Ein Prisma ostdeutscher Musik: Der Komponist Lothar Voigtländer 9783412218812, 9783412225186


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Ein Prisma ostdeutscher Musik: Der Komponist Lothar Voigtländer
 9783412218812, 9783412225186

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Ein Prisma ostdeutscher Musik

KlangZeiten

Musik, Politik und Gesellschaft Band 13 Herausgegeben von

Detlef Altenburg Michael Berg Albrecht von Massow

Ein Prisma ostdeutscher Musik Der Komponist Lothar Voigtländer Herausgegeben von

Albrecht von Massow, Thomas Grysko und Josephine Prkno

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das gemeinsame Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena, den Fachbereich Kultur des Berliner Stadtbezirks Marzahn-Hellersdorf sowie die Franz-Grothe-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Bildmaterial von Lothar Voigtländer, Gestaltung Josephine Prkno. © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22518-6

Inhalt

Vorwort .................................................................................................................. 7 Albrecht v. Massow Ein Prisma ostdeutscher Musik ............................................................................... 9 Matthias Herrmann „Aber der Augenblick dehnt sich, der Tiefe hat.“ – Lothar Voigtländer und seine Chormusik a cappella mit einem Nachsatz zum Orgelwerk ............................ 27 Stefan Amzoll VISAGES – Der kammermusikalische Raum des Komponisten Lothar Voigtländer ................................................................................................. 39 Frank Schneider Zur Orchestermusik von Lothar Voigtländer .......................................................... 55 Georg Katzer Es war 1975............................................................................................................ 59 Tatjana Böhme-Mehner Paris sehen, ... – Die merkwürdige und abenteuerliche ‚Westreise‘ zweier Einzelgänger in die Sphären der Elektroakustik ...................................................... 61 Anna Schürmer (Musik-)Historische Reflexionen zu Lothar Voigtländers Maikäfer flieg .................. 79 Thomas Grysko „… weil ein Schrei dein Ohr traf“ – Aspekte zur Radiokunst der DDR als historischer Kontext von Lothar Voigtländers Hörspielmusik in Günter Eichs Träume .............................................................................................. 85 Ekkehard Klemm „…unter unserm Gesang, der mehr davon weiß als wir, der sein wird unser Gesetz…“ – Reflexionen aus Anlass der bevorstehenden Uraufführung – anstelle einer Einführung ....................................................................................... 95 Ulrike Liedtke Leidenschaftliche Bekenntnisse – Erlebnisse mit Musik von Lothar Voigtländer ..... 101

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Inhalt

Lothar Voigtländer: Werkverzeichnis ...................................................................... 111 Libretto zu MenschenZeit (Les hommes et le temps) Oratorium für 4 Soli, Chor (incl. Kammerchor) und Orchester in 12 Teilen (I–XII)................................................................................................. 121 CD-Titel-Übersicht ................................................................................................ 124

Vorwort

Seit der Wende in Deutschland sind nunmehr 25 Jahre vergangen, doch die Zeit der Teilung ist noch immer in den Biographien der meisten Deutschen ein großer Bestandteil – auch vor der Musikwelt machte und macht die Politik nicht Halt. Neue Musik, welche ihre Zuhörer in ihren Bann zu ziehen vermag, welche in viele intermediale Richtungen experimentiert, sich aber unter einer jahrzehntelangen Diktatur der Kleingeister behaupten musste, um dann in eine fortdauernde Solidargemeinschaft der Konsumhörigen zu geraten – so könnte man die Situation mancher ostdeutscher Komponisten charakterisieren. Doch sie wussten und wissen sich zu behaupten. Ihnen – so auch Lothar Voigtländer – galt und gilt das künstlerische Handwerk als solide und autonome Basis, von welcher aus auf vielen Wegen experimentiert werden kann. Nicht nur das Innovative spielte hierbei eine große Rolle, auch die Fesselung des Publikums, mit ästhetisch Ansprechendem und mit über politische Grenzen hinwegreichenden lebensphilosophischen Inhalten. Lothar Voigtländer stammt aus der Generation von Komponisten, die sich in der Zeit des Kalten Krieges und der SED-Diktatur ‚durchmogeln‘ musste durch die Spielregeln einer überpolitisierten Gesellschaft, um sich selbst nicht zu verraten. Der Drang nach außen, die Flucht ins Mehrdeutige und der Kampf um die Verwirklichung der eigenen Ideen – über die momentane Politik hinaus – sind prägende Bilder, die von verschiedenen Autoren, die den Komponisten ein Stück Weg seines Lebens begleiteten, in dem vorliegenden Buch gezeichnet werden. Seine Musik übermittelt an die Gegenwart und Zukunft den Vorrang und die Vorzüge einer sinnlich durchpulsten Geisteswelt vor dem materialistischen und konsumhörigen Zeitgeist, welcher Geist wie Sinne entweder durch ästhetische Armut verkümmern oder durch ästhetische Überflutung abstumpfen lässt. Voigtländer zeigt beispielhaft, wie man gegen widrige Umstände vielerlei Art die große integrale Kunst der Musik wahren und zur Zukunft werden lassen kann. Denn Musik ruft wie keine andere Tätigkeit des Menschen komplexe Kräfte des Gemüts, des Geistes und des Körpers wach. Ein einzelner Komponist – doch steht er als Vertreter einer Generation, die es trotz des ästhetischen und kulturpolitischen Gegenwinds seitens Politik und Gesellschaft zur Neuen Musik mit allen ihren Facetten drängte. Im Versuch, diese Facetten bei Voigtländer darzustellen, werden in dem vorliegenden Buch u. a. seine Chorwerke, Kammermusikwerke, Orchesterwerke, elektroakustischen Werke und Hörspiele aufgegriffen und von verschiedenen Seiten her beleuchtet. Lothar Voigtländer hat sich nicht mit Wenigem zufriedengegeben, und auch seine gesellschaftliche Einmischung – z. B. mit der Gründung der deutschen Delegation zur Confédération International de la Musique Électroacoustique (CIME) oder dem späteren stellvertretenden Vorsitz im Werkausschuss der GEMA – zeigt einen Komponisten, der nicht nur im stillen Kämmerlein für sich komponiert. Doch wer glaubt, dass die Zukunft dieser Kunst gesichert sei, irrt. Denn zu den hohen musikalischen Ansprüchen einer solchen Zukunft bekennt sich nur ein kleiner Teil derje-

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Vorwort

nigen, die in Schulen, Verlagen, Bildungs- bzw. Fortbildungsinstitutionen, Kultusministerien und Kulturausschüssen unsere Zukunft mitverantworten. Die Gründe hierfür sind vielfältig: generelle Abneigung gegen Neue Musik, Geringschätzung ostdeutscher Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge eines Ost-West-Konflikts, der auch als Kulturkampf ausgetragen wurde und der gegenwärtig wieder aufflammt, die sozial- und bildungspolitische Umgewichtung des Begriffs ‚Kultur‘ in Richtung der Breitenkultur, der irrige Glaube, kompositorisches Handwerk lasse sich auch per Mausklick erlernen, um nur einige der Gründe zu nennen. Den Autoren und Musikern sowie den Unterstützern des vorliegenden Sammelbands – dem Gemeinsamen Institut für Musikwissenschaft der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Fachbereich Kultur des Berliner Stadtbezirks Marzahn-Hellersdorf sowie der Franz-Grothe-Stiftung – ist vor allem auch deswegen zu danken, weil sie die Notwendigkeit, ein neugieriges und anspruchsvolles musikalisches Lebenswerk als Botschaft für die Zukunft zu sichern, klar erkannt haben. Albrecht v. Massow

Thomas Grysko

Josephine Prkno

Albrecht v. Massow

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Vorab möchte ich das Verhältnis zwischen Musikwissenschaft und Musik klarstellen. Denn zwar kenne ich Lothar Voigtländer persönlich und habe mir zur Abfassung meines Textes von ihm Material zusenden lassen; doch den Ausgangspunkt bildeten stets das Hören, die Analyse und Deutung wie auch die kritische Beurteilung der Musik, und dies lange vor der Kenntnisnahme der Selbstbezeugungen des Komponisten. Einige Apologien und Fehldeutungen der Vergangenheit, denen Wissenschaft aufsaß, wenn sie den Selbstbezeugungen von Komponisten zu getreulich folgte – sei es im Falle von Richard Wagner, Arnold Schönberg oder Karlheinz Stockhausen – zeigen vor allem eines: Die Wissenschaft muss eigenverantwortlich und unabhängig sein und auch bleiben. Manche Werke Voigtländers überzeugen mich nicht, viele aber so sehr, dass ich es für lohnend halte, sie in der Musikwelt zur Geltung zu bringen, und dies umso mehr, als mit Ausnahme von Visages – dem KammerSzenario in 8 Teilen nach Texten von Eugène Guillevic (2003), auf welches später noch zurückzukommen sein wird – kein weiteres größeres Werk von Voigtländer auf Tonträgern erhältlich ist und nur wenige kleinere Werke in Anthologien auf Tonträgern präsentiert wurden. Der unmittelbare musikalische Kontext Voigtländers zur Zeit der DDR ist auf Schallplatten dokumentiert, die trotz ihrer gegenwärtigen Renaissance – nachdem ihnen lange Zeit nur noch wenige Weithörende die Treue hielten – nach wie vor schwer zugänglich sind. Um Voigtländer gerade auch in diesem Kontext der DDR-Musikgeschichte wie auch diese insgesamt angemessen würdigen zu können, ist man daher auch auf Schallplatten unabdingbar angewiesen, wenngleich manche Musik der DDR inzwischen auch auf anderen Tonträgern reproduziert wurde, von denen aber die CD wiederum als Tonträger weniger haltbar ist als die Schallplatte und zudem bald außer Gebrauch sein wird, weil andere digitale Formate an ihre Stelle treten. Anders als die westliche Neue Musik, die angesichts der oft freimütigen kompositionstechnischen und weltanschaulichen Selbstoffenbarungen ihrer Komponisten den Anschein erweckt, dass sie die analytische und reflexive Arbeit des Musikwissenschaftlers eigentlich überflüssig macht, anders aber auch als der den Historikern entliehene Fokus auf die politischen Rahmenbedingungen, fordert die Neue Musik der DDR in besonderem Maße dasjenige heraus, was eigentlich jede Kunstmusik herausfordert: nämlich das Gewahrwerden ihrer rationalen und irrationalen Gemütskräfte, ihres je spezifischen Kultur- und Bildungshorizonts wie auch ihrer autonomen Kunstgesetzlichkeit.

Herkunft So naheliegend es scheint, die Neue Musik der DDR in erster Linie im Blick auf die politischen Rahmenbedingungen zu beurteilen, so fern bleibt man damit den eigentlichen In-

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tentionen dieser Musik, nämlich primär als Kunst um ihrer selbst willen wahrgenommen zu werden, und dies weit über die historisch begrenzte Existenz der DDR hinaus. Kaum eine Neue Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermochte es so sehr, widrigem politischem und repressivem Kleingeist Großzügiges und Eigenwilliges abzuringen wie Werke von Paul Heinz Dittrich, Ruth Zechlin, Reiner Bredemeyer, Siegfried Matthus, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Lothar Voigtländer, H. Johannes Wallmann, Friedrich Schenker, Jörg Herchet und anderen. Im Gestus oft unprätentiös, offenbaren sie in rationaler Brechung eine sachliche, poetische, ironische oder metaphysisch-existenzialistische Kraft, die sich offenbar wenig darum scherte, ob ihr über den tristen Alltag eines Sozialistischen Realismus hinaus ein Fortleben in der europäischen Geistesgeschichte beschieden sein würde oder nicht. Schon die Mühe, sich im Musikleben der DDR durchzusetzen, hatte enorme Kräfte gebunden und Kompromisse erforderlich gemacht, über die nun zunächst zu sprechen ist, um dann jedoch zu erörtern, was dennoch freigesetzt wurde. Waren und sind Komponisten der ehemaligen DDR insgesamt deutlich weniger im Fokus der musikalischen Öffentlichkeit als ihre westlichen Kollegen, so gibt es gleichwohl auch unter ihnen Unterschiede im Bekanntheitsgrad, was nicht so sehr unterschiedlichem Erfolg im heutigen Musikmarkt, der für Neue Musik sowieso nicht viel zu verteilen hat, geschuldet scheint, sondern eher den unterschiedlichen Nachwirkungen des politischen Systems der DDR, mit dessen kulturellen Dogmen und systemischen Depressionen jeder auf seine Weise umgehen musste oder konnte, sodass dem interessierten westlichen Musikhistoriographen in jedem Falle komplexe und zum Teil auch doppelbödige Persönlichkeiten begegnen, die sein Differenzierungsvermögen fordern und sich vorschnellen Urteilen verschließen. Seine Arbeit wird zudem erschwert durch manche gegenseitige Schuldzuweisung, zu der sich einige ostdeutsche Komponisten nun nach 1989 unter dem Druck oder aber unter Ausnutzung westdeutscher Selbstgerechtigkeit im Umgang mit deutsch-deutscher Vergangenheit verleiten lassen, obwohl in dem Bereich, in dem sie in der DDR alle tätig waren, nämlich dem der Neuen Musik, nun nicht gerade die eklatanten Verbrechen zu verüben waren, zu denen andere politische Kernbereiche der DDR einige ihrer Bürger verlockten oder nötigten. Überdies lehrt gerade der Blick in gesellschaftlich randständige Bereiche auch westlicher Gesellschaften, dass hier die Umverteilungs- und Konkurrenzkämpfe mit ähnlich harten Bandagen geführt werden. Und keinesfalls zu vernachlässigen ist ein enorm wichtiger Aspekt, der aber erst deutlich wird, wenn man sich die Frage stellt, warum eigentlich die Revolution von 1989 weitgehend friedlich verlief und damit gerade auf dem Territorium eines Landes, welches zwei Weltkriege und zwei Diktaturen alleinverantwortlich oder mitverantwortlich – darüber streiten Historiker zu Recht – hervorbrachte, ein absolutes Novum bot. Eine mögliche Antwort auf diese Frage bietet sich durch dasjenige, wofür die Bevölkerung der DDR nachträglich oft kritisiert wird, nämlich ihr Modus vivendi, den sie sich durch vermittelnde, taktische, halbherzige oder opportunistische Verflechtungen oder Kompromisse mit dem System notgedrungen im Wissen um Drangsalierungen und Repressionen schuf. Doch gerade auch in diesen Verflechtungen lag eine der Voraussetzungen für den friedlichen Verlauf der späteren Revolution, was aber im Nachhinein manche der Betei-

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ligten nicht mehr selbstkritisch wahrhaben wollen, weswegen es hier nun ausdrücklich und gegen manche ‚politisch korrekte‘ Einseitigkeit geltend gemacht werden soll, um zugleich vor Augen zu führen, wie die grauenvolle Alternative aussieht, wenn nämlich der rebellierende Teil einer Bevölkerung sich seine Verflechtungen mit dem bislang herrschenden System nicht eingesteht, sondern – wie in den Ländern der sogenannten ‚Arabellion‘ seit 2011 – auf dem Weg in die Radikalopposition jeden Kompromiss ablehnt, um die Maximalforderung, nämlich die nach dem Sturz des Systems mit dem Ziel der bloßen Umverteilung der Macht zwischen ethnischen und religiösen Interessengruppen, aufrechterhalten zu können und somit – willentlich oder unwillentlich – der geostrategischen Instrumentalisierung einer Revolution um den Preis von Zehntausenden von Toten die Tür zu öffnen. ‚Politisch korrekte‘ und naive Beobachter – darunter manche Journalisten, Publizisten und Bürgerrechtler ebenso wie auch der von 2009 bis 2013 amtierende deutsche Außenminister Guido Westerwelle, die weiterhin eine typisch westliche Perspektive einnehmen – haben die ‚Arabellion‘ als Spätfolge der Friedlichen Revolution von 1989 gedeutet, hierbei aber grundlegende Unterschiede übersehen. Anders als in den Ländern der ‚Arabellion‘ existierten nämlich in der DDR interkulturell interessierte und vernetzte Bildungsschichten, die zahlenmäßig und zunehmend auch politisch durchaus ein gewisses Gewicht erlangt hatten und dieses Gewicht nun während der Revolution auszuspielen wussten. Hingegen spielten ethnische oder religiöse Befindlichkeiten in der DDR kaum eine Rolle; vielmehr konnten religiöse Gruppen in vielen Konflikten zwischen System und Radikalopposition vermitteln. Ferner existierte in der DDR ein weitverbreiteter Konsens, interne nachbarschaftliche bzw. bürgerschaftliche Konflikte möglichst gewaltfrei zu lösen. Zwar war die DDR als Staat zunehmend hochgerüstet und innenpolitisch repressiv, doch das Niveau des Waffenbesitzes in der Bevölkerung blieb – anders als in den Ländern der ‚Arabellion‘ – dennoch vergleichsweise niedrig. Insgesamt vollzog sich trotz der überwiegend proletarischen Rhetorik des Systems eine allmähliche Verbürgerlichung des Sozialismus, die ihre Wurzeln im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts einschließlich seiner klassisch-humanistischen Bildungstraditionen hatte. Betrachtet man daher das Verhalten der DDR-Bevölkerung während der Friedlichen Revolution von 1989, so gewinnt man den Eindruck, dass ein selbstkritisches und selbstdiszipliniertes Verhalten insoweit eine sehr wichtige Rolle spielte, als eine opferreiche und kriegerische Wendung der Revolution vermieden werden konnte – vermutlich ein weltgeschichtlich bisher einmaliger Vorgang, aus dem zu lernen wäre. Pragmatisch waren auch die Forderungen, weil sie ihr Anliegen – nämlich freie Wahlen, Meinungsfreiheit und Reisefreiheit – vorbrachten, ohne dies zwangsläufig und alternativlos an die Maximalforderung eines Sturzes der bisherigen Regierung oder gar eines Umsturzes des ganzen politischen Systems zu knüpfen. Im Gegenteil: Durchaus relevante Teile der Bevölkerung bekundeten, dass sie das politische System für reformierbar hielten. Dadurch blieb für die Herrschenden die Tür offen, sich an dieser Reform zu beteiligen. Man hat hierin bald die Gefahr einer Korrumpierung dieser Revolution gesehen. Es war auch eine Korrumpierung, aber eine, die mit dazu beitrug, dass diese Revolution keine opferreiche und kriegerische Wendung nahm. Neben der Vermeidung von unannehmbaren Maximalforderungen war auch die Tatsache pragmatisch, dass die Bevölkerung bei aller

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Entschlossenheit, den Druck aufrechtzuerhalten, sich und den von ihr Kritisierten genügend Zeit gab. Zwar birgt dieser Faktor der Zeit die Gefahr in sich, dass etwas ausgesessen wird und letztlich im Sande verläuft. Doch dass dies nicht hingenommen würde, machten Teile der Bevölkerung unmissverständlich klar. Selbstkritisch waren andere Teile der Bevölkerung insofern, als sie aus ihrer partiellen Sympathie für das bisherige politische System gar keinen Hehl machten, es auch aus diesem Grund für reformwürdig hielten und somit zugleich durchaus Verbindung zu denjenigen unter den bisherigen Trägern des Systems hielten, mit denen eine taktisch motivierte partielle Zweckgemeinschaft möglich schien, um die eigentlichen Ziele zu verfolgen, nämlich die Erweiterung der Möglichkeiten zu eigenverantwortlicher und eigenständiger Lebensgestaltung. Da die moderaten Träger des bisherigen Systems wiederum Mittlerfunktion zu den ‚Betonköpfen‘ und die moderaten Kräfte der Revolution wiederum Mittlerfunktion zur Radikalopposition einnehmen konnten, blieben mehr oder weniger alle Glieder der DDR-Gesellschaft miteinander in einer Verbindung, die es schaffte, den offenen Bruch wie auch eine aus ihm erwachsende blutige Eskalation zu vermeiden. Erst einige Monate nach Beginn der Revolution kamen Forderungen auf, die eine Selbstinstrumentalisierung der Revolution für über sie hinausreichende politische oder militärische Zwecke bedeuteten, weswegen diese Forderungen auch umstritten blieben. Die wichtigste dieser Forderungen war die nach der deutschen Einheit. Entgegen mancher liberal-konservativer Kritik in Westdeutschland an der begründeten Sorge angesichts dieser Forderung war es äußerst wichtig, in dieser Frage vorsichtig zu sein. Denn diese Forderung barg eine Möglichkeit in sich, die für die Sowjetunion auch unter Michail Gorbatschow unannehmbar blieb und wegen der er, als sie später eintrat, zum Rücktritt gezwungen wurde: nämlich die Einbeziehung Gesamtdeutschlands in die NATO. Einige beurteilten daher 1989 die Möglichkeit der deutschen Einheit zunächst skeptisch, weil sie eine Instrumentalisierung der Revolution für geostrategische Zwecke befürchteten, auf welche die Sowjetunion dann auch militärisch hätte reagieren können, um die Revolution insgesamt doch noch zum Scheitern zu bringen. Der liberal-konservative Zeitgeist Westdeutschlands war hier unbedacht und hätte um ein Haar zum Scheitern oder aber zu einer opferreichen und kriegerischen Wendung der Revolution beigetragen. Die Mehrheit der Bevölkerung Ostdeutschlands war hier klüger und vorsichtiger. Sie ist es bis heute, wenn sie der NATO-Osterweiterungspolitik, welche die Geschehnisse von 1989 ausnutzt und instrumentalisiert, skeptisch bis ablehnend gegenübersteht, zumal diese Politik den erbarmungslosen Bürgerkrieg in Jugoslawien wie auch weitere Bürgerkriege an der Peripherie Europas mit zu entfachen half. Zu vergegenwärtigen ist somit die mitmaßgebliche Rolle der ostdeutschen Bildungsschichten für den friedlichen Verlauf der Revolution. Denn vor allem sie bildeten eine kluge und vorsichtige Verbindung zwischen den Konfliktparteien, versuchten deren Prozesse zu moderieren – wirklich im wörtlichen Sinne des Wortes – und konnten dies auch, gerade weil Teile von ihnen mit dem politischen System verflochten waren. Auch dies kann man nachträglich als Korrumpierung der Revolution deuten; aber gerade hierdurch kam eine gesellschaftspolitische Kompetenz durch Kultur und Bildung zur Geltung, welche zum friedlichen Verlauf der Revolution mitentscheidend beitrug. Denn die ostdeutschen Bildungsschichten verhielten sich gerade nicht wie der landläufige, besser gesagt

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stadtläufige Typus des intellektuellen Revolutionärs linker oder rechter Provenienz, welcher – oft in narzisstischem Geltungsbedürfnis – seine große Intelligenz möglichst als einziger Einäugiger unter Blinden zu profilieren sucht, um hieraus skrupellos machtpolitischen Nutzen zu ziehen. Dies alles, wie auch manches andere ist also aus der DDR-Gesellschaft und der aus ihr hervorgegangenen Friedlichen Revolution von 1989 zu lernen, vor allem auch die Notwendigkeit, sich als Revolution nicht oder nur so spät wie möglich geostrategisch instrumentalisieren zu lassen, sondern pragmatisch die eigentlichen Ziele, nämlich eine Erweiterung der Möglichkeiten zu eigenverantwortlicher und eigenständiger Lebensgestaltung, zu verfolgen. Die Voraussetzungen hierzu lagen schon in der DDR-Gesellschaft selbst. Sie hatte gelernt bzw. lernen müssen, wie aus den Restriktionen einer ‚Konsensdiktatur‘ Kräfte und Kompromissfähigkeiten, darüber hinaus aber auch Nischen autonomer Kunstvermögen freizusetzen sind. Was dies für die Musik in der DDR bedeutete, hat Michael Berg in seiner grundlegenden Abhandlung Restriktive Ästhetik als kreative Chance dargelegt.1 Somit wird auch Voigtländers musikalischer Werdegang, sofern er sich im weiteren Sinne in den Kontexten ostdeutscher Kultur und im engeren Sinne in den historischen Grenzen der DDR vollzog, einsichtig als Prisma dieser vielfältigen und zum Teil auch divergierenden Kontexte und Grenzen, wie eine kurze stichpunktartige Darlegung nun verdeutlichen soll. Die prägende musikalische Ausbildung des noch im Krieg 1943 im sächsischen Leisnig geborenen Jungen – 1954–62 Sängerknabe und dann Chorpräfekt des Dresdner Kreuzchors unter Rudolf Mauersberger mit ersten Kompositionen und Dirigaten, dann Dirigierstudium bei Rolf Reuter und Kompositionsstudium bei Fritz Geißler an der Hochschule für Musik in Leipzig – ist insofern signifikant für den früh entwickelten und stets beibehaltenen künstlerischen Anspruch Voigtländers, als er seinen späteren Weg zur Neuen Musik nicht wie manche westliche Komponisten – besonders John Cage – zunehmend entgegen dem Wissen eines kompositorischen und aufführungspraktischen Handwerks, sondern wegen dieses Wissens beschritt, wenngleich dieses Wissen in der DDR doppelbödig vermittelt wurde. So wandte sich sein Lehrer Fritz Geißler (1921–1984) öffentlich mehrfach gegen die Orientierung jüngerer Komponisten an Neuer Musik. Doch wenn man Geißlers eigene Werke hört, beispielsweise seine 3. Symphonie (1965/66) oder sein Klavierkonzert (1969/70), bemerkt man hierin die Fortentwicklung einer expressionistischen Atonalität und Formdramaturgie mit teilweise krassen Ausbrüchen, wenngleich vermittelt im Rahmen traditioneller Formpostulate, an denen im Sinne einer auf Fasslichkeit ausgerichteten Ästhetik in der DDR zu dieser Zeit noch festgehalten werden musste. Geißlers doppelbödige Strategie ist der Dmitri Schostakowitschs in der Sowjetunion gar nicht unähnlich. Schon in der nächsten Generation schufen sich manche Komponisten wie Voigtländer weitere Freiräume, nun auch entgegen diesen Formpostulaten. 1 Michael Berg, Restriktive Ästhetik als kreative Chance, in: Die unerträgliche Leichtigkeit der Kunst. Ästhetisches und politisches Handeln in der DDR (= KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, Bd. 2), hg. von Michael Berg, Knut Holtsträter u. Albrecht v. Massow, Köln u. a. 2007, S. 177–191.

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Die Grundlage hierfür war gerade das allmählich erweiterte Wissen eines kompositorischen und aufführungspraktischen Handwerks, welches für Komponisten in der DDR zur stets bekundeten Conditio sine qua non gehörte – auch, weil handwerkliches Können generell im Arbeitsethos der DDR eine große Rolle spielte –, während die meisten westlichen Komponisten dieses kompositorische und aufführungspraktische Handwerk zwar ebenso erlernten, gleichwohl konfrontiert waren mit einem teilweise von ihnen selbst, teilweise aber auch von Dilettanten publizistisch verbreiteten ästhetischen Zeitgeist, der solches Handwerk nicht mehr angemessen zu schätzen wusste. Besonders kam dieser Zeitgeist aus der Bildenden Kunst, wo man bei Absolventen der Kunsthochschulen – etwa der in Düsseldorf oder Karlsruhe – den Eindruck gewinnen konnte, dass sie unter dem Druck der Konzept-Art zu ihrem Handwerk nur noch verschämt standen. Doch auch jenseits der Künste ist in manchen westlichen Ländern der Niedergang handwerklicher Fähigkeiten und Qualitätsmaßstäbe zu beobachten; forciert beispielsweise durch die diesbezüglich verantwortungslose und kurzsichtige Liberalisierung der Ausbildungsstandards unter der Regierung von Margret Thatcher in Großbritannien mit volkswirtschaftlich katastrophaler Konsequenz, aufgrund welcher – zugespitzt gesagt – in Großbritannien nur noch die Londoner Börse zu funktionieren scheint. In der Bildenden Kunst hat diese äußerst fragwürdige Entwicklung, vorangetrieben durch einen marktschreierischen Kunstmarkt – einem Pendant zur Börse – sowie durch eine willfährige Kunstpublizistik und Kunstästhetik, mittlerweile die künstlerische Moderne insgesamt der Lächerlichkeit preisgegeben, wodurch deren bedeutenden Werke und Entwicklungen nun gern übersehen werden. Demgegenüber wahrte die ästhetische Rückwärtsgewandtheit der offiziellen DDR – so paradox es klingt – der Neuen Musik handwerkliche Grundlagen ihrer Fortentwicklung. So transformierte sich beispielsweise der Vorrang einer tonalen funktionalen Vokalmusik, die offiziellen Anlässen dienen konnte, mit Voigtländer zur tonalen oder atonalen autonomen Vokalmusik unter Beibehaltung und Weiterentwicklung des spezifischen Handwerks, wie es sich schon mit seiner Arbeit im Dresdner Kreuzchor herausbildete und in zahlreichen Werken fortentwickelte. Zu hören ist dies etwa in den Trällerliedern für Kinder nach Texten von Peter Hacks, Dieter Mucke, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Gustav Falke und Helmut Preißler (1970–1990, ergänzte und revidierte Fassung 2012), mit den Arendt-Liedern für Sopran und Orchester (1992) nach Gedichten von Erich Arendt oder mit dem Kammeroratorium Le temps en cause (1990) nach Texten des von Voigtländer schon seit 1975 intensiv gelesenen französischen Dichterphilosophen Eugène Guillevic, umgearbeitet zum Oratorium MenschenZeit – Les hommes et le temps (2007), in dem sich avancierte Tonsatztechniken finden, in welche sich aber, besonders kurz vor Schluss mit einem formdramaturgisch äußerst beeindruckend platzierten Choral, tradierter Tonsatz eingeflochten findet. Die Texte des französischen Dichterphilosophen waren einer von mehreren Wegen, die Voigtländer in die westliche Kultur suchte und die im interkulturellen Interesse schon der Bildungsschichten der DDR lagen, weil sich mit ihnen die Grenze in den Köpfen überwinden ließ – und das ist bekanntlich die härteste der zu überwindenden Grenzen, aus der die faktischen Grenzen überhaupt erst erwachsen. Ferner besorgte Voigtländer sich auf verschlungenen Umwegen – einer von ihnen führte über Bratislava – das Wissen und das technische Zubehör, welches zur Komposition von elek-

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tronischer Musik notwendig, aber in der DDR nur mit Mühe oder gar nicht zu erhalten war, zumal elektronische Musik, wenn sie nicht funktional eingesetzt werden konnte, von der offiziellen Ästhetik als Import westlicher Neuer Musik strikt abgelehnt wurde. Dass hierbei die durch Voigtländer erworbene Technik nicht immer auf dem neuesten Stand war, hat zu dem geführt, wozu technische bzw. materiale Einschränkungen in der Musikgeschichte schon häufig geführt haben, nämlich zu der großen Kunst der aus der Not geborenen Tugend. Voigtländers elektronische Musik entfaltet faszinierende Wirkungen, denen seit der Mitte der 1970er-Jahre eine Renaissance und Fortentwicklung solcher Musik mit zu verdanken ist, nachdem der Reiz ihres ersten musikgeschichtlichen Auftretens mit den Experimenten und Werken nach 1950 in Westdeutschland, Frankreich, Italien und den USA nachgelassen hatte, nicht zuletzt auch deswegen, weil hier eine zunehmend avancierte Technik, die nahezu alles ermöglichte, in nicht wenigen Fällen zu einer eher glatten Ästhetik, die kaum noch materiale und nur vergleichsweise wenige gesellschaftliche Widerstände zu überwinden hatte, geraten war. Voigtländer machte es sich somit zusammen mit Georg Katzer zur Aufgabe, elektronische Musik in der DDR durchzusetzen, angeregt durch künstlerische Studienaufenthalte in elektronischen Studios in Bratislava (damalige Tschechoslowakei), Budapest (Ungarn) und Freiburg i.  Br. (damaliges Westdeutschland) sowie durch mehrfache Teilnahme am Festival für elektronische Musik in Bourges (Frankreich). Ferner begründete er das Festival Die lange Nacht der elektronischen Musik in Ostberlin. Manche Personen, denen keine künstlerischen Kontakte mit dem westlichen Ausland gewährt wurden, kritisieren auch heute noch diejenigen Personen, denen wie Voigtländer, Katzer oder Friedrich Goldmann diese Auslandskontakte gewährt wurden, als zu kompromissbereit. Aber diese Kritik verkennt, dass es gerade auch solche interkulturellen Netzwerke waren, durch die sich das System der DDR zunehmend in die Position Gullivers manövriert sah und dann 1989 nicht mehr so handeln konnte, wie manche seiner militanten Führungspersonen sich dies vielleicht noch wünschen mochten. Und in die andere Himmelsrichtung, nämlich nach Osten, existieren aus der ehemaligen DDR ebenso interkulturelle Netzwerke. Gerade sie wird man auch in Zukunft, wenn sich – wie gegenwärtig zu beobachten – neue Ost-West-Konflikte auftun, vielfach benötigen, weil sie etwas können, das Politik oft genug nicht kann oder nicht können will: nämlich Völkerverständigung, und zwar durch Kultur und Bildung.

Personalstil Die Prämisse, dass über Personalstil eigentlich nicht zu reden sei, weswegen auch diesbezüglich Ludwig Wittgensteins berühmtes Diktum „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ Geltung beanspruchen könnte, gehört zu den Artigkeiten am Anfang nahezu jeden Textes, der sich vornimmt, dennoch über Personalstil zu reden. Doch folgte man Wittgensteins Diktum, wäre man sofort in dem Dilemma, unter welchen anderen Aspekten man eigentlich einen weitgehend unbekannten Komponisten Neuer Musik der Musikwelt anbieten soll, die auf Persönliches so fixiert ist wie auf kaum

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etwas anderes. Selbst hinsichtlich der Neuen Musik seit 1950, die dem Ausdruck von Persönlichem oft so fernsteht, lässt sich bei Kennern, die vieles, aber nicht alles von Komponisten oder Komponistinnen kennen, immer wieder die Beobachtung machen, dass sie ein ihnen bis dato noch unbekanntes Stück einem bestimmten Komponisten oder einer bestimmten Komponistin zuordnen, weil sie von einem jeweiligen Personalstil ausgehen, der ihnen vertraut scheint. Daher soll der Darstellung eines solchen Eindrucks bei Voigtländer nicht aus dem Wege gegangen werden, auch wenn dies hier nur sehr kurz und möglicherweise unbefriedigend erörtert werden kann. Auf den ersten Höreindruck gegen einen Personalstil sprechen die unterschiedlichen Setzweisen, die Voigtländer verwendet und entwickelt. Sie erinnern teilweise sogar an Musik aus verschiedenen Jahrhunderten, und auch innerhalb des 20. und 21. Jahrhunderts scheinen sie verschiedenen Phasen zu entstammen, so etwa der expressionistischen frei-atonalen Phase Schönbergs oder den elektronischen Phasen Stockhausens oder Luigi Nonos. Und könnte man gerade einen in jungen Jahren oft anzutreffenden Eklektizismus wie auch eine hierdurch maskierte Latenz im Entwickeln eines Personalstils vermuten, so widerspricht dieser Vermutung die Tatsache, dass eine expressionistische frei-atonale Setzweise im Orchesterstück III als einem Werk aus späteren Jahren begegnet, während für klangräumliche Kompositionsweisen spezifische Setzweisen elektronischer Musik schon in früheren Jahren anzutreffen sind, wobei die Einbeziehung einer an sie anknüpfenden Klanglichkeit der Glasharmonika wiederum in vokalen und instrumentalen Werken geschieht, die keine elektronische Klangspur aufweisen. Voigtländer ist in vielen Setzweisen zu Hause. Doch abgesehen von mancher auf Fasslichkeit bedachten Gebrauchsmusik – etwa den bereits erwähnten Trällerliedern – ist in der Vielfalt seiner Setzweisen dennoch ein Personalstil auszumachen; auch auf die Gefahr hin, dass unzulängliche Worte zu seiner Beschreibung doch wieder den Vorwurf provozieren: ‚Dies gibt es doch bei anderen Komponisten auch schon‘ bzw. ‚Das ist nichts Neues‘. Die Vielfalt von Voigtländers Setzweisen ist durchdrungen von einer organisch-dynamischen Rhythmik. Tonalität oder Atonalität entstehen oder vergehen durch Pulsationen dieser organisch-dynamischen Rhythmik, also nicht wie traditionelle Tonalität vorrangig durch formale Architektur bzw. Periodik oder wie dodekaphon oder seriell organisierte Atonalität durch statistisch-mathematische Vorstrukturierung. Konnten andere Komponisten Neuer Musik durch oder trotz solcher Vorstrukturierung faszinierende Klanglichkeiten und Formdramaturgien erzeugen, weswegen der Vorwurf der ‚Kopflastigkeit‘ – der übrigens angesichts seiner gesellschaftspolitisch prekären Geringschätzung rationalen Denkens lieber durch eine Wertschätzung des Kopfgebrauchs ersetzt werden sollte – nur zum Teil zutrifft, so scheint Voigtländer primär von Klanglichkeiten und organisch-dynamischen Formdramaturgien kompositorisch auszugehen, sodass Rationalität und Reflexion bei ihm von einer souveränen Handhabung akribisch notierter Techniken bzw. Technologien in Verbindung mit religiösen und existenzialistischen Geisteshaltungen herrühren. Existenzialistisch wirken beispielsweise die von ihm komponierten elektronischen Klangräume in ihrem Wechsel zwischen ereignisarmer Leere und ereignisreicher Fülle, letztere oft auch unter Einbeziehung konkreter Geräusche heutiger Erlebenswelt in der Natur oder in der Stadt, erstere hingegen wie geschaffen für metaphysische Kontemplation, beides anzutreffen etwa in Visages.

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Anarchie, Experiment Voigtländers experimenteller Umgang mit Gattungstraditionen, wie auch seine Erzeugung intermedialer solitärer Gebilde, bietet in manchen Werken Extreme, die ihresgleichen suchen und bei aller gesellschaftspolitischen Sensibilität des Komponisten anarchische Züge offenbaren. Unter den Komponisten der ehemaligen DDR war und ist Voigtländer der intermediale Projektkünstler. Wild hämmernde instrumentale oder elektronische Klänge in manchen Passagen von Visages und anderen Werken entladen sich beispielsweise am Schluss des Stückes VOICI-Feuerklang für Sopran, Percussion, Zuspielband, Live-Elektronik und pyrotechnische Choreographie (1995) in der akustischen und zugleich visuellen Dramatik eines Feuerwerks, auf das die Formdramaturgie des Stücks rückblickend zwar hinzuzielen schien, die gleichwohl dennoch ein überraschendes Ende nimmt, nicht zuletzt auch wegen ihres plötzlichen Umschlagens vom expressionistisch Inneren ins sensationell Äußere und zudem in eine visuelle Attraktion, die Schaulust und nicht mehr Einfühlung provoziert. An solchen Stellen zieht sich das musikalische Subjekt unbemerkt aus der strukturierten Beziehung zum Hörer zurück und überlässt ihn der Sensation – welche übrigens auch insofern nicht beherrschbar ist, als sie, falls Regen einsetzt, misslingen kann. Voigtländers Anarchie ist hintergründig, auch weil sie das Unvorhergesehene aus kalkulierter Formdramaturgie entspringen lässt. Innerhalb seines Werks dominieren solitäre Gebilde, also solche Gebilde, die sich keiner Gattungstradition mehr zuordnen lassen, sondern genuin dem jeweiligen musikalischen oder intermedialen Einfall ihre Form und Besetzung verdanken. Dieses Merkmal verbindet ihn am ehesten noch mit Georg Katzer oder Paul Heinz Dittrich, während in Werken etwa von Ruth Zechlin oder Friedrich Goldmann eine ausgewogene Mischung aus solitären Gebilden und Gattungstraditionen begegnen. Aber auch hier setzt sich in der Neuen Musik der DDR insgesamt der Trend zum solitären Gebilde, wie er aus dem 19. Jahrhundert, etwa mit den Symphonischen Dichtungen, hervortrat und im 20. Jahrhundert die Neue Musik insgesamt hervorbrachte, fort. Denn auch Goldmanns Symphonien oder Zechlins Streichquartette unterlaufen zunehmend die Gattungstraditionen, denen sie entstammen. Experimentell sind auch zahlreiche radiophone Kompositionen Voigtländers, weil sie in das Medium Radio – das Musik- und Informationsmedium schlechthin – ungebetene Geräusche und ‚politisch unkorrekte‘ Informationen – die es auch im Sozialismus gab... – hineinkomponierten, so etwa in Maikäfer flieg (1985). Nachdenken könnte man über die Frage, wie viele Werke in der Neuen Musik der DDR wirklich als bloße Adaption der westlichen Neuen Musik zu gelten haben. Zwar ist die Kenntnisnahme gerade auch der Experimente und Werke Karlheinz Stockhausens wie auch die Rezeption westlicher und östlicher Neuer Musik insgesamt – beispielsweise von Witold Lutosławski – auf dem Umweg über das Festival Warschauer Herbst vielfach belegt; dennoch ist zu vermuten, dass gerade auch die Rezeption westlicher Neuer Musik nicht zuletzt provokative Gründe hatte, indem man die ästhetischen Selbstrepräsentationen der DDR vor allzu viel konservativer oder gar reaktionärer Selbstgefälligkeit zu bewahren

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suchte, im Übrigen aber aus den kulturellen und interkulturellen Traditionen der Kunstmusik eine Neue Musik hervorbrachte, die das in der DDR hochgeschätzte sogenannte ‚Erbe‘ bürgerlicher Kunst in eigenwilliger Manier fortentwickelte und transformierte. Vor allem in dieser Transformation stellt Voigtländer eine der äußersten Spitzen dar, die nun – so paradox es klingen mag – die Neue Musik der DDR zum ‚Erbe‘ einer musikalischen Zukunft macht.

Expression, Sinnlichkeit Voigtländer Werke haben musikalisch wie auch intermedial eine Wurzel in einem expressionistischen Gestus, der als Ausdruck von begriffslosem Inneren immer wieder zwei Wege nach außen sucht, nämlich zum einen das Umschlagen in sinnliche Sensationen, zum anderen aber den Weg in die Begrifflichkeit. Man könnte vermuten, dass Voigtländer ursprünglich als Vokalmusikkomponist vom Wort her kommt. Aber das wird ihm wie auch dem Wesen der Musik, die prinzipiell begriffslos ist, insgesamt nicht gerecht, und zwar auch dort nicht, wo Musik Worte vertont. Denn stets bleibt auch hier Musik – sozusagen als auskomponierter Tonfall von Worten – etwas, was von Begrifflichkeit verschieden ist. Die Formdramaturgie von Visages kann begriffen werden als Ausdruck des Wissens darum, dass die Ausformung musikalischen Denkens und Fühlens in seinem Wesen begriffslos ist und immer bleiben wird, sodass das Wort zu solcher Ausformung zwar hinzutreten kann, nie jedoch jene musikalische Ausformung ihrerseits begrifflich werden lassen kann. Eher wird das Wort von Voigtländers Musik sozusagen eingesogen, verschluckt und dann wieder ausgespien. Im einleitenden Präludium, dem ersten Teil dieses KammerSzenarios in 8 Teilen nach Texten von Eugène Guillevic für Sopran, 3 Sprecher, 3 Tänzer und 5 Instrumentalisten in getrennter Aufstellung sowie Zuspielband mit elektroakustischen Raumklang-Installationen, ist ein Gesang zu hören, dessen Intonationen in teilweise quasi-tonaler Setzweise von Instrumentalklängen weiter ausgeführt werden. Zusammen mit dem 6.  Teil, dem Interludio dramatico als Aria de la VIOX, der die gleichen Merkmale aufweist, bildet dieser 1. Teil die Rahmenteile einer formdramaturgischen Symmetrie mit den Teilen 1, 2, 3, 4 und 6; der 5.  Teil dient der Verknüpfung dieser formdramaturgischen Symmetrie mit den Schlussteilen 7 und 8. Die Symmetrie setzt sich mit dem 2. Teil, dem Recital I, sowie dem 4. Teil, dem Recital II, fort, indem diese beiden Teile aus einer antiphonischen Sprachhandlung, deren gesprochene oder gerufene Worte durch Einwürfe des Schlagwerks instrumental akzentuiert werden, bestehen. Mit Beginn des 3.  Teils, atemlos, als dem Mittelteil dieser Symmetrie mit unterdrückten Lauten, unverständlichem Flüstern und elektronischen Klängen sind gesungene, gesprochene oder gerufene Worte quasi verschluckt worden; sie werden an seinem Ende sozusagen wieder ausgespien. Den Mittelteil dieser Symmetrie kann man als deren begriffsloses expressionistisches Zentrum ansehen, in welchem sich seinerseits als nochmals inwendige Kehrseite seines Expressionismus kontemplative Räume auftun.

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Über den 5. Teil, fanatic, führt der Weg hinaus aus dieser Symmetrie. Dieser Teil ist verzahnt mit den eskalierenden Steigerungen der Teile 7 und 8, mit denen das ganze Werk auf eine Finalwirkung hin zugespitzt wird. Visages legt auch intermedial eine konsequent strukturierte Sinnlichkeit nahe. Sind schon die kontemplativen Räume des 3. Teils als elektronische Musik ausgeführt, so korrespondieren mit diesen inneren Räumen im äußeren Raum golden opalisierende Kugeln, die im Vordergrund der Inszenierung an langen Schnüren hängend sich gegenseitig zu fortwährender ruhiger Bewegung anstoßen, ausgelöst durch kostümierte Tänzer, die auch farblich sowie im Zuschnitt im Rahmen einer zeremoniell wirkenden Choreographie aufeinander abgestimmt sind. Kontemplation und Choreographie versinnlichen das Leitthema des Werks, nämlich gewährte Zeit, während Musik ausführt, was Zeit seitens des Menschen ist, nämlich Zeitsetzung.

Religion, Existenzialismus Um religiöse und existenzialistische Aspekte in der geistigen Welt Voigtländers zu thematisieren, muss man sich die Frage stellen, warum er sie, obwohl sie für ihn wesentlich sind, so zurückhaltend zur Geltung kommen lässt, sodass dies Wesentliche seiner geistigen Welt zugleich ein so schwer zu greifendes Zentrum bildet, angedeutet etwa in manchen Titeln seiner Werke für Orgel – etwa Chant à la grande cathédrale de Bourges (1980) oder introitus (1991) – wie auch in der Wahl dieses Instruments selbst oder aber in Vertonungen der existenzialistischen Zeitpoesie Guillevics, die ihrerseits wiederum eine große Nähe zur Zeitphilosophie des Augustinus (354–430 n. Chr.) aufweist. Diese Frage verdient eine ausführliche naheliegende und eine kurze, gleichwohl grundsätzliche Antwort. Eine ausführliche naheliegende Antwort ergibt sich, wenn man sich das konkurrierende Verhältnis zwischen Religion und Sozialismus klar macht, welches auch das Verhältnis zwischen Musik und Religion in der DDR prägte. In einem im Juli 1962 geführten Gespräch charakterisiert Hanns Eisler die Situation der Musik in der DDR, wie sie aus ästhetischen Forderungen im geschichtlichen Kontext der Arbeiterbewegung hervorgegangen ist: „Hier sehe ich eine ungeheure Zurücknahme. Denn wenn wir die Kunstgeschichte überhaupt erklären wollen, so entstehen die einzelnen Gebiete der Kunst vor allem durch Arbeitsteilung. Und die Säkularisierung, die Emanzipation der Kunst vom Religiösen, vom Ritus, vom Mythos ist ihre Verbürgerlichung oder ihre Modernisierung! Das heißt: in dem Moment, wo die Kunst sich abtrennt von ihrem praktischen Gebrauch – der Ritus ist ja praktischer Gebrauch –, bekommt sie erst das, was wir modern als Kunst bezeichnen.“2

2 Hanns Eisler, Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht (= Gesammelte Werke 7), hg. von Stephanie Eisler u. Manfred Grabs, übertragen u. erläutert von Hans Bunge, Leipzig 1975, S. 237.

