58, stellt sich verschärft angesichts neuartiger Kriegstechniken. Spätestens seit dem spanischen Partisanenkrieg des frühen 19. Jahrhunderts, seit der bald darauf folgenden Erfindung des Maschinengewehrs (Gatling Gun), von chemischen, biologischen und schließlich nuklearen Massenvernichtungsmitteln wie Chlorgas und Phosgen, Milzbrand (Anthrax) oder der Wasserstoffbombe, in Anbetracht jüngster ›intelligenter‹ und ›virtueller‹ Waffentechnologien (sich selbst ins Ziel steuernde Raketen, Computerviren wie Stuxnet etc.) und schließlich angesichts anscheinend neuartiger, entstaatlichter Organisationsformen kriegerischer Gewalt (wie im Fall BosnienHerzegowinas 59) und sog. asymmetrischer Kriege haben wir allen

Walzer, JuW, S. 25. E. v. Ludendorff, Der totale Krieg, München 1935, S. 10. 57 Darunter wäre auch Heterogenes zu fassen. Ludendorffs »absoluter« Krieg ist in anderer Weise nicht mehr politisch als der »molare Bürgerkrieg«, den H. M. Enzensberger heraufziehen sah. Ersterer wollte das Politische durch Verabsolutierung des Krieges überwinden, der molare Krieg resultiert dagegen aus einer Erosion des Politischen. H. M. Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/M. 1996; vgl. ÜK, S. 206 f. 58 Vgl. VK, S. 36; ÜK, S. 10, 103. Wechselt aber der Krieg wirklich nur seine ›Farbe‹, wie es jene Metapher nahelegt, und nicht auch sein ›Wesen‹ ? Oder unterminieren sog. neue Kriege, die so neu im Übrigen gar nicht sind, auch die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung selbst? Vgl. dazu die Beiträge von F. Wassermann über »Das Verwischen von Staatenkrieg, Bürgerkrieg und Frieden« und J. Schmid über das »Konfliktfeld Ukraine: Hybride Schattenkriegsführung und das ›Center of Gravidity‹ der Entscheidung«, in: H.-G. Ehrhart (Hg.), Krieg im 21. Jahrhundert. Konzepte, Akteure, Herausforderungen, Baden-Baden 2017, S. 71–87, hier: S. 76 f., und S. 141– 162, hier: S. 144. 59 Für Mary Kaldor war das der paradigmatische Fall des »neuen Krieges« (NaK, Kap. 3); wobei die europäische Perspektive bestimmend war, in der man realisierte, dass die auf dem Balkan festzustellende Bürgerkriegsökonomie epidemisch um sich greifen könnte, womöglich ohne sich je wieder unter Kontrolle bringen zu lassen; vgl. ÜK, S. 221, 234. 55 56

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Anlass dazu, zu fragen, ob das, was man mit einem immer schon zweifelhaften, allzu Verschiedenes einschließenden Begriff wie Krieg bezeichnet, noch auf alten, ›archäologischen‹ Grundlagen beruht oder längst gleichsam ›mutiert‹ ist und sich von diesen wie auch vom Politischen und seinen konventionellen Ordnungen emanzipiert hat. 60 Diese Diskussion firmiert seit geraumer Zeit unter dem irritierenden Obertitel New Wars, der rätseln lässt, was er genau besagen soll – zumal in dieser Diskussion nicht selten quasi in einem Zug behauptet wird, ›neue Kriege‹ würden uns »in die vormoderne, vorwestfälische Ära«, in neo-mittelalterliche hobbesianische Anarchie oder gar in archaisches Stammesdenken zurückversetzen und »das Wesen des Krieges« selbst habe »sich gewandelt«. 61 Sind die neuen Kriege als solche und im Ganzen ›neu‹ bzw. ›neuartig‹ ? Wären sie dann nicht auch anders zu nennen, um irreführende Verwechselungen mit ›alten‹ Kriegen zu vermeiden, mit denen sie in Anbetracht ihrer mehr oder weniger tief greifenden bzw. radikalen Neuheit kaum mehr als den Namen gemeinsam haben dürften? Oder soll die Rede von neuen Kriegen nur anzeigen, dass einiges oder vieles – wie etwa ihre Entregelung, Entstaatlichung, Kulturalisierung und spezifische Ökonomisierung, ihre sog. Entterritorialisierung bzw. Delokalisierung und ›Hybridisierung‹ 62 sowie ihre Anteile an depolitisiertem Terrorismus – an ihnen relativ neu ist, so dass es sich insofern nur um andere Kriege, nicht aber um anderes als Krieg handeln würde? 63 Wenn diese Frage auf die conditio humana bezogen wird, ist sie keineswegs nur von akademischer Bedeutung für Beiträge zu ›modernen‹ Theorien des Krieges, wie sie von Carl v. Clausewitz über WlaDas gilt möglicherweise besonders für die dem Krieg vielfach attestierte fundamentale Bedeutung hinsichtlich der Formation gesellschaftlicher bzw. staatlicher Einheiten; vgl. P. Clastres, Archäologie der Gewalt, Zürich, Berlin 2008, S. 33–82. 61 So Élie Barnavi, »Der Krieg. Zehn Thesen zu Psychologie, Kultur, Gesellschaft, Ethik und Recht«, in: Winter-Ausgabe von Lettre International 111 (2015), S. 43 ff., hier: S. 44 und 46, rechte Spalten. Vgl. Kaldor, NaK, S. 223, 230. 62 A. Garapon, »Globalisierte Gewalt. Der Terror, die Krise des Territoriums und die Verletzlichkeit der Moderne«, in: Frühjahrsausgabe von Lettre International 112 (2016), S. 32–35. 63 Diese Frage ist keineswegs nur von abstrakt-theoretischer Bedeutung, steht und fällt der klassische Begriff des Krieges doch mit seinem Gegensatz, dem Frieden. Aber genau dieser Gegensatz wird unterlaufen von ›neuen‹ Kriegen, die zur normalen Lebensform werden, sich aber weder als militärische Konflikte im Sinne des klassischen Kriegsbegriffs noch auch als Formen bloßen Unfriedens zureichend begreifen lassen. 60

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dimir I. Lenin, Erich Ludendorff, Carl Schmitt und Raymond Aron bis hin zu Panajotis Kondylis, Martin v. Creveld, John Keegan, Gabriel Kolko, Ekkehart Krippendorff, Jehuda Wallach, Michael Walzer, Mary Kaldor, Hartmut Dießenbacher, Herfried Münkler und vielen anderen vorliegen. Denn in diesem Bezug steht ja offenbar in Frage, ob und inwieweit das ›Neue‹ der neuen Kriege entweder uns Menschen selbst (›im Kern‹ oder ›substanziell‹, in unserem ›Dasein‹ und ›Sosein‹) oder das Verständnis der Bedingungen betrifft, unter denen wir existieren. 64 Damit geht die Implikation einher, ›wir‹ existierten unter geschichtlich variablen Bedingungen, die ggf. ›unser‹ Wesen oder Sein radikal betreffen, um es in der ihm eigenen Geschichtlichkeit selbst und nicht etwa nur ›akzidentell‹ zu verändern. Führen etwa neue Kriege auch zu einer ganz und gar veränderten conditio humana? Und das womöglich sogar ›weltweit‹ bzw. ›global‹ ? Betreffen so gesehen die neuen Kriege keineswegs nur diejenigen, die sie führen oder unmittelbar unter ihnen leiden, sondern uns alle? Rechtfertigt das die Frage nach dem Zusammenhang von new wars und der human condition? So einfach liegen die Dinge keineswegs. In der Diskussion um neue Kriege wird mit Recht darauf hingewiesen, dass sie neben ›neuen‹ auch zahlreiche ›altbekannte‹ Momente beinhalten, darunter Verstümmelungen, massenhafte Vergewaltigungen, systematisches Verhungernlassen und genozidale Gewalt, die gerade den Europäern angesichts ihrer kolonialistischen Geschichte längst bekannt sind und in Erinnerung geblieben sein müssten. 65 Wer Genzoid unter Hinweis auf die erst im Jahre 1944 erfolgte Prägung dieses Begriffs durch Raphael Lemkin für etwas gänzlich ›Neues‹ hält, beweist nur, was er alles vergessen oder übersehen hat (s. u.). 66 Kriege sind auch nicht – im Gegensatz zum ›klassischen‹, angeblich ›ordentlich‹ nach Bei Garapon heißt es ausdrücklich, die »globalisierte« Gewalt gehe mit einer »neue[n] Art und Weise des In-der-Welt-Seins« einher (ebd., S. 34, mittlere Spalte). 65 D. Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen – Nolte, Furet und die anderen, Köln 22009, fünftes Kap. 66 http://www.preventgenocide.org/lemkin/AxisRule1944–1.htm; S. Benhabib, »International Law and Human Plurality in the Shadow of Totalitarianism: Hannah Arendt and Raphael Lemkin«, in: Constellations 16, no. 2 (2009), S. 331–350; A. D. Moses, »The Holocaust and Genocide«, in: D. Stone (Hg.), The Historiography of the Holocaust, Basingstoke 2004, S. 533–555; ders., »Raphael Lemkin, Culture, and the Concept of Genocide«, in: D. Bloxham, A. D. Moses (Hg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies, Oxford 2010, S. 19–41. Heute wird genozidale Gewalt auch mit sog. ethnischen Säuberungen in engste Verbindung gebracht. Lt. Kaldor ist dieser Begriff 64

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konventionellen Regeln geführten Krieg, dem noch Carl Schmitt nachtrauerte 67 – erst in den letzten Jahrzehnten »schmutzig« geworden, wie es die Diskussion um das Geschäft von warlords gelegentlich suggeriert; das waren sie immer schon. Eher nähren sie jetzt verstärkt die ebenfalls nicht ganz neue Illusion, sie seien ›sauber‹ zu führen – aus großer Distanz, ohne sich die Hände dreckig zu machen, ohne das eigene Gewissen zu belasten, nicht viel anders als Computerspiele, die ebenfalls die Frage aufwerfen, welche neuen Formen des Handelns und der (Un-)Verantwortlichkeit sie mit sich bringen. Zwar lassen solche Elemente neuartiger Formen der Kriegsführung in der Tat auch die im Allgemeinen für uralt gehaltene conditio humana in neuem Licht erscheinen. Das gilt insbesondere für die menschliche Verletzbarkeit und Sterblichkeit. Nie zuvor war es wie heute dank der Drohnen-Technologie möglich, buchstäblich ›aus heiterem Himmel‹ mit ›intelligenten Waffen‹ getötet zu werden, wie es im Zeichen des mehrfach erklärten global war on terrorism (Ronald Reagan; George W. Bush 68) unter anderem in Afghanistan inzwischen alltägliche Realität ist, und zu töten, ohne überhaupt vor Ort zu sein, um etwa einem Feind gegenüberzutreten. Solche und viele andere Elemente des Krieges sind unbestreitbar relativ neu, ihre Erfindung und Implementierung tatsächlich jüngeren Datums. Aber schließlich trifft die kriegerische Gewalt immer Menschen, die ihr, im Prinzip von Geburt an, in welcher Form auch immer, ausgesetzt sind und immer schon ausgesetzt waren. Letztlich trifft sie immer verletzend, verwundend und schließlich tödlich nicht nur ›Kombattanten‹ im weitesten Sinne, sondern auch Kinder, Frauen und alte Menschen, die paradigmatisch (und oft stereotyp) für alle diejenigen stehen, die ihr wehrlos zum Opfer fallen. Gewiss sind auf dieser basalsten ›körperlichen‹ Ebene der Wirkung kriegerischer Gewalt erhebliche Unterschiede festzustellen – von der instantanen Auslöschung (wie in Hiroshima und Nagasaki) bis hin zur mit Absicht herbeigeführten qualvollen, nicht enden wollenden Agonie schwer Verwundeter, Verstümmelter, Verstrahlter, die der Tod nicht umgehend von ihrem Leiden erlöst. (Genau darauf ist denn auch die

erstmals in Verbindung mit der Vertreibung von Armeniern und Griechen aus der Türkei in den 1920er Jahren verwendet worden (NaK, S. 55 f.). 67 Vgl. C. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 31988, S. 232 f. 68 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_gegen_den_Terror

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Wirkung bestimmter Waffentypen berechnet.) Auf dieser Ebene waren Menschen allerdings immer schon, so scheint es, exzessivem Verletzt-, Verwundet- und Vernichtet-werden-können ausgeliefert. Greift man nicht deshalb immer wieder zum alten Klischee der ›Hölle‹, die Menschen aller Zeiten einander mit allerdings höchst unterschiedlich ›entwickelten‹ Mitteln bereitet haben, wenn man das Äußerste dieser Exzessivität zur Sprache bringen will? Ist an der rückhaltlosen Auslieferung an äußerste Gewalt, die sich nicht mehr im ›Horizont‹ irgendeiner ›Erfahrung‹ beschreiben lässt, heute irgendetwas wirklich ›neu‹ ? Oder kann sich die Rede von ›neuen‹ Kriegen nur auf die Organisationsform der fraglichen Gewalt beziehen? Waren Menschen nicht seit jeher eben der Gewalt – in allen möglichen und denkbaren Formen – grundsätzlich ausgesetzt, die sie in ihren Verhältnissen zueinander selbst heraufbeschwören? Erneut 69 muss man fragen: Besagen das nicht bereits der Mythos von Kain und Abel, die u. a. von Livius überlieferte Fabel von Romulus und Remus, Lukrez’ Bericht über die »Natur der Dinge« 70 sowie Thomas Hobbes’ Definition des Menschen durch »das Größte« 71, was er dem Anderen antun kann: ihn ums Leben zu bringen? Spätestens Vergils und Dantes Epen, die Aeneis und die Göttliche Komödie, führten zwar eindringlich vor Augen, dass es weit Schrecklicheres gibt als Mord und Totschlag – Schrecklicheres, das die Anderen angetane Gewalt als schier endlos erscheinen lässt. Doch auch diese ›Hölle‹ mit ihren verschiedenen ›Kreisen‹ konnten Menschen einander immer schon bereiten, ganz gleich mit welchen Mitteln. In diesem verfinsterten Horizont, so könnte man meinen, haben sie immer schon existiert. Von Anfang an waren sie der Möglichkeit ausgesetzt, dass ihnen durch Andere das Schlimmste zugefügt werden kann. Aber kann ihnen nicht, paradoxerweise, »noch Schlimmeres« widerfahren? Bereits Bartolomé de Las Casas hat diese Frage aufgeworfen und damit den Finger in die nie verheilende Wunde unseres Gewaltdenkens gelegt, als er gleich zu Beginn seiner Beschreibung der »Verwüstung der Westindischen Länder« durch die Spanier von der »grausamsten Art«, Andere »aus der Welt zu vertilgen«, be-

Wie schon in Kap. XXVIII, 2. Lukrez, Von der Natur der Dinge, II, 572 f., S. 63. 71 T. Hobbes, Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen. Lehre vom Bürger, Leipzig 1949, S. 80. 69 70

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richtete, wenig später, angesichts »neu erfundener Todesarten« 72, aber dazu übergehen musste, hyperbolische Register zu ziehen: Diese Arten erwiesen sich nämlich als noch weit grausamer als das Grausamste. Schließlich geht der Verfasser dazu über, »noch schrecklichere Dinge« 73 zu berichten – und muss doch, solange er überhaupt noch Worte hat, unvermeidlich ›diesseits‹ dessen bleiben, was er in geradezu beschwörenden Worten in den Horizont der Sprache zu holen versucht. 74

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In Anbetracht des Schlimmsten und seiner Hyperbolik liegt es nahe, dieses Ausgesetztsein im Sinne einer Ontologie des Menschen historisch zu deuten. Gewiss: geboren werden bedeutet, wie Jean-Luc Nancy schreibt, »sich exponiert [zu] finden« 75; aber das kann niemals sofort und gewissermaßen vollumfänglich, sondern mit zunehmender Radikalität erst im Laufe einer Geschichte geschehen, die nach und nach gewaltsam offenbart, wie man Anderen rückhaltlos ausgesetzt ist – und zwar als ein ›Wesen‹, dem offenbar alles Wesentliche mangelt, so dass kein direkter anthropologischer Weg mehr offen steht, auf dem zu erkunden wäre, was uns ›essenziell‹ und womöglich in ›geschichtsresistenter‹ Art und Weise ausmacht, sei es als potenzielle Gewalttäter, sei es als durch Gewalt in jedweder, darunter kriegerischer Form potenziell verletzbare und zu vernichtende Opfer. Die Philosophie, die dieses Ausgesetztsein zur Sprache bringt, tut dies im Lichte geschichtlicher Gewalt signifikant anders als etwa Martin Heidegger, der in Sein und Zeit (1927) das menschliche Dasein ahistorisch als ein in die Welt »geworfenes« und ihr »verfallendes« beschrieb (§ 38). 76 Vor allem Emmanuel Levinas charakterisiert – Zit. n. B. de Las Casas, Kurzgefaßter Bericht, S. 11, 21. Ebd., S. 25, 65. 74 Vgl. die sarkastische Variation dieses Gedankens bei Karl Kraus, der gerade die (mit wienerischem Akzent ausgesprochene) Redensart »’s ist nicht das Schlimmste, solang man noch sagen kann: dies ist das Schlimmste« für das Unerträglichste gehalten zu haben scheint (Weltgericht I [1919], Frankfurt/M. 1988, S. 63). 75 J. Derrida, Berühren. Jean-Luc Nancy, Berlin 2007, S. 69. 76 Und damit eine durchaus nachvollziehbare existenzielle Erfahrung, wie man sie bei Fjodor Dostojewski beschrieben findet, in den Rang eines ontologischen Existenzials erhob. Vgl. F. Dostojewski, »Das Urteil«, in: T. Martin (Hg.), Alles ist erlaubt. Das Karamasow-Gesetz, Berlin 2015, S. 12–17, hier: S. 15. 72 73

