Ein Mantel des Schweigens: Der Umgang mit der NS-Geschichte in Opfer- und Täterfamilien [1 ed.] 9783205215066, 9783205215042


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German Pages [413] Year 2022

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Ein Mantel des Schweigens: Der Umgang mit der NS-Geschichte in Opfer- und Täterfamilien [1 ed.]
 9783205215066, 9783205215042

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Johannes Reitter

Ein Mantel des Schweigens Der Umgang mit der NS-Geschichte in Opfer- und Täterfamilien

Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg Herausgegeben von Robert Kriechbaumer · Franz Schausberger · Hubert Weinberger

Band 81

Johannes Reitter

Ein Mantel des Schweigens Der Umgang mit der NS-Geschichte in Opfer- und Täterfamilien

Böhlau Verlag Wien · Köln

Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung durch  : Nationalfonds der Republik Österreich Zukunftsfonds der Republik Österreich Amt der Salzburger Landesregierung Amt der Oberösterreichischen Landesregierung MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande  ; Brill USA Inc., Boston MA, USA  ; Brill Asia Pte Ltd, ­Singapore  ; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland  ; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Johann Reiter, Abschrift Brief vom 1. August 1940  ; © Susanne Edtbauer Korrektorat  : Ute Wielandt, Markersdorf Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21506-6

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 2. Familien von Opfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   2.1 Ernst Stimmer  : »Das hat er mit ins Grab genommen« . . . . . .   2.2 Klaus Stanjek  : »Ich habe nichts von den Abgründen gespürt« . .   2.3 Lars Reichardt  : »Ich kam nie auf die Idee, Fragen zu stellen« . .   2.4 Herbert Kaar  : »Der Vater war nie ein Thema bei uns daheim« .   2.5 M1: »Ich habe meine Herkunft von den Eltern nie erfahren« . .   2.6 Roman Frister  : »Ich war froh zu leben« . . . . . . . . . . . . . .   2.7 W1  : »Mir wird heute noch kalt, wenn ich daran denke« . . . . .   2.8 Harry Merl  : »Wie ein darüber gebreitetes Tuch«. . . . . . . . .   2.9 Margit Eidenberger  : »Was heißt das jetzt für mich  ?« . . . . . . 2.10 Ursula Aistleitner  : »Sie wollten mich damit nicht belasten« . . . 2.11 Exkurs Johann Reiter  : »Das war ein Tabuthema« . . . . . . . . .

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 18 18 54 88 93 133 160 163 202 237 259 272

3. Täter- und Täterinnen-Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . .   3.1 W4  : »Am Anfang war es schon sehr heftig für mich«. . . . . . .   3.2 Jennifer Teege  : »War mein ganzes Leben eine Lüge  ?«. . . . . .   3.3 Claudia Brunner  : »Die Stille in unserer Gesellschaft« . . . . . .   3.4 Mireille Horsinga-Renno  : »In den Nächten lag ich schlaflos«. .   3.5 Uwe von Seltmann  : »Die Vergangenheit wirkt in uns weiter«. .   3.6 Richard Danzmayr  : »Es ist halt sehr viel Stillschweigen« . . . .   3.7 Martin Wähler  : »Zwei Versionen einer Geschichte« . . . . . . .   3.8 M2  : »Da hat es mir einen Stich gegeben« . . . . . . . . . . . . .   3.9 Dietmar Weixler  : »Für mich war das ein großes Erschrecken« . 3.10 Sacha Batthyany  : »Das Schweigen hat bis heute gehalten«.. . .

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285 285 318 321 325 329 333 360 363 370 384

4. Gründe und Folgen des Schweigens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 5. Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Dank.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

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Inhaltsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Abbildungsnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Vorwort

Jene, die mit der Methode der Oral History arbeiten und dabei keinen Bogen um die Jahre des Nationalsozialismus machen, kennen das Phänomen  : Betroffenheit, die entsteht, wenn Muster von jahrzehntelanger Verdrängung und Stillschweigen und Ausblendung plötzlich durchbrochen werden. Der Student, der schockiert ist, dass Opa bei der SS war  ; der Kollege, der unter der dicken Schicht partiellen Schweigens neue Facetten der Familiengeschichte findet  ; eine Lehrerin, die eine Fortbildung besucht und nach längerer Beschäftigung mit dem Thema Ambivalenzen und Spannungen in der eigenen Geschichte entdeckt  ; bis hin zu einem doch eher seltenen Moment  : eine Studierende, die meinte, »Helfen Sie mir, etwas herauszufinden  !«, und  : Sie befürchte, die Enkelin des oberösterreichischen Gauleiters zu sein, und ertrage dies nicht (sie war es nicht). In den 1990er-Jahren hielt ich eine Lehrveranstaltung ab, »Nationalsozialismus in der Provinz«, in der es um eine Aufarbeitung der Geschichte in kleinen Orten ging, in denen viele miteinander entfernt oder nahe verwandt oder zumindest gut miteinander bekannt waren. In einem Fall wurde der Seminarteilnehmer, als er bei einem alten Herrn zum Interview erschien, an der Tür von einem Mann mit Gewehr empfangen, der ihm bedeutete, seinen Vater doch mit den alten Geschichten in Ruhe zu lassen. Ein drastisches Beispiel, das zeigt, dass es hier nicht um Bagatellen in der persönlichen oder familiengeschichtlichen Erinnerung geht. Der Zeithistoriker Gerhard Botz führte vor nahezu zehn Jahren eine Lehrveran­ staltung durch  : Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sollten durch Oral-History­­ Interviews mit Familienangehörigen und unter Heranziehung anderer ­ Quellen recherchieren, wie Großeltern und andere ältere Angehörige der eigenen F ­ amilie das NS-Regime, die Kriegshandlungen und die unmittelbare ­Nachkriegszeit erlebt hatten. Wie sie davon erzählten oder nicht erzählten und in welche gene­ratio­nen­ übergreifende Familiengeschichten sie eingebunden waren. Als Enkel und Enkelinnen waren für sie die alten Menschen, die ein Geschehen, das schon Jahrzehnte entfernt war, erlebt hatten, Teil der eigenen Geschichte. Dies alles ging mir peu à peu durch den Kopf, als sich Johannes Reitter an mich wandte, mir Details seiner eigenen Familiengeschichte erzählte und fragte, ob sich die Fragestellung im Rahmen einer Dissertation vertiefen lasse. In seiner Familie oder – genauer – in der Familie seines Vaters war stets die Existenz eines Onkels verschwiegen worden. Johann Reiter (1898–1940) aus St. Georgen im Attergau war Maurer und verheiratet. Am Ersten Weltkrieg hatte er, mit Orden ausgezeichnet, bei den Kaiserjägern teilgenommen. Der Schutzbündler und Nazi-Gegner Reiter wurde 1939 zur Deutschen Wehrmacht eingezogen. Er weigerte sich, nach Polen abkom-

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Vorwort

mandiert zu werden. Es entwickelte sich ein Kampf mit seinem Vorgesetzten, bei dem der Vorgesetzte ums Leben kam. Reiter wurde daraufhin hingerichtet. Erst spät erfuhren nachfolgende Generationen der Familie von seinem couragierten Auftreten. Kriegsdienstverweigerung galt lange Zeit als eine zu verschweigende Schandtat. Dazu kam, dass sich die Grenzen zwischen Opfer- und Täterschaft aufgeweicht hatten, je nachdem, wie man diese interpretiert. Der Bruder Johanns, Karl, der Großvater des Dissertanten, war jedenfalls NSDAP- und SA-Mitglied, ein »Ewiggestriger«, der sich nie komplett abgegrenzt hatte, seinen Bruder verschwieg, sich im Gegensatz zu diesem mit zwei »t« schrieb und sich von ihm total distanzierte. Der Bruder Johann war für Karl kein Opfer des NS-Regimes – als solcher wurde er bereits nach dem Zweiten Weltkrieg seitens der Republik eingestuft – sondern schlicht ein »Mörder«. Verschweigen, Verdrängen, Vergessen  : ein komplexes Thema. Der Umgang mit der jüngeren Vergangenheit und einer ausgeprägten historischen Last ist nicht nur in Österreich lange ein passiver gewesen. Die Verstrickungen unzähliger Biografien mit Gewalt und Unterdrückung blieben häufig unerwähnt, auch heute noch ist Erinnerungskultur keine Selbstverständlichkeit. Dies betrifft nicht nur Österreich, aber Mitteleuropa insgesamt doch in besonderem Ausmaß. Im unmittelbaren Umfeld, in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis fällt eine kritische Beschäftigung mit der Thematik schwer. In dieser Studie geht es (auch) um »Familiengeheimnisse«, mithin also um »Mikrogeschichte« und darum, Vorgänge in der Gesellschaft transparent zu machen, die üblicherweise nicht transparent sind. Ohne die Verantwortung für die Verbrechen zu relativieren oder das NS-Regime und die von diesem Verfolgten auf eine Stufe zu stellen, wird gezeigt, dass ein Verschweigen von Opferoder Täterschaft in den Familien ähnliche Phänomene hervorrufen kann. Ungewöhnlich – aber inhaltlich vom Ansatz her gerechtfertigt – ist die Behandlung von Opfer- und Täterbeispielen in einer Arbeit. Opfer- und Täterbiografien werden in der vorliegenden Arbeit nicht gleichgesetzt. Das Phänomen des Verschweigens und Verdrängens wird vergleichend untersucht. Johannes Reitter folgt damit in einem gewissen Sinn dem israelischen Psychologen Dan Bar-On. Dieser interviewte Kinder von NS-Tätern. Er brachte Nachfahren von Überlebenden mit Kindern von Tätern zusammen, um herauszufinden, ob diese mit ähnlichen Phänomenen konfrontiert waren, er initiierte den Gesprächskreis »To Reflect and Trust« zwischen Täter- und Opfernachfahren des Holocaust. Sowohl in Familien von Tätern und Täterinnen als auch unter Angehörigen von Verfolgten habe sich ein Schweigen über die Vergangenheit verfestigt, wie die Soziologin Gabriele Rosenthal feststellt  : »Überlebende wollen mit ihrem Schweigen den Kindern Belastungen ersparen und sich anderen mit ihren schmerzhaften Erlebnissen nicht zumuten. Ein Großvater und eine Großmutter, oder Eltern, die an den Nazi-Verbrechen beteiligt waren, schützen dagegen mit ihrem Schweigen und darüber hinaus mit ih-

Vorwort

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rem Leugnen in erster Linie sich selbst vor Anklage und Verlust von Zuneigung.« Das partielle Schweigen beziehungsweise die vollständige Ausblendung könne über mehrere Generationen fortwirken. Johannes Reitter hat seine Dissertation gründlich überarbeitet und ein Buch daraus gemacht, eine Pionierarbeit, in der es neben dem ausgewiesenen Thema vor allem um Erinnerungskultur geht. Der Autor präsentiert ausgewählte Fallbeispiele, intensive Archivrecherchen ebenso wie Experteninterviews, unter anderem mit dem früheren ärztlichen Leiter des Psychosozialen Zentrums ESRA in Wien, einer Anlaufstelle für in Wien lebende Jüdinnen und Juden, aber auch für andere Menschen, die Verfolgung erlitten, in psychosozialen Fragen. Er kombiniert diese Inhalte mit einer ganzen Reihe von Literaturbeispielen und auch bereits durchgeführten Untersuchungen. Diese weisen darauf hin, dass das Phänomen der Verdrängung wesentlich breiter als bisher angenommen in der Gesellschaft ausgeprägt ist. Für die (öster­reichische) Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann Johannes Reitter dabei eine Reihe neuer und unbekannter Facetten vermitteln. a. Univ.-Prof. Dr. Michael John Linz, im Herbst 2021

Abkürzungsverzeichnis

AdR Archiv der Republik AdWLR Amt der Wiener Landesregierung Arolsen Arolsen Archives AW Auswanderungsabteilung BArch Bundesarchiv Berlin BG Bezirksgericht Bgld. Burgenland BMfF Bundesministerium für Finanzen BPDion Bundespolizeidirektion CIC Counter Intelligence Corps DÖW Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes E-uReang Entschädigungs- und Restitutionsangelegenheiten FLD Finanzlandesdirektion GB Geburtsbuch Gestapo Geheime Staatspolizei HF Hilfsfonds IKG Israelitische Kultusgemeinde IRO International Refugee Organization ITS International Tracing Service KZ Konzentrationslager LG Landesgericht MA Magistratsabteilung MaBA Magistratisches Bezirksamt NÖ Niederösterreich NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt OfA Opferfürsorgeakt ÖNB Österreichische Nationalbibliothek OÖ Oberösterreich OÖLA Oberösterreichisches Landesarchiv ORF Österreichischer Rundfunk ÖStA Österreichisches Staatsarchiv PCIRO Preparatory Commission of the International Refugee Organization PDion Polizeidirektion RDB Reichsbund der deutschen Beamten SA Sturmabteilung

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Abkürzungsverzeichnis

SD Sicherheitsdienst SLA Salzburger Landesarchiv SRS Strafsachen SS Schutzstaffel STA Staatsanwaltschaft TU Technische Universität VA Vermögensanmeldungen Wien Vugesta(p) Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Geheimen Staatspolizei VVSt Vermögensverkehrsstelle VWI Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien WStLA Wiener Stadt- und Landesarchiv ZRS Zivilrechtssachen

1. Einleitung

In welche Geschehnisse und Gräueltaten ihre Vorfahren zur Zeit des Nationalsozialismus involviert waren, erfahren sowohl Nachkommen von Opfern als auch von Tätern und Täterinnen oft erst nach Jahrzehnten des Schweigens. Keineswegs werden das NS-Regime und dessen Handlanger und Handlangerinnen auf eine Stufe mit den Verfolgten, Gequälten und Ermordeten gestellt. Parallelen lassen sich jedoch hinsichtlich der Auswirkungen feststellen, die das Schweigen in den Familien haben kann. Der Historiker Gerhard Botz konstatiert, die Nachkommen stünden noch »in lebendigen familiären und transgenerationellen Erinnerungszusammenhängen«,1 obwohl immer weniger von ihnen über eigene Erinnerungen an die NS-Zeit verfügten. Zu einem ähnlichen Schluss kommen die Politik-Wissenschafterin Claudia Brunner, Großnichte des Kriegsverbrechers Alois Brunner, und der Journalist Uwe von Seltmann, dessen Großvater zum Mitarbeiterstab von Odilo Globocnik gehört hatte, einer »Schlüsselfigur der Judenpolitik im Generalgouvernement«  :2 Die Vergangenheit reiche in die Gegenwart hinein, wirke in uns weiter, »ob es uns passt oder nicht.«3 Wer waren diese Vorfahren, über deren Leben in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus zunächst ein Mantel des Schweigens gebreitet war  ? Wann und unter welchen Umständen wurde dieser Mantel schließlich doch gelüftet  ? Welche Parallelen und Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede lassen sich erkennen  ? Das forschungsleitende Interesse liegt in einer persönlichen Erfahrung 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begründet  : Zum ersten Mal erzählte der 1938 geborene Vater des damals 40-jährigen Verfassers fast beiläufig davon, dass er noch einen Onkel väterlicherseits gehabt hatte. Dieser Johann Reiter sei ein Mörder gewesen und 1940 in Wien hingerichtet worden. Seine Geschichte wird in einem Exkurs beleuchtet. Mit Hilfe von Archivalien sowie Dokumenten und Fotos aus dem Besitz der Fa­ milien wurden die Biografien der Vorfahren, über die geschwiegen worden war, ­rekonstruiert. Auch liegen dieser qualitativen Studie teilstandardisierte OralHistory-­Interviews zugrunde. Deren Subjektivität muss mitberücksichtigt werden wie bei vermeintlich objektiven, neutralen oder als zuverlässig geltenden historischen 1 Botz, Jenseits der Täter-Opfer-Dichotomie lebensgeschichtlich erforschen und essayistisch beschreiben. In  : Ders. (Hg.), Schweigen und Reden einer Generation, S. 10 f. 2 Schmitz, Odilo Globocnik (1904–1945). 3 Brunner/von Seltmann, Schweigen die Täter, reden die Enkel, S. 13.

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Einleitung

Quellen. Fallbeispiele, die bereits in autobiografischen Texten, Dokumentarfilmen, Medienberichten sowie anderen Quellen dargestellt worden waren, sind ebenfalls enthalten. In die Betrachtung wurden außerdem gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen miteinbezogen, wie etwa die jahrzehntelang mit der Moskauer »Declaration on Austria« argumentierte Position, Österreich als »the first free country to fall a victim to Hitlerite aggression«4 sei selbst Opfer Hitler-Deutschlands gewesen. Seit den 1980er-Jahren beschäftigen sich Wissenschafterinnen und Wissenschafter verschiedener Disziplinen sowie Autorinnen und Autoren populärwissenschaftlicher Bücher in ihren Publikationen verstärkt mit dem innerfamiliären Diskurs über die NS-Zeit und damit auch mit dem Verdrängen, Tabuisieren und Verschweigen von biografischen Abschnitten. Allerdings subsumieren sie unter dem Begriff »Schweigen« vor allem das Verheimlichen von Details, nicht das völlige Verschweigen von Täter- oder Opferschaft, wie es hier im Fokus steht. Von einer »Wand des Schweigens«5 berichtet Jürgen Müller-Hohagen, der 1983 damit begonnen hatte, die seelischen Nachwirkungen der nationalsozialistischen Diktatur zu erforschen. Kinder von Tätern interviewte der israelische Psychologe Dan Bar-On, der dafür in den Jahren 1985 bis 1987 viermal nach Deutschland gereist war. In Zusammenhang mit dem Schweigen der Elterngeneration spricht Bar-On vom Phänomen einer doppelten Mauer  : »Die Eltern haben eine Mauer um ihre Gefühle zu den Gräueltaten gebaut, die sie miterlebt oder begangen haben, und die Kinder haben als Reaktion darauf ihre eigene schützende Mauer errichtet.«6 Jene Kapitel der Familiengeschichte, die nicht erzählt worden waren, seien oft mit größerer Macht von Generation zu Generation weitergegeben worden als jene, die tradiert worden waren.7 Dan Bar-On brachte auch Nachfahren von Überlebenden mit Kindern von Tätern zusammen, um herauszufinden, ob diese mit vergleichbaren Phänomenen konfrontiert waren  : »Wurden sie durch die schrecklichen Taten ihrer Eltern während der Nazi-Zeit traumatisiert  ? Ist dies auf sie durch eine ›Verschwörung des Schweigens‹ übertragen worden  ? Wie und bis zu welchem Grad haben sie sich dem gestellt und die Last durchgearbeitet […]  ?«8 Sowohl in Familien von Tätern und Täterinnen als auch unter Angehörigen von Verfolgten habe sich ein Schweigen über die Vergangenheit institutionalisiert, wie die

4 Joint Four-Nation Declaration, Moscow Conference, datiert Oktober 1943, URL  : http  ://www.ibiblio. org/pha/policy/1943/431000a.html (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 5 Müller-Hohagen, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen, S. 122. 6 Bar-On, Die Last des Schweigens, S. 359. 7 Vgl. ebd., S. 21. 8 Ebd., S. 18 f.

Einleitung

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Soziologin Gabriele Rosenthal feststellt  : »Überlebende wollen mit ihrem Schweigen den Kindern Belastungen ersparen und sich anderen mit ihren schmerzhaften Erlebnissen nicht zumuten. Ein Großvater und eine Großmutter, oder Eltern, die an den Nazi-Verbrechen beteiligt waren, schützen dagegen mit ihrem Schweigen und da­ rüber hinaus mit ihrem Leugnen in erster Linie sich selbst vor Anklage und Verlust von Zuneigung.«9 Das Schweigen sei einer der wirksamsten Mechanismen, um eine problematische Vergangenheit in Familien über mehrere Generationen fortwirken zu lassen  : Je mehr verheimlicht wird, desto nachhaltiger wirke sich die Familienvergangenheit auf die Generation der Kinder und Enkelkinder aus.10 Die Historikerin Margit Reiter, die Kinder von Tätern interviewt hatte, berichtet von einem »familiären Pakt des Schweigens«.11 Diesen Pakt hätten die Nachfahren lange mitgetragen. Das Familiengedächtnis versteht sie als interaktiven Prozess, »an dem immer mehrere Generationen beteiligt sind«.12 Reiter argumentiert, dass in den Familien »keinesfalls nur geschwiegen wurde.«13 Vor allem das Leid der Opfer und die eigene Verantwortung der Täter und Täterinnen seien verschwiegen worden. Unbestritten ist, dass keineswegs nur geschwiegen wurde, »sondern sehr wohl auch erinnert und erzählt«.14 Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte nach Kriegsende habe es viele verpasste Chancen gegeben, wie die Sozialwissenschafterin Iris Wachsmuth konstatiert  : »für die erste Generation ehrlich zu erzählen und für die nachfolgenden Generationen nicht mehr recherchiert, gefragt oder hinterfragt zu haben, was die Eltern bzw. Großeltern (nicht) von selbst erzählt haben.«15 Wenn Nachfahren nach Jahrzehnten erfahren, über welche Facetten, Aspekte und Verwicklungen während der NS-Zeit geschwiegen worden war, reagieren sie oft beunruhigt und versuchen zum Teil verzweifelt, an weitere Informationen zu gelangen  : »Ob Geheimhaltung die von den Verantwortlichen intendierten Effekte hat, ist oft fraglich.«16 Schweigen war – und ist – eine weit verbreitete Form der Auseinandersetzung respektive Nicht-Auseinandersetzung, auch wenn Margit Reiter fordert, dass dieser  9 Rosenthal, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im familialen Dialog über den Holocaust. In  : Dies. (Hg.), Der Holocaust im Leben von drei Generationen, S. 19. 10 Vgl. ebd., S. 22 f. 11 Reiter, Die Generation danach, S. 13. 12 Dies., Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis. In  : Pinwinkler/Weidenholzer (Hg.), Schweigen und erinnern, S. 246. 13 Dies., Die Generation danach, S. 13. 14 Dies., Generation und Gedächtnis, S. 67. 15 Iris Wachsmuth, Der Dialog über die Shoah in Familien von Täter(inne)n und Mitläufer(inne)n. In  : Keil/Mettauer (Hg.), Drei Generationen Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, S. 204 f. 16 Peter Kaiser, Familiengeheimnisse. In  : Spitznagel (Hg.), Geheimnis und Geheimhaltung, S. 293.

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Einleitung

»hartnäckige Mythos vom allumfassenden Schweigen über den Nationalsozialismus«17 gründlich hinterfragt werden müsse. Die meisten Forscherinnen und Forscher gehen jedoch davon aus, dass es neben den verschiedenen Formen des Sprechens und Erinnerns vor allem auch »das viel zitierte Schweigen, die Ausblendung und Leerstellen im Familiengedächtnis«18 gab – und gibt. Mit den qualitativen Methoden der Oral History wurde in den Interviews mit Mitgliedern von Familien, in denen geschwiegen worden war, danach getrachtet, »spurenhafte[n] Überlieferungen der Vergangenheit im Rahmen eines geschichtlichen Vorwissens Bedeutung zu geben.«19 Bereits dokumentierte Fallbeispiele wurden zum Teil anhand von Interviews oder Archivalien ergänzt, analysiert und interpretiert. Die Darstellung kann keinem strikten Muster folgen, da die Quellenlage von Fall zu Fall höchst unterschiedlich ist. Das aus insgesamt 21 Fallbeispielen bestehende Sample setzt sich aus zehn Fällen zusammen, die Opfern des NS-Regimes, sowie zehn, die Tätern, Mitläufern und Mit­läuferinnen oder Wegbereitern zugeordnet werden können. In einem Exkurs, der den Fallbeispielen der Opferfamilien angefügt ist, wird die Biografie Johann Reiters beleuchtet. Die Größe der Stichprobe wurde von der Annahme abgeleitet, damit die komplexen Zusammenhänge zwischen den Biografien von Vorfahren, über die geschwiegen worden war, und den Auswirkungen des Schweigens auf die Nachfahren erfassen sowie die dahinterstehenden Mechanismen veranschaulichen zu können. Bei der Auswahl wurde auch auf Kontraste zwischen den Biografien geachtet, um »die Vielfalt der […] vorhandenen Konstellationen«20 abzubilden. Eine Anonymisierung direkter Identifizierungsmerkmale wurde vorgenommen, wenn die interviewten Personen Bedenken hinsichtlich einer Veröffentlichung ihres Namens und anderer identifizierender Daten hegten oder eine Anonymisierung zur Bedingung für die Zustimmung zum Interview gemacht hatten. Die personenbezogenen Daten von insgesamt sieben Interviewpartnerinnen und -partnern wurden entfernt, die Namen durch W1 bis W5 für die weiblichen sowie M1 bis M2 für die männlichen Interviewpartner ersetzt. Anstelle von exakten Datumsangaben finden sich in den betroffenen Kapiteln die entsprechenden Quartale, statt Ortsbezeichnungen die Namen übergeordneter Regionen und Länder. Begriffe, die der nationalsozialistischen Terminologie entstammen, wurden durch die Verwendung von Anführungszeichen kenntlich gemacht. Alle Formulierungen 17 Reiter, Framework. Postnationalsozialistische Familien(re)konstruktionen im österreichischen Kontext. In  : Derschmidt (Hg.), Sag Du es Deinem Kinde  !, S. 19. 18 Müller-Hohagen, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen, S. 175. 19 Niethammer, Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History. In  : Ders./von Plato (Hg.), »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«, S. 397. 20 Aglaja Przyborski/Monika Wohlrab-Sahr, Forschungsdesigns für die qualitative Sozialforschung. In  : Baur/Blasius (Hg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 127.

Einleitung

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sind bewusst nach geschlechtersensiblen Gesichtspunkten gewählt worden  : Mit weiblichen Formen sind ausschließlich Frauen gemeint, mit männlichen ausschließlich Männer. Zitate wurden diesbezüglich nicht angepasst, sondern im Original belassen. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung der Dissertation »Ein Mantel des Schweigens. Strategien des innerfamiliä­ ren Umgangs mit der NS-Geschichte, dargestellt anhand ausgewählter Fälle«, die 2021 am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz eingereicht wurde.21

21 Erstbeurteiler  : Michael John.

2. Familien von Opfern

Von den zehn Fallbeispielen in diesem Kapitel beruhen neun auf den Biografien von Personen, die gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie als jüdisch eingestuft worden waren. Ein Beispiel basiert auf der Lebensgeschichte eines Mannes, der aufgrund des vom Regime verschärften Paragrafen 175 verfolgt worden war  : Mit diesem Abschnitt des Strafgesetzbuchs wurden sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts geahndet. Die in dem Exkurs nachgezeichnete Lebensgeschichte ist die eines Sozialdemokraten, der in einen nicht lückenlos rekonstruierbaren Schusswechsel verwickelt war und hingerichtet wurde. In sechs der Fälle waren die Vorfahren, über die in den Familien geschwiegen worden war, in nationalsozialistische Konzentrationslager verschleppt worden. In zwei Fällen hatten sie während der NS-Diktatur als jüdische »U-Boote« in Wien überlebt. In einem Fall war eine vom Regime als jüdisch kategorisierte Person mit einer nichtjüdischen verheiratet gewesen, und in einem weiteren Fall hatte der Vorfahr unter nicht restlos geklärten Umständen zumindest einen Teil der Jahre, in denen die jüdische Bevölkerung Rumäniens unmittelbar von Verfolgung, Deportation und Massenmord bedroht war, in Bukarest gelebt. Die Reihung der Fallbeispiele erfolgte aufgrund von Parallelen in den Biografien, wie etwa der Verschleppung in Konzen­ trationslager, dem Überleben als »U-Boot« und dem Grund der Verfolgung.

2.1 Ernst Stimmer  : »Das hat er mit ins Grab genommen« 1 In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahren erfuhr der am 16. Juni 1946 in Wien geborene Ernst Stimmer, dass sein gleichnamiger Vater während des Zweiten Weltkriegs ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt worden war. Nach dessen Tod am 25. Dezember 1990 fand der Sohn eines römisch-katholischen Vaters und einer evangelischen Mutter im Nachlass ihm unbekannte Dokumente. Aus diesen geht hervor, dass die Eltern seines Vaters wegen ihrer jüdischen Abstammung am 15. Oktober 1941 von Wien ins Getto Lodz deportiert worden waren. In den darauf­ folgenden Jahren stellte Stimmer Recherchen an. Diese ergaben, dass seine zum Christentum konvertierten Großeltern väterlicherseits die Shoah nicht überlebt haben. Über deren Verbleib hatte der Vater nie etwas erzählt  : »Das hat er mit ins Grab genommen.«2 1 Interview mit Ernst Stimmer, Transkript S. 1. 2 Ebd.

Ernst Stimmer  : »Das hat er mit ins Grab genommen«

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In dem Dokumentarfilm »Shalom Linz«3 führt der 2019 verstorbene oberösterreichische Musiker, Komponist und Autor Herwig Strobl durch das jüdische Linz. In einer mehrminütigen Passage berichtet darin Ernst Stimmer von einer Reise zum ehemaligen Konzentrationslager Theresienstadt.4 Dort war sein Vater von Dezember 1943 bis Mai 1945 inhaftiert gewesen  : »Mein Vater ist 85 Jahre alt geworden und hat mir mit 81 Jahren das erzählt, dass er in Theresienstadt war.«5 Stimmer hatte vor seiner Pensionierung als Volksschuldirektor in Kronstorf im Bezirk Linz-Land gearbeitet. Während des Interviews ergänzte seine Ehefrau Gabriele die Antworten ihres Mannes durch eigene Erinnerungen und erwähnte wiederholt, dass die Ereignisse von ihren Schwiegereltern totgeschwiegen worden waren. 2.1.1 Ernst Stimmers Vorfahren »Ich weiß nur die Berufe«,6 antwortete Ernst Stimmer auf die Frage, was sein Vater ihm über die Großeltern väterlicherseits erzählt habe  : »Der Großvater war Bankbeamter und die Großmutter war Pianistin.«7 Als er seinen Vater in dessen letzten Lebensjahren gefragt habe, woran die beiden gestorben sind, habe ihm dieser geantwortet, dass beide einen Herzinfarkt erlitten hätten. »Das andere habe ich erst später erfahren«,8 die Deportation ins Getto Lodz 1941 und die Ermordung im Zuge der vom NS-Regime vorangetriebenen Vernichtung des europäischen Judentums. Irene Stimmer, Ernst Stimmers Großmutter väterlicherseits, wurde am 9. März 1881 in Prag als Tochter des jüdischen Ehepaars Josef und Bertha Stimmer geboren. Die Mutter hieß vor ihrer Verheiratung mit Nachnamen Glückauf. Sie starb am 30. November 1898, als Irene 17 Jahre alt war.9 Ernst Stimmers Großvater, der in den Quellen als Emilian oder Emil aufscheint, kam am 6. Juli 1879 im südwestböhmischen Plana zur Welt. Seine Eltern, Adolf und Jeanette Stimmer, geborene Friedländer, gehörten ebenfalls der jüdischen Glaubensgemeinschaft an. Emil arbeitete zunächst als Bankbeamter10 und später in der Position eines Prokuristen.11  3 Strobl, Shalom Linz.  4 Ebd., 16  :29–19  :34 min.  5 Ebd., 17  :57–18  :05 min.  6 Interview mit Ernst Stimmer, S. 3.  7 Ebd., S. 1.  8 Ebd., S. 2.  9 Siehe Todesanzeige Bertha Stimmer. In  : Prager Tagblatt vom 1.12.1898, S. 25. 10 Siehe Adolph Lehmann’s allgemeiner Wohnungsanzeiger, 1908, Bd. 2, URL  : https  ://www.digital.wien bibliothek.at/wbrobv/periodical/pageview/121738 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 11 Ebd., 1927, Bd. 1, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/pageview/194459 (letz­ ter Zugriff  : 21.10.2021).

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Familien von Opfern

Abb. 1  : Das Ehepaar Irene und Emil Stimmer, aufgenommen 1920 in Wien.

Ernst Stimmer  : »Das hat er mit ins Grab genommen«

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Irene und Emil Stimmer heirateten am 15. August 1905 in Prag. Ihr Sohn Ernst, der gleichnamige Vater des pensionierten Volksschuldirektors Ernst Stimmer, wurde am 5. Juli 1906 in Wien geboren, ihre Tochter Elsa am 11. November 1910. Alle vier Familienmitglieder traten in den 1920er- und 1930er-Jahren aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus  : Ernst, der zehn Tage nach seiner Geburt beschnitten worden war,12 als Realschüler am 7. Oktober 1920 im Alter von 14 Jahren und Elsa am 18. November 1924. Am 11. Mai 1932 vollzogen die damals in der Simmeringer Hauptstraße 11 in Wien wohnhaften13 Großeltern Irene und Emil Stimmer ihren Austritt. Die beiden ließen sich am 5. April 1933 in der römisch-katholischen Pfarrkirche »Zur Unbefleckten Empfängnis« in Neusimmering im elften Wiener Gemeinde-Bezirk taufen.14 Weitere Adressen in Wien, unter denen der Name Emil Stimmer in Lehmann’s Wohnungsanzeiger aufscheint, sind die Paniglgasse 19 im vierten Bezirk in den Ausgaben der Jahre 1908 und 1909, in denen von 1910 bis 1913 die Barmherzigengasse 19 im dritten, in den Ausgaben von 1914 bis 1924 sowie von 1933 bis 1938 die Rinnböckstraße 12 im elften Bezirk, von 1925 bis 1932 die Simmeringer Hauptstraße 11 ebenfalls im elften Wiener Gemeinde-Bezirk und von 1939 bis 1941 der Venusweg 3 in Hütteldorf. Der am 10. November 1928 in Wien ausgestellte Pass der Privatbeamten-Gattin Irene Stimmer, der die Nummer 636.869 trägt und sich im Nachlass ihres Sohns findet, zeugt von der Reisetätigkeit der Familie. Ein Teil der zahlreichen Stempel ist unleserlich. Am 22. August 1930 reiste Irene Stimmer, deren Gesicht als oval sowie Augen und Haare als braun beschrieben werden,15 in Campocologno in die Schweiz ein. Am 4. und 24. Juni 1931 passierte sie Marburg, am 11. August 1933 Sillian bei der Ausreise aus Österreich. Am 10. Juli 1934 wurde die Gültigkeit des Dokuments, das ursprünglich am 9. November 1933 abgelaufen wäre, bis 9. Juli 1939 verlängert. Am 5. August 1934 überquerte Irene Stimmer die Grenze zwischen Österreich und Italien. Am 30. September 1934 wurde der Pass in Bratislava und am 24. August 1937 in Feldkirch bei der Einreise nach Österreich gestempelt. Im Sommer 1933 unternahm das Ehepaar Stimmer eine Reise nach Rom, über die Emil Stimmer ein 138 Seiten umfassendes Tagebuch führte  : »Zu meinem 54. Geburtstage am 6. Juli 1933 schenkte mir mein lieber Sohn Ernst dieses Buch mit der Widmung, ich möge darin die Erinnerungen an meine Romreise verewigen.«16 Auf der letzten der in fein säuberlicher Schönschrift eng beschriebenen Seiten, die wie

12 Geburtsbuch IKG Wien, 1906, Nr. 1444, Archiv IKG Wien. 13 Siehe Lehmann’s, 1932, Bd. 1, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/page view/204189 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 14 Niederschrift, LG ZRS Wien, 4.10.1946, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46. 15 Siehe Reisepass Irene Stimmer, Nachlass Ernst Stimmer, S. 2. 16 Tagebuch Emil Stimmer, Nachlass Ernst Stimmer, S. 1.

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gedruckt anmuten, berichtet Emil Stimmer über den Kauf einer Immobilie in Wien  : »Nun habe ich mir in Hütteldorf auf dem Wolfersberg ein kleines Häuschen mit Garten angeschafft und wünsche, recht lange an die Romreise und Amlach denken zu dürfen  !«17 Das Einfamilienhaus, das nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich die Begierden von Parteigängern wecken und nach Kriegsende zum Gegenstand mehrjähriger Rechtsstreitigkeiten werden sollte, befand sich im Venusweg 3 in Hütteldorf, das bis 1938 Teil des 13. Bezirks war und seither zum 14. gehört. Das Tagebuch, das den Titel »Rom 1933« trägt, endet mit den Worten »Mit Gott«.18 Ernst Stimmers gleichnamiger Vater besuchte die Bundesrealschule im elften Bezirk, die 1921 in ein neues Gebäude in der Gottschalkgasse übersiedelte. Er beendete das letzte Schuljahr 1923/24 jeweils mit einem »Sehr gut« in Betragen, Religionslehre, dem Freigegenstand Gesang und einem weiteren Freigegenstand, dessen Bezeichnung nicht leserlich abgekürzt ist, einem »Gut« in Deutsche Sprache, Englische Sprache, Mathematik, Physik und Turnen sowie einem »Befriedigend« in Französische Sprache, Geschichte und Geografie, Naturgeschichte, Darstellende Geometrie und Freihandzeichnen.19 Am 1. Juli 1924 legte Emil Stimmer die Reifeprüfung ab.20 Ab dem Studienjahr 1924/1925 besuchte er die Bauingenieurschule an der Technischen Hochschule in Wien, die 1975 in Technische Universität umbenannt wurde. Während seiner gesamten Studienzeit wohnte Stimmer, dem die Matrikelnummer 281/1924 zugeordnet worden war, in der Hauptstraße 11 im elften Bezirk. Sämtliche von ihm im Rahmen der Vorprüfungsfächer und des Wahlstudiums absolvierten Prüfungen und Übungen wurden mit »Sehr gut« oder »Gut« beurteilt. Keine Prüfungen absolvierte Stimmer im Studienjahr 1929/30, in dem seine Inskription vorübergehend »wegen Nichtzahlung des Unterrichtsgeldes«21 gestrichen wurde.22 Die erste Staatsprüfung bestand er am 15. Dezember 1930 mit »Stimmeneinhelligkeit«.23 Von 22. bis 28. November 1934 legte Ernst Stimmer den praktischen Teil der zweiten Staatsprüfung mit »Gutem Gesamterfolg« ab. Die theoretische Prüfung wurde von der Prüfungskommission im Gegenstand Wasserbau mit »Gut« und in Brückenbau mit »Genügend« beurteilt  : »Der Prüfling hat somit die zweite Staatsprüfung an der Fakultät für Bauingenieurwesen mit Stimmen-Einhelligkeit bestanden.«24 Stimmer wurde der Titel Ingenieur verliehen, der ab 1938 im Zuge der »Übertra17 Tagebuch Emil Stimmer, Nachlass Ernst Stimmer, S. 138. 18 Ebd. 19 Klassenkatalog Realschule Wien 11. Bezirk, Schuljahr 1923/24, Nr. 20, BG BRG Geringergasse Wien. 20 Prüfungsbericht 2. Staatsprüfung, Protokoll 52/1934, Technische Hochschule Wien, Archiv TU Wien. 21 Hörerkatalog Technische Hochschule Wien, Matrikelnummer 281/1924, Archiv TU Wien. 22 Ebd. 23 Prüfungsbericht 2. Staatsprüfung, Protokoll 52/1934, TH Wien, Archiv TU Wien. 24 Ebd.