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Albrecht v. Massow „[...] die Urfunktion der Kunst – eine so praktizistische – erinnert mich merkwürdigerweise an die Funktion der Kunst der revolutionären Arbeiterschaft. [...] [So] haben wir in den Kampfjahren der Weimarer Republik tatsächlich einen Zurückgriff – eine Zurücknahme – in ursprüngliche Funktionen der Kunst, wo sie primitiv den gesellschaftlichen Bedürfnissen gedient hat.“3

Und im Blick auf die Situation der Kunst in der DDR fährt Eisler fort: „[So] müssen wir sagen, daß wir doch in diesen Zeiten (auch der ‚Bitterfelder Konferenz‘) zurückgehen, ich sage es ganz grausam, auf die Höhlenzeichnungen. Wir brauchen Kartoffeln, also – eine Kartoffelkantate! Wir brauchen bestimmte Produktionssteigerungen, also – Komponisten und Dichter, schreibt Lieder, Gesänge und Kantaten, um unsere Produktion zu steigern! Eine durchaus ehrenwerte Sache, mit der ich einverstanden bin. Sie wissen ja, wie lange ich in dieser Bewegung und wieviel ich auf diesem Gebiet zu leisten versucht habe. Aber ist es nicht – philosophisch gesprochen – eine ungeheure Zurücknahme der Säkularisierung? Hat sich die Kunst nicht einmal schon frei gemacht von ihren primitivsten Bedürfnissen, der Gesellschaft zu dienen [...]?“4

Im Blick auf dieses Kunstverständnis wird Eislers Kritik fundamental, wenn er es unter dem Aspekt der europäischen Säkularisierungsgeschichte reflektiert. Für ihn ist jenes Kunstverständnis eine „ungeheure Zurücknahme der Säkularisierung“. Eisler wählt für diesen Vorgang auf der Ebene der Kunst den Begriff ‚Säkularisierung‘ im übertragenen Sinne: So wie materiell Eigentum aus der Bindung an kirchliche Zwecke herausgelöst wird, so wird ideell Kunst aus der Bindung an spezifische gesellschaftliche Zwecke herausgelöst. Was Eisler hier im Blick auf die europäische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts beschreibt, betrifft Grundsätzliches im Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft, wie es sich seit Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat. Er rekurriert im Blick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft auf den geschichtlichen Punkt, der die Voraussetzungen zur Entfunktionalisierung der Kunst bildet, nämlich die Säkularisierung, und zwar im übertragenen, und das heißt hier im grundsätzlichen Sinne. Anders als das Eigentum, welches zwar aus kirchlichem Besitz herausgelöst wird, dafür aber in den Besitz des Staates überwechselt, wenn auch unter dem Anspruch einer gleichberechtigten und weltanschaulich neutralen Vergabe, löst sich Kunst im Laufe des späten 18. und des 19. Jahrhunderts nicht nur aus ihrer Funktionsbestimmung durch den Auftraggeber Kirche (wie auch durch den Auftraggeber Hof ) heraus, sondern – überspitzt gesagt – auch aus ihrer Funktionsbestimmung durch den Auftraggeber Gesellschaft insgesamt, somit aus ihrer Funktion, überhaupt zu fungieren. ‚Säkularisierung‘ wäre so gesehen der Begriff allgemein für ein Verständnis von Kunst, wenn sie sich aus der Bindung an gesellschaftliche Funktionen löst – dies können Funktionen im Dienste religiöser wie auch anderer fundamentaler Weltanschauungen sein. Aber die geschichtsphilosophische These, dass Säkularisierung in abstrakter Form in der Entfunktionalisierung der Musik wirksam geworden sei, hat ein gewichtiges Gegenargument zu entkräften: Die Biographien von 3 Ebenda, S. 237 f. 4 Ebenda, S. 238 f.

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Komponisten wie Arnold Schönberg, Hanns Eisler, Karlheinz Stockhausen oder Lothar Voigtländer bezeugen in bestimmten oder sogar in allen Phasen ihres Lebens eine starke Orientierung an weltanschaulichen Inhalten, die – im Sinne des Wortes religare, deutsch binden – ‚religiös‘ oder ‚quasi-religiös‘ zu nennen sind und eine entsprechende Orientierung musikalischer Gehalte nahelegen, obwohl das von ihnen entwickelte musikalische Material für sich genommen diese Bindung gar nicht zum Ausdruck kommen lässt. Schönbergs Dodekaphonie erscheint vielmehr als Distanz zu seiner extremen vorherigen Selbstauslieferung an den psychologischen Selbstausdruck in Fortsetzung einer spätromantisch-expressionistischen Tradition, welche in ihrer Übersteigerung musikgeschichtlich kaum noch eine Ebene des musikalischen Materials unverbraucht gelassen hatte. Die von Individuen Besitz ergreifenden und oft quasi-religiösen oder unverhüllt religiösen Weltanschauungen von Romantik und Expressionismus haben schon jeweils zur Zeit ihrer Geltung eine selbstironische Gegenbewegung erzeugt, und es ist plausibel, sich als weiterreichende Gegenbewegung eine grundsätzliche Distanz zur weltanschaulichen Prägung musikalischen Materials vorzustellen – eine Konsequenz, die sich in der Aufeinanderfolge von Pierot lunaire und Dodekaphonie als erfüllt ansehen ließe. Das Material der Musik Stockhausens nach 1950 ist in der Emanzipation sämtlicher musikalischer Parameter vom Ausdruckszwang eine Reaktion auf die Übersteigerung der weltanschaulichen Okkupation vor allem durch musikalische Ausdrucksformen der Romantik des 19. Jahrhunderts sowie durch diejenige Musik des 20.  Jahrhunderts, die an diese Ausdrucksformen anknüpfte, zum Beispiel im Veranstaltungsstil der Nationalsozialisten. Und Eislers kritische Reflexion der gesellschaftspolitischen Funktionalisierung von Musik in der DDR als Zurücknahme der Säkularisierung zielt ebenso auf einen ähnlichen Veranstaltungsstil der Sozialisten. In allen drei Fällen lässt eine Vergleichbarkeit der biographisch-historischen Situation wie auch eine Vergleichbarkeit der Entfunktionalisierung musikalischen Materials – wenn auch in unterschiedlicher Konsequenz und bei Eisler sicherlich am meisten zögerlich – auf eine bewusste oder unbewusste Verinnerlichung der Säkularisierung im Hinblick auf Musik schließen, und zwar motiviert durch den Wunsch nach einer selbstkritischen Lösung von eigenen und gesellschaftlichen Weltanschauungen mit okkupatorischem und dogmatischem Charakter. In allen drei Fällen könnte allerdings eine Säkularisierung der Musikauffassung nur als Durchgangsstation auf dem Weg zu einer erneuten oder reformerisch erneuerten Bindung an weltanschauliche Inhalte gemeint sein. In allen drei Biographien erscheint nämlich das, was man als Konsequenz von Säkularisierung ansehen könnte, nicht als souveräne Position, sondern als Zwiespalt zwischen ihr und dem Bedürfnis nach religiöser oder quasi-religiöser Orientierung an weltanschaulichen Inhalten. Im Falle Voigtländers ergibt sich hierdurch die Notwendigkeit eines Weges heraus aus einem zweifachen Dilemma. Denn anders als die drei genannten Komponisten wollte er nicht nur seine musikalische Autonomie in Übereinstimmung mit seiner religiösen Orientierung wahren, sondern musste beides zusammen gegen die vorherrschende Ästhetik eines Staates behaupten, der vorgab, säkular zu sein, und daher Religion ablehnte und dennoch allen Autonomiebestrebungen ihm selbst gegenüber mit gesellschaftspolitischen Einbindungsforderungen, die quasi-religiösen Charakter hatten, zu begegnen suchte. Es

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macht Voigtländers musikhistorischen Rang aus, dass er es im Laufe der Jahre schaffte, diesem Dilemma ein Werk abzuringen, das keinem ästhetischen, politischen oder religiösen Dogma unterliegt, sondern einzig durch seine ästhetische Überzeugungskraft und großes künstlerisches Handwerk solche Inspirationen bzw. Geisteshaltungen zum Ausdruck bringt, die es verdienen und vertragen, zu autonomer Musik zu werden. So gesehen aber bietet Voigtländers Werk auf die Frage, warum es Religion und Existenzialismus so zurückhaltend zur Geltung bringt, auch noch Anlass zu einer kurzen, gleichwohl grundsätzlichen Antwort. Denn angesichts dieser auch nach 1989 beibehaltenen Zurückhaltung kann man vermuten, dass er eine Lehre nicht nur einerseits aus der prekären Situation der Religion in der DDR zog, die ähnlich auch in einer durch und durch materialistischen westlichen Konsumwelt zu ziehen wäre – nämlich als Einsicht in die vordergründig generell geringe Geltung von Religion in beiden Gesellschaftspraktiken –, sondern andererseits auch im Blick auf soziale Nötigungen, die jahrhundertelang von Religionen ausgingen und in anderen Teilen der Welt weiterhin ausgehen, ja sogar wieder zugenommen haben. Das Bedürfnis, Religion diesen Charakter der sozialen Nötigung zu nehmen, um sich auf ihr Wesentliches zu konzentrieren, kann man als Motiv von Voigtländers Existenzialismus vermuten, der mit der philosophischen Poesie Guillevics gerade auch Religion selbst auf dies Wesentliche zurückverweist. In der Orchestermusik III (2005) kommt eine Tendenz zum Ausdruck, die man durchaus mit aller gebotenen Vorsicht als religiös im metaphysischen Sinne deuten könnte. Es gibt dort äußerst dramatische, impulsive Ausbrüche, denen es zeitweise gelingt, sich in ruhige Klangflächen, die – wie schon im Oratorium – wegen der Einbeziehung von Glasharmonika sphärisch wirken, zu transformieren und als solche zu stabilisieren. Doch diese Klangflächen sind offenbar nicht zu halten, und so begegnen im Loslassen resignierende Gesten, aus denen dann erneut weitere Ausbrüche hervorgehen. Aber nicht nur wegen der Glasharmonika wirken diese ruhigen Klangflächen sphärisch; auch die Art und Weise, wie sie erlangt und wieder losgelassen werden, lässt sie wie eine erstrebte, aber gerade durch übergroßes Streben nicht wirklich zu erlangende Teilhabe an etwas, das an platonische Ideen erinnert, erscheinen, zu deren Wesen es gehört, dass sie unauflösbare metaphysische Sehnsucht im menschlichen Subjekt erzeugen. Die Perspektive eines Subjekts, dem dies alles widerfährt, scheint ausdrücklich komponiert mit den solistischen Passagen einer Violoncellostimme. Mit einer solchen Deutung ist nicht nahegelegt, Voigtländer habe tatsächlich an platonische Ideen gedacht. Vielmehr kommt in Platons Ideenlehre eine grundsätzliche metaphysische Spannung zum Ausdruck, die in verwandter Form auch in anderer religiöser Philosophie vor und nach Platon vorkommt, sodass der Philosoph hier möglicherweise einem metaphysischen Grundbedürfnis eine besonders eindrucksvolle und kulturgeschichtlich enorm nachhaltige Konzentration und Formulierung verlieh, von der spätere Religionen, die allesamt gerade in metaphysischer Hinsicht vergleichsweise weniger Eigenständiges als die Antike hervorzubringen vermochten, durchdrungen sind. Ob antike Philosophie für Voigtländer eine unmittelbare Rolle spielt, muss offenbleiben. Jedenfalls war sie vor allem in ihrer aristotelischen Ausführung in der DDR sowie in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks in den schulischen und hochschulischen Denkhorizonten

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noch stärker präsent als in vielen westlichen Ländern; dies zeigt sich beispielsweise, wenn man Georg Lukács mit Theodor  W. Adorno vergleicht. Generell tendiert Philosophie auch als religiöse nicht so sehr dazu, Musik für die spezifischen Inhalte und Rituale einer sozialen Nötigung zu instrumentalisieren, wie dies bei Religionen – auf welche offenkundige oder subtile Weise auch immer – fast stets der Fall ist. Daher aber kann auch der musikwissenschaftliche Versuch, Musik metaphysisch zu deuten, nicht so naheliegend auf gesellschaftliche Kontexte zurückgreifen. Und das ist gut so; denn auch deswegen sieht sich Musikwissenschaft zu mehr Eigenständigkeit geradezu gezwungen. Wenn man die Orchestermusik III so deutet und zugleich der Tatsache gerecht werden möchte, dass Voigtländer ihr diesen neutralen Titel gab, dann zeigt sich hierin das Wesen seiner Symphonischen Dichtung, welches nämlich darin liegt, dass deren vermutete metaphysische Tendenz ohne programmatische Hinweise erfasst sein will, wie es auch signifikant für den Titel dieses Werks, aber auch für die Titel anderer Werke Voigtländers ist, dass sie nicht programmatisch sind und erst recht das Wesentliche nicht andeuten. Man könnte dem Musikwissenschaftler ankreiden, dass er überhaupt deutet. Aber zugleich sollte man sich die weitverbreitete Alternative klar machen, die nämlich darin besteht, dass Musikwissenschaft überhaupt nicht mehr versucht, Musik zu verstehen und dieses Verstehen auch zu vermitteln, sondern sich auf bloße und oft auch nichtssagende Beschreibung und Philologie beschränkt. Will sie mehr, muss sie den Mut zur Deutung haben, und zwar im Ursprung eigenständig, ohne Hinweise von Komponisten. Im Blick auf Komponisten Neuer Musik ist gleichwohl festzuhalten, dass ihre häufig anzutreffende Beschränkung auf Aussagen über kompositorische Machart und Struktur nicht zu dem Schluss verleiten sollte, dass sie beim Komponieren auch gar nicht mehr als dies im Sinn gehabt hätten, weswegen die Musikwissenschaft über mehr als dies auch gar nicht zu räsonieren habe. Vielmehr sind die meisten der großen Werke der Neuen Musik Weltanschauungsmusik, in welcher Art und Weise auch immer.

Zukunft Dem möglichen Einwand, dass es sich bei Voigtländer wie auch bei der DDR-Musikgeschichte insgesamt nur um eine Marginalie der europäischen Musikgeschichte handeln könnte, sei durchaus mit einer gewissen Unbescheidenheit und Unduldsamkeit entgegengehalten, dass nur wenige – zu denen auch ich erst seit meinem Wechsel nach Weimar in Thüringen im Jahre 2000 gehöre – eine annähernd angemessene Kenntnis zumindest eines Teils der Musik des 20. Jahrhunderts der östlichen Hemisphäre vorweisen können. Die Musikhistoriographie zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgte lange Zeit – von wenigen Ausnahmen wie Jürg Stenzl oder Hermann Danuser abgesehen – gerade auch im Blick auf Neue Musik nur ihrem westlichen Auge; auf dem östlichen Auge war und blieb sie weitgehend blind. Öffnete sie es, würde sie in den damaligen Ländern des Ostblocks bis 1989 wie auch danach eine Musik erkennen, durch deren Einbeziehung in die Musikhistoriographie von einer europäischen Musik im umfassenden Sinne überhaupt erst die Rede sein kann; und erst in diesem umfassenden Sinne aufgefasst wäre europäische Musik

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des 20. und 21.  Jahrhunderts angemessen ins Verhältnis zu außereuropäischer Musik, gerade auch des eurasischen Kulturraums, zu setzen. So gesehen wären Komponisten wie Kazimierz Serocki oder Zbyněk Vostřák – heute nahezu vergessen – oder Sofia Gubaidulina und Alfred Schnittke zusammen mit der jüngeren Generation – etwa Vladimir Tarnopolsky, Jamilia Jazylbekova, Elmir Mirzoew und viele andere – nun in ein Prisma zu rücken, in dem sich die Farben ganz Europas wie auch die Farben seiner interkulturellen Anziehungskraft musikalisch brechen. Und um über Farben in literarischer Hinsicht wie auch im wörtlichen Sinne zu sprechen: Für die Literatur und Bildende Kunst gilt dasselbe, indem Irmtraud Morgner, Lili Ország oder Juri Kuper – um nur einige von vielen zu nennen, für die der vorliegende Text neugierig machen möchte – erkennen ließen, dass es komplementär zur ‚Westkunst‘, wie sich 1981 eine Ausstellung in Köln paradigmatisch nannte, eine Moderne des Ostens zu entdecken gibt. Einen Beitrag zu dieser Entdeckung leistet die seit 2004 erscheinende Schriftenreihe KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft, die nach mittlerweile 13 veröffentlichten Bänden ihren Horizont interkulturell und je nach Zielgruppe auch mehrsprachig nun in alle Himmelsrichtungen und historisch auch in frühere Jahrhunderte erweitern soll, obwohl sie über keinerlei Budget und eigens für sie abgestellte Personalkapazitäten verfügt. Während die Literatur in vergleichsweise groß angelegten interkulturellen Begegnungsstätten wahrgenommen und gefördert wird – nicht zuletzt mit den Buchmessen in Deutschland –, könnte auch hinsichtlich der Bildenden Kunst die Moderne des Ostens mehr in den Blick gerückt werden. Beeindruckend sind diesbezüglich etwa die Bildbände Ország Lili von S. Nagy Katalin, Kunst in Deutschland seit 1945 von Karin Thomas, der Katalog zur Ausstellung Kunst in der DDR in der Neuen Nationalgalerie Berlin im Jahre 2003, ferner die regelmäßigen Wechselausstellungen im Panorama-Museum in Bad Frankenhausen in Thüringen. Spezifisch die Neue Musik der östlichen Hemisphäre fordert dazu heraus, Autonomie, Werkbegriff, Komplexität und Innovation, wie sie sich als kompositorische Leitbilder europäischer Musikregionen im Laufe der letzten Jahrhunderte gegenüber einigen widrigen politischen Rahmenbedingungen durchgesetzt haben, nun auch als das Spezifische von Kunstmusik in einer pluralen und egalitären Musikwelt geltend zu machen, die es sich beigebracht hat, solche Unterschiede wie die zwischen ‚Alltagskultur‘ und ‚Hochkultur‘, zwischen ‚Dilettantismus‘ und ‚künstlerischem Handwerk‘ etc. unter dem Deckmantel von Gleichrangigkeit und Breitenwirksamkeit zu übertünchen, um somit faktisch Hochkultur und künstlerisches Handwerk nicht mehr als Anspruch von Musikgeschichte respektieren und fördern zu müssen, sondern nur noch als Störenfried eines geschichtslosen Musikkonsums letztlich entsorgen zu können. Doch dies darf nicht unwidersprochen bleiben. Vielmehr ist in mancher Rückwendung Neuer Musik – weg von John Cage, weg von der Dominanz der Popkultur, hin zu Werk und künstlerischem Handwerk – nicht Konservativismus, sondern vielmehr die Renaissance einer globalen musikalischen Hochkultur zu beobachten, der gerade die europäische Neue Musik wie auch die traditionelle Kunst- und Ritualmusik der eurasischen Regionen des ehemaligen Ostblocks vielschichtige Voraussetzungen und Anregungen bieten. Voigtländers Tätigkeit als Kompositionslehrer – zu dessen Schülern unter anderem Nina Šenk (Slowenien) und Vito Žuraj (Ungarn) gehören – ist diesbezüglich ebenso signifikant, wie auch seine zahlreichen

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Festivalaktivitäten eindrucksvoll zeigen, dass Neue Musik interkulturelle Gesellschaftlichkeit stiften kann. Die These sei gewagt: Die Zukunft dieser globalen musikalischen Hochkultur hat erst begonnen. Sie offenbart eine Kraft der musikalischen und intermedialen Autonomie und des Kunstsinns, die zukünftige Gesellschaften gegen den jeweiligen politischen und ökonomischen Zeitgeist brauchen werden, wenn sie nicht in blinder materialistischer Selbstaffirmation verblöden sollen.

Matthias Herrmann

„Aber der Augenblick dehnt sich, der Tiefe hat.“ – Lothar Voigtländer und seine Chormusik a cappella mit einem Nachsatz zum Orgelwerk

Einleitung Seit Urzeiten versteht sich das gemeinschaftliche Singen als menschliche Äußerung im Spannungsfeld von Harmonie und Disharmonie, Freude und Trauer. Mit dem Aufkommen kompositorischer Prozesse und des Materialfortschritts gingen der westeuropäischen Chormusik Momente des Unmittelbaren verloren. Andererseits eröffneten sich dadurch völlig neue Facetten und Gestaltungsfelder. Wem es wie Lothar Voigtländer gegeben war, vom 10. bis 18. Lebensjahr durch die strenge Schule des Dresdner Kreuzchores zu gehen, dem ist seit Kindheits- und Jugendtagen der Reichtum des chorischen Singens in Fleisch und Blut übergegangen: ein Leben lang, verbunden mit hohen künstlerischen Maßstäben. Wie jeder Kruzianer hat auch Voigtländer in Einzel- und Gesamtchorproben, in liturgisch zelebrierten Vespern und Gottesdiensten der Dresdner Kreuzkirche (seit der Wiedereinweihung am 13.  Februar 1955), ja in Konzerten im In- und Ausland die Etappen und Formen der Mehrstimmigkeit von 1500 bis in die Gegenwart als Sänger kennengelernt. Rudolf Mauersberger – Kreuzkantor von 1930 bis 1971 – spannte den Bogen von der gregorianischen Einstimmigkeit zur Polyphonie der Renaissance und des Barock, vom 19. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart. ‚Gegenwart‘ im Kreuzchor-Repertoire der Dreißiger-/Vierzigerjahre umschloss z.  B. Namen wie Hugo Distler, Wolfgang Fortner, Ernst Pepping und Günter Raphael, für die Fünfziger-/Sechzigerjahre Willy Burkhard aus der Schweiz, Benjamin Britten aus England, Hans Werner Henze aus Italien; aus der Bundesrepublik etwa Günter Bialas, Johannes Driessler, Wolfgang Hufschmidt, Giselher Klebe, Heinz Werner Zimmermann. Und aus der DDR z. B. Heinz Krause-Graumnitz, Siegfried Köhler und Johannes Paul Thilman (weltliches Chorschaffen), Herbert Gadsch, Lothar Graap, Wilhelm Weismann, Eberhard Wenzel (geistliches Repertoire). Das eigene Œuvre Mauersbergers spielte vor allem nach der Zerstörung der Dresdner Innenstadt am 13./14. Februar und der Befreiung vom NS-Regime am 8. Mai 1945 (aus der neue Unterdrückung erwuchs, die auch Voigtländers Familie zu spüren bekam) eine herausgehobene Rolle. Hin und wieder konnte man in den Kreuzchorvespern auch ein Abendlied oder eine kleine Motette eines aktiven Choristen hören. Aus dem Kreuzchor heraus sind nicht nur namhafte Sänger, Dirigenten und Organisten, sondern auch über die Landesgrenzen hinaus bekannte Komponisten geworden, wie Lothar Voigtländer und Udo Zimmermann. Dass diese Namen in einem Atemzug genannt werden, hängt mit dem Geburtsjahr 1943

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und damit zusammen, dass sie von Mauersberger auch bezüglich ihrer Schülerarbeiten besondere Förderung erfuhren, intern und bei öffentlichen Auftritten. Ob auch Schülerarbeiten der ‚komponierenden‘ Kruzianer Friedrich Goldmann (1941–2009), Wilfried Jentzsch (*  1941) und Eckehard Mayer (*  1946) einstudiert worden sind, muss offen bleiben. Noch ein weiterer, älterer ehemaliger Kruzianer sollte in diesem Kontext Erwähnung finden: der Leiter des Göttinger Knabenchors Franz Herzog (1917–1986). Sechs seiner anspruchsvollen Chorwerke – Messen und Motetten, u. a. nach Rilke – brachte der Kreuzchor zwischen 1949 und 1960 zur Uraufführung. Zum Teil unter Hinzuziehung Herzogs als Dirigent, wie später im Falle von Lothar Voigtländer, den Mauersberger 1967 bat, die Leitung eigener Werke zu übernehmen: Dresdner Botschaften (Uraufführung) und Kinderkreuzzug (Wiederaufführung). Insgesamt lassen sich nach Voigtländers Abitur an der Kreuzschule vom Sommer 1962 vier Uraufführungen durch den Kreuzchor nachweisen (1964–1969). Zwischen Herzog und Voigtländer stellte sich noch eine andere interne Parallele her. Mauersberger hatte im Jahre 1959 Herzog als seinen Wunschnachfolger benannt (was infolge des Mauerbaus 1961 nicht zum Tragen kam), andererseits fand der Name Voigtländers in Gesprächen um die 1969/70 in Gang gekommene Nachfolgefrage des nunmehr 80-jährigen Kreuzkantors seitens schulischer Vertreter Erwähnung... Neuer Kreuzkantor wurde 1971 der in der Schweiz wirkende Martin Flämig.

‚Komponieren‘ als Kruzianer in Dresden (1954–1962) „Die Zeit des Suchens, ‚Sich-selbst-Findens‘ in Dresden – ob man das schon ‚komponieren‘ nennen kann, weiß ich nicht. Auf jeden Fall macht der junge Mann aus dem ‚Gehörten‘ – ohne Kompositionsunterricht schon eine ganze Menge. Die Vorbilder Mauersberger, Pepping, Distler, Brahms, romantisches Liedgut – sind nicht zu verkennen.“1

Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Mitsänger hat Voigtländer das im Kreuzchor Gesungene und Gehörte auf seine Weise in Tönen festgehalten. Nachweisen lässt sich das zuerst beim Vierzehnjährigen anhand des Textes Die Stadt liegt noch im Werktagsrauch (von Friedrich Hermann Frey, genannt Martin Greif ), der in Georg Vierlings Vertonung jährlich in den Silvestervespern gesungen wurde. Ebenfalls liedhaft, nunmehr zur Sieben- bis Achtstimmigkeit ausgeweitet, gestaltete sich im Jahr darauf die Vertonung des Ernst-Moritz-Arndt-Textes Der Tag ist nun vergangen (1957/58). Überliefert ist nicht nur das Aufführungsmaterial, sondern auch der Mitschnitt einer Kreuzchor-Vesper 1959/60 mit dem Smaragd-Tonbandgerät des Kruzianer-Vaters. Dazu Lothar Voigtländer im Juli 2014: „So klang der Chor nur bei R[udolf ] M[auersberger]! Unvergessen – lebenslange ‚Klangprägung‘ für mich!“2 Mit Abendliedern gab sich der Sechzehnjährige aber nicht zufrieden und wandte sich nun dem geistlichen Repertoire zu. Er wollte mit Anspruch komponieren, das Vater unser 1 Lothar Voigtländer, Biographisches zur Spurensuche, Berlin, 3. Juli 2014, Typoskript für den Autor. 2 Mitteilung an den Autor von Juli 2014.

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vertonen und somit zu Papier bringen, was ihn klanglich umgab. Das beginnt mit dem einleitenden Psalmodieren des Gesamtchors, setzt sich in der gelegentlichen Aufspaltung in einen Ober- und Unterchor (maximal vierstimmiger Knabenchor und vierstimmiger Männerchor) fort, fächert die Worte „Vater unser“ im Tutti vom zweiten Bass bis zum ersten Sopran (wie im Schlusssatz der von ihm mit uraufgeführten A-cappella-Kantate Die Sintflut von Burkhard) auf (T. 37). Voigtländer strapaziert das Mittel der Synkope, will durch eingeschobene Dissonanzen ‚xxx modern‘ klingen und ist bestrebt, durch kleinere wiederkehrende Motive Erkennungsmomente zu schaffen. Das für einen Kruzianer selbstverständlich gewordene Schütz’sche Prinzip der musikalischen Text-Abbildung stand Pate. Er verwendet chorale Assoziationen (T. 69 im Sopran und Tenor: „liturgische Melodie betonen!!!“) und setzt insgesamt auf die Gestaltungskraft und Klangpracht des Kreuzchores. Dieser dürfte damals das Vater unser zur Aufführung gebracht haben, wie das 18 Seiten umfassende Aufführungsmaterial mit Eintragungen aus dem Probenprozess unterstreicht. Es stammt vom Mitsänger G[unter] G[roß], der bis 1967 weitere Chornoten Voigtländers kopieren wird. In der Motette Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden (1961) – durchsichtig und meist in fließender Viertelbewegung geformt – treten zum vier- bis sechsstimmigen gemischten Chor ein bis zwei Knabensolisten hinzu, ganz im Sinne des von Mauersberger kultivierten solistischen Singens. Zudem wird zwischen Gesamtchor und kleinem Chor unterschieden. Vortragsbezeichnungen wie „sehr ruhig, aber nicht zu langsam“, „locker, leicht“, „steigernd“, „feierlich“ und „verklingend“ deuten an, dass Voigtländer bereits damals die gestalterische Umsetzung im Blick hatte. Zu einem weiteren vierstimmigen Abendlied (Es ist die Nacht gekommen) treten im gleichen Jahr Knabenchöre nach der Art Mauersbergers hinzu: Im Wald und auf der Heide orientiert sich am Modell von Nun ade, du mein lieb Heimatland (RMWV 433; 1958), bei dem ein Cantus-firmus-Chor die Liedmelodie übernimmt und diese vom drei- bis vierstimmigen Knabenchor umspielt wird. Reizvoll ist das Übersingen der Liedmelodie durch die hohen Soprane. Im Gegensatz dazu lebt Voigtländers Das erste Lied „Wer hat das erste Lied erdacht“ vom Zusammenwirken des vierstimmigem Knabenchors mit einem Solosopran wie in Mauersbergers Ein grünes Blatt: „Ein Blatt aus sommerlichen Tagen“ (RMWV 348; um 1960/61).

Chorkompositionen des Musikstudenten in Leipzig (1962–1968) „Auch im Studium war anfangs ein ‚Kompositionsstau‘ zu erkennen, da die Kompositionstechnik zwischen neuer Polyphonie der Zwölftontechnik und altem, liebgewonnenen Klangmaterial heftig im Widerstreit lagen. Hinzu kam, dass ich als ‚Kapitalistensohn‘ Stipendien gestrichen bekam, oft am Rande der Existenz vegetierte – bis zu dem Punkt, da mein Vater enteignet wurde und mein politisches Bewusstsein mit seinem Tode endgültig vom pazifistisch-christlichen langsam aber sicher zur eigenen, non-konformen Existenzsicherung und Durchsetzung fand.“3

3 Lothar Voigtländer, Biographisches zur Spurensuche, Berlin, 3. Juli 2014, Typoskript für den Autor.

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Der Kontakt zum Kreuzchor brach mit Studienbeginn nicht ab. Am 9. März 1963 vollendete Voigtländer die achtstimmige Motette Gott ist unsere Zuversicht und Hoffnung, die mit folgenden Worten einsetzt: „Verzweiflung, Angst und Trübsal. Ein Mensch, ein Mensch, und wo ist Hoffnung?“ Inneres Spiegelbild des damals Zwanzigjährigen? Trostsuche durch Religion und Musik? Wie bei diesen Einleitungsworten wird im Verlauf des 230 Takte umfassenden A-cappella-Stücks der Versuch unternommen, nicht nur den Text auszudeuten, sondern abwechslungsreich und plastisch im Sinne des motettischen Prinzips zu agieren. Bögen, etwa das Schluss-Amen über knapp 60 Takte, sind zwar weit gedacht, dürften beim Hörer jedoch nicht so recht zusammenzufassen sein. Weitaus packender stellt sich da die Vertonung der Ballade Kinderkreuzzug „In Polen im Jahr Neununddreißig“ von Bertolt Brecht dar, was (im Gegensatz zum vorigen Text) aus der sprachlichen Dichte des Textes, der erschütternden Thematik, ja der Unmittelbarkeit der Aussage resultieren dürfte. Die Partiturabschrift der Brecht-Vertonung erfolgte am 3. September 1964, dreieinhalb Wochen später, am 30. des Monats, fand durch den Kreuzchor die Uraufführung statt; in der Komischen Oper Berlin zu den Berliner Festtagen. Im Kinderkreuzzug verwendet Voigtländer den gezupften Kontrabass, ein instrumentales Mittel, das er vom Heidelberger Komponisten Heinz Werner Zimmermann (* 1930) kannte. Trotz Unverständnisses in kirchlichen Kreisen hatte Mauersberger solcherart ‚verjazzte‘ Kirchenmusik seit 1957 gern in seine Programme eingebaut. Nun brachte der 20-jährige Leipziger Kompositionsstudent dieses Mittel mit der ‚weltlichen‘ Sphäre eines Brecht, mit der Situation um Krieg und Tod zusammen. Aber nicht nur dies: Im Kinderkreuzzug offenbart sich erstmals bei Voigtländer ein überzeugender, eigener Gestaltungswille, wie er sich (mir) durch Notentext und Rundfunk-Mitschnitt offenbart. 1963–1965 entstanden kleinere Chorsätze (Das erste Lied „Ein kleines Lied wie geht’s nur an“ nach Marie von Ebner-Eschenbach, Unter hohen Bäumen gehen des 1964 in München gestorbenen Georg Britting und Es ist ein Schnitter, heißt der Tod als Liedbearbeitung) sowie 1966/67 die Zyklen Drei Madrigale nach alt-chinesischen Gedichten für Knaben-(Frauen-)Chor und Dresdner Botschaften für gemischten Chor, Harfe, Klavier und Kontrabass in zehn Teilen. Bei Letzterem handelt es sich um ein durch Vermittlung des Kreuzkantors zustande gekommenes ‚Auftragswerk‘ des Bezirksvorstandes des FDGB4 für den Kreuzchor zu den 9. „Arbeiterfestspielen im Bezirk Dresden“. Mauersberger bezweckte im Zusammenhang damit in den innenpolitisch angespannten Endsechzigerjahren zweierlei: Das Dokumentieren seiner Bereitschaft, mit dem fest in den liturgischen Dienst der Kreuzkirche verankerten Chor (er befand sich damals in der ideologischen Schusslinie zwischen Atheismus und Christentum und wurde nach wie vor gemeinsam von Staat und Kirche [zwei/ein Drittel] finanziert) ab und an bei staatstragenden Veranstaltungen mitzuwirken, ohne sich in textlicher Hinsicht zu verbiegen und dabei solche ehemalige Kruzianer zu präsentieren, die außerhalb der Kirchenmusik erfolgreich ihren Weg gingen, im Falle Voigtländers als Komponist und Dirigent. Die Uraufführung fand am 17. Juni 1967 im (nicht mehr vorhandenen) Kongresssaal des Deutschen Hygienemuseums in Dresden statt, die Wiederholung tags darauf in Großenhain. (Einige 4 Freier Deutscher Gewerkschaftsbund in der DDR.

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Sätze brachte Mauersberger mit seinen Sängern im Juni 1968 im 10. Zyklus-Konzert der Dresdner Philharmonie zur Wiederaufführung.) In den Gedichten Manfred Streubels (Dresden) werden Spannungsfelder zwischen Geschichte und Gegenwart, Krieg und Frieden, Zerstörung und Wiederaufbau auf durchaus poetische Weise transportiert, auch aus kindlichem Blickwinkel wie im abschließenden Abendpsalm: „Amsellied, silberner Quell im Schutt der Frauenkirche. Unvermutet weht der Wind weicher. Unvermutet bleibt die Uhr stehn. Daß die Kinder reine Träume trinken vorm Schlafengehn. “ In diesem Zyklus kombinierte Voigtländer unterschiedliche Chorbesetzungen (gemischt, Knabenstimmen, Knabensoli) mit Instrumentalfarben des Klaviers, der Harfe und des Kontrabasses. Bekanntlich steht das ‚sozialistische Auftragswesen‘ im Verdacht, Dichter und Komponisten korrumpiert zu haben. Der geistig-kulturelle Alltag in der DDR war jedoch pluralistischer als nach offiziellen Verlautbarungen von ‚Partei und Staat‘ zu vermuten wäre und verdient eine differenziertere Betrachtungsweise als aus rein archivalischem Blickwinkel. Sicherlich sollte der Kreuzchor mit den Dresdner Botschaften als Teil der ‚sozialistischen Nationalkultur‘ der DDR präsentiert werden, sicherlich waren sowohl der Anfang 30-jährige Dichter als auch der 23-jährige Komponist angehalten, im Sinne dessen das Werk zu vollenden. Das Ergebnis kommt ohne staatsverherrlichende Plattitüden aus und steht weit über dem, was anderenorts für ‚Arbeiterfestspiele‘ produziert wurde. Im letzten Leipziger Studienjahr schrieb Voigtländer erneut für den Sakralbereich und vollendete am Heiligabend 1967 Kyrie eleison / Christe eleison für vier- bis sechsstimmigen gemischten Chor. Diese Vertonung des ersten Teils aus dem Messordinarium wurde „Professor Rudolf Mauersberger zugeeignet“ und setzt den äußeren Schlusspunkt unter das Kapitel Kreuzchor. Voigtländers heutige Einschätzung des 327  Takte umfassenden Werkes, in dem kontrapunktische Techniken zur Anwendung kommen, als „nicht ‚reif‘ genug“ ist nachvollziehbar, zumal am Anspruch, das textarme, anrufende „Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie eleison“ auf eigene Weise zu vertonen, schon weitaus erfahrenere und ältere Komponisten gescheitert sind.

Komponieren für die Chorpraxis in der DDR (1968–1975/79) „Bis 1975 komponierte ich alles, was an täglicher, angewandter Musik benötigt wurde – von der Chorliedbearbeitung über’s Madrigal bis zu den ersten zaghaften Versuchen es einmal ‚ganz anders‘ – außerhalb des gewöhnlichen Chorlied-Duktus der DDR-Chormusik ins Experimentellere zu wagen. Darunter litten dann wieder die Realisierungschancen bei den Chören, die ich selbst dirigierte, um Geld zu verdienen. So ist also die Periode meiner Chorkompositionen bis Ende der siebziger Jahre zu verstehen…“5

Nach der Tätigkeit als Chordirektor und Kapellmeister am Theater der Altmark in Stendal (1968–1970) ergriff Voigtländer die Chance, bis 1973 als Meisterschüler von Günther 5 Lothar Voigtländer, Biographisches zur Spurensuche, Berlin, 3. Juli 2014, Typoskript für den Autor.

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Kochan an der Akademie der Künste (Ost-)Berlin sein Kompositionsstudium fortzusetzen. Seit 1973, seit nunmehr 40 Jahren, wirkt er als freischaffender Komponist. Für die Chorpraxis standen in der Früh- und Spätphase dieser Periode zwei recht unterschiedliche A-cappella-Werke: der Morgenlied-Zyklus Der Tag bricht aus den Blüten (Rose Nyland) für vierstimmigen Mädchen- oder Knabenchor (1968) und Wir, unsere Zeit nach Gedichten von Kurt Barthel, Paul Wiens, Georg Maurer, Dora Gabe und Johannes R. Becher für gemischten Chor (1973). Rose Nyland (1929–2004), Tochter eines SPD-Landtagsabgeordneten, der mit seiner Familie 1933 über die Tschechoslowakei nach Schweden emigriert war, lebte seit 1951 in Chemnitz (1953–1990 Karl-Marx-Stadt) und war in verschiedenen Funktionen bis hin zur Abgeordneten in der DDR-Volkskammer aktiv. In unterschiedlichen Metiers wirkte sie als Schriftstellerin. Die von Voigtländer vertonten Gedichte verraten Phantasie jenseits realsozialistischer Poesie. So im Sonnenliedchen: „Wenn die alte, junge Sonne tönen würde wie ein Lied, wär’s ein Lied aus tausend Tropfen, das von Turm und Dächern sprüht“ oder im Eingangschor Träume: „Am Morgen wehen die Träume über dem Schlaf der Schilfvögel hin“. Auch im Zyklus Wir, unsere Zeit „für den Kammerchor des Klubhauses der Neptunwerft Rostock unter seinem Dirigenten Gerhard Faatz“ (Verlag Neue Musik, Berlin 1975) ist das Moment ‚Traum‘ in Nr.  5 unter dem Titel Traumgarn präsent. Obwohl das Irrationale, Unterbewusste, außerhalb der offiziellen Ideologie Stehende in der DDR der Sechziger-/Siebzigerjahre als suspekt galt (wie der historisch ‚überholte‘ christliche Glaube), hat der vertonte Text Wiens’ folgenden Wortlaut: „Der Mond stürzt auf die Erde! Senkrechten Wellenschlags branden die Regen. Durch schäumende Nächte schaukelt der Korb mit dem kleinen Leben, das schreit… Du aber liegst im Garten auf duftendem Lager, es betten die Blätter dich des bewußten Baumes. Schön bist du, du weißt es, du schweigst, und dein leuchtender Leib überredet mich. Jüngst ein Geheimniskrämer am Zaun, der wollte uns andrehn das alte Märchen, daß man sich schämen muß, wollte uns Efeu verkaufen gegen das Glück, weil da werweißwer zu retten wär.“

Über mehrere Seiten verlangt Voigtländer vom Männerchor simultanes Flüstern (zum Chorgesang der Frauenstimmen).6 In den Ober- und Unterstimmen drängen zwei (aleatorische) Figuren zum Abschluss, über denen folgende Anweisung zu lesen ist: Diese „ständig wiederholen, poco a poco stringendo e stringendo; an der Schnelligkeits-Grenze nach vollständig ff wiederholter Figur Abbruch durch den Dirigenten.“7 Neben solch ‚neuen‘ Gestaltungsmitteln dominierte damals bei Voigtländer noch der traditionelle Chorsatz, etwa beim hymnischen Zyklus-Finale mit dem Becher-Gedicht Wir, unsere Zeit, das zwanzigste Jahrhundert. Dem ‚Wir‘ der Einzelstimmen folgt das ‚Wir‘ des Gesamtchores. Ein solcher ‚Wir‘-Optimismus gab damals offenbar vielen Menschen Halt, was nachzuvollziehen ist; gleich, wie man zum Regime stand, gab es doch für die allermeisten keine Alternative. Die Grenzen waren seit 1961 geschlossen und für deren Überqueren standen Tod oder Gefängnis. Im Lande entfaltete sich ein gewisser Wohlstand 6 S. 26–29 der Chorpartitur des Verlags Neue Musik, Berlin 1975. 7 S. 32 der Chorpartitur des Verlags Neue Musik, Berlin 1975.

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und allerorten erblühte das Nischendasein. Das staatlich geförderte Volkskunstschaffen, in dessen Rahmen sich die Laienchöre bewegten, bot viele Freiräume, sofern man diese mit einer Portion Selbstbewusstsein und -ironie nutzte (für einen Außenstehenden kaum nachvollziehbar). Wenn Voigtländer heute auf sein damaliges praxisbezogenes Komponieren blickt und konstatiert „sehe ich heute alles kritisch… ist aber in der Welt“8, dann sollte bedacht werden, dass auch das Nachlaufen von Modernismen Zwang, inneren wie äußeren, ja Anpassung bedeuten kann. Alles hat zwei Seiten und alles hat im Nachhinein seinen Sinn, etwa, wenn Voigtländer ein politisches Gedicht von Helmut Preißler (Schrei, zuerst am 12. Februar 1966 im Neuen Deutschland veröffentlicht) für Chor a cappella vertonte (Hofmeister Verlag, Leipzig 1975) und dabei einen weiteren Baustein zum unkonventionellen Komponieren aufsetzte: erstens gesprochene und gerufene Textteile nacheinander einsetzender Bässe, Tenöre, Alte und Soprane, im Zusammenklang mit Sekund- (auch Tritoni-) Liegetönen, die mit sforzati auf der Silbe ‚da‘ eingeführt werden und sich zum Ende des ersten Teils verselbstständigen (T. 1–26); zweitens polytonale Felder im abschließenden Teil und Unisono-Rufe aller Chorsänger mit Schluss-Fortissimo-Schlag der Großen Trommel. Das zeigt, dass durch die richtige Wahl der Mittel das Agitierende des Textes verstärkt wird. Im Schrei geht es um die Hilflosigkeit gegenüber Krieg und amerikanischen Bomben (auf vietnamesische Städte). Wer die mittleren Sechzigerjahre in der DDR erlebt hat, der weiß, mit welchen Mitteln an Bildungseinrichtungen und in Betrieben versucht wurde, aus dieser bestürzenden Situation Kapital für die Sache des Sozialismus zu schlagen, Klassenkampf zu betreiben und damit innenpolitisch Druck auf Erwachsene, Jugendliche und Kinder auszuüben. Das eine wird durch den geschichtlichen Abstand nicht unproblematischer als das andere, und das Verurteilen von Unmenschlichkeit und Krieg mit künstlerischen Mitteln sollte unabhängig von jedweder Lagerzughörigkeit sein. Wenn Voigtländer den Schrei „zu den von mir (heute) kritisch gesehenen Stücken“ zählt,9 dann kann dies unter diesem Gesichtspunkt durchaus relativiert werden. Es ist hier nicht der Ort, die zahlreichen Einzeltitel (Chorwerke, Volkslied- und Liedbearbeitungen) zu nennen, die seit 1968 für die Chorpraxis entstanden sind.