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nach dem Zweiten Weltkrieg und unter dem Eindruck der genozidalen Gewalt der NS-Verbrechen – menschliches Dasein nicht als in die Welt ›geworfenes‹, sondern als auf Andere radikal angewiesenes. »Von nun an«, schreibt er in seinem ersten, 1961 veröffentlichten Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit, als wolle er eine fortan – »nach dem Genozid« 77– nicht mehr wegzudiskutierende historische Zäsur markieren, »bedeutet Existieren Bleiben […] von einem menschlichen Empfang aufgetan«. 78 Existieren oder leben können wir nur dank Anderer, heißt das, die uns eine Bleibe (demeure) einräumen. Wenn sie uns nicht bei sich aufnehmen und eine dauerhafte Bleibe gewähren, sind wir zum Tode verurteilt, ob als Neugeborene oder als Flüchtlinge, die anderswo überhaupt keine andere Zuflucht mehr haben. Der Schutz davor, keine Bleibe mehr zu haben und infolgedessen tödlicher Gewalt schonungslos ausgesetzt zu sein, ist nie ein für allemal garantiert. Nichts führt das unmissverständlicher vor Augen als kollektive Gewalt, wenn sie Menschen zurückwirft auf das radikalste Angewiesensein auf Andere – und sich über es hinwegsetzt oder ihre Opfer direkt ruiniert. So drohen diejenigen, die keinerlei Zuflucht mehr finden, aus jeglicher (politischen) Welt herauszufallen. Hannah Arendt prägte dafür den Begriff »Weltlosigkeit« und meinte damit eine Verlassenheit von Anderen, in der im Fall des Überlebens radikal ungewiss ist, ob es überhaupt möglich ist, (weiter) zu existieren, ohne schutzlos dem Äußersten preisgegeben zu sein. Schutz haben wir laut Levinas rückhaltlos Anderen zu verdanken. Mangels einer Bleibe kann überhaupt kein menschliches, wirklich lebbares Leben stattfinden – was wenigstens voraussetzt, dass kriegerische Gewalt nicht unumschränkt ›herrscht‹, ob in ›alten‹ oder ›neuen‹ Formen. Handelt es sich aber nicht auch hierbei nur um ›elementare‹, uralte Bedingungen menschlichen Zusammenlebens, das durch kriegerische Gewalt seit jeher in einem von bloß scheinbarem Frieden vorübergehend unterbrochenem ›Naturzustand‹ gefährdet wurde, der sich noch Immanuel Kant als »immerwährender Krieg« (Georg Forster) dargestellt hat, dem er wie Hegel eine für den Fortschritt Im Gegensatz zu Heideggers Philosophie »vor dem Genozid« (gemeint ist die Ermordung der europäischen Juden); vgl. E. Levinas, Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte, Freiburg i. Br., München 2006, S. 125. 78 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, S. 223; vgl. ebd., S. 218, 237 f., 247. Jenes ›von nun an‹ deute ich hier zugegebenermaßen ziemlich frei als Indikation einer historischen Zäsur. Inwieweit das tatsächlich berechtigt ist, wäre eigens zu diskutieren. 77

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der menschlichen Gattung trotz aller »Berge von Gräueltaten« förderliche »Erhabenheit« und »Würde« beigemessen hat? 79 In seinem brillanten, 1942 veröffentlichten autobiografischen Rückblick auf die Welt von gestern, in der dies noch möglich war, sprach Stefan Zweig mit sarkastischem Unterton von »Kriegchen«, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht einmal ahnen ließen, welche Gefahr wirklich in einem radikalen Krieg liegt: die Zerstörung der Welt selbst nämlich, die keineswegs nur die irdische geschichtliche Bühne abgibt, ›auf‹ der er stattfinden kann. 80 Wenn wir den Begriff der Welt mit Kant politisch und phänomenologisch im Sinne des Horizonts aller potenziell mit uns in kommunikativer Verbindung stehender Menschen verstehen, wird deutlich, dass die Welt selbst durch deren gewaltsame Verhältnisse ganz und gar zerstört werden kann. Keineswegs ist es ein für alle Mal verbürgt, dass wir stets in diesem Horizont existieren. Genau dies stand denn auch im Zentrum von Hannah Arendts Auseinandersetzung mit der von Stefan Zweig und manch anderem bereits antizipierten, aber bis in ihre letzten Konsequenzen nicht bedachten Selbstzerstörung Europas 81, wie sie durch den Zweiten Weltkrieg und insbesondere durch die seinerzeit begangenen NS-Verbrechen unter totalitärer Herrschaft zu Tage getreten ist. Für Arendt wie für viele andere haben diese Verbrechen eine originäre Geschichtlichkeit der Gewalt offenbart, deren Radikalität scheinbar zuvor nicht zu ahnen war. Was auch immer vorher geschehen ist, »dies hätte nie geschehen dürfen«, sagte Arendt oft. 82 So 79 I. Kant, »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf« [1795/6], in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frankfurt/M. 1977, S. 191–251, hier: S. 222; Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, S. 64–69; vgl. auch G. Forster, Ausgewählte Schriften, Warendorf 2003, S. 12; W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen [1792], Stuttgart 1962, S. 54. 80 S. Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers [1942], Köln 2013, S. 12. Erst die Generation, die ab 1939 in den Krieg gezogen ist, habe ihn überhaupt radikal als solchen kennen gelernt, meint Zweig (ebd., S. 303, 315; zum Weltbezug siehe S. 373). 81 S. Zweig, »Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung«, in: P. M. Lützeler (Hg.), Hoffnung Europa, Frankfurt/M. 1994, S. 294–314, hier: S. 313; Vf., Gastlichkeit und Freiheit, S. 56 ff., 198, 220, 228, 233, 247, sowie das ganze Kap. VI, 3; siehe auch Anm. 88 zu Kap. I. 82 H. Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München, Zürich 22006, S. 17; https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah. html

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suggerierte sie, durch serielle Ermordung von Millionen Menschen sei eine radikale und im Grunde von jeglicher Moral abgelöste Vernichtbarkeit Anderer zu Tage getreten, die den Horizont der bis dahin bekannten Gewaltgeschichte ganz und gar gesprengt hätte. Genau diese Vernichtbarkeit sei das eigentlich Neue der neueren Geschichte der Gewalt, so alt deren Ursprünge im Übrigen auch sein mögen. 83 Abgesehen davon, ob nicht auch für jene ›ursprünglichen‹ Brudermorde gilt, dass sie nie hätten geschehen dürfen, insofern sie für den nicht nur weit zurückliegenden, sondern in jeder Gründung einer politischen Lebensform wiederholten Ursprung einer endlos sich fortsetzenden Geschichte der Gewalt 84 und der aus ihr resultierenden Schuld 85 stehen, fragt man sich, ob nicht Ähnliches lange vor jenen Verbrechen stattgefunden hat. Schließlich kommt genozidale Gewalt, als die man jene Verbrechen glaubte deuten zu können, schon im Alten Testament zur Sprache. Und Todorov hat – wie lange vor ihm bereits Charles de Montesquieu 86 – deutlich gemacht, wie »das 16. Jahrhundert […] Zeuge des größten Völkermordes in der Geschichte der Menschheit werden« konnte 87 – im Zeichen der seinerzeit anbrechenden Neuzeit, der manche noch heute bescheinigen, die Gewalt nach und nach einer durchgreifenden, allerdings immer noch andauernden Pazifizierung der menschlichen Lebensverhältnisse unterworfen zu haben. 88 Todorov spricht vom »vielleicht modernen Charakter«, welcher der Vernichtung der alten Einwohner Amerikas anhafte, und deutet ihn als »atheistischen [Massen-] Mord«, in dem offenbar »alles erlaubt« gewesen sei, wie es an berühmten Stellen in Fjodor Dostojewskis Die Brüder Karamasow heißt. 89

83 Vgl. auch H. Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß, München 2003, S. 86 ff., 107. 84 Ich beziehe mich hier auf die v. a. im Anschluss an Derrida wieder aufgelebte Diskussion um sog. Gründungsgewalt; J. Derrida, Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt/M. 1991. 85 P. Ricœur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, Freiburg i. Br., München 21988. 86 C. de Montesquieu, Perserbriefe [1721], Frankfurt/M. 1988, S. 212. 87 T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt/M. 1985, S. 13; F. M. Dostojewski[j], Die Brüder Karamasow, Frankfurt/M. 182002, S. 114, 355, 861. 88 So S. Pinker in seinem Buch Gewalt. 89 Todorov, Die Eroberung Amerikas, S. 168, 175.

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Hat sich aber genozidale Gewalt, haben sich Massenmorde und Liquidierungen großen Stils je darum geschert, was ›erlaubt‹ ist und was nicht? Ist absolute moralische Indifferenz dem Gebotenen und Verbotenen gegenüber ein neuartiges Phänomen, wie es Tzvetan Todorov mit Blick auf die an den indigenen Völkern Amerikas verübten Verbrechen und Hannah Arendt wie auch Emmanuel Levinas und Zygmunt Bauman mit Blick auf die Vernichtung der europäischen Juden zu behaupten scheinen? In unseren Tagen ›fragt‹ jedenfalls genozidale Gewalt offenbar überhaupt nicht mehr danach, was ›erlaubt ist‹, was nicht und wer darüber befindet. Sie ruiniert und liquidiert ganze Lebensformen und Ökologien auf jede erdenkliche Art und Weise, die den jeweiligen Überlebenden vielfach überhaupt kein lebbares Leben mehr erlaubt. Das existenzielle Pathos, mit dem man vom Marquis de Sade über Isidore L. Ducasse, den Comte de Lautréamont, Friedrich Nietzsche und Fjodor Dostojewski bis hin zu Georges Bataille, Albert Camus und Maurice Blanchot die Frage diskutiert hat, ob es überhaupt ein Gebot ›gibt‹, nicht zu töten, ob man es straflos übertreten kann oder ob da gar nichts ›ist‹, über das sich anscheinend gewissenlose Untäter erst hinwegsetzen müssten – wie sogar noch Adolf Hitler, indem er erklärte, das Gewissen sei »eine jüdische Erfindung« 90 –, mutet demgegenüber eigentümlich ›antiquiert‹ an. Das gilt selbst für Emmanuel Levinas und Paul Ricœur, die im Gesicht des Anderen die ›Spur‹ des Gebotenen – nämlich nicht zu töten – meinen entdecken zu können, als ob es wie einst der Berg Sinai als nach wie vor unauslöschlicher Ursprung der Moral zu verstehen sei. Setzen sich auch neue Kriege und Genozide – nur ›technisch‹ oder ›organisatorisch‹ anders als ›alte‹ – über diesen in der Stimme des Gewissens gewissermaßen ständig wiederholten Ursprung der moralischen conditio humana hinweg? Oder zeichnen sie sich gerade dadurch aus, dass sie überhaupt keine Spur von einem solchen ›Ursprung‹ verraten? Lehren sie über die conditio humana insofern nichts Neues? Weder in den genozidalen Verbrechen unserer Tage, die durch internationales Recht als solche klassifiziert werden, noch auch in lange schwelenden low intensity conflicts wird allerdings noch eine ›metaphysische Revolte‹ gegen einen Gott geprobt, von dem man

Lt. H. Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1940, S. 210 f.; zur Bewertung dieser fragwürdigen Quelle vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Rausch ning.

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immer noch nicht sicher weiß, ob er ›tot‹ ist oder nicht 91 und ob ihm allein letztlich jener Ursprung zu verdanken ist. Und diese Formen der Gewalt widersprechen von sich aus auch keinem Gebot. Sie ereignen sich vielmehr scheinbar ganz und gar indifferent in hässlicher Normalität, die zur Lebensform werden kann, in der man sich bspw. nicht scheut, Kindersoldaten in bandenförmigen Milizen zu organisieren, die jederzeit jedes gewünschte Verbrechen begehen, sehr zum ethnischen, ideologischen und ökonomischen Vorteil ihrer sich wohlweislich im Hintergrund haltenden Anführer, die ihre privatisierten ›neuen Kriege‹ bewirtschaften wie einen Acker, dessen dauerhafte Fruchtbarkeit entscheidend davon abhängt, ob es gelingt, die Gewalt der Herrschenden am Leben zu erhalten, ganz gleich in welcher Form. Während sich die Philosophie der Gewalt mehr oder weniger selbstherrlich, anachronistisch oder bereits verzweifelt auf biblische Quellen, auf Kants Theorie des Gewissens, dessen Stimme angeblich nur überhört, aber nicht zum Schweigen gebracht werden kann, oder auf Levinas’ Phänomenologie des Anderen beruft, aus dessen Gesicht ›sprechen‹ soll, was sich jeglicher Gewalt widersetzt, geht die Gewalt neuer Kriege weiterhin ihre eigenen Wege. 92 Und zwar derart souverän, dass man erhebliche Probleme damit hat, die passenden Worte für sie zu finden. Das Attribut ›neu‹, das man den Kriegen unserer Gegenwart angeheftet hat, ist symptomatisch für diese Lage. Es verrät mehr Ratlosigkeit als tiefe Einsicht. 93 Spätestens seit dem moderVgl. A. Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969; J.-L. Nancy, Philosophische Chroniken, Zürich, Berlin 2009, S. 25 f. 92 »Wenn die Menschen andere leiden machen wollen oder gar die Zivilisation selbst zerstören, dann gibt es nichts mehr außerhalb des Menschen selbst, woran man appellieren kann, nichts, das bezeugt, daß solches Handeln es verdient, verdammt zu werden.« Vgl. R. P. Wolff, B. Moore, H. Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/M. 1966, S. 75. Mehr noch: auch ›innerhalb‹ des Menschen gibt es womöglich nichts dergleichen. Um diese Frage dreht sich die Diskussion jener Quellen, des Gewissens und der Spur des Anderen heute. Aber kann jener Befund überhaupt als ›neu‹ gelten? Woher Francis Fukuyama dessen ungeachtet die Überzeugung nimmt, »aus den Bedürfnissen der Hominiden heraus« habe sich die menschliche Gattung aufgrund eines »natürlichen […] Sinn[s] für Sittlichkeit« zu einer »zutiefst sozialen« entwickelt, ist mir unerfindlich; F. Fukuyama, Das Ende des Menschen, München 2004, S. 201. 93 D. h. nicht, dass die realwissenschaftliche Expertise geringzuschätzen wäre, die auf die neuartigen Organisationsformen neuer Kriege aufmerksam gemacht hat, wohingegen die meisten philosophischen Schriften zur Gewalt weithin auf das konzentriert bleiben, was ich provisorisch die ›große‹ und ›extensive‹ Gewalt nennen möchte. Sie 91

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nen Partisanenkampf unterläuft ›entstaatlichte‹ Gewalt alle Grenzen zwischen Krieg und Frieden, Staaten- und Bürgerkrieg, Militär und Zivil, Feind und Verbrecher, Ethnischem und Politischem, Innen und Außen, Tätern und Opfern. 94 Dabei ist sie in einer Weise ›normal‹ geworden und hat derart dauerhafte Formen angenommen, dass sich traditionelle Begriffe wie Mord und Verbrechen, auf die sich die Philosophie der Gewalt und des Krieges oft verstreift, vielfach nur noch schwer anwenden lassen. In dieser Lage steht diese Philosophie scheinbar hilflos da. Nachdem sie eine Modernisierung des Staunens, der angeblichen Hauptquelle aller Philosophie, zum Entsetzen 95 angesichts radikaler Gewalt hinnehmen musste, wird sie von einer sonderbaren Müdigkeit befallen, wo sie zu dem Schluss kommt, unter dem Eindruck solcher Gewalt existiere »der Mensch« offenbar nicht länger »im Zeichen des Göttlichen, sondern des Monströsen«. Nunmehr sei »die Apokalypse des Menschen etwas Alltägliches«, wie es Peter Sloterdijk formuliert. 96 So wird im Handstreich die Vielfalt unterschiedlicher Gewalterfahrungen und das im sog. Westen, im Nahen und Mittleren Osten, im Herzen Afrikas und anderswo doch offensichtlich extrem verschieden ausgeprägte Ausgesetztsein, von dem Jean-Luc Nancy

verletzt und zerstört durch bewaffneten Angriff ggf. Millionen von Menschen. Das war auch der Horizont, in dem Karl Jaspers 1961 über Die Atombombe und die Zukunft des Menschen und Dieter Henrich noch 1990 über eine Ethik zum nuklearen Frieden nachdachten – angesichts der inzwischen realisierbar gewordenen Selbstvernichtung der menschlichen Gattung. Seitdem hat sich nun aber eine breite Diskussion um die Frage entwickelt, ob Gewalt allemal nur in kriegerischen Formen begegnet, ob nur in extensiven und unübersehbaren Formen, oder ob sie auch subtil und ›unspektakulär‹, sozusagen normalisiert, auftritt – und was sie anrichtet, wenn sie Anderen nicht geradewegs ans Leben geht, um sie zu verletzen, zu zerstören, zu vernichten. Zweifellos unterscheiden sich die viel zitierten low intensity conflicts nicht allein durch ihre äußere Erscheinungsform und durch ihr Ausmaß von der ›großen‹ Gewalt, die jene Philosophen allein im Auge hatten. 94 Vgl. C. Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 37; Kaldor, NaK, S. 35. Auch in diesem Fall erscheint das Neue neuer Kriege bei näherem Hinsehen nicht als absolut neu, wenn es stimmt, dass der moderne Partisanenkrieg als »neo-hobbesianisch« eingestuft werden kann; vgl. Münkler, ÜK, S. 195. 95 Vgl. P. Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt/M. 2001, S. 144, sowie Vf., »Menschen – verzeitlicht, entsetzt. Umrisse gegenwärtiger Historisierung anthropologisch-medialen Denkens«, in: P. Stoellger (Hg.), Mediale Anthropologie, i. V., Anm. 57. 96 Sloterdijk, Nicht gerettet, S. 166.