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gung der reichsdeutschen Studienvorschriften auf die Österreichischen Hochschulen und Universitäten«25 in Diplomingenieur umgeschrieben lassen werden konnte, allerdings nur von als »arisch« eingestuften Absolventen und Absolventinnen. Ernst Stimmer war eine Umschreibung erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs möglich. Seine Diplomurkunde erhielt er am 2. Februar 1951.26 Wie sein Vater begann auch Ernst Stimmer im Sommer 1933, ein Tagebuch zu führen, auf dessen Umschlag in goldenen Versalien »Tirol« prangt. Der erste Eintrag ist mit »Amlach bei Lienz, 30. Juli 1933«27 überschrieben. Mitte August dokumentierte der damals 27-Jährige einen Ausflug nach Südtirol  : »Meine knappe Stunde Bahnfahrt bringt uns an die italienische Grenze, wo ich das erste Mal Fascisten und Carabinieri zu Gesicht bekomme. Ihre Uniformen sind wohl fesch und die Ordnung mit der die Grenzkontrolle und Verkehrsabwicklung von sich geht ist tadellos, fast möchte man sagen preußisch, doch wirken die vielen Uniformen und das große Tamtam etwas großtuerisch, besonders im Pustertal mit seinen schlichten, deutschen Bauernhäusern und urdeutschen Bewohnern, die sich durch nichts von den Pustertalern herrüber der Grenze unterscheiden.«28 Im letzten Eintrag, der aus dem Sommer 1934 stammt, wird eine Fahrt auf den Großglockner »mit einem hübschen, blauen Alpenlandwagen«29 beschrieben. Am 6. Februar 1934, wenige Tage vor Ausbruch des Österreichischen Bürgerkriegs, trat der kurz vor dem Studienabschluss stehende Hochschüler Ernst Stimmer der »Vaterländischen Front« bei. Dieser Organisation wurde im autoritären Ständestaat die Funktion einer Sammelbewegung aller vaterlandstreuen Österreicher und Österreicherinnen zugedacht. Bis zu ihrer Auflösung nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Frühjahr 1938 entrichtete Stimmer sämtliche Monatsbeiträge in Höhe von zunächst zehn Groschen. Ab Juli 1935 betrug der von ihm geleistete monatliche Beitrag 40 Groschen.30 Stimmer war auch Mitglied des zur »Vaterländischen Front« gehörenden Kulturwerkes »Neues Leben«, dem er am 30. September 1937 beigetreten war.31 Im Alter von 30 Jahren heiratete Ernst Stimmer am 29. Mai 1937 in der römischkatholischen Pfarrkirche »Zur Heiligen Familie« in Neuottakring in Wien die aus Kärnten stammende 18-jährige Lohnbuchhalterin Adele Anna Brunner. Sie war am 14. Dezember 1918 in Villach-Völkendorf als uneheliches Kind der Schneiderin 25 Kurze Geschichte der TU Wien, URL  : https  ://www.tuwien.at/tu-wien/ueber-die-tuw/geschichte-der-­ tu-wien/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 26 E-Mail Alexandra Wieser an Verfasser, datiert 10.1.2020. 27 Tagebuch Ernst Stimmer, datiert 30.7.1933, Nachlass Ernst Stimmer. 28 Ebd., datiert 16.8.1933. 29 Ebd., datiert Juli 1934. 30 Mitgliedskarte Vaterländische Front, Nr. 231.579, Nachlass Ernst Stimmer. 31 Mitgliedskarte Werk Neues Leben, Nachlass Ernst Stimmer.

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Elise Brunner geboren worden. In den Quellen wird Adele auch als kaufmännische Beamtin und Privatbeamtin bezeichnet.32 Ab 5. Mai 1938 schien sie in der Simmeringer Hauptstraße 11 als gemeldet auf, wo die Familie Stimmer bereits seit den 1920er-Jahren wohnte. Ernst war bis 27. November 1940 unter dieser Adresse registriert, ab 29. November 1940 dann im Haus seiner Eltern im Venusweg 3 und ab 26. September 1942 in einer »Sammelwohnung« in der Großen Mohrengasse 16 im zweiten Bezirk.33 2.1.2 Verfolgung während der NS-Zeit Am 10. August 1939 war auch Ernst Stimmer gezwungen, gemäß der vom NSRegime erlassenen »Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen« den zusätzlichen Vornamen Israel anzunehmen.34 Stimmer arbeitete bis zu seiner Deportation Ende November 1943 bei der »Wiener Brückenbau und Eisenkonstruktions A. G.« an deren Standort in der Hardmuthgasse 131 im zehnten Bezirk,35 für die er auch als »Statiker und Konstrukteur in Heimarbeit«36 tätig war. Entsprechend der von den Machthabern am 26. April 1938 erlassenen »Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden« gab der »Invalid. Rentner«37 Emil Stimmer, in dessen Vermögensverzeichnis mit Schreibmaschine »röm. kath. Religionsgemeinschaft«38 hinzugefügt worden war, am 30. Juni 1938 das Einfamilien­ haus im Venusweg 3 an, dessen Wert mit 8000 Reichsmark beziffert wurde, sowie eine monatliche Invaliditätsrente »seitens der Angestelltenversicherungsanstalt in Wien«39 in Höhe von 162,20 Reichsmark, die er seit 1. Jänner 1938 bezog.40 Auf einer Akteneinlage der Abteilung Liegenschaften scheint für das Haus »Schulden 0«41 auf. In einem Brief an die für die Zwangsenteignung jüdischen Privatvermögens zuständige nationalsozialistische Behörde in Wien berichtete Stimmer, dass ihm von 32 Abschrift Geburtsurkunde Adele Anna Brunner, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 33 Meldungsbestätigung, datiert 13.12.1943, Scheidungsakt Ernst und Adele Stimmer, WStLA, 17 Cg 421/43. 34 Geburtsbuch IKG Wien, 1906, Nr. 1444, Archiv IKG Wien. 35 Hausliste Wien 2. Bezirk, 1943, Große Mohrengasse 16, IKG Wien, VWI. 36 Hausliste Wien 10.–17. Bezirk, 1942, Venusweg 3, IKG Wien, VWI. 37 Verzeichnis über das Vermögen von Juden nach dem Stand vom 27. April 1938, Stimmer Emil, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8999. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Siehe Ebd. 41 Akten-Einlage Abteilung Liegenschaften, datiert 14.7.1939, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8999.

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der NSDAP Hütteldorf am Tag nach der Pogromnacht im November 1938 Bargeld in Höhe von 220 Reichsmark, eine portable Schreibmaschine im Gegenwert von 200 und ein Radioapparat im Wert von 300 Reichsmark abgenommen worden seien. Er bat darum, diese Werte von den »Sühneleistungen« abzuziehen, die von ihm gemäß der am 12. November 1938 erlassenen »Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit« verlangt wurden.42 Im abschlägigen Antwortschreiben wurde ihm mitgeteilt, dass er diese Werte nicht in seinem Vermögensverzeichnis angegeben habe und nicht festgestellt werden könne, ob er tatsächlich im Besitz dieser Werte gewesen sei.43 Ernst Stimmer antwortete, bewegliche Gegenstände seien nicht anmeldepflichtig gewesen. Zum Zeitpunkt der Vermögensanmeldung habe er keine Barmittel besessen. Er bat »nochmals, mein Ansuchen um Abstreichung der beschlagnahmten Werte von der zu leistenden Sühneabgabe beim Finanzamt Hietzing befürworten zu wollen.«44 Auf dem maschingeschriebenen Brief finden sich der handschriftliche Vermerk »nein« mit Hinweis auf das abschlägige Antwortschreiben vom 20. Februar 1939 sowie der mit dem Datum 7. März 1939 versehene Stempel »Erledigt«. Irene Stimmer musste ebenfalls am 30. Juni 1938 Vermögen anmelden, das aus Anleihen, Spareinlagen und Schmuck bestand.45 Sie ergänzte noch im selben Jahr in einem handschriftlichen Brief, dass sie für die Aussteuer und die am 23. September 1938 erfolgte Ausreise ihrer Tochter Elsa Vermögensanteile im Gesamtwert von 1292 Reichsmark verwendet habe,46 und bat die Behörde in einem maschingeschriebenen Brief, das Finanzamt Hietzing anzuweisen, dessen Bescheid vom 29. Jänner 1939 über die von ihr zu bezahlende »Sühneleistung« in Höhe von 1000 Reichsmark aufzuheben. Denn ihr Vermögen habe die von den Machthabern festgelegte Grenze von 5000 Reichsmark an den jeweiligen Stichtagen nicht erreicht.47 Eine Antwort auf diese Bitte ist in dem Akt nicht enthalten. Die zum Zeitpunkt der Vermögensanmeldung am 30. Juni 1938 noch ledige Tochter Elsa Stimmer, die als Wohnadresse Simmeringer Hauptstraße 11 und als Beruf »arbeitslos. Schneiderin«48 angab, führte in ihrer Anmeldung neben einer Armbanduhr und Ringen im Wert von 100 Reichsmark sowie einer österreichischen Goldrente und Geschäftsanteilen der Elisabethbahn auch internationale Bundesanleihen im Gesamtwert von 1600 Reichsmark an.49 Vom Staatskommissar in der Privatwirt42 Siehe Emil Stimmer an VVSt, datiert 2.2.1939, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8999. 43 Siehe VVSt an Emil Stimmer, datiert 20.2.1939, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8999. 44 Emil Stimmer an VVSt, datiert 22.2.1939, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8999. 45 Siehe Verzeichnis Vermögen von Juden, Stimmer Irene, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8988. 46 Siehe Irene Stimmer an VVSt, datiert 10.12.1938, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8988. 47 Siehe Irene Stimmer an VVSt, datiert 2.2.1939, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8988. 48 Verzeichnis Vermögen von Juden, Stimmer Elsa, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 2970. 49 Siehe ebd.

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schaft der als »Vermögensverkehrsstelle«50 bezeichneten Enteignungsbehörde im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit in Wien wurde sie daraufhin »mit Ermächtigung des Herrn Beauftragten für den Vierjahresplan«51 aufgefordert, ihre »angemeldeten ausländischen Wertpapiere«52 der Reichsbankstelle in Wien »anzubieten und auf deren Erfordern zu verkaufen. Die Anbietung hat spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung dieser Aufforderung zu erfolgen.«53 Elsa, genannt »Mädi«, gelang die Ausreise, wie auch aus einem von ihrem Bruder Ernst drei Monate nach Kriegsende verfassten Brief hervorgeht. Darin heißt es, Elsa »befindet sich seit 1938 in England (vermutlich London), ihre derzeitige Adresse ist mir vorläufig nicht bekannt.«54 Auf ihrem Meldezettel wurde als Datum des Auszugs aus der Rinnböckstraße 12 im elften Wiener Gemeinde-Bezirk und des Umzugs nach England der 23. September 1938 vermerkt.55 Im Juli 1940 schickte Grete Withova, ein Mitglied der Familie, in die Elsa eingeheiratet hatte, aus New York einen Brief an Emil Stimmer, in dem sie berichtet, »Mädi geht es sehr gut, sie sieht ausgezeichnet aus und sehnt sich nur nach Nachricht von den Eltern.«56 1939 versuchte Scharführer Josef Kolbeck vom »Motorsturm 13/M94« des »Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps«, Irene und Emil Stimmers Einfamilienhaus in Hütteldorf in seinen Besitz zu bringen, »welches sich derzeit noch im Besitz des Juden Stimmer befindet.«57 Kolbeck berief sich auf eine angebliche Zusage des Ortsgruppenleiters der NSDAP vom Juni 1939, »laut welcher ich bevorzugter Anwärter auf das in Frage stehende Siedlungshaus bin.«58 Auch der beim Finanzamt Meidling beschäftigte Steuerassistent Viktor Mienkinsky, geboren am 1. Dezember 1907, trat 1939 als Interessent auf. Er stellte im Juni einen entsprechenden Antrag, in dem er darauf verwies, dass er mit seiner Frau und dem fünf Monate alten Sohn bei seiner Mutter »auf Untermiete wohne«,59 und legte im Juli eine eidesstattliche Erklärung vor, »arischer« Abstammung zu sein.60 Die »Kreisleitungen« VII und VIII der NSDAP Wien steuerten ein Unbedenklichkeitszeugnis und eine Stellungnahme bei  : »Der Genannte ist nicht Parteimitglied, jedoch Mitglied der NSV und des RDB. Er hat sich nie politisch betätigt. Nachteiliges liegt gegen ihn nicht vor. Gegen die Zuteilung 50 Siehe Botz, »Finis Austriae« und nationalsozialistische Diktatur, S. 101. 51 Staatskommissar an Elsa Stimmer, datiert 4.8.1938, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 2970. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ernst Stimmer an Repatriierungskommission, datiert 10.8.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 55 Siehe Meldungsnachweis Elsa Stimmer, datiert 5.9.1929, WStLA, historische Meldeunterlagen. 56 Grete Withova an Emil Stimmer, datiert 14.7.1940, Nachlass Ernst Stimmer. 57 Josef Kolbeck an VVSt, datiert 21.12.1939, ÖStA, AdR, VVSt, FLD 7413. 58 Ebd. 59 Ansuchen um Genehmigung der Erwerbung, datiert 1.6.1939, ÖStA, AdR, VVSt, FLD 7413. 60 Erklärung, datiert 21.7.1939, ÖStA, AdR, VVSt, FLD 7413.

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einer Liegenschaft ist von hier aus nichts einzuwenden.«61 Warum es dann zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Arisierung des Hauses kam, geht aus den Akten nicht hervor. Am 15. November 1940 erhielt Emil Stimmer von der Israelitischen Kultusgemeinde die Erlaubnis, für seinen Sohn Ernst »die Einkaufspässe für Gemüse und die Lebensmittelkarten bei der Lebensmittelkartenausgabestelle«62 in der Taborstraße 24a im zweiten Bezirk zu beheben. Seit Anfang 1940 »durften Juden bloß noch in eigenen ›Judengeschäften‹ und zu bestimmten Tageszeiten einkaufen. Hier waren die Ausgegrenzten dem antisemitischen Pöbel ausgeliefert. Der Einkauf wurde zum Spießrutenlauf.«63 Ernst Stimmer lebte zu diesem Zeitpunkt noch in der Wohnung mit der Adresse Simmeringer Hauptstraße 11, die allerdings ab 1939 unter dem Namen von Adele Stimmer, seiner ersten Ehefrau, eingetragen war.64 2.1.2.1 Deportation der Großeltern nach Lodz Irene und Emil Stimmer wurden am 15. Oktober 1941 vom Aspangbahnhof im dritten Bezirk in Wien nach Lodz deportiert. Auf der von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien erstellten Liste, die 1000 Namen umfasst, ist neben dem Namen Emil Stimmer die Nummer 463 und neben dem von Irene Stimmer 464 vermerkt.65 Auf der jeweils ersten Seite der Formulare, mit denen das Ehepaar Stimmer 1938 zur Offenlegung seines Vermögens gezwungen worden war, stempelten die national­ sozialistischen Bürokraten in roten Großbuchstaben »nach--polen«.66 Auf der im polnischen Staatsarchiv in Lodz archivierten Liste dieses Transports scheint allerdings lediglich Emil Stimmer unter der Nummer 847 auf. Irene Stimmers Name steht nicht auf dieser Liste,67 die allerdings fehlerhaft ist. So findet sich sowohl unter der Nummer 690 als auch 700 der Name der am 23. Juli 1881 geborenen Else Löwy vermerkt.68 In dem noch im »Sammellager« in Wien erstellten Schriftstück, in dem die »von den Juden mitgeführten Geldmittel«69 vermerkt sind, ist sowohl neben dem 61 NSDAP Gau Wien Kreisleitung VIII an VVSt, Politische Beurteilung, undatiert, ÖStA, AdR, VVSt, FLD 7413. 62 Berechtigungsschein Emil Stimmer, Nachlass Ernst Stimmer. 63 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 213. 64 Siehe Lehmann’s, 1940, Bd. 1, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/page view/255623 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 65 Deportationsliste, datiert 15.10.1941, Transport VI nach Litzmannstadt, ÖStA, AdR. 66 Siehe Verzeichnis Vermögen von Juden, Stimmer Irene, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8988 und Verzeichnis Vermögen von Juden, Stimmer Emil, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8999. 67 Transportliste 1. Transport Wien Lodz, Staatsarchiv Lodz, 39/278/0/18/1177, URL  : https  ://szukajw archiwach.pl/39/278/0/18/1177/str/1/2/15#tabSkany (letzter Zugriff  : 14.2.2020). 68 Ebd. 69 Liste Geldmittel 1. Transport Wien Lodz, Staatsarchiv Lodz, 39/278/0/18/1177, URL  : https  ://szukaj warchiwach.pl/39/278/0/18/1177/str/1/4/15#tabSkany (letzter Zugriff  : 14.2.2020).

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Namen von Emil als auch neben dem von Irene Stimmer der Betrag von 100 Reichsmark angeführt.70 Der Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici, der die Rolle der jüdischen Funktionäre in Wien während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes untersucht hat, hält über die Deportationen vom Herbst 1941 fest  : »In weniger als drei Wochen gingen fünf Transporte von mehr als 5000 österreichischen Juden nach Lodz  ; am 15., 19., 23., 28. Oktober und am 2. November 1941. Drei Wochen lang irrten die Neuankömmlinge durch die Straßen des Ghettos auf der Suche nach einer Bleibe.«71 Ende Dezember 1941 teilte die Israelitische Kultusgemeinde Wien Ernst Stimmer in einem Schreiben mit, dass Emilian Stimmer »in Litzmannstadt Getto Richardstrasse 7/1 wohnt und Sie an obige Adresse unmittelbar schreiben können.«72 Das Getto war bei der Ankunft des Transports am Nachmittag des 16. Oktober 1941 bereits »hoffnungslos«73 überfüllt, wie die Historiker Florian Freund, Bertrand Perz und Karl Stuhlpfarrer konstatieren  : »Die meisten Gebäude konnten nicht geheizt werden, was angesichts des frühen und besonders kalten Winters 1941/42 besonders bald ins Gewicht fiel, es gab keine Möbel, kein fließendes Wasser und meist keine Toilette. Statt Toiletten mußten Eimer verwendet werden, das Wasser wurde im Hof mit Handpumpen beschafft. Es gab nur zum Teil Pritschen und Strohmatratzen, die den Älteren gegeben wurden, viele mußten auf dem Fußboden schlafen.«74 In der Getto-Chronik sind für Ende November 1941 Tiefstwerte von bis zu minus acht Grad Celsius vermerkt  : »Der frühe Winterbeginn ist für die Gettobevölkerung, die über kein Heizmaterial verfügt, eine wahre Katastrophe  ; der Frost setzt vor allem der neuen Bevölkerung zu, die das hiesige strenge Klima nicht gewöhnt ist.«75 Irene Stimmer war zum Zeitpunkt der Deportation 60, ihr Ehemann Emil 62 Jahre alt. 41,6 Prozent der im Herbst 1941 aus Wien nach Lodz deportierten Personen waren älter als 60. Unter den Gettobewohnerinnen und -bewohnern, die bereits vor Ankunft des ersten Wiener Transports in Lodz lebten, lag dieser Anteil bei lediglich 7,1 Prozent.76 Vor allem auf diese Diskrepanz führen Freund, Perz und Stuhlpfarrer die »großen Probleme, mit denen sich die Neuankömmlinge im Ghetto von Anfang an konfrontiert sahen«,77 zurück. Denn um »in einem hungernden Ghetto«78 überleben zu können, war es notwendig, eine Arbeit zu finden, wofür »Glück und fachli70 Liste Geldmittel 1. Transport Wien Lodz. 71 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 235. 72 IKG Wien an Ernst Stimmer, datiert 29.12.1941, Nachlass Ernst Stimmer. 73 Freund/Perz/Karl, Das Ghetto in Lodz, S. 123. 74 Ebd. 75 Feuchert/Leibfried/Riecke (Hg.), Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1941, S. 243. 76 Siehe ebd., S. 121. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 127.

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ches Können gleichermaßen ausschlaggebend waren«.79 Ob der herzkranke Invaliditätsrentner Emil Stimmer im Getto einer Arbeit nachging, ist den zur Verfügung stehenden Quellen nicht zu entnehmen, ebenso wenig, ob Irene Stimmer arbeitete, vorausgesetzt sie hatte die Deportation nach Lodz überlebt. Auf ihrer Vermögensanmeldung vom Frühjahr 1938 scheint als Berufsbezeichnung »Haushalt«80 auf. In den ersten Wochen war es den Deportierten »auf Grund einer Weisung der deutschen Behörden überhaupt nicht erlaubt, Post zu versenden. Am 4. Dezember 1941 wurde diese Postsperre aufgehoben. Die Korrespondenz durfte aber nur persönliche Mitteilungen oder Ansuchen um Pensionszahlungen beinhalten, über die Lebensbedingungen im Ghetto selbst durfte nichts geschrieben werden.«81 Im Dezember 1941 erreichte Ernst Stimmer in Wien eine nicht in seinem Nachlass enthaltene Postkarte seines Vaters  : »Zwei Monate nach ihrer Verschleppung erhielt ich eine vorgedruckte Karte, auf der stand, ›Es geht mir gut, bitte schickt mir Geld‹, mit der eigenhändigen Unterschrift meines Vaters.«82 Am 13. Dezember 1941 wurde vom Ältesten der Juden in Lodz wieder eine Postsperre angeordnet, die ursprünglich nur vorübergehend gelten sollte.83 Anfang 1942 erkundigte sich der Sohn in offensichtlicher Unkenntnis des Umstandes, dass der gesamte Briefverkehr mit dem Getto »eine Einbahnstraße«84 war und die Post nicht an die Eingesperrten weitergeleitet wurde, schriftlich beim Ältesten der Juden nach dem Wohlbefinden seiner Eltern  : »Da mein Vater 63 Jahre und schwer herzleidend ist, bin ich sehr in Sorge und bitte Sie vielmals, wenn Sie die Möglichkeit haben, mir eine Nachricht zu senden.«85 Der Brief kam mit dem Vermerk »In der Strasse des Empfängers findet z. Zt. keine Postzustellung statt«86 retour. Am 5. Jänner 1942 verhängte die Gestapo für das Getto Lodz eine generelle Postsperre, um zu verhindern, »daß irgendeine Nachricht über die nun einsetzenden Deportationen aus dem Ghetto in das Vernichtungslager Chelmno nach außen dringen konnte.«87 Ernst Stimmer und seine Ehefrau Adele schickten weiterhin regelmäßig Geldsendungen in Höhe von 20 oder auch zehn Reichsmark an Emil und Irene Stimmer.88 Im Nachlass finden sich auch zwei Scheine, auf denen Ende Jänner

79 Feuchert/Leibfried/Riecke (Hg.), Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1941, S. 130. 80 Verzeichnis Vermögen von Juden, Stimmer Irene, ÖStA, AdR, E-uReang, VVSt, VA 8988. 81 Freund/Perz/Stuhlpfarrer, Das Ghetto in Lodz, S. 152. 82 Niederschrift, LG ZRS Wien, datiert 4.10.1946, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46. 83 Siehe Freund/Perz/Stuhlpfarrer, Das Ghetto in Lodz, S. 154. 84 Ebd., S. 156. 85 Ernst Stimmer an Ältesten der Juden in Litzmannstadt, Datum unleserlich, Nachlass Ernst Stimmer. 86 Ebd. 87 Freund/Perz/Stuhlpfarrer, Das Ghetto in Lodz, S. 154. 88 Siehe Einlieferungsscheine, 1941 und 1942, Nachlass Ernst Stimmer.

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Abb. 2  : Die mit »4.« versehene Postkarte vom 17. Jänner 1942.

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1942 der »Empfang einer Postanweisung über RM. 10,–«89 bestätigt wurde. Ob die Unterschriften von Irene und Ernst Stimmer auf diesen Empfangsbestätigungen authentisch sind oder nicht, müsste ein grafologisches Gutachten zeigen. Ab März 1942 durften wieder Karten verschickt werden, auf denen um Geldüberweisungen gebeten wurde  : »Als Absender der vorgedruckten Postkarten fungierte der Älteste der Juden. Auf diese Weise kamen auch weiterhin Unterstützungszahlungen ins Ghetto.«90 Im April erhielt Adele Stimmer eine dieser Postkarten, auf der geschrieben steht, »Familie Emil Irene Stimmer, wohnhaft […] Richard 7, befindet sich gesund und bittet um Geldsendung.«91 Vom Juli 1942, als an Irene und Emil Stimmer je zehn Reichsmark geschickt werden sollten,92 stammen die letzten im Nachlass erhaltenen Bestätigungen. Sie wurden allerdings bei der Einzahlung in Wien ausgegeben und erlauben keinerlei Rückschlüsse darauf, ob die beiden nach Lodz deportierten Familienmitglieder zu diesem Zeitpunkt noch am Leben waren. Auch mehrere Postkarten, die jeweils mit dem Stempel »Zurück«93 versehen an den Absender retourniert worden waren, zeugen von Ernst Stimmers Bemühungen, Kontakt zu seinen Eltern herzustellen (siehe Abb. 2). Im Jänner 1942 schrieb er  : »Liebste Eltern  ! Vergebens warten wir auf eine Nachricht von Euch und sind in großer Sorge. Außer Eurer Karte vom 4.12. 41 haben wir nichts bekommen, auch keine Bestätigung der insgesamt geschickten R.M. 100,–. Ich schreibe hiermit das vierte Mal und wenn es irgend wie möglich ist, laßt uns bitte eine Nachricht zukommen und ob man Euch etwas schicken kann, d. h. ob Ihr Pakete bekommt.«94 Von den 1000 Frauen und Männern, die am 15. Oktober 1941 mit dem ersten Transport von Wien nach Lodz deportiert worden waren, lebten am 1. Mai 1942 noch 798. 586 von ihnen wurden in den darauffolgenden Tagen »ausgesiedelt«.95 Die »Aussiedlungen« genannten Deportationen hatten 1942 »fast ausschließlich das Vernichtungslager Kulmhof zum Ziel«.96 Von 4. bis 15. Mai 1942 wurden gemäß den Recherchen von Freund, Perz und Stuhlpfarrer 10.914 Bewohnerinnen und Bewohner des Gettos, vor allem Personen »ohne Beschäftigung«,97 nach Chełmno nad Nerem in das nationalsozialistische »Vernichtungslager« Kulmhof98 deportiert und 89 Bestätigung an Adele Stimmer, datiert 27.1.1942, Nachlass Ernst Stimmer. 90 Freund/Perz/Stuhlpfarrer, Das Ghetto in Lodz, S. 156. 91 Ältester der Juden in Litzmannstadt an Adele Stimmer, datiert 20.4.1942, Nachlass Ernst Simmer. 92 Einlieferungsschein, datiert 4.7.1942, Nachlass Ernst Stimmer. 93 Ernst Stimmer an Emil Stimmer, datiert 20.2.1942, Nachlass Ernst Stimmer. 94 Ernst Stimmer an Emilian Stimmer, datiert 17.1.1942, Nachlass Ernst Stimmer. 95 Liste Stand der Transporte Wien I.-V. zum 1.11.1942, Staatsarchiv Lodz, 39/278/0/18/1179, URL  : https  ://szukajwarchiwach.pl/39/278/0/18/1179#tabSkany (letzter Zugriff  : 14.2.2020). 96 Feuchert/Leibfried/Riecke (Hg.), Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1941, S. 337. 97 Ebd., Supplemente und Anhang, S. 181. 98 Siehe Andrea Löw, Das Getto Litzmannstadt – eine historische Einführung. In  : Feuchert/Leibfried/

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in umgebauten Lastautos ermordet  : »Die Opfer kamen im ›Schloss‹ in Kulmhof an, einem alten polnischen Herrenhaus, um das die Angehörigen des Sonderkommandos einen hohen Bretterzaun gezogen hatten, um die Sicht zu versperren. Von hier aus, wo sich die Menschen entkleideten und angeblich in einen Duschraum gelangen sollten, um vor ihrer Weiterreise zur Arbeit desinfiziert zu werden, führte eine Rampe direkt in die Ladeflächen der Lkw, in denen die Deutschen ihre Opfer mit Auspuffgasen brutal töteten. Dann fuhren die Wagen in das sogenannte Waldlager bei Rzuchów, gut drei Kilometer entfernt, wo die Toten anfangs in Massengräbern vergraben, später verbrannt wurden.«99 Von den 5000 Personen, die im Herbst 1941 von Wien nach Lodz deportiert worden waren, lebten im Herbst 1942 nur noch 615. Nach Kriegsende konnten lediglich 21 Überlebende ausfindig gemacht werden.100 Die Namen von Irene und Emil Stimmer finden sich nicht darunter. Im Oktober 1946 teilte die Kultusgemeinde dem Wiener Landesgericht für Zivilrechtssachen mit, »dass Emilian und Irene Stimmer am 15. Oktober 1941 nach Lodz deportiert wurden und in unserer Rückkehrerkartei nicht aufscheinen.«101 2.1.2.2 Vorläufiger Verbleib des Vaters in Wien Am 29. Dezember 1938 wurde auf den Namen Ernst Stimmer in Wien eine der für Juden verpflichtenden »Kennkarten« mit der Nummer »J 000.043«102 ausgestellt. Auf dem bis 29. Dezember 1943 gültigen Ausweis prangt in Versalien der Stempel »Evakuiert« mit der handschriftlichen Ergänzung »1. Dezember 1943«. Die Unterschrift des SS-Obersturmführers ist unleserlich (siehe Abb. 3). Von den Deportationen, mit denen zwischen Herbst 1941 und Herbst 1942 der Großteil der bis dahin noch in Wien lebenden Jüdinnen und Juden verschleppt wurde, blieb Ernst Stimmer noch verschont  : »Die letzte große Deportationswelle begann im Juni 1942 und endete im Oktober 1942  ; der Bestimmungsort war Theresienstadt. Juden, für die bisher noch Ausnahmeregelungen gegolten hatten, wurden nun in den Transport einbezogen.«103 Von den einst etwa 200.000 Personen in Österreich, die gemäß den 1935 vom nationalsozialistischen Regime erlassenen »Nürnberger Gesetzen« als Jüdinnen und Juden verfolgt wurden, waren am 1. Jänner 1943 in Wien nach Angaben des »Ältestenrats der Juden in Wien« noch rund 8000 registriert  : »Die meisten von ihnen Riecke (Hg.), Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt 1941. Supplemente und Anhang, S. 157.  99 Ebd., S. 158. 100 Freund/Perz/Stuhlpfarrer, Das Ghetto in Lodz, S. 150 f. 101 IKG Wien an LG ZRS Wien, datiert 16.10.1946, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46. 102 »Kennkarte« Deutsches Reich, Nachlass Ernst Stimmer. 103 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 240.

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Abb. 3  : Die »Kennkarte« von Ernst Stimmer, ausgestellt vom Polizeiamt Simmering.

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lebten in einer sogenannten ›Mischehe‹ oder waren durch einen ›arischen‹ Elternteil geschützt. Verstarb der nichtjüdische Ehepartner oder das arische Familienmitglied, entfiel auch der bis dahin noch vorhandene Schutz. […] In Kleintransporten wurden zwischen März 1943 und Oktober 1944 von der Gestapo etwa 350 Menschen nach Auschwitz und ungefähr 1400 Personen nach Theresienstadt deportiert.«104 1946 erklärte Ernst Stimmer an Eides statt, dass er bereits von August bis September 1942 »aus rassischen Gründen, obwohl in Mischehe lebend, angeblich wegen Nichttragens des Sternes und dauernder Übertretung der für Juden Geltung gehabten Vorschriften«105 in Gestapo-Haft gewesen sei. Während Stimmer 1943 zwangsweise im »Sammelquartier« in der Großen Mohrengasse 16/12 im zweiten Bezirk wohnte, wurde ein Vermögensverzeichnis angelegt. Darin scheinen weder Bargeld noch Wertpapiere, Sperrkonten und Sparkassenbücher, Versicherungspolizzen, Schmuck oder in- und ausländische Forderungen auf. Jedoch ist vermerkt, dass die Möbel der »Gattin Adele Stimmer, Wien, 11., Hauptstr. 11«106 gehören. Auf einem undatierten Blatt Papier hielt Ernst Stimmer handschriftlich fest, dass er Mitte November 1943 eine Vorladung zur Gestapo bekommen habe  : »Dort warte ich Stunden und Stunden, es ist bereits Nachmittag als ich in eines der vielen Zimmer, die oft zu Folterkammern wurden, hereingerufen werde.«107 Einen Akt »mit den üblichen Ausschnüffelungen der Gestapo über mich und meine Familienverhältnisse vor sich«,108 habe ihn ein »Kerl mit typischer Verbrecherphysiognomie«109 angebrüllt  : »›Sie werden sich scheiden lassen, verstanden  ?‹ – ›Nein das werde ich nicht tun, weil ich dazu keine Veranlassung habe.‹«110 Als Antwort auf die Frage, warum er nicht mit seiner Frau Adele zusammenwohne, notierte Ernst Stimmer  : »›Weil ich ausziehen mußte, die Wohnung meiner Frau gehört und sie sich dieselbe keinesfalls wird wegnehmen lassen.‹«111 Stimmer vermerkte, dass ihm der Gestapo-Mitarbeiter angedroht habe, »mit dem nächsten Transport evakuiert«112 zu werden, wenn er nicht innerhalb von zwei Wochen wieder mit seiner Frau zusammenwohnen würde, und schrieb  : »Adi will vom Zusammenziehen nichts wissen, sie ist ja auch schon genügend lange von ihrer Mutter entsprechend präpariert worden. Die Entscheidung zwischen dem Mann 104 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 241. 105 Eidesstattliche Erklärung Ernst Stimmer, datiert 17.10.1946, DÖW, KZ-Verband 11863. 106 Vermögensverzeichnis nachstehender in die Ostgebiete evakuierter Juden, datiert 30.11.1943, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, 46. Transport 1071. 107 Erinnerungen Ernst Stimmer, undatiert, Nachlass Ernst Stimmer. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Ebd.

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Abb. 4  : Die erste Seite der Erinnerungen an den Termin bei der Gestapo.

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und der bequemen Wohnung ist getan und damit mein Schicksal besiegelt.«113 Am 29. November 1943 sei »Adi« zur Gestapo gerufen worden. Am Abend dieses Tages habe ihm dann sein Schwiegervater Hans Hösel, »der vor einigen Monaten nicht davor zurückgeschreckt ist, mir ins Gesicht zu spucken und mich aus dem Hause zu jagen«,114 telefonisch mitgeteilt, dass es schlecht aussehen würde. Ernst Stimmer schildert, wie er am darauffolgenden Tag nach Ottakring gefahren sei, »um die Adi bei ihrem Weg ins Büro zu treffen und von ihr selbst Näheres zu erfahren.«115 Er habe lediglich seine Schwiegermutter Elisabeth Hösel angetroffen, die ihm zum Abschied geschworen habe, dass er durchhalten und bestimmt zurückkommen werde  : »›Die Adi wird dir inzwischen alles behüten und wartet auf Dich.‹«116 Stimmer beschrieb weiters, wie er am selben Tag zunächst ins »Sammellager« in der Malzgasse im zweiten Bezirk gebracht worden ist und dann zum Bahnhof  : »mit etlichen anderen Leidensgenossen […] auf die Nordbahn geführt, dort in zwei Personenwagen verladen […] und um ½ 7h abends setzt sich der Zug in Bewegung, ich habe ein entsetzlich wehes Gefühl im Herzen, als der Zug Wien verläßt.«117 Am 30. November 1943 verließ der Zug Wien. Auf der »Abgangsliste des Transportes 46 m (14 m)«118 sind 43 Personen namentlich angeführt, 26 Frauen und 17 Männer. Neben Ernst Stimmers Namen ist die Zahl 1071 vermerkt. 2.1.2.3 Verschleppung und Gefangenschaft des Vaters Am 1. Dezember 1943 kam er im Konzentrationslager Theresienstadt an. In der »Theresienstädter Zentralevidenz« ist der Transport unter der Nummer »1088IV/14o«119 verzeichnet. Kurz nach seiner Ankunft wurde Ernst Stimmer, der in den ersten Wochen in Zimmer 57 des Gebäudes B IV untergebracht war, von der Abteilung für innere Verwaltung und Raumwirtschaft des Ältestenrats eine Betteinlage bewilligt. Zu Weihnachten 1943 richtete Stimmer ein Gesuch an diese Abteilung. Er bat darum, übersiedeln zu dürfen, weg von »einem rauchigen, finsteren Erdgeschoßraum der Hannover-Kaserne, wo sich ein Steinfließboden befindet. Der Gesundheitszustand des Gesuchstellers erfordert eine luftige Unterkunft, da letzterer an den Atmungsorganen erkrankte.«120 Ernst Stimmer war zu diesem Zeitpunkt der zum Arbeitseinsatz vorgesehenen Hundertschaft B IV zugeteilt. Ihm wurde vom Chef113 Erinnerungen Ernst Stimmer, undatiert, Nachlass Ernst Stimmer. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Ebd. 118 Deportationsliste Theresienstadt, datiert 30.11.1943, IGK Wien, VWI, S. 59. 119 Bestätigung Zentralevidenz, datiert 15.2.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 120 Übersiedlungsgesuch Ernst Stimmer, datiert 24.12.1943, Nachlass Ernst Stimmer.

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arzt der Gesundheitseinheit B IV attestiert, nach einer Bronchopneumonie rekonvaleszent zu sein. Auf dem Formular finden sich die handschriftlichen Anmerkungen »Bitte um Entsprechung« und »Am besten auf Zimmer Nr.° 201.«121 Tatsächlich kam Ernst Stimmer im Zimmer Nummer 201 unter, wie eine Bestätigung der Detektivabteilung, die dem Vorsitzenden des Ältestenrats unterstellt war, über den Erhalt von vier Kilogramm Kartoffeln »durch die Post«122 am 24. Februar 1944 zeigt. Am 6. März quittierte er auf einer vorgedruckten Postkarte den Empfang eines Pakets, das sein Onkel Leo Stimmer aus Wien geschickt hatte, und ergänzte handschriftlich  : »Bin gesund und habe mich mit Deiner Sendung sehr gefreut.«123 Im Juli 1944 antwortete Leo Stimmer, es freue ihn, »daß du wieder gesund bist und in deinem Beruf tätig sein kannst.«124 Er bestätigte seinem Neffen, dessen Karte vom 22. Mai 1944 an Adele weitergeleitet zu haben  : »hoffentlich hat sie den von Dir gewünschten Erfolg.«125 Im Nachlass ist auch eine »Schwerarbeiter Zusatzkarte« erhalten geblieben, die für den Zeitraum von mehreren Monaten gültig war. Ernst Stimmer hatte bei diversen Arbeitseinsätzen die Funktion eines Schichtleiters über. Für 2. Juni 1944 wurde er von der technischen Abteilung der Gebäudeerhaltungszentrale um 22 Uhr zum Schichtantritt in Gebäude A IV vorgeladen,126 für 4. Juni 1944 zur »Fortsetzung der Zimmeraktion«127 um 7 Uhr 30 aufgefordert  : »Es treten 30 Mann des Mobilen Einsatzes an.«128 Von sechs bis 14 Uhr dauerte die Schicht am 9. Juni 1944, zu der Stimmer eingeteilt war.129 Am 30. Juni 1944 wurde ihm ein Ausweis ausgestellt, der ihn zwischen 1. Juli und 30. September 1944 zum Betreten der Südbaracken berechtigte.130 Am 7. Juli 1944 leitete Ernst Stimmer die achtköpfige Nachmittagsschicht. Deren Aufgabe war es, nicht näher beschriebenes Material zu transportieren und »Spritzen u.s.w. in Ordnung zu bringen. Fallweise sind auch Ausbesserungsarbeiten durchzuführen.«131 Zu einem gemeinsamen »Abmarsch zum Entwesungsbad«132 hatte er sich am Morgen des 14. August 1944 um 5 Uhr 45 in Hof E IIIa einzufinden.

121 Übersiedlungsgesuch Ernst Stimmer. 122 Bestätigung Detektivabteilung, Nachlass Ernst Stimmer. 123 Ernst Stimmer an Leo Stimmer, datiert 6.3.1944, Nachlass Ernst Stimmer. 124 Leo Stimmer an Ernst Stimmer, datiert 17.7.1944, Nachlass Ernst Stimmer. 125 Ebd. 126 Siehe Vorladung Schichtantritt, Nachlass Ernst Stimmer. 127 Technische Abteilung an Ing. Stimmer, datiert 3.6.1944, Nachlass Ernst Stimmer. 128 Ebd. 129 Technische Abteilung an Ing. Stimmer, datiert 8.6.1944, Nachlass Ernst Stimmer. 130 Ausweis Nummer 4920, datiert 30.6.1944, Nachlass Ernst Stimmer. 131 Technische Abteilung, datiert 6.7.1944, Nachlass Ernst Stimmer. 132 Abmarsch Entwesungsbad, Nachlass Ernst Stimmer.

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In der zweiten Augusthälfte 1944 wurde Stimmer der »Aussenarbeitsgruppe Barackenbau«133 zugeteilt (siehe Abb. 5). Er stellte daraufhin bei der Arbeitszentrale einen Antrag auf Sonderbezug für einen Bettüberzug, ein Leintuch, einen Pyjama, ein Tischtuch, zwei Geschirrtücher, einen Waschlappen und einen Hut.134 Mit dem Vermerk »Dringend  : Bar.-Bau Trspt  !«135 wurde die Optische Werkstätte von der Wirtschaftsabteilung Produktion angewiesen, in Ernst Stimmers Rechenschieber ein Glas einzusetzen. Am Freitag, 25. August 1944, musste er um 12 Uhr 30 reisefertig mit seinem Gepäck antreten.136 Am 25. August 1944 verließ Ernst Stimmer Theresienstadt mit einem Transport, der 55 Männer und 14 Frauen umfasste. Abb. 5  : Die Vorladung der Arbeitszentrale vom Dieser erreichte am darauffolgenden 21. August 1944. Tag das Außenlager Wulkow in Brandenburg, wo das Ausweichquartier für die Berliner Gestapo-Zentrale entstehen sollte. Stimmer wurde »als Ingenieur«137 dem »Kommando Zossen« eingegliedert, das seit März 1944 im waldigen Gelände der Seelower Höhen Baracken, Bunker, Löschteiche sowie andere Bauwerke errichten musste und unter dem Kommando des aus Wien stammenden Elektrotechnikers Franz Stuschka stand  : »Ich hatte die Innenausgestaltung der von uns K.Zlern erbauten Baracken zu leiten und wurde aus den nichtigsten Gründen, z. B. wegen schlechten Schliessens eines Fensters und später auch grundlos in unmenschlichster Weise geschlagen. Einmal musste ich in seine für diese Zwecke adaptierte Baracke kommen (bei uns Häftlingen wurde sie Lachkabinett genannt, weil wir fast täglich die fürchterlichen Schmerzensschreie der von dem Sadisten dort exekutierten Opfer hören konnten) wurde dort von dem Angeklagten so lange geschlagen bis ich zusammenbrach und dann bewusstlos wurde.«138 133 Arbeitszentrale, datiert 21.8.1944, Nachlass Ernst Stimmer. 134 Arbeitszentrale, Sonderbezugschein-Antrag Ernst Stimmer, Nachlass Ernst Stimmer. 135 Anweisung Wirtschaftsabteilung Produktion an Optische Werkstätte, datiert August 1944, Nachlass Ernst Stimmer. 136 Arbeitszentrale, datiert 24.8.1944, Nachlass Ernst Stimmer. 137 Ernst Stimmer an LG SRS Wien, datiert 23.10.1946, WStLA, Strafakt Franz Stuschka, Vr 6995/46. 138 Ebd.