Zerbrechen alter, eigener Konventionen (ab 1975) „1975 kam dann die endgültige Wende des Kompositorischen: Blitzartig hatte ich die Elektronische Musik erkannt, gefunden, fand die neuen Strukturen, die ich für mich weiter verfeinerte und ausprägte. Innerhalb weniger Jahre trat das Komponieren für Chöre einen Schritt zurück, ich wendete mich der experimentellen Vokalstimme, den linearen, von anderen Zeitleisten gesteuerten, polyphonen Techniken zu, die so im Laiengesang nicht mehr greifen konnten. Hinzu kam die neue Lyrik, die neue Philosophie eines Guillevic, eine Rückbesinnung auf Bibeltexte – und dem Zeitgeschehen gegenüber kritisch wertende Art eines Cummings, eines Beckett, eines Guillevic. Das brachte auch

8 Mitteilung an den Autor im Juli 2014. 9 Mitteilung an den Autor im Juli 2014.

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Matthias Herrmann eine Lösung aus dem ‚Wir‘, dem romantischen ‚Wir‘-Klangbild, dem ich gemäß meiner Jugendzeit verhaftet war.“10

Die erwähnte geistig-kompositorische Wende beim Anfang 30-Jährigen ist im A-cappella-Bereich zuerst 1975 anhand der Antiken Epigramme antiker Dichter erkennbar (Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1995!). Es ist eine Hinwendung zum stets neuen und aufregenden Thema von Erotik und Liebe fernab gesellschaftlicher Prozesse und weltumspannender Ideen: 1. Vivamus, mea Lesbia von Catull: „Leben laß uns lieben, meine Lesbia, und das Lästern verkalkter Greise soll uns keinen lumpigen Pfennig wert sein!“ 2. Ne tibi sim von Sulpicia: „Nicht will ich, o du mein Licht, deine glühende Liebe noch bleiben [...]“ 3. Bissula von Ausonius: „Liebliches Kind, Schmeichlerin du, Zeitvertreib, du all mein Glück!“ Stellvertretend zur Catull-Vertonung: Es fallen – gesungen und gesprochen – starke rhythmisch-artikulatorische Momente (von Carl Orff inspiriert?) auf. Teilweise entfällt die herkömmliche Taktgliederung (S.  3–8). Durch „konstante rhythmische Wiederholungen“ vorgegebener Figuren wird de facto aleatorisch gearbeitet, bis zum finito ex abruptio des Dirigenten (S. 3 f.). Etwas Archaisches tritt hinzu: die Chorsänger sollen an markierten Stellen „mit den Füßen den Takt treten“ bzw. Geräusche durch „Händeklatschen, Fingerschnipsen“ erzeugen (S. 6). Zu auskomponierten Stimmen gesellen sich z. B. langsame Glissandi vom Falsett bis in tiefe Regionen (S. 8 f.). Durch polyphonen Sprechgesang – „keine fixierte Tonhöhe, ungefähre Stimmhebung angegeben (schelmisch gesprochen – quasi dialogisierend)“ – wird das Aufbrechen der Struktur des Chorsatzes verdeutlicht (S. 12 f.), zudem ist der Verlauf nach hinten offen (S. 13). Dass die zu singenden Passagen (etwa S. 14) rhythmische Prägnanz, Flexibilität und hohe Treffsicherheit von den Chorsängern erfordern (verminderte/ erhöhte Intervalle), versteht sich von selbst. Auf Fünf neckische Madrigale nach Texten des Minnesängers Oswald von Wolkenstein für vierstimmigen Frauenchor a cappella („Für Frau Elena Šarayova und den Chor der slowakischen Lehrerinnen“; Manuskript, März 1976) folgte die Motette Litaneia für Solo (Bassbariton) und zwei gemischte Chöre a cappella in getrennter Aufstellung nach Texten von Karol Wojtyla, Erich Fried und zeitgenössischen Litaneien, vermutlich entstanden als Reaktion auf die unerwartete Papstwahl Wojtylas vom 16.  Oktober 1978. Es werden Texte eines Querdenkers jenseits und diesseits des Eisernen Vorhangs in den überkonfessionellen Kontext gestellt und mit einem dialogisierenden Komponier- und Aufführungsprinzip gekoppelt: Cappella- und Favorit-Chor, also groß und klein besetzte Chöre im Sinne des Dresdner Hofkapellmeisters, der die deutsche Sprache musikalisch so meisterhaft umgesetzt hat (von Voigtländer beim Kreuzchor verinnerlicht). Von daher heißt es folgerichtig im Untertitel: „Hommage à Heinrich Schütz“. 10 Lothar Voigtländer, Biographisches zur Spurensuche, Berlin, 3. Juli 2014, Typoskript für den Autor.

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Mit dem Werkbeginn über die Textpassage „Eins bitte ich vom Herren“ (aus den Kleinen geistlichen Konzerten, SWV 294) und auf gleicher Tonhöhe, aber rhythmisch unterschiedlich, wird in beiden Chorebenen ein aus dem Nichts kommendes Murmeln einer Litanei hörbar. Wenn dann der Bariton (Liturg) psalmodierend hinzutritt, muss der Cappella-Chor seine Liegetöne colla misura halten (T. 5 f., 9 f., 53–56), dann das Wechselspiel der Chöre (manchmal sprechend oder akzentuiert singend), ihr Zusammenfinden z. B. ab T. 47 ff. unter der kontroversen Aussage „sich lieben und mit der Zeit einander töten“ oder „quasi Litanei“: „[...]daß er die Waffen zerbreche in der Hand der Gewalttätigen. Das bitte ich vom Herren, daß er den Sauerteig des Hasses aus unseren Herzen nehme und uns segne mit der Gnade der Vergebung“ (T. 67 ff.). Zu diesen Bittgesängen – Litaneien – auf gleicher Tonhöhe und asymmetrisch einsetzenden Wiederholungen des Cappella-Chors und des Solisten kommt als Grundfeste der chorale Favorit-Chor (T. 69– 82). Im pianissimo einsetzenden, „breit strömenden“ Schluss-Amen (T. 83–95) wird der Bogen zum Anfang gespannt: zum Solisten (in der Rolle des Liturgen), zum textlichen Ausgangspunkt „Eins bitte ich...“ im wiederholten Murmeln im Sinne einer Litanei: „sehr langsam und lang ausklingen lassen“. Auf dieses Werk voller tiefer spiritueller Kraft folgten 1981 Drei Gesänge nach Ketschua-Lyrik für gemischten Chor und Schlagwerk, die „Prof. Vagts und dem Universitätschor zugeeignet“ wurden. Ketschua verkörpert die heute am häufigsten gesprochene indigene Sprache Südamerikas, und Voigtländer gibt den vom gemischten vier- bis achtstimmigen Chor gesungenen und gesprochenen Texten folgendes Schlagwerk an die Seite: 1. „Haraui! Sonne, Sonne mein!“: Marimbaphon, elektronisches Zuspielband, 2. „Ay, ay, wir weinen“: Gongspiel gespielt mit weichen Schlägeln („huschend, tupfend“); „feine Metallstäbe oder Stricknadeln“, Peitsche und Bambusstabspiel (mindestens fünf verschiedene Größen) mit weichem Filz, 3. „Ea, ich hab gesiegt“ mit zwei Congas (hoch/tief ). Hier treffen durch die Wahl von Text und Instrumenten europäische und südamerikanische Kulturen aufeinander, hier verknüpft Voigtländer zum ersten Male ein eigenes Chorwerk mit Mitteln der Elektronischen Musik: „Umblendung in elektr. Chorklänge“ (S. 60), „Griech. Sonne – synth. Chorklänge einblenden“ (S. 63).11 In dem dreiteiligen Zyklus geht es u. a. um die Anrufung des Menschen an die Natur, an die Sonne, ja um die Bitte, Regen und Wasser zu spenden. Nachdrückliche Figuren, in- und extrovertierte Klanggesten, eigenartige Klangschattierungen bewegen sich in einem Kosmos zeitgenössischer Chortechniken mit dosiert eingesetztem Schlagwerk. Die Drei Gesänge nach Ketschua-Lyrik erschienen 1997 beim Verlag C. F. Peters, Frankfurt a. M. etc., zusammen mit der A-cappella-Chorsammlung Am Ende des Regenbogens auf Texte von Eva Strittmatter, Christian Morgenstern, Richard Rive, Wolfgang Tilgner 11 Angaben nach: Lothar Voigtländer, Am Ende des Regenbogens. Lieder für gemischten Chor a cappella. Anhang: Drei Gesänge nach Ketschua-Lyrik für gemischten Chor und Schlagwerk, Chorpartitur, Frankfurt a. M. etc., 1997.

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u. a. (1978–1982). Beschlossen wird das Sammelwerk mit Nachbars Garten – eine preußische Kleingartenidylle, das folgende musikalische Zitate verarbeitet: Heinzelmännchens Wachtparade (Kurt Noack), Dorfschwalben aus Oesterreich/Walzer (Josef Strauß), Es kann nicht immer so bleiben/Volkslied (F. H. Himmel/Text: Kotzebue), Ein kleiner hübscher Vogel/Liebesliederwalzer (Johannes Brahms) und Letzte Rose (Irisches Volkslied).12 All das wird auf Manfred Streubels Kurztext bezogen: „Bei dem herrscht Ordnung. Rosen: Stillgestanden! Radieschen: Rührt euch! Kehrtmarsch: Blumenkohl! Dem kommt kein Korn, dem kommt kein Halm abhanden. Und wenn die Vögel in den Fallen landen – zieht er den Hut. Und pfeift wie ein Pirol.“

Wir finden Assoziatives und Parodistisches, Vorder- und Hintergründiges in Bezug auf die eigenartige Vermischung von Preußentum und Militär, Kleinbürgertum und Verklemmtheit (nicht nur DDR-typisch, aber darauf zielend). Es ist ein heiter-ernstes Stück mit szenischen Momenten: „Der Chor steht militärisch gestrafft, Dirigent mit exakt-eckigen Dirigierbewegungen“, er spricht „etwas hämisch, übertrieben amüsiert“, wobei „der ganze Chor [...] lautlos im Gleichschritt auf der Stelle [tritt]“ und „geräuschhaft“ die Kleine Trommel nachahmt (S. 38). „Einzelne Rufer in jeder Stimme“ wiederholen mehrfach folgende Sprechfiguren: „Eine musikalische Collage / nach Texten / von Manfred Streubel / und bekannten Melodien“! In diesem Zusammenhang darf der parodistisch-amüsante Männerchor So lebt man an der Oberspree. Musikalische Berlin-Reminiszenzen nach Alt-Berliner Gassenhauern nicht unerwähnt bleiben (1985). Von Gelegenheitstücken abgesehen, entstanden Mitte der 1990er-Jahre erneut anspruchsvolle A-cappella-Werke: zum einen die Motette Adoratio nach Thomas von Aquino (1994), zum anderen zwei Jahre später Menschen und Zeit (Les hommes et le temps): ein Chorzyklus auf Texte des von Voigtländer „existentiell“ verehrten französischen Dichters Eugène Guillevic. (Entstanden im Vorfeld des 90. Geburtstags als Auftragswerk des Chores Karlsburg e. V.; die Uraufführung fand am 31. Januar 1998 unter Leitung des Komponisten durch das ars-nova-ensemble Berlin statt.) Über beiden Kompositionen – Motette und Zyklus – schwebt der Geist des christlichen Abendlandes. Auch die individuelle Sicht des Menschen und seine Versuche, Zugang zum Göttlichen zu finden, sind spürbar: über Jesus (7. Strophe des vertonten Aquino-Hymnus) oder über das Relativieren menschlicher Wahrheiten und Gewohnheiten. Es scheint, als könne sich das Göttliche nur im „Augenblick der Tiefe“ einstellen – so wie es Guillevic notiert und Voigtländer ‚in Szene‘ gesetzt hat (Nr. 3: Burlesque I):

12 Angaben nach ebenda, S. 38.

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„Kurz ist der Tag, kurz sind alle Tage. Kurz ist die Stunde. Aber der Augenblick dehnt sich, der Tiefe hat.“13

In dieser dritten von sieben Nummern des Zyklus findet ein Wechselspiel von Kommen und Vergehen statt, also von Zeit, die die Verlaufsform des Mediums ‚Musik‘ ist. Das alte rhetorische Mittel der Pause scheint hier bei horizontalen und vertikalen Verläufen häufiger als sonst Anwendung zu finden (vor allem T. 1–10, 15, 17, 19, 21, 22, 24 usw.). Voigtländer ist wieder ‚dicht‘ am Text, lässt die Choristen sprechen (T. 1: „den Text präzise spucken“, T.  3: „erwidernd“) und singen, zunächst unisono auf gleicher Tonhöhe repetierend (T. 10: „mezza voce, senza vibrato, mit künstlich starrer, leicht unterdrückter Stimme“), dann in homophonen Klangblöcken im Fünfvierteltakt mit verschobenen Schwerpunkten (punktierte Viertelnote/punktierte Viertelnote/Achtelnote/Achtelpause/ Achtelnote), dazu im Bass II (mit Pizzicatobass ad libitum) gesprochene und ggf. gezupfte Vierteleinheiten in wechselnden Taktarten. In dieser Konstellation werden große aus dem Pianissimo kommende Bögen zur Lautstärke im Forte gebracht und wieder zurückgeführt (T.  15–28). Solche zeitlichen Prozesse oder Phrasen gliedern unser Stück: das „fiktive [gesprochene] Fugato“ (T. 29–44 mit dem Glissando-Absturz des ‚Tages‘) genauso wie die folgende Lautmalerei um das Wort „kurz“ (T. 45–55) bis zur Temporücknahme (T. 54) und zum Tenorsolisten, der „besorgt, deutlich fragend“ ruft: „Aber: Der Augenblick?“ (T. 60) und aus dem Zeitgefüge herausgenommen (senza misura), frei schwebend über einer kleinen Dezime der Männerstimmen vom Solosopran singen lässt: „Aber der Augenblick dehnt sich, der Tiefe hat“ (T. 61). Die anschließend musikalisch durchgeführte Kernaussage über 26  Takte hinweg mündet in den abschließenden A-Dur-Akkord der Solo- und Chorgruppen. Trotz Fortissimo soll das Klangbild dieses Akkordes „weich bleiben!“ So der Wunsch des Komponisten für den vorletzten und letzten Takt (87 f.). Man könnte geneigt sein, in diesem leuchtenden, dennoch weichen A-Dur-Akkord eine Öffnung hin zum Göttlichen zu erkennen. Der Kreis mag sich bei Lothar Voigtländer schließen zur früh erlebten Tiefe des Klanges, wodurch möglicherweise mehr Spiritualität in die Herzen der Hörer getragen wurde und wird, als es je das gesprochene oder geschriebene Wort vermag.

Nachsatz Neben dem chorischen Singen hat Voigtländer seit Kindheitstagen auch das Medium „Orgel“ in Vespern, Gottesdiensten und Konzerten verinnerlicht. Die Orgel gehört zu den „tiefsten und bedeutendsten Wurzeln des Aufwachsens“ im Dresdner Kreuzchor,14 sie 13 Burlesque I, in: Lothar Voigtländer, Menschen und Zeit (Les hommes et le temps). Chorzyklus für gemischten Chor a cappella nach Texten von E. Guillevic, deutsch von Paul Wiens, Frankfurt a. M. etc. 1999, S. 10–17. 14 Lothar Voigtländer, Über Orgelmusik, Berlin am 9.8.2014, Typoskript für den Autor.

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zählt zur musikalischen Ursubstanz des Komponisten. Ausgelöst durch die Orgel-Spiele setzte 1978 seine eigene kompositorisch-kreative Auseinandersetzung mit der ‚Königin der Instrumente‘ ein. Es ging hier zunächst um eine Aufarbeitung der früh ‚aufgesogenen‘ Orgelliteratur mehrerer Jahrhunderte, um das ‚Einschmelzen‘ ins damalige Schaffenskonzept, ja um die Findung einer eigenen Position „zwischen Tradition, elektro-akustischer Überflutung von Musique concrète bis hin zur Computer- und Geräuschbearbeitung“. So führten die Orgel-Spiele „ins mikrotonale Rauschen und Flattern bei gedrosselter Windzufuhr und halb-gezogenen Registern“! Die Orgel sollte abgetastet, hinterfragt, „einige Pfeifen spielerisch demontiert und in einem ‚Szenario‘ aus der Kirche getragen“ werden.15 Dann durfte er die Kathedrale von Bourges persönlich in Augenschein nehmen und den Raum erleben: „Visionen von gotischer Architektur, geistlicher Bedeutsamkeit und religiöser Andacht“ kamen in ihm auf und verschmolzen „mit der Nachhallzeit von vielen Sekunden ins Unendliche“.16 „Festgehalten“ wurde dies 1980 in der Komposition Chant a la Grande Cathedrale de Bourges für Orgel. 1982 folgten weitere Orgelstücke: Structum III, 1986 Psalm 130 (für Szigmond Zsathmary), 1988 Solfeggio con annotazioni und – unmittelbar nach der Friedlichen Revolution – Introitus und Insignum (1991). Hinsichtlich der Reihenbildung in Structum III gewährt der Komponist Einblick in seine Werkstatt: „Das Material zum Komponieren bis auf 3 bis 4 Töne minimieren, im Bachschen Sinne (und natürlich in Schönbergschem Bezug): 12 Töne sind zu viel, reduzieren auf ein Minimum, ein ‚Klangzentrum‘ schaffen, eine Intervall-Tonstruktur, die (sowohl horizontal als auch vertikal) einfach alles in sich trägt und deren Transformationen ein ganzes Stück bestimmen werden.“17 Zur Zeit des politischen Umbruchs in der DDR entstand die III. Sinfonie. Im Kontext des Orchesters fällt der Orgel eine exponierte Rolle zu, was bezüglich der geistigen Prägung des Komponisten und des Schaffenszeitpunkts als Zufall auszuschließen ist, vielmehr auf bereits thematisierte tiefere spirituelle Schichten verweist. Satzüberschriften wie De profundis, Trauermarsch und Finale und Choral unterstreichen die Lebens- und Schaffenshaltung von Lothar Voigtländer: „Viele meiner Werke tragen die Zeichen derjenigen Zeit in sich, in welcher sie entstanden sind. Sie sind also im besten Sinne Zeitzeugen“, ja Ausdruck des „Getriebenseins“.18

15 16 17 18

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

Stefan Amzoll

VISAGES – Der kammermusikalische Raum des Komponisten Lothar Voigtländer

I Seine Musik hat zahllose Gesichter. Jedes einzelne Werk entwickelt seine eigene Physiognomie und schaut anders. Der Wandel, das Mannigfache ist seinem kammermusikalischen Projekt eingeschrieben. Frucht jahrzehntelanger kompositorischer Arbeit. Darin sind die Reflexe ablesbar, die Spiegelungen dessen, wie Lothar Voigtländer die jeweiligen Welten in den jeweiligen Zeiten sieht. Was auf dem Theater die Leute erstaunt und gar erschreckt, ist seinem Denken und Tun nicht fremd: die Maske. Masken, Maskierungen zu komponieren, gehört zu den Merkmalen seiner Kammermusik. Das Kammerszenario Visages heißt nicht nur so, es führt Masken vor, so leere wie lebendige, so clowneske wie zuinnerst erschütternde. Darüber wird noch zu reden sein. Gemeint sind Masken, bestehend aus ebenso anmutigen wie dreisten Tönen und Klängen, so klaren wie irritierenden Geräuschen, aus Gebärden, die weniger besänftigen als vielmehr attackieren, aus Stimmen der elegantesten wie aberwitzigsten Art und sonstigen Fremdheiten. Wo die Maske ist, ist auch die Maskerade. Maikäfer flieg z. B. (eine Radiophonie von 1985) oder die Kammermusik Szene fou – avec Rimbaud für einen sprechenden Kontrabassisten, eine sprechende Frauenstimme, Schlagzeug und Zuspiel (2009) führen solche Maskeraden vor. Grundsätzlich gilt für Voigtländers Kammermusik: Je mehr Poesie sie birgt, desto wahrer ist sie. Den sublimen Formen seiner Kammermusik entspricht dieses Diktum am ehesten. Hoher Rang gebührt der menschlichen Stimme, voran der Frauenstimme. Sopranstimmen etwa singen in Dutzenden seiner Werke. Lothar Voigtländers Musik will nicht bloß klingen, sie ist darauf aus, etwas zu sagen, etwas zu bedeuten, etwas Bedeutendes auszusprechen. Klänge sollen tiefer liegende Schichten menschlichen Empfindens und Denkens freilegen und unverwechselbar Kunde geben über das Leben, auch darüber, was die Wirklichkeit anrichten kann. Nichts ist so, wie es scheint. Alles ist viel verwickelter. Diese Beobachtung gehört zu den Motivationen seines Komponierens. Ein Sich-in-die-Musik-Flüchten weg vom Leben, die Absenz von Gedanken sind für den Komponisten unannehmbar. Der Hörer möge sich ein Bild machen, möge etwas erkennen, etwas Wichtiges erleben. In dem Sinne ist Lothar Voigtländer ein Aufklärer. Spätestens seit dem Epochenbruch 1989/90 steht Aufklärung, was immer das sei, in Verdacht, gegenüber den Katastrophen des 20.  Jahrhunderts versagt zu haben. Diese interessengelenkte Sicht scheint unbrauchbar. Für Künstler, die mehr wollen, als mit ihren Produkten Geld und Ansehen zu erwerben, ist aufklärerisches Denken und Handeln keineswegs passé, in der Vergangenheit wie Gegenwart. Karl Amadeus Hartmann, Hanns Eisler, Paul Dessau, Bernd-Alois Zimmermann, Hans Werner Henze,

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Friedrich Schenker, Friedrich Goldmann gehören genauso zu diesen wie Christfried Schmidt, Hermann Keller, Georg Katzer, Paul-Heinz Dittrich, Lothar Voigtländer und andere. Außerdem: Was anderes als Aufklärer sind diejenigen, die etwas entdecken, etwas erfinden, deren Forscherdrang kaum zu bremsen ist in dem Willen, das Klang- und Sprachvermögen der Musik zu erweitern? So gesehen dürfen Katzer und Voigtländer Aufklärer im Bereich der elektroakustischen Musik in Deutschland genannt werden. Beide taten kräftig mit an der Nobilitierung des Geräuschs, der Revitalisierung des Rhythmus und der Belebung ‚klassischer‘ Formen in elektroakustischer Musik, was zu ganz eigener Sprachlichkeit ihrer Ergebnisse geführt hat.

II Gleichzeitig gelang es ihnen, auch der zeitgenössischen Kammermusik nachhaltige Impulse zu verleihen. Deren Begriff – darin herrscht in den einschlägigen Szenen Klarheit – ist unterdes kaum wiederzuerkennen, so stark hat sich Kammermusik, sofern sie diesen Namen verdient, während der letzten Dezennien durch digitale Mutation und Selektion gewandelt. Neue Formen und Daseinsweisen sind kreiert worden. Performances, Klubmusik, Klanginstallationen aller Couleur verdrängen, was deren Macher für alt und verbraucht halten. Parallel dazu kommen Angebote unerhört komplex und gestaltreich daher. Was auch diverse Umkehrungen einschließt, die sich von höheren zu niederen Formen der Komplexität bewegen. Derartige Musik kann also ohne Weiteres auch ‚dümmer‘ werden, und das wird sie tendenziell auch (Irrtum freilich, zu denken, komplexe Musik sei a priori ‚klug‘). Solche ambivalenten Diversifizierungsvorgänge gelten für Neue Musik insgesamt. Voigtländer verhält sich kritisch zu den Umgestaltungen. Je mehr er diese ‚neue Welt‘ durchschaut, je wacher sein Sinn, sich ihr gegenüber fit zu halten. Seine Produktion, siedelnd eher an den Rändern, bringt ohnehin ihre eigenen Werte und Unverwechselbarkeiten ein. In ihr kreuzen sich widerspruchsvoll Tradition und Moderne, klassische Werte und Experimentiergeist. Der Mann kommt von Schütz, Bach, nicht minder den Wiener Klassikern, den Großen des 20.  Jahrhunderts her. Tradition hat den Komponisten geformt und ihre Aneignung ihn gleichzeitig befähigt, zum kühnen Neuerer zu werden. Widersprüchlich bahnt sich der Komponist seinen Weg. Als Kind singt er so schön, dass der Dresdner Kreuzchor ihn bis 1962 bei sich behält. Gleichzeitig brennt er darauf, Dirigent zu werden. Er studiert das Fach bei Rolf Reuter an der Leipziger Hochschule für Musik – ohne größere Neigung, dieses Metier berufsmäßig auszuüben. Später wird er eigene Werke zur Aufführung bringen. Der junge Mann will komponieren und hat Glück. Er kann ein Meisterschülerstudium bei Günter Kochan an der Akademie der Künste der DDR absolvieren. Kochan bringt ihm allenthalben die Instrumentationskunst nahe. Hoch qualifiziert, sucht der junge Mann auch die Höhen der Kultur mit musikalischen Laien zu erklimmen. Er schreibt Lieder und Chöre auf Gedichte von Brecht, Rose Nyland, Peter Hacks und anderen. Zwei Jahre, 1966/67, leitet er die Kunst im Kulturhaus Bitterfeld. Gewiss leidige Zeiten für ihn in der Provinz, jedoch wie seine Zeit als Chordi-

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rektor und Kapellmeister am Theater der Altmark in Stendal keineswegs vergeudete Jahre. 1970 komponiert Voigtländer sein erstes Orchesterstück und seine erste Sinfonie. Mit den beiden Stücken für Klavier solo (Strukturen und Turbulenzen) und Flöte solo (Studie in drei Teilen) komponiert er die ersten gültigen Kammermusiken. Seit 1973 arbeitet er als freier Komponist in Berlin. Alle ernst zu nehmenden Genres und Besetzungen geraten in sein Blickfeld. Orchesterwerke, Ensemblemusiken, Musiktheaterprojekte, einige Orgelstücke und Lieder entstehen, in den Anfangsjahren auch Chorwerke, Klangspiele für Kinder etc. Später, nach der Vereinigung, treten Raummusiken, Performances, elektroakustische Stücke und vieles mehr hinzu. Partituren mit der Feder zu schreiben, genügt ihm irgendwann nicht mehr. Lothar Voigtländer entwickelt sich seit Mitte der Siebzigerjahre zu einem der wichtigsten (nicht nur deutschen) Vertreter der elektroakustischen Musik. Derlei hat selbstredend Folgen für seine autonome Kammermusik. Stücke mit Zuspiel geraten irgendwann zur Regel. Szenarien, worin die Klänge ein System von Schallquellen durchwandern und neuartige Wahrnehmungen auslösen, produziert er immer häufiger. Unterdes reicht sein audiovisuelles Materialfeld vom Alltag bis in entlegene akustische Sphären, von den geschichtlichen Progressionen der Musik bis in deren Zukunft. Musik, die was taugen will, müsse fähig sein, ungeahnte Räume aufzuschließen und unbeschränkt nach allen Himmelsrichtungen zu kommunizieren. Im Zeichen derartigen Wandels treten dialogische Prinzipien – Instrument versus Apparat – auf den Plan. Moderne Spielweisen der Instrumente rücken entschiedener als bisher in den Horizont. Die Kategorie Raum, durch die elektroakustische und vokal-instrumentale Brille gesehen, gerät auf den Prüfstand. Alsbald ist der Raum mit der Möglichkeit, über Klangquellen und Klangorte frei zu verfügen, wesentliches Triebmoment für die Komposition. Die Übergänge, die stattfinden, sind ein hochinteressantes Kapitel.

III In vokal-instrumentaler Kammermusik, unberührt oder noch nicht unmittelbar berührt von Elektroakustik, verwirklicht der Komponist über die Jahrzehnte weg gleichfalls nahezu alles, was die Verabredungen mit Musikern und Ensembles hergeben, worauf der kleine wie große Betrieb programmiert ist. Quer durch die Perioden komponiert Voigtländer Solowerke für Violine, Violoncello, Kontrabass, Flöte, Oboe, Posaune, Piano, Orgel, Harfe, Schlagzeug und andere Instrumente. Ensemblewerke entstehen und erreichen ihr Publikum, sofern entsprechende Gruppen dazu bereit sind, sie aufzuführen. Dem Pianisten Dieter Brauer ist das frei zwölftönige Klavierstück Strukturen und Turbulenzen (1976) zugeeignet. Es entstehen Studie in drei Teilen für Flöte solo, Structum II für Tasteninstrumente (1979) nach, wie der Komponist es nennt, grafischen Grundmuster-Skizzen. Letzteres gestattet den Spielern, Momente eigener Inspiration einzubringen. Der Kirchenraum, sei er auch schiffsgroß, widersetzt sich keinesfalls der Kammermusik. Voigtländers Orgel-Spiele (es gibt mehrere Fassungen, die erste entsteht 1978 in Bratislava und Budapest) für einen Organisten, 2 Assistenten, einen Schlagzeuger und Zuspiel

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von Trakturgeräuschen sind insofern Kammermusik, als sie nicht groß besetzt sind und teils intime Empfindungsweisen in den Raum setzen. Der Komponist ist wahrlich ein Kenner des Instruments. Die Peripherie desselben interessiert ihn, das Ein- und Ausschalten des Motors etwa, die Demontage einzelner Orgelpfeifen zwecks Klangeindämmung oder das Geräusch der Fußtritte aufs Pedalsystem. Das Stück mobilisiert die an und für sich störenden Holztrakturgeräusche und lässt die Orgel, wie der Komponist sagt, „gläsern“ und „brüchig“ wirken. In den Orgel-Spielen – für die Rundfunkproduktion 1979 war Organist Christian Collum zuständig – klingt es bisweilen so, als wäre die Königin der Instrumente ein Bauplatz am helllichten Tag und unterm Schein des Mondes, umstellt von ihrer Christlichkeit beraubten Becken– und Röhrenglockenklängen. Ohrenfällig wird hier die Doppelgesichtigkeit dieses tönenden, schnaufenden, so sehr Schönheit wie Schrecken erregenden Instruments. In seiner Orgel-Sinfonie verfährt der Komponist ähnlich. Er komponiert sie von Oktober 1989 bis März 1990 auf Schloss Salzau bei Kiel. Ein großes Werk in 6 Sätzen. Es ist ebenso klassisch wie avantgardistisch orientiert. Da tanzt der Teufel auf den Manualen, es scheppert die Mechanik, während das Soloinstrument sich zwielichtig schön gibt. Kammermusikalische Züge in Gestalt konzertanter Elemente trägt auch dieses Großwerk. Erfolge feiert der Schöpfer von Kammer- und elektroakustischer Musik eher bei ausländischen Festivals und Foren (Bourges, Liverpool, Prag, Stockholm und anderswo) als hierzulande. Die Randspiele Zepernick, ausgerichtet von dem Komponisten Helmut Zapf – sie existieren seit über zwanzig Jahren – sind ihm von Beginn an Heimstatt. Hier wird im jährlichen Turnus hauptsächlich Kammermusik angeboten, und Arbeiten aus seiner Feder dürfen nicht fehlen. Die selbst veranstaltete Reihe Nacht der elektronischen Klänge in Berlin versäumt es nicht, eigene Mixturen aus Solo, Gruppe und Elektronik vorzustellen. Indes: Die ‚großen‘ wie die Donaueschinger Musiktage, Ultraschall und MaerzMusik in Berlin, die Tage neuer Kammermusik in Witten oder Reihen wie Musica viva München haben ihn törichterweise geschnitten. Das muss nicht so bleiben. Merkwürdig im Rückblick: Kein Werk steht in seinem Register, das die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ Leipzig beauftragt und ausgeführt hätte. Desgleichen die Bläservereinigung Berlin. Beide Ensembles – sie verkörperten zu DDR-Zeiten höchstes Niveau – gaben nach dem Beitritt 1990 auf. Könner ihres Fachs hatten den Komponisten schlicht unterschätzt. Dergleichen hat den selbstbewussten Voigtländer nicht umgeworfen, wohl aber seine Kreativität angestachelt.

IV Was den Intentionen seiner Kammermusik eher zu widersprechen scheint: Gewärtig wird ihm in den 70er-Jahren das Schockauslösende der Klanggebirge, die der Grieche Iannis Xenakis hervorgebracht hat, wodurch sich ihm eine neue Begrifflichkeit der Musik erschließt. Der Brunnen sei ihm bis heute nicht ausgegangen, sagt der Komponist. „Da sind immer wieder Übernahmen, Brüche und neue Klanglichkeiten notwendig geworden, die aus solchen Ideen kommen.“1 Sie führen geradewegs auch in die Kammermusik. 1 Hier und folgend Gespräch mit dem Komponisten.

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Bei Voigtländer avancieren deren moderne Eigenheiten schon früh zu einer Denkart, die bald alle seine Arbeiten durchdringt. Seine Kammermusik, als Ganzes genommen (sie ist keinesfalls ein erratischer Block, die Instrumentarien wechseln, ihre Konturen und Masken ändern sich von Periode zu Periode), ist einmal nach verschiedenen Seiten hin offen. Sie erlaubt die Anregung sowohl durch Bekanntes wie Fremdes, ist also eminent integrationsbereit und zugleich den Meistern der Musik seit dem Barock zugewandt (schon der Sängerknabe hat die barocke Polyphonie eingesogen wie das Baby die Milch). Zum anderen ist sie integraler Teil in größer dimensionierten Projekten bis hin zur Orchestermusik und dem Oratorium. Eine Art barockes Bewusstsein manifestiert sich hier (und nicht nur hier), das wohl schon der Sängerknabe ins sich hatte. Lothar Voigtländers Kammermusik schöpft, wie gesagt, gleichermaßen aus dem klassischen und avantgardistischen Fundus, wie sie vorprescht in die Klangräume der elektroakustischen Musik, in denen der Komponist sich spätestens seit 1980 souverän bewegt. Sehr früh träumt er von der Eigengesetzlichkeit elektronischer Klangerzeugung und -wirkung, der Möglichkeit einer Rundum-Komposition und -Abstrahlung diversifizierter Ereignisse. „Da es keinen Ort der Entstehung mehr gibt“, sagt er, „muss ich den komponieren. Und deshalb kann ich ihn auch wandern lassen. Ich kann hierüber dem Zuhörer die Illusion der Kugelgestalt geben, die Stockhausen verfolgt hat, von der aus das Material in den Raum geht. Der Zuhörer sitzt in der Mitte, gut aufgehoben im Auditorium, und die Klänge umgeben ihn, sie wandern je nach Verortung, wie sie der Komponist komponiert hat.“ In anderer Art ragen Dichtung, Philosophie und säkulares wie christlich-humanes Weltempfinden in nahezu alle seine Musik hinein, sei es direkt oder indirekt. Er komponiert Texte von Guillevic, Rimbaud, Lorca, Arendt, sodann Psalmen, Messtexte, ausgesuchte Sätze aus der Bibel, Texte von Lasker-Schüler, Ingeborg Bachmann, Beckett, Cummings, Friedemann Berger etc. Epilog aus Günter Eichs Träume: „Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen! Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seit unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt! Singt die Lieder, die man von euch nicht erwartet.“

Ganz unheilige Orgelklänge fügen sich dem Epilog an. Träume ist ein Hörspiel, für das Lothar Voigtländer die Musik komponiert hat (Produktion DDR-Rundfunk 1981, Regie: Peter Groeger). Steht seine Kammermusik in Rede, so sind die jeweils elektroakustischen Produktionen der entsprechenden Jahre mitzudenken. 1975 erscheint das Startwerk im elektronischen Bereich. Die erste gelungene elektroakustische Arbeit von Voigtländer trägt den Titel Aus dem Schweigen. Es existiert eine kammermusikalische Version des Stücks, konzipiert für Tenor, Klavier und Zuspiel als Radioproduktion. Sie weicht erheblich ab von der elektronischen. Der Pianist Dieter Brauer, Tenor Joachim Vogt, der Komponist und ein

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Tonmeister realisierten sie 1975 in einem Studio des DDR-Rundfunks. Eine Pionierarbeit. Das Stück verarbeitet einen Text von Erich Arendt. Die dritte und letzte Strophe Glück lautet: „Einsam Himmel küsst Mund und Zwitschern stirnt das Dunkel Ruhe reift blond den Frieden Traum Träumen gondelt goldent. Müde mondet um die Welt und Schweigen Schweigen Mondeinsamt steigt Golmt das Werden.“

Charakteristisch ist die Ausarbeitung der Sprechstimmenmelodik, frei zwölftönig begleitet vom Klavier. Hier stehen Schönbergs Pierrot lunaire oder Die Erwartung noch Modell. Neu sind die geräuschhaften Ergänzungen des seinerzeit außergewöhnlich wirkenden Zuspiels. (Dergleichen hatte zuvor nur Paul-Heinz Dittrich gemacht in seiner Kammermusik I für Holzbläser und Tonband.) Die Komposition des Titelgedichts überführt anfangs dunkle Geräusche in Stille. Danach geschieht desgleichen umgekehrt: Die Stille mündet in sonore Ballungen. Worauf eine so kalt wie kristallin artikulierende Sprechstimme expressiv melodisiert. Das Stück schließt, indem es Material so lange abbaut, bis nichts mehr ist. Ein Topos, den Voigtländer variantenreich immer wieder gebraucht hat, als Metapher über das Verschwinden wichtiger Gedanken. Solche auf den Weg zu bringen, sei schwierig, sie festzuhalten, unmöglich. Verabschiedet die Komposition das Vernehmliche, so tut sie das „unter Schmerzen“.

V Elektronik und vokal-instrumentale Musik – der Unterschied verwischt immer mehr. Spätestens seit den 90er-Jahren ist er für den Komponisten obsolet. Ungeachtet dessen finden weiterhin ältere Gattungstypen autonom Eingang. Wichtig: Die altehrwürdige ‚Vertonung‘ von Texten geht über Bord und macht der Komposition von Texten Platz (im Sinne von ‚componere‘ gleich zusammensetzen). Aus wenigen Versen weiß Voigtländer fortan ganze Stücke zu bauen. Es gibt keine Begleitung mehr im alten Sinn. Die Stücke sind durchkomponiert. Sprech- und Gesangsstimmen denaturieren, brechen sich im instrumentellen wie elektronischen Kontext. Verse, Silben, Laute, paralinguistische Zeichen

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dienen der Komposition als Material. Voigtländers vokale Erfindungen – welch ein Vorzug – bleiben selbst in vertrackten Verarbeitungen vernehmlich menschliche Stimmen. Ein Werk des Übergangs ist Einmal – Lieder für hohe Stimme und Klavier nach Beckett, Cummings und Friedemann Berger von 1977. Hier funktioniert die Vertonung noch, aber es melden sich schon Raster, die davon empfindlich abweichen. „Komm in den Abend / und tu dein Gesicht vor mir auf“ (Berger) schreitet in Stimme und Klavier gemessen 12-tönig voran. Darauf bringt der Sopran in etwas anderem Gestus die Lorca-Verse „Der stille Stau der Luft / unter dem Zweige des Echos“. Auffallend die Betonung der Worte „Gesicht“ und „Echos“. Dann kommt etwas vollkommen Überraschendes. Die Sopranstimme, gesungen von Roswitha Trexler, beginnt plötzlich zu rebellieren. Von Vertonung keine Spur mehr. Bei „Der stille Stau deines Mundes / unter der Dichte von Küssen“ darf der Hörer eine wilderotische Szene erleben. Koloraturen durchschneiden den Ablauf, Worte und Silben tackern temposcharf und überholen sich gegenseitig in schwierigsten Lagen und wechselnden Tonstärken. Fortissimo permutieren Verse und Strophenteile auf engstem Raum. Die Abfolge der Verse gerät selbstredend durcheinander. Hier ist schon angelegt, was später zur Kultur wird, das sinnfällige Hineingreifen in Abläufe von Dichtung und deren Verknotung wie Entflechtung mit dem Ziel, Töne, Zusammenklänge, Wort-Ton-Beziehungen, vokal-instrumentale Gesten und Maskierungen nicht nur anders zu adressieren, sondern sie wie Küchenmesser zu schärfen. Auch die ‚Fuge‘ des Stücks hat dies Capriccioso-Szenische. Louis Aragon: „Eine Freude bricht auf in drei / Zeiten der Leier gemessen. Eine Lust im Gehölz vogelfrei / Doch ich hab ihren Namen vergessen.“ Die letzte Zeile kommt dreimal. Das Tempo auch hier waghalsig, die Stimme übt sich in Vokalartistik. Jenes letzte Gedicht „Das ist genug“ von Berger ist wieder vertont. Gerade diese Wechsel machen das Stück spannend. In anderer Art progressiv ist der Dialog für Klavier und Schlagzeug, komponiert 1979. Hier sucht das Klavier, sich den Klang- und Geräuschbildungen des Schlagzeugs anzunähern. Wodurch es selber perkussiv wird – so lange, bis es zu klavieristischen Bestimmungen in Melodik und Harmonik zurückkehrt. Das Stück kultiviert in Teilen statt des Dialoges eher den Schlagabtausch. Und der kommt sehr lebendig daher. Ein ausgesprochen modernes Stück. Ähnlich in der Qualität De profundis für 5 Schlagzeuger und Zuspiel von 1986, das die Schlagwerkgroupe Den Haag live in Radio Hilversum aufgeführt hat. Mit beiden Arbeiten (und manch anderen) ließen sich heutige Programme mühelos bereichern.

VI Zeitlich vor dem Dialog für Klavier und Schlagzeug steht die Komposition Variationen und Collage für Sopran und Zuspielband von 1977/78. Sie basiert auf diesen Versen: „Der stille Stau der Luft unter dem Zweige des Echos Der stille Stau des Wassers unter dem Blattwerk aus Sternen. Der stille Stau deines Mundes unter der Dichte von Küssen.“

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Der Komponist formuliert in seinem Werkkommentar eine Abkehr: „Das Stück ist der Schlüssel für mich, die Muster der ‚Vertonung‘ einer Textvorlage zu verlassen und zu einer Haltung zu kommen, die mir gestattet, die poetische Vorlage als musikalisches Material zu begreifen. So dass ich mir dann auch erlaube, die Verse zu zerstückeln, zu zerhacken, zu deformieren, in fremden Sphären anzusiedeln. Das ist damals ein ganz neuer Weg für mich gewesen. Ich ‚vertone‘ Lyrik nicht mehr, ich nehme sie, um Neues herzustellen.“ In Dutzenden Aufführungen von Variation und Collage sang die seinerzeit hohe Gaben besitzende Sopranistin Roswitha Trexler aus Leipzig. Fortan ist Dichtung für den Komponisten Triebmittel kompositorischer Innovation. Dass ihre Gehalte darüber Schaden genommen hätten, darf verneint werden. Schatten zu komponieren, welch unmöglich’ Ding. Zu Beginn der Achtzigerjahre entsteht die Komposition Drei Porträts mit Schatten nach Federico Garcia Lorca. Eine Arbeit, die zum Besten gehört, was der Komponist gemacht hat. Das Stück ist vergleichsweise breit bekannt geworden. Mehrfach wurde es in Varianten produziert, in Ost wie West, und es kam überdies einige Male auf die Bühne. Dauer: 22 Minuten. Besetzung: Sopran, Vibraphon, Violoncello, live-elektronische Klangmodulationen und Zuspielband. Drei Porträts mit Schatten ist sowohl in technischer Hinsicht ein Durchbruch als auch in der Vermittlung des Materials zwischen Kammermusik und elektroakustischer Musik. Die Partitur legt genau fest, wie und wohin der Schatten der porträtierten Person laufen soll. Der Lorca-Text besteht aus einzelnen Widmungsgedichten auf Künstler im Wechsel mit mythologischen Figuren: Verlaine – Bacchus, Juan Ramón Jiménez – Venus, Debussy – Narziss. Die Eckgedichte lauten: „VERLAINE Ich singe nimmer das Lied, das auf den Lippen mir einschlief: Das Lied, das ich nimmermehr sing. Ein Glühkäfer schimmerte über dem Geißblatt, ins Wasser stach ein Strahl des Mondes. Damals träumt ich das Lied, das Lied, das ich nimmermehr sing. Das Lied, mit Lippen gefüllt, gefüllt mit Rinnsalen, die ferne. Das Lied, mit verlorenen Stunden – im Schatten verloren – gefüllt. Lied lebendigen Sterns über unvergänglichem Tag.“

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„NARZISS Kind – du stürzest ja gleich in den Fluss! In der Tiefe da ist eine Rose, in der Rose ein anderer Fluss. Schau, dieser Vogel! Sieh doch, den gelben Vogel da, sieh! Meine Augen schon fielen ins Wasser. Gott! Er gleitet ja aus! O Knabe! ... in der Rose bin ich jetzt selbst. Als er im Wasser verschwand, begriff ich. Doch ich erklär nicht.“

Was setzt der Schatten anderes voraus als Licht? Ist das Licht grell, schlägt er scharf. Im Nebel verschwindet er wie alles. Schatten sind so wundersam wie unheimlich. Geistern sie hinter einem her und führen ihren Tanz auf, so erregt das Schrecken. Schatten – die Dichtung ermöglicht es – können verfolgen, austeilen, zupacken, die verlorene Kreatur quälen und töten. Wie leben wir und sterben, und wo verbleiben unsere Schatten, fehlt derjenige, der die Sonnenstrahlen bricht, fragt der Poet. Voigtländer durchmisst die geheimnisvollen symbolischen Schattenbildungen der Lorca-Dichtung und spielt mit ihnen. Die Melodiebildungen der Sopranstimme finden sich in räumlich-akustisch wechselnden Umfeldern als Schatten wieder. „Was dem lyrischen Wort verwehrt scheint, das gleichzeitige Erklingen von Subjekt und eigenem Schatten“, kommentiert der Komponist sein Stück, „wird im musikalischen Bereich durch Gleichzeitigkeit, Überlagerung und Echo auf intensivste Weise erlebbar. Schatten wird akustisch vielfältig moduliert, ringmoduliert, löst sich in Bruchstücke auf und fügt dem Wort eine andere, eine ‚dritte‘ oder gar ‚vierte Dimension‘ hinzu.“ Derlei geht über die ganze Zeit des Stücks. Die Frauenstimme klingt mal nah, mal fern, mal lieblich, mal rau. Im Widerspiel zwischen dem Ich und dem Schatten changiert sie zwischen rechts – links, vorn – hinten, schön – hässlich, laut – leise, hell – dunkel, kalt – heiß und so fort. Dem inhärent sind die Verkettungen der rätselvollen Sphären oder Gesichter, die jeweils ihre Masken haben und dieselben stetig übermalen. Das gelingt über elektroakustische Verfahren. In Drei Porträts mit Schatten walten Wechselspiele der raffiniertesten Art, worin das expressive Element ein nicht wegzudenkender Teil ist. Für Voigtländer ist Expressivität unabgeltbar: „Es wäre unsinnig, die Expressivität zu missachten oder sie nicht zu benutzen. Sie ist Bestandteil aller meiner Kompositionen, und ich bekenne mich dazu, dass ich das so handhabe, wenn ich komponiere.“ Das mittlere Gedicht lautet:

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Die Drei Porträts mit Schatten muss man hören, um Klarheit darüber zu erlangen, dass hier ein Meister sowohl der vokalen Setzweise wie des Baus elektroakustischer Architekturen am Werke war.

VII Die Komposition Vergesse ... durcheinander ... o süße ... für Singstimme, 4 Posaunen und 4 Schlagzeuger entsteht 1983. Die verwendeten Texte stammen von Erich Fried, Samuel Beckett, Marc Braet und E. E. Cummings. Die Textwahl hat den Schöpfer seinerzeit in Schwierigkeiten gebracht. Unverkennbar der spöttische Pazifismus des tapferen Erich Fried mit „... sich töten mit immer besseren Waffen, und doch sich lieben...“. Oder ähnlich Braet: „... vergesse denn wer kann: die Bomben, den Schutt, die grauen Uniformen...“. Während es bei Cummings heißt: „…der freche Daumen der Wissenschaft – Religionen dich knutschend und beutelnd...“ Irgendwelche Zensortypen hätten zwar interveniert, sagt der Komponist, er sei aber mit dem Stück durchgekommen. Bevor es im Berliner TiP (Theater im Palast) anhob, habe er die im Programmheft fehlenden Gedichte dem Publikum vorgelesen. Die modernisierte Fassung mit dem Titel „Don‘t Forget!“, angereichert mit Segmenten aus der Radiophonie Maikäfer flieg!, kam im November 2008 im MDR-Studio Leipzig zur Aufführung. Auch sie schlug, der früheren Version folgend, sehr ernste Töne an. Tua res agitur. Das Ensemble, weiträumig postiert, bildete seinerzeit ein Quadrat. Auch diese Version erwies sich in seinen Klangmixturen, seinen vokalen Insignien als äußerst sensibel reagierendes Werk. Dass seine Musik mit verwandten Künsten (Tanz, Pantomime, Theater, Malerei, Architektur wie deren Mixturen) kommuniziert, gehört seit den 90er-Jahren zum festen

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Bestand seines Komponierens. Anlass und Quell hierfür sind häufig genug Konfigurationen der Kammermusik. Sein multimediales Talent kündigt sich indes schon vorher an. Für die Bühne hat der Komponist früh gearbeitet, in der Provinz. Klangszenarien für das darstellende Hörspiel sind im DDR-Hörfunk zu Dutzenden umgesetzt worden. Die eigenständige Radiophonie (Gegenbild zum traditionellen Hörspiel) bedient er, ohne Erzählstrukturen ganz aufzugeben. Solche Werke wie Maikäfer flieg! (1985), Hommage á un poéte (1985), Guillevic-Recital (Szenische Version mit drei Sprechern) 1986, Russisch Roulett (1989/ 90), Berlin-Report/Spring in Berlin 1988/89) und die Materialstudie zu ex voce II – radiophone Motette (1989) können inzwischen als klassisch gelten. Später gesellen sich dem Bereich etliche neue Werke hinzu (atemlos 1995, lamentatio 2000, fanatic 2001, hara 2003 und weitere). Überwiegend präsentieren sie Mixturen aus Elektroakustik und vokal-instrumentalen Artikulationsformen, adressierbar sowohl über elektronische Medien wie in Live-Zusammenhängen der Kammermusik. Dass beides möglich sein müsse, dafür hat der Komponist stets gesorgt. Seine Arbeiten, offen in der Form, variabel in Klanglichkeit und Ausdruck, sind darauf angelegt. Zu den Eigenheiten seiner kammermusikalischen Produktion gehören die Variantenbildung von vorliegenden Entwürfen (Bildung von Werkgruppen wie Structum. Raummusik, Soundscapes, Lichtklang, Glashausspiel), der kreative Rückgriff auf fertige Stücke (Re-Komposition), die Reduktion bzw. Erweiterung von Bestehendem (z. B. der Besetzung), die Kooptierung von Material in neuen Rahmen (z. B. Einbau der elektronischen Teile Hara und fanatic ins Kammertheater Visages). Heute keine unüblichen Arbeitsweisen mehr.