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sprach, nivelliert in einer dem Anschein nach ganz neuen Bestimmung der conditio humana, der zufolge ›wir alle‹, gleich wo, alltäglich apokalyptisch leben. 97 In diesem Grau-in-Grau alltäglich gewordener Apokalyptik oder apokalyptischer Alltäglichkeit erübrigen sich differenzierte Bestandsaufnahmen neuer Formen von Gewalt genauso wie speziellere und eingehendere Untersuchungen der conditio humana. Schließlich ist hier von vornherein von »dem Menschen« im Singular, nicht von den Menschen im Plural und ihren vielfältigen Lebensformen die Rede. 98 Wie sie in höchst unterschiedlicher Art und Weise ›der‹ Gewalt in ›alten‹ und ›neuen‹ Formen ausgesetzt sind oder weiterhin von Anderen ausgesetzt werden, bringt ein derartiger, keinerlei realwissenschaftliche Expertise zur Kenntnis nehmender direkter Zugriff auf eine vermeintlich neue Wirklichkeit ›des‹ Menschen nicht zum Vorschein. Darin lag schon immer die spezielle Schwäche direkten anthropologischen Redens über all das, was angeblich den Menschen als solchen ausmacht; ob ›seit jeher‹ oder in ganz ›neuer‹ Art und Weise ist demgegenüber sekundär. 99 Deshalb muss man das immer wieder neu anhebende, sich auch bei Strafe weitgehender Antwortlosigkeit immer neu entzündende, meist als ›anthropologisch‹ eingestufte ›Fragen nach dem Menschen‹ anders entfalten: nicht als ›direkte Rede‹ über ›den‹ Menschen und sein Wesen, das ihn angeblich seit jeher und unter allen Umständen ›essenziell‹ ausgemacht hat oder auf neue Weise ausmacht (wenn es stimmen sollte, dass sich dieses Wesen nur historisiert begreifen lässt, wie es Helmuth Plessner und andere vermutet hatten), sondern als ›indirekte Rede‹ über menschliches Dasein, das in seiner Geschichtlichkeit nur im Lichte sehr variabler Bedingungen überhaupt ansatzweise erkennbar wird. Genau in diesem Sinne spricht denn auch Paul Ricœur in seinem Spätwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (frz. 2000; dt. 2004) von Um zu dieser Diagnose zu gelangen, brauche man sich nicht einmal in die »Nähe« der fraglichen Gewalt zu begeben, befindet Sloterdijk (ebd., S. 212). 98 »Die Menschen existieren nicht nur wie alle irdischen Lebewesen im Plural, sie tragen die Signatur dieser [!] Pluralität in sich«, schreibt Hannah Arendt in: Sokrates: Apologie der Pluralität, Berlin 2016, S. 60. Die Frage ist aber gerade, ob wie bei Arendt mit Blick auf alle irdischen Lebewesen in gleicher Weise von Pluralität die Rede sein kann, wenn die Singularität in sozialer Hinsicht als Nicht-Substituierbarkeit gedeutet wird; vgl. J. Derrida, »Hostipitality«, in: G. Anidjar (Hg.), Jacques Derrida: Acts of Religion, New York, London 2002, S. 356–420, hier: S. 410 ff. 99 Vgl. H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft Bd. 2, Frankfurt/M. 1965, S. 51, zu einer entsprechenden Kritik an J.-P. Sartre. 97

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einer conditio historica und vermeidet selbst eine Ontologie der Geschichtlichkeit, um die Bedingungen, unter denen Menschen existieren, in ihrer Ambiguität begreifen zu können. Einerseits handelt es sich darum, all jenen, höchst unterschiedlichen Situationen Rechnung zu tragen, in die »jeder sich jeweils impliziert, Pascal würde sagen: ›eingeschlossen‹, findet«. Andererseits geht es um eine Bedingung der Möglichkeit »von ontologischem Rang«. Wir machen nämlich Geschichte und schreiben Geschichte, »weil wir geschichtlich sind«. 100 Aber wie und inwiefern wir ›geschichtlich existieren‹ – als leibhaftige, verletzbare und sterbliche ›Wesen‹ –, lässt sich eben nicht auf dem Weg einer ›direkten Ontologie‹ klären, wie sie offenbar Heidegger vorschwebte, sondern nur so, dass wir von jenen Situationen ausgehen, um uns eine indirekte Vorstellung davon zu machen, was es für Menschen heißt, ihnen ausgesetzt geschichtlich zu existieren. So kommt dasjenige, dem sie ausgesetzt sind, zuerst in den Blick; zuletzt, wenn überhaupt, die ihnen selbst zuzuschreibende Struktur des Ausgesetztseins. Im Fall der Gewalt und ihrer angeblich neuen, kaum mehr im klassischen Sinne als ›kriegerisch‹ zu verstehenden Formen ist nicht einmal gewiss, dass wir sie als dasjenige, dem Menschen ausgesetzt sind, ›unverkürzt‹ zum Vorschein bringen können. Dass man von ihr handeln könnte, ohne lebensgefährliche ›Nähe‹ zu ihr auch nur zu riskieren, wie Sloterdijk meint, ist kaum anzunehmen. Wer nur von Gewalt und Krieg redet, ohne beidem ausgesetzt zu sein, in wie geringer oder gerade noch zu ertragender ›Dosis‹ auch immer, läuft Gefahr, sich in bloßem Kriegs- und Gewaltgerede zu verlieren. Man muss also riskieren, diese Nähe zuzulassen, um in Erfahrung zu bringen, wie Menschen neuen und alten Formen der Gewalt ausgesetzt sind. Erst dann kann zur Sprache kommen, wie man dieses Ausgesetztsein selbst zu verstehen hat, ohne fahrlässigen Generalisierun100 P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 2004, S. 441, 579. Mit Recht weist dieser Autor darauf hin, dass in der existenzialen Ontologie weder der Leib noch auch die Gebürtigkeit angemessen berücksichtigt wird (ebd., S. 533, 549, 577, 583). Doch auch darauf, wie wir letztere und die menschliche Sterblichkeit zu verstehen haben, hat geschichtliche Erfahrung einen tief greifenden Einfluss, den jene Ontologie systematisch zum Verschwinden bringt, obgleich auch Heidegger zugeben musste, sich nur vom ›Existenziellen‹ her dem ›Existenzialen‹ nähern zu können. Zur Historizität der Sterblichkeit vgl. Vf., »Maurice Blanchots Schrift des Desasters und die Historizität menschlicher Sterblichkeit«, in: Zeitschrift für Genozidforschung 18, Nr. 2 (2018), Themenheft unter der Überschrift: »Kollektive Gewalt und Literatur«.

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gen auf den Leim zu gehen, die bestimmte Formen des Ausgesetztseins zu einer vermeintlich universalen conditio humana erheben. Das Ausgesetztsein der Einen ist aber nicht das Ausgesetztsein der Anderen. Die Einen leben nach wie vor, obgleich das »Zeitalter der Sicherheit« nach einschlägigen Diagnosen doch längst hinter uns liegen sollte 101, in einer saturierten Sekurität, welche der Existenz Anderer Hohn spricht, die ihre Bleibe und jede vertraute Lebensmöglichkeit auf der Flucht vor extremer Gewalt hinter sich lassen mussten. Ob die Einen und die Anderen überhaupt auf ähnliche Weise ›existieren‹, wird sich nur im Vergleich der Situationen zeigen können, denen sie ausgesetzt sind. Auch dies hat bereits Stefan Zweig realisiert, als er schon kurz nach der ›Machtergreifung‹ Hitlers (bzw. nach der Übergabe unumschränkter politischer Macht an ihn durch die ›Eliten‹, die die Weimarer Republik verraten haben) angesichts der ersten aus Deutschland sich nach Österreich absetzenden Flüchtlinge schrieb: »Ausgehungert, abgerissen, verstört, starrten sie einen an; mit ihnen hatte die panische Flucht vor der Unmenschlichkeit begonnen, die dann über die ganze Erde ging. Aber noch ahnte man nicht, als ich diese Ausgetriebenen sah, dass ihre blassen Gesichter schon mein eigenes Schicksal kündeten, und dass wir alle, wir alle Opfer sein würden […].« 102 Jeder Flüchtling war offenbar dazu »bereit, die jämmerlichen Trümmer seiner Existenz wohin immer über Erde und Meere zu schleppen, was immer zu tun, was immer zu dulden, nur fort von Europa, nur fort, nur fort!« – wohin auch immer. 103 Im autobiografischen Rückblick realisiert Zweig, dass sich in der Situation der ersten Flüchtlinge die radikale Entsicherung seiner eigenen, vermeintlich noch fest in eine »Welt der Sicherheit« eingefügten Existenz ankündigte; eine Entsicherung, die ihn zu bedingungsloser Flucht anderswohin nötigen sollte, wo er rückhaltlos auf die Gastlichkeit ganz und gar Fremder angewiesen sein würde. So waren die ersten Flüchtlinge keine absolute Ausnahme, sondern zeigten bereits an, was bald darauf nicht nur die europäischen Juden, auf die Zweigs ›wir‹ zunächst hindeutet, sondern potenziell tatsächlich ›alle‹ betreffen sollte. Das hebt reale Unterschiede der Lebenslagen derer, die bereits auf der Flucht sind bzw. waren, einerseits und der101 102 103

Zweig, Die Welt von gestern, S. 17. Ebd., S. 481. Ebd., S. 561.

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jenigen andererseits, die noch keinen konkreten Grund dazu erkennen konnten bzw. können, keineswegs auf. Aber Zweig macht doch unmissverständlich deutlich, dass die Situation des Flüchtlings ein radikales Ausgesetztsein offenbart, das unter Umständen jeden Anderen heimsucht und auf die Gastlichkeit Fremder angewiesen sein lässt, die allein davor bewahren kann, dass er der Weltlosigkeit und Verlassenheit überantwortet bleibt, von der bei Hannah Arendt die Rede ist. So ergibt sich aus dem Vergleich der existenziellen Situation jener Flüchtlinge der 1930er Jahre mit dem vermeintlich ›gesicherten‹ Leben Anderer, die realisieren müssen, alsbald selbst die Flucht ergreifen zu müssen oder doch allenfalls vorläufig ein solches Leben genießen zu dürfen, die Herausforderung, dessen existenziale Grundstruktur neu zu bestimmen. Demnach sind wir ›in der Welt‹ nur dank Anderer, die uns dessen versichern, in ihr eine Bleibe zu haben, wenigstens bis auf weiteres, niemals aber so, dass es vollkommen ausgeschlossen sein könnte, die Flucht aus ihr ergreifen zu müssen. Wir existieren so gesehen nur als potenzielle Flüchtlinge. 104 So offenbart die Besinnung auf die konkret höchst unterschiedlich ausgeprägte conditio historica, unter der Menschen dies – sei es akut in der Nötigung zur Flucht, sei es eher ›theoretisch‹ – realisieren, eine ontologische Verletzlichkeit im Angewiesensein auf Andere, von der man in einer angeblich ›fundamentalen‹, gänzlich ahistorischen Ontologie des Menschen nichts erfährt, die sich über die Empirie geschichtlicher Erfahrung einfach hinwegsetzt, um auf direktem hermeneutischem Wege die Grundstrukturen menschlichen Daseins zur Sprache zu bringen. 105 Eine indirekte Ontologie hätte dagegen von der geschichtlich artikulierten Erfahrung auszugehen, um im Vergleich der höchst unterschiedlichen Situationen, denen Opfer menschlicher Gewalt ausgesetzt sind, zu eruieren, wie sie offenbaren, was es bedeutet, ›ausgesetzt‹ zu sein; d. h. nicht nur ›geboren‹ zu sein, wie Nancy meint, sondern auch durch Andere verletzbar und auf sie angewiesen zu sein, um einer Welt zugehören zu dürfen, die ihren Namen verdient 104 Arendt ging so weit, daraus zu schließen, dass man wissen müsse, »daß die Flucht die Wirklichkeit ist, in der die Welt sich meldet«; H. Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, München, Zürich 2001, S. 32 f.; vgl. https://signale.cornell.edu/text/human ity-dark-times-thoughts-about-lessing 105 An dieser Stelle übersehe ich keineswegs, wie sehr Heidegger und seine Anhänger betont haben, gar nicht am Menschen oder an den Menschen, sondern allein am ›Sein‹ interessiert zu sein, kann aber an diese Diskussion hier nicht anknüpfen.

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– auf die Gefahr hin allerdings, im Prinzip jederzeit wieder aus ihr verstoßen und in die Flucht geschlagen werden zu können, was schließlich in Weltlosigkeit, Verlassenheit und äußerste Gewalt zu münden droht. Sofern Menschen alter und neuer Gewalt nicht einfach zum Opfer fallen, sofern sie sie überleben und die Flucht ergreifen können, spiegelt sich in dieser letzten Konsequenz ihrer Erfahrung nur ein ontologisches Ausgesetztsein, dem wir alle überantwortet sind, das wir aber im ständigen Bemühen um Sicherheit vor uns zu verbergen suchen – bis zu einem Punkt, wo auch die Situationen der Flüchtlinge unserer Tage kaum mehr etwas mit denjenigen zu tun zu haben scheinen, welche die Bürger Europas mehr oder weniger selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Die Philosophie der Gewalt, die jene Situationen dagegen ernst nimmt und auf ihre ontologischen Implikationen hin untersucht, indem sie fragt, was sie uns über ein womöglich universales Ausgesetztsein lehren, dem sich niemand je ganz entziehen kann, muss solche ›Abwehrmaßnahmen‹ unterlaufen und schonungslos zur Sprache bringen, wie sie eine Weltlosigkeit und Verlassenheit kaschieren, vor der diejenigen, die wenigstens vorübergehend eine Bleibe haben, nur dank Anderer sicher sein können. Im vertieften Verständnis dessen, was wir so gesehen – im schlimmsten wie im besten Falle – Anderen ›zu verdanken haben‹, denen wir rückhaltlos ausgesetzt sind und die uns radikal ausgesetzt sind, hat nach wie vor sozialphilosophisches Denken eine eigenständige Aufgabe, die von keiner historischen oder sozialwissenschaftlichen Expertise, von der es sich belehren lässt, und von keinem literarischen Zeugnis zu ersetzen ist. So könnte es auch zu einem besseren Verständnis Europas beitragen, aus dem niemand mehr unter allen Umständen anderswohin sollte fliehen müssen und das Anderen Zuflucht zu bieten verspricht, denen anderswo genau das widerfahren ist. Schließlich ist Europa angesichts dieser historischen Erfahrung mit Recht als ein einzigartiges Versprechen gedeutet worden, dem Rechnung zu tragen. 106 Ob es sich weiterhin daran erinnern oder angesichts zahlloser neuer Flüchtlinge, die den Europäern den Spiegel 106 So jedenfalls deute ich, was J. Derrida in einschlägigen Texten zur Genealogie Europas gesagt hat. Die hier sich anschließende Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschichte und Normativität, wie sie die Rede von einem ›Versprechen‹ zweifellos nahelegt, kann im verfügbaren Rahmen nicht angemessen entfaltet werden; vgl. dazu H. Joas, W. Knöbl, Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt/M. 2004, S. 658 ff., zu Z. Bauman, sowie S. 763 und die Anm. 150 zu Kap. I.

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ihres eigenen ›Ausgesetztseins‹ vor Augen halten, auf die Flucht vor sich selbst begeben wird, um sich – etwa nach ungarischem Vorbild – auf antieuropäische Weise behaupten zu wollen, steht allerdings dahin.

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Epilog Ob wir davonkommen ohne gefoltert zu werden, […] ob wir nicht wieder hungern, die Abfalleimer nach Kartoffelschalen durchsuchen, ob wir getrieben werden in Rudeln, wir haben’s gesehen. Ob wir nicht noch die Zellenklopfsprache lernen, den Nächsten belauern, vom Nächsten belauert werden, und bei dem Wort Freiheit weinen müssen. Ob wir uns fortstehlen rechtzeitig auf ein weißes Bett oder zugrunde gehen am hundertfachen Atomblitz, ob wir es fertigbringen mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin. Marie L. Kaschnitz 1 Es könnte sein, daß das Los des Denkens lediglich darin besteht, von dem zu zeugen, was ihm inkommensurabel ist. Doch wer Zeugnis sagt, sagt Spur, und wer Spur sagt, sagt Einschreibung, Retention, Bleibe (demeure). Jean-François Lyotard 2

Das schon oft an die Wand gemalte »Horrorbild […], daß sich gegenwärtig das Soziale auflöst« 3, ist ebenso abwegig wie die vielfach artikulierte Furcht vor einer nichts mehr auslassenden, durch virtuelle Medien massiv verstärkten Soziokratie unbegründet. Wer wie Jacques Rancière solcher Furcht das Wort redet 4, findet sich alsbald in der Allianz derjenigen wieder, die das Soziale, aber auch das Bürgerliche als solches verwerfen, um den verbliebenen Strukturen des Sozialstaates den Rest zu geben, was nur dazu führen kann, die Negativität des Bestehenden mittel- oder langfristig dramatisch zu verschärfen. 5 War bzw. ist der Sozialstaat nicht das Versprechen, sich institutionell mit dieser Negativität zum Wohle aller ständig auseinanderzusetzen, sie aber auch dann niemals ignorant zu vergleichgültigen (wie es vielfach seine Kritiker im Sinn haben), wenn er ihr

1 2 3 4 5

M. L. Kaschnitz, Steht noch dahin, Frankfurt/M. 51979, S. 7. J.-F. Lyotard, Das Inhumane, Wien 32006, S. 223. U. Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt/M. 1997, S. 179. J. Rancière, Der Philosoph und seine Armen, Wien 2010, S. 288. Vgl. ebd., S. 300.