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Am 2. Februar 1945 erfolgte die Räumung des Außenlagers, da die Front näher rückte  : »es wurde Proviant für 3 Tage ausgegeben, die Rückfahrt über Berlin, Halle, Würzburg, Nürnberg und Prag dauerte jedoch acht Tage. Am 10. Februar 1945 kehrt das Kommando nach Theresienstadt zurück.«139 Ernst Stimmer befand sich unter den 198 Männern und 17 Frauen, die aus dem Außenlager Wulkow nach Theresienstadt zurückgebracht worden waren. Ende der 1940er-Jahre sagte er in Wien als Zeuge im Prozess gegen Stuschka aus, der das Außenkommando als Kommandoführer geleitet hatte. Der ehemalige SS-Obersturmführer wurde am 17. Dezember 1949 in Wien wegen Hochverrat, Quälerei und Misshandlungen sowie Verletzung der Menschlichkeit und Menschenwürde zu sieben Jahren Gefängnis, »verschärft durch 1 hartes Lager vierteljährlich«,140 verurteilt. Am 1. März 1951 erfolgte die bedingte Entlassung aus der Haft.141 Nach der Rückkehr ins Konzentrationslager Theresienstadt gehörte Ernst Stimmer ab 21. Februar 1945 der Technischen Abteilung als Bauingenieur an.142 Ab dem darauffolgenden Tag war Stimmer, der 1944 zwei Lungenentzündungen überstanden hatte, erneut krankgeschrieben »nach den Strapazen vom Zossner Barackenbau, Bronchitis u. allg. Körperschwäche, Untergewicht.«143 Anfang März verfasste er eine Karte an die schwedischen Pflegeeltern, die sich seiner angenommen hatten  : Er sei »glücklich, daß Sie meiner gedenken und danke herzlichst für die Sendung. Bin gesund, nur traurig, weil allein.«144 Von der »Kriegsgefangenenhilfe des Weltbundes der YMCA« in Stockholm erhielt Stimmer eine Postsendung.145 Am 9. März 1945 wurde er als rekonvaleszent nach einer Bronchitis eingestuft, am 10. März einer aus Mitgliedern der »Arbeitsgruppe Barackenbau« bestehenden »Ar­­ beitseinsatzgruppe« zugeteilt  : »Die Verpflichtung zur Vorbereitung des Gepäcks und zum Antritt morgen 7 Uhr früh gilt für jeden, der diese Vorladung erhält, auch dann, wenn er aus irgend einem Grunde der Einberufung zur Dienststelle am Freitag Abend nicht nachkommen konnte.«146 Wenige Tage später kam Stimmer ins Krankenhaus. Von dort bat er die Abteilung Gesundheitswesen um die Zuerkennung eines Lebensmittel-Sonderzuschusses  : »Ich bin vom Barackenbautransport krank zurückgekommen mit einer Bronchitis […], bin dann nach 14 tägigem sehr hohem 139 Kulturverein Schwarzer Hahn (Hg.), Theresienstadt 1941–1945. Ein Nachschlagewerk, URL  : http  :// www.ghetto-theresienstadt.de/pages/a/aussenkommandos.htm (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 140 Urteil Volksgericht Wien gegen Franz Stuschka, datiert 17.12.1949, WStLA, Strafakt Franz Stuschka, Vr 6995/46. 141 Siehe Bedingte Entlassung Franz Stuschka, datiert 1.3.1951, WStLA, LG Wien, Vg 1g Vr 6995/46. 142 Arbeitsausweis Getto Theresienstadt, datiert 23.5.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 143 Krankschreibung, datiert 9.3.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 144 Ernst Stimmer an Oscar L. Olsson, datiert 6.3.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 145 Kriegsgefangenenhilfe des Weltbundes der YMCA, Stockholm, Nachlass Ernst Stimmer. 146 Vorladung an Ernst Stimmer, datiert März 1945, Nachlass Ernst Stimmer.

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Fieber ins Spital gebracht worden, wo ich derzeit […] liege. Mein Gewicht beträgt 56 kg bei einer Größe von 1.79 m.«147 2.1.2.4 Scheidung der Ehe zwischen Adele und Ernst Stimmer Im Dezember 1943, wenige Tage nach Ernst Stimmers Deportation, stellte seine Ehefrau Adele am Wiener Landgericht einen »Antrag auf Anberaumung eines Sühneversuches«,148 verbunden mit der Klage auf Ehescheidung. Da die beklagte Partei, Ernst Stimmer, »unbekannten Aufenthaltes ist«,149 wurde der Sühneversuch vom Gericht erlassen und Ehescheidungsklage erhoben. In der Anzeige über die Scheidungsklage, die am 31. Jänner 1944 in der Wiener Ausgabe des »Völkischen Beobachters« erschien, teilte das Gericht mit  : »Da der Aufenthalt der beklagten Partei unbekannt ist, wird Konsulent Dr. Robert Israel Feigl in Wien, II., Haidgasse 5, zum Kurator bestellt, der sie auf ihre Gefahr und Kosten vertreten wird, bis sie selbst auftritt oder einen Bevollmächtigten nennt.«150 In der halbstündigen mündlichen Verhandlung am 3. April 1944 bestritt der Kura­ tor »das Vorbringen sowohl hinsichtlich der Abwesenheit, als auch hinsichtlich der Zerrüttung der Ehe.«151 Als Zeugen wurden Adele Stimmers Mutter, die Hausfrau Elisabeth Hösel, und Adeles Stiefvater, der Wiener Konditor Hans Hösel, befragt. Im Protokoll der Aussage von Adeles Mutter wurde festgehalten, »dass die eheliche Gemeinschaft der Streitteile im Jahre 1940 aufgehoben wurde und beide seither nicht mehr zusammengekommen sind. Der Beklagte zog damals in den XIV. Bezirk Venusweg 3. Schon vorher kam es zwischen den Ehegatten zu häufigen Streitigkeiten und mir ist sowohl aus Mitteilungen meiner Tochter, als auch aus eigener Wahrnehmung bekannt, dass die Ehe zerrüttet war. […] Seit der Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft ist meine Tochter mit ihrem Manne nicht mehr zusammengekommen und sie hat sich immer dahin geäussert, dass eine Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft ausgeschlossen ist.«152 Im April erklärte das Gericht die »in der Pfarre Neu-Ottakring in Wien nach röm. kath. Brauche geschlossene Ehe«153 zwischen der Beamtin Adele Stimmer und dem 147 Notizen zu Brief an Gesundheitswesen Theresienstadt, Nachlass Ernst Stimmer. 148 Protokoll, LG Wien, datiert 10.12.1943, Scheidungsakt Ernst und Adele Stimmer, WStLA, 17 Cg 421/43. 149 Edikt, datiert 22.1.1944, Scheidungsakt, WStLA, 17 Cg 421/43. 150 Rechnung Zentralverlag NSDAP an LG Wien, datiert 31.1.1944, Scheidungsakt, WStLA, 17 Cg 421/43. 151 Protokoll mündliche Verhandlung, datiert 3.4.1944, Scheidungsakt, WStLA, 17 Cg 421/43. 152 Zeugenaussage Elisabeth Hösel, Protokoll mündliche Verhandlung, datiert 3.4.1944, Scheidungsakt, WStLA, 17 Cg 421/43. 153 Urteil LG Wien, datiert 3.4.1944, Scheidungsakt, WStLA, 17 Cg 421/43.

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Diplomingenieur Ernst Stimmer, die kinderlos geblieben war, für aufgelöst. Der Richter sah es »auf Grund der glaubwürdigen Aussagen der Zeugen Elisabeth Hösel und Hans Hösel«154 und der Meldedaten als erwiesen an, »dass die Voraussetzungen des § 55 Ehe Gesetzes vorliegen«.155 Daher sei die Ehe »antragsgemäß«156 für geschieden zu erklären. Ende August 1945 nannte Adele Stimmer wirtschaftliche Gründe, die sie dazu veranlasst hätten, die Scheidung einzureichen  : »Aus Existenzgründen (ich sollte zur Marine nach Kiel) habe ich mich am 4. April 1944 von Ing. Ernst Stimmer scheiden lassen (ich bin Vollarierin). Ich betone, daß die Scheidung nicht aus rassischen Gründen, sondern aus andern Ehescheidungsgründen bewilligt wurde. Nach der Rückkehr des Ing. Ernst Stimmer aus Theresienstadt habe ich ihm erklärt, daß ich nicht mehr die Absicht habe, mit ihm die Ehegemeinschaft aufzunehmen, im Gegenteil werde ich in Kürze heiratet. Ich habe auch tatsächlich am 7. Juli 1945 meinen jetzigen Mann Bernhard Mels-Colloredo geheiratet.«157 Im Dezember 1946 stellte Adele, die während des Zweiten Weltkriegs als »Privatbeamtin«158 und »Spitalsbeamtin«159 tätig war, die Umstände der Scheidung folgendermaßen dar  : »Solange Ing. Stimmer in Wien war und ich ihm irgendwie nützlich sein konnte, war ich an seiner Seite. Erst als er weg musste und ausser den privaten Gründen meiner Scheidung die Lage für mich unhaltbar wurde – es war z. B. unsere Wohnung in Wien, XI., Simmeringerhauptstrasse 11 in Gefahr, die ich durch meine Scheidung für ihn erhalten konnte und auch erhalten habe – habe ich mich von ihm scheiden lassen. Die Wohnung habe ich ihm nach seiner Rückkehr aus Theresienstadt nach einer Aussprache mit ihm zurückgegeben. Im gegenseitigen Einvernehmen hat sich Ing. Stimmer, als auch ich im Jahre 1945 wiederverehelicht.«160 2.1.3 Befreiung des Vaters und Rückkehr nach Wien Ernst Stimmer erlebte nach rund 17 Monaten als Häftling in Theresienstadt und im Außenlager Wulkow die Befreiung Anfang Mai 1945.161 Auf einer Liste der gerette154 Urteil LG Wien, datiert 3.4.1944. 155 Ebd. 156 Ebd. 157 Aktenvermerk FLD Wien/NÖ, datiert 30.8.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 158 Adele Stimmer an Gemeindeverwaltung des Reichsgaues Wien, datiert 11.3.1942, ÖStA, AdR, FLD 7413. 159 Abschrift Bescheinigung Heimatberechtigung, datiert 8.7.1944, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 160 Adele Mels-Colloredo an FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 20.12.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 161 Am Abend des 8.5.1945 passierten die ersten sowjetischen Einheiten auf ihrem Weg nach Prag Theresienstadt, siehe Terezín Memorial, URL  : https  ://www.pamatnik-terezin.cz/liberation (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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ten Personen wurde sein Name vermerkt.162 Zu diesem Zeitpunkt befand er sich im Krankenhaus  : »Ich bin seit Mitte März hier im Spital, war 2 Monate schwer krank, bin aber jetzt wieder ganz gesund und mache hier Pflegedienst«.163 Sein Gepäck bestand aus einem Koffer, einem Rucksack und einer Bettrolle.164 In den darauffolgenden Tagen schrieb er einen Brief an Adele, von dem eine Fassung erhalten geblieben ist (siehe Abb. 6). Darin teilt er ihr mit, »daß ich es kaum fassen kann, zu den glücklichen Überlebenden zu gehören und daß damit zu rechnen ist, daß ich im Lauf der nächsten 14 Tage bis 3 Wochen mit Gottes barmherziger Hilfe mit Dir vereint sein kann. Ich bete zu unserem Herrgott, daß ich Dich gesund und wohlauf wiedersehen werde und kann mir dieses Glück noch kaum vorstellen.«165 Ernst Stimmers Rückkehr nach Österreich verzögerte sich jedoch. Am 21. Juni 1945 erhielt er von der tschechoslowakischen Repatriierungsstelle ein dreisprachiges »Registration Certificate« mit der Registrierungsnummer 22.611, auf dem als Wunschziel »Wien« angegeben ist.166 Am 26. Juni wurde Stimmer beim »Magistrat der Stadt Wien, Verwaltungsgruppe X, Wohlfahrtswesen, Zentralregistrierung der Opfer des Naziterrors, Wien, I., Neues Rathaus, 5. Stiege Tür 11, Kl. 343«167 vorstellig, bekam die Registrierungsnummer 12.724 zugewiesen und erhielt als »rassischer, nichtpolitischer Häftling«168 Bekleidung, 26 Reichsmark und ein nicht näher beschriebenes Paket. Auf einer im September 1945 erstellten Liste österreichischer Jüdinnen und Juden, die aus Theresienstadt nach Wien zurückgekehrt sind, findet sich sein Name.169 Am 7. Juli 1945 heiratete Adele in Wien den am 28. Dezember 1897 in Salzburg geborenen »Major ausser Dienst«170 Bernhard Mels-Colloredo. Am 10. August 1948 meldete sich Adele in Salzburg an, Ende 1948 in Wien ab  : »Ist ausgezogen am 23.12.1948 nach Salzburg«.171 Ihr zweiter Ehemann Bernhard Mels-Colloredo verstarb am 3. März 1959 im Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Adele heiratete erneut, nahm den Nachnamen Rosenberger an und blieb in Salzburg wohnhaft, wo sie am 16. Februar 1966 aufgrund ihrer erneuten Eheschließung umgemeldet 162 Siehe Czechoslovak Jewish Committee Bulletin Nr. 15, datiert Juli/August 1945, S. 36, zit. n. ITS Digital Archive, Arolsen Archives, 1.1.42.1/4956227. 163 Notizen zu Brief Ernst Stimmer an Adele Stimmer, datiert 9.5.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 164 Gepäckverzeichnis, datiert 21.4.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 165 Notizen zu Brief Ernst Stimmer an Adele Stimmer, datiert 9.5.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 166 Registration Certificate Ernst Stimmer, datiert 21.6.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 167 Zentralregistrierung der Opfer des Naziterrors, datiert 26.6.1945, Nachlass Ernst Stimmer. 168 Ebd. 169 List of Austrians who returned to Vienna from Theresienstadt, datiert 20.9.1945, zit. n. ITS Digital Archive, Arolsen Archives, 3.1.1.3/78805402. 170 Abschrift Heiratsurkunde, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 171 Meldezettel Adele Mels-Colloredo, WStLA, historische Meldeunterlagen.

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Abb. 6  : Der Brief an Adele vom 9. Mai 1945.

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­w urde.172 Ihre letzte Meldeadresse lautete Gaisberg 12B, 5020 Salzburg.173 Sie verstarb am 5. Dezember 1979. Ernst Stimmer vermählte sich am 20. Oktober 1945 mit der verwitweten Geschäftsinhaberin und Schneiderin Leopoldine Schelnast, geborene Netusil, die während des Zweiten Weltkriegs als Helferin für das Wiener Rote Kreuz tätig gewesen war.174 Leopoldine und ihr am 28. November 1895 in Wien geborener erster Ehemann Johann Schelnast hatten am 18. Dezember 1932 geheiratet.175 Am 1. November 1944 war der Kaufmann und Hauptwachtmeister der Schutzpolizei um 11 Uhr 30 bei einem Luftangriff auf Wien verschüttet worden und gestorben.176 Die am 16. Juli 1910 ebenfalls in Wien geborene Leopoldine und Ernst Stimmer kannten sich zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit bereits seit mehr als zehn Jahren  : Seine Schwester Elsa und Leopoldine Schelnast waren befreundet. Zu Weihnachten 1932 hatte Elsa, auch Else genannt, an das liebe »Polderl« in Anspielung an deren erste Heirat geschrieben  : »Hoffentlich bekommt Dir der Ehestand recht gut und Du bist im Besitze Deiner vollsten Gesundheit.«177 Aus dem Februar 1934 stammt eine Ansichtskarte, die Elsa an Leopoldine »aus unserem herrlichen Winterparadies«178 Obertauern geschickt hatte. Darauf findet sich auch die Unterschrift ihres Bruders Ernst. 2.1.4 Todeserklärung der Großeltern Aufgrund ihrer Nachforschungen war die Familie des Interviewpartners Ernst Stimmer jahrelang davon ausgegangen, dass dessen Großeltern Irene und Emil Stimmer in Auschwitz ermordet worden waren. Der 1946 geborene Enkelsohn meinte während des Interviews  : »Im Frühling 1942 sind sie nach Auschwitz deportiert worden […] und dort sind sie dann umgekommen.«179 Sein Vater Ernst schrieb im Sommer 1945 an das Staatsamt für Finanzen, er habe sowohl während seiner Haft im Konzentrationslager Theresienstadt als auch nach seiner Rückkehr nach Wien »von Augenzeugen erfahren, dass das Lager in Litzmannstadt schon vor mehr als einem Jahre aufgelöst wurde und die Insassen nach Auschwitz zur Vergasung kamen. Nachdem meine Eltern bereits über 60 Jahre alt waren, mein Vater schwer herzleidend war und 172 Historische Meldekartei, Stadtarchiv Salzburg. 173 Meldeauskunft, Stadt Salzburg, Einwohner- und Standesamt, datiert 9.1.2020. 174 Personal-Ausweis Deutsches Rotes Kreuz, datiert 2.6.1941, Nachlass Ernst Stimmer. 175 Siehe Trauzettel für das Zentralmeldungsamt, datiert 18.12.1932, WStLA, historische Meldeunterlagen. 176 Siehe Sterbeurkunde Johann Schelnast, datiert 21.9.1944, Trauungsakt Ernst und Leopoldine Stimmer, WStLA, Standesamt Wien, Hadersdorf-Weidlingau, 52/1945. 177 Elsa Stimmer an Poldy Schelnast, datiert 23.12.1932, Nachlass Ernst Stimmer. 178 Elsa Stimmer an Poldy Schelnast, datiert 28.2.1934, Nachlass Ernst Stimmer. 179 Interview mit Ernst Stimmer, S. 1.

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die Vorgänge in Auschwitz nunmehr offiziell bekannt sind, kann mit Bestimmtheit damit gerechnet werden, dass meine Eltern nicht mehr am Leben sind.«180 Auf der Aufgebotsliste, die im September 1945 anlässlich der bevorstehenden Trauung zwischen Ernst Stimmer und seiner zweiten Ehefrau Leopoldine Schelnast ausgefüllt wurde, ist als letzter Wohnort von Irene und Emil Stimmer zunächst »Auschwitz« eingetragen, dann durchgestrichen und durch »Wien« ersetzt worden.181 Im Dezember 1945 gab ihr Sohn an, es »kann leider mit Bestimmtheit damit gerechnet werden, daß sie in Auschwitz, wohin man sie brachte, durch Vergasung ermordet wurden.«182 Auf dem im Herbst 1946 ausgefüllten Formular zur Anmeldung arisierten Vermögens183 ist als Sterbeort Auschwitz angegeben, ebenso auf dem von einem Keramikkünstler gestalteten Denkmal am Familiengrab in Kronstorf. Im Museum Auschwitz-Birkenau existiert jedoch »no information about Irene nor Emil/ Emilian Stimmer.«184 Im Oktober 1946 beantragte Ernst Stimmer »die Einleitung des Verfahrens zur Beweisführung des Todes – allenfalls Todeserklärung – seiner Eltern«.185 Das gerichtliche Erkenntnis benötigte er »zur Durchsetzung von Wiedergutmachungsansprüchen.«186 Im November reichte Stimmer einen Brief nach, in dem er dem Gericht eine gehörlose Person nannte, die den Tod seines Vaters bezeugen könne.187 Diesem Brief war eine handschriftliche Erklärung beigelegt, in der »Siegfried Fedrid, 26 Jahre alt, ledig, mos., Schneidergehilfe, Wien, I., Elisabethstraße Nr. 26/27, fremd«188 bestätigt, »daß ich mit Herrn Emil Stimmer geb. 6.7.1879 aus Wien im K.Z. Litzmannstadt zusammen in einem Zimmer gewohnt habe und daß ich Zeuge bin, daß Herr Emil Stimmer im April 1942 dort Hungers gestorben ist.«189 Fedrid diente dem Gericht als Auskunftsperson und bestätigte »durch Zeichen, nach Vorhalt der Erklärung vom 31. Okt. 1946, […] daß der Inhalt dieser Erklärung

180 Ernst Stimmer an Repatriierungskommission, datiert 10.8.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 181 Aufgebotsliste 60/1945, datiert 12.9.1945, Trauungsakt Ernst und Leopoldine Stimmer, WStLA, Standesamt Wien, Hadersdorf-Weidlingau, 52/1945. 182 Ernst Stimmer an FLD Wien/NÖ, datiert 13.12.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 183 Anmeldung entzogener Vermögen, datiert 16.10.1946, WStLA, Vermögensentziehungs-Anmeldungs­ verordnung, 14. Bezirk, Zahl 35, Ernst Stimmer. 184 E-Mail Archiwum Muzeum Auschwitz-Birkenau an Verfasser, datiert 1.6.2020. 185 Niederschrift, LG ZRS Wien, datiert 4.10.1946, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46. 186 Ebd. 187 Ernst Stimmer an LG ZRS Wien, datiert 20.11.1946, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46. 188 Niederschrift, LG ZRS Wien, datiert 23.4.1947, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46. 189 Erklärung Siegfried Fedrid, datiert 31.10.1946, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46.

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vollinhaltlich den Tatsachen entspricht.«190 Am selben Tag wurde »als bewiesen erkannt, […] dass Emilian Stimmer den 30. April 1942 nicht überlebt hat. […] Die Todesursache war Hunger.«191 Das gerichtliche Erkenntnis »gründet sich auf die durchgeführten Erhebungen, insbesondere auf die glaubwürdigen Angaben des als Auskunftsperson vernommenen Siegfried Fedrid, sowie auf die unbedenkliche Bestätigung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien vom 16. Oktober 1946.«192 Wie im Zuge des Gerichtsverfahrens zur Todeserklärung seines Vaters, musste Ernst Stimmer auch für seine Mutter Anfang Februar 1947 in derselben Ausgabe der »Wiener Zeitung«193 eine im Wortlaut ähnliche entgeltliche Einschaltung veröffentlichen  : »Irene Stimmer wird aufgefordert, vor dem gefertigten Gerichte zu erscheinen oder auf andere Weise von sich Nachricht zu geben. […] Nach dem 10. Mai 1947 wird das Gericht auf neuerliches Ansuchen über die Todeserklärung entscheiden.«194 Als diese Frist abgelaufen war, erschien Stimmer erneut am Landesgericht für Zivilrechtssachen und gab an, »dass über die Vermisste bis heute keine neuen Nachrichten eingelangt sind.«195 Fünf Wochen später erklärte das Gericht Irene Stimmer für tot. Der 8. Mai 1945, an dem die Kampfhandlungen in Europa gemäß der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht eingestellt worden waren, wurde »als jener Tag bestimmt, den die Verschollene bestimmt nicht überlebt hat.«196 Auf der Todeserklärung findet sich folgende Begründung  : »Auch bei Anlegung eines strengen Maßstabes […] erachtet das Gericht, dass die Umstände unter denen die Verschollene vermisst ist, derartige sind, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt werden kann, dass sie nicht mehr am Leben ist.«197 2.1.5 Teilweise Rückerstattung des geraubten Familienbesitzes Parallel zum Verfahren zur Beweisführung des Todes lief auch das zur Rückerstattung geraubten Vermögens gemäß der Vermögensentziehungs-Anmeldungsverordnung vom 15. September 1946. Gegenstand dieses Verfahrens war das Einfamilienhaus im Venusweg 3 in Hütteldorf, in dem Emil und Irene sowie auch Ernst Stimmer vor ihrer Verschleppung gelebt hatten  : »Ich habe bis zu meiner Verhaftung im September 190 Niederschrift, LG ZRS Wien, datiert 23.4.1947, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46. 191 Erkenntnis über den Beweis des Todes, LG ZRS Wien, datiert 23.4.1947, WStLA, Todeserklärung Emil Stimmer, 48T 2234/46. 192 Ebd. 193 Siehe Emilian (Emil) Stimmer und Irene Stimmer geb. Stimmer. In  : Wiener Zeitung vom 1.2.1947, S. 5. 194 Einschaltung Wiener Zeitung, datiert 1.2.1947, WStLA, Todeserklärung Irene Stimmer, 48T 2235/46. 195 Aktenvermerk LG ZRS Wien, datiert 19.5.1947, WStLA, Todeserklärung Irene Stimmer, 48T 2235/46. 196 Todeserklärung Irene Stimmer, datiert 25.6.1947, WStLA, Todeserklärung Irene Stimmer, 48T 2235/46. 197 Ebd.

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1942 in dem Hause weitergewohnt und habe jetzt nach meiner Rückkehr aus dem KZL einen Teil meiner Wohnung in dem Hause von den dort eingemietet gewesenen Nationalsozialisten wieder freibekommen. Zwei Zimmer sind vorläufig noch von einer Partei bewohnt, die jedoch nicht nationalsoz. waren.«198 Als Mieter ab Mai 1942 scheint Leopold Edthofer auf.199 Nachdem die im Namen des Staates auftretende Finanzlandesdirektion bei der neu bestellten Gebäudeverwaltung angefragt hatte, warum Ernst Stimmer im Venusweg 3 wohnhaft war, antwortete diese, »dass Herr Ing. Ernst Stimmer die Wohnung im gegenständlichen Haus ca. am 10. August l. J. durch die Bezirkshauptmannschaft des XIV. Bezirks erhalten hat und der frühere Mieter Sedlacek laut einer, durch Ing. Ernst Stimmer anlässlich seines Besuches in meinem Büro gemachten Aussage, von der genannten Bezirkshauptmannschaft ausgemietet wurde.«200 Als Zeitpunkt der Arisierung wurde auf dem entsprechenden Formular der 25. Juli 1942 angegeben.201 Ernst Stimmer drängte mehrmals darauf, das Haus, das er »in vollkommen verwahrlostem Zustand und durch Kriegshandlungen […] auf die Dauer unbewohnbar«202 vorgefunden habe, zurückzuerhalten. Er sei »nicht weiter gewillt, Mietzinse an die Finanzlandesdirektion abzuführen, während ich zusehen muss, wie das Haus dem weiteren Verfall preisgegeben ist.«203 Die Finanzlandesdirektion erwiderte in ihrem Antwortschreiben, sie könne Ernst Stimmers »Ansuchen wegen Nichtbezahlung des Mietzinses derzeit nicht stattgeben, da sonst die ordentliche Verwaltung des Hauses nicht gewährleistet werden könnte.«204 2.1.5.1 Rechtsstreit zwischen dem Großvater und seiner ersten Ehefrau Zusätzlich wurden die von Stimmers geschiedener Ehefrau Adele erhobenen Ansprüche als Argument angeführt. Diese war Ende August 1945 zunächst bei der Gebäudeverwaltung des Hauses Venusweg 3 vorstellig geworden, wo sie »eine notariell beglaubigte Schenkungsurkunde ihres Schwiegervaters, des verstorbenen Hausei198 Ernst Stimmer an Repatriierungskommission, datiert 10.8.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 199 Anmeldung entzogener Vermögen, Anmelder Leopold Edthofer, datiert 12.11.1946, WStLA, Vermögensentziehungs-Anmeldungsverordnung, 14. Bezirk, Zahl 35, ES. 200 Gebäudeverwaltung Franz Alfery an FLD Wien/NÖ, datiert 1.9.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 201 Anmeldung entzogener Vermögen, datiert 16.10.1946, WStLA, Vermögensentziehungs-Anmeldungs­ verordnung, 14. Bezirk, Zahl 35, Ernst Stimmer. 202 Ernst Stimmer an Gebäudeverwaltung Franz Alfery, datiert 18.3.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 203 Ebd. 204 Entwurf Schreiben FLD Wien/NÖ/Bgld. an Ernst Stimmer, datiert 16.1.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951.

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gentümers Emil Stimmer vorwies und aufgrund derselben gleichfalls Eigentumsrechte geltend machen will«,205 später auch bei der Finanzlandesdirektion  : »Ich habe mich mit meinem ersten Mann über Vermögenswerte, die in meinem Besitz bzw. in meiner Verwahrung sind, leider nicht einigen können, da er ungemein kleinlich in seinen Ansichten hierüber ist. Darum will ich auch die mir von seinem Vater zugedachte Schenkung des Hauses nicht aufgeben, zumal diese Schenkung ausdrücklich als Dank an mich deshalb erfolgte, da ich meine Schwiegereltern, so lange dies nur möglich war, von allen Verfolgungen der Gestapo usw. schützte und meinen Ruf und meine Person in Gefahr brachte.«206 Im November 1946 beantragte sie bei der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland »die Übertragung der Liegenschaft Wolfersberg, Venusweg 3, Einlagezahl 1518, Katastralparzelle 781 der Katastralgemeinde Hütteldorf an mich gemäss des Schenkungsvertrages des Herrn Emil Stimmer vom 10. Oktober 1941. […] Ich erhebe daher im Sinne des 1. Restitutionsgesetzes (Wiedergutmachung) Anspruch auf die Schenkung.«207 Ihr Ex-Mann Ernst Stimmer stellte das Zustandekommen dieses Schenkungsvertrags gegenüber der Finanzlandesdirektion folgendermaßen dar  : »Dieser Vertrag, der niemals rechtsgültig war, der auch vom nationalsoz. Staat wegen Tarnung nicht anerkannt wurde und von meinem Vater, unter ganz anderen Voraussetzungen als sie eingetreten sind, erzwungen wurde, ist Ihnen scheinbar von meiner geschiedenen Gattin, die alles unternimmt um mich zu schädigen, vorgelegt worden.«208 Am 17. Jänner 1942 hatte Ernst Stimmer an seine Eltern geschrieben  : »Bei uns ist alles beim alten, hat sich nichts geändert, Adis Sache läuft noch immer.«209 Ob mit »Adis Sache« die Schenkung gemeint ist oder eine andere Angelegenheit, lässt sich nicht mehr feststellen. Der Anspruch von Adele Mels-Colloredo wurde im November 1946 von der Finanzlandesdirektion per Bescheid zurückgewiesen, da der Schenkungsvertrag nicht von den zuständigen nationalsozialistischen Stellen genehmigt worden sei und MelsColloredo »zu keiner Zeit geschädigte Eigentümerin gewesen und somit zur Anspruchserhebung nicht berechtigt ist.«210 Gegen diesen Bescheid erhob Adele Einspruch mit der Begründung, das Haus sei ihr von Emil Stimmer »aus Dankbarkeit«211 205 Gebäudeverwaltung Franz Alfery an FLD Wien/NÖ, datiert 1.9.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 206 Aktenvermerk FLD Wien/NÖ, datiert 30.8.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 207 Adele Mels-Colloredo an FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 13.11.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 208 Ernst Stimmer an FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 8.1.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 209 Ernst Stimmer an Emilian Stimmer, datiert 17.1.1942, Nachlass Ernst Stimmer. 210 Bescheid FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 29.11.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 211 Adele Mels-Colloredo an FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 20.12.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951.

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geschenkt worden  : »Ich habe für meine Schwiegereltern sowohl, als auch für meinen damaligen Gatten, Ing. Ernst Stimmer alles erdenkliche unternommen, um ihnen ihre Lage, die zur Zeit des Hitlerregimes eine verzweifelte war, in jeder Hinsicht zu erleichtern. […] Ausserdem hatte mein Schwiegervater, Emil Stimmer zu mir grosse Zuneigung. […] Ich betrachte mich daher als geschädigt, da die zur Eigentumsübertragung notwendige Zustimmung der damaligen Vermögensverkehrsstelle nur aus dem Grunde nicht erteilt wurde, weil nach deren Auslegung eine jüdische Versippung vorlag.«212 Unter Punk neun des Schenkungsvertrags steht geschrieben, dieser werde »unter der ausdrücklichen Bedingung geschlossen, dass die zur Genehmigung dieses Vertrages berufenen Behörden und Amtsstellen zu seinem Abschlusse die ausdrückliche Genehmigung erteilen.«213 Die »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«214 der SS in Wien hatte sich Anfang 1942 gegen die geplante Schenkung ausgesprochen, da es offensichtlich sei, »daß diese Schenkung den Zweck hatte, dieses Vermögensstück den Bestimmungen des Auswanderungsfonds zu entziehen.«215 Am 17. Februar 1947 zog Adele Mels-Colloredo ihren Einspruch ohne Angabe von Gründen zurück und bat, diesen »als gegenstandslos zu betrachten.«216 2.1.5.2 Auseinandersetzung um Mietzahlungen Die Finanzlandesdirektion teilte der Gebäudeverwaltung im November 1945 mit, dass Ernst Stimmer, der nach seiner Rückkehr aus Theresienstadt im Haus seiner ermordeten Eltern im Venusweg 3 untergekommen war, Miete bezahlen müsse  : »In Ihrer Mietzinsabrechnung für die Monate Juli-November 1945 vermisse ich den Mietzins des Ing. Ernst Stimmer. Da Ing. Ernst Stimmer in die Wohnung eingewiesen wurde, hätte er […] Mietzins zu bezahlen.«217 Der Gebäudeverwalter wurde ersucht, »das Nötige zu veranlassen«.218 Dagegen protestierte Stimmer  : »Da ich mir trotz meiner Anwesenheit seit 6 Monaten, eine Verwaltung des von den Nazi geraubten und geplünderten Häuschens, mit allen Spesen gefallen lassen muß, weiters die Miete, der noch in einem Teil der Wohnung gegen meinen Willen seinerzeit eingemieteten 212 Adele Mels-Colloredo an FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 20.12.1946. 213 Schenkungsvertrag, datiert 10.10.1941, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 214 Siehe Botz, »Finis Austriae« und nationalsozialistische Diktatur, S. 101. 215 Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien an Reichsstatthalterei, datiert 17.1.1941, ÖStA, AdR, VVSt, FLD 7413. 216 Adele Mels-Colloredo an Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung, datiert 17.2.1947, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 217 FLD Wien/NÖ an Gebäudeverwaltung Franz Alfery, datiert 21.11.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 218 Ebd.

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Partei, an den Staat abführen muß, ersuche ich, wenigstens von der Groteske, auch noch Miete für die eigene Wohnung in meinem Hause zahlen zu sollen, Abstand zu nehmen, bzw. die Erledigung der schwebenden Eigentumsrechte abzuwarten.«219 Die Finanzlandesdirektion kam diesem Ersuchen nicht nach, da die Eigentumsverhältnisse »vollkommen ungeklärt«220 wären. Dem widersprach Ernst Stimmer, der argumentierte, die Verhältnisse seien »absolut nicht vollkommen ungeklärt, im Gegenteil, wir sind nur in Erwartung der Wiedergutmachungsgesetze und hoffen, vom österreichischen Staat wieder das zurückzubekommen was uns gehört.«221 Er habe sein Ansuchen, mit der Zinszahlung vorläufig bis zum endgültigen Entscheid zuzuwarten, unter der Voraussetzung gestellt, »daß 7 Jahre Verfolgung, 2 Jahre Konzentrationslager, Ermordung der Eltern und Verlust des Vermögens durch den nationalsozialistischen Staat genügen, um die Bitte berücksichtigungswert erscheinen zu lassen […].«222 Die Finanzlandesdirektion bestand jedoch, wie aus mehreren Briefen hervorgeht, weiterhin darauf, dass Stimmer Miete bezahlt, »bis durch die zu erwartende, gesetzliche Regelung die Besitzverhältnisse geklärt sind.«223 Im Frühjahr 1947 bestellte die Finanzlandesdirektion schließlich Stimmer als Hausverwalter, allerdings unter insgesamt acht Bedingungen. So seien etwa die Mietzinsüberschüsse an die Finanzlandesdirektion zu überweisen oder Kriegsschäden »allerehestens zu beheben, soweit die Mittel hiezu durch Mietzinsüberschüsse gedeckt sind.«224 Ernst Stimmer erklärte sich damit einverstanden.225 Im Dezember 1947 teilte Stimmer der Finanzlandesdirektion mit, in Zukunft keine quartalsweisen Mietzinsabrechnungen mehr zu schicken  : Da der Rückgabe des Siedlungshauses an ihn, »den rechtmäßigen Eigentümer […] nichts im Wege steht, sehe ich keine Veranlassung mehr, sowohl Sie als auch mich mit den sinnlosen Abrechnungen über mein Häuschen weiter zu belasten.«226 2.1.5.3 Rückerstattung des Hauses Die für Wien, Niederösterreich und das Burgenland zuständige Finanzlandesdirektion erließ im Februar 1948 den auf dem Ersten Rückstellungsgesetz von 1946 basierenden Bescheid, wonach die Liegenschaft Venusweg 3 »an die geschädigten Eigentümer 219 Ernst Stimmer an FLD Wien/NÖ, datiert 13.12.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 220 FLD Wien/NÖ an Ernst Stimmer, datiert 20.12.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 221 Ernst Stimmer an FLD Wien/NÖ, datiert 8.1.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 222 Ebd. 223 FLD Wien/NÖ/Bgld. an Ernst Stimmer, datiert 6.4.1946, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 224 FLD Wien/NÖ/Bgld. an Ernst Stimmer, datiert März 1947, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 225 Siehe Ernst Stimmer an FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 29.3.1947, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 226 Ernst Stimmer an FLD, datiert 14.12.1947, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951.

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mit 29. Feber 1948 rückgestellt«227 werde. Ernst Stimmer und seiner inzwischen in Liberec/Reichenberg in der damaligen Tschechoslowakei lebenden Schwester Elsa With, die in manchen Quellen auch als Withova angeführt wird, wurde das Haus je zur Hälfte zugesprochen. Die Überschüsse, die nach der Arisierung an den nationalsozialistischen Staat gegangen waren, wurden den Geschwistern nicht rückerstattet. Im ersten Halbjahr 1945 etwa standen den 420 Reichsmark an Mieteinnahmen Ausgaben für Rattenbekämpfung sowie Gebühren, Steuern und Versicherungen in Höhe von insgesamt 141,04 Reichsmark gegenüber.228 Im zweiten Halbjahr 1944 belief sich der Überschuss auf 331,26 Reichsmark.229 Im ersten Halbjahr 1944 verbuchte die Reichsfinanzverwaltung einen Gewinn von 304,50 Reichsmark,230 im zweiten Halbjahr 1943 78,97 Reichsmark231 und im ersten Halbjahr 1943 209,86 Reichsmark.232 Auf die rückgestellten »Erträgnisse, die bis 30. November 1947 aufgelaufen und noch im Inlande vorhanden sind, wurde verzichtet.«233 Die Gebühren in Höhe von 309,24 Schilling musste hingegen Ernst Stimmer entrichten.234 Im Mai 1948 bewilligte schließlich das zuständige Wiener Bezirksgericht »die Einverleibung des gleichlautenden Eigentumsrechtes zugunsten des Dipl. Ing. Ernst Stimmer und Elsa Withova […].«235 Das Verfahren hatte sich über knapp drei Jahre hingezogen. 2.1.6 Antrag an den Hilfsfonds in den 1960er-Jahren Nach Kriegsende sei sein Vater mit dem späteren österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky von der Sozialdemokratischen Partei Österreichs nach Schweden gereist, wie Ernst Stimmer während des Interviews in Kronstorf erzählte  : »Irgendwie sind sie mit einem Schiff nach Schweden gefahren miteinander, wann, das weiß ich auch nimmer. Auf jeden Fall hat mein Vater dort dann so Zieheltern oder sowas gehabt in Schweden. Und da war er recht stolz darauf, […] dass er mit dem Kreisky da auf dem Schiff war, ich weiß es aber nicht, in welchem Jahr das war, das kann ich nicht sagen.«236 Kreisky reiste im Juli 1946 von Wien nach Schweden, wo er während 227 Bescheid FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 28.2.1948, WStLA, Vermögensentziehungs-Anmeldungsverordnung, 14. Bezirk, Zahl 35, ES. 228 Abrechnung Gebäudeverwaltungskanzlei Edeltrude Fischer, datiert 3.8.1945, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 229 Abrechnung Gebäudeverwaltungskanzlei Edeltrude Fischer, datiert 9.1.1945. 230 Abrechnung Gebäudeverwaltungskanzlei Edeltrude Fischer, datiert 4.7.1944. 231 Abrechnung Gebäudeverwaltungskanzlei Edeltrude Fischer, datiert 14.1.1944. 232 Abrechnung Gebäudeverwaltungskanzlei Edeltrude Fischer, datiert 8.9.1943. 233 Bescheid FLD Wien/NÖ/Bgld., datiert 28.2.1948, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 234 Beschluss Bezirksgericht Hietzing, datiert 20.8.1947, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 235 Beschluss BG Hietzing, datiert 3.5.1948, ÖStA, AdR, E-uReang, FLD 14951. 236 Interview mit Ernst Stimmer, S. 3.