VIII In Frankreich lernt der Komponist EugèneGuillevic kennen (er starb 1997 im Alter von 90 Jahren). Dessen Dichtung und Philosophie inspirieren ihn ungeheuer. Die Hinwendung zu Guillevic ist eine Fortsetzungsstory. Kleine wie große Voigtländer-Werke verwenden Guillevic-Material. In Guillevic-Recital  1 – es existiert eine Funk- und Bühnenfassung – heißt es: „Die Steine müssen zum Reden gebracht werden, mit nackten Worten.“ Drei Sprechstimmen überlagern sich in der Funk-Fassung und führen zu einer neuartigen Behandlung der Sprache. Das Merkwürdige: Frankreich ist für Voigtländer, mehr als Deutschland, Ost wie West, erster Anziehungspunkt. Eben dort lernt der Komponist den schon betagten Guillevic kennen. In Guillevic-Recital II heißt es: „Irre dich nicht!“. „Kein Unglück ist es, sich in Frage zu wissen“. „Versuchen wir den Gesang“. Ein wiederkehrender Topos. Die Komposition versucht das Unmögliche, sie versucht zu singen. Wie aber ein Singen bei diesen radikalen, fordernden, kantigen Sentenzen – diesen Sätzen wie gemeißelt? Es bleibt bei dem Versuch. Wer war eigentlich Guillevic? – Der Komponist gibt den folgenden Kommentar: „Eugène Guillevic (1907–1997) – ein Monolith der französischen Poesie des 20. Jahrhunderts, Guillevic (wie er kurz genannt sein wollte) – war befreundet mit Louis Aragon, von Éluard sichtbar gebrannt…; vielleicht (in) Beziehung zu Mallarmé zu setzen…

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‚Namenloses, Unerhörtes, Ungeheures zur Sprache zu bringen...‘ so charakterisiert Paul Wiens ihn, einer seiner deutschen Übersetzer. Guillevic selbst übersetzte Hölderlin und Trakl. ‚Nichts von den Symbolisten, nichts von den Surrealisten. Bei Guillevics Art zu beten werden die Hände schmutzig: Er arbeitet.‘ Jean Tortel beschreibt die konkrete Getragenheit, die getragene Konkretheit, die elementare Sachgebundenheit als die religiöse Seite des Materialisten Guillevic. Steine, Felsen, das Meer, die Stille, die Zeit, die Menschen in der Zeit – und immer wieder: die Menschen – sie sind der Gegenstand seiner poetisch-philosophischen Untersuchungen. Er sucht ‚das Geheimnis der Dinge‘ in den Dingen, hinter Dingen. ‚Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit‘. Er schreibt kurze, klare, von nahezu biblischer Weisheit erfüllte Verse. Guillevic hat mich seit der persönlichen Bekanntschaft (1978) fasziniert bis heute.“ Dieses denkerische, dichtende Urgestein musikalisch fest verwurzelt zu wissen, eingesenkt wie die Fliege im Bernstein, das sei seine große Hommage an Guillevic, sagt Voigtländer. Ausdruck hierfür ist unter anderem sein Kammeroratorium mit dem Titel Le temps en cause, das 1990 entstand und in Paris wie in Liverpool, Manchester und Chester erklang. Voigtländer dirigierte dort selbst das Kammerorchester Liverpool. Auf diese Weise wurde der Komponist auch im internationalen Konzertbetrieb bekannt. Die beiden Guillevic-Stücke der Achtzigerjahre akzentuieren auffällig das rhythmisch-perkussive Element.

IX Die Entwicklungsphase bis 2009 hat wiederum ihre eigene Charakteristik. Nichts von 1975 an, das sich vom Niederen zum Höheren bewegte. Dann wären ja die allerersten Arbeiten von minderer Qualität, was die meisten nicht sind. In der Kunst ist derlei Progressionsdenken Unfug. „Ich lasse die Entwicklung von 1975 genau so stehen, wie sie ist“, sagt der Komponist. Ein Werk, das bisherige Erfahrungen mit Kammermusik bündelt, ist Visages, ein Musiktheaterprojekt. Voigtländer nennt es KammerSzenario in 8 Teilen. Wieder verwendet er Texte von Eugène Guillevic, entnommen der Sammlung Das Geheimnis der Dinge. Vorläufer ist das Kammeroratorium Le temps en cause, das hier nur genannt sein soll. Visages für Sopran, 3 Sprecher, 3 Tänzer und 8 Instrumentalisten mit Zuspiel elektroakustischer Installationen ist dabei eine Raumkomposition. Das Publikum, so die Idee, steckt inmitten des Gesamtablaufs. Kann also aus vielerlei Richtungen und Raumtiefen die mobilen Quellen des Schalls wahrnehmen. Aufgeführt wurde das KammerSzenario 2003 im Schlosstheater Rheinsberg. Regie und musikalische Leitung: Helge Harding. Den Part La voix sang die großartige Sopranistin Eiko Morikawa. Die elektroakustische Realisation besorgten der Komponist und Georg Morawietz im damaligen Studio für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg. Aus den vier Aufführungen wurde eine CD erstellt. Eine dieser Aufführungen müsste man wenigstens erlebt haben, um sinnvoll über Visages reden zu können. „Da stehst du, kleiner Mensch, und du gehst.“ Der kleine Mensch steht für viele. Bedrohungen, unerfüllte Träume, Hoffnungen, umgeben von destruktiven Kräften, the-

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matisiert die Komposition. Wiederum ist das Wort „Steine“ ein Bezugspunkt. Der Komponist gibt zu Teil  6 – die elementare Krisis des Stücks enthüllt sich hier – folgenden Kommentar: „La Voix, die mahnende Stimme, versucht den selbst anklagenden, selbst zerstörerischen Kräften entgegen zu treten. Der akustische und instrumentale Höhepunkt, die Katharsis ist erreicht: ‚Von keiner Hilfe – und Steine – und zuschlagen!‘ lauten die Worte, von denen ein Sich-Einmischen, und das Verlieren der Contenance ausgeht. Im Schlagwerk werden Ketten geworfen, Steine reiben auf Metall und aggressive Rhythmen kontrapunktieren den Schrei. Ein Choral, ein Gebet scheint auf: ‚Es ist nicht ohne Grund, dass wir gezittert haben, – hart ist die Lehre – blässliche Blume, was davon bleibt..., nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit.‘“

Die gefahrvollen Aktionen der Umgebung, des Mantels um den Hörer herum, geben sich schon vorher kund. In Nummer 2 Recital I steht das Umfeld für geräuschhafte Instrumentalfetzen, chinesische Tempelglockenklänge, ein Kugelroll-Geräusch und anderes mehr. Das Vokabular des Schlusses lautet: „Nicht weinen, Sterben – eine große Müdigkeit – aller lebenden Zahl gleichermaßen betroffen.“ Die „Träume der Menschen“ erweisen sich zwar als Utopie, gleichwohl schließt das Stück mit einem Hoffnungsschimmer. Die einsame Geige, auf der nichts mehr geht, ist nicht das letzte Wort. „Zu wissen, wer wir sind, versuchen wir den Gesang. ‚Visages – Les visages dans le temps‘“ – mit diesem Ruf endet die Komposition.

X Neue Musik, umschifft sie die Bedrängungen des Lebens und will lediglich gefallen, ist meist langweilig. Es gibt allzu viel davon. Das ist ein Jammer. In ihrer Geschichte steckt so viel. Hunderte formale, klangliche, technische Entdeckungen seit Schönberg rufen danach, zeitgemäß mobilisiert zu werden. Das passiert auch. Allein wo sind die Geister, die das Potential wie Lava hochwerfen? „Vorsicht hat noch nie einen Sieg errungen, Ungestüm schon oft!“ (Arnold Schönberg). Dass kammermusikalische Fakturen auch in der Großform figurieren, ist eine alte Geschichte und nicht erst seit J. S. Bach anzutreffen. Namentlich Orchesterkonzertwerke geben kammermusikalischen Diktionen reichlich Raum. Konzertant ist Lothar Voigtländers Oratorium MenschenZeit nun nicht konzipiert, aber ein Denken in Kategorien des intimen Singens und Musizierens führt es allemal mit. MenschenZeit auf Texte von Eugéne Guillevic für 4  Solisten, Chor und Orchester kam 2007 in der Dresdner Lucaskirche zur Uraufführung, geboten von mehrheitlich jungen Musikern der Sinfonietta Dresden, Chorgruppen der Singakademie Dresden und einem Solistenquartett mit anspruchsvollsten Aufgaben. Dirigent: Ekkehard Klemm. MenschenZeit, ein Stück, gehörig entfernt von der alten Oratoriumsmusik und doch spürbar darin gebettet, ein 45-Minuten-Werk, das Gedanken entwickelt, das formal klug disponiert ist, das Spannung hat, ein Wurf, der den Sängern und Musikern Maximales abverlangt. „Unser Gesang weiß mehr als wir von der Erde, vom Tod...“. Abermals Worte

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Stefan Amzoll

des Dichter-Philosophen Eugéne Guillevic, verwendet teils schon in dem KammerSzenario Visages. Guillevics Dichtung erzählt keine Geschichte. Sie besingt symbolhaft die Zeit, die dem Einzelnen bleibt. Was in ihr widersprüchlich sich vollzieht? Schönheiten, Schrecknisse. Zeit läuft unerbittlich, bleibt stehen, dreht zurück, ruft, brüllt. Zeit, die singt und schweigt. Die Uhren ticken in MenschenZeit anders. Darum, ohne den Einbau kammermusikalischer Elemente funktioniert das Werk nicht. Die Kraft des vollen Klangkörpers kündigt schon die Eröffnung „Le temps – pas le temps“ („Die Zeit – nicht die Zeit“) für Soli und Chor an. Doch schon bald muss der Kompaktheit Einhalt geboten werden. Singt der Bariton „... doch immer nach Ordnung des Meeres/ so wie die Schuppen, – und wir sind ausgeschlossen“, Letzteres repetiert er zweimal, so geschieht das äußerst zurückgenommen, fast rezitativisch, bei sparsamer Begleitung durch Streicher, Holzbläser, Harfe, Schlagzeug. Hier greift der Komponist zurück auf die Vertonung. Andererseits: „Die Zeit, die einen Vogel hinsiechen lässt im Sand und zum Schweigen bringt reines Wasser“. Mixturen fallen hier ins Gewicht, Collagen, Montagen. Was immer passiert, es ist mehrschichtig angelegt. Linearität hat zu schweigen. Stimmen zweier Chöre, eine Gruppe Chorsolisten und ein großer gemischter Chor, verweben mit orchestralen und instrumentalen solistischen Partien, auch mit freien improvisatorischen Teilen. Posaunensoli – so verrückt wie die von Jericho – lassen „Mauern aus Stein und Erde“ erzittern (Teil 2 und 3). Jede Gesangsstimme, vom Sopran bis zum Bass, darf, selten unbegleitet, die Espressiva ihrer Anmut, ihrer Traurigkeit, ihres Zorns widerspruchsvoll aussingen. In Teil 6 „les pieres“ (Steine) für Solosopran kehrt die Komposition sich der Kammermusik zu. Instrumente und Instrumentengruppen treten aus ihrer Begleitrolle heraus, kommentieren den Gesang lediglich in Punkten und winzigen Linien. Die Textstelle lautet: „Es ist nicht ohne Grund dass wir gezittert haben vor der geringsten Flamme, dass vor der Kerze, vor dem Feuer im Kamin sich unsere Hände suchten, ohne zu wissen ob zur Feier, zur Beschwörung.“

Hier herrscht maximale instrumentale Ökonomie. Holz, Harfe, Schlagzeug werfen der Stimme lediglich Splitter zu. Gänzlich unbegleitet bis auf den Schluss erscheint die folgende Sopran-Zeile: „Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit“ in repetitiver Form. Permanentes Knirschen wird vernehmlich in der Formierung der Textsegmente, die teils in Französisch und Deutsch zum Vortrag kommen. Die Sätze, Satzteile springen, verzerren, überlappen sich, kehren wieder, nehmen collagierte Gestalt an. All das kommt aus Voigtländers Kammermusik. MenschenZeit vertraut Guillevics humanen poetischen Spiegelungen, attackiert sie aber auch. Das heißt, die Musik löst sich vom Text und bringt vollkommen neue Gedanken. Auch das eine Erfahrung der Kammermusik. Sogleich redet wieder das Oratorium. Wie bei Bach fahren Chöre und Instrumente fff drein, sie fordern ihr Recht, sie wollen handeln, sie wollen schreien, sie wollen schlagen. „Steine und zuschlagen, zuschlagen, die Steine zur Hand“, ruft das Vokalensemble mit dem Sopran darin. Der Bogen spannt

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sich im Finale. Es lässt alle Schwellenängste hinter sich und begehrt auf wider diese Zeit: „LES HOMMES – PAS LES HOMMES!“ kommt scheinbar in einer Molltonart. Aber nichts ist mit Moll. Es genügt nicht, zu raunen, zu trauern, zu seufzen. Der Schrei muss raus aus den Mäulern wie die Kugel aus dem Gewehrlauf, denn die Verhältnisse sind schreiend. Ganz zuletzt brodelt es nur noch wie die glühende Lava. Ein einziger Tumult. Eine Klangmassierung, wie sie vielleicht nur Bernd Alois Zimmermann und Friedrich Schenker komponieren konnten. All dies steht nicht quer zur Kammermusik, sondern setzt die Erfahrung mit ihr voraus.

XI Resümee: Das Projekt Kammermusik ist selbstredend Teil des Gesamtwerks mit all den wechselseitigen Beeinflussungen darin. Aber Kammermusik insgesamt ist vielgestaltiger als das übrige Werk Voigtländers, allein, weil der Komponist auf diesem Gebiet ungleich mehr produziert hat. Erstaunlich ihr Facetten- und Farbenreichtum wie die Vielfalt der gewählten Formen und Besetzungen. Mit Solisten und Ensembles, Schauspielerinnen, Sängerinnen, Tänzerinnen, Regisseuren, Technikern, Studioleitern und Redakteuren auf Augenhöhe, schuf Voigtländer bisher an die hundert Stücke in diesem Bereich. Wobei die Grenzen der Gattung allgemein nicht klar abzustecken sind. Sie reichen von tradierten Besetzungen bis zu hunderterlei Arten von Performances, Installationen usv. Wichtig: Komponiert ist seine Kammermusik nicht um ihrer selbst willen. Was immer bei Voigtländer zu Buche steht, in und hinter seinen Werken steckt etwas, das die Hirne fordert. Gedanklichkeit, Klangsinnlichkeit sind präsent, was immer das Ohr wahrnimmt, was immer die Augen sehen, was immer die Sinne zu erfassen vermögen. Autonome Klangspiele, für ihn teils auch Gelenkigkeitsübungen, wirken nicht schlechthin autonom. Sie können Ausdruck und Schönheit genauso vermitteln wie Irrwitz, Komik, ja Apokalyptisches. Auch hier tummeln sich in Klang und Geräusch verwandelte Masken und Maskeraden. Lothar Voigtländers poetische, an Dichtung gebundene Werkkonzeptionen sind so trefflich, weil sie sein kritisches Verhältnis zu den Ungeheuerlichkeiten und existentiellen Nöten in dieser Welt nicht verheimlichen, sondern darlegen. Darum sind ihm Dichter wie Lorca, Guillevic, Cummings, Beckett und ihresgleichen so teuer. Nicht zu reden, mit welcher Souveränität der Komponist (namentlich in den letzten Perioden) die modernen Errungenschaften der ‚Gattung‘ handhabt und sich erkühnt, Elemente jener Künste, die neben der Musik siedeln, seinen Ideen dienstbar zu machen. Eine Tat, dass Kammermusik bei ihm die Schwester elektroakustischer Verfahren wird und umgekehrt, beide Seiten willentlich auch in Zwist geraten, und hierüber die Entwicklung der Raumkomposition in seiner Produktion neue Nahrung erhält. Töne sind, wie gesagt, für den Komponisten ab einem bestimmten Punkt nicht mehr an den Ort ihrer Entstehung gebunden. Töne gelten ihm vielmehr als frei verfügbare und frei fixierbare Quellen im Raum, mit denen sich in „einer Art Raum- und Tiefenstaffelung“ (Voigtländer) manövrieren lässt. Die Tore zu umfassenderen Räumen hat Lothar Voigtländer für sich nicht nur aufgeschlossen, sondern im Akt ihres Durchschreitens einen eigenen, unverwechselbaren Beitrag geliefert.

Frank Schneider

Zur Orchestermusik von Lothar Voigtländer

Wenn über neue Musik der letzten fünfzig Jahre gesprochen wird, dann fällt der Name des Komponisten vor allem im Zusammenhang mit der Entwicklung elektronischer Musik in der DDR seit Mitte der Siebzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Zu Recht werden seine Kompositionen gewürdigt, von denen manche rasch so etwas wie klassischen Rang erreichten. Aber sein Œuvre ist um vieles breiter und reicher und umfasst, neben Mischgattungen aus Verbindungen von elektronischem Klang und traditionellen Musizierformen, auch fast alle herkömmlichen Genres vom Lied bis zum Musiktheater, vom Orgelstück bis zum Oratorium. Hier findet man, an Zahl zwar relativ gering, aber dafür mit umso größerem kompositorischem Gewicht, eine Reihe von Werken für Orchester, darunter drei reguläre Sinfonien, drei sogenannte Orchestermusiken mit durchaus sinfonischen Zügen und zwei konzertante Werke. Mit ihnen und überhaupt mit seinem gesamten kompositorischen Impetus beteiligte sich Voigtländer in vorderster Linie an jenem Aufbruch in eine musikalische Avantgarde eigener Art, die die verordneten ästhetischen Schranken des ‚Sozialistischen Realismus‘ hinter sich ließ und in kühner, provokanter Klanggestik den Anschluss an internationale Entwicklungen fand – aber nach ‚innen‘, für das Publikum zu Hause, jenes ästhetische Kritik-Potenzial der Künste bereicherte, mit denen man die politischen Verhältnisse so subtil wie unzweideutig attackieren konnte. Eine Ouvertüre, eine erste Sinfonie (1971), Metamorphosen für Orchester (1971) und ein Kammerkonzert für Cembalo und 13 Soloinstrumente (1973) stammen aus der Zeit von Voigtländers Meisterschüler-Studium bei Günter Kochan an der Akademie der Künste. Sie und weitere Stücke schienen später seinem kritischen Blick nicht mehr zu genügen, sodass er von diesen frühen Arbeiten eigentlich nur die Erste Musik für Orchester von 1975 mit dem Titel Memento – Hommage à D. Schostakowitsch gelten lässt. Das Stück, vielleicht noch angeregt durch den Lehrer, der den großen Russen bewunderte (und ihm bisweilen stilistisch folgte), muss unmittelbar nach der Nachricht von dessen Tod entstanden sein. Aber das Verblüffende an ihm ist, dass keine Geste, kein Klang, kein Takt hörbar auf Schostakowitsch verweist, sondern die durchaus vorwaltende Gestik eines reflektierenden Ernstes, bohrender Klage und stoischer Trauer sich durch Gestaltungsmittel bildet, die aus dem Arsenal der westeuropäischen Moderne zwischen Alban Berg und Iannis Xenakis stammen. Dabei tritt herkömmlicher Thematismus hinter motivischer Variation zurück – dies verstanden als Entfaltung aus Intervallstrukturen (die natürlich aus Werken Schostakowitschs stammen könnten!?) in permanenter Verquickung mit liegenden oder rhythmisierten Klangballungen zwischen Einzelton und vollchromatischem Cluster. Diese Kombination aus individualisierter Kern-Motivik und rein sonoristischem (man könnte auch sagen: kollektivistischem) Tableau scheint überhaupt das innere Agens movendi dieser Musik zu sein: der Produktion eines sich mehrmals expressiv steigernden

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Frank Schneider

Klangdrucks in drei großen Abschnitten. Der erste Teil, ausgehend von ruhigen Umspielungen eines Tons, geht in einen von den Streichern getragenen, ruhigen Abschnitt über, der vom kantabel entfalteten Melos der Streicher getragen wird. Der dritte Teil ist durchaus heftig bewegt, steigert sich – unter Mithilfe gelenkter Aleatorik – zu turbulenter Heftigkeit und zu konfliktgeladenen Spannungen. Das Ende, wie der Anfang in schwebender Ruhe, bietet keine entlastende Lösung, sondern meditative Nachdenklichkeit – vor allem durch quasi rezitativische Verlautbarungen einer einsamen (oder vereinsamten) Violine. Nach einer Pause von 13 Jahren – sie war angefüllt mit vokaler und instrumentaler Kammermusik, vor allem aber mit den gleichsam heroischen Pfadfindungen im Bereich der Elektronik – entsteht 1986 eine weitere Orchestermusik, die aber erst nach einer Umarbeitung 1989 während der Musikbiennale in Berlin durch die Staatliche Philharmonie Poznan unter Woijtech Michniewski zur Uraufführung kam. Sie hat den Titel ‚…gleichermaßen betroffen…‘ und verweist damit auf einen subjektiven programmatischen Ansatz, den aufzulösen ganz dem Hörer überlassen bleibt – in einem weiten Spektrum zwischen privater und politischer Motivierung. Auch die weitere Hinzufügung eines Zitats von Erich Fried bietet keine Konkretisierung: „… aber nicht länger stumm bleiben, wenn es anfangen muss zu singen.“ Im Programmtext zur Uraufführung ist ebenfalls von Passagen „persönlicher Betroffenheit“ die Rede, die mit „Szenen lyrischer Zurücknahme“ wechseln und „Bedenklichkeiten“ signalisieren, „die in schrillen Ausbrüchen gipfeln können“. Die Vehemenz und Drastik der expressiven Musik erscheint gegenüber dem älteren Werk erheblich gesteigert und verdichtet – wenn man nur an die heftigen Klangeruptionen zu Beginn des Stücks, „martellato e energico“ denkt. Die Entwicklung des kompositionstechnischen Fundus reduziert weiter das motivisch-thematische Moment zugunsten einer fast enthemmten Fantasie des klanglichen Spiels, das auf Erfahrungen im elektronischen Metier deutlich gründet. Die von Erich Fried angesprochene Motivierung zum Singen könnte Vogtländer zu der subtilen Idee inspiriert haben, ein solistisches Streichquartett dem großen Orchester hinzuzufügen, denn ihm vor allem werden wichtige Aspekte instrumentaler Kantabilität anvertraut. Auch in diesem Stück bilden offenkundig Passion und Trauer grundlegende Affektfelder – verdeutlicht nicht zuletzt, aber ausnahmsweise bei Voigtländer in einem wirklichen Zitat aus dem ersten Satz des Deutschen Requiems von Johannes Brahms: „Sie gehen hin und weinen“ – dieses chorische Fugato intonieren die tiefen Streicher kurz vor dem schwebend sich auflösenden Ende des Werkes. Nicht lange nach Abschluss einer 2.  Sinfonie, der sogenannten Harfen-Sinfonie, im Sommer des Jahres 1989, begann Lothar Voigtländer an einem weiteren sinfonischen Werk mit konzertantem Soloinstrument zu arbeiten. Diese 3. Sinfonie mit Orgel, nach dem Ent­stehungsort als Die Salzauer bezeichnet, bildet nur im Hinblick auf stilistische Grundzüge eine Fortsetzung des früheren Werkes. Andere Merkmale hingegen weisen eher auf eine betont kontrastierende Beziehung zu ihm, was schon durch den extrem verschiedenen Charakter von Harfe und Orgel als den jeweiligen Soloinstrumenten vorgegeben ist. In der 3. Sinfonie wird eine sowohl spielerisch virtuose als auch dramatisch-dialogisierende Be­ziehung zwischen Solist und Orchester viel exzessiver ausgekostet; und was dem jüngeren Werk an stringenter Motivarbeit oder an subtilem Kolorit zu fehlen scheint, macht es durch sinfonischen Impetus, durch kompakte Gestik und eine bis an die

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Grenze zur romantisch-pathetischen Gefühlserregung rührende, lapidare Klang-Rhetorik wieder wett. Der stürmische Erfolg beim Bremer Publikum nach der Uraufführung war grosso modo kompositorisch programmiert, auch wenn sich der Komponist dessen nicht wirklich sicher gewesen sein sollte. Voigtländer bekannte in einem kurzen Einführungstext offen, dass er mit dieser Sinfonie auf die auch ihn unmittelbar betreffenden Zeitereignisse der politischen Wende in der DDR habe reagieren wollen: auf Ereignisse, von denen er sich täglich „überrannt“ fühlte; auf eine, wie er schrieb, „schwere und belastete Zeit“, in der ihm „das Komponieren auch schwer, wenn nicht unmöglich wurde“. In einem holsteinischen Refugium fand er dann doch Abstand, Ruhe, um seine widerspruchsvollen Gedanken auszuformen als gleichsam sinfonisch-konzertante Paraphrase über ein älteres, eigenes, sechsteiliges Orgelstück von 1983 mit dem Thema des berühmten Luther-Liedes nach dem 130. Bibel-Psalm „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen“. Der Choral dürfte ihn seit seiner Kindheit als Kruzianer begleitet haben und ihm namentlich durch Bachs Kantate Nr. 38 sowie durch dessen zweifache Orgelbearbeitung BWV 686 und 687 vertraut gewesen sein. Voigtländer gliedert das Orgelstück in variativ aufeinander bezogene ‚Verse‘ mit den Überschriften Choral I, Rondo, Tanz, Trauermarsch, Besinnung, Choral II. Vergleicht man sie mit den sechs Sätzen der Sinfonie, so wird die sinn- und gestaltgebende Bedeutung der Vorlage unmittelbar einsichtig. Allerdings erscheinen sie substantiell geweitet und instrumental vergrößert, in neuer Gewichtung und zu einer übergeordneten Dreiteiligkeit gruppiert: Während die Ecksätze dramatisch zugespitzt und konzertant aufgebrochen werden, bilden drei kurze, genrehafte Mittelsätze ein Triptychon, in dem das Modell des klassischen Tanzsatzes mit einem ‚Trauermarsch‘ als Trio bewahrt ist. Der Satz Besinnung dient als kontemplative Einleitung zum groß angelegten Finale. Das Orgelstück bereitet auch die Art und Weise vor, wie der Komponist für die Sinfonie sein motivisches und harmonisches Grundmaterial gewinnt. Es ist in mehrschichtigen Verfahren der intervallischen Analyse direkt aus der Choralweise abgeleitet und lässt sie immer auch dort unterschwellig präsent sein, wo sie – bis auf die wenigen exklusiven Stellen in ihrer hörbaren Zitat-Gestalt, vor allem dann im Finalsatz – abwesend zu sein scheint. In der Tat bildet die markante Melodie im klanglichen Gesamtprozess nur Kristallisationspunkte eines vielgestaltigen Geschehens, das wie ein widerspruchsvoller Kommentar aus wortlosen Gedanken den semantischen Kern des berühmten Bittgebets in engeren und weiteren Bahnen, sich ihm entwindend und nähernd, umkreist. In der Musik der Sinfonie wechseln und durchdringen sich Gesten des emphatischen Aufbruchs und der schwermütigen Besinnung, der tänzerischen Freude und stockenden Trauer, bis der aufgewühlt und verunsichert prüfende Geist des Werks zum Frieden mit sich selbst und der Welt ‚im Lichte‘ der alten Choralweise findet. Am Ende des Werkes, man möchte auch sagen, am Ende einer Epoche – inmitten gärender Umwälzungen und Ungewissheiten –, fehlt es in Voigtländers Sinfonie keineswegs an Zeichen der Hoffnung, die auf eine kommende, auch den Künsten hoffentlich günstige Zeit verweisen. Nach weiteren 15 Jahren komponierte Voigtländer 2005 seine Dritte Orchestermusik, die in Weimar durch die Dresdner Sinfonietta unter Ekkehard Klemm uraufgeführt wurde. Offenbar im Hinblick auf dieses Ensemble besteht der Klangcorpus hier nur aus zwölf

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Frank Schneider

Streichern, einfach besetztem Holz und Blech, zwei Schlagzeugern sowie Harfe und Klavier. Auch dieses Stück verleugnet einen persönlichen programmatischen Ansatz nicht, denn es bringt als Untertitel wieder ein literarisches Zitat: „was immer ein wenig zittert, also – das ist dann in uns.“ Es stammt von dem französischen Dichter Eugène Guillevic, von dem sich Voigtländer zu mehreren Werken, unter anderem zu einem Kammeroratorium und einer Kammeroper, inspirieren ließ. Auch dieses relativ gedrängte Stück lebt vom sich entwickelnden Gegensatz von impulsiven und meditativen Momenten, von Tutti-Akkord und expressiver Geste, von subtilen Linien-Geflechten und diffuser ‚Klangwolke‘. Die Klangvaleurs sind überaus feinsinnig ausgehört und finden zu kostbaren Mischungen innerhalb des reduzierten Klangs – dem manche ‚Überladungen‘ in den früheren Partituren völlig fehlen – zugunsten einer wohltuenden Transparenz des Stimmengefüges und einer Stimmungs-Dramaturgie, die in der Haltung eines Binnenabschnitts mit der außergewöhnlichen Charakterisierung „con pietà“ gründet. Man kann diesen knappen Überblick über das Orchesterschaffen Voigtländers nicht schließen, ohne auf den Kopfsatz eines groß dimensionierten symphonisch angelegten Violinkonzerts zu verweisen. Der Satz mit der Bezeichnung Emphasis wurde 2010 komponiert und einzeln im Jahr 2011 in Dresden uraufgeführt. Der Vorgang zeigt an, dass der Komponist unterwegs bleibt und auch im Bereich orchestraler Musik noch längst nicht zu schweigen gedenkt. Das Bisherige aber, das sich überschauen lässt, war nicht nur bedeutsam für den persönlichen Prozess des Reifens, sondern ist und bleibt auch ein gewichtiger individueller Beitrag zur Erneuerung des sinfonischen Denkens unserer Zeit und nicht zuletzt auch zum Erhalt und zur Entwicklung einer großen Orchesterkultur, die immer auch neue Werke braucht, um lebendig zu bleiben.

Georg Katzer

Es war 1975

... und es war kaum zu glauben: Wir, Lothar Voigtländer und ich, bekamen ein Stipendium vom Kulturministerium der DDR, um nach Bratislava fahren zu können zu einem Studienaufenthalt im dortigen elektronischen Studio des Slowakischen Rundfunks. Noch erstaunlicher, dass das Ministerium bereit war, auch einen längeren Produktionszeitraum zu finanzieren. Das war also 1975, und die höchst amtliche Einschätzung der elektroakustischen Musik war negativ, nichts für die Massen, also eigentlich unerwünscht. Dem Stipendium war eine längere ergebnislose Überzeugungsarbeit für eine Studiogründung in der DDR vorausgegangen. Ergebnislos, weil eben nichts für die Massen, und: Wenn Köln ‚so was‘ macht, dann machen wir es gerade nicht. Nun Bratislava: Vielleicht gab es im Ministerium die Überlegung, auf diese Weise die Räsonierer ruhigzustellen und so um die Einrichtung eines Studios herumzukommen. Für uns beide nahm hingegen damit eine so nicht vorhersehbare Entwicklung ihren Lauf, denn überraschenderweise waren wir beide beim renommierten Festival in Bourges (Frankreich) in der Folge mit Preisen erfolgreich, was bedeutete, dass wir zu Produktionen nach Frankreich eingeladen wurden und mit Visa des Komponistenverbandes – ohne Devisen zwar, aber üppig ausgestattet mit Ermahnungen, die DDR überall würdig zu vertreten – mehrfach nach Frankreich ausreisen durften. Derartig für unsere Sache ermutigt, fassten wir 1984 einen kühnen Plan: die Gründung einer Gesellschaft für Elektroakustische Musik innerhalb des Weltverbandes CIME unter dem Dach der UNESCO. Lothar und ich machten Eingaben, hatten Gespräche, in denen wir klarstellten, dass der DDR genau dies fehle, um zur viel beschworenen Weltspitze vorzustoßen. Uns spielte in die Hände, dass die DDR-Spitze ständig um Anerkennung buhlte und jede Möglichkeit der internationalen Repräsentanz wahrnahm, war diese auch noch so gering, sodass das Vorhaben glückte und wir (ein kleines Häuflein von ca. 20  Mitgliedern) den Verband als Sektion der Confédération International de la Musique Électroacoustique (CIME) gründeten. Wir durften uns dann stolz ‚Président et Viceprésident‘ nennen! Dass die Elektroakustische Musik sich letztendlich einen Platz im Musikleben der DDR erobern konnte, sogar in deren Weihetempel, dem Palast der Republik, ist nicht zuletzt dem Wirken und Wirbeln von Lothar zu verdanken. Nach 1989 ist die DECIME zur DEGEM (Deutsche Gesellschaft für Elektroakustische Musik) mutiert. Interessanterweise ist uns 1984 das ‚DE‘ im Titel DECIME nicht verwehrt worden, stand es doch für ‚deutsch‘ und nicht für DDR, aber da hatte wohl mal keiner aufgepasst!

Tatjana Böhme-Mehner

Paris sehen, ... – Die merkwürdige und abenteuerliche ‚Westreise‘ zweier Einzelgänger in die Sphären der Elektroakustik Deutschland und Frankreich – über viele Jahre und Jahrzehnte war es das Bild dieser beiden scheinbaren Gegenpole, das die Welt und Geschichtsschreibung elektroakustischer Musik über weite Strecken prägte, in gewisser Weise für Orientierung im komplexen und schwierigen ästhetischen Gefüge sorgte. Es mag sein, dass ästhetische Fronten – in Abhängigkeit von einer gewissen Unsicherheit auf dem Markt – so verhärtet sind, dass sie auf der anderen Seite politische Fronten zu relativieren vermögen, indem sie im Sinne der Abgrenzung zum jeweils anderen zu weiten Teilen der ästhetischen Selbstbegründung bzw. -rechtfertigung des sozial noch nicht ganz Anerkannten dienen. Zumindest kann dieses Extrem so weit führen, dass es in einem politisch-ästhetischen Kontext nutzbar gemacht werden kann. Was es dazu braucht? Einfallsreichtum, Ausdruckswillen, Erfindergeist und eine gesunde Portion Frechheit: All das war typisch für einen bestimmten Vertreter der Avantgardemusik in der DDR. Und manchmal waren es absolute Merkwürdigkeiten im Wettbewerb des eigentlichen politischen Kalten Krieges zwischen Ost- und West-Europa, die einen ganz eigenartigen ästhetischen Fortschritt hervorzubringen wussten. Ein ebenso prototypischer wie paradoxer Fall solcher Wechselspiele zwischen ästhetischer, politischer und allgemein sozialer Sphäre ist die Gründung einer Ländervertretung der DDR in der CIME. Diese war ein geschickter Schachzug, mit dem Lothar Voigtländer gemeinsam mit Georg Katzer die Sonderbarkeiten des Kalten Krieges im Sinne ästhetischen Fortschritts auszunutzen wusste. Die Geschichte dieser Gründung soll im Folgenden nicht nur im Sinne eines überaus interessanten Spezialfalls, sondern besonders auch in jenen Punkten interessieren, in denen sie Mechanismen zutage fördert, die bezeichnend sind, sowohl für das ästhetische Wechselverhältnis Deutschland-Frankreich im Allgemeinen als auch für die Sonderbarkeiten innerhalb des DDR-Kulturbetriebs. Dass darüber hinaus besonderes Augenmerk auf die elektroakustischen Arbeiten Lothar Voigtländers im Allgemeinen gelegt werden soll, ist nicht allein dem Charakter der vorliegenden Publikation geschuldet, vielmehr auch der maßgeblichen Rolle, die der Komponist in diesem Prozess spielte, der sich dennoch als solcher auch mit Vehemenz in seinem kompositorischen Œuvre niederschlägt. Dennoch ist es vor allem die für die Musikforschung bemerkenswerte Rolle Voigtländers an einer Schnittstelle zwischen ästhetischem und sozialhistorischem Erkenntnisinteresse, die die Dramaturgie des vorliegenden Beitrages trägt. Insofern geht es im Folgenden eher kaum um analytische Details.

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Tatjana Böhme-Mehner

Lothar Voigtländer, der Elektroakustiker? Ein Elektroakustiker, ein Komponist elektronischer Musik, wie sie sich im Westen Europas in seiner Generation entwickeln, ist Lothar Voigtländer nicht. Kein technik- oder technikenversessener Forscher, der um des Experimentes willen experimentiert, die Technik um der Technik willen einsetzt. Kein klangverliebter Einzelkämpfer, der mit dem Tonband seine Menschenscheu kompensiert. Aber was Lothar Voigtländers elektroakustische Arbeiten erst recht nicht sind, das sind die pflichtschuldigen Exerzitien etablierter Instrumentalkomponisten, die eben auch einmal ‚in Strom‘ arbeiten wollen oder gar sollen. Nein, selbst wenn man das wollte, es wäre schlicht unmöglich, Lothar Voigtländer mit einem der gängigen Klischees des Komponisten elektroakustischer Musik sinnvoll zu beschreiben. Zu vielfältig, zu vielseitig sind die ästhetischen Ansätze; zu ungewöhnlich – und das in vielerlei Hinsicht – sind die Wege, die der Komponist wählt, um seine künstlerischen Ziele zu erreichen. Und dennoch erscheinen die Ergebnisse geprägt von einem unverwechselbaren Personalstil. Sich mit diesem auseinanderzusetzen, zu dessen Kern vorzudringen, verlangt sowohl eine sozialhistorische Diskussion von Voigtländers Weg zur elektroakustischen Musik als auch eine ebenso zutiefst philosophische wie technische Durchdringung von Idee und Struktur. Es ist die Entschiedenheit, mit der Voigtländer immer wieder Genre und Material wählt, die Konsequenz, mit der die Umsetzung im jeweiligen Medium vollzogen wird, die die Unterschiede zwischen elektroakustischen und instrumentalen Kompositionen besonders deutlich zutage treten lässt. Will man dem Komponisten Lothar Voigtländer in seinen elektroakustischen Arbeiten gerecht werden, so gilt es, diese in ihrer Ambivalenz abhängig und unabhängig von der jeweiligen Entstehungszeit wahrzunehmen – wie es hier bezogen insbesondere auf seine frühen Arbeiten geschieht. Es ist in gewisser Weise ein gewaltiges Paradoxon, das die Rolle der elektroakustischen Arbeiten innerhalb des Schaffens von Lothar Voigtländer am besten beschreibt. Geht der Komponist selbst im Gespräch auf die offensichtliche Ungleichzeitigkeit der handwerklich-ästhetischen Entwicklung innerhalb seines elektroakustischen und seines instrumentalen Schaffens ein, so kann in der Tat beobachtet werden, dass Tendenzen und Ansätze zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten in elektroakustischer und Instrumentalmusik auftauchen. Hier liegt es vielfach nahe, der Elektroakustik Kanalisierungs- oder gar Erprobungsfunktion zuzuschreiben. Voigtländer selbst äußert im Interview: „Die elektroakustische Musik war für mich ein solch grundsätzlich veränderndes, strukturveränderndes Ereignis. In den Jahren bis 1978 gibt es bei mir noch relativ traditionelle Kammermusiken und Ähnliches, während ich mit Hilfe der Elektronik schon längst kompositorisch ‚fliegen‘ gelernt hatte. Meine kompositorischen Intentionen im elektroakustischen Bereich folgten fortan einem völlig veränderten Denkansatz zu dem, was denn ‚zeitgenössische Musik‘ sei. Das Arbeiten im Inneren eines Klanges faszinierte mich – und das spiegelt sich dann später, ab Ende der 70er Jahre, auch in meinen übrigen Werken. Ich war auf dem Gebiet der elektroakustischen Musik sowohl theoretisch als auch klanglich dadurch handwerklich avancierter, weil ich mich international reflektieren konnte, weil ich mich mobilisiert habe, mit Katzer in Bratislava, in Budapest, Warschau, mich auch in Moskau um-

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geschaut habe, dann zu Haller ins Studio vom Südwestfunk gegangen bin, nach den Niederlanden gefahren bin, in die Studios dieser Welt. Ich konnte z.B. Nono beobachten, wie er komponiert, wie er selektiv umgeht mit den Möglichkeiten des Materials. Das also war für mich die große Entdeckung, wie sich Struktur in Klang und Klang in Struktur wandeln kann.“1

Grundsätzlich liegt es insofern nahe, Lothar Voigtländers Ansatz zum elektroakustischen Komponieren in seiner weiterreichenden Bedeutung genau unter die Lupe zu nehmen. Letztlich ist das offenkundige Paradoxon, dass der Musiker notwendige und ersehnte Freiheit oder zumindest Freiräume auf einem Gebiet sucht und findet, das auf den ersten Blick überhaupt nicht ins Raster des sozialistischen Realismus und der offiziellen Vorgaben des Systems passte, das hier interessiert. Nach wie vor grassiert vielerorts die Idee, dass elektroakustische Musik in der DDR ja verboten gewesen sei. Das wäre zu einfach – zumal es das System mit offenen Verboten eher weniger hatte, hätten diese doch eine weit größere Öffentlichkeit auf den Plan gerufen, als es die meisten gerade künstlerisch-avantgardistischen Bestrebungen jemals gekonnt hätten, die im Vergleich mit anderen Bedürfnissen – von Reisen über Delikatessen bis hin zu Live-Style-Produkten – eher Minderheiten aufzuscheuchen vermochten. Was weniger bekannt ist, ist die Tatsache, dass sich die Geschichte elektroakustischer Musik in der DDR nicht auf diese wenigen wunderbaren Jahre fast schon absurder Freiheit beschränkt, sondern sich auf eine wechselvolle, bei Weitem nicht kontinuierliche Vorgeschichte stützen kann. Dass die DDR eigentlich das erste elektronische Studio des Ostblocks besaß, ist ebenso wenig bekannt, wie es bezeichnend ist. Dass dieses Studio auf fast schon absurde Weise verschwand, ebenfalls. Umso mehr verrät die Geschichte des ‚Labors für akustisch-musikalische Grenzprobleme‘ sowohl über das DDR-System und sein Avantgarde- bzw. Kunstverständnis als auch über Grundmechanismen der Entwicklung elektroakustischer Musik in deren Anfangsjahren. Und natürlich erklärt sie auch, warum die Elektroakustik-Szene des Landes sich dann so entwickelt, wie sie sich entwickelte. Bei genauer Betrachtung und Analyse der Entwicklung lässt sich die Geschichte elektroakustischer Musik im ostdeutschen Staat nämlich gewinnbringend quasi in einem Drei-Phasen-Modell beschreiben. Dies beinhaltet in einem ersten großen Schritt die Arbeiten am besagten ‚Labor für akustisch-musikalische Grenzgebiete‘ beim DDR-Rundfunk in Berlin-Adlershof mit einem Schwerpunkt in den 60er-Jahren und der vorsichtigen Entwicklung eines forschungsbezogenen musikalischen Produktionsbetriebes, mit dessen Förderung die politische Seite deutlich wirtschaftliche Interessen verfolgte. In dieser Zeit wurde in dem Labor u. a. das Subharchord, ein außergewöhnliches elektronisches Musikinstrument, das heute wieder die Neugier von Forschern und Künstlern anzieht, bis zur Fertigungsreife entwickelt. Komponisten wie Siegfried Matthus und Addy Kurth produzierten im Studio.2 1 Interview mit Lothar Voigtländer, 5.12.2009; veröffentlicht in englischer Sprache von Tatjana BöhmeMehner, Interview with Lothar Voigtländer, in: Contemporary Music Review (CMR), Vol. 30/Part 1, 2011, S. 111–117. 2 Vgl. dies., Berlin was Home to the First Electronic Studio in the Eastern Bloc. The Forgotten Years of the Research Lab for Interdisciplinary Problems in Musical Acoustics, ebd., S. 33–47, sowie: L’Avantgar-

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In einer zweiten Phase – das Labor war in erster Linie wegen zweifelhafter Wirtschaftlichkeit längst in seiner Funktion geschlossen worden – bewegten sich jene, die dennoch auf elektroakustischem Gebiet arbeiten wollten, tatsächlich am Rande der Legalität. Mit der Möglichkeit, auch jenseits großer Studios annehmbare Qualität produzieren zu können, ließen sich die entsprechenden Aktivitäten ohnehin kaum noch vollständig kontrollieren. Im Übergang zu einer dritten – der oben erwähnten – Phase bildet sich eine ernst zu nehmende Generation von Komponisten elektroakustischer Musik heraus, zu denen dann eben insbesondere Georg Katzer, Lothar Voigtländer, aber auf ganz andere Weise auch Paul-Heinz Dittrich – und zahlreiche jüngere Musiker – zu zählen sind. Sie nutzen Lücken und Widersprüche im System ebenso wie eine beginnende Liberalisierung, um zumindest in kleinerem Maße die speziellen Produktions- und Rezeptionsformen elektroakustischer Musik relativ offiziell zu etablieren. Dies gipfelt eben in den letzten DDR-Jahren in der Gründung des elektronischen Studios an der Akademie der Künste in Berlin. Die letzten beiden Phasen sind von besonderem Interesse, denn nun geht es um die musikalische Sozialisation von Lothar Voigtländers elektroakustischen Arbeiten; sie sind deshalb im Wesentlichen unser Gegenstand.