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nur höchst unzulänglich gerecht werden kann? Es mag sein, dass sich viele, allzu viele nahezu frag- und widerstandslos einer allgegenwärtigen und globalen Vernetzung ausliefern, ohne auch nur zu ahnen, welche Kehrseiten dies haben muss. Aber die Theorie des Sozialen, so wie sie hier rekapituliert worden ist, leistet zu einer solchen, neuen Form freiwilliger Knechtschaft keineswegs Beihilfe. Im Gegenteil hat sie sich gegen eine alles beherrschende Kommunikation, Integration und Inklusion gewandt, die uns um jegliche Heterogenität zu bringen droht. Sie erinnert uns daran, dass wir als leibhaftige Wesen, die niemals wirklich ›ins Internet gehen‹ können, wie eine gedankenlose Phrase lautet, nach wie vor als Fremde zur Welt kommen und so auch wieder aus ihr scheiden. In der Zwischenzeit, wo wir, mehr oder weniger gastlich aufgenommen, vorübergehend und im Vorübergehen an Anderen, d. h. gemäß einer ihrem Sinn nach sozialen Zeit leben, gehen wir doch niemals ›restlos‹ in ihr, in einem ›unauthentischen‹ Man 6 oder in einer zu verachtenden Masse 7 auf, wie es Priester eines »hohen Erwartens« à la Botho Strauss befürchten, der schließlich ganz bewusst im »Reaktionären« einer vermeintlich privilegierten Einsamkeit Zuflucht sucht, wohin ihm kein mittelmäßiger, angeblich sozial domestizierter, um die ganze Wildheit eines außer-ordentlichen Lebens gebrachter Bürger jemals soll folgen können. 8 Derart elitäre, letztlich anti-demokratische Selbststilisierung verkennt, wie sehr sich der Diskurs über das Soziale in dem Maße einer unaufhebbaren Alterität verschrieben hat, wie die Gefahr unabweisbar wurde, alles und jeden restlos zu vergemeinschaften und zu vergesellschaften, gerade auch dort, wo man Anderen mit vernichtender Gewalt zugesetzt hat. Die Radikalen, die sich genau dem widersetzt haben, zahlen allerdings einen hohen Preis, wenn sie diese Alterität verabsolutieren oder privilegierte Einsicht in sie für sich in Anspruch nehmen. Wenn es stimmt, dass sich das/der/die Andere allemal abgründig als ›anders‹ erweist, ohne je ins Selbe oder ins Selbst wieder einzuscheren, ist dieser befremdlichen Alterität so nie-

J.-P. Sartre, Tagebücher. Les carnets de la drôle de guerre. November 1939 – März 1940, Reinbek 1984, S. 19–25. 7 J. Baudrillard, Im Schatten der schweigenden Mehrheiten oder Das Ende des Sozialen, Berlin 2013. So lehrreich viele (gezielte) Übertreibungen dieses Autors auch sein mögen: er begibt sich mit ihnen ausgerechnet derjenigen theoretischen Mittel, die ihm zu einer kritischen Zeitdiagnose verhelfen könnten. 8 B. Strauss, »Reform der Intelligenz«, in: Die Zeit, No. 14 (2017), S. 41 f. 6

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mals beizukommen. 9 Auch nicht durch einen sich religiös bzw. theologisch für ›inspiriert‹ haltenden Diskurs, der ihren eigentlichen Sinn glaubt ganz aus eigener Kraft bezeugen zu können. An dieser Stelle drohen fragwürdige Aneignungen; und zwar auch dann (und vielleicht gerade dann), wenn man die Alterität als uns wenn nicht absolut, so doch wenigstens radikal entzogene beschwört. Nimmt man sie nicht auch genau darin für sich in Anspruch? Hilft dagegen überhaupt etwas anderes, als die Rede vom ›Anderen‹ rückhaltlos der hermeneutischen, rhetorischen und politischen Anfechtbarkeit auszusetzen? Nachdrückliche Anregungen dazu sind schon von Jacques Derridas früher, unvergleichlicher Kritik am ersten Hauptwerk von Emmanuel Levinas ausgegangen. Inzwischen ist die Kritik aber weitergegangen. Sie hat die Alterität des Anderen auf der Linie der von Levinas selbst vorgezeichneten Tertialität auf Dritte und auf politische Lebensformen bezogen, um der Frage nach dem Anderen eine sozietäre Bedeutung zurückzugeben, die bei Levinas zeitweise aus dem Blick zu geraten schien, wo er zögert, die Alterität des Anderen rückhaltlos auch als dem Sozialen ausgesetzt zu verstehen. So war nur schwer wieder Anschluss zu finden an eine sozialphilosophische Literatur, die sich von Anfang an auf das Gesellschaftliche konzentrierte und dabei über weite Strecken nicht realisierte, wie sehr wir darauf angewiesen sind, von sozialem Leben nicht vereinnahmt zu werden. Würde nicht jeder in gewisser Weise ›draußen‹ bleiben, wäre nicht einmal François Ewalds, eingangs des ersten Kapitels zitierter Satz (bzw. die Klage), es gebe »kein Außerhalb mehr«, sinnvoll und verständlich. 10 Als ursprünglich Welt-Fremde kommen wir von außen, aus dem Inhumanen, würde Jean-François Lyotard vieldeutig sagen 11, und können ›zwischenzeitlich‹ niemals ganz in der ›Immanenz‹ der Bedingungen aufgehen, die uns das Soziale, während wir es in einem ›passageren‹ Leben Am Ende bleibt es bei »›nothing‹ but a structure of pointing away from self, self included, and […] making room for the arrival of an Other [that] can never be turned into a result or conclusion«. Paradoxerweise mündet das u. U. in den Traum reiner Singularität eines Anderen, »that rebuffs all (self-)alteration through relation to an Other«; R. Gasché, Inventions of Difference. On Jacques Derrida, Cambridge, London 1995, S. 12, 15. So würde eine im Zeichen des Anderen radikalisierte Sozialphilosophie schließlich in deren eigene Selbstauflösung umschlagen. 10 F. Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M. 1993, S. 484, 489. 11 Zur Zweideutigkeit des Inhumanen (als des im moralischen Sinne Unmenschlichen vs. als des Vor- bzw. Noch-nicht-Menschlichen) vgl. Lyotard, Das Inhumane, S. 11– 19. 9

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gleichsam durchqueren, auferlegt bzw. die wir uns selbst auferlegen, um über ein bloß indifferentes Mitsein, über schiere Co-Existenz oder ein être-avec hinaus gelangen zu können. 12 Letzteres mag unaufhörliches Anknüpfen, Verketten und Vernetzen möglich machen, wie es von Niklas Luhmann über Kurt Röttgers bis hin zu Bruno Latour sehr gut beschrieben wird; aber diese inzwischen auf höchstem technischem (digitalem) Niveau vielfach banalisierten kommunikativen Modalitäten lehren uns nicht von selbst, inwiefern es darauf ankommt, ob und vor allem wie auf Andere als solche Bezug zu nehmen ist. 13 Dazu bedarf es nach der hier dargelegten Überzeugung einer existenziellen Negativität, deren Quellen so lange nicht versiegen werden, wie Neuankömmlinge – pathische und responsive Wesen, welche in keiner Weise schon wissen, was und wer sie überhaupt sind – zur Welt und zur Sprache kommen und alsbald um die schiere Lebbarkeit ihres Lebens kämpfen müssen – wenn man ihnen nicht in ihrer leibhaftig-situierten Existenz entgegenkommt, um den berüchtigten »Kampf des [!] Anerkennens« 14 nicht alles beherrschen zu lassen. Seit Thomas Hobbes’ Zeiten dominiert in der Neuzeit und bis heute ein viriles, kampfbetontes Denken des Sozialen, das kaum Verständnis aufbringt für Momente des Gebens (die in der allerersten Würdigung der Neuankömmlinge und in dem, was sie uns aufgeben, schon erkennbar sind), der Passivität (ohne die sich eine passionierte Freiheit gar nicht denken lässt), der Sensibilität (die für die Alterität des Anderen aufschließt) und eines nicht privativ aufzufassenden Nicht-Könnens, auf das wir in vielfältigen Formen des Gewährens, des Empfangens und des Lassens angewiesen sind. Fast durchgängig erweist sich dieses Denken als auf die Behauptung eines sujet capable,

Vgl. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie [1912], Bern, München 1974, S. 141. »Eine ›Gesellschaft‹ von Steinen gibt es nicht«, heißt es hier lapidar. Auf der Grundlage bloßer Indifferenz lässt sich in globaler Hinsicht auch die »nouvelle question de l’autre« nicht entfalten (A. Mbembe, Sortir de la grande nuit, Paris, 2010, S. 118; ders., Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im zeitgenössischen Afrika, Wien, Berlin 2016, S. 11 ff.), die zu einer Politik weltweiter Gastlichkeit herausfordert. 13 Dass die sogenannten sozialen Medien vielfach neue Formen kommunikativer und im Grunde anti-politischer Verwahrlosung hervorgebracht haben, kann an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. 14 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III 1830, Werke 10 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt/M. 1986, § 432, S. 221. 12

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eines Könnens, Handelns und agonaler Auseinandersetzung verpflichtet, die vor allem gegen Andere zu führen ist, eher selten auch mit ihnen. Dafür, dass wir von Anfang an und vielleicht schicksalhaft allenfalls zu einem gewaltsamen »Miteinander im Modus des Gegeneinander« verurteilt sind und über Kants »ungesellige Geselligkeit« kaum hinausgelangen, mag kulturgeschichtlich und ontologisch vieles sprechen. Die Archäologie der Gewalt weist ebenso in diese Richtung wie Theorien des Krieges und unaufhebbarer Konflikthaftigkeit gerade auch demokratischer Lebensformen. 15 Und doch muss man sich fragen, ob wir uns nicht vom Streit, von der Gewalt und vom Krieg auch beherrschen lassen – um so erst die angebliche Herrschaft dieser Phänomene mitsamt ihrer subjekttheoretischen Deutungen über uns zu inthronisieren –, wenn wir nicht den Versuch machen, das, was hier provisorisch die ›Topografie des Sozialen‹ genannt wurde, möglichst unvoreingenommen zu erkunden. Nicht umsonst bildete eine Rückbesinnung auf die menschliche Generativität gleichsam das Scharnier zwischen dem ersten, primär dem Anderen gewidmeten, und dem zweiten Teil des vorliegenden Buchprojekts, der Konturen des Sozialen als eines Geschehens herausarbeiten sollte, das sich ständig zwischen uns abspielt, ohne sich je durchgängig normativ regeln zu lassen. Dabei zeigte sich buchstäblich Elementares bzw. Elementales: Wenigstens sind wir ›zukünftigem Leben‹ von Neuankömmlingen die Antwort auf die prä-normative Frage schuldig, was wir ihnen schulden. Im ›Element‹ dieser Schuld bewegen wir uns unvermeidlich. 16 Neugeborenes oder ähnlich radikal auf uns angewiesenes Leben wie das des Flüchtlings wirft jene Frage ›immer schon‹ auf, nicht erst dann, wenn man sich darauf besinnt, was für Rechte einem an sich anspruchs- und rechtlos vorhandenen Leben wohl über seine an-

15 S. Hampshire, Morality and Conflict, Oxford 1983; J. Assmann, D. Harth (Hg.), Kultur und Konflikt, Frankfurt/M. 1990; W. Heitmeyer, Was treibt die Gesellschaft auseinander? Frankfurt/M. 1997; J. Friedrichs, W. Jagodzinski (Hg.), Soziale Integration. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1999. 16 Im Gegensatz zu Derridas Behauptung einer »unquittable debt of being there« und einer sozialen, angeblich zugleich »heiligen« Schuld, die jeden von Geburt an zu deren Abtragung verpflichten würde; vgl. J. Derrida, »Hostipitality«, in: G. Anidjar (Hg.), Jacques Derrida: Acts of Religion, New York, London 2002, S. 356–420, hier: S. 383; P. Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen [2011], Berlin 2017, S. 218, 226 zu Léon Bourgeois.

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spruchs- und rechtlose ›Nacktheit‹ hinaus zukommen mögen. 17 Keine Sozialphilosophie, die ihren Namen verdient, würde wohl die gedankliche Gegenprobe bestehen, wenn sie dieses Element vor-juridischer Schuld in Abrede stellen wollte. Wenn zur Welt gebrachtes Leben aber die Spur einer unaufhebbaren, jene Frage aufwerfenden Alterität im doppelten Sinne des Wortes verrät, ohne deren Würdigung es im Grunde unlebbar zu werden droht, dann müssen sich daraus Konsequenzen für ein auf gesicherte und würdige Formen der ›Bleibe‹ angewiesenes Zusammenleben im Dissens, im respektierten Anderssein, in vielfältigen, gewaltträchtigen Differenzen ergeben, das gewiss niemals eine integrale Gemeinschaft oder umfassende gesellschaftliche Inklusion versprechen kann. Umso mehr kann und muss es Sensibilität für das nicht Integrierbare, ›draußen‹ Bleibende, Fremde und scheinbar Unannehmbare beweisen, nicht zuletzt im Mut des Hörens genau darauf und im Vertrauen auf seine Passibilität, die es all dem aussetzt. Allerdings macht es einen entscheidenden Unterschied, wie man sich dazu verhält, etwa indem man diese Passibilität leugnet oder sich dem Ausgesetztsein selbst eigens aussetzt. 18 Weit entfernt, nur gewaltträchtige, am Ende traumatische Überforderungen heraufzubeschwören, stiftet im Verhältnis zum Anderen nichts derart Vertrauen wie genau das – gerade auch dort, wo Fremde als potenzielle Feinde begegnen und demokratische Lebensformen dazu verleiten, sich wie in einer Autoimmunreaktion hermetisch nach außen abzuschließen – als wären sie nicht selbst ganz und gar auf dieses ›Außen‹ gegründet, als wäre es ursprünglich Welt-Fremden je möglich, ganz ›bei sich‹ und ›unter sich‹ zu sein. In Wahrheit handelt es sich hierbei um gewaltsame Fiktionen, deren Dekonstruktion schon einiges dazu beigetragen hat, sich auch dem Krieg rückhaltlos zu stellen, den man bestimmten Feinden unter dem pseudo-philosophischen Titel infinite justice angedroht hat, um sie endlich auszulöschen. Nur ein rückhaltlos sich ausgesetzt begreifendes und sich selbst aussetzendes Leben wird vor solcher Gegengewalt zu bewahren sein, die andernfalls mit In diese Richtung zielt auch die häufige Berufung an Hannah Arendts Postulierung eines Rechtes, Rechte zu haben. Dem Juridismus entgeht man so nicht. 18 Vgl. bspw. P. Weiss, Fluchtpunkt, Frankfurt/M. 1965, wo der Versuch, das eigene Ausgesetztsein anzunehmen, schließlich in eine ›flüchtige‹ Lebensform mündet, die einerseits eine politisch »fruchtbare Unzugehörigkeit« stiften soll, andererseits aber Gefahr läuft, sich in einer kafkaesken Verlorenheit zu isolieren (ebd., S. 161 f., 164, 194 f.). 17

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fataler Notwendigkeit auf die Feinde der Feinde zurückschlagen muss. Nur ein solches Leben wird sich auch der Affirmation des Kampfes und des Krieges als einem uns angeblich beherrschenden »Vater«, »König« oder »Gesetz« widersetzen, dem einige wieder das Wort reden, nachdem sie bereits die ganze Landschaft des Sozialen am geschichtlichen Horizont unserer Gegenwart haben versinken sehen. Aber ob es das Soziale ungeachtet dessen weiterhin gibt, ob es und in welcher Form es jenseits des sozialen Nationalstaats künftig Bestand haben wird 19, ist gewiss niemals einfach deskriptiv festzustellen – genauso wenig, wie es einfach neu zu erfinden ist, nachdem man es hat verkümmern lassen. 20 Es steht und fällt vielmehr mit einer zwar phänomenologisch aufweisbaren und zu bezeugenden, aber streng genommen nicht beweisbaren Einsicht in die unaufhebbare Alterität des Anderen und in deren mannigfaltige Gegenwart in einer welt-weiten 21 Chronotopografie des Sozialen. In Anlehnung an Edmund Husserl sprachen Jean-Paul Sartre und Maurice MerleauPonty von einem »Feld der Freiheit«. 22 Auch als im Zeichen des Anderen ›passionierter‹ steht dieser Freiheit allerdings die Möglichkeit offen, von der Maßgeblichkeit unaufhebbarer Alterität nichts wissen zu wollen und zu bestreiten, dass sich sozialtheoretisches Denken mit ihr befassen müsste. Den Anderen und das Soziale gewissermaßen überkreuzt, d. h. den Anderen auf das Soziale hin und letzteres auf eine unaufhebbare Alterität hin zu denken, markiert nicht dialektiVgl. M. Albrow, Das Globale Zeitalter. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/M. 2007, Kap. 8, S. 159 ff., wo im Zeichen der Globalisierung von einer »Wiederentdeckung des Sozialen« und optimistisch von dessen permanenter »Selbsterzeugungsfähigkeit« die Rede ist. 20 W.-D. Narr, A. Schubert, Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 227 ff.; S. Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen, Bielefeld 2008, S. 17, 56. 21 J.-L. Nancy zielt mit seinem Begriff der mondialité bzw. der mondialisation in diese Richtung; u. a. in: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung, Berlin 2003, S. 19; ders., Die herausgeforderte Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 12; ders., Wer hat Angst vor Gemeinschaft?, Berlin 2009, S. 18. Dabei kommen freilich konkrete sozialstaatliche Strukturen noch nicht in den Blick. Angesichts dieser Schwierigkeit muss man sich fragen, wie es überhaupt um die weiteren Chancen steht, den Diskurs des Anderen und den Diskurs des Sozialen wenn nicht zu integrieren, was aussichtslos erscheint, so doch miteinander zu kreuzen. Vgl. (bspw.) P. Hayat, Emmanuel Levinas, Éthique et Société, Paris 1995; S. Moebius, Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt/M., New York 2003. 22 J.-P. Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek 2005, S. 579; M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], Berlin 1966, S. 515. 19

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sierbare Spannungsverhältnisse, in denen sich unser Leben wirklich abspielt – in einer anarchie improvisatrice 23, wo man am Unmöglichen zu Grunde geht, wie es Friedrich Nietzsche so schön doppeldeutig gesagt hat 24, als er jene äußerste Sensibilität zum Ausdruck bringen wollte, der er sich im Verlangen nach einem wirklich lebbaren Leben rückhaltlos verschrieben hatte. Nicht ahnend, dass er damit zugleich getroffen haben könnte, wie wir einander ausgesetzt, aber vielleicht doch nicht gänzlich hilf- und wehrlos ausgeliefert sind. Anderen zum Dank.