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der Zeit des Nationalsozialismus im Exil gelebt hatte und bis Ende 1950 »als offizieller Vertreter Österreichs«237 bleiben sollte. 1948 bezahlte Ernst Stimmer, der Vater des gleichnamigen Sohns, sowohl für die erste als auch die zweite Hälfte des Jahres den Mitgliedsbeitrag, der vom »Verband österreichischer KZ-ler und sonst. politisch Verfolgter in Wien«238 eingehoben wurde. 1962 stellte Stimmer, der inzwischen für die VOEST arbeitete und in den 1950er-Jahren mit seiner Familie in ein Haus am Froschberg in Linz übersiedelt war, einen Antrag an den 1961 vom Nationalrat beschlossenen Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter. Darin machte er Wertpapiere seiner Eltern, »die in der Österr. Länderbank A.G. Wien I., Am Hof 2 unter den Kontonummern 9999 bezw. 11599 (14134) verwahrt wurden«,239 und die erzwungene »Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit« in Höhe von insgesamt 1600 Reichsmark, die am 1. März, 30. Mai und 25. August 1939 entrichtet worden war, geltend. Die Länderbank teilte dem Fonds auf Anfrage mit, dass die im Sammeldepot Emil Stimmer liegenden Papiere Ende der 1930er-Jahre in 4675 Reichsmark getauscht und davon insgesamt 1600 Reichsmark als »Judenvermögensabgabe«240 überwiesen wurden  : »Die restliche Deutsche Reichsanleihe wurde verkauft und das Realisat für Lebensunterhalt behoben.«241 Auch die Anleihen aus dem Sammeldepot Irene Stimmer seien in 1350 Reichsmark umgetauscht und verkauft, der Erlös zur Bestreitung des Lebensunterhalts verwendet worden. In dem Schreiben wurde allerdings auch darauf hingewiesen, »dass unsere Geschäftsunterlagen aus der Kriegszeit nur mehr unvollständig erhalten sind, vor allem liegen uns keine Buchungsunterlagen über Sammelkonten vor, so dass Sie von unseren Auskünften nur ohne unser Obligo für Richtigkeit und Vollständigkeit Gebrauch machen können.«242 Vom Fonds wurden schließlich 1596,53 der an »Judenvermögensabgabe« bezahlten 1600 Reichsmark anerkannt, der Rest wurde abgewiesen. Der anerkannte Betrag, dem der Fonds den »Marktwert dieser Papiere am Konfiskationstag«243 zugrunde gelegt hatte, wurde auf 558,79 Schilling berichtigt. Dem Akt liegt eine Zahlungsanweisung bei, laut der allerdings ein Beitrag in Höhe von 1596,53 Schilling an Ernst Stimmer zu zahlen sei.244

237 Siehe Wolfgang Petritsch, Bruno Kreisky. Die Biografie, St. Pölten/Salzburg 2010, S. 92. 238 Mitgliedskarte, Nachlass Ernst Stimmer. 239 Beiblatt Antrag Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter, datiert 21.8.1962, ÖStA, AdR, FLD 9422. 240 Siehe Bauer, Die dunklen Jahre, S. 187. 241 Länderbank an Abgeltungsfonds, datiert 31.10.1962, ÖStA, AdR, FLD 9422. 242 Ebd. 243 Vorlagebericht, Abgeltungsfonds, datiert 11.7.1963, ÖStA, AdR, FLD 9422. 244 Zahlungsanweisung Nr. 005130, datiert 27.8.1963, ÖStA, AdR, FLD 9422.

Ernst Stimmer  : »Das hat er mit ins Grab genommen«

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Im Februar 1972 ersuchte Elsa Withova, die in Liberec wohnhaft war, den Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen um die Ausstellung einer Sterbeurkunde für ihre Eltern Irene und Emil Stimmer. Die genauen Umstände des Todes konnten vom Suchdienst jedoch nicht eruiert werden  : »Wir sind daher nicht in der Lage, die Ausstellung von Sterbeurkunden beim Sonderstandesamt in Arolsen zu veranlassen.«245 2.1.7 Letzte Lebensjahre und Tod der Eltern Nach einem gemeinsamen Essen in Ernst Stimmers Haus in Kronstorf wenige Jahre vor dem Tod seines gleichnamigen Vaters habe dieser zum ersten Mal erwähnt, dass er in Theresienstadt im Konzentrationslager inhaftiert gewesen war  : »Da sind wir nach dem Essen einfach länger sitzen geblieben, haben ein Schnapserl getrunken, da hat er mir das erzählt.«246 Die Ehefrau des Sohns, Gabriele Stimmer, erinnert sich daran, dass ihre Schwiegereltern auch den Streit mit Adele, der ersten Ehefrau ihres Schwiegervaters, thematisiert hatten  : »Ich habe einmal erlebt, wie der Vater und auch die Mutter ein bisschen geredet haben von ihrer Vergangenheit und dass eben der Vater schon eine Ehe gehabt hat und die Frau hat ihn verlassen und auch zur Kasse gebeten, […] die Mutter hat dann geschimpft auf diese Frau, die hat ihn ausgebeutet und in die Wüste geschickt.«247 Die erste Ehefrau habe seinen Vater verraten, meint Ernst Stimmer, der betont, dass es vor diesem Gespräch keine eindeutigen Hinweise auf die Verfolgung seiner Vorfahren während der NS-Diktatur und deren jüdische Herkunft gegeben hätte  : »Nur eben diese eigenartige Veränderung, wenn es um die FPÖ gegangen ist.«248 Sein Vater, der ein »richtig eingefleischter Sozialist«249 war, sei immer in Rage geraten, »wenn es um die FPÖ gegangen ist, um den Jörg Haider und so weiter, da ist er ganz nervös geworden, das weiß ich noch.«250 Auf die Frage, warum sein Vater so lange geschwiegen haben könnte, antwortet Ernst Stimmer  : »Er war immer so ein introvertierter Mensch. Er war nicht so ein Geschichtenerzähler. Das dürfte sein Innerstes gewesen sein, das hat ihn wahrscheinlich unheimlich stark betroffen und da wollte er, kann ich mir vorstellen, den Schmerz nicht aufrühren, indem er darüber redet.«251 Auch seine um zwei Jahre

245 Internationaler Suchdienst an Elsa Withova, datiert 10.4.1972, ITS Digital Archive, Arolsen Ar­ chives, 6.3.3.2/89467546. 246 Interview mit Ernst Stimmer, S. 3. 247 Ebd., S. 19. 248 Ebd., S. 14. 249 Ebd., S. 3. 250 Ebd., S. 2. 251 Ebd., S. 12.

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jüngere Schwester Christa habe »überhaupt nichts gewusst«,252 der habe der Vater nichts erzählt. Dass dieser bis Ende November 1943 von den Deportationen verschont geblieben ist und die Shoah überlebt hat, führen der Sohn und dessen Ehefrau auch auf die berufliche Qualifikation als Bauingenieur zurück. Ernst Stimmer und seine zweite Ehefrau starben 1990, Leopoldine am 9. Juni in Linz, ihr Ehemann am 25. Dezember in Steyr  : »In seinen letzten Tagen im Spital, da ist das Ganze in ihm wieder erschienen, da hat er ein wenig randaliert und hat so getan, als wie wenn die Schwestern Aufseher wären, da hat er geglaubt, […] er ist wieder im Konzentrationslager und eingesperrt. Das war sehr traurig.«253 Auf die Familien­ geschichte führt es Ernst Stimmer, der Sohn von Ernst und Leopoldine Stimmer, zurück, dass er sich sein ganzes Leben gegen eine »Obrigkeit, die nicht aus einer natürlichen Autorität arbeitet, sondern mit menschenverachtender Machtausübung«254 aufgelehnt habe  : »Wenn ich auf solche Menschen getroffen bin, die so menschenverachtend Macht ausgeübt haben, gegen die habe ich mich auflehnen müssen.«255 Über die Lebensgeschichte seines Vaters und der Großeltern väterlicherseits Bescheid zu wissen, sei ihm wichtig  : »Das hat für mein Leben sehr viel bedeutet.«256

2.2 Klaus Stanjek  : »Ich habe nichts von den Abgründen gespürt« 257 Bei einer Familienfeier anlässlich des 90. Geburtstags von Wilhelm Heckmann im Juni 1987 in Wuppertal hörte dessen am 20. November 1948 geborener Neffe Klaus Stanjek zum ersten Mal davon, dass sein Onkel »im Lager war.«258 Bis zu diesem Zeitpunkt habe er »nichts, aber auch überhaupt nichts«259 davon geahnt, dass Heckmann »so ein Leben hinter sich hatte. Ich weiß noch, wie ich schockstarr wurde und zwei-, dreimal nachgefragt habe«.260 Dabei sei die Feier zunächst ähnlich banal verlaufen »wie alle bisherigen Familientreffen, bei denen mithilfe von Anekdoten, Sahnekuchen und spitzen Bemerkungen jegliche konfliktgeladenen Themen konsequent vermieden wurden.«261 252 Interview mit Ernst Stimmer, S. 12. 253 Ebd., S. 9. 254 Ebd., S. 16. 255 Ebd., S. 6. 256 Ebd., S. 7. 257 Interview mit Klaus Stanjek, Transkript S. 1. 258 Stanjek, Klänge des Verschweigens, 9  :03–9  :04 min. 259 Interview mit Klaus Stanjek, S. 3. 260 Ebd. 261 Stanjek, Klänge des Verschweigens, 8  :47–8  :57 min.

Klaus Stanjek  : »Ich habe nichts von den Abgründen gespürt«

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Stanjek hatte als Kind jahrelang im selben Mehrparteienhaus in Wuppertal gewohnt, in dem auch der Berufsmusiker und Alleinunterhalter Wilhelm Heckmann in einer Junggesellenwohnung einen Stock über der Wohnung der Familie eingemietet gewesen war. Obwohl der Kontakt zu dem Halbbruder seiner Mutter eng gewesen sei, habe er »nichts von den Abgründen gespürt, die noch hinter seiner Lebens­ geschichte stecken konnten.«262 Heckmann war 1937 in Passau, wo er ein Engage­ ment im Lokal »Regina-Tanz-Diele« hatte, festgenommen worden. Ihm wurde vermutlich vorgeworfen, gegen den bis 1994 gültigen Paragrafen 175 des deutschen Strafgesetzbuchs, mit dem sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe gestellt worden waren, verstoßen zu haben. Zunächst erfolgte die Überstellung nach München, danach ins Konzentrationslager Dachau und schließlich nach Mauthausen. Dort wurde Wilhelm Heckmann Anfang Mai 1945 von Soldaten der elften Panzer-Division der dritten US-Armee befreit, fast acht Jahre nach seiner Festnahme. Klaus Stanjek, der 1976 seinen ersten Dokumentarfilm realisiert hatte, produzierte mehr als 20 Jahre nach der Familienfeier ein »detektivisches Dokumentarprojekt«263 über das Leben seines Onkels. Er führte auch Regie und fungierte als Protagonist und Sprecher. In dem autobiografischen Film kommen mehrere Verwandte, die Heckmann gut gekannt hatten, ehemalige Nachbarn sowie Überlebende des Konzen­tra­ tionslagers Mauthausen zu Wort. »Klänge des Verschweigens« wurde erstmals am 12. Dezember 2012 in Potsdam gezeigt, lief auf internationalen Filmfestivals und bekam mehrere Preise sowie das Prädikat »besonders wertvoll« der deutschen Filmund Medienbewertung verliehen. Heckmanns Neffe geht darin den Fragen nach, aus welchem Grund sein Onkel in Passau verhaftet worden war, wie es diesem gelingen konnte, von Mitte August 1937 bis Anfang Mai 1945 in Dachau und Mauthausen zu überleben, und warum darüber in der Familie geschwiegen worden war. Den von einer Nichte Wilhelm Heckmanns geäußerten Verdacht, »Onkel Willi« hätte Kinder sexuell missbraucht, thematisiert Klaus Stanjek ebenfalls  : »Das halte ich für unwahrscheinlich. Ich habe jedenfalls überhaupt keinen einigermaßen belastbaren Beleg dafür.«264 Als Ergänzung zu seinem Dokumentarfilm ließ er auch eine Internetseite265 erstellen.

262 Interview mit Klaus Stanjek, S. 1. 263 Stanjek, Klänge des Verschweigens, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 264 Interview mit Klaus Stanjek, S. 9. 265 URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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2.2.1 Leben und Karriere bis zur Festnahme 1937 Klaus Stanjeks Onkel kam am 26. Juni 1897 als Jacob Wilhelm Heckmann in Wellinghofen im nordrhein-westfälischen Landkreis Hörde, der 1929 aufgelöst und nach Dortmund eingemeindet wurde, auf die Welt. Er war das vierte Kind des »Gastwirtschaftsverwalters«266 Gustav Adolf Heckmann und dessen Ehefrau Maria, geborene Willet. Mit seinen evangelischen Eltern, die eine Gaststätte »mit Pensionszimmern und Saal«267 betrieben, und den drei älteren Brüdern wuchs Heckmann in der westfälischen Stadt Altena auf. Dort besuchte er von 1903 bis 1911 im Stadtteil Freiheit die Volksschule und begann nach der Schulzeit eine dreijährige kaufmännische Lehre, die er jedoch nicht abschloss. Wilhelm Heckmanns Vater veranstaltete in seinem Gasthaus »Zum Deutschen Sänger« »regelmäßig musikalische Darbietungen zur Unterhaltung der Gäste«,268 bei denen die vier Söhne auftraten. Die »glockenreine Stimme«269 des jüngsten Sohns fiel bald auf  : »In dieser Zeit hatte sich Willi […] bereits den Weg eines Berufsmusikers ausgedacht.«270 Heckmann, ein »zarter, empfindsamer Knabe«,271 sei schon im Kindesalter als nicht-­heterosexuell »identifiziert«272 worden  : »Wahrscheinlich hatte er schon relativ früh auch homosexuelle Kontakte gehabt. Heute würde man sagen, er ist wahrscheinlich missbraucht worden. Er selbst hat mir gesagt, Männer haben ihn verführt.«273 Während des Ersten Weltkriegs wurde er zum Vaterländischen Hilfsdienst eingezogen und leistete von Jänner 1918 bis Kriegsende274 Wehrdienst an der Westfront in Frankreich. Nach dem Tod der Mutter übersiedelte die Familie 1919 in die kreisfreie Stadt Elberfeld,275 wo der Vater 1920 erneut heiratete und den Gasthof »Wicke« betrieb. Am 16. Mai 1920 wurde Klaus Stanjeks Mutter Kläre geboren, Wilhelm Heckmanns Halbschwester. Von 1919 bis 1923 studierte Heckmann am Konservatorium der s­ üdwestfäli­schen Stadt Hagen Piano und Gesang. »Als Sänger und Pianist konservatorisch aus­gebil­

266 Bescheinigung über Anmeldung zum Geburtsregister, datiert 30.6.1897, Standesamt Wellinghofen, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/wp-content/uploads/2011/06/Geburtsurkunde_Willi-Heck mann.jpg (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 267 Stanjek, Der Musiker Willi Heckmann. 268 Ebd. 269 Ebd. 270 Ebd. 271 Interview mit Klaus Stanjek, S. 1. 272 Ebd. 273 Ebd. 274 Personal-Fragebogen, Military Government of Germany, BArch. 275 Elberfeld bildete ab 1929 einen Teil der Stadt Barmen-Elberfeld, die 1930 in Wuppertal umbenannt wurde.

Klaus Stanjek  : »Ich habe nichts von den Abgründen gespürt«

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det«,276 arbeitete er schon vor und dann vor allem nach seiner Abschlussprüfung als Berufsmusiker und Alleinunterhalter. Klaus Stanjeks Onkel gründete eine Musikgruppe, tourte ab Mitte der 1920er-Jahre mit einem Orchester durch die Schweiz, wo Engagements im »Café Helvetia« und der »Cezil-Bar« in Zürich dokumentiert sind, und trat danach wieder in Deutschland auf.277 Zwischen 1923 und 1925 nahm er auch »Privatstunden in Berlin und Stettin«.278 Am 5. August 1927 erschien in der Fachzeitschrift »Der Artist« eine Annonce, in der mitgeteilt wurde, dass der »Stimmungspianist«, »Meister-Chansonnier« und Alleinunterhalter Willi Heckmann nach zwei Jahren »auf eigenen Wunsch […] aus der Schweiz zurückgekehrt«279 und ab 1. September frei sei. Von Oktober 1929 bis Ende Jänner 1930 war der zu diesem Zeitpunkt 32-jährige »Pianist und Stimmungssänger«280 im »Hermes« in Berlin engagiert, einem Café in der Kleiststraße 40  : »Er hat während dieser Zeit meine Gäste durch sein gutes Spiel und seine gesanglichen Darbietungen bestens unterhalten, war ehrlich und fleissig, sodaß ich Heckmann nur bestens empfehlen kann. Sein Austritt erfolgt auf eigenen Wunsch und begleiten ihn meine besten Wünsche für sein ferneres Fortkommen.«281 Gastspiele und Engagements in der »Hafenschenke« in Stuttgart, der »Bolzstube« in Wuppertal, im »Hotel Kahl« in Gotha und im »Café Gottschalk« in München folgten.282 Klaus Stanjeks Onkel gab nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals an, 1934283 festgenommen und am Landgericht Wuppertal zu einem halben Jahr Gefängnis wegen »Unzucht zwischen Männern« verurteilt worden zu sein. Er sei jedoch unter eine Amnestie gefallen, bei der es sich auch um eine zur Bewährung ausgesetzte

276 Wilhelm Heckmann an Wiedergutmachungsamt Wuppertal-Elberfeld, datiert 2.11.1954, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, Münster, Regierung Arnsberg/Wiedergutmachungen 56/559, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/material/dokumente/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 277 Siehe Klaus Stanjek, Kurzbiografie von Wilhelm Heckmann, 2012, URL  : http  ://www.klaenge-desverschweigens.de/material/texte/biografie-wilhelm-heckmann/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 278 Personal-Fragebogen, Military Government of Germany, BArch. 279 Ebd. 280 Zeugnis Café und Weinhandlung Hermes, datiert 31.1.1930, Eigentum von Klaus Stanjek, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/material/dokumente/zeugnis/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 281 Zeugnis Café und Weinhandlung Hermes. 282 Siehe Geschäfts-Fragebogen, Military Government of Germany, datiert 1947, Bundesarchiv (BArch) Berlin. 283 Im Protokoll der Vernehmung Wilhelm Heckmanns, der am 26.1.1960 im Polizeipräsidium Wuppertal-Barmen zu zwei ehemaligen SS-Mitgliedern als Zeuge befragt wurde, ist das Jahr 1936 angeführt. Dabei handelt es sich, wie anderen Quellen zu entnehmen ist, aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Irrtum.

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Freiheitsstrafe gehandelt haben könnte.284 1960 gab Wilhelm Heckmann gegenüber der Polizei an, dass er diese Strafe »nicht absitzen brauchte.«285 Die genauen Umstände, die zu dieser ersten Verurteilung führten, gehen aus den bisher auffindbaren Quellen nicht hervor  : »In der familiären Überlieferung heißt es, es seien in Elberfeld anonyme Anzeigen gegen Heckmann der Polizei überbracht worden. Daraufhin sei die Polizei aktiv geworden, hätte ihn beschattet und schließlich auf frischer Tat bei einem homosexuellen Kontakt gefasst und sofort verhaftet. Leider wissen wir nichts über den Sexualpartner, sein Alter und die Umstände des Kontakts. Das wäre wichtig, um die juristische Einschätzungsgrundlage nachzuvollziehen.«286 Der Historiker Albert Knoll, der zu Abb. 7  : Eine zu Werbezwecken gedruckte Postkarte homosexuellen Häftlingen im Konzen­ aus dem Jahr 1936. trationslager Dachau geforscht hatte, erstellte eine Expertise, die von Klaus Stanjek im Internet veröffentlicht wurde. Darin kommt er zu dem Schluss, dass Wilhelm Heckmanns Homosexualität in Wuppertal bekannt gewesen sein oder jemand aus dem Familien- oder Freundeskreis Anzeige erstattet haben könnte  : »Auf jeden Fall wurde Heckmanns Name in den ›Rosa Listen‹ der Wuppertaler Polizei vermerkt. Diese Listen wurden von den Polizeidienststellen gesammelt und an die 1936 gegründete Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung weitergeleitet. Dort wurde ein zentrales Homosexuellenregister geführt. In gesonderten Karteien wurden neben so genannten Strichjungen auch ›Jugendverführer‹ geführt. Sie galten als besonders gefährlich, da ihnen unterstellt wurde, dass sie ›unverbesserlich‹ seien und zu Rückfalltaten neigten. In diesen Fällen urteilten die Gerichte besonders hart.«287

284 Siehe Knoll, Versuch einer Rekonstruktion des Verfolgungsweges von Wilhelm Heckmann, S. 2. 285 Protokoll Vernehmung Wilhelm Heckmann, Polizeipräsidium Wuppertal-Barmen, datiert 26.1.1960, BArch Ludwigsburg. 286 Knoll, Versuch einer Rekonstruktion des Verfolgungsweges von Wilhelm Heckmann, S. 2. 287 Ebd., S. 3.

Klaus Stanjek  : »Ich habe nichts von den Abgründen gespürt«

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Von 1934 bis 1937 trat Wilhelm Heckmann im »Hochland« im bayerischen Partenkirchen, in der »Giftbude« auf der ostfriesischen Insel Borkum und erneut in Stuttgart im »Rheinischen Hof« auf.288 1935 erschien in der nationalsozialistischen Zeitschrift »Das Deutsche Podium. Fachblatt für Unterhaltungs-Musik und MusikGaststätten. Kampfblatt für deutsche Musik« ein Artikel über seine Auftritte im Café Gottschalk in München im Herbst 1935  : »Dezent passt er sich dem Publikum an und hat sich im Lauf der vielen Monate in diesem Engagement einen großen Stamm von Freunden und Gönnern gewonnen.«289 »Zugezogen von  : Stuttgart«,290 war Wilhelm Heckmann ab 1. April 1937 in der Wittgasse 3 in der Altstadt von Passau gemeldet. In einem Zeitungsbericht über den am 1. April 1937 erfolgten Musikerwechsel in drei Passauer Lokalen findet sich auch ein Hinweis auf den »rheinischen Tenor«291 Willi Heckmann, der in der »ReginaTanz-­Diele und Bar« auftrat  : »man hört selten einen Musiker mit einer so guten Stimme – Opernarien und Schlagerkehrreime, alles gleich gut. Dazu bietet er sehr gute Tanz- und Unterhaltungsmusik am Flügel und Akkordeon.«292 2.2.2 Festnahme 1937 und Überstellung ins Konzentrationslager Dachau Auf der Passauer Meldekarte ist vermerkt, dass Wilhelm Heckmann am 29. Juli 1937 abgemeldet, nach München gebracht und in Untersuchungshaft genommen wurde.293 Klaus Stanjeks Onkel war zu diesem Zeitpunkt 40 Jahre alt. Spätestens 1937 war die »Geheime Staatspolizei« auf Heckmanns Gerichtsverfahren aus dem Jahr 1934 aufmerksam geworden. In der »Reichsmusikkammer« wurde einem Hinweis auf diesen Prozess nachgegangen  : »Anfrage der RMK an die Gestapo München, ob gegen H. bereits ein Verfahren wegen widernatürlicher Unzucht schwebt.«294 In den Jahren nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen gab Klaus Stanjeks Onkel mehrmals an, den Anlass für seine Festnahme in Passau und die Einlieferung in das Konzentrationslager Dachau nicht mitgeteilt bekommen zu haben  : »Den eigentlichen Grund für meine KL-Einweisung habe ich nie kennengelernt.«295 Zwei Jahre nach Kriegsende erwähnte er auch politische Motive  : »Ich wurde ohne nähere Begründung wegen Weigerung zur Änderung meines Programms, sowie Vorfinden von antifaschistischen Flugblättern ins Konzentrations288 Siehe Geschäfts-Fragebogen, Military Government of Germany, BArch. 289 Das Deutsche Podium Nr. 31 von 1935, S. 15, zit. n. Stanjek, Der Musiker Willi Heckmann. 290 Einwohnermelderegister Stadt Passau, Stadtarchiv Passau. 291 Donau-Zeitung vom 3.4.1937. 292 Ebd. 293 Einwohnermelderegister Stadt Passau. 294 Karteikarte Willi Heckmann, Reichskulturkammerkartei, BArch Berlin, Slg. BDC, R 55. 295 Protokoll Vernehmung Wilhelm Heckmann.

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lager gebracht, und als Künstler nicht mehr zugelassen. Auch wurde ich, weil ich unverheiratet war, nicht als notwendiger Musiker betrachtet.«296 Die Frage, ob er »jemals den Nazis auf irgendeine Weise Widerstand geleistet«297 habe, verneinte Heckmann jedoch. 1954 hielt er fest, von der politischen Polizei des NS-Regimes »ohne Grund«298 in Passau verhaftet worden zu sein  : »Ohne irgendein Verfahren kam ich nach München ins ›Wittelsbacher Palais‹, dem Sitz der Geheimen Staatspolizei München und von dort in das KZ Dachau.«299 In seinem 1954 verfassten Antrag auf Wiedergutmachung äußert Stanjeks Onkel die Vermutung, deshalb festgenommen worden zu sein, weil er sich stets geweigert hätte, der »Sturmabteilung« der Nationalsozialisten beizutreten  : »Im dritten Reich bin ich mehrmals aufgefordert worden, in die SA einzutreten  ; ich habe mich dieser Aufforderung aber aufgrund meiner politischen Einstellung stets zu widersetzen gewußt.«300 Als zweiten möglichen Grund nannte Wilhelm Heckmann die frühere Verhaftung und anschließende Verurteilung wegen »Unzucht zwischen Männern«, die in Para­ graf 175 des Strafgesetzbuchs geregelt war  : »Man berief sich wohl auf ein gegen mich erfolgtes Strafverfahren aus dem Jahre 1934 in Elberfeld, wobei die über mich verhängte Gefängnisstrafe von sechs Monaten unter Amnestie gefallen war. Ich erkläre ausdrücklich, daß ich mir nach dem Jahre 1934 nichts mehr habe zuschulden kommen lassen.«301 Der Historiker und Archivar der KZ-Gedenkstätte Dachau, Albert Knoll, geht von der Annahme aus, dass nach Heckmanns erster Verurteilung im Jahr 1934 eine mindestens dreijährige Bewährungsfrist zu laufen begonnen hatte, innerhalb derer die Festnahme 1937 erfolgte. Dieser könnte ein Vorfall jüngeren Datums zugrunde liegen  : »Die Verbringung eines Mannes wegen homosexueller Handlungen in ein Konzentrationslager wurde vom NS-System dann forciert, wenn ein erheblicher und schwerwiegender Verstoß gegen das geltende Recht geahndet wurde. […] Wie in den meisten Fällen, so fehlt auch bei Heckmann eine Strafgerichtsakte bzw. ein Schutzhaftbefehl. Diese Dokumente wurden, so ist aus der Erfahrung anzunehmen, aufgrund von Kriegsverlusten bzw. aufgrund von gezielten Vernichtungsmaßnahmen in den letzten Kriegstagen zerstört, so dass die Verfolgungsgeschichte Heckmanns nur mit Hilfe von disparaten Informationen mosaikartig rekonstruiert werden kann.«302

296 Geschäfts-Fragebogen, Military Government of Germany, BArch. 297 Ebd. 298 Heckmann an Wiedergutmachungsamt. 299 Ebd. 300 Ebd. 301 Ebd. 302 Knoll, Versuch einer Rekonstruktion des Verfolgungsweges von Wilhelm Heckmann, S. 1 f.

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Am 26. Jänner 1960 gab Wilhelm Heckmann im Polizeipräsidium des Wuppertaler Stadtbezirks Barmen zu Protokoll, er sei sich »von Anfang an im Klaren gewesen, daß die Nationalsozialisten mich ins KL steckten, weil ich mit einem Hitlerjungen im Zustand der Trunkenheit unzüchtige Handlungen begangen habe.«303 Der »Hitlerjugend« gehörten männliche Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren an, mit dem »Gesetz über die Hitlerjugend« vom 1. Dezember 1936 wurde die zwangsweise Mitgliedschaft für alle eingeführt. Ob sich Heckmanns protokollierte Aussage auf den Grund für die Verurteilung im Jahr 1934 bezog oder auf die Festnahme 1937, lässt sich anhand der zur Verfügung stehenden Quellen nicht zweifelsfrei feststellen.304 Der Historiker Jens Dobler, der zur Verfolgung Homosexueller durch die Berliner Polizei im 19. und 20. Jahrhundert geforscht hatte, hält es für wahrscheinlich, dass Klaus Stanjeks Onkel nach seiner Verurteilung 1934 ein weiteres Mal mit Paragraf 175 in Konflikt geraten war  : »Ich gehe davon aus, dass es einen zweiten Vorfall gab.«305 Am 28. Juni 1935 hatte das nationalsozialistische Regime die von der »Reichsregierung« beschlossenen Änderungen des Strafgesetzbuchs verkündet, die auch eine Verschärfung des Paragrafen 175 mit sich brachten. Die Höchststrafe, die von der Justiz des NS-Regimes ab 1. September 1935 gegen einen Mann verhängt werden konnte, »der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt«,306 wurde von einem halben Jahr auf fünf Jahre Gefängnis angehoben. Die als Paragraf 175a neu eingeführte ergänzende Vorschrift sah für Fälle, in denen beispielsweise Gewalt, ein Abhängigkeitsverhältnis oder Prostitution im Spiel waren, Strafen von bis zu zehn Jahren Zuchthaus vor, »bei mildernden Umständen«307 mindestens drei Monate Gefängnis. Die »Geheime Staatspolizei« konnte jederzeit ohne richterliche Anordnung »Schutzhaft« gegen Homosexuelle verhängen und diese damit nicht nur willkürlich, sondern auch ohne zeitliche Begrenzung einsperren. Wer wiederholt mit Paragraf 175 in Konflikt geriet, lief Gefahr, als »unverbesserlich«308 eingestuft zu werden.

303 Protokoll Vernehmung Wilhelm Heckmann. 304 Siehe Klaus Stanjek, Erwiderung von Klaus Stanjek, 2013, S. 6  ff., URL  : http  ://www.klaenge-desverschweigens.de/wp-content/uploads/2011/06/Wilhelm-Heckmann-Expertise-mit-Dialog.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 305 Stanjek, Klänge des Verschweigens, 1  :19  :42–1  :19  :45 min. 306 URL  : http  ://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1935&page=983&size=45 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 307 Ebd. 308 Carola von Bülow, Der Umgang der nationalsozialistischen Justiz mit Homosexuellen, phil. Diss., Universität Oldenburg 2000, S. 286, URL  : http  ://oops.uni-oldenburg.de/374/2/bueumg00.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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Wilhelm Heckmann wurde, seinen nach dem Zweiten Weltkrieg getätigten Angaben zufolge, während der ersten Tage nach der Überstellung aus Passau am Sitz der Gestapo in München gefangen gehalten. Von 8. August 1937, 10  :00 Uhr, bis 14. August 1937, 9  :00 Uhr, befand er sich in Zelle Nummer 13 des Polizei-Gefängnisses in der Münchner Ettstraße309 in Haft  : »Üblicher Weise wurden die Gefangenen verhört, um weitere Namen von Homosexuellen zu erhalten. In der Ideologie der Natio­ nalsozialisten wurde Homosexualität von Männern als eine Krankheit definiert, die sich seuchenartig ausbreitet.«310 Im Gefangenenbuch der Polizei München wurde als Haftgrund »Prüfung der Schutzhaft«311 angeführt. Darin findet sich auch die Bemerkung, dass Heckmann »getrennt von Homosexuellen«312 unterzubringen sei. Gemäß der »Schreibstubenkarte«,313 die in Dachau angelegt worden war, wurde Heckmann am 14. August 1937 in das Konzentrationslager eingeliefert. Ihm wurde die Nummer 12.568 zugewiesen. Untergebracht war er in Block 7/5.314 Die Karte enthält neben dem Vor- und Nachnamen, der Berufsbezeichnung Musiker, dem Datum der Einlieferung, der Registrierungsnummer, dem Geburtsort und -datum sowie der letzten Meldeadresse vor der Festnahme, der Wittgasse 3 in Passau, auch den Vermerk »Sch §175«, der für »Schutzhaft« und Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs steht.315 Auf der Karteikarte finden sich außerdem zwei Datumsstempel und drei handschriftliche Datumsangaben  : Unter dem Vermerk »beurlaubt« wurde das Datum 14. Mai 1939 aufgestempelt. Wilhelm Heckmann durfte das Konzentrationslager »auf 8 Tage«316 verlassen, um dem Begräbnis seines Vaters beizuwohnen. Seine Halbschwester Kläre, Klaus Stanjeks Mutter, die beim »Bund Deutscher Mädel« in leitender Funktion und als »Bannmädelführerin«317 beim »Jungmädelbund« engagiert war, hatte sich dafür eingesetzt  : »Dann starb also mein Vater und da habe ich an diesen, wie heißt das noch, nicht Führerhauptquartier, jedenfalls an diese Stelle geschrieben, dass mein Vater, unser Vater, verstorben wäre und ob mein Bruder nicht freibekäme zur Beerdigung. Da hat er freigekriegt.«318

309 Siehe Gefangenenbuch, Staatsarchiv München, PDion München/8585, URL  : http  ://www.klaengedes-verschweigens.de/material/texte/biografie-wilhelm-heckmann/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 310 Knoll, Versuch einer Rekonstruktion des Verfolgungsweges von Wilhelm Heckmann, S. 3 f. 311 Haftbuch Polizeigefängnis München, Staatsarchiv München, PDion München 8585/8636. 312 Ebd. 313 Siehe Schreibstubenkarte aus dem KZ Dachau, zit. n. Arolsen, URL  : https  ://eguide.arolsen-archives. org/archiv/anzeige/7/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 314 Veränderungsmeldung KZ Dachau, zit. n. ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.6.1/9909199. 315 Karteikarte Wilhelm Heckmann, KZ Dachau, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/wpcontent/uploads/2011/06/Haeftlingskarte-Dachau-Heckmann.jpg (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 316 Ebd. 317 Antrag Aufnahme NSDAP Kläre Heckmann, datiert 10.8.1943, Eigentum von Klaus Stanjek. 318 Stanjek, Klänge des Verschweigens, 14  :26–14  :46 min.

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Einen Monat nach der Beurlaubung, am 14. Juni 1939, wurde Wilhelm Heckmann von Wuppertal zum Gefängnis des Landgerichts Hof in Bayern gebracht, wo er um 18  :25 Uhr aufgenommen wurde und die Gefangenennummer 643 erhielt. Als »Zeit der Beendigung der Haft«319 ist der 15. Juni 1939 um 5  :15 Uhr angeführt. Auf der aus Dachau stammenden Karte ist der 16. Juni 1939 angegeben, als Heckmann nach seiner Rückkehr vom Begräbnis wieder im Konzentrationslager registriert wurde. Nach Dachau zurückkehren zu müssen, empfand er als einschneidend  : »Denn als Vater starb, und ich mußte wieder nach Dachau, war so furchtbar daß ich es kaum schildern kann, da fingen […] die Leiden an«.320 Auf der Karteikarte sind des Weiteren mit Handschrift »in KA. 21. 9. 39«321 und »aus KA. 23. 9. 39«322 angeführt. Die Kommandantur hatte über Klaus Stanjeks Onkel Arrest für die Tage vom 21. bis 23. September 1939 verhängt  : »Diese Tatsache, dass er dann drei Tage dort in der Strafabteilung war, die hat wahrscheinlich dazu geführt, dass er nach Mauthausen überführt wurde. Und da war ja dann Krieg, hatte der Krieg begonnen und da war dann nichts mehr mit der Entlassung.«323 Als letztes Datum ist 27. September 1939 aufgestempelt  : An diesem Tag wurde Wilhelm Heckmann gemeinsam »mit vielen anderen Dachauer Häftlingen«,324 gemäß der Transportliste waren es insgesamt 1600,325 ins Konzentrationslager Mauthausen überstellt. 52 der 1600 Häftlinge, die am 29. September 1939 im Zuge der vorübergehenden Auflösung des Konzentrationslagers Dachau in Mauthausen registriert worden waren, wurden als »deutsche Homosexuelle«326 bezeichnet. Auf der Häftlings-Karte, die in Dachau auf einer vorgedruckten Hollerith-Lochkarte327 angelegt worden war, scheint als Einlieferungsstelle die »Geheime Staatspolizei« München auf, als Einlieferungsdatum der 14. August 1937, als Häftlingsart »Homo«,328 als Hauptberuf Musiker und als erster Nebenberuf Beamter. Vermerkt sind auf dieser Lochkarte auch die Überstellung ins Konzentrationslager Mauthau-

319 Gefangenenbücher B, Landgerichtsgefängnis Hof, 2.11.33 bis 31.3.41, zit. n. ITS Digital Archive, Arolsen, 1.2.2.1/11741059. 320 Heckmann an »Meine Lieben«, datiert 11.5.1945, Eigentum von Klaus Stanjek. 321 Karteikarte Heckmann, KZ Dachau. 322 Ebd. 323 Interview mit Klaus Stanjek, S. 6. 324 Stanjek, Musik und Mord – ein Berufsmusiker in Mauthausen, S. 93. 325 Haftartzusammenstellung Block III, datiert 27.9.1939, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.6.1/9913123. 326 Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 138. 327 Benannt nach dem von Herman Hollerith, dem Erfinder des zur Datenverarbeitung verwendeten Hollerith-Lochkartenverfahrens, entwickelten System. 328 Häftlingskarte KZ Dachau, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/wp-content/uploads/ 2011/06/Haeftlingskarte-Mauthausen-1939-BArch.jpg (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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sen und die Häftlingsnummer 001.212 sowie die Information, dass Heckmann in Mauthausen als Hilfsarbeiter eingesetzt wurde.329 2.2.3 Haft im Konzentrationslager Mauthausen 1939–1945 Auf seiner Mauthausener Häftlings-Personal-Karte, »wie sie in allen Hauptlagern für KZ-Häftlinge angelegt wurde«,330 ist als Wohnort Elberfeld, Hannemannstraße 85, angeführt. Als Grund für die Einweisung in das Konzentrationslager Dachau durch die »Stapo München«331 am 14. August 1937 scheint Paragraf 175 auf, als Datum der Überstellung nach Mauthausen der 28. September 1939. Wilhelm Heckmanns Körpergröße wird mit 164 Zentimetern angegeben, seine Augenfarbe mit grau und die Haarfarbe mit dunkelbraun. Besondere Kennzeichen sind keine vermerkt. In dem Feld, in dem die Häftlingsnummer und der zur Kennzeichnung der Gefangenen verwendete »Winkel«332 aufscheinen, findet sich erneut Paragraf 175 vermerkt. Als erlernter Beruf ist Musiker angegeben. 1960 sagte Klaus Stanjeks Onkel aus, während seiner gesamten Haftzeit »einen rosa Winkel«333 getragen zu haben. Damit wurden in den Konzentrationslagern Häftlinge gekennzeichnet, die unter der Begründung, sie seien homosexuell, gefangen gehalten wurden. In den ersten Jahren im Konzentrationslager Mauthausen war Wilhelm ­Heckmann in Block drei334 untergebracht, der vor allem mit »Berufsverbrechern« aus dem »Deutschen Reich«, »darunter viele Capos«,335 belegt war. 1960 gab er im Rahmen der Zeugenaussage in Wuppertal zu Protokoll, »etwa ab 1942 im Block 7«,336 der mit polnischen Häftlingen sowie einzelnen »Homosexuellen« und »Bibelforschern« aus dem »Reich« belegt war, und anschließend in Block neun einquartiert gewesen zu sein.337 329 Siehe Häftlingskarte KZ Dachau. 330 Häftlings-Personal-Karte, Arolsen, URL  : https  ://eguide.arolsen-archives.org/archiv/anzeige/40/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 331 Häftlings-Personal-Karte Wilhelm Heckmann, KZ Mauthausen, Arolsen, URL  : https  ://collections. arolsen-archives.org/archive/1483373/?p=1&s=wil*%20heckmann&doc_id=1483375 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 332 Personen, denen Verstöße gegen Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen wurden, mussten ein rosafarbenes Stoffstück in Form eines Winkels auf der linken Brustseite ihrer Häftlingskleidung tragen. 333 Protokoll Vernehmung Wilhelm Heckmann. 334 Siehe Häftlingszugangsbuch politische Abteilung, Archiv KZ-Gedenkstätte Mauthausen, AMM/ Y/36a/001211-001245. 335 Siehe Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 64. 336 Zeugenaussage Gerichtsverfahren Wuppertal, datiert 26.1.1960, zit. n. URL  : http  ://www.klaenge-desverschweigens.de/material/texte/biografie-wilhelm-heckmann/#cite_note-4 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 337 Siehe Stanjek, Musik und Mord, S. 95  ; Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 64.