Die Zeit nach Schließung des Rundfunkstudios Wenn etwas die Alltagskultur der DDR generell auszeichnete, so war es ein ganz bestimmter Einfallsreichtum, der aus der Mischung einer sozialen Notwendigkeit zu improvisieren und einem natürlichen, dem Bedürfnis nach sozialem Überleben geschuldeten Gespür für kommunikative Feinheiten resultierte, für ein gewisses Lavieren in den Grenzen des Legalen. Das beliebte deutsche Sprichwort ‚Not macht erfinderisch‘ gilt in vielerlei Hinsicht für die Mentalität der DDR-Bürger in besonderem Maße und prägte eine absolut spezifische Kreativität im Alltäglichen. Und zwangsläufig lässt sich, was für Autoersatzteile ebenso gilt wie für Eierlikör, für Auslegware ebenso wie für Kaffeemaschinen, auch in der Kunstszene beobachten. Der DDR-Bürger wusste sich gemeinhin zu helfen, wenn es um die Befriedigung allenfalls halblegaler Bedürfnisse ging. Egal, ob Schnittmuster für Kleider oder Gitarrengriffe für unliebsame Rockmusiktitel – eine interessante Kultur des Imitatorischen entwickelte sich. Doch sind die Ergebnisse keinesfalls dem vergleichbar, was man in der Gegenwart als Markenpiraterie bezeichnet. Vielmehr besitzt dieses Imitatorische in der DDR – insbesondere der 70er-Jahre – eine spezifische Eigendynamik, es entwickelt eine typische Kreativität und Originalität, somit schlicht unverwechselbare Stile und Lebensstile. Und auch die Szene der sogenannten Hochkultur war davon nicht frei und entwickelte ihre eigene Spezifik, einen charakteristischen Charme aus einer auf dieser Ebene prägenden disme-Paradox. La musique électroacoustique sous le régime de la République Démocratique Allemande (RDA). La culture progressiste pendant la guerre froide, Grenoble 2011, ILCEA 16/2012, http://ilcea. revues.org/index1247.htm, 2011, abgerufen am 15.12.2013.

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Überorganisation, die Hand in Hand ging mit besagter improvisatorischer Grundmentalität. Im Bereich des elektroakustischen Komponierens, das zwangsläufig anders als vieles andere an materielle und technische Voraussetzungen gebunden ist, muss eine solche Grundhaltung natürlich in ganz besonderem Maße prägend sein. Insofern ist ein Charakteristikum der in der DDR entstandenen elektroakustischen Musik und namentlich jener der prägenden Epoche zwischen der Existenz der beiden zentralen Studios – jenes, das bis Anfang der 70er-Jahre im ,Labor für akustisch-musikalische Grenzprobleme‘ existierte, und jenes anderen, das schließlich 1986 an der Akademie der Künste der DDR gegründet wurde –, dass ein gewisser Pioniergeist, den Musikhistoriographen normalerweise mit der Frühphase der elektroakustischen Musik (insbesondere der Vorkriegszeit in Deutschland) verbinden, erhalten bleibt und sich in faszinierender Weise fortsetzt und eine absolut eigene Weiterentwicklung durchläuft. Die Situation nach der Einstellung der elektroakustischen Forschungsarbeit in Adlershof stellt sich in dieser Hinsicht im Groben folgendermaßen dar: Die Komponisten aus dem sogenannten E-Musik-Bereich, die im Studio experimentieren durften,3 waren sich durchaus der Begrenztheit der Möglichkeiten des dort entwickelten und eingesetzten Subharchords und damit einer technischen Entwicklung, die in großem Maße auf diesem Apparat aufbaute, bewusst geworden. Die Orientierung an den Strukturen eines Spielinstrumentes, die weitestgehende Beschränkung auf die temperierte Tonskala etc. blieben ein Problem. Wer – und dies war gewiss die Mehrheit der im eigentlichen Sinne Avantgardekomponisten – mit den im Westen existierenden Tendenzen vertraut war, konnte durchaus sehr deutlich erkennen, dass dies nur bedingt mit dem zu tun hatte, was man anderswo unter elektroakustischer Musik verstand. Jenen Komponisten, die das Instrument zur Rationalisierung der Herstellung von Film- und insbesondere Trickfilmmusiken etc. verwendeten, stand es innerhalb ihrer eigenen Studios weiterhin zur Verfügung. Und die Mehrheit sowohl der Musiker als auch der Musikinteressierten in der DDR hatte ja von der Existenz des Labors ohnehin wenig erfahren, sodass im öffentlichen Bewusstsein auch nichts fehlte. Darüber hinaus muss man – unter nüchtern analytischen Prämissen – auch sagen, dass zum Zeitpunkt der Einstellung des Studiobetriebes kein Werk vorgelegen hätte, das im allgemeinen ästhetischen Bewusstsein irgendeine Form des Protestes gerechtfertigt hätte. Insofern öffnet jenes Fehlen des offiziellen Produktionszentrums einer neuen Kreativität Tür und Tor. Die Notwendigkeit zu improvisieren machte letztlich auch einen besonderen Reiz aus. Über eine Produktion jenseits staatlicher Studiokonvention nachzudenken, eröffnete so auch die Möglichkeit, dieses Denken zunächst freiheitlicher oder zumindest nicht unter Fokussierung auf die entsprechenden Rechtfertigungsstrategien ablaufen zu lassen. Die Wahl eines Textes von Beckett wie etwa im Falle Paul-Heinz Dittrich4 wäre vermutlich im ,Labor für akustisch-musikalische Grenzprobleme‘ ebenso wenig umsetz3 Vgl. hierzu insbesondere Böhme-Mehner, Interview with Bernd Wefelmeyer, in: CMR 30/1, 2011, S. 49–52, und Interview with Siegfried Matthus, ebd., S. 53–60. 4 Vgl. dies., Interview with Paul-Heinz Dittrich, ebd., S. 65–70.

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bar gewesen wie die Produktion eines Stückes wie das preisgekrönte Maikäfer flieg von Lothar Voigtländer. Zumindest ist davon auszugehen, dass sowohl die Assoziationen, die der Name Beckett auf den Plan gerufen hätte, als auch jene des Kinderliedes, das ja latent von der Problematik der sogenannten ‚deutschen Ostgebiete‘ spricht, bei einer offiziellen Vorabprüfung (beispielsweise durch einen Studioleiter) möglicherweise zur sofortigen Verhinderung der Produktion geführt hätten. Im Falle Voigtländers trat diese Irritation ja später auch tatsächlich noch ein, nämlich bei der DDR-Rundfunkübertragung von der Preisverleihung in Bourges. Der Komponist erinnert sich: „Ich habe in Frankreich den Preis für das Stück bekommen, war dort zur Aufführung. Im Radio der DDR aber sind die Regler heruntergezogen worden an der Stelle, an der es heißt: ‚Vater ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt.‘ Das Thema Ostgebiete war ja tabuisiert. Und man kann auch nicht sagen, dass das von mir nicht bewusst eingesetzt war. Später ist das Stück dann ja noch oft genug gesendet worden…“5

So sind generell gravierende Unterschiede zu beobachten im offiziellen Umgang mit textbasierter und absoluter Musik. Der sehr viel höheren Konkretheit von Sprache begegnete man von offizieller Seite grundsätzlich mit sehr viel härteren Bandagen, wie auch Georg Katzer in diesem Zusammenhang feststellt: „Also, das setzt in den 70er Jahren ein: Da kam es zu einer Liberalisierung in der Musikpolitik, aber nicht in der Literatur und nicht im Film. Diese massenwirksamen Künste – gerade der Film – standen weiterhin unter strikter Beobachtung. In der Musik hat man gesagt: ‚Lasst die mal machen. Die haben nur eine geringe Ausstrahlung in die Breite. Das löst keine Revolutionen aus.‘ Also hat man uns seit den 70er Jahren mehr oder weniger in Ruhe gelassen, so lange es sich nicht um Vokalkompositionen handelte. Das habe ich am eigenen Leib erfahren: Ich hatte ein Oratorium geplant. Das war ein Auftrag vom Rundfunk. Und ich hatte Texte herausgesucht von einem Lyriker, den ich sehr schätze: Johannes Bobrowski. Aber da gab es so bestimmte Textpassagen, die waren nicht genehm; also hat man gesagt: ‚Wir ziehen den Auftrag zurück.‘ Aber: reine Musik, autonome Musik – kein Problem. Und zu elektroakustischer Musik vielleicht noch eine Randbemerkung: Es gab da im Palast der Republik im Zentrum von Ostberlin, wo auch die Volkskammer tagte, ein kleines Theater. Und in diesem Theaterbereich gab es ein Ministudio. Und der Techniker, Eckard Rödger, hat immer wieder Komponisten betreut in Produktionen. Er war außerordentlich geschickt und man konnte dort eine ganze Menge machen, weil er technisch so einfallsreich war. Und sozusagen direkt unter dem Dach dieses Parteigebäudes wurde da eine Musik gemacht, die im Prinzip nicht genehm war. Aber man hat uns machen lassen. Also das war so ein ‚Laisser-faire‘.“6

Auch wenn es im Zusammenhang mit Aufführungen umso mehr zu Reglementierung und Einschränkungen kam, so ist die Folge dieser neuen Kreativität eben eine deutliche Liberalisierung aufseiten der Produktion. Paradoxerweise entsteht eine wirklich im ästhetischen Empfinden den westlichen Entwicklungen vergleichbare Elektroakustikszene mit 5 dies., Interview with Voigtländer, ebd. 6 dies., Interview with Georg Katzer, ebd., S. 101–109.

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DDR-spezifischen Strukturen erst in dem Moment, als der Versuch des ersten Studios im europäischen Ostblock gescheitert ist. Natürlich müssen hier einige wenige Werke, die im Adlershofer Studio entstanden waren, ausgenommen werden. Dennoch wurden diese ja in der DDR-Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass erst das Fehlen eines Studios zur öffentlicheren Wahrnehmung der Notwendigkeit eines solchen führt, dass die gefühlte Leerstelle ein Bedürfnis und somit die Mentalität, diese auszufüllen, auf den Plan ruft. Letztlich zeigt sich hierin auch ein großer Vorzug jeglicher Dezentralisierung in totalitären Systemen. In ihrer Verstreutheit breitet sich diese Musik in den verschiedensten Nischen aus und entzieht sich mehr und mehr der Kontrollierbarkeit. Schließlich ist festzuhalten, dass ja niemand auf die Idee kam, etwa die Geräte des einstigen ,Labors für akustisch-musikalische Grenzprobleme‘ zu vernichten oder unter Verschluss zu halten. Es wurde lediglich die Entwicklungsarbeit in Richtung musikalischer Akustik eingestellt und existierende Geräte wurden auf andere Studios und Abteilungen verteilt. Dies mag zwar einerseits die Arbeit erschwert haben. Aber die Möglichkeit, die Apparate und Instrumente wieder zusammenzuführen oder mehrschichtig an unterschiedlichen Stellen zu produzieren, bestand durchaus.7 Und paradoxerweise entzog dies jene Musiker, die es taten, in gewissem Maße der Kontrollierbarkeit bzw. erschwerte diese zumindest. Insofern ergaben sich hieraus in ästhetischer Hinsicht in gewisser Weise größere Freiheiten. Interessanterweise führt aber all das dazu, dass sich für das kulturelle Gefüge des Landes in dieser Zeit viele der gängigen kulturwissenschaftlichen Kategorien nicht oder nur sehr bedingt anwenden lassen. Eine Verschmelzung einer im eigentlichen Sinne intellektuellen Hochkultur mit einer an den Grenzen der Legalität operierenden Off-Szene sowie die Gleichzeitigkeit einer fast bürgerlichen Selbstrechtfertigung über Tradition und einer über die Herrschaft des Proletariats definierten politischen Grundordnung zählen zu den offensichtlichsten Widersprüchen. Dies zwingt den zum Gegenstand arbeitenden Forscher grundsätzlich zu einer sehr speziellen Reflexion seiner Methoden und Ansätze und wird auch Forschern, die sich mit der Analyse einzelner Werke beschäftigen wollen, gewiss noch als ein spezielles Problem aufstoßen. Bemerkenswerterweise ist es ausgerechnet diese Epoche, die das allgemeine Bild des elektroakustischen Komponierens in der DDR prägt – die Vorstellung von erfinderischen Rebellen, die immer irgendwo an der Grenze der Legalität in oft abenteuerlichen Aktionen ihre ästhetischen Vorstellungen umsetzten. Sicher ist dieses Image nicht von Grund auf falsch. Dennoch muss es als in gefährlicher Weise simplifizierend angesehen werden, zumal – im Vergleich mit der zeitgleichen Entwicklung in hoch technisierten offiziellen Studios – dem hier implizierten Gestus des Bricoleurs auch ein wenig das soziale Image von ‚Entwicklungsland‘ anhaftet. Problematisch ist dies namentlich, da im entsprechenden Zeitraum auch in Westeuropa (in den USA sowieso) die technische wie ästhetische Dominanz der großen Studios entscheidend relativiert wurde. Die wachsenden Möglichkeiten von Home- oder Low-Budget-Studios verändern in dieser Zeit das gesamte Er7 Ebd.

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scheinungsbild der Elektroakustik-Szene. Und letztlich sind es auch die hier auftretenden technischen Möglichkeiten, die maßgeblich dazu beitragen, dass man dem, was in dieser Situation in kleinen Studios oder bei kleineren Festivals entsteht, von offizieller Seite mit Nachsicht begegnet, ja sogar begegnen muss. Dennoch ist ein entscheidender Moment in diesem Zusammenhang, dass für diese Zwischenphase keinesfalls von einer grundsätzlichen Offizialisierung elektroakustischer Musik die Rede sein kann; eine solche setzt erst Mitte der 80er-Jahre wirklich ein. Vielmehr ist eine interessante Konsequenz dieser Semioffizialität, die natürlich staatlicherseits argwöhnisch beäugt wurde, dass sich absolut dezentralisiert eine lebendige Szene herausbildet. Natürlich hatte das Ministerium für Staatssicherheit die unterschiedlichen Schauplätze fest im Blick und platzierte inoffizielle Mitarbeiter in der Szene. Deren Kompetenz und jene ihrer ‚Führungsoffiziere‘ waren entscheidend dafür, wie stark das Geschehen tatsächlich kontrolliert und reglementiert werden konnte. Da die Stasi-Archive vielfach in den Tagen der Wende ‚gesäubert‘ wurden und so gerade in den Bezirken, in denen die Kontrolle besonders effizient war, schwer oder gar nicht nachzuweisen ist, wie diese ablief, erscheint eine systematische Auswertung dieser Archive für uns wenig sinnvoll. Allerdings muss angemerkt werden, dass die meisten Begegnungen mit den Akten einen eher ernüchternden Eindruck hinterlassen, insbesondere ob der vielfach hohen Inkompetenz der eingeschleusten Mitarbeiter und noch mehr der hauptamtlichen Funktionäre. Überraschend viele und vielfältige kleine Festivals entstehen, Konzerte in Galerien präsentieren Ergebnisse, Vorträge und Gesprächskonzerte im Rahmen der Kirche popularisieren auch elektroakustische Musik in unvergleichbarer Weise. Die Gründung des Ensembles für Intuitive Musik Weimar (EFIM)8 fällt ebenso in diese Zeit wie jene der Geraer Ferienkurse für zeitgenössische Musik,9 bei denen ja auch die Elektroakustik-Workshops Lothar Voigtländers eine feste Größe waren. Es ließen sich viele weitere Beispiele benennen, von einzelnen Konzertereignissen bis hin zu festen institutionalisierten Serien. Auf jeden Fall wird aber deutlich, dass auch hier die besagte Mentalität der DDR-Künstler eine ganz eigenartige Vielfalt und Individualität provoziert, im Wechselspiel mit der – regional bedingt – sehr unterschiedlich ausgeprägten Kontrolle und Reglementierung. Da mehr und mehr in Homestudios oder aber im Ausland10 produziert wurde, ist es absolut ausgeschlossen, einen einigermaßen repräsentativen Überblick zu den in diesem Zeitraum von DDR-Komponisten geschaffenen Werken mit Elektronik zu präsentieren.

Liberalisierung und Entdeckertum So, wie die Entwicklung der Möglichkeiten von Musik in allen Systemen nicht unabhängig von der allgemeinen politischen Situation zu denken ist, gilt dies ganz besonders für 8 Vgl. dies., Interview with Michael von Hintzenstern, ebd., S. 81–89. 9 Vgl. dies., Interview with Eberhard Kneipel, ebd., S. 71–79. 10 Vgl. zu der intensiver werdenden Reisetätigkeit bspw. Interview with Paul-Heinz Dittrich, ebd.

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totalitäre Systeme. Und so hat die deutliche Lockerung im deutsch-deutschen Verhältnis ab Ende der 70er-Jahre ihre ebenso deutlichen Früchte in der Entwicklung einer relativ lebhaften Elektroakustikszene mit schließlich relativ fest gefügten Institutionen. Die Ursachen dafür sind aber genauso technischer Natur. In dem komplizierten Gefüge von Faktoren, die ab der zweiten Hälfte der 70er-Jahre die Entwicklung von elektroakustischer Musik in der DDR begünstigten, scheinen neben politischen und technischen Faktoren zunächst vor allem veränderte personelle Voraussetzungen entscheidend zu sein, namentlich die Herausbildung einer Generation von im eigentlichen Sinne Komponisten elektroakustischer Musik, die in Vermögen und Anspruch jener im Westen sich zeitgleich etablierenden durchaus vergleichbar ist. Eine interessante Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist die Tatsache – und hier ist die Konstellation in der DDR tatsächlich einzigartig –, dass dort ein in der musikhistoriographischen Abfolge ‚üblicher‘ Schritt vollzogen wird, ohne dass der üblicherweise historiographisch vorgelagerte Schritt unmittelbar vollzogen worden wäre. Es fehlt also eine anderswo für die Entwicklung wesentliche Generation bzw. Stufe. Jedoch scheint abermals das Vorhandensein des Gegners, der die gleiche Sprache spricht, hier entscheidenden Einfluss zu haben und andere Faktoren zu überlagern. Allerdings mag – bei genauerer Betrachtung – als eine mögliche Konsequenz des Fehlens dieser unmittelbaren Vorläufergeneration deutlich werden, dass sich diese zweite Generation trotz aller politischen Einschränkungen ästhetisch freier – wenn auch eben nicht ganz im Sinne einer ersten Generation – entwickeln konnte. Stockhausen hat zwar entscheidenden Einfluss auf das ästhetische Bewusstsein auch der DDR-Komponisten dieser Generation, erscheint aber nicht als der unumgängliche Übervater, der er für die Westkollegen in vielerlei Hinsicht war. Es mag viele Gründe haben, dass die DDR-Komponisten oft den ‚Umweg‘ über Frankreich nahmen und dass auch ein italienischer Einfluss deutlicher wird,11 um zur Elektroakustik zu kommen.12 Entscheidend in der besagten Generation sind aber die Ergebnisse, die erstaunlich unabhängig und individuell, vielfach gewissermaßen kompromissloser sind als zeitgleich im Westen Entstehendes.

11 Der Einfluss Luigi Nonos auf das Bewusstsein der DDR-Avantgarde generell kann überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und dieses Engagement Nonos schließt partiell auch den Einsatz für die Elektroakustik ein. 12 Grundsätzlich wurde in der DDR gerade mit den französischen Sozialisten deutlicher Kontakt gepflegt als mit vielen anderen; zum anderen wurde ebenso grundsätzlich das – über viele Jahre auch den westdeutschen Diskurs nicht unwesentlich prägende – Missverständnis gegenüber dem Konzept der ‚Musique concrète‘ reproduziert, diese würde sich mit konkreten sozialen Gegebenheiten auseinandersetzen und sei so durchaus als (innerhalb eines kapitalistischen Systems) sozialkritisch einzustufen. Insofern konnte man sie durchaus als im Sinne einer auch den sozialistischen Realismus entscheidend prägenden Widerspiegelungstheorie missverstehen. Die Antipodenschaft von elektronischer Musik (Kölner Schule) und Musique concrète (Pariser Schule) wurde insofern vereinzelt sogar zum politisch-ästhetischen Vehikel im deutsch-deutschen Wettbewerb.

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Zentrale und prägende Vertreter dieser Generation sind zweifelsohne Georg Katzer und Lothar Voigtländer. Beide suchen bewusst und kompromisslos ihren Weg zur Elektronik und beschreiten – auch wenn ihre ästhetische Grundhaltung extrem verschieden ist – gleiche und ähnliche Pfade. Ein wichtiges Zentrum experimenteller Musik generell – und so auch elektroakustischer Musik – entwickelt sich ab 1976 im Palast der Republik in Form der Studiobühne Theater im Palast (TiP). Paradoxerweise funktioniert dies ein wenig nach dem Prinzip der Palastrevolution oder aber nach dem beliebten Krimikonzept: Verstecke Dich im Zentrum der Macht, wenn Dich niemand finden soll. In dem gigantischen Mehrzweckgebäude mit mehreren Sälen war auch die Volkskammer, das Parlament der DDR, untergebracht. Das circa 250 Zuschauer fassende TiP wurde mit einem kleinen, aber zumindest ausreichend ausgestatteten elektronischen Studio versehen. Mit dem Tonmeister Eckard Rödger und dem Dramaturgen Manuel Neuendorf wurden zwei absolute Spezialisten für Neue und namentlich elektroakustische Musik ans TiP geholt, die dort nicht nur bestens besuchte Konzertreihen mit elektroakustischer Musik aus aller Welt installierten, sondern die Einrichtung zu einem festen Produktionszentrum machten. Nahezu alle zu dieser Zeit an Elektroakustik interessierten DDR-Komponisten arbeiteten hier – unter zwar nicht idealen, aber zumindest soliden Bedingungen. Auch Voigtländer – obwohl aufgrund der privaten technischen Möglichkeiten relativ unabhängig von offiziellen Produktionszentren – nutzte die Chancen dieser Einrichtung, insbesondere mit Blick auf Präsentationsmöglichkeiten, denn das TiP war im Lande mehr als ein Geheimtipp.

Die DDR in der CIME Die Beweggründe, aus denen heraus die Begründung einer Ländervertretung der DDR in der CIME in Bourges zustande kam, mögen aus heutiger Sicht eigentlich eher paradox anmuten. Die Komponisten Katzer und Voigtländer verstanden es in fast genialischer Weise, die offiziellen Argumentationsstrukturen des Landes für ihre Zwecke auszunutzen. Die Gründung geht fast ausschließlich auf Initiative der beiden zurück. In einem komplizierten Antragsverfahren durch alle Gremien und Behörden setzten sie mit der Gründung auch etwas durch, das in einem Land, in dem Reisefreiheit nicht nur sehr eingeschränkt, sondern quasi nicht vorhanden war, eigentlich undenkbar war: ein kontinuierlicher internationaler Austausch jenseits der üblichen Politik der ‚Bruderländer‘. Mit der Satzung der Gruppe wurde dies gewissermaßen beflügelt und damit ein grundlegendes Korrektiv zur systeminternen ästhetischen Evaluierung etabliert. Inwieweit der vielerorts geltende Exotenstatus der DDR-Komponisten auch innerhalb der CIME eine Rolle gespielt hat, lässt sich heute nur noch schwer sagen und allenfalls spekulieren. Es ist aber – angesichts der Struktur der CIME – durchaus nicht auszuschließen, dass die vertretenen DDR-Komponisten sich inzwischen ein solches Ansehen erarbeitet hatten, dass sie gar nicht mehr als Sonderlinge wahrgenommen wurden. Zumindest legen die zahlreichen Preise und Ehrungen das nahe.

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Allerdings kann hier auch eine gewisse ähnliche Einstellung zur Behandlung des Materials gefunden werden. Das französische Wort ‚Bricolage‘ wird gar zu gern mit ‚bauen‘, ‚basteln‘, aber auch ‚Stückwerk fabrizieren‘ u. ä. übersetzt. Ganz im eigentlichen Sinne hat ‚Bricolage‘ in seiner positiven Konnotation keine wirklich adäquate deutsche Übersetzung. Baumarktketten führen hier oder da den Wortstamm ‚brico‘ im Namen. Daher wird es gemeinhin nicht als negativ angesehen, wenn bezogen auf die Techniker-Komponisten der französischen Elektroakustik-Tradition in Kritiken der Begriff ‚Bricolage‘ gebraucht wurde. Insofern kann aber auch davon ausgegangen werden, dass innerhalb einer Kultur, die dieses Prinzip in dem besagten Ausmaß als durchaus opportun betrachtete, die beiden wagemutigen Elektroakustikpioniere aus der nahen Ferne durchaus auf Interesse und Anerkennung stießen. Hier mag der Drang zur Bricolage zwar lediglich ein ungewöhnliches Vehikel gewesen sein, innerhalb einer Gesellschaft, die ein kreatives Adaptieren zu einem entscheidenden Prinzip machen musste, um allgemeinen menschlichen Bedürfnissen nachzukommen, auch im Drang handwerklich-ästhetisch mithalten zu wollen. Denn – wie beschrieben – waren die DDR-Komponisten sehr wohl auf dem Laufenden in Bezug auf das, was in Westeuropa künstlerisch stattfand. All das spiegelt sich auch in den Erinnerungen Voigtländers: „Ich habe ja in meinem Lebenslauf einmal geschrieben, dass Katzer und ich durch unseren Aufenthalt in Bratislava eine Art ‚Spätausbildung‘ in Computerfragen bekommen haben – wir haben dort bei Peter Kolman Seite an Seite gearbeitet. In der Folge haben wir auch unsere ersten Werke im slowakischen Rundfunk realisiert. Das war also die Zeit 1975 und danach. So kamen wir gemeinsam nach Bratislava und über unsere Werke und Produktionen später zur Zusammenarbeit mit Bourges. Ab 1980 waren wir auf allen Generalversammlungen der GMEB dabei. Die GMEB baute zu dieser Zeit ihr System der ‚Confédérations nationales‘ aus – und wir waren einfach genau in dieser Zeit künstlerisch präsent. Und da man sich in der damaligen Bundesrepublik durchaus ästhetisch uneins war, was und wie elektroakustische Musik beschaffen sein solle – untereinander und mit den Franzosen erst recht –, und also nicht Mitglied einer internationalen Organisation war, lag die Gründung einer nationalen DDR-Sektion nahe. Nach fünf Jahren beharrlichen Wirkens in der DDR wurde unserem Antrag an die staatlichen Stellen entsprochen. ... ich kann nur sagen, dass es eine ungeheuer sympathische Atmosphäre internationalen Austauschs war. Und diese internationale Öffnung war für mich eine wichtige Erfahrung. Wie sehen die Südamerikaner elektroakustische Musik? Was passiert in England? Von den Franzosen, von den Niederländern kamen starke Impulse. Sowohl Georg Katzer als auch ich waren mit unseren Stücken immer präsent in Bourges. Dann haben wir in Berlin 1984 die Werkstatttage elektroakustischer Musik gegründet. Wir haben das zunächst im Lande selbst auf den Weg gebracht, um danach auch international mit den Komponisten der beteiligten Länder besser vernetzt zu sein. Das ging sehr schnell, denn die Zeit war reif. Viele Kollegen hatten bereits angefangen, elektroakustisch zu arbeiten. Die Werkstatt fand regelmäßig statt. Wir wurden dann eine sogenannte ‚nicht staatliche Organisation‘. So hatten wir ein Existenzrecht und wurden nicht als Gegenspieler des Komponistenverbandes oder ähnlicher staatlicher Organisationen gesehen.“13 13 Vgl. Böhme-Mehner, Interview mit Voigtländer, ebd.

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In diesem Zusammenhang muss aber auch die Gründung der Gesellschaft für elektroakustische Musik in der DDR gesehen werden, sie war gleichzeitig Voraussetzung für den Auftritt innerhalb der CIME und eine entscheidende Konsequenz der wachsenden internationalen Beachtung und konnte national als fördernde Instanz etabliert werden, wobei die Notwendigkeit einer wirklichen Entfaltung der Möglichkeiten durch die sehr viel rasantere politische Entwicklung aufgehoben wurde. 1988 und 1989 veranstaltete die Gesellschaft jeweils einmal nationale Werkstatttage für elektroakustische Musik, die vor allem eine Plattform für die sich neu formierende DDR-Elektroakustikszene sein sollten. Letztlich erscheint es so in vielerlei Hinsicht als Ironie des Schicksals, dass die heute gesamtdeutsche DeGeM (Deutsche Gesellschaft für elektronische Musik e.V.) aus dieser DDR-Gründung hervorgegangen ist. Trotz allem aber ist wohl der entscheidendste Schritt zur Etablierung und vor allem Offizialisierung der elektroakustischen Musik in der DDR die Gründung des elektronischen Studios an der Akademie der Künste der DDR, die schließlich 1986 vollzogen werden konnte. Bedenkt man, dass dieses Studio also eigentlich nur noch drei Jahre hatte, um sich bis zum Ende der DDR zu profilieren, so spiegelt diese kurze Entwicklung ungeheure Energie. Auch diesem Schritt vorausgegangen war ein langwieriges Genehmigungsverfahren, in dem die Beschaffung und Finanzierung von Geräten eine mindestens ebenso große Rolle gespielt hat wie ästhetische und politische Fragen. Die Diskussion darum dauerte seit 1973 an. Die Beteiligten nutzten die Zeit der Beantragung aber auch zur Etablierung einer elektroakustischen Szene. Katzer führte Schulungsseminare nicht nur für Meisterschüler der Akademie durch, sondern für einen weiteren Kreis Interessierter – eingeschlossen Wissenschaftler, Techniker und etablierte Komponisten. Insofern bedeutete der Weg der DDR in die CIME auch einen Schritt heraus aus einem bis dahin prägenden, zum Teil verwirrenden, aber der Kreativität durchaus förderlichen Kommunikationsgefüge. Der Drang zu reisen war somit auch ein ästhetisch begründeter. Lothar Voigtländer selbst ordnet diesen im Gespräch ein: „Was diesen fehlenden öffentlichen Diskurs betrifft, da bedeutete dieses DDR-System auch ein künstlerisch-isolierendes, eben nicht weltoffenes, reflektierendes Ganzes. Es war atmosphärisch unglücklich, dass alles, was mit anderen kompositorischen Mitteln arbeitete, eben als bürgerlich dekadent deklariert wurde. Es wurde nicht kollegial und substantiell in den Verbänden diskutiert. Jeder musste seine künstlerische Lösung allein finden, suchen – und auch verteidigen! Man hat das dann sehr stark 1990 gemerkt, wer sich eher gut an die allgemeine Normierung gehalten hatte, oder wer eben eigensinnig immer für sich weiter konstruktiv tätig war. Diese ganze Entwicklung nach der Zweiten Wiener Schule ist für das Gebiet der DDR ohnehin nicht wirklich relevant oder gar ‚kritisch‘ abgearbeitet worden. Da gibt es lauter individuelle Ein- und Aufarbeitungen, wie man heute erst sieht. Für uns kam später die neue Sonoristik über Polen – Lutosławski, Penderecki –, der Warschauer Herbst hatte eine Schlüssel-Funktion! Auch aus dem tschechischen Bereich kamen andere klangliche Entwürfe. Dazu kamen bei mir noch die jährlichen Reisen nach Frankreich, nach Bourges, Besuche im IRCAM in Paris etc. Also: das Gehirn hatte eigentlich genügend Nahrung. Sie haben später auch im IRCAM und in ähnlichen Instituten immer wieder die Auseinandersetzung gesucht...“14 14 Ebd.

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Dennoch mag die langjährige Existenz der Elektroakustik im Halboffiziellen eine entscheidende Ursache für den dann ungewöhnlich großen Erfolg der Konzertreihen und Festivals sein. Die Erkenntnis oder das Bild, dass sich da etwas den Weg in die Öffentlichkeit gebahnt hat, das eigentlich nicht unbedingt im Sinne des Systems gewesen ist, dass da etwas erkämpft wurde, das lange verhindert worden war, hatte einen besonderen Reiz für ein sehr viel breiteres Publikum, als es elektroakustische Musik gemeinhin anzuziehen pflegt. Hier mag – wie Zeitzeugengespräche und Erhebungen zu ähnlichen Gegenständen immer wieder zeigen – gleichzeitig die Sorge eine Rolle gespielt haben, dass so etwas danach auch wieder verschwinden könnte. Aus derartigen vorder- wie hintergründigen Erwägungen wollten vielfach auch nicht unmittelbar Beteiligte oder Betroffene wissen, worum es geht; gerade unabhängige Systemkritiker – namentlich Intellektuelle und Künstler anderer Genres – entdeckten aber auch einen gewissen Reiz darin, etwas derart Systemfernes durch ihre Anwesenheit zu unterstützen. Dieses Phänomen ist in Wechselwirkung mit einer in den späten DDR-Jahren ausgeprägten Duldungspolitik zu sehen. Man war inzwischen dazu übergegangen, alles, was das System nicht grundsätzlich infrage stellte, eher wohlwollend zuzulassen – insbesondere, wenn es sich dabei ohnehin nicht um massentaugliche Phänomene handelte – und so sehr viel weniger Aufsehen und Unmut zu erregen. Bei gegenständlicheren oder eher textbasierten Kunsterscheinungen mag das ebenso wie bei deutlich westlich orientierten Massenerscheinungen durchweg anders gewesen sein.15 Und unter strikter Beobachtung sowohl offizieller Gremien als auch der Staatssicherheit standen die betreffenden Institutionen noch immer und auch kontinuierlich bis zum Ende der DDR. Die besagten Lockerungen mögen auf Seiten der Konsequenzen deutlich werden. Die intensive Beobachtung durch die Staatssicherheit nimmt grundsätzlich eher noch zu, wobei beinahe zu vermuten steht, dass der Geheimdienst eher durch einen Informationsüberfluss an Handlungsfähigkeit verlor. Auf jeden Fall bediente die aufblühende Elektroakustikszene der späten DDR-Jahre ein grundsätzliches Bedürfnis weiter Kreise – vornehmlich einer breiteren Schicht höher Gebildeter – nach schlicht nicht Systemkonformem, nach einer prinzipiellen Offenheit. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Tatsache, dass für die Veranstaltungen mit elektroakustischer Musik grundsätzlich das Gleiche galt wie für alle übrigen Kultur- und Bildungsangebote in der DDR. Der Eintrittspreis spielte als Barriere keine wirkliche Rolle. Jedes Konzert sollte im Prinzip für jeden erschwinglich sein und war es im Grunde auch. Wenn überhaupt Eintritt erhoben wurde, so war dieser im Verhältnis zu sonstigen alltäglichen Investitionen eher geringfügig. Hinzu kommt, dass – als schließlich die benannten Institutionen auf den Weg gebracht waren – diese auch Breitenwirkung zeigen sollten. Erhalten sind Mitschnitte von Rundfunksendungen, in denen einem möglichst breiten Publikum (einschließlich Schülern und 15 So wurde vielfach der Besuch von Konzerten gefragter Popmusik-Interpreten aus dem Westen über die zentrale Vergabe von Eintrittskarten gesteuert. Verbrieft ist das für ein Großereignis mit Joe Cocker in Berlin ebenso wie für eine DDR-Tournee der österreichischen Band Erste Allgemeine Verunsicherung. Hier traten die zentralen Organisationen und Verbände ebenso als Verteilergremien auf, wie die Stasi natürlich ihre Informanten positionierte.

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Arbeitern aus ausgewählten Betrieben) die elektroakustische Musik nahegebracht werden sollte. Deutlich wird hier auch eine gewisse Differenz, eine Fallhöhe, sowohl was Funktionszuweisungen betrifft als auch was Anspruch und Bedürfnisse von Vermittlern und Publikum angeht. Aus heutiger Sicht wirken die entsprechenden Diskussionen im Sinne des Bildungsanspruchs (vornehmlich von Radio DDR II) zwangsläufig konstruiert. Sie repräsentieren aber umso deutlicher sowohl die Grundmechanismen der offiziellen Argumentation im Umfeld der elektroakustischen Musik als auch tatsächlich zu überwindende Vorurteile gegenüber der neuen Musikrichtung, aber auch – tatsächlich bestehende – materielle Probleme. Interessanterweise kommen hier Fragen auf, wie sie auch die frühen westdeutschen – partiell auch Vorkriegsdebatten – um elektronische bzw. elektrische Musik prägten: nach der Zukunft der Orchester beispielsweise, nach Menschlichkeit, aber auch nach der Konstruiertheit; ebenso danach, wie man Aufführungen in den Konzertsälen der Republik ermöglichen solle, also nach der Bereitstellung der technischen Voraussetzungen. Insofern ist das Erstaunlichste die Fallhöhe zwischen ganz pragmatischer DDR-typischer Verteilermentalität und hochtrabendem philosophischem Anspruch. Insofern spielt auch bei der Etablierung dieser Musik schließlich eine Funktionalisierung im Sinne der DDR-Gesellschaft eine Rolle. So wie man die Notwendigkeit partiell elektronischer Produktion für Film und Fernsehen niemals infrage stellte, so legte man nun Wert darauf zu zeigen, dass – sofern das Elektronische mit dem grundsätzlichen fortschrittlichen Bewusstsein der Arbeiter- und Bauernkultur vereinbar war – die Einführung dieser Form von Musik keinesfalls an materiellen Voraussetzungen scheitern sollte. Dass aber genau deren Fehlen die Entwicklung in den letzten DDR-Jahren weitgehend ausbremste, mag insofern als Ironie des Schicksals gesehen werden. Dies alles vermag schließlich auch zu erklären, warum das Interesse an den entsprechenden Festivals und Einrichtungen mit dem Fall der Mauer schlagartig nachlässt, um nicht zu sagen weitgehend erlischt: Zum einen ging der Reiz des Verbotenen ein für alle Mal verloren, zum anderen ist es ein Angebot neben anderen, und ferner konnte in der Kürze der Zeit der technische Vorsprung der Weststudios nicht im notwendigen Ausmaß aufgeholt werden und schließlich verloren die Institutionen auch Richtung Westen ihren Exotenstatus.16

Der große Anfang am Ende: Die Formation einer vollwertigen Generation von Komponisten elektroakustischer Musik in den letzten Jahren der DDR Als im Herbst 1989 die Menschen in der DDR auf die Straße gingen, um in einer sogenannten ‚friedlichen Revolution‘ zunächst Meinungs- und Reisefreiheit und erst später 16 Der Reiz des merkwürdig Subversiven ging nicht nur für das DDR-Publikum verloren, sondern auch für ‚Westgrößen‘, die für ihre Freunde und Grabenkämpfer in der DDR auch zu Sonderkonditionen musizierten oder Aufführungen gestatteten.

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die Deutsche Einheit zu fordern, war das Studio an der Akademie der Künste gerade drei Jahre alt. Ein Blick in die Geschichte der elektroakustischen Musik lehrt, dass drei Jahre mit Sicherheit nicht ausreichend sind, um so etwas wie eine Schule oder gar eine unverwechselbare eigene ‚Studioästhetik‘ zu etablieren. Spekulationen, wie eine solche sich unter den gegebenen Umständen entwickelt hätte, wenn die politischen und sozialen Rahmenbedingungen dieselben geblieben wären, erscheinen wenig sinnvoll. Dennoch stellen auch diese drei Jahre und das, was sich unmittelbar aus der vollständigen Legalisierung elektroakustischen Komponierens in der DDR ableitet bzw. ableiten lässt, ein einzigartiges Bild dar – aus fast anarchischer Freiheit und merkwürdigen Bedingtheiten und Abhängigkeiten. Ein mehrstündiges Radiofeature17 sollte im Jahr 1988/89 einem relativ breiten Radiopublikum Einblick in die Arbeit des noch jungen Studios gewähren, das damit letztlich zumindest über einen Großteil der DDR-Produktionen der späten Jahre einen durchaus umfassenden Überblick gibt. Dieser Beitrag kann nicht nur im Sinne eines einführenden Überblicks interessant sein, sondern auch im Sinne eines Bildes der die letzten DDRJahre dominierenden Offenheit bzw. eines Vakuums, in denen den neuen Formen der Klangkunst mit einer merkwürdigen Mischung aus Naivität und Vorsicht bzw. Reflektiertheit begegnet wird. Grundsätzlich ist zu beobachten, wie sich die Revolution in der DDR-Kunst- und Kulturszene weit vor jenen Ereignissen vorbereitete, die dann eine Chance haben, über die Grenzen des Landes hinaus ins öffentliche Bewusstsein zu dringen, weil sie eine Zahl von Menschen erfassen, deren Aufbegehren das System nicht mehr verleugnen oder vertuschen kann. Diese Massenbewegung kündigt sich in der Kunst weit vorher an, wird entweder von offizieller Seite – als Minderheitenprogramm – unterschätzt oder ist schlicht nicht mehr aufzuhalten. Neben den Kirchen,18 die von jeher dem Systemkritischen oder zumindest nicht Systemkonformen eine Plattform geboten haben, sind es in den 80er-Jahren die vielen Theater – fast jede Bezirks-, ja streckenweise sogar Kreisstadt besaß in der Regel ein Mehrspartentheater (Musiktheater oft sogar mit eigenständigem Ballett, Schauspiel und Sinfonieorchester, also auch Konzertbetrieb). Und diese Theater wurden – im einen Fall mehr, im anderen weniger – Heimstatt für auch systemkritisches Experimentieren und vielfach wirklich avantgardistisches Wirken. Wie stark das politisch reglementiert wurde, hing vor allem von subjektiven Faktoren, von Personenkonstellationen ab. Besonders bemerkenswert ist hier die Tatsache, dass diese Avantgarde im engeren Sinne keinesfalls von wirtschaftlichen Reglements abhing. Also die Tatsache, dass man mit bestimmten Dramen oder zeitgenössischer Musik keinesfalls ein so großes Publikum erreichen würde wie mit dem in den letzten DDR-Jahren an nahezu allen mittelgroßen und zum Teil selbst kleinen Bühnen gespielten Musical My fair Lady, war in diesem Zusammenhang keinesfalls rele-

17 Radio-DDR Musik Club, DRA, STMG 6494 A-B. 18 Vgl. Böhme-Mehner, Interview with Hintzenstern, ebd.

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vant. Fragen der Wirtschaftlichkeit spielten an dieser Stelle kaum eine Rolle, wenn man sich einmal für ein Projekt entschieden hatte. Gerade auch elektroakustisches Arbeiten wurde – nicht zuletzt in Verbindung mit dem immer offensichtlicheren Existieren von akzeptabel ausgestatteten Heimstudios – hier befördert; vielfach waren es die Schauspielkapellmeister an den Stadttheatern, die aus den entsprechenden Möglichkeiten neben dem Reiz des Neuen, Experimentellen, schlicht neben den ästhetischen Möglichkeiten auch einen gewissen praktischen oder pragmatischen Nutzen ziehen konnten, zumal die Produktion von Zuspielbändern für das Sprechtheater längst schon ein probates Mittel war, um sich von Interpreten im eigentlichen Sinne und damit anderen Sparten und entsprechenden Kosten unabhängig zu machen. Insofern – auch durch den Hintergrund der Rechtfertigung der Gebrauchsmusik an den Schnittstellen von Geräusch und Musik – boten sich gerade in den 80er-Jahren durch die Verbesserung der Audioanlagen auch an kleineren Theatern interessante Möglichkeiten.19 Generell lassen sich bei diesen Musiken – handwerklich oder ästhetisch – keine oder kaum Unterschiede beobachten im Vergleich zu zeitgleichen Produktionen an westlichen Theatern – es handelt sich um eine spezifische Ausprägung von Gebrauchsmusik, die eben vielfach mehr von lokalen Bedingtheiten geprägt und abhängig ist als von irgendeiner zentralen Linie. Lediglich die Stärke oder Unabhängigkeit der Personalstile der entsprechenden Komponisten, gerade einer sogenannten jüngeren Generation, fällt ins Auge. Auch wenn sich – wie vor allem auch aus den Gesprächen mit den Komponisten deutlich wird – insbesondere in den letzten DDR-Jahren gewisse Zentren elektroakustischen Komponierens und vor allem auch der Nachwuchsförderung und Bildung in diesem Bereich entwickeln, die sich deutlich um Komponistenpersönlichkeiten herum formieren, wird bei der Auseinandersetzung mit den klanglichen Ergebnissen sehr schnell klar, dass dies zwar möglicherweise in soziologischer Hinsicht im Sinne von Schulenbildung gesehen werden kann, aber die ansonsten mit diesem Phänomen verbundenen ästhetischen Beziehungen und Ausprägungen weitestgehend ausbleiben oder zumindest nicht offensichtlich werden. Die Schüler und Studenten suchen sich trotz des typischen Gefüges ästhetisch weitgehend unabhängig ihre Wege. Interessanterweise ist das ein entscheidender Unterschied sowohl zu den gleichzeitig existierenden Strukturen in der DDR-Instrumentalmusik als auch weiten Teilen der zeitgleich bestens etablierten elektroakustischen Musik im Westen. Dies mag mit einem anderen Bewusstsein der Komponisten in Bezug auf das Experimentelle an sich ebenso zu tun haben wie grundsätzlich mit dem Gewordensein dieser Szene, das ein anderes Selbstverständnis als liberal mit sich brachte. Als ein weiteres großes Zentrum neben dem Akademiestudio bildete sich die Musikhochschule Dresden heraus; hinzu kam das, was Lothar Voigtländer aus den Geraer Ferienkursen heraus entwickelte. 19 Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn eine der Porträtsendungen zur elektroakustischen Musik aus den späten Jahren des Rundfunks unter dem Titel Akademie der Klänge als ein zentrales musikalisches Beispiel dieser Zeit eine Bühnenmusik anführt – Klaus Martin Kopitz, Pink Thrill, Bühnenmusik zu Friedrich Wolf, Professor Mamlock, Neustrelitz 1988, vgl. DRA, StMG 6494, Erstsendung: 9.2.1989.

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Insofern lässt sich auch beobachten, dass gewisse zeitgleich andernorts vorhandene Reglementierungen im Hinblick auf ästhetische Strömungen, Schulen etc. kaum eine Rolle spielen. Ist das Elektroakustische als solches grundlegend akzeptiert, so steht die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Schule, diesem oder jenem Studio o. ä. kaum noch zur Debatte. Ganz gleich, wie man diese Entwicklungen bewertet, ohne die Pionierleistungen nicht zuletzt Lothar Voigtländers wäre vieles davon nicht denkbar gewesen. Dass sich der Komponist dabei auf der einen Seite als offener und liberaler Vermittler betätigte, auf der anderen aber in bemerkenswerter Konsequenz einen schlagenden ästhetischen Eigenweg entwickelte, der von einem Bekenntnis zu unverwechselbaren stringenten Dramaturgien lebt, ist umso bemerkenswerter. Und in der Tat ist es ganz offenbar – bewusst oder unbewusst – noch heute die Strenge einer offenkundigen oder latenten Programmatik, der Dramaturgie im engeren Sinne, in der sich Lothar Voigtländer von vielen seiner Kollegen in den Studios unterscheidet. Im Ergebnis auch eine Strenge in der Wahl von Samples, in der Klanglichkeit an sich. Auch wenn der Komponist sehr klar auf Räume eingeht, diese mitkomponiert, wirkt Voigtländers Musik – selbst in seinen Auseinandersetzungen mit anderen Künsten – immer zeitlich gerichtet.