J. Derrida, E. Roudinesco, De quoi demain … Dialogue, Paris 2001, S. 42. F. Nietzsche, »Unzeitgemäße Betrachtungen II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 1 (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, S. 319.

23 24

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Nachweise

Vorwort und Einleitung zu Bd. I: Erstveröffentlichung. Kapitel I: Erstveröffentlichung Kapitel II geht zurück auf einen Vortrag über die »Ontologie des Sozialen in historischer Perspektive« anlässlich der internationalen Konferenz des Belgrader Center for Ethics, Law and Applied Philosophy (CELAP) und des dortigen Instituts für Philosophie und Gesellschaftstheorie zum Thema »Annäherung an eine Ontologie des Sozialen«, 21. 11. 2014, Belgrad/Serbien. Eine frühere Version ist erschienen in: H. Zaborowski, Ž. Radinković, R. Jovanov (Hg.), Phänomenologische Ontologie des Sozialen, Belgrad 2015. Kapitel III geht zurück auf einen Vortrag zum Thema »Ethik im Prozess historischer Revision: Sozialphilosophie« im Rahmen der Ringvorlesung »Ethik – Wozu und wie weiter?«, 22. 1. 2014, an der TU Darmstadt. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: G. Gamm, A. Hetzel (Hg.), Ethik – Wozu und wie weiter?, Bielefeld 2015. Kapitel IV: revidierte Fassung eines Vortrags über »Othered existence« im Rahmen der internationalen Konferenz The Existential Interpretation of Being Human in Philosophy and Psychology: Validity and Topicality, veranstaltet vom Center for Philosophical Anthropology (Vilnius/Litauen), vom Søren Kierkegaard Research Center (Kopenhagen/Dänemark) und vom Center for Religious Studies and Research (Vilnius/Litauen), 4. 10. 2013, in der Litauischen Akademie der Wissenschaften, Vilnius. Eine engl. Fassung wurde veröffentlicht unter dem Titel »›Othered‹ existence. Thoughts on S. Kierkegaard, G. Simmel and E. Levinas’ ›Diachrony and Representation‹ (1982) in a political perspective«, in: Topos. Journal for philosophy and cultural studies, no. 1 [The Existential Interpretation of Being Human in Philosophy and Psychology: Validity and Topicality] (2014). http:// 1079 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Nachweise

topos.ehu.lt/en/journal/ToposNo-1-2014/; Erstveröffentlichung in gedruckter Form. Kapitel V geht zurück auf einen Vortrag über »Die menschliche Stimme und die Tradition des Expressivismus« im Rahmen des interdisziplinären Projekts The cultural and scientific context of ›Jüdisches Sprachdenken‹ in 18th and 19th centuries, Van Leer Institute, Jerusalem/Israel, 4.–7. 11. 2008. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 63 (2016), Nr. 1. Kapitel VI: stark überarbeitete Fassung eines Beitrags zum Thema »Von der Phänomenologie der Offenheit zur Ethik der Verwundbarkeit: Merleau-Ponty, Ricœur, Levinas« auf der Konferenz zum Thema Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität am 29. 9. 1995 in der Universität Eichstätt; eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: R. L. Fetz, R. Hagenbüchle, P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität Bd. 2, Berlin, New York 1998. Kapitel VII geht zurück auf meinen Habilitationsvortrag im Dezember 1994 am Philosophischen Institut der Ruhr-Universität Bochum; eine frühere, hier stark überarbeitete Fassung wurde veröffentlicht in: R. Breuninger (Hg.), Philosophie der Subjektivität und das Subjekt der Philosophie, Würzburg 1997. Auszüge aus dem Anhang wurden zuerst vorgetragen im Rahmen einer Keynote Address anlässlich des interdisziplinären Forschungskolloquiums »Gabe – Ethik – Theologie«; Alfried-Krupp-Wissenschaftskolleg Greifswald, 5. 9. 2012. Eine frühere, längere Fassung wurde veröffentlicht in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 38, Nr. 1 (2013). Kapitel VIII: stark bearbeitete Fassung meines Nachworts zu P. Ricœur, Anders. Eine Lektüre von Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht von Emmanuel Levinas, Wien, Berlin 2015. Kapitel IX: überarbeitete und gekürzte Fassung meines Nachwortes zu D. Janicaud, Die theologische Wende der französischen Phänomenologie, Wien, Berlin 2014.

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Nachweise

Kapitel X geht zurück auf einen Vortrag im Rahmen des Workshops »Konzepte von Leiblichkeit« des Wissenschaftlichen Netzwerks »Kulturen der Leiblichkeit« an der FernUniversität Hagen, am 7. 11. 2009; eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 58, Nr. 2 (2011). Kapitel XI geht zurück auf einen Vortrag über »Theorien widerständigen Sprechens« anlässlich der Internationalen Arbeitstagung Antagonistische Verschränkungen. Zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie am Philosophischen Institut der Universität Wien, 21. 6. 2014, sowie auf eine Projektvorstellung am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover, 12. 10. 2017; eine stark verkürzte Fassung wurde veröffentlicht unter dem Titel »Rhetorik, Dissens und Widerstand«, in: A. Hetzel, G. Posselt (Hg.), Handbuch Rhetorik und Philosophie. Handbücher Rhetorik Bd. 9, Berlin, Boston 2017. Kapitel XII: ursprünglich verfasst für eine von Bernhard Taureck veranstaltete Tagung in Alf (2014). Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht auf der Webseite von Res Publica Politica; http://www.respublica-politica.eu/Essay/; Erstveröffentlichung in gedruckter Form. Kapitel XIII geht zurück auf einen Vortrag am Theologischen Institut der Universität Rostock im Rahmen des interdisziplinären Projekts »Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten«, Internationales Begegnungszentrum (IBZ), Universität Rostock, 13. 4. 2012. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in P. Stoellger (Hg.), Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten, Tübingen 2014. Kapitel XIV geht zurück auf einen Vortrag anlässlich der Tagung des GRK »Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten«, Universität Rostock, 17. 10. 2014. Eine frühere, hier stark bearbeitete Fassung wurde veröffentlicht in: P. Stoellger, M. Kumlehn (Hg.), Wortmacht / Machtwort. Deutungsmachtkonflikte in und um Religion. Interpretation Interdisziplinär, Bd. 16, Würzburg 2017. Überleitung zur Chronotopografie des Sozialen: Erstveröffentlichung.

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Nachweise

Einführung zu Teil II: Erstveröffentlichung Kapitel XV geht zurück auf frühere Überlegungen, die in dem Buch In der Zwischenzeit, Zug 2016, Kap. I/II, entwickelt wurden, sowie auf eine Vorlesung im Rahmen der Ringvorlesung zum Thema »Anthropologie in pädagogischer Perspektive« am Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, 21. 11. 2017. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy 5, Nr. 2, Special Issue: Responsibility and Justice for Future Generations in Dialogue with Phenomenology (2017) (eds. M. Fritsch, F. Menga); http://metodorivista.eu/index.php/metodo/issue/view/20; Erstveröffentlichung in gedruckter Form. Kapitel XVI geht zurück auf ein Korreferat über »Solidarität, originäre Solidarisierung und Pseudo-Solidität« zu C. Hübenthals Vortrag »Taugt Solidarität als ein universalistisches ethisches Konzept?« anlässlich des Berliner Werkstattgesprächs der SozialethikerInnen am 13.–15. 2. 2006 in der Katholischen Akademie Berlin; eine frühere, hier stark bearbeitete Fassung wurde veröffentlicht in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft 48 (2007). Kapitel XVII: überarbeitete Fassung eines Beitrags zu Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium (Hg. mit A. Hetzel und H. R. Sepp), Berlin 2011. Kapitel XVIII geht zurück auf einen Vortrag zum Thema »Nach dem angeblichen ›Tod des Subjekts‹ : Menschliche und politische Subjektwerdung in der Vielfalt praktischer Subjektivierungen« im Rahmen des Internationalen, von Andreas Oberprantacher und Andrej Siclodi organisierten Symposiums Political Abilities des Philosophischen Instituts der Universität Innsbruck in Zusammenarbeit mit dem Projekt Die Arbeit am Widerstand. Politik im Zeitalter der Subjektivierung der Winter School Innsbruck und mit dem Künstlerhaus Büchsenhausen/Österreich, 27. März 2014, sowie auf einen Vortrag vor der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Universität Tübingen, am 30. 9. 2015. Erstveröffentlichung.

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Nachweise

Kapitel XIX geht zurück auf einen Beitrag zum Thema »Renaissance des Politischen durch Dissens und Unrecht? Grenzen einer Apologie nicht normalisierbarer Politik« des Philosophischen Instituts der Universität Wuppertal im Rahmen der Rancière-Tagung »Im Unvernehmen«, 15. 5. 2009, sowie auf einen Vortrag zum Thema »Unaufhebbare Gewaltsamkeit im Versprechen demokratischer Gleichheit? Zur sinnlichen Dimension des Politischen bei Jacques Rancière« in Kooperation mit der Workshop-Reihe Transformationen des Politischen und dem FWF-Projekt Religion jenseits von Mythos und Aufklärung am Philosophischen Institut der Universität Wien, 30. 10. 2014. Erstveröffentlichung. Kapitel XX wurde geschrieben zur Vorbereitung auf ein im WS 2015/6 abgehaltenes Seminar über »Freimut, Redefreiheit und demokratische Institutionen. Zu Michel Foucaults Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der parrhesía. Berkeley-Vorlesungen 1983« an der Ruhr-Universität Bochum. Erstveröffentlichung. Kapitel XXI geht zurück auf einen Vortrag zu »Paradigmen der disability und diversity studies im Spannungsfeld zwischen medizinischer und soziokultureller Perspektive auf den Menschen. Handlungskonzepte zwischen Gesundheit und Krankheit, Individuum und Gesellschaft« an der FH Kärnten, Klagenfurt/Österreich, im März 2015. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis 66, Nr. 4 (2015). Kapitel XXII: eine frühere Fassung ist erschienen in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 99, Heft 2 (2013). Kapitel XXIII geht zurück auf einen Vortrag am Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie der Universität Belgrad, Serbien, anlässlich der internationalen Konferenz »Trust and Transparency – Towards the new Europe« in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Belgrad, dem CELAP (Zentrum für Ethik, Recht und angewandte Philosophie) und dem Essener KWI, Belgrad, Serbien, 3.–4. Oktober 2012. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: A. Hirsch, P. Bojanić, Ž. Radinkovic (Hg.), Vertrauen und Transparenz – Für ein neues Europa, Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie Belgrad, Belgrad 2014. 1083 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Nachweise

Kapitel XXIV geht zurück auf einen Beitrag über »Politisches Vertrauen in politische(n) Institutionen – speziell mit Blick auf den Staat« im Rahmen der interdisziplinären Konferenz »Vertrauen in Organisationen?« der Juristischen Fakultät der TU Dresden am 1. Oktober 2015. Erstveröffentlichung. Kapitel XXV: eine frühere Fassung ist erschienen in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 102, Nr. 4 (2016). Kapitel XXVI geht zurück auf eine Vorlesung im Rahmen der interdisziplinären Ringvorlesung »Der Schulden-Komplex« an der Universität Innsbruck, 21. 4. 2016. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht auf der Web-Seite des FIPH Hannover; http://philosophie-in debate.de/wp-content/uploads/2016/12/Burkhard-Liebsch-De-mora lisierte-Gesellschaften-1.pdf; http://philosophie-indebate.de/2815/ schwerpunktbeitrag-3/#more-2815; Erstveröffentlichung in gedruckter Form. Kapitel XXVII geht zurück auf einen Beitrag zum im Sommersemester 2016 von Andreas Oberprantacher veranstalteten Workshop The Debt Complex in Verbindung mit der Spring School der Universität Bozen/Italien und der Universität Innsbruck/Österreich zum Thema. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in der Zeitschrift für Kulturphilosophie (2017). Kap. XXVIII geht zurück auf meinen am 18. 11. 2013 gehaltenen Vortrag zum gleichen Thema im Rahmen der Interdisziplinären Vorlesungsreihe, die im WS 2013/4 im Studium Generale an der Universität Mainz der Frage nach »Schattenseiten der Weltgesellschaft?« gewidmet war. Eine frühere Fassung wurde veröffentlicht in: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken 44 (2014/5). Kapitel XXIX geht zurück auf einen Beitrag »Zum Sinn der Sprache zwischen Ethik und Politik« im Rahmen der internationalen Tagung »Sprache, Ethik, Politik. Normative Dimensionen der Rede« des Critical Theories Network am Institut für Philosophie der Universität Wien im sog. Depot, Wien 1.–3. Dezember 2016. Erstveröffentlichung.

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Nachweise

Kapitel XXX geht zurück auf einen Vortrag über »Revisionen der menschlichen conditio historica im Lichte der neueren Gewaltgeschichte?« anlässlich der internationalen, von Michael Staudigl und Ludger Hagedorn organisierten Konferenz zum Thema New Wars and the Human Condition am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), Wien/Österreich, 11. 5. 2017. Erstveröffentlichung. Epilog: Erstveröffentlichung.

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Namenregister

Abel 975, 1053 Abel, G. 497 Abensour, M. 53 Abraham 184, 200 Abraham, U. Acton, J. E. E. Dalberg 424 Adler, A. 424 Adler, M. 70, 94 Adloff, F. 279 Adorno, T. W. 48, 69 ff., 133, 135, 303, 406, 639, 772, 775, 834, 898, 1006 Agamben, G. 50, 82, 160, 356, 434– 438, 527, 631, 662, 696, 701, 739 f., 743, 745, 877 Agier, M. 717 Aglietta, M. 888 Aischylos 396 Alberti, L. B. 706 Alonso, D. 101 Althusser, L. 665, 690, 693 Altvater, E. 631 Améry, J. 829 Anaximander 563, 914, 942 Anders, G. 140, 528 Antelme, R. 139, 141, 250 Antigone 720 Apel, K.-O. 395, 982 Appadurai, A. 541 Arato, A. 584 Arendt, H. 52, 57 f., 69 f., 90, 95, 102, 116, 134, 140, 142, 254, 260, 285, 298, 308, 315, 331 ff., 370, 397, 404, 449, 463, 474, 515, 524, 590 f., 607– 611, 662, 674, 691, 694, 710, 712 f., 717, 761 f., 791, 801 f., 828, 842,

873, 904 f., 907, 915, 940, 972 ff., 988, 990, 1010, 1045, 1047, 1055 f., 1058, 1061, 1064, 1072 Aristoteles 55, 91, 97, 104, 106, 119, 126, 143, 145, 152, 161, 182, 191, 211, 303, 307, 310, 325, 327, 332, 337, 397, 407, 435 f., 489, 505, 508, 510, 538, 547, 569, 571, 595, 597, 599, 627, 690, 706, 787, 793, 863, 896, 952, 954, 971 Armstrong, T. 949 Arndt, E. M. 50 f. Aron, R. 41, 87, 1051 Augé, M. 545 Augustinus, A. 58, 232, 300, 377 Augustus (Kaiser) 435 Austin, J. L. 391 f., 1020 Avenarius, R. 339 Bachelard, G. 118, 150, 336, 408, 533 Bachmann, I. 272, 846 Bachtin, M. 407, 544 f. Badiou, A. 102, 313, 412, 738 Baecker, D. 49 Baier, A. 870, 872 Baker, K. M. 58 Baldwin, J. M. 111, 601, 675, 908 Balibar, É. 81, 415, 961 Ballanche, P.-S. 715 Barnes, C. 788 Barthes, R. 401, 405 f., 444, 447, 451, 453 f., 460–480, 538, 716, 733, 1004 Bartleby 471 Bataille, G. 48, 273, 275, 284, 290, 295, 357, 405, 408, 853, 983, 1058 Baudrillard, J. 45–53, 1068

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Namenregister Bauman, Z. 90, 133, 164, 309, 545, 591, 639, 1045, 1047, 1058 Bayer, O. 270 Beaufret, J. 166 Bebel, A. 943 Becker, H. 786 Beebe, S. D. 21, 537 Benhabib, S. 302, 639, 778 Benjamin, W. 910 f., 942 Benoist, J. 337 Bensaïd, D. 739 Bentham, J. 852 Berger, P. L. 110, 112, 114, 944 Bergmann, W. 87 Bergson, H. 208, 222, 328, 373, 570, 908 Berlin, I. 190 f. Berman, M. 591 Betti, E. 495 Bia 394 Bichat, X. 361, 408 Bielefeldt, H. 780 Biemel, W. 338 Biran, M.-F.-P. G. M. de 300, 365, 374–378, 381, 387, 410, 426, 431, 448 Blanchot, M. 27, 48, 88, 121, 133 ff., 141, 149, 160, 174, 260, 271, 284, 286 ff., 296, 316 f., 353, 357, 466, 472, 631, 634, 791, 831, 840, 853, 899, 917, 1032, 1046, 1058 Blau, P. 281 Blei, F. 633, 642 Bloch, E. 331 Blumenberg, H. 72, 357, 511 Böckenförde, E.-W. 592, 864 Boethius/Boëthius 332, 887 Boëtié, É. de la 963 Böhme, J. 188 Böll, H. 846 Boltanski, L. 112, 117, 145, 704 Bopp, F. 179 Borchert, W. 299 Borsche, T. 197 Bosch, H. 1041 Bourdieu, P. 85 f., 269, 286, 291, 545, 722, 731, 775