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Auf einer zweiten Häftlings-Personal-Karte, auf der ein Stempelaufdruck auf die Erfassung der Daten mittels einer Hollerith-Lochkarte hinweist,338 sind als Religion evangelisch und als Staatsangehörigkeit »Deutsches Reich« angeführt. Auf der Rückseite wurden die Berufsbezeichnungen Beamter und Musiker jeweils durchgestrichen. Ein weiteres Mal findet sich der mit Rotstift unterstrichene handschriftliche Vermerk »Musiker«. Dem Eintrag auf der Karte zufolge wurde Klaus Stanjeks Onkel nach seinem jahrelangen Arbeitseinsatz im Steinbruch »Wiener Graben«339 bis 14. Februar 1945 als Hilfsarbeiter im Transportkommando, dem auch andere Musiker angehörten, eingesetzt und ab 15. Februar 1945 bei der »Trägerkolonne«  : »Durchschnittlich arbeitete ein Häftling im Steinbruch 54 bis 60 Stunden und in allen anderen Kommandos 66 bis 72 Stunden in der Woche, doch ist dabei zu berücksichtigen, dass zu der reinen Arbeitszeit oft lange, kräftezehrende Anmarschwege zurückzulegen waren.«340 Bei seiner Befragung im Polizeipräsidium des Wuppertaler Stadtteils Barmen im Jänner 1960 gab Heckmann an, »nur zwei Arbeitskommandos«341 angehört zu haben, »und zwar von Anbeginn bis etwa Mitte 1944 als Steinbrucharbeiter im Steinbruch Gusen. Anschliessend gehörte ich dem Desinfektionskommando innerhalb des Hauptlagers an.«342 In der Folge korrigierte er diese Angabe  : »Ich habe im Steinbruch ›Wiener Graben‹ gearbeitet. Ich muß mich überhaupt berichtigen, ich war nicht 5 Jahre im Steinbruch Gusen sondern im Steinbruch ›Wiener Graben‹.«343 Dieser Steinbruch war vom Konzentrationslager Mauthausen über die 186 Stufen der »Todesstiege« zu erreichen. In dem Brief, den Klaus Stanjeks Onkel am 11. Mai 1945 nach seiner Befreiung aus Mauthausen an seine nahen Verwandten schrieb, schildert er auch, mehrmals in die »Strafkompanie« des Konzentrationslagers eingewiesen worden zu sein  : »3 mal in der Strafkompanie, wegen singen, Nase putzen, Kaffee trinken […].«344 Zur »Strafkompanie« wurden Häftlinge »etwa wegen nichtiger Anlässe und geringster Verstöße gegen die Lagerordnung«345 zugeteilt. Hans Maršálek, der wie Heckmann das Konzentrationslager Mauthausen überlebt hatte, nannte Diebstahl, Schmuggel, 338 Ab dem zweiten Halbjahr 1944 sollten in den Konzentrationslagern alle Häftlinge mit einer Holle­ rith-Vorkarte erfasst werden, um den Arbeitseinsatz planen zu können, siehe Hollerith-Vorkarte, Arolsen, URL  : https  ://eguide.arolsen-archives.org/archiv/anzeige/41/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 339 Arbeitskommando § 175 Häftlinge, Häftlingsliste KZ Mauthausen, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.26.1/1321631. 340 Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 87. 341 Protokoll Vernehmung Wilhelm Heckmann. 342 Ebd. 343 Ebd. 344 Heckmann an »Meine Lieben«. 345 KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Zwangsarbeit in den Steinbrüchen, URL  : https  ://www.mauthausen-

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Zigarettenrauchen, aber auch Merkmale wie »Brillenträger (  !), kleine Körpergröße, großen Kopf oder Höcker«346 als Gründe, warum Häftlinge zu den als besonders schwer geltenden Arbeiten im Steinbruch oder beim Lageraufbau gezwungen wurden. Die Angehörigen der Strafkompanie mussten »bis zu 50 kg schwere Granitsteine mit einer Holztrage auf dem Rücken zu den Baustellen des Lagers transportieren. Der Marsch über die Steinbruchstiege war von Schlägen durch das Wachpersonal begleitet. Angehörige der Strafkompanie überlebten meist nur kurze Zeit.«347 Wilhelm Heckmann erhielt im Konzentrationslager Mauthausen Briefe, Pakete und Geldsendungen von Verwandten aus Deutschland. Auf einem Brief an seine Nichte Ruth Bluhme vom September 1944, der auf einem Briefpapier des Lagers geschrieben wurde, findet sich der aufgestempelte Hinweis, dass zweimal im Monat Postempfang gestattet war. Stanjeks Onkel unterzeichnete diesen Brief mit »O. Willi« und vermerkte im für Informationen über den Absender vorgesehenen Feld seinen Namen, das Geburtsdatum, die Häftlingsnummer sowie Block sieben und Stube zwei. Er bedankte sich bei seiner Nichte für deren Schreiben, Geldsendung und Päckchen  : »Deine letzten Briefe mit vielen Dank erhalten. Teilte dir schon mit, daß ich die 20 Mark sowie Dein liebes Paket erhalten habe. Wie ich mich darüber gefreut habe, kannst du dir ja wohl denken. Es war alles in bester Ordnung. Schön wäre es, wenn ich dir persönlich meinen Dank aussprechen könnte. Aber wir werden noch warten müssen.«348 Heckmann beschwerte sich in dem Brief darüber, dass ihm seine Halbschwester Kläre, Klaus Stanjeks Mutter, nicht regelmäßig schreiben würde  : »Daß du sehr wenig von Kläre hörst, wundert mich, zumal sie auch nicht regelmäßig an mich schreibt. Manchmal tut es mir sehr weh. Die einzige die mir geblieben ist.«349 Stanjek berichtete, sein Onkel habe während der Jahre im Konzentrationslager »immer wieder Geld gehabt, meistens genug zu essen, später in der ›Desinfektion‹ gearbeitet, und 1945 noch zur Front gemusst.«350 Im Protokoll der polizeilichen Einvernahme vom 26. Jänner 1960 findet sich eine Frage zu den Tätigkeiten, die Heckmann als Mitglied des Arbeitskommandos »Desinfektion« zu verrichten hatte  : »Meine Aufgabe bestand darin, daß ich die Bekleidung neuankommender Häftlinge desinfizieren musste. Auch Häftlingskleidung verstorbener Häftlinge musste ich desinfizieren. Hierbei waren auch viele Kleidungsstücke, die blutig waren. Etwas

memorial.org/de/Wissen/Das-Konzentrationslager-Mauthausen-1938-1945/Zwangsarbeit-in-denSteinbruechen (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 346 Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 101. 347 KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Zwangsarbeit in den Steinbrüchen. 348 Wilhelm Heckmann an Ruth Bluhme, datiert 17.9.1944, Eigentum von Klaus Stanjek. 349 Ebd. 350 Stanjek, Musik und Mord, S. 93.

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näheres kann ich aber hierzu nicht sagen. Tote Häftlinge brauchte ich aber nicht ausziehen. Das besorgte ein anderes Kommando.«351 In der Kurzbiografie, die Klaus Stanjek über seinen Onkel verfasste, hält er fest, dass dieser Anfang 1945 »für 3 Monate an die Front«352 geschickt worden war. Darauf finden sich in den Quellen keine weiteren Hinweise. Allerdings scheint der Name Wilhelm Heckmann auf einer mit »Dirlewanger« überschriebenen Liste353 auf, die das Datum vom 14. April 1945 trägt. Die nach ihrem langjährigen Befehlshaber Oskar Dirlewanger benannte Sonderformation der »Schutzstaffel«, der unzählige Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachgewiesen werden konnten,354 bildete nach dem verletzungsbedingten Ausscheiden ihres Namensgebers im Februar 1945 gemeinsam mit anderen Einheiten die 36. Waffen-Grenadier-Division der SS. Sie führte aber auch in den verbleibenden Monaten bis Kriegsende noch häufig den Zusatz »Dirlewanger« in ihrem Namen. Ab Juli 1942 wurden regelmäßig vor allem deutsche Häftlinge, hauptsächlich »Berufsverbrecher«, aus verschiedenen Konzentrationslagern dieser Einheit zugeteilt  :355 »Auch in Mauthausen und den nahegelegenen Außenlagern kam es kurz vor Kriegsende noch einmal zur Aushebung ›reichsdeutscher‹ Häftlinge für militärische Zwecke.«356 Als die Bewachungsmannschaft der SS nach dem letzten Appell am 3. Mai 1945 das Konzentrationslager Mauthausen fluchtartig verließ, nahm sie auch »an die 300, rasch in Uniform gesteckte und bewaffnete Häftlinge, die sogenannten ›Dirlewanger‹«357 mit. Ob Wilhelm Heckmann einer dieser Häftlinge war, geht aus den Quellen nicht hervor. Bei seiner Befragung durch die Polizei im Jänner 1960 gab Heckmann zu Protokoll, »bis zur Befreiung durch die amerikanischen Truppen im Mai 1945 nur im Hauptlager Mauthausen gewesen«358 zu sein. 2.2.3.1 Musiktrio, »Zigeuner-Kapelle« und großes Orchester Bezugnehmend auf ein Gespräch, das Klaus Stanjek 1987 mit seinem Onkel nach dessen Geburtstagsfeier geführt hatte, vermerkte Stanjek, dass dieser im Konzentrationslager Mauthausen »ein Trio gegründet«359 hatte. Dieses habe bei Hinrichtun351 Protokoll Einvernahme Wilhelm Heckmann. 352 Stanjek, Kurzbiografie von Wilhelm Heckmann. 353 Veränderungsliste KZ Mauthausen, datiert 14.4.1945, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.26.1/1310889. 354 Siehe Hellmuth Auerbach, Die Einheit Dirlewanger. In  : Viertelsjahreshefte für Zeitgeschichte 10 (1962) 3  ; MacLean, The Cruel Hunters. 355 Siehe Auerbach, Die Einheit Dirlewanger, S. 253 f. 356 Klausch, Antifaschisten in SS-Uniform, S. 322. 357 Karl Brousek, »… wir werden verlieren, aber ihr kommt auch dran  !«. Zur Befreiung Mauthausens – Häftlingswiderstand, Liquidierungspläne, Rettermythos. In  : Zeitgeschichte 17 (1989) 2, S. 121. 358 Protokoll Vernehmung Wilhelm Heckmann. 359 Stanjek, Kurzbiografie von Heckmann.

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gen und »bei vielen Besuchen von ranghohen Gästen aufgespielt, auch im Casino der SS.«360 In der ersten öffentlichen »Rekonstruktion der KZ-Gefangenschaft«361 von Wilhelm Heckmann zitierte Stanjek 2008 aus einem Gespräch mit seinem Onkel  : »Ich habe ein Musiktrio aufgebaut und bei der Lagerleitung und den Wachmannschaften bei Geburtstagen, bei Prominentenbesuchen und anderen feierlichen Anlässen gesungen und gespielt.«362 In einem im Mai 2011 veröffentlichten Text konstatiert Stanjek, sein Onkel habe sich trotz »schwerster Arbeiten im Steinbruch«363 als Musiker bemerkbar machen können. Dieser habe »zunächst mit einem Trio für SS-Angehörige und die Lagerleitung musiziert, dann das sog. ›Zigeunerorchester‹ angeleitet und später beim großen Lagerorchester als Harmonikaspieler und Schlagersänger mitgewirkt.«364 Auf ein »überraschend reichhaltiges Musikleben«365 im größten Lager auf österreichischem Gebiet stieß der Kunsthistoriker, Ethnologe und Heimatforscher Kurt Lettner  : »Es gab im Konzentrationslager Mauthausen drei verschiedene Lagerorchester, die vom Wienerlied bis zum Schlager, von Smetana bis Wagner alles spielten, was […] gewünscht wurde.«366 Das aus acht Musikern367 bestehende »Zigeuner-Orchester«, auch »Zigeuner-Kapelle« genannt, spielte in unregelmäßigen Abständen, vor allem bei Hinrichtungen  : »Lagerkommandant Franz Ziereis hatte einigen Zigeunern, die mit ihren Instrumenten ins Lager gebracht worden waren, erlaubt, für die ›Prominenten‹ zu spielen. […] Wenn die Kapos Geburtstag feierten oder die SS sich im Bordell vergnügte, ließ man diese Zigeuner herschaffen. Ab und zu wurden die Musiker auch zu Exekutio­ nen befohlen  ; als Lohn erhielten sie Essen und Zigaretten.«368 Der am 17. März 1899 im tschechischen Veselá geborene Überlebende Josef Jira, dem die HäftlingsNummer 12.307369 zugeteilt worden war, bestätigte 1972 die Existenz dieser Kapelle  : »Das war nur eine kleine Kapelle, in dieser spielten mehrere Zigeuner und diese spielten gewöhnlich nur bei Hinrichtungen.«370

360 Stanjek, Kurzbiografie von Heckmann. 361 Ders., Musik und Mord, S. 93. 362 Ebd. 363 Ders., Der Musiker Willi Heckmann. 364 Ebd. 365 Kurt Lettner, Musik zwischen Leben und Tod. Musik im Konzentrationslager Mauthausen und seinen Nebenlagern 1939–1945. In  : Oberösterreichische Heimatblätter 54 (2000) 1/2, S. 55. 366 Ebd. 367 Siehe Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 380. 368 Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, S. 74 f. 369 Siehe Schreibstubenkarte KZ Mauthausen, ITS Digital Archive, Arolsen, 01012603/oS/1514186. 370 Aktenvermerk Josef Jira, datiert 18.4.1972, Tonbandaufzeichnung Maršálek, Archiv KZ-Gedenkstätte Mauthausen, F/9a/2/2.

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Auch bei der Exekution des am 18. Juli 1909 im brandenburgischen Gnewikow geborenen Häftlings Hans Bonarewitz371 spielten Heckmann und der »Kapo« der Poststelle, Georg Streitwolf,372 jeweils auf dem Akkordeon. Begleitet wurden sie von weiteren Mitgliedern der »Zigeunerkapelle«, wie durch von der SS aufgenommene Fotos dokumentiert ist.373 Klaus Stanjek erinnerte sich, dass in seiner Kindheit Streitwolf, den er als »großen, fremden Mann«374 wahrgenommen hatte, einmal das verstimmte Klavier in seinem Elternhaus auseinandergenommen hatte.375 Im Konzentrationslager Mauthausen war auf der Häftlings-Personal-Karte als Streitwolfs erlernter Beruf »Klavierstimmer«376 eingetragen worden. Streitwolf und Heckmann waren »im September oder Oktober 1942«377 auch in die Zusammenstellung einer Musikkapelle, die vor allem aus tschechischen Häftlingen bestand, involviert  : »Mit der Gründung der tschechischen Kapelle im Sommer 1942 war das Ende der ›Zigeunerkapelle‹ bereits vorgezeichnet. Bei einer Feier im Bordell, bei der die Kapelle aufspielte, wurde der Plan erörtert, deutschen Häftlingen das Musizieren zu ermöglichen und damit die Zigeunerkapelle zu ersetzen. Einer der Initiatoren war der SSler Bachmayer sowie der Kapo Georg Streitwolf, […] der beim zukünftigen Musikleben im Konzentrationslager Mauthausen eine wichtige Rolle spielen sollte.«378 Hans Maršálek zufolge gab es zwei Musikkapellen  : Das große Orchester, das ab Oktober 1942 von Georg Streitwolf angeführt wurde, und das »im Sommer 1944 gegründete kleinere Orchester […]. Alle Lagerkapellen wurden mit Wissen der LagerSS gegründet, teilweise mit deren Hilfe betrieben. Auf das Repertoire nahm die SS nur anfangs Einfluss, später überließ sie es den Häftlings-Kapellmeistern. […] Die Orchester spielten für Gefangene – vorwiegend am Sonntagnachmittag – auf dem Appellplatz, bei Schlechtwetter in einer Baracke, zumeist auch zu den Weihnachtsund Osterfeiertagen. Auf Befehl der SS mussten sie bei verschiedenen Anlässen wie bei Lagerexkursionen und bis Sommer 1942 bei Hinrichtungen von wiederergriffenen Häftlingen spielen. Bei Geburts- oder Namenstagen höherer Häftlingsfunktio­ 371 Bonarewitz wurde zweieinhalb Wochen, nachdem ihm in einer Holzkiste die Flucht aus dem Lager gelungen war, wieder aufgegriffen, am 30.7.1942 auf einem Karren durch das Gelände des Konzen­ trationslagers Mauthausen gezogen und am Appellplatz gehängt. Siehe Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 257. 372 Arolsen Archives, URL  : https  ://collections.arolsen-archives.org/archive/7206783/?p=1&s=georg%20 streitwolf&doc_id=7206785 (letzter Zugriff  : 31.5.2020). 373 Siehe Archiv KZ-Gedenkstätte Mauthausen. 374 Stanjek, Klänge des Verschweigens, 1  :03  :18–1  :03  :20 min. 375 Ebd., 1  :03  :19–1  :03  :33 min. 376 Häftlings-Personal-Karte, Arolsen. 377 Aktenvermerk Josef Jira. 378 Lettner, Musik zwischen Leben und Tod, S. 63.

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näre, oder wenn jemand aus dem Lager entlassen wurde, musizierten sie mit oder ohne Wissen der SS.«379 In dem großen Lagerorchester, das zunächst »mit ungefähr 40, dann später mit 60 Musikanten«380 auftrat, spielte Wilhelm Heckmann, der von Kurt Lettner irrtümlich als »Harmonikaspieler Hermann«381 bezeichnet wurde, Akkordeon und sang deutsche Schlager. Auch Josef Jira erinnerte sich an Klaus Stanjeks Onkel  : »Der Harmonikaspieler und Sänger bei der Kapelle war ein gewisser Willi Heckmann.«382 Die Musiker spielten »eine Unzahl von Symphonien, Operetten[,] aber auch verschiedene Musikstücke aus Opern.«383 Jira, der wie Heckmann in dem großen Orchester mitgewirkt hatte, gab zu Protokoll, dass die Kapelle zum Beispiel ausrücken musste »bei einem Transport eines Geflüchteten, aber bereits toten Häftlings, der im Frühjahr 1943 […] geflüchtet sei und unmittelbar nach der Flucht in der Nähe von Mauthausen in einem Wald Selbstmord durch Erhängen verübte. Dieser Tote ist ins Lager gebracht worden und dann musste die Musikkapelle ein Musikstück […] spielen«.384 Musik wurde in Mauthausen, wie auch in den anderen Konzentrationslagern, zu einem festen Bestandteil des Lager-Alltags. Der tschechische Musikwissenschafter und Publizist Milan Kuna, der über böhmische Musikerinnen und Musiker, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen eingesperrt waren, geforscht hatte, veröffentlichte 1993 ein Buch, in dem er »ein Akkordeon, das ein Deutscher, ein ›Politischer‹ namens Herrmann, spielte«,385 erwähnt. Damit dürfte, wie schon Klaus Stanjek bemerkte,386 Wilhelm Heckmann gemeint sein. Dieser war allerdings nicht, wie Kuna schrieb, wegen seiner politischen Einstellung eingesperrt worden, sondern wegen seiner sexuellen Orientierung. Musikalische Darbietungen und Konzerte fanden ab 1943 mit einer gewissen Regelmäßigkeit an Sonntagnachmittagen statt, ähnlich wie Fußballspiele und Boxkämpfe. Kuna kommt zu dem Schluss, dass die Mitglieder der Häftlingskapelle durch ihr Mitwirken zwar einen gewissen Nutzen hatten  : »Trotz kleiner Vorteile blieben die Musiker der Lagerordnung unterworfen und unterschieden sich auch äußerlich nicht von den übrigen Häftlingen. Tagsüber waren sie ihrem Arbeitskommando unterstellt  ; zum Üben blieb ihnen am Abend nur wenig Zeit. Meist trafen sie sich samstags in der Schusterei, wo ihr Dirigent, Kapo Rumbauer, arbeitete. Bereiteten 379 Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 380. 380 Aktenvermerk Josef Jira. 381 Lettner, Musik zwischen Leben und Tod, S. 67. 382 Aktenvermerk Josef Jira. 383 Ebd. 384 Ebd. 385 Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, S. 75. 386 Siehe Stanjek, Musik und Mord, S. 95.

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sie anspruchsvollere Konzerte vor, trafen sie sich manchmal dreimal in der Woche. Ihr Engagement blieb freiwillig. Das große Orchester von Mauthausen spielte nicht morgens und abends am Tor, wenn die Häftlinge ein- oder ausrückten – deshalb standen seinen Mitgliedern offiziell auch keine Privilegien zu. Die Vorteile, die sie hatten, verbesserten aber dennoch ihre Überlebenschancen.«387 Die genauen Umstände, die dazu geführt hatten, dass Wilhelm Heckmann die mehr als siebeneinhalb Jahre dauernde Haftzeit in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen überleben konnte, lassen sich anhand der zur Verfügung stehenden Quellen nicht eruieren  : »Er war sowohl privilegiert als deutschstämmiger Musiker und gleichzeitig verachtet als Homosexueller.«388 In dem Dokumentarfilm »Klänge des Verschweigens« gibt Klaus Stanjek einen Satz seines Onkels wieder, der das Musizieren als Grund für sein Überleben angeführt hatte  : »Ich habe ja Musik machen können und dadurch mehr zu essen gehabt als die anderen.«389 Auch Heckmanns Halbschwester Kläre führte das Überleben ihres Halbbruders darauf zurück, dass dieser im Lager auftreten konnte  : »Der hat es an sich durch seine Musik sehr gut gehabt. […] Da hat er immer spielen müssen, wenn die Führer des Lagers und deren Frauen Geburtstag hatten oder Taufe oder was hatten, hat der immer Musik gemacht und gut zu essen gekriegt und dadurch ist der ganz, relativ dann doch gut davongekommen.«390 Für die lange Zeit, die sein Onkel im Konzentrationslager Mauthausen eingesperrt gewesen war, macht Klaus Stanjek dessen musikalisches Talent verantwortlich  : »Er hat sehr früh offensichtlich schon als Musiker für die SS-Leitung gespielt. Und deswegen nehme ich an, die fanden das gut, was der an Musik machte, der […] war in der Lage, sich darauf einzustellen, auf die Vorlieben und Geschmäcker der SS-Aufseher, und deswegen haben sie ihn nicht mehr rausgelassen. Also, das halte ich auch für möglich. Der eigentliche Strafgrund reichte nicht aus für fast acht Jahre Haft, das wundert auch jeden Historiker.«391 Dass sein Onkel so viele Jahre im Konzentrationslager »durchgehalten«392 hatte, habe Klaus Stanjek zunächst überrascht  : »Er selber hatte ja gesagt, auch meiner Mutter erzählt, dass er lange Zeit genug zu essen hatte, außer in den letzten eineinhalb Jahren. Da war es wohl ganz schlimm, da waren ja unheimlich viele Häftlinge gleichzeitig da und das Essen wurde knapp, da hätte er dann gehungert, während andere Häftlinge ja schon sehr viel früher gehungert hatten.«393 Auch Stanjek kam 387 Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, S. 84. 388 Stanjek, Musik und Mord, S. 96. 389 Ders., Klänge des Verschweigens, 20  :59–21  :04 min. 390 Ebd., 24  :36–25  :07 min. 391 Interview mit Klaus Stanjek, S. 6. 392 Ebd., S. 11. 393 Ebd.

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zu dem Schluss, dass der Beruf seines Onkels eine entscheidende Rolle gespielt hatte  : »Vermutlich hat seine besondere Musikalität sein Leben gerettet, als Musiker eines Lagertrios und späterer Mitwirkender des Gefangenenorchesters wurde er als Funktionshäftling behandelt und hat leichtere Aufgaben übertragen bekommen.«394 Stanjek zitiert auch aus dem bis dahin unveröffentlichten Gespräch mit seiner Mutter, der Halbschwester von Wilhelm Heckmann, von dem sich andere Teile in seinem 2012 uraufgeführten Film »Klänge des Verschweigens« wiederfinden  : »Seine Musik hat ihm sein Leben gerettet.«395 2.2.3.2 Befreiung und erste Wochen nach Kriegsende Konzerte wurden von den Häftlingen auch noch in den Tagen nach der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen gegeben  : »Vom 5. bis zum 15. Mai fanden sie mehrmals täglich statt. Dann aber hieß es, voneinander Abschied zu nehmen und die Reise in die befreite Heimat anzutreten. […] Beim letzten Konzert spielte das Lagerorchester deshalb den langsamen Satz aus Beethovens Eroika […]. Nur die Mitglieder jener kleinen Kapelle, die seit 1942 das größte Verdienst um die Entstehung des großen Orchesters erworben hatten, fehlten bei diesem Abschlußkonzert. Die sowjetischen Soldaten hatten sie darum gebeten, bei einer Militärparade in der Nähe des Städtchens Neudorf zu spielen, und die Musiker hatten frohen Herzens zugesagt.«396 Wenige Tage nach der Befreiung verfasste Wilhelm Heckmann auf Briefpapier des Konzentrationslagers Mauthausen, auf dem die Wörter »Der Kommandant« am Briefkopf durchgestrichen wurden, eine Nachricht an »Meine Lieben«, die erste »ohne Zensur. Daß wir nun befreit sind, von dem Elend, welches die Nazi uns gebracht haben. Ihr werdet ja schon im Radio gehört haben, daß das Konzentrationslager Mauthausen von den Amerikanern befreit wurde. Die Freude hierüber läßt sich nicht schildern. Ebenso die Leiden die ich erduldet habe. Gott hat mein Flehen erhört. Und der Gedanke an Euch, hat mich aufrecht erhalten. Im Juli werden es 8 Jahre, was das heißt kann nur der schildern, der es mit gemacht hat.«397 Heckmann berichtete auch, dass in den letzten Monaten vor der Befreiung die Versorgung mit Essbarem immer schlechter geworden sei, »so schlecht daß ich schon nicht mehr schreiben konnte  ; und der Gedanke hier noch zu sterben, war entsetzlich. Täglich 100–150 Tote. […] So war jeder Tag, jede Stunde, ein banges Hoffen, halte ich durch, komm ich wieder zu meinen Lieben. Ich wußte ja, daß ihr mir nicht Le394 Stanjek, Klänge des Verschweigens. Ein detektivisches Dokumentarprojekt, URL  : http  ://www.klaen ge-des-verschweigens.de/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 395 Ders., Musik und Mord, S. 93. 396 Kuna, Musik an der Grenze des Lebens, S. 89 f. 397 Wilhelm Heckmann an »Meine Lieben«, datiert 11.5.1945, Eigentum von Klaus Stanjek.

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bensmittel schicken konntet, […] Steckrüben nichts als Steckrüben und noch nichtmal das.«398 Er schrieb über den Frieden, brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass alle Völker »davon«399 gelernt sowie ihren Hass begraben hätten, und schilderte, wie sich seine Situation seit der Befreiung verändert hatte  : »Wir hier sind vorläufig interniert, also nicht mehr gefangen. Das Essen hat sich gebessert. So schnell kann alles nicht wieder in Ordnung sein. Wann wir nun entlassen werden, weiß ich nicht. Hoffentlich ist die Wohnung noch erhalten. […] Es ist ja auch möglich, daß ich schon in 8–14 Tagen wieder bei Euch bin. Und dann können wir mündlich alles besprechen. Wie schön wäre es wenn Vater und Mutter noch leben würden.«400 Zweieinhalb Wochen nach der Befreiung wurde »die Strafsache des Wilhelm Heckmann«401 durch einen Ausschuss des Military Government of Germany, bestehend aus Colonel A. B. Michell, Major T. T. Marye und Captain T. A. Taracouzio, überprüft  : »Dieser Ausschuss hat entschieden und angeordnet, dass […] Wilhelm Heckmann hiermit zu entlassen ist«.402 Vom Deutschen Komitee des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen erhielt Klaus Stanjeks Onkel im Juli 1945 eine Bescheinigung in deutscher und englischer Sprache. Darin heißt es, Heckmann war von 27. Juli 1937 bis 5. Mai 1945 »als nicht politischer Häftling im Konzentra­ tionslager. Er wurde auf Anordnung der USA-Militär-Regierung aus dem Konzentrationslager Mauthausen entlassen. Es ist ihm bei seiner Heimreise und in seinem Heimatort jede Unterstützung zu gewähren.«403 Tageskarten für den Bezug von Essen wurden Wilhelm Heckmann vom Ernährungsamt in Linz für den Zeitraum von 9. bis 11. Juli 1945, vom Ernährungsdienst »Gross-Linz« für 12. und 13. Juli 1945 und von der Gemeinde Elixhausen bei Salzburg für 14. bis 20. Juli 1945 sowie noch einmal bis 27. Juli 1945 ausgestellt. Eine Zehn-Tages-Karte erhielt er für 30. Juli 1945 bis 8. August 1948 von der Gemeinde Seekirchen-Land, die seit 1974 gemeinsam mit Seekirchen-Markt die Gemeinde Seekirchen am Wallersee bildet. Ebenso wurden ihm von Seekirchen-Land eine Drei-Tages-Karte für 9. bis 11. August 1945 und Tageskarten für 12. bis 21. August 1945 ausgefolgt.404 398 Wilhelm Heckmann an »Meine Lieben«. 399 Ebd. 400 Ebd. 401 Verfügungsbefehl für einen Gefangenen, Military Government of Germany, datiert 23.5.1945, Arolsen, URL  : https  ://collections.arolsen-archives.org/archive/1483373/?p=1&s=wil*%20heckmann&doc_id =1483379 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 402 Ebd. 403 Bescheinigung Deutsches Komitee des ehemaligen KZ Mauthausen, datiert 8.7.1945, Eigentum von Klaus Stanjek, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/wp-content/uploads/2011/06/KZBescheinigung-1945-BArch.jpg (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 404 Siehe Ausweis Essenskarten, BArch.

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Wilhelm Heckmann kehrte in Begleitung eines zweiten ehemaligen Häftlings, bei dem es sich um Georg Streitwolf gehandelt haben könnte, nach Wuppertal zurück. In der Nachkriegszeit arbeitete er zunächst »als Pianist und Sänger bei der amerikanischen und englischen Armee in Iserlohn«,405 eigenen Angaben zufolge von Juli 1945 bis November 1945 als Orchester-Leiter »bei amerikanischer Truppe«406 und von Dezember 1945 bis April 1946 als Konzertsänger und Pianist für die »englische Besatzung«.407 Heckmann trat als Unterhaltungsmusiker in Nordrhein-Westfalen und Bayern auf, meldete am 11. März 1947 ein Gewerbe als »Pianist, Sänger, Akkordeonist, Musiklehrer«408 an, das am 10. Jänner 1952 wieder abgemeldet wurde, und suchte im April 1947 bei den britischen Besatzern um eine »Genehmigung für die Wiederaufnahme eines bereits bestehenden Unternehmens oder die Fortführung einer Tätigkeit«409 an  : »Ich bitte um Erteilung einer Lizenz, daß ich mich als Pianist, Akkordeonist, Konzertsänger und als Konzertunternehmer betätigen kann.«410 Auf dem vorgedruckten Geschäfts-Fragebogen der »Nachrichtenkontrolle« des Military Government of Germany gab er als Art der Tätigkeit »Konzert-Unterneh­ men, als Alleinunterhalter mit und ohne Ensemble«411 an. Auf die Frage, welche Erfahrung ihn dazu qualifiziere, die angestrebte Stellung zu bekleiden respektive das betreffende Unternehmen zu leiten, antwortete Klaus Stanjeks Onkel  : »langjährige Routine in Orchester und Konzertunternehmen in populärer, volkstümlicher Art.«412 Von der britischen Rheinarmee wurde er daraufhin einer Überprüfung unterzogen  : »May the above subject please be checked with NS Party Lists and Reichskulturkammer Archives and the files with result returned to this office.«413 In Berlin fand die Intelligence Section die Karteikarte der Reichsmusikkammer, auf der die Anfrage an die Gestapo München, »ob gegen H. bereits ein Verfahren wegen widernatürlicher Unzucht schwebt«,414 dokumentiert ist. Daraus wurde geschlossen, dass Wilhelm Heckmanns Angabe auf dem Geschäfts-Fragebogen, wonach er »wegen Weigerung zur Änderung meines Programms, sowie Vorfinden von antifaschistischen Flugblättern 405 Stanjek, Kurzbiografie Wilhelm Heckmann. 406 Geschäfts-Fragebogen, Military Government of Germany, BArch. 407 Ebd. 408 Gemeindegewerbesteuer-Veranlagung Heckmann, Stadtarchiv Altena. 409 Geschäfts-Fragebogen. 410 Lizenzantrag, datiert 22.4.1947, zit. n. Stanjek, Klänge des Verschweigens, 1  :07  :38–1  :07  :48 min. 411 Geschäfts-Fragebogen. 412 Ebd. 413 Senior PR/ISC Officer Lieutenant Colonel Morgan an Head Intelligence Section Berlin, datiert 8.5.1947, BArch. 414 Karteikarte Willi Heckmann, Reichskulturkammer, BArch Berlin.

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ins Konzentrationslager gebracht, und als Künstler nicht mehr zugelassen«415 worden sei, falsch wäre  : »it is obvious that he was imprisioned for a criminal offence and not for political reasons. This constitutes a falsification of Fragebogen.«416 Heckmann hatte auch angegeben, keinen Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime geleistet zu haben. Der Offizier in Berlin ordnete daraufhin an, dass Klaus Stanjeks Onkel befragt und dessen KZ-Ausweis eingezogen werden solle. Die Befragung fand statt und der Ausweis wurde Wilhelm Heckmann abgenommen. Der »Senior PR/ISC417 Officer« in Düsseldorf sah jedoch keinen Grund, den Antrag abzulehnen  : »In any event, do you consider it likely that he would be imprisoned for 8 years for unnatural vice only  ? The fact remains that the applicant served a long term of imprisonment and no matter for what cause this was a severe punishment which in our view we should not extend by refusing him means of livelihood.«418 Daraufhin wurden die im Berliner Hauptquartier gehegten Bedenken zurückgezogen  : »We would however warn heckmann to stop making statements to Military Government claiming political persecution by the Nazis, otherwise we shall be forced to have him prosecuted for falsification of Fragebogen«.419 Das Ansuchen von Klaus Stanjeks Onkel, als »Willi Heckmann mit seinen Künstlern« eine Lizenz zu erhalten, wurde genehmigt  : »No Objection«.420 2.2.4 Antrag auf Wiedergutmachung Neuneinhalb Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen richtete Klaus Stanjeks Onkel »im Sinne des Wiedergutmachungsprogramms«421 einen formlosen zweiseitigen maschingeschriebenen Antrag auf Entschädigung, der das Datum vom 2. November 1954 trägt, an das Wiedergutmachungsamt im Wuppertaler Stadtteil Elberfeld. Er bat »darüberhinaus noch um Vergütung des Lohnausfalls während der achtjährigen KZ-Zeit«,422 führte die körperlichen sowie seelischen Auswirkungen der Haft ins Treffen und verwies auf die langfristigen Folgen der erlittenen Qualen  : »Was ich an persönlicher Schikane im Lager erleiden mußte, möchte ich nicht zu Papier bringen. Ich, der ich nie schwer körperlich gearbeitet habe als 415 Geschäfts-Fragebogen, Military Government of Germany, BArch. 416 Intelligence Section ISC Branch Berlin an PR/ISC Regional Staff Düsseldorf-Benrath, BArch. 417 Public Relations/Information Services Control Group. 418 Senior PR/ISC Officer Lieutenant Colonel J. E. Dowling an Intelligence Section ISC Branch Berlin, datiert 6.7.1947, BArch. 419 Intelligence Section ISC Branch Berlin an Theatre and Music Section PR/ISC Düsseldorf, datiert 11.8.1947, BArch. 420 Report on Licence Application, Intelligence Section ISC Branch, datiert 12.8.1947, BArch. 421 Wilhelm Heckmann an Wiedergutmachungsamt. 422 Ebd.

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Musiker, mußte in Mauthausen nachweislich 5 Jahre im Steinbruch arbeiten. Daher habe ich heute noch ständig unter Rheuma und Nervenentzündungen in den Schulter- und Armgelenken zu leiden, was mich in der Ausübung meines Berufes stark behindert. Nebenbei gesagt habe ich unter Angstpsychosen stark zu leiden.«423 Wilhelm Heckmann erläuterte in seinem Schreiben auch, in welcher Lage er sich nach den fast acht Jahren in Haft befunden habe  : »1945 befreit, war ich an Leib und Seele vollständig zermürbt, stand ohne einen Pfennig Geld da, hatte inzwischen meine Eltern und mein Heim verloren. Ich war vollständig mittellos, hatte weder persönliche noch Berufskleidung, noch ein Instrument. Neben einem Klavier habe ich noch ein Akkordeon besessen, beide sind den Bomben in Wuppertal zum Opfer gefallen.«424 Klaus Stanjeks Onkel legte dar, »infolge meiner verbrauchten Nerven, meines schlechten Gesundheitszustandes […] den heute sehr erschwerten Erfordernissen meines Berufes leider nicht mehr gewachsen«425 zu sein. Schon lange habe er keine länger andauernden Engagements mehr gehabt. Dazu komme noch, »daß es in meinem Beruf durch die Mechanisierung der Musik sowieso nicht mehr allzu rosig aussieht.«426 Heckmann argumentierte, dass er zum Zeitpunkt der Festnahme in der Stadt Passau im Frühjahr 1937 auf der Höhe seines »beruflichen Könnens«427 gestanden sei  : »Mein Monatsgehalt betrug damals durchschnittlich RM 450.- bis 500.- brutto. Nach Passau hatte ich einen Vertrag nach Leipzig in der Tasche. Dazu kommt noch, daß ich meine Ersparnisse aus meinem beruflichen Einkommen, ca. RM 3.000.-, während meiner KZ-Zeit verbrauchen mußte, um überhaupt mein Leben im Lager fristen zu können.«428 Im Juli 1955 reichte Wilhelm Heckmann auch ein Antragsformular bei der Kreisverwaltung in Altena ein, mit dem er um Entschädigung nach dem entsprechenden Gesetz ansuchte. Als seinen erlernten Beruf gab er Musiker und Sänger an, Alleinunterhalter als berufliche Tätigkeit zum Zeitpunkt der Antragstellung. Der damals 58-Jährige meldete Entschädigungsansprüche nach Paragraf 16 für den erlittenen »Schaden an Freiheit […] durch Freiheitsentziehung«429 an, unter die »polizeiliche oder militärische Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft, Konzentrationslagerhaft, Ghettoeinweisung und Zuweisung zu einer 423 Wilhelm Heckmann an Wiedergutmachungsamt. 424 Ebd. 425 Ebd. 426 Ebd. 427 Ebd. 428 Ebd. 429 Antrag auf Entschädigung, datiert 18.7.1955, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/wpcontent/uploads/2011/09/Fragebogen-zum-Antrag-auf-Entsch%C3%A4digung.jpg (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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Wehrmachtsstrafeinheit«430 fallen. Dieser Paragraf besagt, dass Verfolgte Anspruch auf Entschädigung für erlittene Freiheitsentziehung haben, »gleichgültig, ob diese innerhalb oder außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes stattgefunden hat.«431 Heckmann beantragte Entschädigung für die Freiheitsentziehung, die mit der Festnahme in Passau begonnen hatte, und gab als Datum der Verhaftung Ende Mai 1937 an. Ohne detailliertere Zeitangabe brachte er die Haft im »Wittelsbacher Palais« vor, in dem die »Geheime Staatspolizei« München ein eigenes Gefängnis unterhielt, sowie jene im Gefängnis des Münchner Polizeipräsidiums in der Ettstraße, von wo er Abb. 8  : Eine Werbepostkarte aus dem Jahr 1956. gemäß seinen Angaben Mitte Juni nach Dachau gebracht worden war. Klaus Stanjeks Onkel vermerkte auch das Datum, 8. Juli. Daneben schrieb er »Gestapo« sowie »1938 nach Mauthausen«.432 Er kreuzte an, einerseits Schaden an Eigentum und Vermögen durch Sonderabgaben, die Reichsfluchtsteuer, Geldstrafen, Bußen, Kosten und »sonstige schwere Schädigung«433 genommen zu haben, andererseits »Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen […] durch Verdrängung aus oder Beschränkung in einer selbständigen Erwerbstätigkeit«434 ebenso wie »in einem privaten Dienst- oder Arbeitsverhältnis435 und »durch Ausfall an Bezügen im öffentlichen Dienst«436 sowie »durch Ausschluss von der erstrebten Ausbildung oder deren erzwungene Unterbrechung«.437 Wilhelm Heckmann teilte außerdem mit, bisher noch keine Ansprüche auf Rückerstattung geltend gemacht, Vergleiche abgeschlossen oder 430 Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, datiert 18.9.1953. 431 Antrag auf Entschädigung. 432 Ebd. 433 Ebd. 434 Ebd. 435 Ebd. 436 Ebd. 437 Ebd.