Anna Schürmer

(Musik-)Historische Reflexionen zu Lothar Voigtländers Maikäfer flieg Im Zentrum dieses Beitrags steht Lothar Voigtländers elektro-akustisches Hörstück Maikäfer flieg aus dem Jahr 1985. Man könnte aus musikwissenschaftlicher Perspektive einiges über die Ästhetik der radiophonen Komposition schreiben; allerdings soll der vorliegende Text vielmehr eine musik-historische Annäherung an Voigtländers bewegtes Komponistenleben darstellen. Maikäfer flieg soll dabei als eine Art Kategorie verstanden werden, von der ausgehend ein Prisma an Themen aufgeworfen wird. Diese ergeben ein Mosaik an Zusammenhängen und Zusammenklängen, die sich in einem dualistischen Spannungsfeld zwischen den Polen Mensch und Maschine, Ost und West, Ästhetik und Politik sowie Askese und Exegese zu bewegen scheinen. Maikäfer flieg entstand 1985 in Ostberlin und wurde im gleichen Jahr beim Festival für Elektroakustische Musik im französischen Bourges uraufgeführt und mit dem 1. Preis bedacht.1 Die Geschichte der Komposition aber setzt zehn Jahre früher mit der Hinwendung Voigtländers zur Elektronik ein und endet 1992 mit der Verleihung der Goldenen CD für die beste Komposition der letzten 20 Jahre in Frankreich. Innerhalb des hier gewählten Zeitfensters beschreibt die Werkgeschichte nicht nur die paradigmatische Rolle der elektroakustischen Musik für die damalige Phase in Lothar Voigtländers Schaffen; auch bestätigt sich Tatjana Böhme-Mehners Diagnose von den beiden letzten Phasen der Musikentwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik. Demnach wären „die 1970er Jahre bis zum Beginn der 1980er eine kurze aber markante Phase, die das gängige Bild einer progressiven und gleichzeitig subversiven Elektroakustischen Musik in der DDR geprägt hat. […] Wir finden schließlich eine extrem dynamische Periode, die vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende des sozialistischen Staates führt. Während dieser Zeit bildet sich aus verschiedenen Gründen eine starke Elektroakustik-Szene heraus, die vom Zuspruch eines großen Publikums und nachhaltiger Resonanz profitieren“2konnte. Eine Entwicklungsgeschichte der Elektroakustischen Musik könnte Gegenstand einer eigenständigen Monographie sein, doch interessiert im Folgenden vielmehr ihre Rolle und Aussagekraft für Voigtländers Werk sowie für die historische, soziale und ästhetische Umbruchsituation am Ende des sozialistischen Staates. Seit den frühen 1950er-Jahren schossen – im Windschatten der Kölner Erfolge – in der westlichen Welt allerorten Studios für Elektronische Musik aus dem Boden. Dagegen 1 Veranstalter des Wettbewerbs war das seit 1970 bestehende Institut international de musique électroacoustique de Bourges (IMEB), das 2011 auf Anordnung des französischen Kulturministeriums geschlossen wurde. 2 Tatjana Böhme-Mehner, La musique électroacoustique en République démocratique allemande (RDA). Une avant-garde paradoxale, in: ILCEA, http://ilcea.revues.org/, abgerufen am 5.11.2014.

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Anna Schürmer

gab es in der DDR bis in die Mitte der 1980er-Jahre hinein nicht einmal eine gemeinsame Interessensvertretung. Jahrzehntelang war die Elektroakustik von offizieller Seite „pauschal als dekadenter Auswuchs bürgerlicher Musikkultur“3 bewertet worden und hatte deshalb nicht nur systemkritische und experimentierfreudige Komponisten, sondern oft auch ein breites und aufgeschlossenes Publikum angezogen. Allerdings zeigten die politischen Kontrollorgane wenig Interesse für die arrivierte Lautsprecherkunst. Nie wurde die Elektronische Musik verboten und seit der pragmatischen Öffnung der DDR-Musikpolitik seit der Mitte der 1970er-Jahre sogar gefördert. Nutznießer dieser Öffnung war der damals junge und vielversprechende Nachwuchskomponist Lothar Voigtländer. Als das Kulturministerium ihm 1975 durch ein Stipendium elektro-akustische Studien in Bratislava und Budapest ermöglichte, erwies sich diese Erfahrung als einschneidender Bruch in seinem kompositorischen Schaffen. „Die Elektronik“, so Voigtländer, „schlug ein wie eine Bombe, in deren Folge alles bisher Getane und Gelernte eine explosiv neue Richtung der Form, der Klangsprache und des kompositorischen Gestus annahm.“4 Zurück in Berlin, avancierte Lothar Voigtländer zu einem der Pioniere elektroakustischer Komposition östlicher Prägung. Weil zwar musikalische Experimente von Staatsseite zunehmend geduldet wurden, jedoch weder Institutionen noch elektronische Hardware im sozialistischen Lager vertreten waren, schufen die ostdeutschen Elektroakustiker kurzerhand eigene Strukturen und stießen so eine äußerst dynamische Phase in der Geschichte der DDR-Musik an. Auslandsreisen und Kontakte zu Festivals und Studios in West wie Ost wurden genutzt, um Synthesizer und andere Gerätschaften unter oft schwierigen Bedingungen in die DDR einzuführen. Die Duldung und sogar Förderung der ehemals als ‚westlich-dekadent‘ gebrandmarkten Musikpraxis kann als Ausdruck der Öffnung des sozialistischen Staates sowie als Resultat der zunehmenden Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit seiner Avantgarden verstanden werden. Mit Vorträgen, Publikationen und Workshops schufen die Pioniere auch beim Publikum ein aufgeschlossenes Klima für die elektronischen Experimente. 1985 gelang die Gründung einer Gesellschaft für elektro-akustische Musik unter dem Vorsitz von Lothar Voigtländer und Georg Katzer, der 1986 auch ein Studio für elektronische Musik an der Ostberliner Akademie der Bildenden Künste einrichten konnte. In dieser Atmosphäre richtete sich Lothar Voigtländer in seinem Haus ein Privatstudio ein und realisierte 1985 mit – nach westlichem Maßstab – einfachsten technischen Apparaten Maikäfer flieg. Das elektro-akustische Hörstück verrät Einiges über die Zusammenhänge zwischen progressiven Ideen, offizieller Kultur und künstlerischen Produkten nicht nur in der DDR, sondern auf beiden politischen Seiten in Europa, der Welt und Deutschlands. Dabei offenbarte sich eine seltsame, aber aufschlussreiche ‚Ungleichzeitigkeit‘ der europäischen Moderne: Jahrzehnte nach der Blütephase der westlichen Lautsprechermusik in den 1950er-Jahren bildete die ostdeutsche Elektroakustik seit der Mitte der 1970er-Jahre 3 Kathrin Eberl, Zur Problematik der elektroakustischen Musik in der DDR. Referat zur Tagung der Musikwissenschaftler in Weimar 1988, in: Archiv der Akademie der Künste Berlin, Handakte Kordaß 1987–1990/ VKM 482. 4 So Lothar Voigtländer in einem Gespräch im Dezember 2012.

Reflexionen zu Lothar Voigtländers Maikäfer flieg

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eine Eigenästhetik aus, die weder der serialistisch durchkonstruierten Lautsprechermusik Stockhausenscher Prägung noch der französischen musique concrète folgte. Statt absoluter Musik produzierte die sogenannte ‚radiophone Musik‘ der DDR mit elektro-akustischen Montagen und Collagen konkrete Sinnzusammenhänge und programmatische Verweise.5 Dass ihr Schwerpunkt weder auf besonders avancierter Technik noch auf betont progressiver Ästhetik beruhte, lag genauso an den Doktrinen der sozialistischen Kulturpolitik wie an dem Mangel an Apparaturen. Aber die „staatliche Bevormundung und die Wendungen und Finten, ihr zu entkommen“, so reüssierte Wolfgang Schreiber 1990 in der Süddeutschen Zeitung, ließen auch „eine kompositorische Identität der Neuen Musik in der DDR entstehen“.6 Zu Unrecht wird diese oftmals marginalisiert, weist sie doch einen alternativen Weg in die musikalische Jetztzeit. Zwar waren die ostdeutschen Komponisten isoliert und hatten mit einer doktrinären Musikpolitik zu kämpfen, aber auch im Westen hatte sich schließlich ein ästhetischer Dogmatismus herausgebildet, den der Philosoph Wolfgang Welsch gar als „Absolutismus der Moderne“7 beschrieb. Insbesondere die Exegeten der Darmstädter Schule installierten einen autonomieästhetischen Fortschrittsimperativ, der das künstlerische Fahrwasser der musikalischen Moderne vehement vorgab und sich erfolgreich darauf verstand, Abweichler zu diskriminieren.8 Weitgehend unberührt von diesen ästhetischen Dogmen einte die Ost-Avantgarde nicht zuletzt die gemeinsame Opposition gegen das System, was ihrem musikalischen Schaffen häufig einen politischen Impetus verlieh. Hatten in den Kontroversen um die Elektronenklänge aus den westlichen Experimentalstudios Schlagwörter wie „Denaturierung“ und „Entmenschlichung“ dominiert,9 betonte Paul-Heinz Dittrich 1983 in Musik und Gesellschaft10 das Humane als schöpferische Triebkraft: „Das Tonband als ausschließlicher Träger elektronischer Informationen war für mich nie von besonderem Interesse […], da mir dort die wichtigste Komponente, nämlich der Mensch […] als kreativer Interpret, gänzlich fehlte.“ Interessant würde es, „wenn dort die menschliche Sprache als kommunikatives oder phonetisch-asemantisches Element zum Gegenstand der Komposition gemacht wurde“.11 In derselben Ausgabe der Zeitschrift berichtete auch Lothar Voigtländer über seine 5 Für die Ausbildung der ‚radiophonen Hörspiele‘ war Georg Katzers Aide Memoire (1983) beispielgebend, in dem der Komponist 1983 zum Gedenken an den 50. Jahrestag der nationalsozialistischen Machtergreifung konkrete Erinnerungen an Diktatur, Terror und Krieg collagierte. 6 Wolfgang Schreiber, Altlasten und Experimente in Dur und Moll, in: Süddeutsche Zeitung, 8.3.1990. 7 Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 2002, S. 93 f. 8 Vgl. etwa Anna Schürmer, „Darmstadt hatte stets seine Opfer“. Von der Autonomieästhetik zum Absolutismus der Moderne, in: Neue Musikzeitung (NMZ), Dezember 2013. 9 Beispielhaft für die heftig eskalierenden Debatten rund um die elektronische Klangerzeugung steht Friedrich Blumes Eröffnungsreferat der Kasseler Musiktage 1958, vgl. Friedrich Blume, Was ist Musik?, in: Musikalische Zeitfragen, Bd. 5, Kassel 19602. 10 Die Zeitschrift wurde seit 1951 von der Staatlichen Kunstkommission der DDR herausgegeben und war seit 1954 das offizielle Mitteilungsorgan vom Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR. 11 Paul-Heinz Dittrich, Ein neuer Weg zur zeitgenössischen Musik?, in: Musik und Gesellschaft 6/1983, S. 358–360.

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Anna Schürmer

kompositorischen Erfahrungen im Umgang mit der Technik und sprach dabei vom Reiz der „ungeheuer dimensionierten Klangräume“. Er erkannte in den „Verschmelzungsmöglichkeiten anscheinend heterogener Stilmittel […] zu völlig neuartigen Formmodellen im Sinne eines ‚Hör-Spiels‘ oder ‚Hör-Stücks‘ […] neue dramaturgische Möglichkeiten“.12 Im Konfliktfeld von Mensch und Maschine, so könnte man sagen, betonte der Westen die Maschine, während sich die ostdeutschen Elektroakustiker um einen humanen Einsatz der technischen Mittel bemühten. Beide Ansätze besaßen Brisanz: Die Eklatanz der elektronischen Musik etwa eines Karlheinz Stockhausen bestand in ihren synthetischen, bis dato nie gehörten und deshalb die Rezipienten verstörenden Klangerzeugnissen; die Konzerte mündeten regelmäßig in Publikumstumulten und heftig ausgetragenen Kontroversen.13 Dagegen wurde die ostdeutsche Elektroakustik mit Werken, die der normativen Staatsräson eine individuell-freiheitliche Poetik entgegenhielten, „zu einer Stätte der politisch-ästhetischen Subversion“.14 Zwar agierte die offizielle Kulturpolitik seit den 1970er-Jahren überwiegend pragmatisch, aber „gefährlich wurde es“, so Georg Katzer, „wenn man Texte benutzt hat“.15 Schließlich eröffneten anspielungsreiche Titel und Vertonungen progressiven und systemkritischen Komponisten Möglichkeiten, gegen das restriktive System zu opponieren. Voigtländer, mit seinem besonderen Hang zum Sopran und seinem Selbstverständnis als psychologisch ausdeutender Komponist, bedient(e) sich ausgiebig der verschiedenen musikalischen Textgattungen. Mit Blick auf die dramaturgischen Möglichkeiten der elektro-akustischen Komposition betonte er schon 1983 die „begreiflich große Rolle“ literarischer Einflüsse.16 Schon seine beiden Tonbandstudien Ex voce  I (1982) und Ex voce  II (1983) basieren auf dem Volkslied Es geht ein dunkle Wolk’ herein „als Keimzelle für weitere musikalische Entwicklungen. Die […] textliche Vorlage, die durch viele Jahrhunderte als Synonym bedrohlicher Zeitgeschehnisse gewertet wurde, findet […] eine apokalyptisch-visionäre Deutung“.17 Eine ähnliche Vorgehensweise gab wenig später Anlass zu einigen Unbequemlichkeiten, als er das nicht weniger anspielungsreiche Kinderlied Maikäfer flieg aus der 1806/08 von Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammengestellten Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn als Grundlage eines neuen radiophonen Hörspiels auswählte. Natürlich provozierte der Text. Das in vielen Variationen existierende Lied eröffnete schließlich variable politische Deutungsmuster, „die nach dem 1. und nach dem 2. Weltkrieg die entsprechende politische Situation widerspiegelten“, wie es im Werkkommen12 Lothar Voigtländer, Kompositorische Erfahrungen im Umgang mit der Technik, in: Musik und Gesellschaft 6/1983, S. 356–357. 13 Vgl. etwa Anna Schürmer, Elektronische Eklatanz in: Kongressband zu Sound und Performance in: Thurnauer Schriften, Würzburg 2014. 14 So Björn Gottstein in seinem Artikel Mythos ‚Kölner Schule‘ auf den Seiten des Goethe Instituts zur neuen Musik, http://www.goethe.de/kue/mus/ned/rbk/eku/de1579142.htm, abgerufen am 05.11.2014. 15 Georg Katzer, Der Komponist Georg Katzer über die Situation in der DDR in den 80er Jahren, in: Wendezeiten 1789/1989. Eine Konzertinstallation, Hamburg, 7./8. August 2009. 16 Lothar Voigtländer, Kompositorische Erfahrungen im Umgang mit der Technik, a. a. O., S. 356–357. 17 Ebd.

Reflexionen zu Lothar Voigtländers Maikäfer flieg

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tar von Lothar Voigtländer heißt. In der Komposition schält sich aus einer bedrohlichen elektro-akustischen Klangwolke zerstückelt-fragmentierte Marschmusik heraus, abgelöst vom Knattern eines Hubschraubers, einem Maikäfer des Maschinenzeitalters. Bald setzt eine junge Frauenstimme mit den berühmten Kinderliedzeilen ein, wird gleich verdrängt von stereophon wandernden Synthesizer-Gebilden, die schließlich von bissiger Ironie in konkreten Klängen – Fetzen bekannter Kriegslieder und Lale Andersons Lilli Marleen – durchzogen werden. Noch einmal erklingt das bekannte Volkslied, diesmal mit dem Text „Schlaf, Kindchen, schlaf, da draußen ist ein Schaf, ein schwarzes und ein weißes, und wenn du nicht schläfst, dann beißt es…“, dabei hat die Person der jungen Interpretin des Anfangs zu einer gebrochenen Alten gewechselt. Im Schlussteil dominieren deutlich identifizierbare Streicher- und Orgelklänge, bevor das Hörstück in der trotzig vorgetragenen Schlusssequenz endet: „…ein Wind kommt auf, versuchen wir zu leben“. Eine gesellschaftskritische Deutung an den festgefahrenen dualistischen Strukturen des OstWest-Konflikts sowie eine Anrufung der Freiheit scheinen hier zumindest naheliegend. Es verwundert also kaum, dass die Komposition nicht im Sinne der Machthaber war und dementsprechende Wellen schlug. Tatsächlich kann der kleine Eklat, den die Komposition verursachte, als paradigmatisch für die DDR-Kulturpolitik in den letzten Jahren ihres Bestehens gedeutet werden: So sendete Radio DDR II zwar das ostdeutsche Gewinnerstück aus Bourges – allerdings wurden die nicht genehmen Passagen ausgeblendet. Dies betraf namentlich die Textzeilen „Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt“, die zu jener Zeit auf der schwarzen Liste standen. Aussagekräftiger aber noch ist die Reaktion Voigtländers, der sich nicht nur beschwerte, sondern auch eine vollständige Sendung des Hörstücks verlangte. Er bekam recht und so kann die Rezeptionsgeschichte von Maikäfer flieg als klingendes Zeugnis für den gesellschaftlichen Umbruch gelesen werden. Als die Komposition 1992 in Frankreich die Goldene Schallplatte für die beste Komposition der letzten 20 Jahre gewann, war die Mauer eingerissen und vom Markt ersetzt worden. Als die Euphorie der Wendejahre verebbte, fanden sich viele der ostdeutschen Komponisten, wie es Lothar Voigtländer einmal beschrieb, „als Exilanten in einer marktwirtschaftlichen Mondlandschaft wieder“. Schon 1990 hatte Theo Geissler in der Neuen Musikzeitung den „Zusammenbruch wesentlicher kultureller Strukturen in der DDR“ befürchtet. Nachdem viele Kulturschaffende gelernt hätten, „sich verklausuliert auszudrücken […] sehen sie sich [jetzt] einer dröhnenden bundesrepublikanischen KnowHow- und Medien-Invasion gegenüber, die in Bonanza-Manier über die offenen Grenzen trampelt.“18 Schon bald dominierte beim Blick auf die ostdeutschen Komponisten die pejorative Lesart von einer restriktiven sozialistischen Kulturpolitik, dabei hatte die gemeinsame Opposition gegen das System den ostdeutschen Komponisten nicht nur produktive ‚Reibungsflächen‘ geboten, sondern auch eine gesellschaftskritische Relevanz verliehen. Die humane Verantwortung der DDR-Avantgarde belegt auch die Rolle des Verbands der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR (VKM), der sich als einer der 18 Theo Geissler, Die Demontage einer deutschen Kulturlandschaft, in: Neue Musikzeitung 4/1990, S. 1.

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Anna Schürmer

ersten Künstlerverbände von seiner „stalinistische Spitze“ distanzierte.19 Bei der 11. Tagung des VKM-Zentralvorstandes verlas Lothar Voigtländer am 2. November 1989 eine Stellungnahme, der sich rund 20 Komponisten und Musikwissenschaftler angeschlossen hatten. Auf der Grundlage dieses Antrages, so wurde daraufhin in Musik und Gesellschaft berichtet, entschloss sich das Präsidium, geschlossen zurückzutreten.20 Voigtländers Vita nahm fortan „eine rasante Beschleunigung in Richtung politischer Aktivität und Verantwortung für die Sache der Komponisten, die sich aus den politischen Weichenstellungen und Neu-Orientierungen des Jahres 1989 ergab“.21 Von dieser kulturpolitischen Verantwortung zeugt Voigtländers Werdegang in den musikalischen Institutionen des wiedervereinigten Deutschlands. Seinen Sinn für gesellschaftliche Themen und zeitbezogene Vorgänge hatte er aber schon 1985 demonstriert, als sich die Zeichen der Zeit in einem elektro-akustischen Hörspiel von 9’45’’ Minuten verdichteten.

19 Am 26.10.1989 erschien etwa in Musik und Gesellschaft (12/1989) ein „Offener Brief des Präsidiums und der Vorsitzenden der Bezirksverbände des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR“. 20 Vgl. Michael Kordaß, 11. Tagung des VKM-Zentralvorstandes, in: Musik und Gesellschaft (12/1989), S. 635. 21 So Lothar Voigtländer in einem Gespräch im Dezember 2012.

Thomas Grysko

„… weil ein Schrei dein Ohr traf“ – Aspekte zur Radiokunst der DDR als historischer Kontext von Lothar Voigtländers Hörspielmusik in Günter Eichs Träume

In vielen Lebensbereichen versuchten beide deutsche Staaten nach 1945, anstatt Gemeinsamkeiten herzustellen, vor allem ihre Unterschiede zu betonen. Dies trifft auch auf den Rundfunk zu, den man in Westdeutschland nach Vorbild der BBC als öffentlich-rechtliches System aufbaute, während im Osten an der Idee des Staatsfunks festgehalten wurde.1 Beide Systeme brachten auf dieser Grundlage eine je eigene Hörspielkultur hervor, die sich in ihren ästhetischen Entwicklungen zunehmend voneinander entfernten. Im Unterschied zur Hörspielkultur der Bundesrepublik ist jene der DDR heute aber kaum noch im öffentlichen Bewusstsein vertreten. Schon rein quantitativ produzierte die DDR im Hörspielbereich jedoch bis zuletzt auf hohem Niveau: Im Zeitraum von 1971 bis 1989 wurden hier pro Jahr ca. 27 Originalhörspiele urgesendet, was mit zusätzlichen Krimis und Prosa- sowie Dramenadaptionen eine Gesamtzahl von 513 Produktionen ergibt, die auf den Sendern des Rundfunks der DDR (Berliner Rundfunk, Radio DDR I, Radio DDR II, Radio Berlin International und Stimme der DDR) gesendet wurden.2 Der genannte Zeitraum von ca. 20 Jahren markiert dabei eine Periode, die von der Medienwissenschaftlerin Sibylle Bolik in ihrem Buch Das Hörspiel in der DDR als ‚Zweite Hörspielzeit‘ in der DDR bezeichnet wurde und die im Anschluss an die 1960er-Jahre mit wichtigen Neuansätzen im Bereich des DDR-Rundfunks einherging.3 Nicht zufällig setzte diese Phase im Jahre 1971 nach der Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker ein, als zum VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 auch eine Liberalisierung der Kulturpolitik ausgerufen wurde. Im Bereich des Hörspiels sollte nun im Zusammenhang mit der Ablehnung von U- und E-Kategorien ein möglichst großer Hörerkreis angesprochen und das Hörspiel mit einem publikumswirksameren Programm aus seiner in den Jahren zuvor entstandenen Krise herausgeholt werden.4 Generell lässt sich im Nachhinein anhand einzelner Hörspiele tatsächlich nachvollziehen, dass ab den 70er-Jahren, gemessen am bisher dominanten Ideal des realistischen Hörspiels, experimentierfreudiger gearbeitet wurde, was mit der kulturpolitischen Öffnung dieser Zeit in Zusammenhang steht. Interessant ist dabei auch, wie die Autoren des Buches Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik Ende der 70er-Jahre im Rückblick weniger die innovativen Beiträge als vielmehr die Vernachlässigung „moderner“ musikalischer Ideen im Hörspiel kritisierten: 1 2 3 4

Vgl. Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte, Konstanz 2010, S. 123. Vgl. Sibylle Bolik, Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen, Frankfurt a. M. 1994, S. 161. Vgl. ebd., S. 159. Vgl. ebd., S. 161.

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Thomas Grysko „Dennoch gab es auch Auffassungen und Tendenzen, die das Hörspiel als synthetische Kunstgattung zu einer reinen Sprachgattung etablieren oder die Musik lediglich als Mittel für ‚Einstimmungen‘, Akzentsetzungen oder Szeneninterpunktion verwenden wollten. […] Ebenso wie einseitige Auffassungen von Hörspielmusik als naturalistisches Mittel, konkrete Sachverhalte darzustellen, versperrten die[se] Ansichten dem Musikeinsatz neue Möglichkeiten und Zugangswege, neue Bezüge zu den dargestellten Geschichten. […] Die zeitgenössische Kompositionsentwicklung gab hier nachdrückliche Impulse: komplex strukturierte, sachliche, verknappte Formen und Klänge, elektronische Musik, Collage- und Montageprinzipien, Adaptions- und Zitatgestaltung flossen abgewandelt in das Hörspiel ein und bereicherten dessen Spiel- und Wirkungsfeld.“5

Es bleibt hier zunächst mindestens als Frage im Raum stehen, inwiefern dieser implizit formulierte ästhetische Anspruch seitens der Musik und die Wirklichkeit der Hörspielproduktion – wie behauptet – zur Deckung kamen. Schon der Einsatz elektronischer Musik hatte sich, gemessen an der gesamten Produktion, ja sehr zurückhaltend ausgenommen. Zudem wurde in den 80er-Jahren zunehmend ein hörspieltheoretisches Defizit sichtbar: Auf der literarischen Ebene berief sich das DDR-Hörspiel noch immer auf ästhetische Grundüberzeugungen, die aus den 60er-Jahren stammten, was aber bei vielen Verantwortlichen des Rundfunks kaum für ästhetische Kontroversen sorgte.6 Generell waren die Reputation und materielle Förderung des Hörspiels weitgehend gesichert, was durch die damals gute personelle wie technische Ausstattung in diesem Bereich faktisch bestätigt wird. Die Existenz des Hörspiels im Rundfunk der DDR stand also nie infrage, auch wenn es im Ganzen betrachtet – trotz der in den 70er-Jahren wachsenden Akzeptanz – ein Minderheitsprogramm mit einer Einschaltquote von 5 bis 8 Prozent blieb.7 Eine weitere Frage ist, inwiefern das Hörspiel der DDR ab den 70er-Jahren von staatlicher Lenkung und Zensur beeinflusst war. Auch dieses komplizierte Feld werde ich nur kurz anreißen: Der vielleicht naheliegenden Vermutung, dass das Hörspiel der DDR vor allem einer staatsnahen Propaganda diente oder ihr unterworfen war, kann zumindest im Hinblick auf die Produktionen jener Periode nicht einfach so zugestimmt werden. Da das Hörspiel nur eine begrenzte Öffentlichkeit erreichte, war es im Gegensatz zum Fernsehen oder zu rundfunkjournalistischen Beiträgen für die Zensur generell von untergeordneter Bedeutung. Kontrolle und Zensur wurden daher nicht von außen ausgeübt, sondern von den oberen Entscheidungsinstanzen nach unten delegiert. Die hauptsächliche Verantwortung für die Zensur trug dabei die Hauptabteilung Funkdramatik in der Unterbreitung des Programmangebots, das sie den einzelnen Sendern machte, während die endgültige Entscheidung vom Intendanten der Sender getroffen wurde.8 Im Gegensatz zu Film, Fernsehen, Literatur und Theater erfolgte bei den Hörspielproduktionen im Wesentlichen Selbstzensur. Vor allem seit den 80er-Jahren konnten Hörspiele daher wohl auch Gesell5 Heinz Alfred Brockhaus u. Konrad Niemann (Hg.), Musikgeschichte in der Deutschen Demokratischen Republik. 1945–1976, Berlin 1979, S. 414. 6 Vgl. Sibylle Bolik, Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen, a. a. O., S. 21. 7 Die Zahlen liegen auch für heutige Verhältnisse in einem für das Hörspiel günstigen Bereich und wiesen zudem ähnliche Einschaltquoten wie das Hörspiel in der Bundesrepublik auf. 8 Vgl. Sibylle Bolik, Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen, a. a. O., S. 171.

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schaftskritik in historisch-gleichnishafter oder märchenhaft verschlüsselter Form üben, was mit einer Zunahme an entsprechenden Stoffen einherging.9 Peter Gugisch, ehemaliger Hauptabteilungsleiter des DDR-Rundfunks, spricht nachträglich vom „Janusgesicht des DDR-Hörspiels“ und bezeichnet hiermit ein Spannungsfeld zwischen Propaganda und auf Unabhängigkeit drängender kritischer Kunst, in dem sich das Hörspiel der DDR bis zuletzt befunden haben mag. Im Bereich der internen Kontrolle waren dabei generell alle möglichen Grauzonen denkbar: Selbstanzeigen durch an künstlerischer Arbeit Beteiligte, übervorsichtige Selbstzensur, Zensur durch ‚normale‘ Rezipienten oder die überraschende ‚Rettung‘ einer Arbeit durch eigentlich linientreue Funktionäre. Unangefochten für jene, die kulturpolitisch theoretische Deutungshoheit beanspruchten, blieb jedoch, dass das affirmative oder optimistische Moment der künstlerischen Aussage gegenüber der ‚Dekadenz westlicher Ästhetik‘ oder seiner ‚formalen Leerheit‘ zu dominieren hatte, was auch von Rundfunkschaffenden vertreten wurde. Dieser ästhetische Gedanke galt oft als Diskussionsgrundlage im Hörspiel ebenso wie in der zeitgenössischen Konzertmusik. Sibylle Bolik betont, dass „der exponierte Standort, den das Hörspiel in der Rundfunkhierarchie einnahm, […] nicht zu verwechseln [sei] mit einem liberalen Schonraum […]“.10 Auch deshalb konnte es in der Spätphase der DDR sporadisch zu Schwierigkeiten für Komponisten bzw. ihre Arbeit im Bereich des Hörspiels kommen, wie etwa der Fall um das Hörspiel Die Grünstein-Variante von Wolfgang Kohlhaase (ausgezeichnet mit dem Prix Italia 1977) zeigte, bei dem Thilo Medek, Unterzeichner der Biermann-Petition, für die Komposition verantwortlich war: „In aller Stille wurde das Hörspiel neuproduziert, ein komponierender Redakteur zur Neukomposition beauftragt, denn man wollte zur Beteiligung am Prix Italia dieses Hörspiel mit einer artreinen Namensliste präsentieren […], obschon bei der Einreichung des Bandes nicht zu ahnen war, dass ich zum Zeitpunkt der Preisverleihung gar kein DDR-Bürger mehr sein würde.“11 Auch im letzten Jahrzehnt wurde noch offen oder subtil gegängelt. Dennoch hatte seit den 70er-Jahren unter den Künsten gerade die Musik relativ große Freiheiten gewonnen (sofern sie nicht 9 Vielleicht aber ist diese Zunahme auch – rein spekulativ – Kennzeichen dafür, dass manche Kunst verstärkt als eine Art Sehnsuchtsort für ‚Magie‘ und romantische Topoi fungierte: Die politische Wende wäre, so betrachtet, die Einlösung dieser Magie im Sinne einer (zunächst) gewaltfreien Verwandlung. Während in den Jahrzehnten zuvor Gesellschaftsutopien immer mehr versanken, die Religion bereits entmündigt worden war und den Eliten nicht mehr geglaubt wurde, setzten sich stellenweise biedermeierliche Privatheit, Fabel und Märchen an ihre Stelle sowie die vage Hoffnung auf zukünftiges Glück. Eine wachsende Hinwendung zu Fabeln und Märchen im Hörspiel, vielleicht auch im Film, wäre aus dieser Perspektive Ausdruck eine Ohnmacht gegenüber Facetten real gelebter Kultur, ja auch Ausflucht und Umgehung bzw. Abkehr von der Realität. Umgekehrt aber drückte sich womöglich zugleich ein Ungenügen in den Märchen aus, da der Realismus wiederum Einzug in sie hielt. Warum sind schließlich viele Märchenstoffe, sei es durch Filme oder Hörspiele, so erfolgreich und beliebt geworden? Warum existieren spätestens seit den 80er-Jahren zahlreiche Märchenadaptionen auch für Erwachsene? Nach der politischen Wende wurden diese nutzlos und hinterließen Leerstellen: An die Stelle des Märchens traten nun nicht selten radikale, totalitär gestimmte Ideologien oder schlicht Resignation. 10 Vgl. Sibylle Bolik, Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen, a .a. O., S. 173. 11 Zitiert nach ebd., S. 175.

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mit problematischem Text in Verbindung stand) und war der Literatur und Bildenden Kunst gegenüber im Vorteil. Ein Grund hierfür ist sicher am Medium Musik selbst festzumachen, da dieses sich nicht in so klarer Weise wie die Sprache in Wort und Bild decodieren lässt; dies hängt aber natürlich auch mit einer Unterschätzung der Möglichkeiten musikalischer Aussage oder Semantik seitens der Zensoren zusammen. Der Musik im Hörspiel, als häufig textgebundener Form, kommt dabei eine eigene Rolle zu, die sie zwischen ästhetischen und pragmatischen Fragen changieren ließ. Dabei haben bekannte wie renommierte Komponisten der DDR seit ihren Anfängen für das Hörspiel Musik komponiert oder musikalische Ideen als Hörspiel oder Radiokunst im weitesten Sinne umgesetzt. Seit den 70er-Jahren arbeiteten im Bereich der radiophonen Kunst unter anderem Reiner Bredemeyer, Siegfried Matthus, Wolfgang Schoor und später Steffen Schleiermacher, Bernd Wefelmeyer, Georg Katzer, Lutz Glandien, Friedrich Schenker oder Lothar Voigtländer. Zu den Arbeiten, an denen sie sich beteiligten, gehörten Hörspiele für Erwachsene ebenso wie solche für Kinder, konventionellere wie (selten) experimentellere oder, in der Anzahl sehr eingeschränkt und erst seit den späten 70er-Jahren, auch elektroakustisch orientierte Formen, wie sie vor allem in Georg Katzers und Lothar Voigtländers Arbeit eine Rolle spielten. Die Arbeit im Rundfunk wurde dabei von vielen Komponisten, die häufig aus dem akademischen Umfeld stammten, zunächst als ‚Technikschule‘ verstanden, in der sie eigene kompositorische Mittel auf begrenztem Raum (den das Hörspiel nun mal bot) erproben und ausloten konnten. Neben der Funktion als wesentlicher oder zusätzlicher Broterwerb erlaubten das Hörspiel wie auch der Film so die Möglichkeit einer handwerklichen Präzisierung, gewissermaßen als ‚Etüden‘: Man probierte sich im Hinblick auf die eigene kompositorische Arbeit für den Konzertsaal aus, indem man auf begrenztem Raum und sehr pointiert mit oft geringen Mitteln wirksame Musik entfalten musste. Aber schmälert dieser Zusammenhang den Wert der Kompositionen für das Hörspiel? Diese Frage würde nur positiv beantworten, wer davon ausginge, dass Werke, die dem Broterwerb oder einer anderen Kunstform dienen, auch zugleich schlecht gemachte Werke seien – eine Logik, die sich weder unmittelbar erschließt noch anhand der Beispiele belegen lässt und teilweise aus vorverurteilenden Vorstellungen der etablierten Unterscheidung von ‚angewandter‘ sowie ‚absoluter‘ Musik resultieren. Was für die Frage nach dem Verhältnis von Ideologie und Autonomie durchaus Berechtigung hat, ist für den Zusammenhang von funktionaler und autonomer Musik im Zweifelsfall kaum relevant oder zumindest wenig fruchtbar, denn die Qualität einer Arbeit wird nicht durch ihren vermeintlichen Nutzen entschieden. Einerseits begriffen viele Komponisten ihre Arbeit im Hörspiel somit durchaus als wichtig, sahen sie aber auch selten als prioritär an.12 In den vom Rundfunk produzierten eher typischen sogenannten ‚realistischen Problemhörspielen‘ oder Gegenwartshörspielen (die vor allem noch in den 50er- und 60er-Jahren dominierten) spielte Musik häufig eine untergeordnete oder gar keine Rolle, während in Bearbeitungen nach epischen Vorlagen oder Bühnenstücken sowie allegorisch orientierten 12 Einige Unterschiede in den Mitteln und Bedingungen der musikalischen Hörspielarbeit gab es dabei jedoch zwischen dem Rundfunk und jenen vom VEB Deutsche Schallplatten unter dem Label Litera produzierten Hörspielen, die leider an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden können.

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Hörspielen der musikalischen Arbeit insgesamt mehr Raum gegeben war. In ästhetischer Hinsicht dürfte bis in die 60er-Jahre vor allem die Beziehung zwischen der Bühnenmusik und dem Hörspiel besonders eng gewesen sein, da das Hörspiel damals im Suchen nach eigenen ästhetischen Maßstäben zwischen ‚sozialistisch-affirmativer‘ Ästhetik und autonomen Ansprüchen auch in der Theaterästhetik der Zeit Orientierung suchte. Auch später waren noch viele in diesem Bereich arbeitende Komponisten mit der Theaterpraxis und Schauspielmusik sehr vertraut, während sich zugleich eine ästhetische Öffnung vollzog. In Brockhaus‘ und Niemanns Buch las man Ende der 70er-Jahre hierzu, dass ab 1970 eine „[…] erneute Belebung des hörspielmusikalischen Schaffens“13 stattfand. Unter anderem wird dabei hervorgehoben, dass ab den 70er-Jahren zunehmend auch Formen populärer Musik Eingang in das Hörspiel fanden, woraus insgesamt – den Autoren gemäß – neue Möglichkeiten erwuchsen, unkonventionelle Ausdrucks- und Stilmittel fruchtbar zu machen.14 Nochmals wird hieran sichtbar, wie wohl gerade die Spannung zwischen ästhetischer Doktrin und künstlerischem Avantgardismus auf theoretischer Ebene maßgeblich zu einem Ringen um die Frage nach einer gültigen musikalischen Ästhetik wurde. Als Beleg für gelungene Werke nennt das Buch unter anderem Bernd Wefelmeyers Ich denke oft an Palomares von 1971, in dem dieser mit vorproduzierten elektronischen Klängen arbeitet, und als Beispiel für eine gelungene Montagetechnik Georg Katzers Ohne das ist keine Kunst von 1975, in dem der Komponist musikalisches Material aus dem Mozartschen Divertimento KV  563 mit elektronischen Mitteln verfremdete. Dabei verweisen die Autoren gerade auf ein Feld musikalischer Mittel, dem in der DDR über lange Zeiträume entweder gar keine oder eine völlig untergeordnete Rolle zukam: elektronische oder elektroakustische Musik. Während man in der Bundesrepublik schon seit Längerem nicht nur im Bereich der Avantgardekunst mit diesen Mitteln experimentierte und sich im Verbund mit Hörspiel und Klangkunst dabei völlig neue radiophone Formen herausbildeten (Stichwort ‚Neues Hörspiel‘), beschritt die DDR auf diesem Gebiet ihre Wege wesentlich später und deutlich zaghafter. Gründe hierfür waren wohl zunächst einerseits ideologische Vorbehalte, die in Richtung des Formalismusvorwurfs zielten, aber auch technische Bedingungen, insofern man von offizieller Seite versäumte, geeignete Bedingungen durch Geräte und Studioeinrichtungen zu schaffen. Erst seit Mitte der 70er-Jahre verbesserten sich hier die Möglichkeiten, zunächst fast nur im privaten Bereich und durch die Entschlossenheit einiger weniger Komponisten. Maßgeblich führend hierbei war neben Georg Katzer der Komponist Lothar Voigtländer, indem er etwa ab 1975 in Bratislava und Budapest Studien elektroakustischer Musik nachging und in internationalen Studios sowie auf Festivals in Bourges, Zürich oder Basel aktiv wurde. Gemeinsam mit Georg Katzer gründete Voigtländer 1984 die Gesellschaft für elektroakustische Musik und wurde ihr Vizepräsident. Die Initiative beider Komponisten erreichte, dass die DDR in die CIME (Confédération International de la Musique Electroacoustique) aufgenommen wurde. Auch die Werkstatttage elektroakustischer Musik in dem 1986 an der Akademie der Künste 13 Heinz Alfred Brockhaus u. Konrad Niemann (Hg.), Musikgeschichte in der Deutschen Demokratischen Republik. 1945–1976, a. a. O., S. 414. 14 Ebd., S. 414.

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der DDR gegründeten elektroakustischen Produktionsstudio wurden von Katzer und Voigtländer ins Leben gerufen. Auf dieser Basis konnten nun internationale Kontakte zu elektronischen Studios gepflegt und den Komponisten elektroakustischer Musik in der DDR Plattformen ermöglicht werden. Elektroakustische Musik nimmt in Voigtländers Schaffen spätestens seit Mitte der 70er-Jahre einen wichtigen Platz ein. So erarbeitete er sich im Bereich radiophoner Kunst unter Zuhilfenahme der Elektroakustik autonome musikalische Formen, etwa im Charakter von durchkomponierten Collagen, wie das 1985 entstandene Hörstück Maikäfer flieg. Aber auch im konventionellen sprachlich-narrativ orientierten Hörspiel hinterließ er musikalische Spuren. Auf diese Weise entstand unter seiner Mitwirkung 1981 mit einer Gesamtlänge von 85 Minuten in drei Teilen das Hörspiel Träume von Günter Eich.15 Günter Eichs ursprüngliches und erstgesendetes Originalhörspiel Träume ist ein Hörspielzyklus, der 1951 erstmals vom NWDR in der Bundesrepublik produziert wurde. Das episodenhafte Hörstück verbindet dabei fünf Albträume miteinander, die Resultat einer Welt sind, deren problematische Bedingungen wir Menschen schaffen und verantworten. In jedem der Träume tritt ein Durchschnittsmensch als Protagonist auf, dessen Albtraum zur Sprache kommt. Begleitet werden die Träume durch lyrische Passagen des Autors, der sich, angesichts der katastrophalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, gegen ein naives Träumen ausspricht und zur Wachsamkeit ermahnt. Entsprechend lauten seine Schlussworte: „[…] seid Sand, nicht Öl, im Getriebe der Welt“. Der Autor insistiert darauf, dass alles, was geschieht, je mit ‚uns‘ zu tun hat. Auch für die spätere DDR-Rundfunkproduktion diente der Originaltext von Eich als Vorlage, wurde aber leicht bearbeitet. Für die Regie zeichnete Peter Groeger verantwortlich, während Lothar Voigtländer die elektronisch erzeugten Klänge schuf. Der musikalische Anfang des Hörspiels soll an dieser Stelle kurz analytisch beschrieben und im Anschluss daran in Beziehung zur narrativ-sprachlichen Ebene gedeutet werden. Während die kurze Analyse also ‚trocken‘ den Versuch einer akustischen Beschreibung darstellt, folgen im zweiten Teil Interpretation und Deutung dieser Syntax.

Analyse Der Auftakt der Einleitung [00:00–03:03] setzt mit einem elektronisch erzeugten kurzen Ton ein, der sich ungefähr auf cis’’’ befindet. Sein Charakter ist hell und ähnelt ein wenig dem Klang einer sehr grell geratenen Celesta. Der Ton wird jeweils stereophon sehr schnell vom linken auf den rechten Kanal geführt, was den Eindruck einer leichten Vorschlagsnote oder eines sehr schnellen Doppelanschlags erzeugt. Nach einer kurzen Pause wird dieser Ton wiederholt. Im Anschluss findet eine Verdichtung statt, indem der Ton erst zweimal, dann dreimal in kurzen Abständen repetiert wird. Der vierte Anlauf dieser Wiederholungen mündet in einer tonal abfallenden Tonkaskade (bei 00:16). Diese kurze und tonal regellose Kaskade steigt nach ihrem schnellen Abfall in tiefere Tonbereiche 15 Günter Eich/Lothar Voigtländer: Träume (Hörspiel), Rundfunk der DDR, Berlin 1981. Hinweis: Zugänglich auf Anfrage im Deutschen Rundfunkarchiv Babelsberg (DRA).

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plötzlich wieder auf und verliert sich im pianissimo, während ab 00:17 andere Klangelemente hinzutreten: So hört man nun einen hohen, kurz liegenden und dann verhallenden Ton, der dem ersten hellen Celestaton ähnelt, aber durch seine längere Releasephase mehr an eine verfremdete, sehr hohe Panflöte erinnert. Dieser Klang umspielt vage die Töne e’’’, f ’’’, dis’’’ und a’’’. Bei 00:19 tritt eine Frauenstimme hinzu, die den Titel des Hörspiels Träume (einer ‚sphärisch-träumerischen‘ Stimmung entsprechend) gleichsam entrückt spricht und dies in der Folge dynamisch gesteigert und insgesamt fünfmal wiederholt. Dazu gesellen sich ab 00:23 tiefere Klänge, die deutlich aerophonen Charakter haben und – bildhaft ausgedrückt – vielleicht an aus der Ferne gehörte Nachklänge in unterirdischen Gewölben oder auch Wind denken lassen. Ungefähr lässt sich hier die Tonfolge d’, c’’ und h’ erahnen, zu der noch weitere tiefe Töne hinzutreten, die die bedrohlich-beklemmende Wirkung verstärken. Die fünfte Wiederholung des Titels Träume der Sprecherin bei 00:35 geschieht ‚trocken‘, also unter Wegfall aller musikalisch-akustischen Ereignisse und ebenfalls ohne den Hall in der Sprechstimme. Nach der ‚trockenen‘ Ankündigung von Hörspiel und Autor leitet ein schnelles fade in den Prolog der Einleitung ein. Die aerophonen Klänge steigern sich darin zunächst dynamisch zügig, während ein kurzer und leiser panflötenähnlicher Klang und wenig später prägnante, aber leicht und kurz gehaltene helle Töne (auch diese erinnern an Wassertropfen in einer Höhle) hinzutreten, die auf c’’ in Ganztönen bis zur großen Terz geführt werden. Hiernach (bei 00:54) verliert sich das Klangbild im pianissimo und eine männliche Sprechstimme tritt hinzu. Auf der sprachlich-narrativen Ebene beginnt nun der als Text nicht ganz unbekannte Prolog Günter Eichs Sand im Getriebe in einer gekürzten Fassung. Unter den Worten des Anfangs „Ich beneide alle die, die vergessen können, die beruhigt schlafen und keine Träume haben“ und den daran anschließenden Text über die alltägliche Zufriedenheit, die trügerische Güte des Schlafs und das damit verbundene gute Gewissen, erklingt weiterhin – nun etwas leiser – das sich langsam aber stetig wandelnde Klangbild, welches murmelnd und an- und abschwellend, vielleicht auch wie ein Rauschen des Windes (der im Text selbst erwähnt wird) die Sprecherstimme ruhig, aber auch bedrohlich begleitet. Ab 02:19 erfolgt eine Pause, bis der Sprecher erneut ‚trocken‘, also ohne akustisch-musikalische Begleitung, ansetzt und imperativisch ausruft: „Sieh, was es gibt! Gefängnis und Folterung, Blindheit und Lähmung […] den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint. […]“16 Nach den Worten „Und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die Bestürzung“ erklingt ein bis hier ungewohnter dissonanter, prägnanter und kurzer Klang, der in jeweils unterschiedlichen Tonhöhen zweimal – aufdringlich – zwischen den Sätzen des Sprechers ertönt, bis ihn (bei 03:03) ein hoher, wiederum ein der Celesta vergleichbarer zweimal erklingender Ton auf cis’’’ ablöst. An dieser Stelle leiten diese hohen Töne (dieselbe Tonhöhe wie am Anfang!) und eine Frauenstimme vom Prolog in den ersten Traum über, mit dem sich auch die musikalische Stimmung durch dumpfe wie langsame trommelartige Schläge verändert. Die Einleitung endet mit Eichs berühmten Worten: „Alles was geschieht, geht dich an!“ Sprache und akustisch-musikalischer Teil stehen hier in einem ästhetisch ausbalan16 Ebd., Min.: 02:19–02:37.