Bourgeois, L. 1071 Boveri, M. 587, 799, 922 Brandom, R. 113, 367, 397 Brecht, B. 719 f., 876 Brettschneider, A. 934 Briand, A. 972, 981 Britten, B. 330 Broch, H. 254, 633, 642 Bröckling, U. 682 f., 686 ff. Brown, W. 739 f., 745 Bruner, J. S. 539 Brunkhorst, H. 602 Brunschvicg, L. 210 Buber, M. 87, 92, 95, 181, 184, 200 ff., 299 f., 311, 691, 864, 975, 984, 988, 1001 Buffon, G.-L. L., Comte de 509, 555 Bühler, K. 198, 200, 481, 483 Burckhardt, J. 424 f., 428 Burdach, K. F. 520, 674 Bush, G. W. 91, 1052 Butler, J. 107, 392, 489, 690, 701, 730, 776, 778 f. Butterwegge, C. 44, 562 Buytendijk, F. J. J. 220 Caillois, R. 48, 86 Callié, A. 269, 273, 279 ff., 290, 295 f., 848, 939 Camus, A. 23, 151, 716, 1002, 1007, 1058 Canguilhem, G. 51, 83, 362 ff., 372 f., 523, 785 Caputo, J. D. 356 Cardano 64 Casey, E. S. 545 Cassirer, E. 68, 91, 156, 184, 194, 327, 392, 397, 982, 985 Castel, R. 46 Castoriadis, C. 319 Celan, P. 27, 205, 221, 304, 330 Certeau, M. de 118, 544 Chargaff, E. 512 Cheal, D. 277 Cheney, D. 91 Chladenius, J. M. 706, 708 Chrétien, J.-L. 343

1152 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Namenregister Cicero, M. T. 136, 392, 794, 863 Clark, A. 506 Clastres, P. 978 ff., 1050 Clausewitz, C. v. 1005, 1039 f., 1044, 1046–1050 Clemens v. Alexandria 563 Cohen, H. 246, 255, 356 Cohen, J. 584 Columbus, C. 910 Cometti, J.-P. 343 Comte, A. 559 Condillac, É. B. de 187, 194, 201, 287, 339 Condorcet, M. J. 57 Cook, J. 56, 545 Courtine, J.-F. 343, 349 Creveld, M. v. 1051 Crick, F. 493 Crouch, C. 678, 701 d’Alembert, J. le R. 508 D’Hondt, J. 63 da Vinci, L. 706 Dahlmann, F. C. 106 Dahrendorf, R. 754 Dallmayr, F. 644 Damon, W. 782 Dante Alighieri 533, 1041, 1053 Därmann, I. 273 Darwin, C. 21, 43, 210, 468, 493 Dastur, F. 311, 324, 343 Davidson, D. 322, 497 Debord, G. 730 Delacroix, E. 560, 1005 Deleuze, G. 50, 300, 543, 724 Derrida, J. 31, 43, 48, 88, 91, 131, 143, 180, 182, 184, 186, 200, 209, 221, 225, 235, 253, 269, 271, 274 f., 278, 281–285, 289 ff., 293, 296, 300, 316, 327, 342, 349, 355, 357, 381, 412, 429, 439, 443, 477, 524, 527, 547, 568, 626, 642, 742 f., 746, 748, 791, 853, 865, 876, 911, 915, 948, 957, 974, 986, 1032, 1057, 1065, 1069, 1071 Descartes, R. 59, 334, 354, 656, 658, 670, 838, 875

Descombes, V. 31 DesPres, T. 1038 Deucalion 18 Dewey, J. 636, 638 Di Muzio, T. 921, 933 f., 948 f. Diderot, D. 56, 508 Didi-Huberman, G. 330, 543, 1008 Diehle, A. 55 Dießenbacher, H. 1051 Dilthey, W. 374, 387, 410, 426, 431, 495, 500, 559 Diogenes v. Sinope 1013 Dobruška, M. 66 Dominguez, P. 101 Donati, P. 81 Donzelot, J. 43, 52, 66, 74 ff., 102, 543 Doretti, M. 101 Dörner, K. 604 Dosse, F. 31 Dostojewski[j], F. 226, 424, 874, 899, 914 f., 942, 1047, 1054, 1057 f. Dreitzel, H. P. 732 Driesch, H. A. E. 94 Droste-Hülshoff, A. v. 661 Droysen, J. G. 495 Du Bois Reymond, E. 673 Dufrenne, M. 357 Dulong, R. 119 Duras, M. 634 Dürer, A. 706 Durkheim, E. 85 ff., 110, 136, 596, 604 f., 610, 920 f., 923, 937, 959, 961, 966 Durosoy, J.-B. 66 Eagleton, T. 1027 Ehrenberg, A. 45, 701, 834, 948 Eichmann, A. 802 Eisler, R. 331 Eliade, M. 346 Elias, N. 64 Emerita, G. 733 Empedokles 1005 f. Enkelmann, W. D. 275 Enzensberger, H. M. 1049 Epiktet 655 f. Erikson, E. H. 817, 871

1153 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Namenregister Esping-Andersen, G. 81 Esposito, R. 88, 620, 626, 629, 631 Eumeniden 396 Euripides 738, 759 Ewald, F. 41, 53, 75, 78, 1069 Fanon, F. 996 Farah, N. 1032 Feinberg, J. 253 Ferguson, A. 57 Feuerbach, L. 87, 111, 202, 301, 445 Fichte, J. G. 51, 211, 224, 484, 673, 801, 1037 f. Ficino, M. 64 Figal, G. 495 Fink, E. 99, 102 f., 114, 144, 150, 160, 163 f., 288, 312 f., 549, 914 Finkielkraut, A. 121, 133, 139, 318 Flavell, J. H. 782 Forster, G. 56, 545, 561, 1055 Foucault, M. 48, 115, 150, 161, 176, 200, 219, 287, 319, 340, 357, 387, 409, 427 ff., 449, 452, 452, 488, 499 ff., 564, 639, 666 ff., 672, 675– 682, 684 f., 690, 693, 701, 738, 740, 745, 748, 756 f., 759 ff., 765, 940, 1003 Frank, M. 670, 960 Fraser, N. 778 f. Frazer, J. G. 88 Frege, G. 982 Freisler, R. 409 Freud, S. 164, 209, 215, 308, 323, 367, 468, 517, 528, 560, 563, 784, 890, 914, 976, 1015, 1018, 1037 Freudenthal, G. 59 Friedrich II. 496 Fukuyama, F. 91, 563, 738, 1059 Gabel, M. 343 Gadamer, H.-G. 91, 129, 131, 184, 495, 497 ff., 595, 597, 987 Gama, V. d. 910 Gamm, G. 144 Garapon, A. 1051 Geck, L. H. A. 57 Geertz, C. 88

Gehlen, A. 242 Geiger, L. 392 Geiger, T. 22, 81 Gellner, E. 799 Georgias v. Leontinoi 860, 879 Georgius Venetus 332 Gerhardt, V. 156 Gethmann, C.-F. 210 Gewirth, A. 617 Giddens, A. 52, 83 Gilligan, C. 251, 779 Ginzburg, C. 308, 490 Girard, R. 976 ff., 980, 994 Godbout, J. 269, 273 Godelier, M. 269, 277, 281 f., 930 Goebbels, J. 1025 Goethe, J. W. 661, 910 Goffman, E. 786 Goldschmidt, G.-A. 398 Goldstein, K. 94, 373 Gondek, H.-D. 342 Goodman, N. 214 Gorgias 392, 394 Görres, J. 801 Gouges, O. de 772 Gouldner, A. W. 281 Goya, F. 1041 Graeber, D. 877, 893 f., 897, 914, 929, 931 f., 934, 937, 941, 948, 957, 965 Graf, W. 409 Grant, R. W. 814 Graumann, C. F. 190 Greisch, J. 343, 446, 451, 495 Grimm, J. 179, 661, 948 Grimm, W. 179, 661, 948 Groethuysen, B. 156 Grondin, J. 495 Grossman, W. 186 f. Grotius, H. 35 Grüny, C. 1042 Guéhenno, J.-M. 469 Gump, F. 767 Günderrode, K. v. 786 Gurwitsch, A. 84, 158, 212, 373, 523, 976

1154 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Namenregister Haar, M. 343 Habermas, J. 44, 57 ff., 62, 72, 91, 174, 185, 303, 318, 322, 395, 409, 606, 640, 675, 708, 719, 790, 841 f., 961, 982 Hadot, P. 161 Haeffner, G. SJ 285 Haftmann, W. 20, 85 Haller, A. v. 795 Hamann, J. G. 188 Haraway, D. 506 Hardt, M. 416, 535, 631, 688, 786 Havel, V. 407, 411 Hegel, G. W. F. 18, 20, 22, 24 f., 30, 58, 60–64, 68 ff., 73, 80, 83, 88 f., 92, 95, 105, 107, 111, 129, 133 ff., 138, 146, 158, 184, 189 f., 196 ff., 206, 208, 232 f., 258, 300, 303, 307, 309 f., 322, 325 f., 330, 333, 339, 354 f., 361, 367, 373, 392, 410, 416, 426, 444, 448, 450, 453, 481, 483, 526, 534, 550, 557 f., 595, 660 f., 669 f., 673, 697, 702, 706, 717, 721, 740, 774, 833 f., 842, 849, 914 f., 922, 958 f., 972, 1005 ff., 1032, 1038, 1055 Heidegger, M. 35, 84, 86, 89, 91, 103 f., 107 ff., 111–116, 119, 123 ff., 151, 153 f., 158, 162 f., 166, 172 f., 185, 192 ff., 206, 208, 210 ff., 225 f., 232, 236, 255, 269, 287 f., 303, 311 f., 315, 323, 325, 327, 339 ff., 345 f., 349, 365–370, 373 ff., 397 f., 410 f., 431, 446, 451 f., 461, 495, 500, 543, 564, 570, 626, 643, 646, 648, 657 f., 677, 696, 706, 729, 742, 892, 901–905, 912, 914 ff., 976, 1023, 1054 f., 1062, 1064 Heimann, E. 79 Heinemann, F. 151 Held, D. 636 Held, G. 98 Held, K. 761, 783 Hénaff, M. 269, 273 f., 280–285, 294 f., 303, 426, 629, 831, 836 ff., 876, 890, 879, 899, 929, 931, 955, 965

Henrich, D. 225, 672, 1060 Henry, M. 342 f., 346, 374 Heraklit 563, 696, 976, 986, 1048 Herder, J. G. 51, 57, 87, 91 f., 184, 187–196, 198 ff., 301, 327, 392, 397, 982 Herodot 55 Hess, M. 66 Hessel, S. 678, 1029 Hiob 994 Hitler, A. 943, 1058, 1063 Hobbes, T. 21, 30, 59 ff., 104 f., 131 f., 135, 138, 146, 163, 205 f., 210, 217, 301, 316, 333, 379, 426 f., 448, 484, 533, 548, 629 ff., 692, 696, 774, 792, 817, 852, 863, 894 f., 971, 976, 978, 1038, 1053, 1070 Hobsbawm, E. 138, 164, 1044 Höffe, O. 815 Hoffmann, G. 87 Hölderlin, F. 301, 361, 443, 795 Homans, G. C. 281 Honneth, A. 35, 62, 71 ff., 83, 426, 639 Horkheimer, M. 48, 62, 69 ff., 834 Hösle, V. 395 Hübenthal, C. 615 Humboldt, W. v. 78, 87, 91 f., 111, 179 f., 184, 187 ff., 192 ff., 196 ff., 202, 301, 327, 392, 496, 982 Hume, D. 559 Husri, S. 51 Husserl, E. 17, 30, 86 f., 89, 107, 109, 112, 158, 185, 206 ff., 211 f., 214, 220, 222, 232 f., 236, 287 f., 300 f., 306, 311 f., 321, 325, 337–345, 347, 349, 351, 354, 357, 529, 531, 566, 585, 706, 873, 992, 1073 Ibn Khaldun 51 Imbusch, H. 562 Iokaste 759 Irigaray, L. 718, 778 Isaak 184 Isokrates 760 Itard, J. 187

1155 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Namenregister Jaar, A. 733 Jacob, F. 481, 488, 491, 493, 505, 508, 523, 567 Jacques, F. 395 James, W. 908 Janicaud, D. 141, 268, 331, 337–357, 524 Janke, W. 157 ff., Jankélévitch, V. 207, 257, 915, 948 Jaspers, K. 69, 90, 126, 151 ff., 162 f., 323, 366, 540, 915, 972, 1060 Jay, M. 831, 838 Joas, H. 72, 90, 343 Jonas, H. 19, 199, 256, 262, 515, 541, 577 ff., 582, 584, 908 Josef K. (Romanfigur) 903 Joyce, J. 355, 372, 516 Jullien, F. 300, 463 Jünger, E. 1034, 1036, 1047 Jussen, B. 508 Kafka, F. 299, 875, 903, 905 Kain 896 f., 975, 1053 Kaldor, M. 21, 537, 1039 f., 1049, 1051 Kalivoda, G. 391 Kalverkämper, H. 391 Kant, I. 35, 56, 60 f., 63 f., 94, 107, 109, 111, 133 f., 145, 185, 196 f., 205, 210, 217, 228 f., 243 ff., 251, 255, 258, 266, 276, 297, 303, 310, 316, 319 ff., 348, 355, 366, 368, 413, 415, 428, 492, 496, 509, 515, 542, 547 f., 555 ff., 560 f., 571, 586, 607, 612 f., 617, 639, 658, 705 ff., 708, 719, 757, 761 f., 771, 774, 793, 800– 804, 821, 826, 831, 840 ff., 848, 874, 902, 906, 915 f., 941 ff., 946, 959 ff., 965, 972, 978, 981, 1002, 1012 ff., 1017, 1019, 1023, 1028, 1038, 1055 ff.,1059, 1071 Kaufmann, F.-X. 80 Kay, L. E. 511 Keegan, J. 1051 Kegan, R. 782 Kellogg, F. B. 972, 981

Kertész, I. 301 Kierkegaard, S. 19, 48, 124, 149, 151, 154, 156, 158 ff., 162 f., 167, 171, 281, 310, 323, 656, 672, 677, 679, 681, 685, 914 f., 1024 Kipphardt, H. 1032 Kittsteiner, H. D. 242 Kirby, A. 541 Kleinberg, E. 166 Kleist, H. v. 786 Kobusch, T. 156 Kofman, S. 141, 1005 Kojève, A. 208, 426 Kolko, G. 1051 Kolnai, A. 1016–1020, 1027 Kondylis, P. 1051 Konrád, G. 407 Konstantin (Kaiser) 435 Koselleck, R. 560, 564 Kraus, K. 1054 Krippendorff, E. 1051 Kropotkin, P. 563, 592 Kruse, V. 65 Küchenhoff, J. 655 Kunert, G. 971 Lacan, J. 48, 287, 302 Laclau, E. 690, 693 Lacoue-Labarthe, P. 53, 133 Lamarck, J.-B. 520, 674 Lambert, J. H. 338 Lang, H. 302 Laplace, P.-S. 511 Larmore, C. 200 Las Casas, B. de 56, 1041, 1053 Latour, B. 49, 99, 535, 602, 895 ff., 921, 923, 1070 Lautréamont (Ducasse, I. L.) 1058 Lazarus, M. 200, 392 Lazzarato, M. 888, 918, 934, 948 Le Blanc, G. 655, 699 f. Leber, A. 860 Lefebvre, H. 545 Lefort, C. 53 Leibniz, G. W. 196, 214, 706 f., 710 Leinkauf, T. 28, 64, 315, 332 Lemkin, R. 972, 1051

1156 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Namenregister Lenin, W. I. 872, 1051 Lessenich, S. 43, 50, 80 f., 934 Levi, P. 801, 1046 Levinas, E. 19, 23, 31, 34, 48, 87 ff., 91 f., 94, 96, 118, 121, 123–127, 133 f., 141, 144, 152, 163, 165 f., 169 f., 176, 180 f., 184 ff., 189, 192 f., 199–203, 206–237, 240, 250, 253– 291, 299, 304–335, 338 f., 346, 348 ff., 352 ff., 357 f., 365, 367 f., 379–385, 387 f., 398, 406, 410 ff., 424, 429–435, 437–443, 466, 472, 482 f., 493, 515, 536, 541, 544, 548, 550, 559, 570, 573 ff., 584 f., 600, 613, 621, 635, 637, 642, 648, 650, 666, 690, 693 f., 706, 710, 725 f., 762, 767, 793, 892, 896 ff., 901, 916 f., 975, 984–988, 990–995, 999, 1001 f., 1943 ff., 1047 ff., 1054 f., 1058 f., 1069 Lévi-Strauss, C. 87, 273, 280 f. Lewin, K. 542, 545 Link, J. 535 Litt, T. 88, 281 Livius, T. 715, 976, 1053 Locke, J. 60, 136, 287, 339, 484, 864, 943 Lohmann, G. 94 Loick, D. 698 Loraux, N. 136, 709, 721 Losurdo, D. 1036, 1045 Lovejoy, A. O. 526 Löwith, K. 84, 86 f., 111 f., 157, 159 f., 255, 309 ff., 345, 976 Luckmann, T. 110, 112, 280 Ludendorff, E. 1049, 1051 Lueger, K. 1025 Luhmann, N. 24, 49, 85, 105, 205, 535, 602, 608, 790, 804, 809, 813, 815, 817 ff., 822 ff., 826 f., 830, 867, 870, 894, 921, 923 f., 1070 Lukács, G. 88 Lukrez 424, 555, 1053 Lützeler, P. M. 633 Luther, M. 496 Luxemburg, R. 303, 772 Lyell, C. 874