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Wiedergutmachungsleistungen wie Rechte, Sachwerte und Geld erhalten zu haben. Dem Formular legte er eine eidesstattliche Erklärung und seinen Lebenslauf bei. Zwei Jahre, nachdem Klaus Stanjeks Onkel den ersten, formlosen Antrag gestellt hatte, schickte der Kreissyndikus in Vertretung des Oberkreisdirektors einen Ermittlungsbericht zu Wilhelm Heckmanns Entschädigungsantrag an »den Herrn Regierungspräsidenten«.438 Darin stellte er einerseits fest, dass die örtliche Zuständigkeit gegeben sei, »da der Antragsteller seinen ständigen Wohnsitz am 1.1.1947 in Altena/Kreis Altena hatte«,439 andererseits kam er zu dem Schluss, dass Wilhelm Heckmann »Momente, die eine vorrangige Behandlung des Antrages rechtfertigen, […] nicht vorgetragen«440 habe. Angemerkt wurde außerdem, Heckmann »hat bis heute keine Entschädigungsleistungen erhalten.«441 Der Jurist sah die Voraussetzungen nicht erfüllt, die für die Inanspruchnahme von Entschädigungsleistungen notwendig gewesen wären. Er erklärte, aus diesem Grund davon abgesehen zu haben, »Ermittlungen zu den einzelnen Schadensgebieten anzustellen.«442 Seine Sicht der Dinge begründete er mit den von Stanjeks Onkel erhobenen Ansprüchen auf Entschädigung wegen der erlittenen Freiheitsentziehung  : »Er sieht den Haftgrund darin, dass er sich stets geweigert habe, der SA als Mitglied beizutreten. Tatsächlich ergibt die Auskunft des ITS Arolsen, dass er ab 14.8.1937 als Schutzhäftling wegen Vergehens gegen den § 175 […] in den Konzentrationslägern Dachau und Mauthausen inhaftiert war.«443 Im Dezember 1960, mehr als sechs Jahre, nachdem Wilhelm Heckmann an das Wiedergutmachungsamt geschrieben und um Entschädigung angesucht hatte, wurde der im Namen des Regierungspräsidenten ausgestellte Bescheid des nordrhein-westfälischen Regierungskreises Arnsberg an den Oberkreisdirektor des Landkreises Altena geschickt. Darin wurde der Antrag abgelehnt sowie festgehalten, dass Heckmann im Übrigen »auch sonst keinen Anspruch auf Entschädigung« nach dem Bundesgesetzentschädigungsgesetz444 habe. Als Begründung wurde angeführt, dass

438 Ermittlungsbericht, Kreissyndikus an den Regierungspräsidenten, datiert 27.11.1956, Kreisarchiv­ Altena, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/wp-content/uploads/2011/09/Wiedergutma chungs-bericht1.jpg (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 439 Ebd. 440 Ebd. 441 Ebd. 442 Ebd. 443 Ebd. Der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründete internationale Suchdienst des Roten Kreuzes »International Tracing Service« ITS in der nordhessischen Stadt Bad Arolsen wurde im Mai 2019 in Arolsen Archives umbenannt und als International Center on Nazi Persecution definiert. Siehe Arolsen Archives, URL  : https  ://arolsen-archives.org/ueber-uns/kurzportraet/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 444 Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.

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dieser »die allgemeinen Voraussetzungen für die Geltendmachung eines Anspruchs […] wegen Schadens an Körper oder Gesundheit nicht erfüllt. […] Der Antrag konnte keinen Erfolg haben.«445 Denn Anspruch auf Entschädigung habe nur, »wer aus Gründen politischer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus durch […] Gewaltmassnahmen […] verfolgt worden ist und hierdurch Schaden erlitten hat.«446 In dem Gesetz werden als Verfolgungsgründe, die zu einem Anspruch auf Entschädigung führen, politische Überzeugung, Rasse, Glaube und Weltanschauung genannt.447 Doch Stanjeks Onkel sei »nur als Homosexueller«448 nach Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs »in Haft gehalten«449 worden  : »Seine Behauptung, dass seine Verhaftung und Einweisung in ein KZ nur deshalb erfolgt sei, weil er es abgelehnt habe, der SA beizutreten, ist damit widerlegt.«450 In seinem Antrag hatte Wilhelm Heckmann auch das Strafverfahren aus dem Jahr 1934 als möglichen Grund für die 1937 erfolgte Verhaftung erwähnt und erklärt, er habe sich nach 1934 nichts mehr zu Schulden kommen lassen, ohne näher auszuführen, warum es damals zu der Verurteilung gekommen war. Dem von Heckmann in seinem Antrag vorgebrachten vermeintlichen Grund für die Verhaftung im Sommer 1937, seine wiederholte Weigerung, Mitglied der paramilitärischen »Sturmabteilung« der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu werden, wurde in dem Bescheid des Regierungspräsidenten entgegengehalten, dass »die Weigerung, der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen beizutreten«,451 im Übrigen »nach der ständigen Rechtssprechung allein noch nicht die vom Gesetz geforderte Gegnerschaft«452 begründen würde. Klaus Stanjeks Onkel wurde abschließend noch darauf hingewiesen, dass er diesen Bescheid mit einer Klage »gegen das Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch den Regierungspräsidenten in Arnsberg«,453 vor der Entschädigungskammer des Landgerichts innerhalb einer Frist von drei Monaten anfechten könne. Beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen stellte nicht nur die Kreisverwaltung Altena eine Anfrage, sondern am 28. Juli 1959 auch der Untersuchungsrichter des Landgerichts Kempten in Bayern. Dieser hatte eine Voruntersuchung wegen 445 Bescheid Regierungspräsident Arnsberg an Oberkreisdirektor Altena, datiert 15.12.1960, Kreisarchiv Altena, URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/wp-content/uploads/2011/09/Wiedergutma chungsbescheid1.jpg (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 446 Bescheid Regierungspräsident Arnsberg an Oberkreisdirektor Altena, datiert 15.12.1960. 447 Siehe Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. 448 Bescheid Regierungspräsident an Oberkreisdirektor. 449 Ebd. 450 Ebd. 451 Ebd. 452 Ebd. 453 Ebd.

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Mord an hunderten sowjetischen Kriegsgefangenen gegen die ehemaligen »Funktionshäftlinge« Josef Schöps, ab 1943 »Lagerältester« in Mauthausen, und Adolf Stumpf, »Blockältester« in einer der Baracken, in der auch sowjetische Häftlinge untergebracht gewesen waren, eingeleitet. Er bat »um Auskunft über den Lageraufenthalt, die Haftart und die Verwendung im Lager«454 in Bezug auf Wilhelm Heckmann und dutzende Mithäftlinge. Im September 1959 wurde dem Gericht eine Übersicht über Heckmanns »Aufenthalt in ehemaligen Konzentrations- und Arbeitslagern«455 übermittelt. Es kam zwar zu einer Anklage gegen Schöps und Stumpf, die beiden wurden aber im Juli 1960 freigesprochen. 2.2.5 Einvernahme als Zeuge 1960 Am 26. Jänner 1960 wurde Wilhelm Heckmann im Polizeipräsidium des Wuppertaler Stadtteils Barmen von einem Kommissar des Dezernats 15 als Zeuge einvernommen. Die Befragung stand in Zusammenhang mit den Ermittlungen über die Misshandlung und Ermordung tausender Häftlinge gegen den am 9. September 1902 geborenen ehemaligen SS-Offizier Karl Schulz, von 1. September 1939 bis zu seiner Flucht Anfang Mai 1945 Leiter der »Politischen Abteilung« des Konzentrationslagers Mauthausen, und den am 3. Juli 1916 geborenen Anton Streitwieser. Dieser hatte es in Mauthausen zum dritten »Schutzhaftlagerführer« und danach zum Leiter mehrerer Außenlager gebracht. Heckmann gab zu Protokoll, dass er nach seiner Überstellung von Dachau nach Mauthausen im Dienstbüro von Schulz »aufgenommen worden«456 sei. Persönlich habe er den gelernten Schlosser, der vor der Versetzung nach Mauthausen als Kriminalbeamter in Köln tätig gewesen war, »nicht näher kennengelernt. Seinen Namen hörte man wohl öfter, weil er Häftlinge misshandelt haben soll. Ich selbst bin aber nie Zeuge einer solchen Handlung durch Schulz gewesen.«457 Streitwieser hingegen habe er »näher kennengelernt. […] Ich habe ihn persönlich am meisten dann gesehen, wenn unsere Lagerkapelle, der ich angehörte, auf dem Appellplatz musizierte. Streitwieser hörte sich unsere Musik dann an. Ich spielte Schlagzeug und sang auch Schlager.«458 Der Mechaniker ohne Lehrabschlussprüfung459 war ab 1934 in den Konzentrationslagern Dachau, Sachsenburg, Esterwegen und Sachsenhausen eingesetzt, kam im November 1938 nach Mauthausen und erschoss am 15. Novem454 Untersuchungsrichter Landgericht Kempten an ITS, datiert 28.7.1959, Arolsen, Listenanfrage 209/762. 455 ITS an Untersuchungsrichter Landgericht Kempten, datiert 9.9.1959, Arolsen, Korrespondenzakte T/D 526895. 456 Protokoll Einvernahme Wilhelm Heckmann. 457 Ebd. 458 Ebd. 459 Siehe Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 131.

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ber 1938 den ersten von 529460 Mauthausener Häftlingen, die getötet wurden, als sie sich angeblich »auf der Flucht«461 befanden. Dem vernehmenden Polizisten war, wie dem Protokoll zu entnehmen ist, bekannt, dass Wilhelm Heckmann wegen angeblicher Verstöße gegen Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs von den Nationalsozialisten verfolgt worden war. Dieser Paragraf sollte erst am 11. Juni 1994, 34 Jahre später, abgeschafft werden. Ob möglicherweise vor, während oder nach der Befragung Druck auf Heckmann ausgeübt wurde, die ehemaligen SS-Schergen nicht zu belasten, geht aus den Quellen nicht hervor. Klaus Stanjeks Onkel, der fast sechs Jahre lang im Konzentrationslager Mauthausen eingesperrt gewesen war, erinnerte sich nicht daran, dass die Verdächtigen an Massenerschießungen oder anderen Verbrechen beteiligt gewesen waren, zumindest wurden seine Aussagen von der Wuppertaler Polizei dahingehend zu Protokoll gebracht  : »Persönlich habe ich nicht erlebt, daß Schulz und Streitwieser Häftlinge mißhandelt oder getötet haben. Schulz galt im Lager zwar als einer der schlimmsten und als ein Sadist. Ich selbst habe aber nie gesehen, wenn er Häftlinge misshandelt hat. Über Streitwieser kann ich nur sagen, dass er im Lager als human galt. Er war einer der Besten von den SS-Leuten. Ich kann über die Funktionen von Schulz und Streitwieser nichts sagen. Mir sind keine Zeugen bekannt, die gesehen haben, daß Schulz oder Streitwieser Häftlinge mißhandelt hat.«462 Wenn die Aussagen, die von dem Kommissar des Polizei-Dezernats 15 im Stadtteil Barmen protokolliert worden waren, der Wahrheit entsprechen, dann hatte Wilhelm Heckmann in den knapp fünf Jahren, die er im Steinbruch »Wiener Graben« Zwangsarbeit verrichten musste, keinerlei Verbrechen beobachtet, weder Gewalttaten, die von Karl Schulz begangen worden waren, noch strafbare Handlungen anderer SS-Leute  : »Ich habe nicht gesehen, ob Schulz Häftlinge den Steinbruch hinuntergestürzt hat. In den letzten beiden Jahren meiner Zugehörigkeit zum Arbeitskommando ›Wiener Graben‹ habe ich selbst des Öfteren gesehen, daß Häftlinge den Steinbruch hinunterstürzten. In den Jahren 1943 bis 1944 habe ich mindestens 20 Häftlinge abstürzen sehen. Der Steinbruch war etwa 70 m hoch. Die abgestürzten Häftlinge waren meistens Juden. Das erkannte ich daran, dass sie das gelbe Judenzeichen trugen. In keinem Falle habe ich gesehen, daß ein Häftling den

460 Siehe Gregor Holzinger, »… da mordqualifizierende Umstände nicht hinreichend sicher nachgewiesen werden können …«. Die juristische Verfolgung von Angehörigen der SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Mauthausen wegen »Erschießungen auf der Flucht«. In  : DÖW (Hg.), Täter. Österreichische Akteure im Nationalsozialismus, Wien 2014 (Jahrbuch 2014), S. 138, URL  : https  :// www.doew.at/cms/download/e1o17/jb2014_holzinger_fotos-1.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 461 Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, S. 30. 462 Ebd.

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Steinbruch hinuntergestürzt wurde, etwa von einem SS-Mann. Die Häftlinge, die ich habe abstürzen sehen, waren alle sofort tot.«463 Dem Protokoll ist auch zu entnehmen, dass Klaus Stanjeks Onkel Punkt für Punkt zu 24 Verbrechen befragt wurde, an denen Schulz beteiligt gewesen sein soll, und zu 35, die Streitwieser angelastet wurden. Die verschriftlichten Antworten, die in den meisten Fällen aus wenigen Wörtern bestehen, gleichen einander  : »Darüber sind mir persönlich Einzelheiten nicht bekannt.« »Hierüber weiß ich nichts.« »Ich kann darüber keine Angaben machen.« »Ist mir unbekannt.« »Darüber weiß ich nichts.« »Dieser Vorfall ist mir unbekannt.« »Ist mir nicht bekannt geworden.« »Auch darüber weiß ich nichts.« »Das kann möglich sein, ich weiß davon nichts.« »Weiß ich nicht.« Lediglich zu einzelnen Anschuldigungen sind ausführlichere Antworten aufgelistet, in denen allerdings niemand belastet wird  : »Im Lager waren Tschechen untergebracht, und zwar etwa mehrere Tausend. Ob Tschechen vergast wurden, weiß ich nicht.« »Darüber weiß ich nur von Hörensagen etwas. Die Quelle meiner Kenntnisse weiß ich aber nicht. Es wurde allgemein erzählt, daß Russen in der Latrine ertränkt worden seien. Ob Schulz hierbei mitgewirkt hat, ist mir unbekannt.« »Mir ist nicht erinnerlich, einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben, daß Schulz russische Kriegsgefangene mißhandelt hat.« »Ich habe keine Kenntnisse erlangt über Erschiessungen auf dem Schießplatz von Mauthausen.« »Ich habe nicht gesehen, daß Häftlinge erschossen worden sind. Nur vom Hörensagen ist mir bekanntgeworden, dass Erschiessungen durchgeführt wurden.« »Von einer Hinrichtung von 4 Häftlingen auf dem Appellplatz in Mauthausen ist mir nichts bekannt.« »Mir ist nicht erinnerlich, ob Streitwieser einen Hund gehabt hat. Ich selbst habe Streitwieser nie mit einem Hund gesehen. Im Lager waren jedoch mehrere Hunde.« Selbstverständlich werde Heckmann seine Aussagen »vor einem Richter unter Eid wiederholen«,464 wie der Niederschrift zu entnehmen ist  : »Weitere Angaben kann ich zur Sache nicht machen. Ich habe die Wahrheit gesagt.«465 1966, zehn Jahre, nachdem Schulz und Streitwieser erstmals festgenommen worden waren und 21 Jahre nach Kriegsende, erhob die Staatsanwaltschaft in Köln Anklage gegen die beiden. Am 30. Oktober 1967 wurde Schulz am Landgericht Köln zu 15 Jahren Haft und Streitwieser zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe sowie zusätzlich zu sieben Jahren Haft verurteilt. Über das künstlerische Wirken Wilhelm Heckmanns nach Kriegsende schrieb dessen Neffe 2004  : »In der Nachkriegszeit spielte er als Alleinunterhalter in verschiedenen Hotels und Restaurants im Sauerland, Rheinland, dem Moselgebiet und dem Alpenvorland. Aber es gelang ihm nicht mehr, an seine Vorkriegserfolge 463 Protokoll Einvernahme Wilhelm Heckmann. 464 Ebd. 465 Ebd.

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anzuknüpfen.«466 Wilhelm Heckmann heiratete am 4. August 1965 im Alter von 68 Jahren die Küchengehilfin und Kaltmamsell Elisabeth Weigel, genannt »Elli«, ging Ende der 1960er-Jahre in Pension und führte »ein zurückgezogenes Leben«.467 Am 29. Dezember 1986 starb Elisabeth Heckmann-Weigel, am 10. März 1995 Wilhelm Heckmann 97-jährig in Wuppertal. 2.2.6 Klaus Stanjeks Nachforschungen Nach einem Studium der Psychologie und Biologie absolvierte Klaus Stanjek die Münchner Filmhochschule und unterrichtete zunächst Dokumentarregie als Dozent. Von 1993 bis 2014 hatte er eine Professur an der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg in Potsdam inne. Die Geburtstagsfeier in seinem Elternhaus im Juni 1987, bei der eine von Heckmanns Nichten »in einem Nebensatz«468 erwähnt hatte, dass dieser »wohl ein Überlebenskünstler sei  ; schließlich hätte er ja auch die Zeit im ›Lager‹ überstanden«,469 stellte für Stanjek eine Zäsur dar  : »Mich selbst hat das ganz schön durcheinandergebracht insofern, als ich einmal mir selber gesagt habe, wie konnte ich so etwas übersehen, wie konnte ich so ein Schicksal eines Mannes, der mir sehr sympathisch und lieb war, so falsch einschätzen. Wie konnte es sein, dass ich in meiner Familie, an der ich ja nun auch hing, […] solche Abgründe entdecke, das hat mich schon sehr erschüttert.«470 Mit Unterbrechungen habe er sich seither damit beschäftigt, »Einzelheiten und Zusammenhänge über Willi’s KZ-Zeit zusammenzutragen. Dabei musste ich feststellen, dass auch ich selbst die familiär konditionierte Verdrängung in meiner eigenen Seele überwinden musste und muss.«471 Wilhelm Heckmanns Neffe führte Gespräche mit Verwandten sowie mit seinem Onkel, der »nur sehr knapp«472 auf die Nachfragen geantwortet und die Bitte, ein Videointerview mit ihm führen zu dürfen und die »Aussagen für einen späteren Film aufzuzeichnen«,473 abgelehnt habe. Die Recherchen und Befragungen von Verwandten sowie Bekannten seines Onkels »führten zu sehr unvollständigen Ergebnissen«.474 Auch die Gespräche mit seiner Mutter Kläre, Heckmanns Halbschwester, »ergaben nur wenige und vage Ergänzungen.«475 466 Stanjek, Der Musiker Willi Heckmann. 467 Ebd. 468 Ders., Klänge des Verschweigens, 08  :58–08  :59 min. 469 Ders., Musik und Mord, S. 93. 470 Interview mit Klaus Stanjek, S. 7. 471 Stanjek, Musik und Mord, S. 93. 472 Ebd., S. 94. 473 Ebd. 474 Stanjek, Musik und Mord, S. 93. 475 Ebd.

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Für das innerfamiliäre Schweigen über Wilhelm Heckmanns Geschichte wird auf der als Ergänzung zu Stanjeks Dokumentarfilm »Klänge des Verschweigens« gestalteten Internetseite die Mutter des Regisseurs mitverantwortlich gemacht  : »In seiner Familie regierte das Gesetz des Schweigens. Eine Reihe von Familiendynamiken verhinderten bis zu Heckmanns 90. Geburtstag das offene Gespräch über sein Schicksal – unter anderem wegen der (lange verborgenen) Parteinahme der Mutter für die Nationalsozialisten.«476 Kläre Stanjek, geborene Heckmann, war Mitglied der Ortsgruppe Bockum der Düsseldorfer NSDAP gewesen, der sie am 10. August 1943 beigetreten war. Ihr war die Mitgliedsnummer 9.645.205 zugewiesen worden.477 Auch einer der drei Brüder von Wilhelm Heckmann war Parteimitglied gewesen.478 Klaus Stanjek beschreibt das Verhältnis zu seiner Mutter, die wiederum »von ihrer Mutter quasi den Auftrag bekommen«479 hatte, sich um den jüngsten ihrer vier Halbbrüder zu kümmern, als eng und herzlich, »aber wie sie mit der Nazizeit umgeht, empörte mich seit langem.«480 Stanjek hielt in seinem 2008 erschienenen Bericht fest, sein Onkel habe ihm kurz vor dessen Tod »einige aufschlussreiche Gegenstände aus der Lagerzeit«481 übergeben, darunter »einen im KZ-Mauthausen am 11. Mai 1945 handgeschriebenen längeren Brief, […] ein Foto des Kapos Georg Streitwolf und eine Zeugenladung der Wuppertaler Polizei«.482 Streitwolf hatte nach Kriegsende »bis etwa 1947 in Iserlohn und für kurze Zeit in Altena, Pension Ramer«483 gewohnt. Heckmanns Neffe bekam auch ein Porträtfoto von Georg Bachmayer,484 dem ersten »Schutzhaftlagerführer« des Konzentrationslagers Mauthausen, ausgehändigt (siehe Abb. 9). Dieses hatte Stanjek zunächst irrtümlich als ein Foto von Franz Ziereis, Kommandant des Konzentrationslagers von 17. Februar 1939 bis zu dessen Flucht Anfang Mai 1945, bezeichnet.485 Bei der Aufnahme handelt es sich um einen spiegelverkehrten Abzug

476 URL  : http  ://www.klaenge-des-verschweigens.de/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 477 Antrag Aufnahme NSDAP Kläre Heckmann, datiert 10.8.1943, Eigentum von Klaus Stanjek. 478 Siehe Stanjek, Musik und Mord, S. 96. 479 Interview mit Klaus Stanjek, S. 2. 480 Stanjek, Klänge des Verschweigens, 28  :04–28  :09 min. 481 Ders., Musik und Mord, S. 94. 482 Ebd. 483 Protokoll Einvernahme Wilhelm Heckmann. 484 Der 1913 im oberbayerischen Fridolfing geborene Hilfsarbeiter Georg Bachmayer wurde am 1.1.1939 erster »Schutzhaftlagerführer« im Konzentrationslager Mauthausen, wo er für Lagerordnung, Strafen und Exekutionen zuständig war. Überlebende berichteten von unzähligen Grausamkeiten, die Bachmayer, ab November 1943 im Rang eines SS-Hauptsturmführers, begangen haben soll. In der Nacht auf den 9. Mai 1945 tötete er in Münzbach in Oberösterreich seine Ehefrau und die beiden Kinder, bevor er Suizid verübte. Siehe Holzinger (Hg.), Die zweite Reihe, S. 51–55. 485 Siehe Stanjek, Musik und Mord, S. 94.

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jenes Fotos Bachmayers, das im Bericht über die als »Dupont Mission«486 bezeichnete US-Geheimdienstaktion des Office of Strategic Services enthalten ist. Durch die Dokumente, die Stanjeks Onkel ihm übergeben hatte, habe sich seine »ziemlich dürftige Informationslage hinsichtlich weiterer Recherchen erheblich«487 verbessert. Bachmayer war »für eine Vielzahl von Verbrechen verantwortlich, die im KZ Mauthausen verübt wurden.«488 Dem Umstand, dass Wilhelm Heckmann ein Foto des SS-Schergen, der direkt dem Lagerkommandanten unterstellt gewesen war, bis kurz vor seinem Tod aufgehoben hatte, misst Stanjek eine gewisse Abb. 9  : Der »1. Schutzhaftlagerführer« des KZ Bedeutung zu  : Sein Onkel müsse »wirkMauthausen, Georg Bachmayer. lich einen besonderen Draht gehabt haben zu diesem Lagerleiter Bachmayer. […] Da muss irgendeine besondere Beziehung bestanden haben zwischen Herrn Bachmayer oder Familie Bachmayer und ihm. […] War das Verhältnis einfach nur das des beliebten Musikers, der aber Häftling war und schwul, zu einem Lagerleiter, der mit dem Bluthund durchs Lager ging und dann den Hund losließ auf die Häftlinge, der dann das Fleisch auffrisst  ? […] Aber da habe ich überhaupt keinen Beleg dafür. […] Also offenbar gab es eine besondere Beziehung zu der Familie Bachmayer.«489 Als Zeuge war Heckmann Anfang 1960 während seiner Befragung durch den Polizeikommissar in Wuppertal gemäß dem Protokoll auch gefragt worden, ob sich in seinem Besitz Unterlagen über das Konzentrationslager Mauthausen befinden  : »Nein, ich besitze keine Lichtbilder, Aufzeichnungen oder sonstige Unterlagen über das KL Mauthausen.«490 Ob er zu diesem Zeitpunkt bereits über das Porträtfoto von Bachmayer verfügte oder nicht, geht aus den Quellen nicht hervor.

486 Dupont Mission Report, datiert 30.5.1945, URL  : http  ://ecc.pima.edu/~gusen/Dupont/Dupont_Mis sion.htm (letzter Zugriff  : 31.5.2020). 487 Stanjek, Musik und Mord, S. 94. 488 Holzinger, Die zweite Reihe, S. 51. 489 Interview mit Klaus Stanjek, S. 12. 490 Protokoll Einvernahme Wilhelm Heckmann.

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An den ehemaligen Häftling Hans Maršálek, der von Herbst 1942 bis zur Befreiung im Mai 1945 in der Schreibstube des Konzentrationslagers Mauthausen gearbeitet hatte und von 1964 bis 1976 die KZ-Gedenkstätte Mauthausen leitete, seien immer wieder von anderen Überlebenden Fotos von Mitgliedern der LagerSS übergeben worden, konstatiert Gregor Holzinger von der Forschungsstelle, die Teil der Gedenkstätte ist  : »Dass Häftlinge Fotos von SS-Angehörigen aufgehoben haben, hatte meist juristische Gründe, manchmal geschah dies auch zu dokumentarischen Zwecken.«491 Klaus Stanjek berichtete jedoch mit Verweis auf das Interview, das er mit seiner Mutter während der Arbeiten am Dokumentarfilm »Klänge des Verschweigens« geführt hatte, dass sie von ihrem Halbbruder nach dessen Rückkehr aus dem Konzentrationslager Mauthausen kritisiert worden sei  : »Er hätte dann meiner Mutter vorgeworfen, Mensch, du hättest bloß einmal die Frau Bachmayer ansprechen müssen, die hätte mir sofort geholfen.[…] Aber daraus schließe ich jedenfalls, die Frau Bachmayer hat auch irgendwie vielleicht den schützen wollen, der so schöne Musik machte, so zärtliche Lieder und so Liebeslieder gesungen hat.«492 Zu Beginn seiner Nachforschungen sei Stanjek davon ausgegangen, es müsse »jenseits von homosexueller Praxis, was ja nun wirklich eine private Angelegenheit ist, irgendwelche Verbrechen gegeben haben. […] Diese Vermutung, da muss noch etwas Schlimmeres dahinterstecken, die hat mich sehr lange beunruhigt. […] Das hat mich sehr, sehr, sehr aus den Fugen geworfen.«493 Auch seine Schwester sei »sehr beunruhigt«494 gewesen, als sie davon erfuhr, dass Wilhelm Heckmann in den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen inhaftiert gewesen war  : »Ich bin mir relativ sicher, dass ihr das mindestens so viel ausgemacht hat das Ganze, wie mir. Ich habe ihr manchmal am Telefon auch erzählt, was ich alles herausbekommen hatte, und ich glaube, das hat sie sehr verstört.«495 Ihn habe lange beschäftigt, ob sein Onkel ihn »sexuell benutzt hat, als kleinen Jungen, als kleinen süßen kulleräugigen Knaben.«496 Er sei sich jedoch sicher, dass dieser ihn »nicht wirklich missbraucht hat.«497 Das innerfamiliäre Schweigen über die Lebensgeschichte seines Onkels führt Klaus Stanjek auch darauf zurück, dass von seiner Verwandtschaft Teile der Vergangenheit ausgeblendet worden seien  : »Meine ganze Familie pflegte diese merk491 E-Mail Gregor Holzinger/Forschungsstelle KZ-Gedenkstätte Mauthausen an Verfasser, datiert 26.9. 2017. 492 Interview mit Klaus Stanjek, S. 12. 493 Ebd., S. 7. 494 Ebd. 495 Ebd., S. 8. 496 Ebd., S. 9. 497 Ebd.

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würdige Einstellung, vergessen können sei etwas Nützliches, man muss vergessen können.«498 Dem Umstand, dass sein Vater, ein Mediziner, im Jahr vor der Familienfeier 1987 gestorben war, misst Stanjek ebenfalls große Bedeutung zu  : »Dann habe ich mich gefragt, wieso kam das zu diesem Zeitpunkt eigentlich heraus. Und meine Vermutung ist, weil mein Vater gestorben war. Und welche Rolle bei diesem ganzen Versteckspiel mein Vater spielte, ist mir etwas unheimlich, habe ich auch nicht ganz aufgeklärt bis heute. Ich glaube, mein Vater hatte eine sehr starke Aversion gegen Homosexualität aus einer Erziehung, die in Oberschlesien und dann auch in der NS-Zeit in dieser Richtung so war. Er war Arzt und hat wahrscheinlich mit dazu beigetragen, dass das Ganze gefälligst nicht besprochen wird.«499 Jene Nichte Wilhelm Heckmanns, die bei dessen Geburtstagsfeier die »Fa­mi­lien­ tabus«500 brach, hatte vermutet, dass über die Verschleppung Heckmanns nach Dachau und Mauthausen in der Herkunftsfamilie von Klaus Stanjek gesprochen worden war  : »Die sagte, wie, das weißt du nicht  ?«501 Stanjek glaubt nicht, dass es vor diesem Tag ein »deutliches Indiz«502 gegeben haben könnte, das er nicht bemerkt oder falsch gedeutet hat  : »Das Schweigen und Verschweigen in meiner Familie hatte ich lange Zeit nicht bemerkt. Nur eine gewisse Unruhe und ein diffuses Misstrauen blieben mir als einzige Symptome einer Familiendynamik, die für viele deutsche Haushalte bezeichnend zu sein scheint.«503 Er habe seine Mutter gefragt, warum ihm die Geschichte Wilhelm Heckmanns verschwiegen worden sei  : »Da war natürlich eine sehr starke Defensive, dass der inzwischen studierte, auch vergleichsweise radikale Sohn jetzt antritt und hier Forderungen stellt in der Richtung. Und dann hieß es, auch wegen der Homosexualität, das wurde ja auch nicht besprochen. Also nicht nur, dass er im KZ war, sondern auch, dass er homosexuell war, wurde nicht besprochen.«504 Seinen Dokumentarfilm »Klänge des Verschweigens« habe Klaus Stanjek »auch gemacht, um etwas aufzuarbeiten, was in unserer Familie sich angestaut hat.«505 Gegen Ende des Films ist Stanjek zu sehen, wie er einen Brief an seinen verstorbenen Onkel schreibt  : »Ich bedauere so sehr, dass wir darüber nicht besser reden konnten, du nicht und ich selbst auch nicht. In unserer Familie war das ja kaum möglich.«506 Durch die intensive Beschäftigung mit dessen Lebensgeschichte sei ihm sein Onkel »noch ein ganzes Stück näher gerückt. Der ist mir wesentlich vertrauter geworden 498 Stanjek, Klänge des Verschweigens, 00  :56–01  :04 min. 499 Interview mit Klaus Stanjek, S. 3. 500 Ebd., S. 8 501 Ebd., S. 3. 502 Ebd. 503 Stanjek, Klänge des Verschweigens. Booklet, Potsdam 2012, S. 18. 504 Interview mit Klaus Stanjek, S. 3. 505 Ebd., S. 10. 506 Stanjek, Klänge des Verschweigens, 1  :25  :03–1  :25  :12 min.

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nach seinem Tod und ich habe viel mehr Mitgefühl mit ihm inzwischen. Ich bedauere sehr, dass wir uns früher da nicht, als er noch lebte, näherkommen konnten. […] Inzwischen denke ich, meine Güte, also aus diesem Elend, aus dieser Verfolgung und dieser Missachtung heraus dann noch so eine soziale Wärme zu entwickeln, das ist erstaunlich.«507

2.3 Lars Reichardt    : »Ich kam nie auf die Idee, Fragen zu stellen« 508 Am 20. September 2013 veröffentlichte Lars Reichardt509 im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« einen autobiografischen Text über seinen Stiefgroßvater Erwin Valentin. In einer leicht abgeänderten Version erschien dieser Text 2018 auch in der von Reichardt verfassten Biografie seiner Mutter, der österreichischen Schauspielerin Barbara Valentin.510 Darin berichtet der 1963 geborene deutsche Journalist und Autor, dass er 2011 von einem Enkelsohn des Rechtsanwalts Otto Stahmer angerufen worden sei. Stahmer hatte Hermann Göring beim Prozess gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg als Pflichtverteidiger vertreten. Reichardts Stiefgroßvater und der Anwalt waren miteinander bekannt gewesen. Von dem Nachfahren des Anwalts erhielt Lars Reichardt gemäß seiner Schilderung im Winter 2012 die Kopie eines achtseitigen maschingeschriebenen Briefs überreicht, den Erwin Valentin im April 1946 an Otto Stahmer geschickt hatte. Mit dem Schreiben war Valentin der Bitte des Rechtsanwalts um eine »Stellungnahme zu der Frage der Schuld der Deutschen im Allgemeinen an den perversen Grausamkeiten der Naziverbrecher«511 nachgekommen  : »Der Anwalt Görings hatte unserem Opa im Februar 1946 geschrieben, um bei ihm zu erfragen, ob Auschwitz denn wirklich so schlimm gewesen sei, er sei doch Häftling gewesen, und ob das gesamte deutsche Volk mitschuldig sei. Er wollte das wissen, um Görings Verteidigung vorbereiten zu können.«512 Reichardt war zum Zeitpunkt von Valentins Tod fünf Jahre alt gewesen. Er hatte den Stiefvater seiner Mutter als »übellaunigen Kerl«513 in Erinnerung behalten. 507 Interview mit Klaus Stanjek, S. 10. 508 Reichardt, Barbara, S. 161. 509 Mehrere E-Mails an Reichhardt, in denen der Verfasser um ein Interview angefragt hatte, und an die Münchner Literatur- und Filmagentur, die ihn vertritt, blieben unbeantwortet. 510 Reichardt, Barbara. 511 Erwin Valentin an Otto Stahmer, datiert 9.4.1946, Kopie im Eigentum des Verfassers. 512 Reichardt, Ein Mann mit Vergangenheit. 513 Ebd.

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Seine Großmutter mütterlicherseits, die Schauspielerin Irmgard Alberti, habe über ihren dritten Ehemann, der bis ins hohe Alter »kaisertreu«514 gewesen sei, nach dessen Tod mehrere Mythen erzählt  : »Es waren immer die gleichen drei Geschichten, die Oma wiederholte  ; ich kam nie auf die Idee, Fragen zu stellen.«515 Zwei davon handelten vom nationalsozialistischen Konzentrationslager Auschwitz  : »Omas zweite Geschichte  : Erwin hängt während des Dritten Reiches an Hitlers Geburtstag die Reichsflagge des Kaisers aus dem Fenster und wird zur Strafe eine kurze Zeit zum Zwangsdienst als Arzt ins KZ Auschwitz versetzt. Wie lange genau, erzählte Oma nie.«516 2.3.1 Verfolgung und Verschleppung während der NS-Diktatur Dass sein Stiefgroßvater eine jüdische Mutter gehabt hatte und »nicht etwa ins KZ strafversetzt wurde, weil er ein kauziger Monarchist gewesen wäre«,517 erfuhr Lars Reichhardt erst im Zuge der Kontaktaufnahme durch den Enkelsohn von Görings Pflichtverteidiger und infolge seiner eigenen Recherchen  : »Opa war ›Halbjude‹ – schon das war mir neu.«518 In seinem Brief an Otto Stahmer thematisiert Erwin Valentin, der bis Ende September 1938 in der Yorckstraße 89a in Berlin eine Ordination betrieben hatte, zunächst die »Vorgeschichte«519 seiner Deportation  : »1937 war ich auf gemeine Denunziation zweier neidischer Kollegen bei der Aerztekammer angezeigt und von dieser ersucht worden, meinen Ariernachweis bei der Reichssippenstelle Berlin führen zu lassen. In vollkommen widerrechtlicher Weise wurde ich von dieser trotz meines lückenlosen Nachweises des Ariertums meines Vaters nicht, wie es richtig gewesen wäre, zum Halbjuden erklärt, sondern zum Volljuden gestempelt.«520 Dagegen legte Reichardts Stiefgroßvater, der am Ersten Weltkrieg als Offizier in der Armee des deutschen Kaiserreichs teilgenommen hatte, bei Hermann Göring Beschwerde ein, wie dem Brief an den Rechtsanwalt zu entnehmen ist  : »Mein Einspruch an Ihren Mandanten Göring, den ich noch persönlich als gewesener Oberleutnant kannte, als er noch mit ausgefranzten Hosen über die Strasse lief, nach dem ersten Weltkrieg, erfuhr eine Ablehnung durch ein von seinem Personalreferenten unterzeichnetes Schreiben, und eine Verweisung an den angeblich dafür zuständigen

514 Reichardt, Ein Mann mit Vergangenheit. 515 Ebd. 516 Ebd. 517 Ebd. 518 Ebd. 519 Erwin Valentin an Otto Stahmer. 520 Ebd.

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Innenminister Frick. Auf mein Gesuch an diesen Nazilumpen, habe ich nie eine Antwort bekommen.«521 Der Mediziner habe »finanziell nicht mehr weiter«522 gewusst und deshalb angeboten, als »Behandler«523 in einem der 37 Lager für Zwangsarbeiter tätig zu sein, die entlang der geplanten Trasse der »Reichsautobahn« zwischen Frankfurt an der Oder und der Stadt Poznań im besetzten Polen errichtet worden waren. Reichards Stiefgroßvater kam in das Barackenlager »Buchwerder Forst« bei Nowy Tomyśl, das »wahrscheinlich«524 ab Frühling 1941 bestand und ursprünglich für 288 Insassen vorgesehen war. In dem »Judenlager«525 waren männliche Juden aus dem Getto Lodz untergebracht. Sie wurden zu Rodungsarbeiten gezwungen und von zwei Ärzten medizinisch versorgt  : »Für die ärztliche Betreuung der Gefangenen war ein jüdischer Arzt verantwortlich, der ebenfalls Gefangener war. Darüber hinaus fertigte ein deutscher Arzt bei seinen Visitationen Krankenlisten an.«526 Erwin Valentin erwähnt in seinem Brief den aus Berlin stammenden Lagerführer Martin Stülpnagel  : »Hier sah ich mich gezwungen den Lagerführer, SA-Oberscharführer Stülpnagel bei der Gestapo anzuzeigen, weil er die den jüdischen Lagerinsassen zustehenden Zusatznahrungsmittel, Margarine, Wurst usw. grundsätzlich unterschlug und nach Hause schickte. Ich wusste selbstverständlich, was mir bevorstand und habe die Folgen meines heldischen Eintretens selbst abbüssen müssen.«527 1942 kam es schließlich zur Verhaftung des Lagerführers  : »Stülpnagel wurde der Diebstahl von zehn Kilo Fleisch und zwei Zentnern Butter nachgewiesen, die er zu seiner Familie ins ›Altreich‹ geschickt hatte  ; der deutsche Oberstaatsanwalt leitete ein Verfahren ein und verurteilte ihn zu 15 Monaten Gefängnis, während der ebenfalls beteiligte deutsche Wachmann Felix Göhlich zu zwölf Monaten verurteilt wurde.«528 Nach der Auflösung des Lagers »Buchwerder Forst«, die auf Juni 1942 datiert wurde,529 hielt sich Lars Reichardts Stiefgroßvater vorübergehend wieder in Berlin auf  : »Nach 1 ½ Monaten wurde ich zwangsweise laut Notdienstgesetz als Behandler an die jüdischen Arbeitslager nach Posen kommandiert. Die Lager unterstanden dem städtischen Tiefbauamt Posen.«530 Am 20. August 1942 wurde er festgenommen

521 Erwin Valentin an Otto Stahmer. 522 Ebd. 523 Ebd. 524 Diefenbach/Maćkowiak, Zwangsarbeit und Autobahn. 525 Ebd., S. 110. 526 Ebd. 527 Erwin Valentin an Otto Stahmer. 528 Diefenbach/Maćkowiak, Zwangsarbeit und Autobahn, S. 111. 529 Siehe ebd., S. 112. 530 Erwin Valentin an Otto Stahmer.