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cierten Verhältnis zueinander und bilden eine ausgewogene Text-Klang-Beziehung. Des Weiteren bestätigt der Höreindruck, dass Lothar Voigtländer immer wieder auf gleich zu Beginn erarbeitetes akustisches Material zurückgreift und es verfremdet und variiert. Musik und Text können dabei insgesamt sehr gut als Einheit wahrgenommen werden. Die Einleitung ließe sich folgendermaßen gliedern: Introduktion/Auftakt (= Überleitung I) – Prolog a – Prolog b – Prolog c (= Überleitung II). Das Stück beginnt ‚dünn‘ und verdichtet sich zunehmend mit den hohen Tönen und den hinzutretenden Klangflächen. Auch die weibliche Sprechstimme folgt diesem Prinzip der dynamischen und zeitlichen Verdichtung. Der Auftakt endet schlagartig mit der Titelankündigung des Hörspiels. Diese erste Periode endet bei 00:39 und kann als Auftakt des Intros gelten, das seinen Höhepunkt entsprechend in der Ankündigung findet. Die nächste Periode (Prolog a) beginnt dynamisch leise, schwillt aber schnell an und etabliert mit dem bekannten Material die musikalisch-akustische Grundstimmung des Prologs. Das musikalische Geschehen wird allerdings (bei 00:53) kurz abgeblendet und mit der einsetzenden männlichen Sprechstimme auf einem dynamisch reduzierten Niveau langsam wieder eingeblendet. Es bleibt von nun an konstant bestehen und verändert sich dynamisch wie klanglich immer wieder nur behutsam. Hierbei ergeben sich (wohl intendierte) Klang-Text-Beziehungen, etwa wenn der Sprecher sagt: „Und ich möchte den einen oder anderen Schläfer aufwecken können und ihm sagen ‚Es ist gut so!‘“; dabei wird die Klangfläche langsam crescendiert, bis sie auf dem Ausruf „Es ist gut so!” ihren Höhepunkt erreicht (bei 02:03). Eine weitere deutliche Untergliederung ergibt sich ab Minute 02:19, da hier wiederum ein Abschnitt folgt, in dem der Sprecher ‚trocken‘ zu hören ist (Prolog b). Der Text wird dabei besonders eindringlich vorgetragen. Erst ab Minute 02:50 treten wieder akustisch-musikalische Ereignisse hinzu, womit gleichzeitig die Überleitung vom Prolog in den ersten Traum (ca. ab 03:05) vollzogen wird (Prolog c). Ablauf und Gliederung werden insgesamt vor allem durch dynamische Veränderungen und Pausen erreicht. Zusätzlich ändert sich, etwa im Übergang vom Auftakt zum Prolog, auch akustisches Material.

Deutung Wie ist nun dieses akustisch-musikalische Geschehen zu Beginn des Hörspiels Träume zu deuten? Der Zuhörer wird mit den signalhaft hohen Tönen des Anfangs kurz in Spannung gehalten, bevor der ‚Absturz‘ geradewegs in die Welt der Albträume führt. Die Sprecherin deklamiert eindringlich, dass wir es nun mit Träumen, aber keineswegs angenehmen Träumen, zu tun haben werden, was durch die kühle Ankündigung des Hörspiels zusätzlich verstärkt wird. Der Rezipient wird nicht freundlich auf- und mitgenommen, sondern sogleich mit den noch im Dunkeln verborgenen Albträumen konfrontiert, sobald Voigtländers Klänge anschwellen (00:39) und eine Atmosphäre der Bedrohung etablieren. Was aber ist bedroht und wodurch wirkt es so bedrohlich? Im Text erfahren wir vom Glück des zufriedenen Schläfers, der sein ‚kleines‘ Leben führt und von den Albträumen, dem Schmerz der Erde, nichts zu ahnen scheint:

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„Ich beneide sie alle, die vergessen können, die sich beruhigt schlafen legen und keine Träume haben. Ich beneide mich selbst um die Augenblicke blinder Zufriedenheit: erreichtes Urlaubsziel, Nordseebad, Notre Dame, roter Burgunder im Glas und der Tag des Gehaltsempfangs. Im Grunde aber meine ich, dass auch das gute Gewissen nicht ausreicht, und ich zweifle an der Güte des Schlafes, in dem wir uns alle wiegen. Es gibt kein reines Glück mehr (– gab es das jemals? –), und ich möchte den einen oder andern Schläfer aufwecken können und ihm sagen, es ist gut so.“17

Das Hörspiel gibt seine Intention auf der Textebene im Prolog sogleich preis, denn es möchte den Schlafenden aufwecken und ihm die Verantwortung bewusst machen, sich mit dem Leid der Welt auseinanderzusetzen. Die Bedrohung rührt daher gleichermaßen sowohl aus der Gefahr, aufzuwachen und dem Unheil der Erde ins Antlitz blicken zu müssen, als auch dem Unheil selbst, das die Menschen zu einem großen Teil erzeugt haben und das sie bedroht. So artikulieren Voigtländers Klänge verdrängte oder vergessene Träume, die nun langsam wieder an die Oberfläche gelangen. Der kleine Schlaf ist insofern bedroht, als im Unbewussten etwas lauert, das noch seiner Bewältigung harrt. Die leisen hohen Töne erscheinen dabei wie Seufzer (Rufe aus der Ferne), die aus ihren dunklen Grotten aufzusteigen beginnen und uns nun langsam dämmern. Ein Schrei traf das Ohr, den die Erde unaufhörlich ausschreit, der aber kein Naturgeräusch ist, sondern der Schmerz der menschengemachten Erde: „Fuhrest auch du einmal aus den Armen der Liebe auf, weil ein Schrei dein Ohr traf, jener Schrei, den unaufhörlich die Erde ausschreit und den du sonst für das Geräusch des Regens halten magst oder für das Rauschen des Winds?“18

Der Angesprochene wird angesichts dieser heraufmurmelnden Bedrohung keinen Frieden mehr finden: Sein Schlaf ist ihm geraubt. Das erinnert ein wenig an Heideggers Ruf des Gewissens (hier allerdings auf einer nichtmetaphysischen Ebene), den wir in der Alltagswelt über-‚hören‘. Die elektroakustischen Klänge artikulieren entsprechend auch keine Naturgeräusche, sondern einen sich entfesselnden Schmerz, der keine natürliche Ursache hat, sondern vom Menschen erschaffen ist und sich nun in seinem kollektiven Unbewussten festgesetzt hat. Diese unterirdischen Welten (Sphären des unbewusst gewordenen Leids) müssen bewältigt und gefasst werden. Voigtländers Komposition verweist vielleicht darauf, denn seine undeutlichen fernen Klänge hallen nach, steigen auf und ebben wieder ab; wie ein permanenter Strom begleiten sie die Worte des Sprechers, der nur verstummt, wenn das Vergessen stark genug ist oder der Blick klar auf Diesseitiges gerichtet wird (bei 02:19; „Sieh, was es gibt“). Während der Sprechtext von jenem spricht, das wir vergessen wollen, lauert die Musik leise, albtraumhaft und widerlegt das gute Gewissen und den Frieden akustisch. Die Güte des Schlafes wird so musikalisch angezweifelt und die Bedrohung dieses Friedens drängt sich akustisch auf. Voigtländer komponiert hier Musik und Text gleichwertig, insofern sie gleichsam rhythmisch, dynamisch wie klanglich-musikalisch miteinander verwoben sind. Die elek17 Ebd., Min.: 00:53–02:04. 18 Ebd., Min.: 02:05–02:18.

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tronischen Klänge sind selbstsprechend oder bilden einen semantisch bedeutungsvollen akustischen Raum für den Prolog. Während die Sprachebene narrativ wie auch im sprecherischen Duktus sehr konventionell gestaltet ist, zeigt sich das musikalisch-akustische Geschehen für den Zeitraum der Entstehung in der DDR aber bereits deshalb als sehr innovativ, insofern seine Mittel elektroakustischer Klänge hier so hervorgehobenen Raum auch für die semantische Ebene erhalten. Das Hörspiel Träume erweist sich an vielen Stellen als künstlerische Einheit (eben von Text, Musik und Geräuschen) und verhält sich damit in bemerkenswerter Weise ästhetisch innovativ gegenüber einer Mehrheit von Hörspielproduktionen des DDR-Rundfunks. Dennoch ist es sehr lohnenswert, auch andere Arbeiten radiophoner Kunst der DDR wiederzuentdecken. Leider ist dies kein leichtes Unterfangen: Nur sehr wenige Hörspiele des Rundfunks wurden damals und heute veröffentlicht. Im Gegensatz zu einer Reihe von Kinderhörspielen aus der Produktion von Litera, die in jüngerer Zeit wieder auf CD vertrieben wurden, sind Hörspiele des Rundfunks fast ausschließlich im Deutschen Rundfunk Archiv Babelsberg auffindbar. So gilt auch hier, dass nicht nur die Qualität einer Arbeit oder Kunstgattung über ihren Fortbestand in der öffentlichen Wahrnehmung entscheidet, sondern oft auch – rein technisch – das bloße Medium. Abschließend möchte ich daher noch eine Frage aufwerfen: Ist es denkbar, dass die bildende Kunst der DDR nach der Wende günstigere Bedingungen vorfand, weil ihr Medium, etwa Leinwand, Papier oder Granit, zeitloseren Bestand hat als auf Schallplatten und Tonbänder gebannte Kunst?

Ekkehard Klemm

„…unter unserm Gesang, der mehr davon weiß als wir, der sein wird unser Gesetz…“ – Reflexionen aus Anlass der bevorstehenden Uraufführung – anstelle einer Einführung

I „...es kommt der Tag, da wir dich kennen werden...“ Es gehört zu den spannendsten und schönsten Aufgaben, Werke von Komponisten uraufzuführen – ‚aus der Taufe zu heben‘, wie es so sinnig heißt und welche Formulierung so viele Deutungsmöglichkeiten zulässt… Besonders aufregend ist diese Tätigkeit, wenn es sich um Stücke handelt, deren inhaltliche Dimension bedingt durch Größe oder Länge bereits vorher klar ist und die im Œuvre des Komponisten zweifellos eine bedeutende Rolle einnehmen werden. Es bleibt ebenso das Privileg wie die ungeheure Verantwortung von Dirigenten, die erste Interpretation – das Wort kommt von ‚dazwischenschieben‘ – musizieren zu dürfen. Stets bedeutet diese Lust und Last, auf Entdeckungsreise zu gehen; Hochgefühl und tiefe Verzweiflung wechseln einander schockartig ab; dicht nacheinander können Vorfreude, Enthusiasmus, Ergriffenheit, aber auch Ärger über Notationsprobleme, Druck- oder Schreibfehler, über Verstehensprobleme dem Gegenstand gegenüber oder schlicht über einen ungenügenden Probenstand stehen. Spät erst schält sich ein Gesamtbild heraus. Das wohlfeile Urteil der Kritik – Top oder Flop – oft nach einmaligem Hören gefällt; es erscheint dem bis dahin überdies mit Betriebsblindheit gesegneten Interpreten nur wenige Stunden vorher. Es gibt Stücke, wie Tarnopolskis Wenn die Zeit über die Ufer tritt (UA München 1999), die sind drei Wochen vor dem Termin noch nicht fertig (ein ganzer Akt fehlte noch, es drohte das Chaos) – alles ist in Bewegung, völliges Scheitern nicht ausgeschlossen; solche wie Terterians Das Beben (UA München 2003), die über 20  Jahre auf ihre ‚Taufe‘ warten müssen und deren sensationeller Erfolg vielleicht einzig dem schon längst verstorbenen Komponisten klar war (noch zur Hauptprobe bat ich den Intendanten um Vergebung, das Stück empfohlen zu haben); solche wie Krätzschmars Schlüsseloper (UA Dresden 2006), deren Üppigkeit und schiere Länge einen zur Verzweiflung treiben, solche wie Weiss’ Confessio Saxonica (UA Dresden 2006) oder Herchets Kantate zum Fest Jacobus des Älteren (UA Dresden 2007), deren große Klarheit und strukturelle Dichte sofort für sich einnehmen. Ein Sonderfall ist das eigene Stück 3 in 1 (UA Dresden 2006) – hier dominiert der schwankende Boden unter den Füßen… Das für Lothar Voigtländer reservierte Blatt in der Liste der von mir dirigierten Uraufführungen trägt stark vegetative Züge, ist beschrieben mit grellen Farben ebenso wie mit pastellenen Tönen. Es gibt sehr dunkle darunter, schwarze Löcher, die alles zu verschlingen drohen, und auch mit kantigen Materialien hervortretende Rauheiten. Was ich als Dirigent nie vorhersehen kann, sind die Reaktionen der Ausführenden und des Publikums:

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Große Emotionalität habe ich sich in Nichts auflösen sehen, und abgesicherte Strukturen können umgekehrt nicht für kraftvollen Ausdruck bürgen. Es bleibt das Geheimnis jedes Werkes und das seiner Schöpfer, warum es existiert und wie es uns anspricht. Als Interpreten haben wir die Pflicht, diese Geheimnisse zu suchen – eine Garantie, sie zu finden, gibt es nicht. Aber der Verzicht auf das Suchen bedeutete den Tod der Musikgeschichte. Krisen, Unwägbares gehören zum Normalfall von Uraufführungen, sind das kreative Potenzial, das zu bewältigen zu tieferem Verständnis, zur überzeugenden Kraft einer Aufführung gerinnen kann. Die Möglichkeit des Scheiterns lauert auf dem weißen Blatt Papier wie im Konzert der Uraufführung. Weiterleben heißt immer: Neues wagen – der Tod der Kunst wäre die Kapitulation vor dem Ungewohnten, Unerhörten. „Erde, es kommt der Tag, da wir dich kennen werden, da wir eintreten dürfen uns dir zu vermählen, schauernd zu sehn, wie sich öffnen für uns Arten von Türen, Arten von Mauern, unter unserm Gesang, der mehr davon weiß als wir, der sein wird unser Gesetz.“ Unser Gesang weiß mehr als wir von der Erde, vom Tod… – und er wird sein unser Gesetz! Schöner als Eugène Guillevic und sein Übersetzer Paul Wiens kann man das kaum treffen.

II „Weil es ein Ende gibt für diese Tage vor dir“ Wie heißt es bei Brahms? „Siehe, meine Tage sind einer Hand breit vor dir…“. Zwei wichtige Spannungslinien bilden den Humus, aus dem das neue Oratorium wuchs. Eine davon ist Voigtländers tiefe Verwurzelung und Verbundenheit mit der großen Chortradition, seine Nähe zum Gesang. Kreuzchor, Rudolf Mauersberger, Schütz, Bach, Brahms waren die Eckdaten des beginnenden Künstlerlebens, das über die Kapellmeisterlaufbahn bald ins Komponieren, ins eigene schöpferische Tun fand und sowohl vor als auch nach 1989 wichtige Akzente der zeitgenössischen deutschen Musik beifügte. Innerhalb dieses bedeutsamen Weges stößt Voigtländer 1975 auf einen Gedichtband von Eugène Guillevic (der seinen Namen nach Voigtländers Erzählung mit einem deutlichen Anklang an ein nicht so stubenreines deutsches Wort ausgesprochen haben wollte). Guillevic war „,befreundet mit Louis Aragon, von Éluard sichtbar gebrannt… vielleicht (in) Beziehung zu Mallarmé zu setzen... Namenloses, Unerhörtes, Ungeheures zur Sprache zu bringen. […]‘ – so charakterisiert Paul Wiens ihn, einer seiner deutschen Übersetzer. Guillevic selbst übersetzte Hölderlin und Trakl. ,Nichts von den Symbolisten, nichts von den Surrealisten. Bei Guillevics Art zu beten werden die Hände schmutzig: er arbeitet.‘ ,Steine, Felsen, das Meer, die Stille, die Zeit, die Menschen in der Zeit – und immer wieder: die Menschen – sie sind der Gegenstand seiner poetisch-philosophischen Untersuchungen. Er sucht ‚das Geheimnis der Dinge‘ in den Dingen, hinter Dingen‘“ – so der Komponist Voigtländer. Und weiter: „Ängstlich (als junger Mann) trat ich (etwa 1978) seinerzeit Guillevic, dem großen alten Mann der französischen Poesie gegenüber, ob er mir eine solch freie, ja fast gewalttätige künstlerische Einmischung in sein Leben erlauben werde. Erst verwundert über solche Kühnheiten der dramaturgischen

Reflexionen aus Anlass der bevorstehenden Uraufführung

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Zuordnungen seiner Worte, gab er mir dann später in einem Brief die schriftliche und unumwundene Einzel-Erlaubnis, dass ich seine Worte, seinen Geist handhaben dürfe. Er hatte unendliches Vertrauen, da er meinte, dass ich seine Philosophie, sein Innerstes verstanden habe… auf eine sehr deutsche Weise, wie er schmunzelnd anfügte… er nannte mich ‚seinen deutschen Komponisten‘ … Daraus folgt, dass ich die Texte (besser: die Worte) also nicht ‚vertonte‘, vielmehr komponierte ich die Philosophie, den darinnen wohnenden Geist.“

Guillevic wird für Voigtländer zur Obsession, die Texte nennt er seine ‚philosophische Bibel‘. Diese Erinnerungen des Komponisten beziehen sich zunächst auf ältere Werke, auf die Meditations sur le temps von 1975, auf Hommage à un poète von 1985 oder De savoir la menace aus dem Jahr 1987. All diese Werke sind gewissermaßen Vorstufen für die großen Auseinandersetzungen, die im neuen Oratorium kulminieren: 1990 entsteht das Kammeroratorium Le temps en cause, schließlich 2001/02 das KammerSzenario Visages für Sopran, Sprecher, neun Instrumente und elektroakustische Zuspielbänder. Beiden Werken ist gemeinsam, dass sie von keiner Handlung getragen sind. Brigitte Kruse notiert in der Einführung zur CD des KammerSzenarios: „Der Gegensatz könnte größer nicht sein: der Lyriker, der in äußerster Reduktion jedes Wort wie einen wertvollen Diamanten von jeder Seite betrachtet, und der Komponist, der für das Theater, multimedial und in großen expressiven Bögen denkt. Lothar Voigtländer macht die Texte ‚bühnentauglich‘, indem er Worte, Verse und ganze Strophen aus den Gedichten nimmt, zerhackt und neu montiert.“

2006 legt Voigtländer mir die Partitur des Kammeroratoriums auf den Schreibtisch, ein Stück, das bereits in Paris und Liverpool erklungen ist. Er will wissen, was ich davon hielte, es zu einem großen Oratorium zu erweitern. Wer soll da widersprechen? Wer wagte es, den leidenschaftlichen Blicken eines längst von der Idee entzündeten Komponisten ein ‚nein, vergiss es‘ entgegenzuhalten? Das kann man bei allen Fragen und bevorstehenden Schwierigkeiten nicht ernsthaft wollen. Ich ermutige und stelle die Uraufführung in Aussicht. Was folgt, ist eine groß angelegte Erweiterung, Umarbeitung, Einarbeitung, Neubearbeitung – letztlich eine völlige Neuschöpfung. Die Chorteile sind teilweise dem Kammeroratorium von 1990 entnommen, jedoch völlig neu gefasst unter Verzicht auf die damalige Aufteilung auf 16 Vokal- und Instrumentalsoli. Nunmehr gibt es 4 Gesangssoli, kleinen Chor, großen Chor und Orchester. Völlig neu sind die eingefügten Abschnitte der Soli, lediglich Teil VI (Steine) – das Solo des Soprans – ist in Visages vorgeprägt. Hier nun begegnen sich die beiden Spannungslinien: die vom klassischen Oratorium bekannte Gegenüberstellung Chor – Arie wird dem für Guillevics Texte vom Komponisten gefundenen Kompositionsprinzip der Textcollage unterworfen. Heraus kommt ein Werk, dessen Textbehandlung in der Oratoriengeschichte der jüngeren Zeit mit Werken wie den Trois Poèmes d’Henri Michaux von Lutosławski (pikanterweise auch nach französischen Texten!) vergleichbar ist. Der Musikwissenschaftler Matthias Hermann schreibt: „Die dem Oratorium MenschenZeit zu Grunde gelegten Texte von Eugène Guillevic sind von seltener Tiefe und Schönheit. Ihr Grad der Verallgemeinerung ist für die Gattung Oratorium ein Ge-

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Ekkehard Klemm winn, dominierte doch mitunter bei oratorischen Werken vor allem des 20. Jahrhunderts zu sehr das Konkrete.“

Voigtländer verzichtet auf theologische Implikationen – sein Nachdenken über den Menschen und seine Zeit wurzelt in der verinnerlichten oratorischen Tradition, findet jedoch mit Guillevic einen Weg, der den lieben Gott zunächst nicht beim Namen nennt: „Es erscheint künstlerisch legitim, dass ich dies mit meinem eigenen Wissen, Glauben, Zweifel anreicherte, in musikalische Semantik setzte, was ich über Dinge, Menschen etc. empfinde, denke. Ich hoffe, dass Guillevic dies auch in dieser im Oratorium so text-exegetischen Weise mit getragen hätte, wie er das zu Lebzeiten mir auszudeuten gestattete.“

Und dann doch der Bezug zu den geistlich geprägten Vorfahren: „…das umschreiben, was uns hier auf Erden bewegt, zusammenhält, umbringt, – das schien mir geradezu biblisch geeignet für ein Oratorium (Requiem)… Was bei Guillevic atheistische Suche nach dem Geist in den Dingen, ja, im Menschen ist, das wird bei mir ergänzt durch religiöse, pantheistische, dramatisch zugespitzte und ins Verzagen (auch Ironie) geführte musikalische Diktionen. Den (fast unheimlichen) Glauben an den Menschen eines Guillevic respektiere ich, frage aber sehr aggressiv nach und verhöhne durchaus gnadenlos.“1

III „Aber der Augenblick dehnt sich, der Tiefe hat“ Zu Voigtländers Wissen, Glauben, Zweifel gehört zweifelsohne die Auseinandersetzung mit dem Thema DDR und Deutschland. Der Blick des jungen Komponisten aus dem ostdeutschen Berlin ins damals sehr ferne Paris mag von großer Sehnsucht getragen gewesen sein. Nicht zufällig bricht sich die bis dahin bedeutendste Auseinandersetzung mit Guillevic in Le temps en cause 1990 Bahn, einer Zeit, in der Aufführungen in Paris, Liverpool, Manchester, diesseits wie jenseits der Mauer aus Stein und Erde möglich wurden. Voigtländer, mit seinem Engagement innerhalb der Internationalen Gesellschaft für elektroakustische Musik auch über die Grenzen bekannt, wachsen nach der Wende wichtige Aufgaben zu. Federführend und als Vorsitzender ist er bei der Fusion der Komponistenverbände Berlin Ost und West dabei. Im Werkausschuss der GEMA ist er Stellvertretender Vorsitzender. Voigtländer mischt sich ein, moderiert, inspiriert, leitet Kurse, Musikfeste, Studios, Konzertreihen. Kein zurückgezogen meditierender Tondichter – obwohl, auch das! … und ist also wie wir alle nicht vor den Eruptionen der Gefühle gefeit: „Eins zwei drei – bei Nacht den König umgebracht“ – ein Echo des Herbstes 1989? Voigtländer hierzu: „Ein kreuzige, kreuzige ihn – Pöbel-Chor!“ Bereits im Kammeroratorium von 1990 sind die Zeilen und die dazugehörige Musik zu finden. Brutal hämmernd, gerufen statt gesprochen – geradezu lustvoll wird der König gestürzt, „Eins zwei drei – wie bald ist der König kalt“; mit diabolischer Freude wird das Wörtchen „froid“ wiederholt. 1 Voigtländer in einem Brief an den Autor.

Reflexionen aus Anlass der bevorstehenden Uraufführung

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Und alles steht unter der Überschrift Die Spiele – nicht die Spiele. Mehr noch als im Kammeroratorium von 1990 wird im neuen Werk von 2007 die geheimnisvoll seltsame Gegenüberstellung des Wortspiels thematisiert, die Brechung zum entscheidenden Stilmittel. Der brutal zuschlagenden Musik des „Un deux trois“ antwortet nach dem zweiten Erklingen das fragile „palotte fleur“, dem französischen Original ist durch das ganze Stück hindurch der auch in Wiens Übersetzung literarisch gleichermaßen wundervolle deutsche Text gegenübergestellt – die gesamte Komposition damit bilingual strukturiert. Die dem KammerSzenario entlehnte Arie des Soprans (Teil  VI) folgt der nackten Gewalt von Teil V, danach fügt der Komponist nunmehr ein Da capo ein (Beginn von Teil  VII), Teil  V, VI und VII verschmelzen somit zur groß angelegten ABA-Form mit Coda („Palotte fleur…“, der Schluss des Teiles VII). Was 1990 in kleineren Dimensionen angelegt war, wird nun zum dramaturgischen Kern, zum Kraftzentrum und Mittelpunkt des Oratoriums. Hierhin führen alle Gedankenlinien, von hier aus werden sie wieder neu geordnet und zusammengesetzt. Der Stimme der Gewalt antworten Guillevic/Voigtländer vieldeutig: „Blässliche Blume, was davon bleibt. Der Wind, der Regen, an Rücksicht so wenig.“ – Text und Musik brechen auch hier die Exzesse rhythmischer wie dynamischer Kraftentfaltung mit Zartheit und klanglichem Raffinement. Der möglicherweise unmittelbare Bezug zum politischen Geschehen der Zeit im Werk von 1990 gerinnt im größer angelegten Stück von 2007 zur philosophisch weiter gefassten Auseinandersetzung. Ist sie abgeklärter? Milder? Ganz im Gegenteil. Entfesselter noch sind die Geräusche, Rufe, Schreie, das Poltern von Schlägen und Steinen. Kein Zurückziehen eines nun 17 Jahre älteren Autors. Urwüchsig wie eh prallen Rauheit und Sensibilität aufeinander. Und doch überwiegen danach ganz andere Gedanken, die folgenden musikalischen Teile erfahren eine deutliche Erweiterung.

IV „Va, fleur avance“ Von großer Klarheit, Übersicht und Ökonomie ist die Form des Oratoriums. Erscheint das Werk von 1990 noch vegetativ brodelnd, ungeduldig – es scheint dem entscheidenden Satz „Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit“ in seinem zügigen Vorangehen beinahe zu misstrauen! –, nimmt sich der Komponist zur Ausformulierung seiner Ideen nun deutlich mehr Zeit. Das Werk ist gegliedert in 12 Teile, Teil XII beginnt mit Reminiszenzen an Teil I und rundet somit eine Bogenform, in deren Mitte die bereits erwähnten Teile V bis VII stehen. Voigtländer hat entlang der Verse Guillevics den Teilen Überschriften gegeben, Schlagworte, von denen die Texte erzählen: Zeit, Tod, Menschen, Dauer, Spiele, Steine, Erde, Feuer… Teil I–III bilden eine Art Exposition: zwei groß angelegte Chöre umrahmen das Solo des Baritons „de la mort“, der in Teil III mit dem Chor verwoben ist. Vom Ton H aus entwickeln sich Impulse, Schwingungen, Klangflächen, Harmonien, Improvisationen der Instrumente, stammelnde Worte oder Ausrufe der Soli und des Chores. Teil  IV sinniert und spottet über die Träume. Die Ironie des Tenorsolos, geräuschvoller Klänge und extremer Posaunensoli mündet crescendierend in den Fanatismus des

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Teiles V. In Teil VI sind den Eskapaden, Schreien und aberwitzigen Sprüngen der Sopranistin perkussive Elemente zugeordnet, die das ‚Zuschlagen‘ symbolisieren. Erst bei den Worten „Es ist nicht ohne Grund, dass wir gezittert haben“ findet die Musik zu neuer Ruhe, die von der Reprise „Un deux trois…“ (Teil VII – da capo von Teil V) wieder zerbrochen wird. Mit den Worten „Palotte fleur“ des kleinen Chores beginnt die Coda des Mittelabschnittes, damit rundet sich der zweite große Entwicklungsbogen. Den dritten bilden die Teile VIII–X, beginnend mit dem Alt-Solo, weitergeführt mit dem bis zur Zwölfstimmigkeit aufgefächerten Chor („Le feu – pas le feux“) und der erneuten Verquickung von Solo und Chor in Teil X, dessen Ende sich weitet in den Choral „Va fleur avance“ (Teil  XI): Mehrschichtig sind Soli (vierstimmig), kleiner und großer Chor übereinander montiert und bilden den meditativen Höhepunkt des Werkes. Teil XII knüpft an den Beginn des Oratoriums an, retardiert nochmals, führt weiter und zu Ende. Unisono-Linien des Chores und gar ein opulent scheinendes D-Dur beenden das Werk, in dessen Finale gleichwohl Geräusche, Dissonanzen, grelles Blech und donnerndes Schlagwerk gemischt sind – ein ‚schmutziger, dreckiger Kitsch‘, den Voigtländer hier inszeniert und die Szenerie durch Überhöhung wieder kippen lässt. Den einzelnen Teilen sind Tonzentren zugeordnet, die in aufsteigenden Terzen von h über d (Teil III), f (Teil V), gis (Teil VIII) wieder zurück zu h führen (Teil XII). Der übergreifenden Struktur indes haftet nichts Schematisches an: Der Choral des Teiles XI beispielsweise erklingt völlig überraschend in g-Moll, dem in Teil IV noch andauernden Tonzentrum d wird – vorgreifend auf Teil VIII – bereits der Tritonus gis zugesellt usw. Ausgesprochen farbig und vielgestaltig sind Chorführung, Behandlung der Soli und namentlich die Instrumentation. Das keinesfalls große Orchester reizt alle Möglichkeiten der Klangerzeugung, rhythmisch fest gefügter wie aleatorischer Strukturen voll aus: Hier schreibt ein Komponist auf der Höhe seiner Kraft, seines Könnens mit Souveränität und großer Meisterschaft – so viel kann bereits jetzt klar und deutlich gesagt und erkannt werden. „Die Zeit ist da – auf halbem Weg…“ – nein, möchte ich entgegnen: Voigtländer ist mit seinem neuen Stück den ganzen Weg einer langen, wunderbaren, sicher auch quälenden Auseinandersetzung mit dem Werk Guillevics gegangen. Die Partitur lässt eine Musik erwarten, die in uns nicht schnell verstummen wird. Avance!

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Leidenschaftliche Bekenntnisse – Erlebnisse mit Musik von Lothar Voigtländer Voigtländers Musik will alles auf einmal, eruptiv, kompromisslos, grandios in der Erstwirkung und für nicht weniger als für die ganze Welt. Und das mit szenischer Kammermusik. Mit wenigen Mitwirkenden? – Ja, aber multimedial mit Poesie, Malerei, Stahlskulpturen, Video, Dia-Projektionen, Feuerwerk und Tanz – immer wieder Bewegung im Tanz. Im kammermusikalischen Klangbild? – Ja, aber raumfüllend elektroakustisch gedacht, komponiert und ausgeführt. In der Kammer? – Ja, aber den Raum sprengend. Auf kleiner Bühne? – Der Raum ist Bühne. Alle spielen mit. Also instrumentales Theater? Nicht ganz, szenische Kammermusik entwickelte sich im Osten Deutschlands aus dem kompositorisch-musikalischen Kontext heraus. Musik wird szenisch geboten, in der Natur, im Kammerszenario, im Raum. Voigtländers expressive Tonsprache bevorzugt den direkten, dramatischen Zugriff auf eine durch Außermusikalisches vorgegebene Aussage. Tabulos nutzt er genreüberschreitende Formen der Performance, Raum-Klang-Installation und die Mittel der Bühne, immer jedoch im Detail klanglich-strukturell und dramaturgisch stringent entwickelt aus rhythmischen, harmonischen, melodischen Keimzellen oder Klanggesten. Dabei verlangt er den Darstellern hohe Virtuosität ab. Das Gestisch-Ganzkörperliche der Interpretation ist bereits in der ‚Klangskulptur‘ angelegt. Raum und Zeit bilden wesentliche Parameter der Komposition. Voigtländers elektroakustische Klangvorstellungen führen über die Möglichkeiten des Instrumentariums und der Stimme hinaus, was im Ergebnis fließende Übergänge von Klang und Geräusch, Klangassimilation von Live-Klängen und elektroakustischem Material entstehen lässt und den Klangsinn des traditionserfahrenen, aber auf aktuellem Materialstand arbeitenden Musikers offenbart. Originalität fernab des Spektakulären zeichnet die so entstehenden Kompositionen aus.

1. Feuerklang Voici – Feuerklang erlebte seine Uraufführung an einem kühlen Sommerabend 1995 am Rheinsberger Grienericksee, mit teelichtartig umleuchteter Sängerin unter den Schlosskolonnaden, zwei Schlagzeugbatterien am Seeufer, mit einem aus der Seemitte heraus improvisierenden Kontrabassisten und über allem Live-Elektronik und ein mitkomponiertes Kunstfeuerwerk. Zum Einstieg ins Szenario rütteln die beiden Schlagzeuger – in virtuosem Wettbewerb und sich bis zum Fortissimo steigernd – auch das letzte Vögelchen in der Abendluft wach. Eine ‚Klangglocke‘ – drei Minuten Vibraphon- und Glockenschläge – umrundet zeitlich verzögert den See. Alles ist Illusion. Dazwischen Lastwagen-

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geräusche, Desillusionierung. Stimmakrobatisch bringt sich die Sängerin ein, mit Vokalisen, vogelähnlich, aus Natur wird Kunstgeschehen. Voici hat ein festes zeitliches Gerüst, Raumkomposition mit Stauchung und Raffung von Mikro- und Makrostrukturen, wirkt aber wie gerade erdacht, wie improvisiert. Vielleicht liegt in dieser Authentizität das Geheimnis der spontanen Wirkung von Voigtländers Musik – in Lautäußerungen, im Körperklang. Voigtländer nennt Voici ein Ritual, ein Mysterienspiel: 1. Der Einstieg ins Szenario/Imagination 2. Das Zeitpendel/Historia 3. Die Beschwörung/Das Ritual 4. Die Vision/Die Erscheinung 5. Der Konflikt/Die Gewalt 6. Der Ausstieg aus dem Szenario/Veratmen. Das Gesamtkunstwerk plant Lichtstimmungen, die jahreszeitlich und je nach Mondlicht programmiert werden müssen, ebenso wie Feuerwerkseffekte, die nur bedingt planbar sind. Immer wieder treffen Planbares und nicht Planbares aufeinander – ist ein Zeitpendel aus Billardkugeln planbar? Wie wird ein Kind den lateinischen Text lesen, ohne die Sprache zu verstehen? Wird der Wechsel zwischen Schlagzeug am See und Improvisation aus der Mitte des Sees heraus funktionieren? Werden die Dauern stimmen? Ist das Duell der beiden Schlagzeuger im Teil Der Konflikt tatsächlich absehbar, wenn sie gegeneinander hart auf Lücke spielen sollen? Lebt das ganze Stück nicht viel mehr von spontaner Ausdruckskraft, von Leidenschaft aus der Entwicklung heraus, von der Lust am Miteinandermusizieren? Dazu braucht es einen Anlass, eine Geschichte. „Je unglaubhafter und ein wenig verworren eine Legende daherkommt, nahe verwandt der Sage, desto besser eignet sie sich zur Mystifizierung: Wir brauchen sie nicht auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen, es ist einfach schön, ein wenig mit einem Lächeln daran zu glauben und uns auf das Märchen der vergangenen hundert Jahre einzulassen. Wäre es nicht schön, wenn Romulus, der Begründer und erste König Roms, seinen Zwillingsbruder Remus (beide gemeinsam von einer Wölfin gesäugt) nicht erschlagen hätte – und Remus aus Rom hätte fliehen können, auf eben unsere Remus Insel, wenn dort sein Grab wäre und folglich Rheinsberg eigentlich ‚Remsberge-Monte Remi‘ hieße? Um 1600 behauptet dies jedenfalls der Rostocker Prof. Eilhardt Lubin – heftig der Sage und Erfindung bezichtigt, aber eben bis in unsere Tage hinein in den Geschichtsbüchern benannt… Lassen wir uns also ein des Lateinischen unkundiges Kind den Marmorstein mit der Inschrift finden ‚Sepulcrum Remi, Fratris Romuli…‘ – dem Andenken Remus‘, des Bruders von Romulus… ‚est ergo oppidum montis Remi situm in Marchia Electoratus Brandenburgiensis… qua et ipsa Romanorum Colonia…‘ – auf dem Boden der Mark Brandenburg gelegen… Römische Kolonie [...].“ „Lassen wir es uns also nicht so genau nehmen, mit der Geschichte, denken wir an keine ‚Oper‘, denken wir an ein ‚Spectaculum‘, welches wir mit kindlichem Geist und barockem Kunstgenuss in Klang-Licht-Szene gesetzt wissen möchten, ein wenig Selbstironie und Betrug eingeschlossen, und

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schauen wir unseren ‚Kammermusikern‘ zu, wie sie aus Textfragmenten, elektronisch geschichteten Klang- und Geräuschfloskeln aus dem künstlich den See umrundenden Autoverkehr ins Jenseitige hinabsteigen und uns eine hoffentlich nicht so genau verifizierbare ‚Saga‘ herauf beschwören, die einzig und allein der Imagination eines fiktiven kompositorischen Gebäudes und dessen Dramaturgie gehorcht – und folglich wiederum über die konkret erlogene Geschichte hinausgeht und im Klanggeschehen abstrahiert… ein ‚anderer‘ Sommernachtstraum…“1

Voici – Feuerklang für Sopran, Stimme, Kontrabass und zwei Schlagwerker, Zuspielband und Live-Elektronik, Licht und Feuerwerk wurde am 2. Juni 1995 im Gartenparterre des Rheinsberger Schlosses zwischen Schloss und Grienericksee uraufgeführt. Die Sopranpartie sang Susanne Pfitschler, den Kontrabass spielte Matthias Bauer, das Schlagwerk spielten Hermann Naehring und Albrecht Riermeier, die Kinderstimme war Richard Voigtländer. Die Tonbandrealisation erfolgte im Institut International de Musique Electroacoustique de Bourges (Frankreich) und im Studio des Komponisten (Berlin). Für die tontechnische und live-elektronische Realisation sorgten Georg Morawietz (Berlin) und Eckhard Rödger (Leipzig). Das pyrotechnische Szenario entwarf und realisierte Josef Weidner von Art of Fire, für die vier Bühnen und Licht sorgten Oliver Nehring und Rolf Herold vom Weiten Theater Berlin.

2. Lichtklang „Die Griechen glaubten, die Sonne auf ihrer Fahrt über den Himmel riebe sich an ihrer Bahn und erzeuge so einen Ton, der unaufhörlich und ewig gleich bleibend und deshalb für unser Ohr nicht vernehmbar sei. Wie viele solcher Laute leben um uns?“, fragt Günter Eich in Träume.2 Lichtklang II von Voigtländer nimmt Bezug auf das Buch Die Oktave – das Urgesetz der Harmonie von Hans Cousto: Die der Laserstrahlung zugrunde liegende Frequenz H (der ‚Sonnenton‘) bildet den Orgelpunkt, G steht für die Frequenz eines Erdentages, Gis für die Frequenz der Mondschwingung, Cis als Erdenton für die Frequenz eines Umlaufs der Erde um die Sonne. Dieser Vierklang erfährt unmerkliche Modulationen, wird übereinander geschichtet und auf alle zwölf Töne erweitert, auf einen Kosmos des Tonsystems. Der Prozess schreitet sehr langsam voran, sodass den Formanten besondere Bedeutung zukommt, ein Gleiten durch Wolken, Nebel, Regen. Die Frequenzen des Tonraums finden eine Entsprechung in der Wellenlänge des Lichts: Lichtklang I und seine Überarbeitung Lichtklang  II entstanden als architekturgebundene Klang-Installation zu dem Projekt Wahrzeichen Reichstag des Laserkünstlers Wolfgang Heinrich Fischer. 1999 wollte Fischer – parallel zum Einzug des Deutschen Bundestages in das alte und mit Kuppel neue Berliner Reichstagsgebäude – ein Zeichen setzen: für neue zukunftsorientierte Leichtigkeit im Umgang mit historisch-politischen Erinnerungs- und Gestaltungs1 Lothar Voigtländer, Programmheft zur Uraufführung, Musikakademie Rheinsberg 2.6.1995, und in: Jeder nach seiner Fasson – Musikalische Neuansätze heute, hg. v. Ulrike Liedtke unter Mitarbeit von Claudia Schurz, Saarbrücken 1997, S. 204. 2 Günter Eich, Träume, Berlin 1953.

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räumen.3 Eine Pyramide aus grünem Laserlicht steht auf dem Reichstagsgebäude, ihre vier Strahlen reichen nach oben tief in den Abendhimmel, begleitet durch musikalische Klang-Installationen von Wilhelm Dieter Siebert, Lothar Voigtländer und György Ligeti. Farbton und chromatische Skala, Lichtwellen und Tonschwingungen, Synästhesie, Naturharmonie, der Mikrokosmos als Spiegel des Makrokosmos. Ganz klar, dass solch ein Riesenthema im Zusammenhang mit einem politischen Anliegen Voigtländers Phantasie begeistern musste. Das Projekt, engagiert vom Förderverein Wahrzeichen Reichstag e. V. gefördert, wurde bisher nicht umgesetzt.

3. Orgel-Raum-Klang Lothar Voigtländer steht im Schlosstheater Rheinsberg und erklärt uns für Visages die elektroakustischen Schichten des Theaters: Unten, in Höhe der Ohren unserer Zuschauer, befindet sich die erste akustische Ebene, live musiziert von den Instrumentalisten. Eine zweite Ebene soll es über den Köpfen der Zuschauer geben, elektroakustisches Zuspiel und eine Sängerin, die von der Galerie aus singt. Darüber, also direkt unter dem Technikbereich, unter Scheinwerfern und Beleuchterbrücken, klingt eine dritte Ebene, die rein elektroakustisch funktionieren soll. Der Klang soll dort im Theater kreisen... Wir stehen vor Problemen. Voigtländer denkt in räumlichen Klangschichtungen, hörbar natürlich, sichtbar für ihn offenbar auch. Das erinnert mich an seine Orgelmusik. Mit den Orgel-Spielen für Orgel, Röhrenglocken, TamTam, ein bis zwei Registranten und Zuspielband (1978) fing es an. „Das ehrwürdige Instrument der Tradition wird abgeklopft auf schwankenden Winddruck, auf mögliche Mikrotonalitäten, auf das rhythmische Pulsieren der geschlagenen und getretenen mechanischen Traktur, die Einbeziehung des Außens wie des Innens der Königin der Instrumente – Ja, selbst die Demontage von drei Orgelpfeifen, die am Schluss dem Orgelprospekt entnommen werden sollen, wird in die finale Dramaturgie einbezogen. Die Orgel aus der Kirche tragen?? Nein, aber wenigstens mal so tun…“4

Der ehemalige Kruzianer ist mit der Orgel vertraut und rebelliert zugleich gegen erlebte Kindheit – kein Bachsches Meisterwerk, sondern Orgelspielen als Klangerkundung, keine polyphone Architektur, sondern das Wesen des einzelnen Tones. Die Partitur verzeichnet mehr verbale Beschreibungen und graphische Zeichen als Noten! Dabei wird die Registrierung genau vorgeschrieben. Das zehnminütige Structum  III (1983) beginnt im Tutti fortissimo sehr ruhig, fast statisch mit einem viertönigen Kopfmotiv in dreistimmiger kanonischer Führung. Nicht die konkreten Tonhöhen g–fis–as–f, sondern deren Intervallbeziehungen untereinander bestimmen die anfangs in drei Anläufen machtvoll-gleichförmig schreitende Fortspin3 Vgl. Knut Helms, Deutsches Forum für Kunstgeschichte, Paris, in: Wahrzeichen Reichstag e. V., http:// www.wahrzeichen-reichstag.de, abgerufen am 29.3.2014. 4 Lothar Voigtländer, Programmheft Randspiele Zepernick, 2013.

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nung des Kopfmotivs. Die Statik muss aufgelöst werden: Sechzehntelfiguration – ausgehend vom Viertonmotiv in der Oberstimme – bereitet zweistimmig den gewünschten Umschlag vor. Die dritte Stimme – hier im Pedalwerk – harrt auf einem fis aus und beendet solistisch durch einen Piano-Nachsatz den Kopfmotivkomplex. Zugleich sucht sie neue Qualität: in der Ausformulierung eines aus dem Viertonmotiv entwickelten thematischen Ansatzes, der jedoch in einer um sich selbst kreisenden, mehr und mehr beschleunigten Bewegung stecken bleibt. Die hier beschriebene äußere Kontrasthaftigkeit und zugleich logische Entwicklung aus sich heraus begründet die Geschlossenheit des gesamten Werkes. Ein neuer Ansatz, jetzt ausgehend vom originalen Viertonmotiv g–fis–as–f, bleibt ebenso erfolglos. Äußerliche Gestaltungselemente sollen der Viertonentwicklung zu Hilfe kommen, doch weder rhythmisches Variieren noch auswegsuchendes Probieren oder die geforderte ‚silbrige‘ Aufregistrierung können der Stagnation Einhalt gebieten. Im Orchestersatz würden vermutlich Pauken ‚dreinschlagen‘, hier ist es das Viertonmotiv im dreifachen Fortissimo, im Pedal mit eben dieser Funktion… Leise setzt der Choral ein, aus der Ferne einschwingend, Rettung durch traditionelle Reminiszenzen, Auslöser für Widerspruch zur Spielweise der Orgel, Art und Weise polyphoner Stimmbehandlung, Emanzipation des rhythmischen Elements. Dreimal erscheint der Choral, manualiter gespielt, pianissimo und – muss man es noch erwähnen? – auf der Grundlage der Intervallik des Kopfmotivs. Als Reaktion auf ersten und zweiten Choraleinschub entsteht ein aggressiver Gestus in ständigem Wechsel zwischen hoher und tiefer Lage. Diesem Reagieren aufeinander setzt die Bassstimme nach dem dritten Choraleinschub durch provozierendes Imitieren der Choralintervalle ein Ende und löst einen Konflikt zwischen kreisendem Filigranspiel und Lagenwechseln aus. Die so erreichte Verdichtung führt unter Verwendung von Choralimitationen im Bass zu einem Abschluss mit Clusterwirkung, der endlich die neue Qualität hervorbringt: eine breit strömende Klangfläche, ein dichtes Ausweiten und Verengen von Klangräumen im rhythmisch unbestimmten Wechsel und auf der Grundlage von Intervallbeziehungen des Chorals. Die Fläche wandelt sich, rhythmische Elemente treten in den Vordergrund. Im Fortissimo erscheint im Pedalwerk die Umsetzung des Viertonmotivs und löst die Expansion des Klangraumes in schnellen Läufen von oben und unten aus – die Entwicklung bricht auf dem Höhepunkt ab. Aus der Ferne – wie anfangs des Chorals – erklingt jetzt das Viertonmotiv von Structum III – von cis’’’ aus und wieder in dreistimmiger kanonischer Führung. Structum  IV (1993) entstand für fünf Percussionisten, die Möglichkeiten der Orgel hatten sich hierfür erschöpft. 1983 – kurz nach der Arbeit an Structum III – beendete der Komponist seine zweite Fassung des Werkes Chant a la grande cathedrale de Bourges für Orgelsolo. Das Material zur Komposition wurde dem Glockennamen der Kathedrale von Bourges in Frankreich und deren elektroakustischen Analysen im Studio Freiburg entnommen. Psalm 130 für Orgel solo in sechs Versen mit zwei Chorälen thematisiert das Gebet um Vergebung der Sünden, streng strukturiert.