Lyotard, J.-F. 88, 91, 107, 353, 396, 402, 468, 5447, 706, 721, 727, 761, 775, 940, 1046, 1067, 1069 Mach, E. 339 Machiavelli, N. 104, 132, 454, 476, 820, 874, 1038 MacIntyre, A. 129 f., 356, 495, 596, 955 Mahnkopf, B. 631 Maimonides, M. 185 Maine de Biran, M.-F.-P. G. 300, 365, 374–378, 381, 387, 410, 426, 431, 448 Maistre, J. de 465, 468, 1036 Malone, D. 919, 921, 934, 948, 963 Malpas, J. 545 Mandeville, B. de 57, 246, 692 Mannheim, K. 576 Marcel, G. 116, 119, 152, 322, 366, 373 f., 907 Marchart, O. 642 Marcuse, H. 926, 942, 1041, 1061 Margalit, A. 739 Marinetti, F. 908 Marion, J.-L. 36, 287 ff., 292, 342 f., 346 ff., 353, 524, 706, 1024 Maritain, J. 156 Markova, I. 190 Mars 976 Marsilius v. Padua 17, 64 Marx, K. 18 f., 22, 43, 88, 117, 136, 310, 444 ff., 450, 468, 496, 591, 753 f., 960, 972 Maupertuis, C. de 201 Mauss, M. 87, 253, 269, 274, 280 f., 283 f., 288 f., 294 ff., 347, 629, 876, 890, 929–934, 937, 955–959, 965 f. Mbembe, A. 996, 1070 Mead, G. H. 22, 87, 111, 303, 673, 675, 708 Meinecke, F. 424, 439 Meister Eckhart 1007 Melville, H. 471 Mendel, G. 240, 493 Menenius 404, 474, 969, 715, 754 Menoetes 1007

1157 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Namenregister Merleau-Ponty, M. 36, 99, 133, 152, 158, 190, 192 f., 206, 208–221, 232 ff., 287 f., 298, 319, 324, 328, 338, 341, 350 f., 353, 364, 367 f., 371, 373 f., 376 f., 387, 431, 447, 539, 543, 545, 613, 621, 645, 707, 710, 906, 924, 961, 998, 1073 Meyrowitz, J. 541 Michaels, A. 533, 545 Mill, J. S. 571 Millett, K. 1042 Milton, J. 914, 947 Minow, M. 302, 767, 769, 778, 789, 793 Mirabeau, Comte de 78 Monod, J. 240 Montaigne, M. de 56, 70, 300, 795, 963 Montesquieu, C. de 56, 70, 887, 1057 Moore, B. 1004 Mouffe, C. 414, 417, 481, 488, 688, 709, 748, 979 Müller-Armack, A. 80 Müller-Lyer, F. 732 Münkler, H. 104, 453, 1039, 1049, 1051 Musil, R. 571, 587 Nabert, J. 224, 915, 990 Nancy, J.-L. 35, 53, 84, 88, 95, 114, 164, 173, 316, 352, 418, 536, 540 f., 548, 624, 626, 631 ff., 643–652, 657, 691 f., 729, 742 f., 745, 791, 870, 877, 940, 1054, 1060, 1064, 1073 Natorp, P. 67 f. Nederveen-Pieterse, J. 544 Negri, A. 416, 535, 631, 688, 696, 786 Nicolaus Cusanus 64, 301, 332 Niederland, W. G. 898 Nienass, B. 101 Nietzsche, F. 156, 245, 324, 424, 427, 445 ff., 450 f., 456–462, 464, 468, 476 ff., 484, 497, 500 f., 625, 656, 678, 774, 892 f., 896 f., 901, 914, 917, 949, 1020, 1023, 1027, 1058, 1074 Nilsson, M. P. 1041

Nishida, K. 545 Nussbaum, M. 138, 505, 612, 782 f. Oexle, O. G. 628 Ogilvie, B. 81 Oldham Appleby, J. 936, 957 Orléan, A. 888 Orwell, G. 400, 830, 852, 1004 Parmenides 198 Parry, J. 282 Parsons, T. 88 Pascal, B. 116, 157, 159, 405, 546, 656, 1009, 1062 Pasolini, P. P. 464 Patočka, J. 69, 90, 133, 281, 341, 439, 573 Patterson, O. 392, 489 Paulus, Apostel 943 Peirce, C. S. 338 Peitho 394 Peperzak, A. 238 Perelman, C. 395 Pessoa, F. 624 Petersen, E. 435 Petrarca, F. 28, 156, 301, 569 Pfeiffer, G. 207 Piaget, J. 150, 209 f., 675, 782, 841 Pico della Mirandola, G. 64, 1035 Piketty, T. 889, 948 Pinder, W. 576 Pinker, S. 19, 165, 980, 1057 Platon 97, 143, 152, 161, 182, 300, 304, 307, 316, 325, 334, 362, 392 ff., 398, 413, 430, 484, 655, 753, 793, 863, 981, 1007, 1020, 1033 Pleines, J.-E. 1048 Plessner, H. 66, 88, 112 f., 131, 157, 159, 205, 373, 633–641, 820, 920, 993, 1061 Plotin 332, 430 Plutarch 563 Polanyi, K. 44, 80, 83, 739, 865, 929, 939, 951 f., 954 ff., 958 Polineikes 759 Pribram, K. 105 Protarchos 394

1158 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Namenregister Proust, F. 408 f., 413 Proust, M. 215 Pulcini, E. 692, 938 Quetelet, A. 85 Quine, W. v. O. 497 Rabelais, F. 914 Rancière, J. 52, 107, 120, 313, 404, 412, 414, 473 ff., 477 f., 489 f., 502, 538, 599, 647, 662, 664, 667, 693– 697, 701, 704 f., 707–737, 740 f., 743, 745 f., 748, 750–756, 761, 765, 858, 940, 995, 1067 Rauschning, H. 1058 Rawls, J. 34, 65, 612, 636 Reagan, R. 683, 1052 Renault, E. 413, 610, 732 Ricœur, P. 31, 48, 90 f., 107, 114–119, 124 ff., 133, 148, 152 ff., 164, 166– 171, 174 f., 181, 185, 211 f., 221, 224, 268, 270, 273, 276, 286, 288, 290, 293, 295 f., 298–308, 311, 318– 334, 338, 341, 343, 345, 348 f., 355, 357, 364–385, 387, 389, 407, 410, 426, 431 f., 434 f., 443, 452, 492, 495, 498, 500, 511, 518, 541, 559, 568, 580, 591, 601, 701, 707, 727, 783, 793, 795, 813, 838, 840, 865, 877, 903, 911 ff., 989 f., 998, 1043, 1058, 1061 f. Rifkin, J. 52 Rimbaud, A. 301, 739, 795 Ritsert, J. 85 Ritter, G. A. 79, 424, 439 Robertson, R. 541 Robins, R. H. 921, 933 f., 948, 967 Roose, T. G. A. 520 Roosevelt, T. 1036 Rorty, R. 145, 455, 459, 581, 594, 596 ff., 618 ff., 738, 961 Rosanvallon, P. 728 Rosenzweig, F. 92 f., 180 f., 184, 189, 200 ff., 204 f., 301, 863, 975, 984 f., 987, 1001 f. Ross, K. 739, 744 Rost, F. 285

Röttgers, K. 49, 65 f., 535, 1070 Rousseau, J.-J. 30, 56, 60, 62, 64, 66, 68, 117, 136, 187, 195, 205 f., 246– 251, 254, 265 f., 415, 555, 557 ff., 670, 692, 783, 800, 831, 840, 971 f., 1002, 1038 Rudolph, E. 464 Rumsfeld, D. 91 Ryklin, M. 451 Ryle, G. 391 Rymanów, Rabbi M. v. 185 Sade, M. de 917, 1058 Sahlins, M. 87, 269, 280, 930 Saint-Simon, C.-H. de 85 Salomo 1032 Sartre, J.-P. 86, 88, 123, 151 f., 166, 168, 206, 208, 211 f., 223 f., 288, 294, 313 f., 323, 330, 351, 370, 426, 538, 580 f., 692, 887, 903, 976, 1002, 1008 f., 1017, 1029, 1041, 1047, 1061, 1073 Saussure, F. de 322, 982 Scanlon, M. J. 356 Scarry, E. 1042 Scheff, T. J. 786 Scheler, M. 86, 206, 209, 246, 311, 319, 321, 1024, 1070 Schelling, F. W. J. 670 Schiller, F. 92, 722, 750, 757, 909, 911, 916 Schlegel, F. 378 Schleiermacher, F. 464, 495, 499, 576 Schmid, J. 1049 Schmidt, H. 53 Schmitt, C. 414, 436, 447, 472, 480, 503, 545 ff., 625, 714, 979, 1024, 1051 f. Scholem, G. 66, 181, 185 f. Schopenhauer, A. 247 Schrödinger, E. 673 Schuhmann, K. 338 Schulz, W. 228 Schürmann, R. 225 Schütz, A. 85 f., 112, 114, 119, 549, 569, 571, 576

1159 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Namenregister Searle, J. R. 92, 109–113, 119 ff., 127, 504 Sebald, W. G. 545 Selman, R. 782 Semprún, J. 624, 651 Sen, A. 782 f., 943 Seneca 58 Sennett, R. 821 Sepehri, P. 789 Serres, M. 273, 545 Shakespeare, W. 563, 914 Shalins, M. 87, 269, 280, 930 Shaw, G. B. 562 Sherman, W. T. 1041 Shklar, J. N. 70, 149, 413, 427, 610, 699, 799, 860, 875 Sigmund, S. 279 Simmel, G. 50, 63 f., 66, 85, 111, 281, 294, 672, 774, 926, 960 Sloterdijk, P. 19, 275, 729, 731, 949, 1060 ff. Smith, A. 56, 692, 894 f., 932, 953, 957 Snyder, T. 135 Sofsky, W. 1042 Sokrates 156, 283, 468, 661, 702 Solon 469, 571 Sombart, N. 274 Sontag, S. 145 Sophokles 720, 738 Spann, O. 66 Spiegelberg, H. 338 Spinoza, B. de 18, 50, 125, 246, 367, 370, 415, 696, 991 Spivak, G. 167 f. Stalin, J. 943 Stangl, F. 1005 Starobinski, J. 94, 206, 269, 283, 296, 361, 770, 840, 850 Stegmaier, W. 477, 501, 544 Stein, L. 64, 66, 79 f. Steinthal, H. 184, 200, 392 Sternberger, D. 761 Stimilli, E. 934 Stirner, M. 19 Stoellger, P. 26, 276, 482 Strawson, P. 380

Streeck, W. 53, 73, 81, 866, 933, 936, 938, 954 Strenger, C. 91 Strulik, T. 804 Stürmer, M. 802 Szasz, T. 786 Szymborska, W. 919 Taguieff, P.-A. 775 Taureck, B. H. F. 424, 470, 549 Taylor, C. 72, 188–196, 200, 452, 496, 504, 613, 910 Tengelyi, L. 342 Tepl, J. v. 557, 563 Terenz 35, 317 Ternon, Y. 90, 133 Theunissen, M. 31, 167 ff., 300, 310 f., 539, 691 Thévenot, L. 117 Thiers, A. 435 Thomas v. Aquin 57 f., 64, 452 Thukydides 130 f., 138, 625 Thurnwald, R. 280 Tibi, B. 51 Tieck, L. 661 Tocqueville, A. de 887, 1002 ff. Todorov, T. 29 f., 90, 249 ff., 254, 538, 544, 639, 801, 803, 1044 ff., 1048, 1057 ff. Tomasello, M. 675 Tönnies, F. 66, 88, 640 Topitsch, E. 507 Toulmin, S. 523 Touraine, A. 42 Trabant, J. 184, 189, 198, 201, 203, 987 Traverso, E. 90, 133, 1007 Treviranus, G. R. 520, 674 Tuchmann, B. 424 Tugendhat, E. 251 ff. Turgot, J. 57 Turiel, E. 782 Ueding, G. 391 Valéry, P. 90, 232, 877 Vattimo, G. 352, 458, 496

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Namenregister Veblen, T. 275 Verbitsky, H. 21 Vergil 1007, 1041, 1053 Veyne, P. 710 Vico, G. 35, 56 f., 100 Victor v. Aveyron 187 Virno, P. 688 Voirol, O. 700 Vollrath, E. 761 Voltaire 56, 133, 139, 164, 722 Vries, H. de 345 Wagner, D. 789 Wahl, J. 152, 207 f. Waldenfels, B. 48, 87, 94 f., 112, 207 f., 245, 321, 450, 535 f., 611, 707 Wallach, J. 1051 Walzer, M. 32, 499, 1034, 1041 f., 1051 Wassermann, F. 1049 Watson, J. D. 493 Weber, M. 72, 85 ff., 121, 424, 439, 448 f. Wegener, A. 490 Weigel, S. 508 Weil, E. 982, 987

Weiss, P. 545, 1072 Wellmer, A. 184, 987 Werber, N. 631 Westerkamp, D. 133, 351, 356 Willer, S. 508 Williams, B. 262, 783 Willke, H. 924 Wilson, N. L. 497 Winch, P. 88 Winnicott, D. W. 253 Wittgenstein, L. 24, 88, 108, 123, 129, 287, 391, 398, 533, 544, 596, 665, 982 Wolf, C. 786 Wollstonecraft, M. 772 Wroblewsky, V. v. 314 Wundt, W. 57, 200 Wyschogrod, E. 164, 1039 Young, I. M. 302, 778 Zacher, H. F. 80 Zimmermann, M. 1033 Žižek, S. 743 Zoll, R. 593 Zweig, S. 68, 70, 78, 1056, 1063 f.

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https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Sachregister

A(anta)gonismus/a(anta)gonistisch 60, 75, 133, 206, 414, 417 f., 446, 461, 485, 504, 561, 642, 696, 698, 701, 748, 921, 1013 f. aísthēsis 705, 719, 722, 735 f. Akroamatisch 197 f., 476 An-Archie/anarchisch 104, 211, 214, 219, 225 ff., 230, 232, 332, 482, 487, 490, 527, 537, 543, 723, 741, 745, 747, 763, 1074 An-ökonomisch/-Ökonomie 245, 261, 276, 278, 282 f., 290 f., 298, 524, 526, 876, 880 ff., 897 f., 916, 932 Anonym/-ität 314, 440, 540, 555 f., 559, 595, 602, 630, 637, 646, 757, 809, 814, 817, 823 f., 828, 867, 875, 903, 958, 1017 Anteilslos/-igkeit 474 f., 664, 710, 712 ff., 718 ff., 729, 750 ff., 754 Anthropogenese 43, 182 Anthropologie 72, 87, 111, 153 f., 191, 280, 288, 297, 340, 373, 692, 803, 818, 825, 896, 898, 914, 949, 1035 Apokalypse/Apokalyptik 582, 1060 f. Archäologie/archäologisch 129, 131, 137, 146 f., 152, 172 f., 211, 214, 219, 224 ff., 266, 340, 395, 403, 535, 676, 894, 1048, 1050 Archäologie der Gewalt/des Krieges 978 f., 1048, 1071 Asymmetrie/asymmetrisch 34, 94, 283 f., 294, 320 f., 380 f., 574, 585, 674, 853, 862, 868, 878 Atheismus/atheistisch 331, 349, 434, 992, 1057

attestation 125, 163, 330, 384, 411 Äußerste, das 89, 124, 139 f., 243, 317, 329, 579, 628, 662, 854, 879, 966, 1005, 1033 ff., 1039–1047, 1053, 1055, 1065 Ausgeliefert 20, 23, 199, 204, 220, 532, 550, 686, 720, 735, 820, 833, 840, 864, 878, 964, 971, 974, 980, 986, 1026, 1053, 1074 Auslieferung 70, 310, 361, 510, 532, 584, 638, 853 f., 873, 879, 971, 975, 986, 991, 1053 Befehl 201 ff., 218, 231, 256, 258 f., 320, 348, 449 Besessenheit 224, 258, 263, 969 Biologie 94, 112, 208, 363, 372 f., 452, 484, 492 ff., 505, 511 f., 520, 522, 556, 567, 674 Bleibe 18, 29, 551, 997, 1055, 1063 f., 1067, 1072 Bürgerkrieg 131, 134, 143, 217, 301, 395, 447, 468, 596, 626, 760, 774, 843, 976, 1007, 1033, 1049, 1060 Bürgerverrat 592, 828, 835, 864 Chiasma/-tisch 33 f., 209, 265, 371, 388, 391, 421, 447, 502, 511 Chrematistik/chrēmatistikē 739, 865, 929, 953 conatus essendi 228, 367, 991 conditio historica 116, 154, 334, 369, 915 f., 1036, 1062, 1064 conditio humana 1034–1038, 1040, 1045, 1050 ff.