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und in das »berüchtigte«531 Lager eingeliefert, das in der ehemaligen preußischen Festung Fort VII in Poznań eingerichtet worden war  : »Beinahe 10 Wochen bin ich jeden Morgen zur Aufbauarbeit in das neugebaute Arbeits- und Erziehungslager Poggenburg bei Posen ausgerückt und habe dort täglich 8 Stunden lang, 24 heisse Ziegel direkt von der Brennerei auf dem Rücken in einer Kiepe im Laufschritt zu der 1250 Meter entfernten Baustelle tragen müssen. […] Dieses Fort VII war eine glänzende Vorschule für Auschwitz und hat mit seinen Grausamkeiten beinahe noch diese Hölle übertroffen.«532 Seinen eigenen Angaben zufolge wurde Reichardts Stiefgroßvater am 20. April 1943 nach Auschwitz deportiert, »als Jude registriert und erhielt die Nr. 122660 mit dem Judenwinkel auf dem linken Arm tätoviert.«533 Erwin Valentin musste 15 Wochen lang Zwangsarbeit im Straßenbau verrichten. In der Folge erkrankte er schwer an einer Lungen- und Rippenfellentzündung, verbrachte 16 Wochen im Krankenbaublock 9 und magerte von 86 auf 36 Kilogramm Körpergewicht ab  : »In dieser Krankheitszeit stand ich viermal zur sogenannten ›Selektion‹ für den Gasofen vor dem Lagerarzt. Auch hier war es nur ein Zufall, der mir das Leben rettete. Der Lagerarzt Rohde, ein selten roher SS-Patron, liess den bereits erhobenen Daumen, dessen Fall nach links den Tod bedeutete nach rechts sinken, als ihm der damalige Saalarzt Dr. Horwitz aus Berlin, als ich nackt vor ihm stand, gesagt hatte  : ›Herr Lagerarzt, ich kenne den Mann aus Berlin, der war Athlet und wird sich wieder erholen und ausserdem ist er Chirurg und wir brauchen einen Chirurgen  !‹ Somit war ich für diesesmal und für die folgenden Male gerettet und wurde dann als ›Pfleger‹, denn Aerzte gibt es keine unter den Häftlingen, eingesetzt und erhielt die Ambulanz des Krankenbaublockes Nr. 9 als mein Betätigungsfeld.«534 Erwin Valentin erlebte in Auschwitz die Befreiung durch sowjetische Soldaten am 27. Jänner 1945. Zwei Tage später verließ er gemeinsam mit 14 österreichischen Häftlingen zu Fuß das Lager und gelangte nach Krakau  : »Hier musste ich als Arzt im russischen Dienst an den Auffang- und Sammellagern bleiben.«535 Am 8. Mai 1945 fuhr er mit einem vom rumänischen Roten Kreuz betreuten Zug über Bukarest und Budapest nach Wien  : »In Wien musste ich leider über vier Monate bleiben, bis ich nach Registrierung durch die amerikanische Militärbehörde als Transportarzt mit dem ersten Zug ausgewiesener Reichsdeutscher nach Berlin in Marsch gesetzt wurde.«536 Am 23. November 1945 kam Lars Reichardts Stiefgroßvater in der deut531 Erwin Valentin an Otto Stahmer. 532 Ebd. 533 Ebd., siehe auch Memorial und Museum Auschwitz-Birkenau, URL  : http  ://auschwitz.org/en/mu seum/auschwitz-prisoners/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 534 Erwin Valentin an Otto Stahmer. 535 Ebd. 536 Ebd.

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schen Hauptstadt an  : »Abgesehen von den mir im K.Z. ausgeschlagenen und ausgetretenen 22 Zähnen, für die ich jetzt endlich Ersatz zu bekommen hoffe, bin ich gesund und will nochmals versuchen, eine Praxis wieder aufzubauen.«537 Auf der letzten Seite des Briefes begründet Erwin Valentin, warum er den Großteil der Deutschen für schuldig oder mitschuldig hielt. Lediglich »ein ganz kleiner Teil des deutschen Volkes«538 sei unschuldig, darunter Lars Reichards Großmutter mütterlicherseits  : »Die Frau, die ich demnächst nach ihrer hoffentlich nicht zu lange dauernden Scheidung heiraten werde, hat so zu mir gehalten und mir dauernd Päckchen und Briefe geschickt, obwohl es für sie stets gefährlich war. Und wenn ich auch dank der Gemeinheit der S.S. und der alten Spitzbuben von Mithäftlingen, die auf der Paketstelle im Lager sassen, nur ein einziges Päckchen erhalten habe, so habe ich ausser ihrem Wort Zeugen für ihre Taten  !  ! Und wie diese meine zukünftige Frau gibt es Tausende, die ihre Überzeugung durch die Tat bewiesen haben.«539 2.3.2 Durchbrechen des Schweigens Reichardt hatte den Stiefvater seiner Mutter als verschroben und unnahbar wahrgenommen  : »Ich habe ihn nie lächeln sehen. […] Er ist 86 Jahre alt geworden. Ich habe nicht geweint, als ich von seinem Tod gehört hatte. Fast hätte ich ihn vergessen.«540 Das Bild, das er sich von seinem »Opa Erwin« gemacht hatte, habe sich verändert, nachdem Lars Reichardt durch den Enkelsohn des Rechtsanwalts Otto Stahmer und die Kopie des Briefs, die ihm dieser übermittelte, erfahren hatte, dass der dritte Ehemann seiner Großmutter eine jüdische Mutter gehabt hatte und nach Auschwitz deportiert worden war  : »Ich verstehe nun, dass jemandem, der so viel Schreckliches erlebt hat, nicht danach war, mit Enkelkindern zu spielen.«541 Reichardt stellte sich in der Folge die Frage nach dem Grund für das Schweigen seiner Großeltern  : »Warum hat uns niemand von Opa Erwins Jahren in Auschwitz erzählt  ? Hat er die Details des erlebten Grauens auch seiner Frau verschwiegen  ? Um sie zu schonen  ? Um sich selbst zu schonen  ? Hat vielleicht sie wiederum nur ihre Tochter und später dann uns Enkelkinder mit der genaueren Schilderung verschonen wollen  ? Hat meine Oma vergessen, wie furchtbar Auschwitz für Opa war  ? Wollte einer von beiden oder wollten beide gemeinsam darüber schweigen, um eher vergessen zu können  ? Gab es sogar eine Abmachung zwischen den beiden  ? […] Aber auch nicht alle Auschwitz-Überlebenden konnten nach dem Krieg über ihre Erlebnisse 537 Erwin Valentin an Otto Stahmer. 538 Ebd. 539 Ebd. 540 Reichardt, Ein Mann mit Vergangenheit. 541 Ebd.

Herbert Kaar  : »Der Vater war nie ein Thema bei uns daheim«

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sprechen. Und wer wollte schon ernsthaft einem Mann, der selbst so viel Leid erlebt hatte wie Erwin, Vorschriften machen, wie er das erlebte Grauen zu bewältigen habe  ? Oder gab es einen ganz banalen Grund für Omas und Opas Schweigen  ? Oma war schon getrennt von Hans, ihrem zweiten Mann, aber noch mit ihm verheiratet, als sie schon um Erwins Leben in Auschwitz fürchtete. Vielleicht wollte sie uns glauben machen, sie hätte ihn erst nach Auschwitz kennengelernt. Anders wäre es ja nicht schicklich gewesen.«542

2.4 Herbert Kaar  : »Der Vater war nie ein Thema bei uns daheim« 543 Jahrzehntelang wusste der am 5. August 1941 in Linz geborene Herbert Kaar kaum etwas über die Lebensgeschichte seines jüdischen Vaters Hermann Charasch, in manchen Quellen auch als Charrasch oder Karasch bezeichnet  : »Until 2001 […] Kaar was not informed properly about his family background, over which a blanket of silence was dropped.«544 Kaars Eltern waren nicht verheiratet gewesen. Nach dem Tod seiner nichtjüdischen Mutter in den 1980er-Jahren begann er, sich verstärkt für die Lebensgeschichte seines ursprünglich aus Wien stammenden Vaters zu interessieren. Dieser war Ende 1942 im Lager Neusustrum, einem der 15 von den Nationalsozialisten in der Moorlandschaft der niedersächsischen Landkreise Emsland und Grafschaft Bentheim sowie im angrenzenden Nordrhein-Westfalen errichteten »Moorlager«, ermordet worden  : »Der Vater war nie ein Thema bei uns daheim. Meine Mutter ist 1986 gestorben. Wenn ich mit ihr geredet habe, dann hat sie meist zu weinen angefangen.«545 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich war es Charasch zunächst gelungen, der Verfolgungsmaschinerie zu entkommen. Er war an seiner Linzer Wohnadresse nicht polizeilich gemeldet. Eine ehemalige Lebensgefährtin, wie Kaars Mutter Nichtjüdin, zeigte ihn am 3. Februar 1941 bei der Außendienststelle Wiener Neustadt der Gestapo-Leitstelle Wien an. Mit ihr hatte Herbert Kaars Vater 1934 ein Kind in die Welt gesetzt. Am 28. Februar 1941 wurde Hermann Charasch in Linz von der Kriminalpolizei festgenommen und am darauffolgenden Tag ins Gefängnis des Landgerichts überstellt. Wegen Verstößen gegen das 1935 in Deutschland erlassene »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« machte ihm die gleichgeschaltete Justiz den Prozess. Mit diesem Gesetz hatte das Regime den außerehelichen »Verkehr zwischen Juden und Staats542 Reichardt, Ein Mann mit Vergangenheit. 543 Interview mit Herbert Kaar, Transkript S. 5. 544 Michael John, Fragment Charrasch (unveröffentlichtes Manuskript). 545 Interview mit Herbert Kaar, S. 5.

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angehörigen deutschen oder artverwandten Blutes«546 verboten. Es war einstimmig vom deutschen Reichstag beschlossen worden. Ihm liegt die nationalsozialistische Rassenideologie und deren vorgebliche »Erkenntnis, daß die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des deutschen Volkes ist«,547 zugrunde, »beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern«.548 Herbert Kaars Vater wurde am 13. Mai 1941 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und eine Woche später von Linz nach Niedersachsen verlegt. Dort kam er Mitte Dezember 1942 im Alter von 32 Jahren um. Im Herbst 1998 besuchte Kaar einen Vortrag des Historikers Michael John in der oberösterreichischen Landeshauptstadt, »der sich mit den Ursachen und Wurzeln des Antisemitismus in Linz befasste und damit, inwieweit die Propaganda im Dritten Reich den latenten Antisemitismus für ihre Zwecke zu nützen verstanden hatte, der beileibe nicht nur im Volk grassiert hatte.«549 John referierte auch über die »Nürnberger Gesetze« und zeigte dem Publikum zur Veranschaulichung Zeitungsberichte über Gerichtsverhandlungen. Darunter befand sich auch ein Artikel der Linzer »Tages-Post« vom 13. Mai 1941 über den Prozess gegen Hermann Charasch. Diesen Bericht hatte auch dessen Sohn Herbert Kaar im Nachlass der 1986 verstorbenen Mutter, »aufbewahrt in einer zerfledderten Handtasche«,550 gefunden  : »Ich war total ahnungslos und unvorbereitet, als ich in einem der Prozessberichte plötzlich den Artikel in der Zeitung erkannte, der mir aus der Tasche meiner Mutter damals in die Hände gefallen war.«551 Nach dem Ende des Vortrags meldete sich Kaar zu Wort  : »Ich zögerte, in der Öffentlichkeit hatte ich mich noch nie geoutet. Dann aber stand ich auf und gab mich als Sohn des Juden zu erkennen, der wegen Blutschande ins KZ gekommen war.«552 Michael John bot Kaar daraufhin an, für ihn »in den Archiven zu stöbern«,553 und übergab diesem wenige Tage später »eine Fülle von Unterlagen in Kopie, die den Zeitraum von der Verhaftung meines Vaters bis zu seiner Überstellung in das KZ betrafen. […] Damit war das Dunkel über den Weg meines Vaters in den Tod zum Großteil gelichtet. […] Der Historiker, der mir die Kopien besorgt hatte, wies übrigens entrüstet jede Abgeltung seiner aufgewendeten Mühe zurück.«554 Herbert Kaar, 546 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.9.1935, Reichsgesetzblatt, Jg. 1935, Teil 1. 547 Ebd. 548 Ebd. 549 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 221 f. 550 Ders., Im Aschermoor, S. 2. 551 Ders., Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 222. 552 Ebd., S. 250 f. 553 Ebd., S. 256. 554 Ebd., S. 257.

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der eine Schlosserlehre absolviert und in verschiedenen Bereichen der damaligen Stadtbetriebe Linz gearbeitet hatte, veröffentlichte 2010 ein autobiografisches Buch. Darin setzt er sich auch literarisch mit der Geschichte seines Vaters auseinander  : »Der fehlende Vater, über den auch nie jemand sprach, war eigentlich über Jahre für mich als Kind kein Thema. […] Ich verschwieg ihn, drängte ihn beharrlich aus meinem Leben, als habe es ihn nie gegeben.«555 2.4.1 Kaars jüdische Vorfahren Herbert Kaars Großeltern väterlicherseits stammten aus Regionen, die seit 1991 zur Ukraine gehören  : Seine Großmutter Charlotte Isser, in manchen Quellen auch als Lotti oder Lea angeführt, wurde »angeblich am 2. Juli 1882«556 in Sadagora, acht Kilometer vom Stadtzentrum von Czernowitz entfernt, in der Bukowina geboren, die bis 1918 eines der Kronländer der Habsburgermonarchie bildete. Sein Großvater Bernhard Charasch, »angeblich Sohn des Joel Charasch und der Rebekka […] Teitelbaum«,557 kam am 27. Oktober 1878 in Poryck in der historischen Landschaft Wolhynien, die bis 1921 ein Teil Russlands war, zur Welt. In Lehmann’s WohnungsAnzeiger findet sich 1909 in Wien erstmals ein »Charasch Bernhard, Agent«558 verzeichnet. Ab 1919 ist neben dem Namen der Vermerk »Reisender«559 zu finden. Im Urteil des Landgerichts Linz vom 13. Mai 1941 wird Bernhard Charasch als »Kaufmann in Wien«560 bezeichnet. Hermann Charasch, Herbert Kaars Vater, wurde am 4. August 1910 als uneheliches Kind in der Burghardtgasse 6 im 20. Wiener Gemeinde-Bezirk geboren.561 Im Geburtsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde findet sich in der Spalte »Der Mutter Vor- und Zuname, Geburts-Ort und Land« der Eintrag »Angeblich  : Lea Isser, israel.«.562 1918 übernahm Kaars Großvater väterlicherseits die Vaterschaft für Hermann Charasch  : »Bernhard Charasch, Reisender, mosaisch, […] hat sich am 11. IV.1918 bei dem Matrikelamte der israelitischen Kultusgemeinde in Wien 555 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 257. 556 GB für die IKG in Wien, 1910, Zahl 1601, Archiv IKG Wien. In den jüdischen Matriken findet sich als Geburtsdatum auch der 10.6.1882. 557 Ebd. 558 Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, Wien 1909, Bd. 2, URL  : https  ://www.digital.wienbib liothek.at/wbrobv/periodical/search/2316398?query=charasch+bernhard (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 559 Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, Wien 1909, Bd. 2, URL  : https  ://www.digital.wienbiblio thek.at/wbrobv/periodical/pageview/2398323?query=charasch%20bernhard (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 560 Urteil gegen Hermann Charasch Landgericht Linz als »Sondergericht«, datiert 13.5.1941, Anklagebehörde, OÖLA, K Ls 127/41. 561 Siehe GB IKG Wien, 1910, Zahl 1601, Archiv IKG Wien. 562 GB IKG Wien, 1910, Zahl 1601, Archiv IKG Wien.

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vor zwei Zeugen als Vater erklärt und die Eintragung seines Namens ausdrücklich verlangt.«563 Zwei Wochen vorher hatten Bernhard Charasch und Charlotte Isser geheiratet  : »Die Kindeseltern haben laut Trauungsurkunde der israel. Militärseelsorge in Wien am 26. III. 1918 die Ehe geschlossen.«564 Hermann Charasch hatte insgesamt fünf Geschwister  : drei ältere Schwestern sowie einen älteren und einen jüngeren Bruder. In dem am Landgericht Linz aufgesetzten Protokoll der Einvernahme von Anfang März 1941 wird Charasch mit folgenden Worten zitiert  : »Mein Vater betrieb einen Tuchhandel in Wien. Er war aus dem früher russischen Gebiet nach Österreich gekommen. Von ihm weiss ich, dass sein Vater, also mein Grossvater, nicht Jude gewesen sein soll. Die Mutter meines Vaters ist, soweit mir bekannt ist, Jüdin gewesen. Meine Grosseltern mütterlicherseits waren beide Juden.«565 In dem Schriftsatz wurde darüber hinaus auch festgehalten, dass Hermann Charasch nach seiner Geburt bei einer fremden Familie gelebt hat  : »Die ersten 4 Jahre meines Lebens habe ich nicht bei meinen Eltern, sondern bei einer Familie zugebracht, zu der ich in Kost gegeben war. Näheres weiss ich hierüber nicht. Danach war ich bis zu meinem 14. Lebensjahr bei meinen Eltern in Wien. Dort habe ich die Volks- und Bürgerschule und 2 Klassen Realgymnasium besucht. Von dieser Schule musste ich abgehen, weil infolge des Todes meines Vaters die erforderlichen Mittel nicht mehr zur Verfügung standen.«566 Die Recherchen von Herbert Kaar ergaben, dass sein Vater die ersten Lebensjahre »bei Pflegeeltern im damaligen Böhmen«567 verbracht hatte. 2.4.2 Widersprüchliche Angaben in den Quellen Bernhard Charasch, Kaars Großvater väterlicherseits, zuletzt wohnhaft in der Rögergasse 21 im neunten Bezirk, starb am 22. November 1926 im Alter von 48 Jahren im Wiener Wilhelminenspital und wurde zwei Tage später in der Israelitischen Abteilung des Zentralfriedhofs begraben. Zum Verbleib von Charlotte Charasch finden sich in den Quellen widersprüchliche Hinweise, die auf einer Ungenauigkeit der Polizei beruhen  : In den jüdischen Matriken ist vermerkt, dass Kaars Großmutter am 28. Februar 1937 54-jährig in ihrer Wohnung in der Rögergasse verstarb und am 2. März in demselben Grab wie ihr Ehemann am Wiener Zentralfriedhof bestattet

563 GB IKG Wien, 1910, Zahl 1601, Archiv IKG Wien. 564 Ebd. 565 Vernehmung des Beschuldigten Hermann Charasch, Landgericht Linz, datiert 4.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 566 Ebd. 567 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 209.

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Abb. 10  : Die Polizeifotos von Hermann Charasch aus dem Akt der Kriminalpolizei.

wurde.568 In dem im April 1941 angelegten Akt der Kriminalpolizei Linz wurde hingegen niedergeschrieben, die Identität von Hermann Charasch »steht einwandfrei fest, weil der Genannte nach dem Lichtbilde von seiner Mutter mit Bestimmtheit wiedererkannt wurde«.569 Dieses Lichtbild war im Zuge der erkennungsdienstlichen Behandlung am 1. März 1941 in Linz aufgenommen worden (siehe Abb. 10). Als Wohnadresse von Charlotte Charasch, geborene Isser, ist in dem Akt »Wien, IX., Rögergasse Nr. 21/IV/15«570 angegeben, ihre letzte Anschrift. Allerdings hatte der Erkennungsdienst der Kriminalpolizeistelle Linz die Kriminalpolizeileitstelle Wien am 1. März 1941 »um Persönlichkeitsfeststellung nach dem Lichtbilde durch seine in Wien, XX., Wintergasse Nr. 3 wohnhafte Schwester namens Antonie Charasch«571 ersucht. Es erscheint daher plausibel, dass Hermann Charasch von seiner Schwester und nicht von seiner verstorbenen Mutter anhand der Fotos identifiziert wurde. In den Quellen tauchen weitere Widersprüche auf  : So ist beispielsweise auf der Anzeigekarte, die am Tag der Festnahme von Hermann Charasch in Linz Ende Februar 1941 ausgefüllt wurde, dessen Vater Bernhard Charasch mit dem Vornamen Georg angeführt. Anstelle des tatsächlichen Mädchennamens der Mutter Charlotte Charasch, der Isser lautet, ist Reichetzeder angegeben. Reichezeder war der Mädchenname von Rosina Kaar, Herbert Kaars Großmutter mütterlicherseits aus Al-

568 Siehe GenTeam. Die genealogische Datenbank, URL  : https  ://www.genteam.at/index.php?option=com_ db53&id=372964&limitstart=10&n=charasch&v=&view=detail&lang=de (letzter Zugriff  : 5. 5.2020). 569 1. Blatt kriminalpolizeiliche Strafakte Hermann Charasch, datiert 8.4.1941, OÖLA, Restbestand Sicherheits-Direktion Linz, Zahl 3639/41, Schachtel 30. 570 Ebd. 571 Ersuchen Kriminalpolizeistelle Linz an Kriminalpolizeileitstelle Wien um Personsfeststellung, d ­ atiert 1.3.1941, Kriminalpolizeiliche Strafakte Hermann Charasch, OÖLA.

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Abb. 11  : Der polnische Reisepass mit der Nummer 3872/36/32.297.

berndorf in Oberösterreich. Wie es dazu kam, dass diese falschen Namen Eingang in den Polizeiakt gefunden haben, ist nicht mehr rekonstruierbar. Auch zur Staatsangehörigkeit von Hermann Charasch finden sich unterschiedliche Angaben  : Auf der Anzeigekarte von Ende Februar 1941 ist »staatenlos, früher Brody, Polen« vermerkt, in der kriminalpolizeilichen Strafakte vom 8. April 1941 am ersten Blatt »russischer Staatsangehöriger«, auf der Strafregisterbescheinigung »Zuständig nach  : Brody, Polen«, im Vernehmungsbogen der Kriminalpolizei Linz unter Punkt drei »Geboren Brody, Rußland, früher Polen« und unter Punkt fünf »staatenlos, kann selbst keine Angaben machen« sowie im schriftlichen Urteil vom 13. Mai 1941 wieder »staatenlos«. 1936 hatte das Wiener Konsulat der Republik Polen Hermann Charasch darüber informiert, dass er Anspruch auf die polnische Staatsbürgerschaft habe, da er »das Heimatrecht in einer der Gemeinden auf dem Gebiet des Polnischen Staats, der zuvor einen Teil des Österreichischen oder Ungarischen Staats darstellte, hat.«572 Charasch besaß einen 1936 vom polnischen Konsulat in Wien ausgestellten Reisepass, der am 30. April 1938 abgelaufen ist und sich 572 Gesetz über die Staatsangehörigkeit des Staates Polen vom 20. Jänner 1920, Artikel 2, URL  : https  :// de.yourpoland.pl/userfiles/pdfs/ustawa-1920-de.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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im Besitz der Familie Kaar befindet (siehe Abb. 11). Herbert Kaar nimmt an, dass es sich bei diesem Pass um eine Fälschung handelt.573 2.4.3 Gerichtliche Verurteilungen in den 1920er- und 1930er-Jahren In dem im März 1941 verfassten Gerichts-Protokoll wird auch auf die vom frühen Tod des Vaters überschattete Jugendzeit von Hermann Charasch in den 1920er-Jahren Bezug genommen. Diese bestand nach dem vorzeitigen Ende der Schulausbildung aus Lehr- und Wanderjahren  : »Ich habe dann in Wien das Schneiderhandwerk erlernt. Danach habe ich in Wien, ferner im Altreich und auch in Frankreich und Belgien als Schneidergehilfe gearbeitet. Zeitweise war ich auch arbeitslos.«574 In der Zeit zwischen Sommer 1927 und Sommer 1935, die von grassierender Armut, zunehmenden Spannungen zwischen den politischen Parteien und der Weltwirtschaftskrise geprägt war, wurde der ledige Schneidergehilfe wegen unterschiedlicher Delikte zu mindestens 13 Gefängnisstrafen jeweils im Ausmaß von 24 Stunden bis vier Monaten verurteilt  : »Er hat natürlich einige Delikte gehabt, unerlaubten Grenzübertritt und solche Sachen, aber das war ja damals gang und gäbe. In den 1920er-Jahren war ja Europa fast grenzenlos, da hast du ja überall hingehen können. Aber der Antisemitismus war auch schon in manchen Ländern vorhanden.«575 Im Akt der Anklagebehörde beim »Sondergericht« für den Oberlandesgerichtsbezirk Linz, die 1941 den Prozess wegen »Rassenschande« gegen Charasch vorbereitete, ist auch ein von der Kriminalpolizeileitstelle Wien erstellter handschriftlicher Strafregisterauszug enthalten. Darauf sind 12 dieser Schuldsprüche aufgelistet. Im Akt der Kriminalpolizeistelle Linz, der im Zuge der Ermittlungen wegen »Rassenschande« im Frühjahr 1941 geführt wurde, findet sich ein mit Schreibmaschine verfasster Auszug. Die Datumsangaben zweier Prozesse weichen darin von denen in der handschriftlichen Auflistung ab  : Statt 14. Februar 1928 wurde 14. November 1928 eingetragen und statt 4. September 1931 steht 9. April 1931 geschrieben. Die Angaben in der maschinschriftlichen Strafregisterbescheinigung stimmen wiederum exakt überein mit denen in einer 1946 erstellten Auskunft.576 Darauf beruht auch die folgende Übersicht  : Die erste der Verurteilungen datiert vom 19. September 1927. Ein Jugend-Schöf­ fengericht verurteilte den 17-jährigen Hermann Charasch in Nürnberg wegen Passvergehen und Bettelei zu einem Tag Gefängnis und einem Tag Haft. Für das 573 Interview mit Herbert Kaar, S. 4. 574 Vernehmung des Beschuldigten Hermann Charasch. 575 Interview mit Herbert Kaar, S. 8. 576 Auskunft des Strafregisteramts, PDion Wien, datiert 16.10.1946, OfA Theresia Kaar, OÖLA, Kopie im Besitz von Herbert Kaar.

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darauffolgende Jahr sind zwei Verurteilungen dokumentiert  : die erste zu 12 Tagen Gefängnis und zehn Jahren Kantonsausweisung wegen Ordnungsvergehen und Diebstahl, verhängt am 29. Juni 1928 vom Bezirksgericht Brugg im Schweizer Kanton Aargau, und die zweite zu 14 Tagen Haft wegen Vergehen gegen Passvorschriften, ausgesprochen vom Amtsgericht Passau am 14. November 1928. Nach den Verurteilungen in Mittelfranken, in der Nordschweiz und im Osten Bayerns erfolgte am 16. März 1929 die erste in Österreich  : Am oberösterreichischen Bezirksgericht Perg wurde Herbert Kaars Vater wegen eines Verstoßes gegen das Vagabundengesetz zu 24 Stunden strengem Arrest verurteilt. Acht weitere Verurteilungen durch österreichische Gerichte scheinen für den Zeitraum von Anfang Dezember 1930 bis Ende August 1935 auf  : vier in Wien und je eine in Salzburg, Oberösterreich, Niederösterreich und Tirol. Am Landesgericht für Strafsachen Wien I wurde der inzwischen 20-jährige Hermann Charasch am 6. Dezember 1930 schuldig gesprochen, Diebstähle minderer Art, mindere Veruntreuungen und Betrügereien begangen zu haben. Das Urteil lautete auf vier Monate Kerker. Am 8. März 1931 folgte am Bezirksgericht im zehnten Wiener Gemeinde-Bezirk eine Verurteilung zu fünf Tagen Arrest nach dem Vagabundengesetz und, wegen Diebstählen minderer Art, auch nach dem Strafgesetz. Drei Tage Arrest lautete am 4. September 1931 der Schuldspruch nach dem Vagabundengesetz am Bezirksgericht Hallein in Salzburg. Am 27. Juli 1931 wurde Charasch erneut am Landesgericht für Strafsachen Wien I zu zwei Monaten strengem Arrest wegen minderer Veruntreuungen und Betrügereien verurteilt. Nach der Vernehmung von Herbert Kaars Vater am Landgericht Linz im März 1941 wurde zu Protokoll gebracht, dass dieser 1931 auch wegen Passvergehen von einem Gericht im nordfranzösischen Lille zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt worden war. Am Landesgericht Wien erfolgte am 30. März 1932 ein Schuldspruch wegen Diebstahl »während einer Feuersbrunst, Wassernoth, oder eines anderen gemeinen oder dem Bestohlenen insonderheit zugestoßenen Bedrängnisses«577 und wegen eines Verstoßes gegen die Meldevorschriften. Charasch erhielt erneut eine Haftstrafe im Umfang von vier Monaten schwerem Kerker. Eineinhalb Jahre später, am 29. September 1933, verurteilte ihn das Kreisgericht im oberösterreichischen Wels wegen Diebstahl »an versperrten Sachen«578 zu zwei Monaten Kerker. Zwei weitere Verurteilungen, beide nach dem Vagabundengesetz, sind für das Jahr 1935 aufgelistet  : die erste am Bezirksgericht St. Pölten in Niederösterreich vom 22. März zu 24 Stunden Arrest und die zweite am Bezirksgericht Landeck in Tirol vom 30. August zu drei Tagen Arrest. 577 Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Übertretungen vom 1.9.1852, § 174 II a, URL  : https  :// www.sbg.ac.at/ssk/bgbl/Strafgesetz%201852-wiki.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 578 Ebd., § 174 II d.

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Zwischen seinem 17. und 25. Lebensjahr war Hermann Charasch den Angaben der Polizei und seinen gerichtlich protokollierten Aussagen zufolge 13 Mal verurteilt worden. Im Vernehmungsbogen der Linzer Kriminalpolizei, der Ende Februar 1941 angelegt worden war, ist unter Punkt 18 über Vorstrafen vermerkt  : »angeblich mit 4 Monat schw. Kerker wegen Diebstahl und 6 Wochen wegen Paßvergehen.«579 2.4.4 Liebesverhältnisse von Herbert Kaars Vater Entsprechend den Aussagen von Hermann Charasch, die im März 1941 am Landgericht Linz protokolliert wurden, hielt dieser sich ab 1933 »wieder in der Ostmark auf und zwar vorwiegend in Wien.«580 Seine Festnahme 1941 in Linz war aufgrund der Aussagen zweier Frauen erfolgt. Bei einer der beiden handelt es sich um seine ehemalige Lebensgefährtin Franziska Reisinger, geboren am 5. Jänner 1911 in Lend im Salzburger Pinzgau. Die »chemische Büglerin« und der Schneidergehilfe lernten sich 1933 in Salzburg kennen. Sie lebten knapp sechs Jahre lang zusammen, wie Reisinger im Februar 1941 in der Außenstelle der Gestapo-Leitstelle Wien in Wiener Neustadt zu Protokoll gab. Dort war sie unaufgefordert erschienen  : »Ich habe vom August 1933 bis Ende Mai 1939 mit dem Volljuden Hermann Charasch […] im gemeinsamen Haushalt gelebt. Bis zum Umbruch 1938 waren wir ständig auf Wanderschaft, anschließend haben wir in Linz-Steg, Freistädterstr. 5, gewohnt. Ich habe von dem Juden ein Kind, […] 34 in Wien geboren.«581 Während seiner gerichtlichen Vernehmung Anfang März 1941 gab Charasch zu Protokoll, dass Reisinger »von früher«582 gewusst habe, dass er Jude ist. Von 23. bis 26. Mai 1938 war er in der Gemeinde Ebelsberg, die am 1. November 1938 nach Linz eingemeindet wurde, gemeldet.583 Im Protokoll der kriminalpolizeilichen Einvernahme, der Hermann Charasch nach seiner Festnahme von Kriminalsekretär Franz Gamnitzer am 28. Februar 1941 in Linz unterzogen worden war, sind auch seine Angaben über die Übersiedlung nach Oberösterreich dokumentiert  : »Ich kam 3 Wochen nach der Machtübernahme 1938 nach Linz und nahm in der Freistädterstrasse 5 bei Familie Schmiedhuber Aufenthalt. In meiner Gesellschaft befand sich die Franziska Reisinger […]. Im Mai 1939 löste ich das Verhältnis mit der Reisinger und gab mit ihr den gemeinsamen Haushalt auf.«584 579 Vernehmungsbogen Kriminalpolizei Linz, datiert 28.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 580 Vernehmung des Beschuldigten Hermann Charasch. 581 Niederschrift Aussage Franziska Reisinger, Gestapo, Außenstelle Wiener Neustadt, datiert 3.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 582 Fortgesetzte Vernehmung Hermann Charasch, Landgericht Linz, datiert 4.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 583 Siehe Meldebuch Ebelsberg 1933–1939, M 89d/253, Nr. 2778, Archiv Stadt Linz. 584 Protokoll Vernehmung Hermann Charasch, Kriminalpolizei Linz, datiert 28.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA.

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Aus der verschriftlichten Aussage von Hermann Charasch geht hervor, dass dieser im Herbst 1938 Herbert Kaars Mutter zufällig in einem Linzer Gasthaus »anlässlich meines Krankenstandes bei der Arbeiter-Krankenkasse in der Bethlehemstrasse kennen lernte. Es entwickelte sich zwischen uns beiden ein Liebesverhältnis, das derartige Folgen annahm, dass sie von mir glaublich im September 1938 geschwängert wurde. Weder die Kaar noch die Reisinger wussten, dass ich mit beiden zu gleicher Zeit ein Liebesverhältnis hatte.«585 Theresia Kaar, geboren am 31. Juli 1908 in der Ortschaft Zeurz in Alberndorf in der Riedmark, war römisch-katholisch getauft worden. Sie arbeitete als Küchengehilfin im Hotel »Goldene Kanone« in der Linzer Landstraße. Im Gerichtsurteil vom 13. Mai 1941 wird der Zeitpunkt, zu dem die Beziehung zwischen Charasch und Kaar begann, mit April 1938 angegeben.586 Nach Theresia Kaars Vernehmung Ende Februar 1941 wurde schriftlich festgehalten, Charasch habe ihr im Herbst 1938 versprochen, sie »zu ehelichen«  :587 Als Herbert Kaars Mutter bemerkte, dass sie »in anderen Umständen« sei, habe sie »auf Verehelichung« gedrängt  : »Zu diesem Zeitpunkt war mir jedoch nicht bekannt, dass Charasch ein Jude ist. Ich ersuchte nun den Charasch sich seine Dokumente zu verschaffen, damit Vorbereitungen für die Verehelichung getroffen werden können.«588 Dieser habe jedoch keine Anstalten gemacht, die dafür notwendigen Dokumente zu besorgen. Herbert Kaars Mutter beendete wegen der Schwangerschaft ihr Dienstverhältnis als »Küchenmagd«589 und mietete »mit Zustimmung des Charasch«590 eine Wohnung in Harbach im Linzer Stadtteil Urfahr. Im Mai 1939 brachte sie ein Mädchen zur Welt. Am 19. Juni 1939 wurde Hermann Charasch von seiner bisherigen Wohnadresse in der Freistädterstraße 5 »unbekannt wohin abgemeldet«.591 Herbert Kaars Vater gab dem Meldeamt seinen neuen Wohnsitz nicht bekannt, weil er »dadurch verhindern wollte, als Jude erkannt zu werden«.592 Charasch übersiedelte in die Wohnung seiner Lebensgefährtin Theresia Kaar  : »Seit Juni 1939 wohne ich in Harbach, wo ich dem Schneiderhandwerk nachgehe. Es ist allgemein nicht bekannt, dass ich Jude bin. Ich bin in Harbach nicht polizeilich gemeldet. Bei der im Oktober durchgeführten Volkszählung habe ich die Spalten der Haushaltsliste, die sich mit dem Bekenntnis und der Abstammung befassen, nicht ausgefüllt.«593 Lebensmittel585 Protokoll Vernehmung Hermann Charasch, Kriminalpolizei Linz, datiert 28.2.1941. 586 Urteil Landgericht Linz als »Sondergericht«, datiert 13.5.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 587 Protokoll Vernehmung Theresia Kaar. 588 Ebd. 589 Geburtsurkunde Elsa Antonia Kaar, OfA Theresia Kaar, OÖLA, OF 226/1988, Kopie im Besitz von Herbert Kaar. 590 Protokoll Vernehmung Theresia Kaar. 591 1. Bericht Kriminalsekretär Franz Gamnitzer, datiert 28.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 592 Protokoll Vernehmung Hermann Charasch. 593 Vernehmung des Beschuldigten Hermann Charasch.

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karten konnte er als »U-Boot« für sich nun keine mehr beziehen.594 Im schriftlichen Urteil, das am 13. Mai 1941 am Landgericht Linz erging, heißt es fälschlicherweise, Hermann Charasch lebte bereits »seit 1938 in Linz-Harbach«.595 Wie bereits vor der Geburt ihrer Tochter, forderte Theresia Kaar ihren Lebensgefährten auch nach der Entbindung auf, sie zu heiraten  : »Erst jetzt als die Kaar abermals zum Heiraten drängte, mußte ich ihr gestehen, dass ich ein Jude bin. Sie hatte mir darauf nichts zu erwidern nur hatte ich den Eindruck, dass ihr meine Mitteilung sehr peinlich war. Der gemeinsame Haushalt wurde trotzdem fortgesetzt und sorgte ich nicht nur für die Mutter, sondern auch in fürsorglicher Weise für das Kind.«596 Die verschriftlichten Äußerungen von Theresia Kaar, die am Tag der Festnahme von Hermann Charasch einvernommen worden war, zeichnen ein ähnliches Bild  : »Trotzdem mir schon bekannt war, dass Charasch ein Jude ist, gab ich mit ihm die Gemeinschaft nicht auf und zwar aus diesem Grunde, weil ich keine Stütze gehabt, die für das Kind gesorgt hätte. Er war für das Kind ein guter Vater und hat auch immer für mich und dem Kinde gesorgt.«597 Theresia Kaars Verwandte im Mühlviertel seien mit der Beziehung nicht einverstanden gewesen  : »In der Verwandtschaft war sie der letzte Dreck, weil sie sich mit einem Juden eingelassen hat.«598 Hermann Charasch arbeitete »bis zum Schluss«599 für ein Linzer Bekleidungsgeschäft. Seine Tätigkeit als Schneider bescherte ihm »immer einen schönen Ver­ dienst«.600 Nachdem er zunächst als Schneidergehilfe beschäftigt war, arbeitete er später von zu Hause aus  : »Ich betrieb mein Geschäft, allerdings ohne Gewerbeschein  ; auch die Meisterprüfung habe ich nicht abgelegt. Den Gewerbeschein hätte ich auch nicht bekommen, da ich Jude bin.«601 Während des Verhörs am 28. Februar 1941, dem Tag seiner Festnahme, gab Charasch an, monatlich 200 Reichsmark verdient zu haben. Im Zuge der gerichtlichen Vernehmung zwei Tage später wurden 300 bis 400 Reichsmark pro Monat festgehalten. Nach dem Gespräch, in dessen Verlauf Charasch ihr gestanden hatte, dass er einer jüdischen Familie entstamme und sie »aus diesem Grunde nicht heiraten kann«,602 war auch Theresia Kaar bewusst, dass ihre Lebensgemeinschaft gegen die in Gesetzesform gegossene nationalsozialistische Rassenideologie verstieß  : »Die polizeiliche Anmeldung mußte ich unterlassen, weil man darauf gekommen wäre, dass ich mit ei594 Siehe Aussage Hermann Charasch, datiert 5.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 595 Urteil Landgericht Linz als »Sondergericht«, datiert 13.5.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 596 Protokoll Vernehmung Hermann Charasch. 597 Protokoll Vernehmung Theresia Kaar. 598 Interview mit Herbert Kaar, S. 6. 599 Ebd., S. 4. 600 Protokoll Vernehmung Hermann Charasch. 601 Vernehmung des Beschuldigten Hermann Charasch. 602 Protokoll Vernehmung Theresia Kaar.