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4. Stimmklang Vielleicht kommt die menschliche Stimme dem Klangideal von Lothar Voigtländer am nächsten. Ihre Wandelbarkeit, ihre Farben, die Möglichkeiten vom Ton, über Geräusch, Sprache, Sprechgesang, Flüstern bis hin zum Schrei, die Rhythmen der Atmung und Tonerzeugung sowie die differenzierteste Dynamik lassen das ‚Gesamtbild Mensch‘ im Raum klingen. Alles dient dem Ausdruck, auch Mimik und Gestik der Ausführenden. Voigtländer verlangt für Sänger die Virtuosität eines Instrumentalisten und für Instrumentalisten die Vielseitigkeit eines Sängers. Es sind speziell die Sängerinnen, die Botschaften durch Text oder Stimmausdruck übermitteln. Voigtländers horizontales Denken kommt von der Stimme her, baut sich von hier aus vertikal auf und schafft die für ihn typischen harmonischen Konstruktionen aus Ton- und Klangzentren heraus. Was die menschliche Stimme – so einstimmig wie sie nun mal ist – nicht leisten kann, verlagert er gern auf Elektronik. Variation und Collage für Stimme und Zuspiel + Live-Elektronik nach Federico Garcia Lorca aus dem Jahr 1977 wechselt den Ausdruck von virtuos-heiter über meditativ bis hin zur Hysterie. Der verwendete Text von Lorca kann schöner und einfacher nicht sein: „Der stille Stau der Luft unter dem Zweige des Echos. Der stille Stau des Wassers unter dem Blattwerk aus Sternen. Der stille Stau deines Mundes unter der Dichte von Küssen.“ Es ist die absolute Klarheit eines Textes, die Voigtländer reizt, ihn in unterschiedliche Zusammenhänge zu stellen. Lorca, Samuel Beckett und dann immer wieder Eugène Guillevic stellen etwas fest, notieren Betrachtung und Gefühltes – so ist es. Es verwundert nicht, dass sich Voigtländer auch von Bibeltexten anziehen lässt und sie so verwendet, dass sie in ihrer Musikalisierung von Guillevic nicht zu unterscheiden sind. Vergesse… Durcheinander… O Süße für Singstimme, vier Posaunen, vier Schlagwerker von 1979 und 1983 nochmals überarbeitet mit Tonbandzuspiel lässt die Sängerin von einem Klangort zum anderen wandern. Sie wirft den Musikern die Beckett-Worte zu: „… da verschweigt man den Kopf, der Kopf ist verstopft…“. Sie ist auch die ‚Mutter Erde‘ in Le temps von 2001, die besser als jedes Instrument die Gefühle anlässlich der Trauerfeier für den Maler und Freund Dieter Tucholke im Berliner Dom ausdrücken konnte. Der Part ging revidiert und erweitert in die Kammeroper Visages ein. Es ist klar, dass Voigtländer für seine ‚großen Frauen‘ stimmlich betörende Schönheiten der Aida, Tosca und Carmen in Einem braucht und dann gelegentlich sängerisch undankbar instrumental führt. Das geht aber auch nur, weil einzigartiger Stimmklang vorab gegeben wird. Die Sopranistin Eiko Morikawa ist solch ein Glücksfall. Im Oratorium MenschenZeit (Les hommes et le temps) für vier Soli, Chor (mit Kammerchor) und Orchester in 12 Teilen nach Texten von Eugène Guillevic führt sie das Soloquartett im Beethovenschen Sinne an und singt dabei Voigtländer. Zwischen den eruptiven Großwerken komponiert Voigtländer Lieder wie ... Den Mund voller Träume haben... für Sopran und Harfe (2006) oder Klavierlieder oder Du Silence, auf der Suche nach noch mehr besonderem Klang durch die Begleitung mit Theremin (2006). Immer dann, wenn man meint, Voigtländer würde leise, wird ihn bald darauf wieder etwas heftig aufregen!

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5. Raumklang KammerSzenario – Visages Das KammerSzenario in acht Teilen nach Texten von Eugène Guillevic ist komponiert für drei Sprecher, drei Tänzer, drei Schlagzeugbatterien, drei Solisten (Sängerin, Klarinette, Posaune), Klaviertrio, drei elektronische Ebenen, drei Billardkugeln – Gesichter sind vielfältig im Licht, im Raum, im Klang. Verschieden sind die Gesichter in den Zeiten der Menschheit, in der Zeit eines Lebens, in der Zeit des Tages. Gesicht oder Fratze? Oder einer Zeit ins Gesicht blicken? Voigtländer war auf der Suche nach dem „Geheimnis der Dinge“5, schon 1975 las er den gleichnamigen Gedichtband von Eugène Guillevic und komponierte Meditations sur le temps. 1985 entstand die elektroakustische Widmung an Guillevic Hommage a un poète für das Festival in Bourges, 1987 De savoir la menace als kammermusikalischer Ausgangspunkt für Visages, 1990 folgte das Kammeroratorium Le temps en cause nach Guillevic-Texten. „Nichts besitzt man, niemals außer ein wenig Zeit.“ Im Laufe der Jahre wurden die Gedanken Guillevics in ihrer knappen, klaren Sprache für Voigtländer zu einer ‚philosophischen Bibel‘. Nahezu alttestamentarische Sätze wie in Stein gemeißelt halten Lebensweisheiten offen für kompositorische Kreativität. Voigtländer nutzt dafür ein Montageprinzip selbst gewählter Textbausteine. Die drei Schlagzeugbatterien standen mit je einem überhöht gestellten Sprecher an drei Orten des Raumes, im Schlagabtausch einander gegenüber. Der Dirigent leitete vom Klaviertrio aus; die drei Solisten waren frei in Bewegung. Die quadratische Tanz-Bühne befand sich in der Mitte des Saales unter drei Pendel-Kugeln. Die Befreiung aus den Bandagen des zeitlich-räumlichen und zwischenmenschlichen Lebens war Thema der leidenschaftlichen Choreographie. Der Aufbau des Szenario folgt dem Goldenen Schnitt; die Sängerin, Mutter Erde, stellt den Schlüsselsatz in den Raum, ihrem Auftritt gehört der Höhepunkt, hier kommt es zum Choral. Der Komponist beschreibt die Teile des Szenarios: „No. 1 Präludium (alle) Die Zeit: ‚Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit‘ Die Menschen: ‚da stehst du, kleiner Mensch, und du gehst‘ Das Geheimnis der Dinge – die Träume – Gesichter (‚Visages‘) – die Spiele? – die Zeit ist da! Das Ensemble agiert in einer geschlossenen Opening-Form – bevor einzelne Interpreten ‚wandern‘ den gesamten Raum zur Klang-Performance öffnen und zur Musik szenische und wortexegetische Momente hinzutreten. No. 2 Recital I (Sprecher) Das Recital I greift den nachdenklichen Textentwurf des Präludiums auf, problematisiert ihn: drei Sprecher, begleitet von geräuschhaften Instrumentalfetzen, chinesischer Tempelglocke und einem Kugel-Rollgeräusch untersuchen die Beziehungen zwischen ‚Wind und Zeit‘, dem ‚Augenblick, der Tiefe hat‘ und suchen in den Dingen des Alltags (‚Zement! Ein Hammer! Ein Stuhl!‘) Lösungen für ‚die Menschen, die Träume, das Feuer, den Raum und die Spiele‘. Die ersten Lösungsansätze fruchten nichts –‚Träume den Menschen‘ bleibt als Postulat im Raum stehen.

5 Eugène Guillevic, Das Geheimnis der Dinge, Berlin 1969.

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Ulrike Liedtke

No. 3 atemlos (Tanz, tape) Tanz Nr. 1: atemlos – so der Titel der elektroakustischen Komposition – zeigt die Komplexität des rastlos irrenden Menschen, seine Atemlosigkeit wie seine Sehnsucht nach dem ‚lyrischen Ich‘. Der Raumklang der Elektroakustik ist umfassend, weitet das Neutral-Instrumentale in einen expressiv-konkreten Klangraum hinein. No. 4 Recital II (Sprecher) Das Recital  II führt die dramatische Zuspitzung von ‚Recital  I‘ weiter. Die scheinbare Großartigkeit des Menschen (‚da stehst du, kleiner Mensch‘) wird beschworen, pantheistischer Überschwang (‚deine Stimme hat nicht ihresgleichen‘) bricht unvermutet nieder in die triviale Feststellung ‚Wo kommen wir denn her, um solche Gesichter zu haben, dass es weh tut dem Tag?‘. Weinen, Irren und Fluch werden als neue Vokabeln eingeführt. Das ganze Elend des verlorenen Paradieses wird sichtbar. No. 5 fanatic (Tanz, tape) Tanz Nr. 2: fanatic lässt endgültig mit den Mitteln der Elektroakustik alle Facetten zwischen Geräusch und Klang aufscheinen, nahezu diabolisch bauen sich Klangkaskaden auf, die letztlich in die Manipulation der stampfenden rhythmischen Masse, in Hysterie und stumpfe Sinnlosigkeit münden. Elektronische Mittel schaffen Raum für das instrumental Unsagbare… Der Titel des Stücks ist Programm. No. 6 Interludio dramatico: Aria de la Voix (Sopran) ‚La Voix‘, die Stimme, die Mahnende, versucht den selbst anklagenden, selbst zerstörerischen Kräften entgegenzutreten. Der akustische und instrumentale Höhepunkt, die Katharsis ist erreicht: ‚Von keiner Hilfe – und Steine – und zuschlagen!‘ lauten die Worte, mit denen ein sich Einmischen, und das Verlieren der Contenance geprägt ist. Im Schlagwerk werden Ketten geworfen, Steine reiben auf Metall und aggressive Rhythmen kontrapunktieren den Schrei. Ein Choral, ein Gebet scheint auf: ‚Es ist nicht ohne Grund, dass wir gezittert haben, – hart ist die Lehre, – blässliche Blume, was davon bleibt…, nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit.‘ No. 7 harakiri (Tanz, tape) Tanz Nr. 3: harakiri Ein scheinbarer Stillstand, eine lange, unendlich lange Ermüdung führt zu einer lyrischen Einkehr. Ein Niedergehen ohne individuelle Lösungsmöglichkeit deutet sich an. Eine tiefe Traurigkeit wird erreicht. Das Versagen des Einzelnen vor der Zeit scheint thematisiert. No. 8 Recital III/(Nr. 9) Conslusio (Sprecher) und Postludium (alle) Das instrumentale Ensemble, ‚La Voix‘, die Sprecher, Fetzen elektroakustischen Nachhalls, die chinesische Tempelglocke, die Kugeln – alles findet sich analog zum Präludium zum Gesamt-RaumKlang zusammen. ‚Nicht weinen –, Streben – eine große Müdigkeit – aller LEBENDEN Zahl gleichermaßen betroffen‘, so lautet das Vokabular des Finales. Die Einsamkeit der ‚Geige, auf der das Nichts spielt‘ wird überwunden zugunsten eines Lichtschimmers: ‚Zu wissen wer wir sind, versuchen wir den Gesang.‘ ‚Visages – Les Visages dans le temps‘ – dieser Ruf ins Offene beschließt das Szenario.“6

Visages wurde mit großem Erfolg nach der Uraufführung der Musikakademie Rheinsberg im Schlosstheater Rheinsberg am 19. Mai 2002 noch drei Mal gespielt unter der musikalischen Leitung von Helge Harding, in der Regie und Choreographie von Iris Sputh, im Bühnenbild von Pascale Arndtz. Eiko Morikawa sang La Voix, die Musiker kamen aus dem Ensemble Mosaik Berlin, die elektroakustische Realisation lag in den Händen von Georg Morawietz, die technische Leitung hatte Oliver Nehring. 6 Lothar Voigtländer, Programmheft der Musikakademie Rheinsberg, Uraufführung 19. Mai 2002.

Erlebnisse mit Musik von Lothar Voigtländer

109

6. Rheinsberg-Klang Einen Gruß aus Rheinsberg hatte sich Lothar Voigtländer zu seinem 60. Geburtstag gewünscht, gefeiert mit Publikum im Musikclub des Konzerthauses in Berlin. Das verstehe ich gut, verbinden sich doch Rheinsberg und der junge Fritz mit täglichem Neuanfang, spiegelt doch die Schlossanlage frankophile Lebensweise wider, und Rheinsberg verbreitet eine Harmonie von Landschaft, Kunst und Musik, in die man sich mit allen wirren Gedanken und chaotischen Ideen nur noch hineinfallen lassen muss. Das alles braucht Voigtländer, Rheinsberg bedeutet ihm etwas und uns bedeutet Voigtländer sehr viel, denn wir verdanken ihm zwei außerordentlich erfolgreiche Musikproduktionen: Voici, die Kammermusik mit Feuerwerk über dem Grienericksee, und Visages, die komplexe szenische Kammermusik für das Schlosstheater Rheinsberg. In Voici setzte Voigtländer um, wovon viele träumen – Musik und dazu künstlerisches Feuerwerk, alle Einsätze mitkomponiert, direkt über dem See. Die Schlagzeugbatterien standen am Ufer, die Sängerin sang unter den Kolonnaden und der Kontrabassist Matthias Bauer musste lange bis zu seinem Einsatz frieren, wir hatten ihn weit hinaus auf einem Ponton in den See geschickt. Heute kann man gern zugeben, dass die Starts der Zuspiele allesamt nicht geklappt haben, Georg Morawietz, Heinz Rödger und Lothar Voigtländer, gleich drei Tonmeister am Mischpult waren einfach zu viel des Guten. Matthias Bauer wird heute noch immer frieren, wenn er an Rheinsberg denkt, wir hatten seinen Kontrabass ebenso eingepackt wie ihn selbst, und das Solo fiel von Probe zu Probe länger aus, weil er sich in das Stück hineingefunden hatte. Im Gegensatz dazu wirkt Visages weit bedeutungsschwerer: „Wo kommen wir denn her? Um solche Gesichter zu haben, dass es weh tut dem Tag“ – Voigtländer sieht aus wie 50, ist aktiv wie andere mit 40 und temperamentvoll wie mit 30, Hiob soll 140 Jahre alt geworden sein und im Werk Voigtländers sogar glücklich, es besteht also kein Anlass zur Sorge. Seit Visages, seit dieser kompositorischen Conclusio, ist etwas anders bei Lothar Voigtländer. Es hatte so ganz und gar nichts Sensationelles an sich, als ein ehemaliger Kruzianer Kompositionsprofessor in Dresden wurde. Sensationell ist aber, dass alle die aufgeregten Faxe von Voigtländer ausbleiben, die man früher bekommen hatte, wichtige Dinge waren darin fett, gesperrt, unterstrichen und in Schriftgröße 24 bis 36 notiert. Es hat den Anschein, als ob hier jemand ‚angekommen‘ sei. Auf dem Weg zum Konzerthaus zur Feier des 60. Geburtstages traf ich Stefan, den Sohn der Lebensgefährtin von Voigtländer. Ich habe ihn gefragt, ob er, der Philosophiestudent, inzwischen selbst Vater, bei der Textauswahl für eine Komposition behilflich sein kann und erhielt eine kurze und bündige Antwort „Nö“. Ich versuchte, das Gespräch noch fortzusetzen und fragte ihn, was ich denn mitteilen müsse über Lothar Voigtländer. Nach einer kurzen Denkpause kam die Antwort von Stefan: „Dass er es geschafft hat.“ Das stimmt heute – gut zehn Jahre später – umso mehr. Es ist sehr schön, so etwas über einen Menschen sagen zu können.

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis Stand Dezember 2014 Im nachfolgenden, nach Gattungen jeweils chronologisch geordneten Werkverzeichnis sind manche Werke, die sich mehreren Gattungen zuordnen lassen, entsprechend mehrfach genannt. Stück

Erklärung

I) Orchesterwerke:

 

MEMENTO VIER MINNELIEDER DES OSWALD VON WOLKENSTEIN Orchestermusik II II. SINFONIE – Harfen-Sinfonie III. SINFONIE – Orgel-Sinfonie

Orchestermusik I – Ed. Peters

1975

für Tenor und Orchester

1977

Musikbiennale Berlin ʼ89 – Ed. Peters Ed. Peters, keine UA die sog. Salzauer – Ed. Peters für 16 Instrumental- und 16 Vocalsoli, gem. Chor, Harfe, 10 Blechbläser und Percussion; Text: Guillevic (Auftragswerk Uni Paris VIII, Kammerorchester Liverpool, Erasmus-Programm) Kammerszenario für Sopran, 3 Sprecher, 3 Tänzer, Klarinette, Posaune, 3 Schlagwerker in getrennter Aufstellung, div. Zuspielbänder ( ElektronikRaumklang) – siehe auch: Bühnenwerke 2001/02 für Sopran und Orchester (NWD Philharmonie und Radio Bremen) UA Weimar (Sinfonietta Dresden: Ekkehard Klemm) Oratorium nach Texten von E. Guillevic, für 4 Soli, 16 Chorsolisten, Großen gem. Chor; Orchester (Sinfonietta Dresden); Dirigent Ekk. Klemm Violinkonzert 1. Satz, UA Dresden; Kammerphilharmonie der TU; Komp.-Auftrag; Solist: Egidius Streff; Dirigent Daniel Spogis Recital f. Sopran und Orchester, Auftrag der Opernfestspiele Bad Hersfeld; Barbara Schmidt-Gaden Mezzo-Sopran, Festspielorchester, Leitung: der Komponist für Ensemble/Kammerorchester, Kammermusik für Vl/Vla/Vcl/Kb/Fl/Kl/Pos/2Perc/Klav.

1988 1989 1990

KAMMERORATORIUM – Le temps en cause (fragliche Zeit – oder: Zeit in Frage)

VISAGES

ARENDT-Lieder Orchestermusik III

MenschenZeit

Emphasis

si vis pacem

HIOB III

Jahr

1990

2002

1992 2005

2007

2010

2010

2012

112 Stück II) Kammermusik: a) STRUKTUREN und TURBULENZEN um DB Studie in drei Teilen

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis Erklärung

Jahr

  für Klavier solo – DVfM-Leipzig

für Flöte solo – DVfM-Leipzig Lieder für hohe Stimme und Klavier nach Texten Einmal von Beckett, Cummings und Berger für Tasteninstrumente (auch Perc. + Vcl.) – Verlag Structum II Neue Musik (teilweise) Dialog für Klavier und Schlagwerk DVfM-Leipzig Vergesse… Durcheinander… o für Singst./4 Pos./4 Schlagwerker in räumlich süße getrennter Aufstellung in 4 Ecken des Raumes Nocturnes en trois modes für Harfe solo – Bärenreiter De profundis für 5 Schlagwerker + Zuspielband Glücklicher HIOB (1. Fassung) für Kammerensemble ...entgrenzen, veratmen für Flöte solo für 5 Schlagwerker 1990/auch Fassung. für STRUCTUM IV 4 Schlagwerker DISCURSUS (ehemals Kammermusik für Oboe und Harfe Emphasis) SOUNDFILES 1 – ...x für Harfe und Zuspielband Paraphrase sur un mode (Invofür Violine solo catio) A short finale for a trombonist Posaune solo (für F. Schenker) für Oboe (auch Flöte möglich), Harfe und Anwandlung 2 Schlagwerk Salmo Salomonis für Englischhorn solo Cellissimo für Violoncello solo Structum II erweitert um ad lib. Instrumente: Vl., Signa Vcl., Percussion; auch Klavier etc. Trio sur un mode sentimental Klaviertrio: Vl., Vcl., Klavier für Sopran und Orgel (Studie zu VISAGES) – Le temps Stele sonore für den Maler Dieter Tucholke (rev. Fassg. 2012) Kammerszenario für Sopran, 3 Sprecher, 3 Tänzer, Klarinette, Posaune, 3 Schlagwerker in getrennter VISAGES Aufstellung, div. Zuspielbänder (ElektronikRaumklang) – siehe auch: Bühnenwerke 2001/02 harmonics en bloc für Streichquartett und Saxophonquartett für Flöte, Harfe und von den Interpreten zusätzlich mutazioni con legno gespielte Tempelblocks

1976/79 1976/79 1977 1979 1979 1983 1985 1986 1988 1990 1993 1994 1993 1994 1995 1995 1996 1999 2000 2000 2001

2002 2004 2004

113

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis Stück glockenfern – glasschärfe – schwarz (elektr. Zuspiel: HARA) du silence – Guillevic-Recital Nr. 2 Fibodanza ...den Mund voller Träume VARIATIONS sur un mode de la flute traversiere Lasker-Schüler-Lieder Scene fou – avec Rimbaud two cummings-recitals three cummings-recitals STRUCTUM V

Erklärung für 4 chinesische Klangschalen, Tapezuspiel und Tanzperformance (UA Weimar Via Nova) für Sopran, Theremin, Sprecher, Klavier und elektronisches Zuspiel (CD) – alles live-elektr. für 2 Schlagzeuger Lieder für Sopran und Harfe; Texte identisch mit Einmal – Liederzyklus 1977 -Bearbtg. f. Sopr. + Harfe

Jahr 2005 2006 2006 2006

für Flöte (Alt- + C-Fl.) Violoncello + Klavier

2009

Teil I: Lieder 1–4; für Sopran und Klavier für sprechenden Kb-Spieler, eine Interpretin für Sprache, percussive Instrumente + Tape für Sopran, Bassklarinette und Akkordeon für Sopran, Basskl. + Akkordeon = Ergänzg. 1 Lied für Solovioline – Studie zum Violinkonzert Emphasis

2009

II) Kammermusik: b) mit elektron. Zuspiel oder   Liveelektronik Aus dem Schweigen (elektronische für Singst. + Tape + Klavier (opt.) (Text: Arendt) Studie in 3 Teilen) Variation und Collage für Singst. + Tape (Text: Lorca) für mechanische Orgel, evtl. mit zusätzlichem ORGEL-Spiele Altarpositiv, Zuspielband + Percussion, DVfM für Sopr./Vcl/Vibraph./Live-Elektr. + Zuspielband Drei Porträts mit Schatten (Text: Lorca) De profundis für 5 Schlagwerker + Zuspielband SOUNDFILES 1–...x für Harfe und Zuspielband Anwandlung 1 für Harfe, Schlagwerk + Zuspielband FOU avec Contrebasse/ – für singenden + spielenden Kontrabassisten BassVoices – Neufassung der Kammermusik „Vergesse, durchdonʼt forget einander…“, Ergänzung Tape-Zuspiel (UA Festival Intersonanzen – Potsdam) für sprechenden Kb-Spieler, eine Interpretin für Scene fou – avec Rimbaud Sprache, percussive Instrumente + Tonband Recital für Sopransolo, Theremin, und Tastendu silence (von der Stille) instrument (Klavier) nach Texten aus dem Zyklus „du silence“ von EugèneGuillevic

2009 2010 2011 2011

1975 1977 1978 1980 1986 1993 1995 1996 2005 2009 2006

114

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis

Stück

Erklärung

III) Kompositionen für Orgel:

 

ORGEL-Spiele

für mechanische Orgel, evtl. mit zusätzlichem Altarpositiv, Tape + Percussion, DVfM

1978

Chant a la Grande Cathedrale de Bourges

DVfM

1980

Scene fou – avec Rimbaud Psalm 130 Solfeggio con annotazioni Introitus INSIGNUM

für sprechenden Kb-Spieler, eine Interpretin für Sprache, percussive Instrumente + Tonband DVfM

Le temps

für Sopran und Orgel (Studie zu VISAGES) – Stele sonore f. den Maler Dieter Tucholke (rev. Fassg. 2012)

IV) Elektroakustische/ radiophone Kompositionen/ Instrument + Tape:

 

Drei elektronische Studien

Meditations sur le temps Structum I Variation und Collage

Orgelspiele

Drei Porträts mit Schatten Raum-Musik Nr. 2 ex voce II Raum-Musik Nr. 3 Danse macabre

für Singstimme, Klavier und Zuspielband nach Texten von Erich Arendt realisiert 1975 in Berlin; Mention Bourges 1977 radiophone Komposition realisiert im Studio des Slovakischen Rundfunks, Bratislava; Mention Bourges 1976 Tape-Music realisiert im Studio des Slovakischen Rundfunks Bratislava für Singstimme und Zuspielband realisiert im Studio des Slovakischen Rundfunks, Bratislava; Mention Bourges 1981 für Orgel (+ Orgelpositiv), Schlagwerk und Zuspielband realisiert bei: Radio Bratislava, Radio Budapest für Singst., Vcl., Vibraph. u. Zuspielband nach Texten von F. G. Lorca; realisiert 1980 im Experimentalstudio des SWF Freiburg für den Graphiker Dieter Tucholke, Text: Dr. Werner radiophone Motette – realisiert in Budapest, Nürnberg, Berlin (Sonic landscape) realis. im Studio des Komponisten radiophone Komposition, Realisation Radio Bremen

Jahr

2009 1986 1988 1991 1991 2001

1975

1976 1978 1978

1978

1980 1980 1982 1982 1985

115

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis Stück Maikäfer flieg Hommage a un poète

Guillevic-Recital Raum-Musik Klanghaus Dresden de profundis

Berlin-Report Paysage sonore Russisch Roulett Spring in Berlin Dialogue en cause SOUNDFILES 1–...x VOICI-Feuerklang ZOOM eight La voleé atemlos Glasbauspiel I Glausbauspiel II sculpturen: klangumwandelt soundpainting in a church Lichtklang Nr. 2

Erklärung radiophone Komposition, realisiert im Studio des Komponisten; 1. Preis Bourges 1985; Euphonie dʼOr 1992 Tape-Music, Realisation GMEB – Bourges, Auftragswerk GMEB – Bourges multimediales Projekt mit Projektionen der Malerei von D. Tucholke f. 3 Sprecher und Zuspielband (Teile aus Hommage a. …) Text: Frank Schneider Kammermusik f. 5 Schlagwerker und Zuspielband, Realisation Radio Hilversum (NL), Auftrag Rundfunk der DDR radiophone Komposition, realisiert im Studio des Komponisten in Berlin/Mention Bourges 1988/ Auftrag Rundfunk d. DDR Tape-Music – realisiert im Studio des Komponisten radiophone Komposition; realis. im Studio des Komp. radiophone Komposition radiophone Komposition; realisiert und Auftrag von GMEB – Bourges für Harfe und Zuspielband; realis. in Basel u. Berlin für Sopran, 2 Percuss., Zuspielband, live-Elektronik und pyrotechn. Choreographie; szenische Realisation Schloss Rheinsberg Experimentalvideo (Tape-Music) mit Frank Dennerle Raum-Musik Nr. 5, Experimentalvideo radiophone Komposition; Grand Prix Bourges 1996 szenische Realisation in der Glaspyramide Hellersdorf szenische Realisation in der Glaspyramide Raum-Musik Nr. 6, Open-Air-Installation mit den Stahlskulpturen von Reinhardt Grimm; Jesus-Kirche Kaulsdorf; Kunsthaus FLORA Musiken für Action Painting Klangsculptur für den Deutschen Reichstag, Berlin; mit dem Architekten Wolfgang Heinrich Fischer

Jahr 1985 1985

1986 1986 1986

1986 1988 1990 1990 1992 1993 1995 1994 1994 1995 1995 1996 1997 1999 1999

116 Stück lamentatio Soundscapes I fanatic attack

Missa electroacoustica „10 Jahre“ Lange Nacht der elektronischen Klänge

Scene fou HARA(– kiri –) Glockenfern-Glasschärfe-schwarz V) Bühnenwerke, Klangperformances, Tanztheater:

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis Erklärung Tape-Music Auftragswerk + Realisation IMEB, Bourges (Frankreich) für Action Painting / Soundscapes II Tape-Music, real. Studio der Akademie der Künste, BLN Tape-Music, Realisation Studio der Akademie der Künste, Berlin Aufführungsvariante 1: a) attack (Stahlskulpturen (Grimm) + Elektronik), b) hara (Choreographin Sputh), c) lament – Video: Veit Lup, d) fanatic – Choreographie Aufführungsvariante 2: a) attack – Video: Veit Loup, b) hara – Choreographie oder Hörstück, c) lament – Video: Veit Loup für sprechenden KB-Spieler + 1 Interpretin für div. percussive Instrumente, Sprache + Tapezuspiel Tape-Music (für Iris Sputh) 4 Klangschalen und Tonbandzuspiel (siehe Hara)

2000 2001 2001 2001

2002

2009 2003 2009

 

multimediales Projekt mit Projektionen der Malerei von D. Tucholke für 3 Sprecher und Zuspielband (Teile aus Hommage a …) Raum- und Klangperformances für Live-InterpreGlasbauspiel I ten, elektronische Tape-Zuspiele und RaumKlang-Effekte Raum- und Klangperformances für Live-InterpreGlasbauspiel II ten, elektronische Tape-Zuspiele und RaumKlang-Effekte für Sopr/KB/2 Perc/Tape/Live-Elektronik/ pyrotechn. Choreographie über 50ʼ; Auftragswerk Schloss Rheinsberg VOICI-FEUERKLANG! Nachfolgeaufführungen: Akademie der Künste Berlin, Eröffnung Internat. Festival elektr. Musik Bourges (F) 2000 Raum-Musik Nr. 6 –KlangGlocke 750 Jahre Dorf Kaulsdorf bei Berlin; Jesus-Kirche; – sculpturen:klangumwandelt Produktion mit Kunsthaus FLORA Missa Electroacoustica in 4 Teilen mit Videos von Veit Lup (attack + lament) und (attack-hara-lament-fanatic) Choreographien von Iris Sputh (hara + fanatic)

Guillevic-Recital (Hommage a un poète)

Jahr

1986

1995

1996

1995

1997 2002

117

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis Stück

VISAGES – (Kammeroper) in 8 Teilen nach Texten von Eugène Guillevic

„du silence“ (von der Stille) Scene fou – avec Rimbaud Antike Epigramme

Erklärung für Sopran, 3 Sprecher, 3 Tänzer, 3 Schlagwerker, Klaviertrio, Instrumentalsoli + Elektronische Raum-Klang-Kompositionen, Auftragswerk der Musikakademie Schloss Rheinsberg, Wiederaufnahme: Frühjahrstage Zeitgen. Musik Weimar 2003 Recital für Sopransolo, Theremin und Tasteninstrument (Klavier) nach Texten aus dem Zyklus „du silence“ von EugèneGuillevic für sprechenden Kb-Spieler, eine Interpretin für Sprache, percussive Instrumente + Tonband für gem. Chor a cappella, früher DVfM – jetzt beim Komponisten

Jahr

2002

2006 2009 1975

VI) Kompositionen für a) gem. Chor: Motetten, Zyklen, Einzellieder:

  Motette für Bariton-Solo und 2 gem. Chöre Litaneia (kleiner Chor + groß. Chor), Manuskript für gem. Chor; Schlagwerk und Zuspiel elektroni3 Gesänge nach Ketschua-Lyrik scher Klänge, Edition Peters Adoratio Chormotette f. gem. Chor, Manuskript Zyklus f. 6–10 stimmigen gemischten Chor, Les hommes et le temps a cappella, Edition Peters Weitere Zyklen und Einzellieder in „Wir, unsere Zeit“(Verl. Neue Musik), „Am Ende Druckausgaben u. a. des Regenbogens“ (Ed. Peters 1983) Einzellieder in chronologischer Siehe auch Sammelband „gemischter Chor – erReihenfolge: scheint in 2015 – zu bestellen beim Komponisten Die frühen Jahre – erste KompoDresdner Kreuzchor 1954–62/Studium 1962–68 sitionen ab 1957: Die Stadt liegt noch im Werktagsrauch (Silvester) Abendlied Text E. M. Arndt Vater unser Bleibe bei uns Herr, denn es will Abend werden Kinderkreuzzug Text von Brecht Dresdner Botschaften Text Streubel Drei Madrigale für Knaben – nach alt-chinesischen Gedichten (Frauen-)Chor Kyrie und Christe eleison Widmung R. Mauersberger und Kreuzchor Abendlied Text Wolfram Böhme Der Tag bricht aus den Blüten (Rose Nyland) – Zyklus

1987 1981 1994 1996

ca. 1957 ca. 1958 1960 1961 1963 1965 1966 1967 1961 1968

118 Stück Meisterstudium an der ADK in Berlin, erste Aufträge, ab 1973 freischaffend: Letzter Strahl Schrei Tätige sollen sicher sein Richtige Adresse Wir, unsere Zeit (Zyklus) – 6 Lieder Ich mach ein Lied aus Stille div. Volksliedbearbeitungen: Guten Abend, gut’ Nacht I will give you Das Lieben bringt große Freud Mädchen und Apfel Fröhlich ist die Winterzeit S’ist mir alles ein Entlaubet ist der Walde Peter, go ring En Groffsmid seet in gooder Ruh Wenn hier en Pott mit Bohnen Es, es und es es es Mitternachtsserenade f. Männerchor Sieben Haare auf dem Kopfe Es ist Zeit (Frauenchor) Allen Kindern Fünf neckische Madrigale nach Oswald von Wolkenstein Fortsetzung Einzellieder: So lebt man an der Oberspree Blüht Dir eine Liebe Sieben Straßen muss ich gehen Intermezzo aus: Land, wie wir Dich anrufen Die alten Weisen Heimat meine Trauer Blüht Dir eine Liebe Der Frieden Lied der Lieder (Du bist die Stadt) Seit wir beieinander sind

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis Erklärung

Jahr

VNM Hofmeister

1975 1975 1973 1975

Verlag Neue Musik

1973

Zyklus für den Kammerchor Rostock

1974

Bearbeitung für Frauenchor Volksliedbearbeitung

1973 1974 1972 1973

Bearbeitung Bearbeitung Bearbeitung Bearbeitung Edition Peters Edition Peters aus Peter Pan

Text Nazim Hikmet für den Chor der slowakischen Lehrerinnen nach alt-berliner Gassenhauern Text Wolfgang Tilgner, DVfM Frauenchor + Intermezzo Männerchor Eisler-Bearbeitung Bearbeitung

1976

119

Lothar Voigtländer Werkverzeichnis Stück

Erklärung

Jahr

Vom Zarten Von allem so reichlich Kinderlied für Eltern

Fassung f. Solo + Gitarre VNM , Fassg. 3- stimmig. Chor Zyklus (VNM) Preißler

Dies Land mein Land Der Erde Herz ist rot 1974 ... atmen, noch ... Was wir auch in der Schule lernen wollen Sonnenliedchen Hochzeitslied Frühling VNM VI) Kompositionen für b) Kinderchor: Zyklen, Einzellieder, Volksliedbearbeitungen: Chorzyklus „Tag-Träume f. 2-st. Ki-Chor mit Chorzyklus Tag-Träume Klavier f. die Vorchöre der Regensburger 2000 Domspatzen (bereits erschienen: Bände 1 + 2 mit CD-Beilage) in Vorbereitung ist Band 3 (2015) – beinhaltet u. a. den Zyklus „Tagträume“, daraus: Das Wanderlied; Das Schaukellied; Das Wetterhahnlied; Das Märzlied; Das Glockenlied; Das Quaklied; Liedsammlung „Trällerlieder“ Das Eiszapfenlied; Das Himmelslied; Das 1970–1990 Mondlied; Der Sommer; Eine dicke Familie; Die Tiere lernen Fremdsprachen; Wie aus dem Winter Frühling wird; Das Lied vom schnellen Hasen; Die Wildgänse; Wanderlied 2; Schneeflöckchen leise – u. a. Entlaubet ist der Walde; Alle Vögel sind schon da; Peter, go ring; Schlaf, mein Kindchen; Eine Volksliedbearbeitungen z. B.: kleine Geige; Der Kuckuck auf dem Zaune; Guten Abend, gut Nacht u. a. hello, sing my song für das Internationale Kinderchorfestival Halle 2001 für 4-st. Kinderchor, Harfe, Cello, Klavier und ICH – ein Ingeborg-BachSchlagwerk (UA 2006 mann-Duodram zum Kinderchorfestival Halle)

Libretto zu MenschenZeit (Les hommes et le temps) Musik: Lothar Voigtländer, Text: Eugène Guillevic

Oratorium für 4 Soli, Chor (incl. Kammerchor) und Orchester in 12 Teilen (I–XII) Teil I – Le temps – pas le temps (Soli u. Chor)

Die Zeit – nicht die Zeit

Le temps qui peut changer nuage en nuage et le roc en rocaille, qui fait aussi languir un oiseau dans les sables et réduit au silence de l´eau pure tombée dans l´oubli des crevasses, le temps existe, a mi-chemin.

Die Zeit, die wandeln kann Wolke in Wolke und Stein in Gestein, die einen Vogel hinsiechen lässt im Sand und zum Schweigen bringt reines Wasser, gestürzt ins Vergessen der Spalte, die Zeit ist da, auf halbem Weg.

Des rapports sont là, entre vent et temps. Mais toujours de l´ordre de la mer, comme les écailles, et nous sommes exclus.

Es sind da Beziehungen zwischen Wind und Zeit. Doch immer nach Ordnung des Meeres, so wie die Schuppen, – und wir sind ausgeschlossen.

Teil I – de ma mort (Solo: Bariton)

von meinem Tod

Parce qu´il y a terme a ces jours devant toi,

Weil es ein Ende gibt für diese Tage vor dir,

que d´aller vers ce terme fait par-dessous tes jours un creux qui les éclaire, tu as le goût de ses rapports qui sont de joie avec les murs et le rosier.

weil auf dieses Ende zuzugehen deine Tage aushöhlt und so erhellt: schmeckst du die Freude umzugehen mit Mauer und Rosenstock.

u´elle soit longue, au moins, cette vie qu´il faut vivre. Car difficile es la leçon.

Möge es, wenigstens, lang sein: dieses Leben, das man zu leben hat, denn hart ist die Lehre.

Ce n´est pas moi qui fermerai, pas moi qui crierai pour la fermeture. C´est qu´on me fermera.

Nicht ich werde es sein, der schließt, nicht ich, der schreien wird nach dem Schluß. Nämlich, man wird mich schließen.

Teil III – Les hommes – pas les hommes

Die Menschen – nicht die Menschen

Ce qui n´est pas dans la pierre, ce qui n´est pas dans le mur de pierre et de terre, même pas dans les arbres,ce qui tremble tojours un peu, – alors, c´est dans nous.

Was da nicht ist im Stein, nicht ist in der Mauer aus Stein und Erde, nicht einmal in den Bäumen, was immer ein wenig zittert, – also: das ist dann in uns.

D´où sommes-nous sortis pour avoir ces visages a faire peine au jour?

Wo kommen wir denn her, um solche Gesichter zu haben, dass es weh tut dem Tag?

Encore heureux qui peut trouver la porte et pleurer devant elle.

Glücklich noch, wer finden kann die Tür und vor ihr weinen.

(Soli + Chor)

122

Libretto zu „MenschenZeit“ (Les hommes et le temps)

Teil IV – Durée (Solo: Tenor)

Dauer

Les rêves, – pas les rêves. L´espace, – pas l´espace. Les hommes, – pas les hommes...

Die Träume, – nicht die Träume. Der Raum, – nicht der Raum. Die Menschen, – nicht die Menschen…

Par ma fenêtre je vous vois, d´un peu haut, petits hommes, insectes secoués, qui venez, qui courez. On dit aussi: troupeau. Je nous vois, petits hommes, je vous connais, mes frères. Je sais aussi: Nous valons mieux.

Durch mein Fenster sehe ich euch von ein wenig oben, kleine Menschen, Insekten, geschüttelte, die ihr kommt, die ihr lauft. Dazu sagt man auch: Herde. Ich sehe euch, kleine Menschen, ich kenne euch, meine Brüder. Ich weiß auch: wir sind mehr wert.

Courte est la journée, courts sont tous les jours. Courte encore est l´heure.

Kurz ist der Tag, Kurz sind alle Tage Kurz noch ist die Stunde.

Mais l´instant s´allonge qui a profondeur.

Aber der Augenblick dehnt sich, der Tiefe hat.

Teil V – Les jeux – pas les jeux 1 (Soli + Chor)

Die Spiele – nicht die Spiele

Un deux trois, j´ai tué un roi tournez hirondelles, mes filles sont belles un deux trois, il est dejà froid.

Eins zwei drei – bei Nacht den König umgebracht Schwalben sollt euch drehn – die Töchter mein sind schön. Eins zwei drei – wie bald ist der König kalt.

Palotte fleur, ce quíl en reste. Le vent, la pluie, si peu d´égards.

Blässliche Blume, was davon bleibt. Der Wind, der Regen, an Rücksicht so wenig.

Teil VI – les pierres (Solo: Sopran)

Steine

De nul secours alors furent les arbres, le ciel aussi et les histoires. C´est toutes les pierres qu´il aurait fallu et frapper, frapper, en tenant les pierres.

Von keiner Hilfe da waren die Bäume, der Himmel auch und die Geschichten. Aber nötig gewesen wären alle Steine und zuschlagen, zuschlagen, die Steine zur Hand.

Qu´elle soit longue, au moins, cette vie quí il faut vivre. Car difficile est la leçon.

Möge es wenigstens lang sein: dieses Leben, das man zu leben hat. Denn hart ist die Lehre.

Palotte fleur, ce quíl en reste. Le vent, la pluie, si peu d´égards.

Blässliche Blume, was davon bleibt. Der Wind, der Regen, – an Rücksicht so wenig.

C´nest pas sans raison que nous avons tremblé devant la moindre flamme, que, devant la bougie, devant le feu bois, nos mains se recherchaient, sans savoir si c´était pour célébrer,pour conjurer.

Es ist nicht ohne Grund, dass wir gezittert haben vor der geringsten Flamme, dass vor der Kerze, vor dem Feuer im Kamin sich unsere Hände suchten, ohne zu wissen ob zur Feier, zur Beschwörung.

On ne possède rien, jamais, qu´un peu de temps.

Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit.

Teil VII – Les jeux – pas les jeux (2)

Die Spiele – nicht die Spiele (2)

(Text wie Nr. V)

(Text wie Nr. V)

123

Libretto zu „MenschenZeit“ (Les hommes et le temps)

Teil VIII – S. 83 la terre (1) (Solo: Alt)

Die Erde (1)

Si elle avait voulu tout autant de moi que je voulais d´elle, ma terre, il n´y aurait pas eu de terme à notre amour.

Hätte sie gewollt so sehr mich wie sehr ich sie wollte, meine Erde, so wäre unsere Liebe ohne Schluss geblieben.

Teil IX – Le feu – pas le feu (Soli + Chor)

Das Feuer – nicht das Feuer

La danse est en eux, la flamme est en eux, quand bon leur semble. Ce n´est pas un spectacle devant eux, c´est en eux. C´est la danse de leur intime et lucide flie. C´est la flamme en eux du noyau de braise.

Der Tanz ist in ihnen, die Flamme – wann immer es ihnen gefällt. Das ist nicht ein Schauspiel vor ihnen – in ihnen ist das. Das ist der Tanz ihres tiefen heimlich wachen Wahns. Das ist die Flamme in ihnen aus dem glühenden Kern.

Teil X – la terre 2 (Solo: Alt)

Die Erde 2

Terre, arrive le jour, quand nous te connaitrons, où nous pourrons entrer t´èpouser, frissonant de voir s´ouvriri à nous des espèces de portes, des espèces de murs debout sous notre chant qui en sait plus que nous, qui sera notre loi.

Erde, es kommt der Tag, da wir dich kennen werden, da wir eintreten dürfen uns dir zu vermählen, schauernd zu sehn, wie sich öffnen für uns Arten von Türen, Arten von Mauern, unter unsrem Gesang, der mehr davon weiß als wir, der sein wird unser Gesetz.

Teil XI – Choral (Soli + Chor)

Choral

Va, fleur avance. Tout veut s´ouvrir et même nous, ces hommes plus effrayés que toi, moins assurés que toi de donner leur mesure. Allons de pair, dépensons-nous.

Geh, Blume, gehe vor. Alles will sich öffnen und wir sogar – Menschen ängstlicher als du, nicht so gewiss wie du ihr Maß zu geben. Gehen wir gleichen Fußes, geben wir uns aus.

Teil XII – Le temps – pas le temps

Die Zeit – nicht die Zeit

Le temps existe, a mi-chemin...

Die Zeit ist da, – auf halbem Weg...

On ne possède rien, jamais, qu´un peu de temps.

Nichts besitzt man, niemals, außer ein wenig Zeit.

Est-ce-que je pleure sur moi ou sur nous tous? Est-ce des larmes sur mes larmes ou sur nos larmes? Mais, je ne pleure pas, d´aileurs, – je crie.

Weine ich über mich – oder über uns alle? Sind das Tränen über meine Tränen – oder über unsere Tränen? Aber ich weine nicht, ich schreie.

LES HOMMES – PAS LES HOMMES – LES HOMMES!

LES HOMMES – PAS LES HOMMES – LES HOMMES!

(Soli + Chor/Finale)



CD-Titel-Übersicht

CD 1 Oratorium „MenschenZeit“ für Solisten, Chor und Orchester Text: Eugène Guillevic; Ekkehard Klemm – Dirigent; Romy Petrick – Sopran; Julia Böhme – Mezzosopran; Falk Hoffmann – Tenor; Carl Thiemt – Bariton; Chor und Kammerchor der Hochschule für Musik Dresden; Kammerchor der Singakademie Dresden; Sinfonieorchester der Hochschule für Musik Dresden 1 Le temps – pas le temps 2 de ma mort 3 Les hommes – pas les hommes 4 Durée 5 Les jeux – pas les jeux 6 Les pierres 7 Les jeux – pas les jeux 8 La terre (1) 9 Le feu – pas le feu 10 La terre (2) 11 Choral 12 Le temps – pas le temps Orgel-Sinfonie Zsigmond Szathmáry – Orgel; Klaus Bernbacher – Dirigent; Philharmonisches Staatsorchester Bremen 13 Choral und Aufbruch 14 Rondo I 15 Trauermarsch 16 Rondo II 17 Besinnung 18 Finale und Choral

CD 2 1 Aus dem Schweigen (1.Teil aus 3 elektronische Studien für Singstimme, Klavier und Zuspielband) Joachim Vogt – Tenor; Dieter Brauer – Klavier 2 Variation und Collage für Singstimme und Zuspielband Roswitha Trexler – Sopran; elektronisches Zuspiel

CD-Titel-Übersicht 3 Orgelspiele für Orgel und Zuspielband, 1. Satz Christian Collum – Orgel 4 Strukturen und Turbulenzen um D-B Dieter Brauer – Klavier 5 Maikäfer flieg – Radiophone Komposition 6 – 8 3 SOUNDFILES für Harfe und Zuspielband Katharina Hanstedt – Harfe 9 FOU für Kontrabass und Zuspielband Matthias Bauer – Kontrabass 10 An-Wandlung Nr. 2 – Kammermusik für Oboe, Harfe und Schlagwerk Katharina Hanstedt – Harfe; Birgit Schmieder – Oboe; Hermann Naehring – Schlagwerk 11 Structum III für Orgel solo Armin Thalheim – Orgel

125

KL ANGZEITEN MUSIK , POLITIK UND GESELLSCHAF T HERAUSGEGEBEN VON DETLEF ALTENBURG, MICHAEL BERG UND ALBRECHT VON MASSOW



EINE AUSWAHL

BAND 10 | KATRIN STÖCK MUSIKTHEATER IN DER DDR

BAND 6 | MATTHIAS TISCHER

SZENISCHE KAMMERMUSIK UND

KOMPONIEREN FÜR UND WIDER DEN

KAMMEROPER DER 1970ER UND 1980ER

STAAT

JAHRE

PAUL DESSAU IN DER DDR

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2009. VIII, 344 S. ZAHLR. NOTEN BSP. BR.

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ISBN 978-3-412-20459-4 BAND 11 | MARCO LEMME BAND 7 | NINA NOESKE,

DIE AUSBILDUNG VON

MATTHIAS TISCHER (HG.)

KIRCHENMUSIKERN IN THÜRINGEN

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2010. V, 195 S. 2 S/W-ABB. BR. ISBN 978-3-412-20586-7

BAND 12 | MELANIE KLEINSCHMIDT »DER HEBRÄISCHE

BAND 8 | JÖRN PETER HIEKEL (HG.)

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DIE KUNST DES ÜBERWINTERNS

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ISBN 978-3-412-22390-8

BAND 9 | IRMGARD JUNGMANN

BAND 13 | ALBRECHT VON MASSOW,

KALTER KRIEG IN DER MUSIK

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BD. 3 | HELEN GEYER,

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AUFBRÜCHE UND FLUCHTWEGE

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