1163 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Sachregister Dankbarkeit 279, 285, 288, 293 f., 296 f., 905 ff., 916 f. De-limitiert 415, 420, 728, 742 f., 746 dêmos 415, 420, 603, 696, 721, 734 ff., 834, 837, 858 Demütigung 17, 21, 76, 139, 413, 422, 428, 596 f., 788, 927, 935, 945, 989 Depolitisierung/depolitisiert 54, 57, 75 f., 414, 527, 538, 598, 600, 708, 743, 759, 945, 954, 964, 967, 983, 997 Desaster 21, 28, 69 f., 90, 134 f., 143, 316 f., 1046 Des-Identifikation/-identifizieren 420 f., 624, 649 f. Desolidarisierung 588 f., 618, 623 Dezentrierung/dezentriert 167, 170, 250, 259, 366, 837, 842, 882 Diachron/-ie 170, 232 f., 279, 281, 293, 295, 314, 316, 323, 328, 330, 333 f., 486, 509, 522, 526, 537, 540, 558, 565, 570, 574, 582, 584 f. Differenzsensibilität/differenzsensibel 36, 90, 409, 537, 672, 768, 773 ff., 787, 793 ff. Dissens/-uelle Erfahrung 117, 144, 147, 388, 396 f., 401 ff., 413 f., 417, 490, 588, 590, 598, 621 f., 626, 651, 671, 693, 699, 701, 718 ff., 723, 727 ff., 735, 751 ff., 757, 765, 777, 779, 792, 976, 989, 1002, 1072 Dissoziation 33, 774 f., 940 DNS 363, 485, 493, 511, 566 f., 975 Dritte 74, 77, 86, 92, 94 ff., 124, 171, 244, 258, 263, 265, 286, 309, 439, 478, 505, 508, 522, 537, 541, 548 ff., 569, 572, 593, 600 f., 606, 666, 689, 880, 925, 988, 1001, 1015, 1069 Empörung 220, 415, 428, 610, 678, 732, 760, 934, 1028 f. Entmächtigung 167 f., 170, 443, 473, 477, 487, 504, 527, 765 Entmoralisierung 923, 932, 936, 941, 955, 967 Entteleologisierung 59, 104, 194, 863

Epigenese/epigenetisch 510, 512, 520, 523, 567, 673 Epistemologie/epistemologisch 114 f., 120, 210, 363, 491, 511, 985 Erscheinungsraum 331, 590 Erschrecken/-des 24, 656, 1033, 1036 Ethizismus 313, 411 f., 642 f., 726, 733 Ethos 129, 131, 137, 144, 257, 392, 404, 505 f., 601, 603, 608, 635, 637, 651 f., 721, 751, 846, 856, 861 Existenzialien 21, 122, 154, 208, 369, 373, 913 Expressiv 184, 192, 195, 367, 397, 596 Expressivismus 92, 183, 189–194, 196, 200 Extrem/-fall 117, 135, 137 ff., 143, 164, 257, 277, 400, 455, 626 f., 662, 972, 1005, 1036, 1041 f., 1044 f., 1047 Feinde 67, 183, 302, 315, 402, 458, 470, 472, 587, 625, 802, 911, 977 ff., 1006 f., 1022, 1072 f. Filiation 130, 371 f., 570, 573 ff., 584 Flucht 28, 36, 398 f., 532, 579, 641, 746, 1063 ff. Flüchtling/-e 442, 537, 648, 651, 734, 742 ff., 763, 864, 983, 1055, 1063 ff., 1071 Fortpflanzung 481, 492 f., 505 f., 510, 514, 520, 567 Frieden 61, 77, 217, 799 f., 803 f., 831 f., 843, 928, 981, 991 ff., 995, 1050, 1055, 1060 Fürsorge 239, 251, 295, 297, 312, 515, 569, 571, 779 Gastlichkeit 142, 182, 227, 283, 354, 408, 420, 477, 743, 748, 778, 791, 1063 f. Geburt 19 f., 27 f., 84, 165, 225, 266, 363 f., 369 f., 507, 513, 517, 519, 528, 530, 537, 543, 547, 557, 563, 565, 584, 627, 657, 741, 745, 941, 944, 958, 967, 1035, 1052 Gegengewalt 977 f., 980, 994 f., 1000, 1042, 1072

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Sachregister Gegeninterpretation/-smacht 455, 461, 485, 495, 504, 527 Gegenseitigkeit 217, 262 f., 264, 280 ff., 295, 321, 381, 526, 708 Geld 275, 823, 866, 929, 931, 944, 959 f., 962, 966 Generativ/-e Dimension/Zeiterfahrung 281, 372, 484 ff., 492, 510 f., 513, 515 f., 520–525, 539, 546, 556, 558, 562 f., 565, 570, 572 f., 580 f., 584 ff., 906 f., 916 Generativität 43, 371 f., 452, 486, 492 ff., 504–527, 530, 543, 555 ff., 564 ff., 570, 574 ff., 581 f., 585 f., 916 Genozid/-ale Gewalt 101, 113, 137, 142, 163, 217 f., 230, 410 f., 801, 972, 1001, 1009, 1021, 1028, 1033, 1045, 1047, 1055, 1057 f. Geschichtlichkeit 33, 95, 116, 130, 133, 161, 179, 235 f., 314, 345, 369, 372, 543, 556, 561, 1035 f., 1051, 1056, 1061 f. Geschichtsphilosophie/geschichtsphilosophisch 57, 63, 67, 95, 133, 136, 152, 157 f., 352, 535, 910 Geschlechter 558, 564, 585 Gewalt, gute 380, 441, 988, 1001 Gewaltgeschichte 25, 29, 33, 150, 172, 232, 977, 1038, 1057 Gewissen 134, 140, 156, 170, 181, 185, 228 f., 242 ff., 255, 258 ff., 278, 312, 316, 320, 583, 902, 912, 936, 958, 991, 1058 f. Gleichheit 34, 80, 83, 94, 97, 264, 429, 536, 608, 640, 701, 715 f., 728, 739, 740 f., 745 f., 748 ff., 754 f., 759, 770 Grausamkeit 625, 1008, 1028, 1042 f. Gründungsmythos 894, 932, 957 Historische Erfahrung 120, 354, 472, 483, 830, 864, 874, 881, 915, 985, 1065 Historisierung/historisiert 129, 135, 138, 179, 548 f., 660, 881, 913, 1061 Hölle 1019, 1040 f., 1053 homo capax 383, 432 Humanismus 176, 314

Humankapital 516, 521, 525, 684, 943 Hyperphänomenalität 305, 351, 353, 724 Identitär/-e 60 f., 68, 79, 420 f., 547, 594, 796, 1026 f. In Erscheinung treten 107, 269, 305, 331, 348, 357, 380, 415, 489 f., 637, 647, 695, 698, 700, 712, 717, 720 f., 724 f., 727, 729, 732 f., 759, 762, 807, 823, 858, 1005 Indifferenz 438, 625, 635, 657, 678, 823, 959, 964 f., 1058 Inhuman/-e, das 550, 644, 1069 Inklusion 46, 82, 93, 303, 422, 699, 719 f., 768, 789 f., 793 Institutionen 60, 102, 489, 537, 543, 548, 573 f., 580, 591, 595, 601 ff., 605, 607, 723, 745, 747 f., 755, 788, 834, 846 ff., 858 ff., 861, 865, 874, 880 f., 882 ff., 927, 973, 975, 989, 998 f., 1038, 1067 Jenseits des Seins 173, 270, 304, 316, 319, 324, 398, 430, 433, 648, 986, 991 Juridismus/juridistisch 78, 403, 698 f., 1027 Kapital 17, 41, 47, 81, 275, 291, 298, 363 f., 420, 473, 516, 521, 525, 720, 828, 939, 951, 967 Kapitalismus 54, 98, 803, 865, 921, 951, 954 f. Kommunitaristen/kommunitaristisch 192, 196, 200, 475, 535, 539, 631 Kredit 296, 810, 877, 894, 935, 939, 951 Krieg 68, 103, 113, 121, 130, 134, 142, 217, 231, 248, 304 f., 402, 409, 433, 457, 468, 501, 542 f., 549, 571, 582, 772, 800, 832, 972, 975 f., 980, 985 f., 990 ff., 1000 f., 1006, 1033– 1062, 1071 f. Kriegszustand 800, 978, 1038

1165 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Sachregister Lager 997, 1044 f. Lebensform, politische 27, 29, 144, 146 f., 166, 179, 469, 475, 480, 740, 742, 746, 748, 751, 755, 761, 776, 793, 1069 life sciences 363 f., 484 ff., 493, 512, 515, 520–525, 527, 675 f. low intensity conflicts 1034, 1058, 1060 Machtbesessenheit 417, 459, 483, 487, 500, 696 Metaphorik 511, 542 ff., 546, 549, 720, 838, 840 f., 850, 852, 855, 1010 f. Mimetisches Begehren 977, 995 Misstrauen 27 ff., 210, 800 ff., 807 ff., 817, 820, 822, 825, 830, 835 ff., 840 ff., 847, 849, 855, 867, 869 ff., 875 ff., 880, 882 ff. Mit-Leiden/-schaft 329, 608 f., 873 Moralische Ökonomie 297, 557, 877, 879, 898, 932 Moralökonomie 931 ff., 936, 939, 941, 956 ff., 962, 966 multitude 18, 415, 420, 631, 688, 696, 744 Mundtot 78, 413, 482, 489, 940, 983, 712, 746, 759, 762 ff. Nächste/-r 31, 95, 231, 250, 259, 263 ff., 356, 372, 598 ff., 607, 622, 651, 896, 998 f. Nachträglichkeit 216, 219, 231, 233, 310, 328, 350, 473, 476, 645 Naturzustand 217, 230, 248, 534, 542, 799 f., 831, 844, 972, 978, 995, 1000 f., 1037, 1055 Nazis 135, 314, 324, 515, 911 Negation, bestimmte 73, 83, 526, 535, 686, 729, 926 Neoliberal/-ismus 53, 562, 739 Nicht-Indifferenz 21, 94, 124, 126, 141, 163, 211, 217 f., 222, 229 f., 232, 247, 254, 256, 266, 284, 410, 572, 601, 650, 726, 993, 1003 Nicht-Menschliches 644, 1061

Normalisierung 51, 408, 535, 768, 777, 792 f. Normativität 59, 90, 785 f., 1065 Öffentlichkeit 608, 638, 736, 836 f., 841 f., 847, 857, 859, 1010 Ohr 189, 194, 198, 201 ff., 690, 695, 716, 730, 755, 765, 992 oîkos 58, 275, 524, 865, 951 Ökonomie 41, 47, 73, 161, 257, 260, 275 f., 282, 290 ff., 297, 310, 526, 557, 562, 573, 587, 623, 686, 698, 740, 803, 865, 877, 889–898, 902, 904 f., 919, 933, 941, 948 ff., 952– 967, 986, 996 Ökonomisierung 42, 47, 71, 80, 682 ff., 687 ff., 921, 929, 938 ff., 965 ff., 1050 Ontogenese/ontogenetisch 25, 187, 200, 245, 251 f., 511, 665, 671, 781, 784, 965 Ontologie 89, 103, 108 ff., 112–127, 153 f., 163, 166, 169, 172, 208 ff., 215, 220, 236, 255, 269 ff., 284, 288, 316, 319, 326, 372, 374, 405, 431, 566, 648, 663, 680, 707, 742, 905, 912, 915, 976, 990, 999, 1054 –, direkte 99, 118, 120, 153, 369, 646, 668, 677, 696, 1062, 1064 othering 168, 312, 786 Paradox des Politischen 51, 865, 882, 989, 998, 1038 parrhesía 403, 748, 757–762, 765 Passioniert/-e Freiheit 75, 256, 298, 530, 1070 Passivität 225, 229, 327, 374 f., 378 f., 381–386, 431, 434, 621, 690, 705, 764, 783, 872, 1070 Pathisch 159, 357, 362, 722 ff., 731 ff., 966, 1070 páthos 148, 159, 255, 309, 333, 403, 411, 432, 466, 705, 723 f., 729, 731 Pazifiziert 61, 64, 114, 535, 971, 1038 Perspektivität 706 f., 719, 838, 841 pólemos 143, 394, 402, 470, 549, 696, 976, 986, 1000, 1033, 1037, 1048

1166 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Sachregister Politisierung 77, 271, 292, 298, 400, 467, 470, 473, 475, 478, 600, 607 f., 611, 667, 688 f., 694, 698, 700, 708, 744 f., 761, 773, 936 Polizei/-liche Ordnung 478, 693, 711, 713, 718, 723, 728, 734, 748 f. Remoralisierung 934, 937 ff., 945, 956 Repräsentation 42, 75, 191 f., 354, 357, 367, 549, 624, 724, 1002, 1047 Reproduktion 567, 570, 573 f., 579 Reziprozität 87, 250, 261–265, 277, 280–284, 286, 290, 862, 876, 878, 929 ff., 956 ff. Risiko 75, 810, 818 ff., 846, 880 Schuld-Frage 901, 903, 911, 954, 965 ff. Schuldknechtschaft; debt bondage/ enslavement 293, 866, 933, 936, 939 f., 949 f., 952 f., 955, 962 f., 966 Seele 189, 201, 204, 236, 328, 515, 635, 960 Selbst-Bezeugung 93, 119, 370 f., 518, 573 Sensibilität 64, 355, 368 f., 406, 409, 485, 672, 701, 722 f., 768, 773 f., 777, 793 ff., 935, 1012, 1070, 1072, 1074 Sichausliefern 872 f., 878 Sichtbarkeit 209, 212 f., 699 f., 712 ff., 722, 730 ff., 735, 831, 833, 836–842, 852 f., 858, 868 Signifikative Differenz 86, 289, 450 f., 523, 676 Singularität 93, 152, 174, 314, 354, 429, 558, 609, 611, 613, 632, 641 f., 842, 1061, 1069 Sozialer Tod 22, 489 Sozialpolitik 32 f., 44, 52, 80, 102, 513, 605 Sozialstaat/-lich 17, 32 ff., 43 ff., 52 ff., 65, 71, 74, 76–84, 97, 101, 103, 105, 274, 537, 562, 588 f., 593, 603 ff., 609, 683, 1067 Soziation 35, 103, 647, 657

Spur des Anderen 19, 23, 95, 166, 267, 306, 330, 349, 352, 381, 442, 1030, 1059 stásis 59, 143, 395, 470, 760, 976, 1033, 1037 Staunen 98, 362, 1033, 1060 Sterblichkeit 21, 123, 126, 138, 165 f., 211, 215, 217, 229 f., 256 ff., 265 f., 364, 372, 410, 557, 585, 1052, 1062 Subjektivierung 218, 220, 228 f., 267, 397 f., 658–669, 671 ff., 677–682, 684 ff., 691–702, 736, 741, 745, 749, 762, 934, 967 sujet capable 383 ff., 432, 783, 1070 Sympathie 30, 239, 249, 319, 972 System der Bedürfnisse 62, 453, 922 témoignage 163, 330 Tertialität 94, 97, 309, 313, 412, 1069 Tod, politischer 107, 392 f., 403, 409, 422, 709, 715, 717, 743, 722, 940, 1003 f. Totalitarismus/totalitär/-e Herrschaft 20, 60, 400, 548, 632, 643, 650, 638, 860, 881, 990, 1008, 1044 f., 1947, 1051, 1056 Unfrieden 831 ff., 847, 849, 855, 857, 859, 1050 Ungastlich/-keit 25, 364, 544, 551, 592, 644, 646, 997 Ungesellig/-keit 35, 60, 70, 84, 561, 1013, 1025, 1071 Unsichtbarkeit 519, 699 f., 713, 721, 730, 735, 833, 853 Urteilskraft 608 ff., 706 Verdinglichung 167, 311 Vergemeinschaftung 29, 167, 403, 618, 628–635, 638, 640 f., 645, 650, 742, 750, 1009 Vergesellschaftung/vergesellschaftet 21, 70 f., 76 f., 81, 84 ff., 88, 91, 95, 132, 152, 248, 297, 303, 467, 628, 631, 637 ff., 649 f., 754, 815, 893, 920, 923, 926, 954, 956, 961, 1012 ff., 1024, 1027, 1030

1167 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .

Sachregister Verlassenheit 21, 132, 230, 308, 315, 547, 657, 743, 1042, 1055, 1064 f. Verlässlichkeit 141 f., 175, 580, 591, 616, 806 f., 823 f., 857, 862, 867 f., 880 ff., Vermarkt(lich)ung 71, 79 f., 603, 659, 729 Verrat 17, 326, 333, 344, 587, 804, 811 ff., 819, 826–830, 835, 846, 848, 860, 864, 871, 875 f., 878 f., 883 Verrechtlichung 593, 762, 790, 792, 1013 f. Versprechen 25, 47, 53, 61, 71, 74, 80, 83, 89, 105, 137, 140, 144, 174, 271 ff., 371, 384, 394, 408, 475, 477, 571 ff., 579 ff., 584, 591, 629 f., 732, 740, 748, 750, 789, 829, 884, 911 ff., 946, 967, 985, 995 ff., 1025, 1030, 1065, 1070, 1072 Verwandtschaft 51, 197, 281, 372, 514 ff., 565, 578, 583, 593, 622, 626, 637, 640, 976 Verwundbarkeit 206, 211, 215, 220, 224, 227, 229 f., 235, 259, 368, 822, 878

Verzeitlichung/verzeitlicht 72, 200, 208, 300, 534, 904 Vokativ 92, 184, 202, 353, 1001 Volk 51, 79, 200, 409, 415, 516, 558, 696, 720, 740, 743 ff., 751 f., 954, 976, 1002 f., 1013 Völkermord 164, 571, 985, 1036 f., 1057 Weltbürger/-lich 58, 548, 706, 774, 841, 906, 942 Weltgesellschaft/-lich 45, 58, 65, 98, 640, 961, 1006, 1010 ff., 1014, 1017 Weltkrieg/-e 45, 67, 69, 90, 92, 101, 133, 148, 151, 163 f., 321, 373, 582, 587, 656, 889, 915, 976, 981, 983, 1001, 1055 f. Weltlos/-igkeit 70, 159, 162, 308, 397, 937, 1042, 1055, 1064 ff. Widerstreit 57, 83, 265, 305, 388, 391, 396, 402, 417, 419, 464, 468, 501, 605 f., 642, 709, 721, 761, 922, 999, 1001 f. Zivilität 635, 637, 824, 828, 920, 993

1168 https://doi.org/10.5771/9783495817414 .