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nem Juden zusammenlebe.«603 Wenige Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes wurde sie erneut schwanger. Franziska Reisinger, die zu dieser Zeit noch in Linz lebte, gab in ihrer Anzeige gegenüber der Gestapo in Wiener Neustadt an, von Hermann Charasch gedrängt worden zu sein, das Verhältnis wieder aufzunehmen  : »Nachdem die neue Geliebte des Juden mit dem 2. Kind schwanger war, versuchte mich der Jude wiederholt zur neuerlichen Aufnahme der Lebensgemeinschaft zu bewegen, was ich aber immer wieder ablehnte. Am 9.9.1940 verließ ich meinen Wohnort und Arbeitsplatz in Linz und zog nach Wr. Neustadt, um vor dem Juden meine Ruhe zu finden. […] Ich befürchte, daß mich der Jude weiter belästigen wird.«604 Am 11. Juni 1940 war das zweite Kind von Theresia Kaar und Hermann Charasch, ein Sohn namens Franz, zur Welt gekommen  : »Der Schneidermeister Hermann Karasch, mosaisch, deutscher Staatsangehöriger, wohnhaft in Linz a. d. Donau, hat am 12. August 1940 vor dem Amtsgerichte Urfahr […] die Vaterschaft zu dem obenbezeichnetem Kinde anerkannt.«605 Gegen Ende des Jahres 1940 wurde Kaar erneut schwanger. Ihr drittes Kind, Herbert Kaar, sollte erst nach der Festnahme, Verurteilung und Verschleppung von Charasch nach Neusustrum geboren werden und seinen Vater nie zu Gesicht bekommen. »Die Lebensgemeinschaft war eine sehr gute«,606 wie nach Theresia Kaars Vernehmung am Tag der Festnahme ihres Lebensgefährten zu Protokoll gebracht wurde. Dieser habe »auch für uns immer gesorgt.«607 In ähnlichen Worten wird die Aussage von Hermann Charasch in der Niederschrift seiner Vernehmung wiedergegeben, in der er mit den Worten zitiert wird, für seine Kinder immer gesorgt zu haben, auch für den Sohn, der aus der Beziehung mit Franziska Reisinger entsprungen und zum Zeitpunkt der Festnahme sechs Jahre alt war  : »Die monatlichen Alimente betrugen RM 40, die ich freiwillig zahlte.«608 Dass ihr Lebensgefährte Unterhaltszahlungen für das Kind aus einer früheren Beziehung leistete, wusste Theresia Kaar  : »Mir war bekannt, dass Charasch mit der Franziska Reisinger in Wien ein Verhältnis hatte, aus welchem ebenfalls ein Kind entsproß. […] Auch für dieses hat er gesorgt. […] Erst als ich mit Charasch das Verhältnis aufnahm, löste er die Gemeinschaft mit Reisinger auf.«609

603 Protokoll Vernehmung Theresia Kaar. 604 Niederschrift Aussage Franziska Reisinger. 605 Geburtsurkunde Franz Kaar, OfA Theresia Kaar, OÖLA, Kopie im Besitz von Herbert Kaar. 606 Protokoll Vernehmung Theresia Reisinger, Kriminalpolizei Linz, datiert 28.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 607 Ebd. 608 Protokoll Vernehmung Hermann Charasch. 609 Protokoll Vernehmung Theresia Kaar.

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2.4.5 Anzeige, Ermittlungen und Festnahme 1941 In der Niederschrift der von Franziska Reisinger erstatteten Anzeige, die Anfang Februar 1941 die Ermittlungen gegen Hermann Charasch ins Rollen gebracht hatte, wird Charasch bezichtigt, seiner früheren Lebensgefährten gedroht zu haben  : »Ich getraute mich erst nicht, gegen ihn die Anzeige zu machen, weil er mir immer drohte, daß er bei einer eventuellen Festnahme angeben wird, daß ich trotz der Kenntnis, daß er Jude ist, das rassenschänderische Verhältnis fortgesetzt habe.«610 Bei der zweiten Frau, deren Taten und Aussagen schließlich zur Festnahme von Hermann Charasch führen sollten, handelt es sich um die am 15. Dezember 1909 in Graz geborene Genoveva Mitteregger. Sie lebte in der niederösterreichischen Stadt Wiener Neustadt  : »Ich wurde im Jahre 1936 in Wr.-Neustadt, in der Herzog Leopoldstrasse vom Volljuden Hermann Charasch angesprochen. Damals wusste ich nicht, dass Charasch Volljude ist. Charasch war zu jener Zeit in Wr.-Neustadt wohnhaft. […] Die Franziska Reisinger ist mir schon aus dem Jahre 1932 von Salzburg her bekannt.«611 Wie aus dem von der Gestapo Wiener Neustadt angefertigten Schriftsatz hervorgeht, gab Genoveva Mitteregger an, im »September oder Oktober 1940«612 zufällig Franziska Reisinger in der Neunkirchner Straße in Wiener Neustadt getroffen zu haben. In dieser Geschäftsstraße lag auch Mittereggers Wohnung  : »Franziska R. ersuchte mich damals, ob sie nicht bei mir eine Wohnung mit Kost haben könne. Ich sagte ihr zu. Mein Mann war zu jener Zeit eingerückt. Die Wohnung hatte die Reisinger jedoch nicht bei mir bezogen, sondern sie kam nur zum Essen.«613 Im Jänner 1941 sei der »Volljude« Hermann Charasch zu ihr gekommen. Dieser habe sie aufgefordert, ihm Geld auszufolgen, das sich im Besitz von Franziska Reisinger, die von 15. bis 29. Jänner 1941 wegen »Arbeitsflucht« eine zweiwöchige Gefängnisstrafe verbüßte, befinden würde. Mitteregger habe geantwortet, nicht zu wissen, »ob die Reisinger ein Geld besitze. […] Als der Jude bemerkte, dass er kein Geld von mir bekommen konnte, verließ er auf raschem Weg meine Wohnung. Ich wollte die Hausbesorgerin verständigen, die jedoch nicht in ihrer Wohnung anwesend war.«614 Daraufhin sei sie zum Polizeirevier in der Wienerstraße gegangen, um Anzeige zu erstatten  : »Die dortige Polizei verwies mich jedoch auf die Geheime Staatspolizei. Ich ging nicht zur Geheimen Staatspolizei, sondern forderte die Franziska Reisinger auf, selbst die Anzeige bei der Geheimen Staatspolizei zu machen,

610 Niederschrift Aussage Franziska Reisinger. 611 Niederschrift Aussage Genoveva Mitteregger, Gestapo, Außenstelle Wiener Neustadt, datiert 10.2. 1941, Anklagebehörde beim »Sondergericht« für den Oberlandesgerichtsbezirk Linz, OÖLA. 612 Ebd. 613 Ebd. 614 Ebd.

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damit sie endlich einmal von dem Juden Ruhe finde. Diese Anzeige erstattete sie jedoch erst auf weiteres Drängen.«615 Während der gerichtlichen Vernehmungen am 2. und 4. März 1941 wurde Hermann Charasch auch zu der von Mitteregger zu Protokoll gegebenen Begegnung in Wiener Neustadt befragt. Seine Schilderung unterscheidet sich von der jener Frau, die durch ihre Aussage mitverantwortlich für die gegen ihn laufenden Ermittlungen war  : Anfang Februar 1941 habe er Franziska Reisinger in Wiener Neustadt besucht, »und zwar anlässlich einer Geschäftsreise nach Wien. Ich habe bei dieser Gelegenheit nur ein paar Minuten mit ihr gesprochen. Das Gespräch drehte sich um den Unterhalt für unser gemeinsames Kind. Unrichtig ist, dass ich in der Wohnung der Reisinger Geld abholen wollte. Mir war gar nicht bekannt, wo die Reisinger wohnt. Ich habe sie an ihrer Arbeitsstelle gesprochen. Auch die Frau Mitteregger ist mir nicht bekannt.«616 Polizei und Staatsanwaltschaft schenkten jedoch der von Hermann Charasch geschilderten Version keinen Glauben. Sie übernahmen die Aussage von Genoveva Mitteregger, wie aus der Anklageschrift hervorgeht  : »Ende Januar 1941 sprach der Angeschuldigte bei der Zeugin Mitteregger, bei der die Zeugin Reisinger Mittag ass, vor, und forderte sie auf, ihm etwas vorhandenes Bargeld der Zeugin Reisinger auszuhändigen. Zur Begründung führte er an, er habe Wertersatz für die ihr während des gemeinsamen Haushaltes angeschafften Kleidungsstücke zu fordern. Dieser Aufforderung kam jedoch die Zeugin Mitteregger nicht nach.«617 Die Niederschriften der auf den 3. Februar 1941 datierten Anzeige von Franziska Reisinger und der am 10. Februar aufgenommenen Aussage von Genoveva Mitter­ egger leitete der zuständige Gestapo-Beamte aus Wiener Neustadt noch am 10. Februar an die Linzer Gestapo weiter. Er versah diese mit der Bitte, »gegen den Juden einzuschreiten und mir seinerzeit vom Ausgang der Ermittlungen Nachricht zu geben«.618 Dem Brief ist zu entnehmen, dass Reisinger den entscheidenden Hinweis auf den Aufenthalt von Hermann Charasch in der Wohnung von Theresia Kaar in Linz-Harbach gegeben hatte  : »Nach den Angaben der Anzeigerin Franziska Reisinger soll der Jude Ch. seit Ende Mai 1939 mit der Arierin Theresia Kaar in Linz a. d. D., Harbach Nr. 3 wohnhaft, […] im gemeinsamen Haushalt leben.«619 Im Protokoll der Anzeige wird Franziska Reisinger hingegen mit den Worten »Nach meiner Meinung wohnt der Jude jetzt in Wien.«620 zitiert. 615 Niederschrift Aussage Genoveva Mitteregger. 616 Fortgesetzte Vernehmung Hermann Charasch, Landgericht Linz, datiert 4.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 617 Anklageschrift Oberstaatsanwalt gegen Hermann Charasch, datiert 30.4.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 618 Gestapo Wiener Neustadt an Gestapo Linz, datiert 10.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 619 Ebd. 620 Niederschrift Anzeige Franziska Reisinger.

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Die Linzer Gestapo schickte am 17. Februar 1941 die Unterlagen, die sie von der Gestapo Wiener Neustadt erhalten hatte, an die Kriminalpolizeistelle Linz »mit der Bitte um direkte Erledigung«621 weiter. In einem handschriftlichen Vermerk wurde von der Kriminalpolizei am 25. Februar festgehalten, die Zeugung der unehelichen Kinder von Hermann Charasch liege nach fernmündlicher Rücksprache mit der Gestapostelle Linz »noch vor der Einführung der Nürnberger Gesetze in der Ostmark. Demnach besteht kein staatspolizeiliches Interesse an der Sache.«622 Die Ermittlungen führten schließlich zu dem Ergebnis, »dass sich bei Theresia Kaar in Harbach 3 ein Mann aufhält, der vermutlich mit Charasch wesensgleich sein soll.«623 Am 28. Februar 1941 fuhr der ermittelnde Kriminalbeamte mit dem Auto zu besagter Adresse »und konnte tatsächlich dort den gesuchten Charasch stellen. Auf meine Aufforderung sich anzukleiden, begab er sich von der Küche aus in einen Nebenraum. Da bereits einige Minuten vergangen waren und Charasch sich nicht mehr sehen ließ, ging ich in den Nebenraum und musste dort zu meiner Überraschung feststellen, dass er sich mit einer Rasierklinge einige Schnittwunden an beiden Armen und Hals beigebracht hatte.«624 Da die Verletzungen offenbar »leichter Natur«625 waren, wurde Charasch nach ärztlicher Versorgung für haftfähig erklärt und um 11  :30 Uhr in das Polizeigefangenenhaus eingeliefert. Auf den drei Polizeifotos, die im Zuge der erkennungsdienstlichen Behandlung angefertigt wurden, ist zu sehen, dass der Hals verbunden worden war. Als Herbert Kaars Vater während der Vernehmung nach dem Grund für seinen Suizidversuch befragt wurde, »gab er zur Antwort, er habe sich gedacht, das koste ohnehin seinen Kopf und deshalb habe er aus dem Leben scheiden wollen.«626 Am 1. März 1941 wurde er in das Gefängnis des Land- und Amtsgerichts Linz eingeliefert, um 16  :00 Uhr in »Verwahrung« genommen und in die Zelle Nummer 41 gebracht. Seine Körpergröße wurde von der Aufnahmeabteilung der Gefängnisverwaltung mit 162 Zentimetern angegeben, besondere Kennzeichen sind keine vermerkt.627 Bei der Aufnahme im Gefängnis musste Hermann Charasch Hut, Kamm, Schal und Gürtel abgeben. Überrock, Rock, Hose, Socken, Schuhe, Hemd, Unterhose und zwei Taschentücher durfte er hingegen behalten.628 621 Gestapo Linz an Kriminalpolizei Linz, datiert 17.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 622 Vermerk Kriminalpolizei Linz, Gestapo Linz an Kriminalpolizei Linz, datiert 17.2.1941, Anklagebehörde OÖLA. 623 1. Bericht Kriminalsekretär Franz Gamnitzer, datiert 28.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 624 Ebd. 625 Ebd. 626 Ebd. 627 Siehe Übernahmsbericht Gefängnisverwaltung Landgericht Linz, datiert 2.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 628 Gefängnisprotokoll, datiert 1.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA.

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Charasch dürfte sich der Gefahr bewusst gewesen sein, in der er während der Herrschaft des nationalsozialistischen Terrorregimes als Jude schwebte, der mit einer Nichtjüdin unverheiratet zusammenlebt, Kinder hat und auch für ein Kind aus einer früheren Beziehung mit einer Nichtjüdin aufkommt. Offenbar hoffte er, unentdeckt zu bleiben  : »Ich habe nie damit gerechnet, dass diese Angelegenheit jemals der Behörde zu Ohren kommen werde. Ich verließ die Wohnung in Harbach Nr. 3 nur dann, wenn ich Einkäufe zu besorgen hatte. Ob der Nachbarschaft bekannt war, dass ich ein Jude bin, weiß ich nicht.«629 Zum Vorwurf, gegen die antisemitische Rassenideologie der Nationalsozialisten verstoßen zu haben, indem er Liebesbeziehungen mit nichtjüdischen Frauen unterhielt, war Charasch »im vollen Umfange seiner Tathandlung geständig. Er gibt zu, mit der ehemaligen Küchenangestellten Theresia Kaar, seit Juni 1939 im gemeinsamen Haushalte gelebt zu haben. Aus dieser Lebensgemeinschaft sind 2 Kinder im Alter von 9 Monaten und 2 Jahren entsproßen. Ihm war bekannt, dass er als Volljude mit einer deutschblütigen Frau keinen Geschlechtsverkehr unterhalten dürfe.«630 Als Hermann Charasch die Tragweite seiner »Tathandlung« bekannt wurde, habe es für ihn »kein Zurück« mehr gegeben, weil er »die Kinder nicht im Stich lassen und für sie ein Vater sein wollte.«631 Am 3. März 1941, drei Tage nach der Festnahme, langte die Anzeige der Kriminalpolizei bei der Anklagebehörde ein. Als strafbare Handlung ist »Rassenschande« angeführt. Verstöße gegen den zweiten Paragrafen des »Blutschutzgesetzes«, mit dem der außereheliche »Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes«632 verboten worden war, wurden Hermann Charasch zur Last gelegt. Die dafür vorgesehene Strafe betrug »Gefängnis oder Zuchthaus«633 ohne genauere Spezifikation des Strafausmaßes. Charasch wurde als Beschuldigter geführt, seine Lebensgefährtin Theresia Kaar als Geschädigte. Am 4. März 1941 erließ der zuständige Ermittlungsrichter beim »Sondergericht« Haftbefehl gegen Herbert Kaars Vater, der sich seit der Festnahme in Verwahrungshaft befunden hatte (siehe Abb. 12). Charasch nahm davon »unter Verzicht auf förmliche Zustellung Kenntnis. Beschwerde lege ich nicht ein.«634 Über ihn wurde wegen »Fluchtverdacht, der keiner weiteren Begründung bedarf, da ein Verbrechen den Gegenstand der Untersuchung bildet«,635 die Untersuchungshaft verhängt. 629 Protokoll Vernehmung Hermann Charasch. 630 2. Bericht Kriminalsekretär Franz Gamnitzer, datiert 28.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 631 Protokoll Vernehmung Hermann Charasch. 632 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, Paragraf 2, URL  : http  ://alex.onb. ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1935&page=1289&size=45 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 633 Ebd., Paragraf 5. 634 Fortgesetzte Vernehmung Hermann Charasch, Landgericht Linz, datiert 4.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 635 Haftbefehl gegen Hermann Charasch, datiert 4.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA.

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Abb. 12  : Der Haftbefehl mit dem Aktenzeichen 1 Js 127/41.

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In einem undatierten zweieinhalbseitigen Brief an Theresia Kaar gibt Hermann Charasch seiner Lebensgefährtin Tipps, wie sie in dieser auch wirtschaftlich schwierigen Situation bestehen könne  : »Sollte dir es momentan an Geld mangeln zum Leben, dann verkaufe einige Stoffe und meine Anzüge, an Kundschaft fehlt es doch nicht. […] Wenn ich geahnt hätte von meiner Verhaftung, würde ich vorher nicht so viel Stoffe eingekauft haben, jetzt stehst du und die Kinder ohne Geld da, es ist zum Verzweifeln.«636 Dieser Brief war in den Wochen zwischen der Festnahme und dem Prozess im Linzer Gefangenenhaus aufgesetzt und im Original samt frankiertem Briefkuvert dem Akt der Anklagebehörde beigelegt worden. Das Schreiben verfasste Charasch auf einem Briefpapier des Gefangenenhauses. Darauf war die Formulierung vorgedruckt, Untersuchungsgefangene dürften Brief- und Besuchsverkehr haben, so »oft es der Untersuchungsrichter gestattet«.637 Von der Justiz wurde der Brief nicht an seine Adressatin weitergeleitet. Die Sorge um die gemeinsame Tochter, »Weibi« genannt, und den Sohn steht darin im Mittelpunkt. Er hoffe, dass es ihr und den Kindern gut gehe, schreibt Hermann Charasch an Theresia Kaar, die zu diesem Zeitpunkt zu ihrem dritten Kind schwanger war  : »Meine Gedanken befassen sich ausschließlich bei Tag und bei Nacht mit den Kindern, da die jetzt am Ärmsten sind, ist ja begreiflich […]. Was macht das Weibi den ganzen Tag  ? Fragt sie oft nach mir  ? Ich habe so große Sehnsucht nach ihr, daß ich bestimmt noch krank werde, wäre mir entschieden lieber gewesen, wenn ich bei meinem Selbstmordversuch etwas mehr Glück gehabt hätte […]. Was macht der kleine Franz  ? Ist er gesund  ? Bitte halte mich über die Kinder immer am Laufenden und berichte mir jede Woche. […] Leid tut mir, daß ihr jetzt unversorgt seid. […] Bitte erziehe die Kinder gut und lerne das Weibi nicht den Vater vergessen.«638 Hermann Charasch beschreibt, wie er unter den Haftbedingungen im Polizeigefangenenhaus und der Trennung von seiner Familie leiden würde  : »Ich sitze hier in der Zelle und denke nur an zuhause, an meine Arbeit, die Kinder und alles, was ich jetzt entbehren muß, du weißt nicht wie eintönig, langweilig und öde es hier ist. Die Tage werden zu Wochen und jede erscheint mir wie eine Ewigkeit. […] Das Rauchen geht mir hier sehr ab, ich habe alle Tage so Kopfweh und dazu die Schmerzen in den Händen, die Schnitte sind noch lange nicht geheilt und ich bereue nur, daß ich nicht besser getroffen habe.«639 In einem zweiten, ebenfalls undatierten Brief an Theresia Kaar teilt Hermann Charasch seiner Lebensgefährtin mit, dass er im Gefängnis eine Beschäftigung gefunden habe  : »Ich arbeite jetzt in der Schneiderei und bin auch sehr froh darüber. 636 Hermann Charasch an Theresia Kaar, undatiert, Anklagebehörde, OÖLA. 637 Ebd. 638 Ebd. 639 Ebd.

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Die Zeit vergeht viel schneller als nur allein in der Zelle. Meinen braunen Stoff kannst du deinem Bruder um 50 RM verkaufen und wenn du einen Käufer für meine Anzüge und Hosen findest, dann verkaufe sie nur, du kannst dann wieder einige Monate […] damit auskommen. Gib dem Weibi ja sehr viel zum Essen, dass sie dir bald bei der Arbeit mithelfen kann.«640 Die Zustellung dieses Briefs hatte der Untersuchungsrichter gestattet. Am 10. März 1941, einen Monat, nachdem Genoveva Mitteregger ihre Aussage gemacht und die Gestapo Wiener Neustadt die Gestapo Linz um deren Einschreiten gegen Hermann Charasch gebeten hatte, wurden Mitteregger und Franziska Reisinger erneut vernommen. Von Reisinger wollte die politische Polizei des NS-Regimes offenbar wissen, in welchem Ausmaß Charasch auch mit ihr gegen das am 20. Mai 1938 in Österreich kundgemachte »Blutschutzgesetz« verstoßen hatte  : »Wie schon in meiner ersten Vernehmung angeführt, verliess der Jude Charasch am 30. Mai 1939 meine Wohnung und zog zur Theresia Kaar. Ich habe Ch. in der Folgezeit noch öfters getroffen, ist aber mit dem Ansinnen mich mit ihm neuerlich geschlechtlich einzulassen nicht herangetreten. Erst nach der zweiten Schwangerschaft der Theresia Kaar versuchte er wieder mit mir in Geschlechtsverkehr zu treten. […] Ich lehnte jedoch immer mit dem Bemerken ab, dass er über mich sowieso schon genug Unheil angestiftet hat, er soll mich nicht noch mehr unglücklich machen.«641 Franziska Reisingers Aussage zufolge rief sie ihr ehemaliger Lebensgefährte und Vater des gemeinsamen Sohns mehrmals an ihrem Arbeitsplatz »fernmündlich an und gab vor, dass er für das Kind […] mir ein Geld zu übergeben habe. Dies kam 3 bis 4 mal vor. Wir trafen uns immer im Kaffee ›Münchnerhof‹ in Linz. Bei diesen Treffen übergab Charasch nicht immer ein Geld. Nach diesen Treffen begleitete er mich ein Stück Weges, aber nie bis zu meiner Wohnung. […] Als Charasch mich aufforderte mit ihm neuerlich in eine Lebensgemeinschaft einzugehen, fragte ich ihn was mit der Kaar und ihren Kindern geschehen soll, erklärte er, dass er mit der Kaar nicht gut zusammenlebe und er nur den Kindern zuliebe bei ihr verbleibe.«642 Auch aus dieser Niederschrift geht hervor, dass Franziska Reisinger, wie schon in ihrer ersten Aussage gegenüber der Gestapo, Hermann Charasch als Grund für ihre Übersiedlung von Linz nach Wiener Neustadt angab  : »Diese fortwährenden Belästigungen von Seiten des Juden Charasch waren der Anlass, dass ich meinen Arbeitsplatz in Linz heimlich verliess und nach Wr. Neustadt fuhr. […] Als mich im Februar Charasch in Wr. Neustadt auf meiner Arbeitsstelle besuchte, war meine 640 Hermann Charasch an Theresia Kaar, undatiert, Eigentum von Familie Kaar. 641 Fortgesetzte Vernehmung Franziska Reisinger, Gestapo Wiener Neustadt, datiert 10.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 642 Ebd.

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erste Frage an ihn, Was willst du schon wieder von mir  ? Er gab mir zur Antwort  : ›Ich will ja nichts von Dir, ich bin nur wegen dem Kind zu Dir gekommen.‹«643 Der gemeinsame Sohn war, wie dem Protokoll zu entnehmen ist, zu dieser Zeit bei Reisingers Mutter »in Pflege«.644 Franziska Reisinger wiederholte auch ihre Aussage, wonach Charasch ihr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938 gedroht habe, im Falle seiner Verhaftung zu veranlassen, dass sie ebenfalls bestraft werde  : »Diese Drohung wiederholte er dann noch öfters, besonders wenn ich ihm Vorhalt machte, dass er wieder mit der Kaar zusammen war.«645 Genoveva Mitteregger erneuerte ebenfalls in ihrer zweiten Vernehmung durch die Wiener Neustädter Gestapo am 10. März 1941 ihre Behauptung, dass Hermann Charasch »gegen Ende des Monats Jänner 1941«646 zu ihr in die Wohnung gekommen sei, während Franziska Reisinger in Haft war  : »Ich erkannte ihn nicht sogleich, dass es der Jude Charasch ist, erst als er sagte, dass er von Linz komme und er der Reisinger verschiedene Kleidungsstücke kaufte, für diesen Wert er jetzt das Geld haben will. Nachdem der Jude einsah, dass er von mir kein Geld bekommen konnte, verliess er wieder die Wohnung.«647 Sie habe, nachdem Franziska Reisinger die Haftstrafe verbüßt hatte, diese darauf aufmerksam gemacht, »dass sie gegen den Juden die Anzeige erstatten soll.«648 Nach etwa einer Woche habe ihr Franziska Reisinger von der Begegnung mit Hermann Charasch erzählt, der »bei ihr auf der Arbeitsstätte zu Besuch war. Auf dashin habe ich die Reisinger neuerdings aufgefordert, zur Polizei zu gehen und gegen den Juden die Anzeige zu erstatten. Erst als ich mit der Drohung kam, selbst die Anzeige zu erstatten, ging die Reisinger zur Geheimen Staatspolizei.«649 Die Gestapo Linz schickte ein weiteres Schreiben betreffend Hermann Charasch an die Staatsanwaltschaft Linz. Zweck dieses Schriftstücks, das vom 18. März 1941 datiert, war es, eine Nachtragsanzeige gegen Charasch zu erstatten, da dieser »vor seiner Festnahme weder den jüdischen Vornamen ›Israel‹ angenommen hat, noch im Besitz einer Judenkennkarte war […]. Über den Ausgang des Strafverfahrens bitte ich mir zur gegebenen Zeit Mitteilung zu geben.«650 Gemäß der am 23. Juli 1938 eingeführten »Kennkartenpflicht« mussten Personen jüdischen Glaubens den mit dem Großbuchstaben »J« versehenen grauen Lichtbildausweis ständig mit sich führen. Im Jänner 1939 wurden sie außerdem gezwungen, zusätzlich auch den Vorna643 Fortgesetzte Vernehmung Franziska Reisinger. 644 Ebd. 645 Ebd. 646 Fortgesetzte Vernehmung Genoveva Mitteregger, Anklagebehörde, OÖLA. 647 Ebd. 648 Ebd. 649 Ebd. 650 Staatspolizeistelle Linz an STA Linz, datiert 18.3.1941, Anklagebehörde, OÖLA.

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men Israel oder Sara anzunehmen, um sie anhand ihres Namens als Jüdinnen und Juden gemäß der nationalsozialistischen Rassenlehre erkennbar zu machen. Am 25. April 1941, acht Wochen nach seiner Festnahme, verfasste Hermann Charasch einen Brief an »den geehrten Herrn Staatsanwalt«.651 Er bat darum, mit Kaar »ein uneingeschränktes Gespräch führen zu dürfen.«652 Charasch kündigte an, nach Verbüßung der Haftstrafe mit seinen Kindern auswandern zu wollen  : »Zu diesem Zwecke habe ich mich bereits mit den Referenten der jüdischen Kultusgemeinde in Verbindung gesetzt. Da man von einer Mutter nicht verlangen kann, dass sie ihre Kinder so ohne weiteres hergibt, so will ich die Kindesmutter langsam d. h. schrittweise in meinen Plan einweihen.«653 Herbert Kaars Vater beschrieb, warum Theresia Kaar seiner Meinung nach in geschäftlichen Angelegenheiten eine »völlige Unkenntnis« besaß. Er versicherte dem Staatsanwalt, bei keinem der bereits erfolgten Besuche etwas gesagt zu haben, das »gegen das Rassengesetz verstößt«,654 und kündigte dies auch für zukünftige Gelegenheiten an  : »Mein ganzes Sinnen und Denken war und wird meinen Kindern gehören und als solches ist es meine Pflicht als Vater, nach Beendigung meiner Strafe für die Kinder zu sorgen.«655 2.4.6 Anklageerhebung und »Schauprozess« Am 30. April 1941 erhob der Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde beim »Sondergericht« Anklage gegen Hermann Charasch. Die Anklageschrift, die das Aktenzeichen 1 Js 127/41 aufweist, enthält den Anklagevorwurf, Charasch hätte von 20. Mai 1938 bis 19. Juni 1939 mit Franziska Reisinger und von Herbst 1938 bis 28. Februar 1941 mit Theresia Kaar gegen das »Blutschutzgesetz« verstoßen und wäre dafür zu bestrafen. Als Beweismittel führt der Oberstaatsanwalt das »Geständnis« von Hermann Charasch, die Zeugenaussagen von Franziska Reisinger, Genoveva Mitteregger, Theresia Kaar und Kriminalsekretär Franz Gamnitzer sowie die Strafregisterauskunft an. Zu Beginn des mit »Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen« überschriebenen zentralen Teils des sechsseitigen Schriftsatzes wird auf die Vorfahren von Hermann Charasch und deren Herkunft Bezug genommen. Aus dem Tuchhandel, den dessen Vater in Wien betrieben hatte, wurde in der Anklageschrift ein »Buchhandel«.656

651 Brief Hermann Charasch an Staatsanwalt, datiert 25.4.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 652 Ebd. 653 Ebd. 654 Ebd. 655 Ebd. 656 Anklageschrift Oberstaatsanwalt gegen Hermann Charasch, datiert 30.4.1941, Anklagebehörde, OÖLA.

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Der Lebenslauf von Herbert Kaars Vater wird zunächst kursorisch behandelt, auf Einzelheiten dann ab dem Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung in Österreich eingegangen. Die Geburt der Tochter von Hermann Charasch im Mai 1939 sei der Anlass für die Trennung von Franziska Reisinger gewesen  : »Aus diesem Grunde löste er am 19.6.1939 sein rassenschänderisches Verhältnis mit der Zeugin Reisinger und lebte seitdem mit der Zeugin Kaar in Harbach bei Linz zusammen. […] Er meldete sich nicht polizeilich an, nahm auch weder den jüdischen Vornamen ›Israel‹ an noch liess er sich eine Kennkarte ausstellen, sondern tarnte sich völlig.«657 In der Anklageschrift wird auch aus einem am 6. Februar 1941 in Wien abgestempelten Brief zitiert. Diesen soll Hermann Charasch noch am Tag seines Besuchs am Arbeitsplatz von Franziska Reisinger Anfang Februar 1941 verfasst haben. Das Schrei­ben wäre »für sein rassenschänderisches Verhalten aufschlussreich«.658 Herbert Kaars Vater schreibt darin, sein Leben »wird immer ein Hasardspiel sein. […] Ich war immer bereit, wieder mit Dir zusammenzuleben, aber Deine Art, wie schnell du Vergangenes vergessen hast, verblüfft mich geradezu. […] Lege endlich Deine ländlichen Manieren ab und unterscheide Mensch und Tier. Das letztere schickt man weg und sagt verschwinde. […] Ich sitze im Kaffeehaus und denke an Dich wie ich es immer getan habe. In einer Stunde fährt mein Zug wieder nach Linz.«659 In diesem Brief an die ehemalige Lebensgefährtin und Mutter des gemeinsamen Sohns thematisiert Hermann Charasch auch seinen, von Genoveva Mitteregger gegenüber der Gestapo mehrfach geschilderten, angeblichen Besuch in deren Wohnung in Wiener Neustadt  : Er »habe die Frau nur einmal […] flüchtig gesehen, kenne sie überhaupt nicht. War das ein Schachzug  ? Dann hast du die Partie verloren. Ich bin lediglich nach Wiener Neustadt gekommen, um mit dir über […] zu reden.«660 Das »Geständnis« des Angeklagten, »der bei seiner Festnahme einen anscheinend nicht ganz ernst gemeinten Selbstmordversuch unternahm«,661 stellte aus Sicht des Oberstaatsanwalts keinen Milderungsgrund dar  : »Er verteidigt sich dahin, dass er das rassenschänderische Verhältnis mit der Zeugin Kaar im Interesse der Kinder fortgesetzt habe. Da er das intime Verhältnis mit der Zeugin Kaar erst nach Einführung des Blutschutzgesetzes in der Ostmark begonnen hat, ist dieses Vorbringen in keiner Weise geeignet, sein Verhalten milderer Beurteilung zuzuführen.«662 Von einer Anklage wegen der Verstöße »gegen die Vornamens- und die Kennkartenbestimmungen ist […] vorläufig abgesehen worden.«663 657 Anklageschrift Oberstaatsanwalt gegen Hermann Charasch. 658 Ebd. 659 Brief Hermann Charasch an Franziska Reisinger, Anklagebehörde, OÖLA. 660 Ebd. 661 Anklageschrift Oberstaatsanwalt gegen Hermann Charasch. 662 Ebd. 663 Ebd.

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Am 13. Mai 1945, knapp zwei Wochen, nachdem Anklage erhoben worden war, begann um 9  :20 Uhr am Landgericht Linz in öffentlicher Sitzung der »Schauprozess«664 gegen Hermann Charasch. Den Vorsitz des »Sondergerichtssenats« hatte der Vizepräsident des Landgerichts, Fritz Zötl, inne. Einer der beiden Beisitzer war Karl Mittermayer, Präsident des Gerichts von 1938 bis 1939. Im dreiseitigen Prozessprotokoll findet sich kein Hinweis darauf, dass Charasch von einem Strafverteidiger unterstützt worden wäre. Eine Vernehmung der drei Zeuginnen Franziska Reisinger, Genoveva Mitteregger und Theresia Kaar sowie des Zeugen Franz Gamnitzer wurde als »entbehrlich«665 angesehen. Nachdem nicht näher ausgeführte »Feststellungen aus den Polizeierhebungen«666 vorgenommen und die Geburtsurkunden der beiden älteren Kinder von Hermann Charasch sowie der Gestapo-Bericht und eine »Strafkarte« verlesen worden waren, beantragte der Staatsanwalt in seinem Schlussvortrag einen »Schuldspruch im Sinne der Anklage und Verhängung einer Zuchthausstrafe von 8 Jahren und Anrechnung der Vorhaft in voller Höhe.«667 Als Milderungsgrund führte der öffentliche Ankläger an, dass Hermann Charasch für seine Kinder gesorgt hatte. Als erschwerend bezeichnete er »den rassenschänderischen Umgang mit zwei Frauen, die Fortsetzung durch längere Zeit, dass drei Kinder erzeugt wurden und ein viertes zu erwarten ist«.668 Den Umstand, dass der 1934 geborene Sohn von Charasch und Franziska Reisinger bereits knapp elf Monate vor Verkündigung des »Blutschutzgesetzes« in Deutschland und mehr als dreieinhalb Jahre vor der Kundmachung des Gesetzes in Österreich zur Welt gekommen war, berücksichtigte der Jurist offensichtlich nicht. Auch der hochrangig besetzte Richtersenat ging darauf nicht weiter ein. Um 9  :45 Uhr, 25 Minuten nach Eröffnung der Verhandlung, begannen die Richter mit ihren Beratungen, die zehn Minuten lang dauern sollten. Davor hatte Hermann Charasch noch um eine »milde Strafe«669 gebeten. Um 9  :55 Uhr verkündete der Vorsitzende des Richtersenats, Fritz Zötl, das Urteil, das auf fünf Jahre Zuchthaus »wegen des Verbrechens der Rassenschande […] in zwei Fällen«670 lautete (siehe Abb. 13). Die Kosten des Strafverfahrens hatte Hermann Charasch zu tragen, sie wurden jedoch »wegen offensichtlicher Zahlungsunfähigkeit ausser Ansatz gelassen.«671 Die bereits verbüßte »Vorhaft von 28. Feber 1941, 11 Uhr 30 bis

664 Kaar, Im Aschermoor, S. 3. 665 Protokoll Prozess 13.5.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 666 Ebd. 667 Ebd. 668 Ebd. 669 Ebd. 670 Ebd. 671 Verfügung Rechtspfleger, Landgericht Linz, datiert 27.5.1941, Anklagebehörde, OÖLA.

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13. Mai 1941, 10 Uhr«672 wurde ihm auf die Strafhaft angerechnet. Als offizieller Schluss der Verhandlung ist 10  :10 Uhr angeführt  : 50 Minuten hatte der Linzer Senat benötigt, um Charasch zu einer fünfjährigen Haftstrafe zu verurteilen, die zu seinem Tod gut eineinhalb Jahre später führen sollte. Die Justiz bildete einen »Teil des NS-Terrorsystems«.673 Sie passte sich auch aus machtpolitischen Gründen zunehmend den Erwartungen des Regimes an674 und verstand sich »als Erfüllungsgehilfe der Ideologie und der Politik des NSStaates«.675 Das rund um den Beginn des Zweiten Weltkriegs durch eine »Flut von Rechtsnormen«676 zusätzlich noch verschärfte Strafrecht eröffnete »den Richtern sehr große Ermessensspielräume, Interpretationsfreiheiten und subjektive Auslegungsmöglichkeiten, bei denen vermehrt außerrechtliche Einflussfaktoren durch rassistische, soziale und geschlechtsspezifische Vorurteile in die Spruchpraxis und bei der Bemessung der konkreten Strafhöhe eindringen konnten.«677 In der schriftlichen Ausfertigung des Urteils werden die Gründe wiedergegeben, die der Richtersenat für die Verurteilung von Hermann Charasch herangezogen hatte  : »Charasch gibt zu, daß er wußte, daß beide Frauen deutschen Blutes sind, glaubte aber, der geschlechtliche Verkehr sei nicht strafbar, weil er sich für einen russischen Staatsangehörigen hielt. Diese Auffassung ist nicht stichhältig, da das Gesetz den ausserehelichen Geschlechtsverkehr eines Juden mit einer deutschblütigen Frau im Inlande ohne Einschränkung als Rassenschande für strafbar erklärt.«678 Die Richter werteten das Geständnis des Angeklagten und den Umstand, dass Herbert Kaars Vater für seine Kinder gesorgt hatte, als Milderungsgründe. Bei der Bewertung möglicher Erschwernisgründe und deren Rechtfertigung übernahmen sie wortwörtlich die Formulierungen aus der Anklageschrift  : »erschwerend dagegen war der rassenschänderische Umgang mit zwei Frauen, die Fortsetzung durch längere Zeit, und daß drei Kinder erzeugt wurden und ein viertes zu erwarten ist. Die verhängte Strafe von 5 Jahren Zuchthaus erscheint daher angemessen.«679 Noch am Tag des Prozesses erschien unter dem Titel »Rassenschänder unschädlich gemacht« in der Linzer »Tages-Post« auf Seite vier ein nicht namentlich gezeichneter zweispaltiger Artikel, der aus der Perspektive der nationalsozialistischen 672 Protokoll Prozess. 673 Bernd Walter, Die Strafgefangenenlager im Emsland1934–1945. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 115. 674 Siehe ebd. 675 Wilfried Wiedemann, Die Strafgefangenen der Justiz im Emsland 1934–1945. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 134. 676 Ebd., S. 125. 677 Ebd., S. 126. 678 Urteil Landgericht Linz als »Sondergericht«, datiert 13.5.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 679 Ebd.

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Abb. 13  : Die zweite Seite des verschriftlichten Urteils gegen Hermann Charasch.

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Rassenideologie verfasst worden war  : »Ein fast unglaublicher Fall jüdischer Infamie und Dreistheit spielte sich vor dem Sondergericht […] ab. […] Staatsanwalt Träger hebt in seinem Plädoyer die ganze Unverantwortlichkeit des sich gegen das Gesetz des Blutes vergehenden Juden hervor. Obzwar, so betonte der öffentliche Ankläger, der antisemitische Gedanke durch die ganze Welt gehe, war für Charasch kein Blutgesetz da.«680 Auch in der Ministerialkanzlei des Reichsjustizministeriums in Berlin schenkte man dem Linzer Verfahren Aufmerksamkeit  : In einem Erlass wurde eine weitere Ungenauigkeit aufgezeigt, die den Linzer Anklägern unterlaufen war. Diese Anweisung war eine Woche nach der Verhandlung im Auftrag des in Wien ausgebildeten Juristen und späteren Politikers des Verbands der Unabhängigen, Karl Klemenz, verfasst worden  : »Ich weise darauf hin, daß das Blutschutzgesetz […] im ehemaligen Lande Österreich am 24. Mai 1938 in Kraft getreten ist […]. Ich bitte deshalb, im Anklagesatz die Tatzeit entsprechend richtig zu stellen.«681 In der Anklageschrift wird der Beginn des Zeitraums, in dem Hermann Charasch gegen das nationalsozialistische Gesetz verstoßen haben soll, mit 20. Mai 1938 angegeben. Das Schreiben aus der Hauptstadt langte am 26. Mai 1941 in Linz ein. Drei Tage später wurde die Antwort abgetippt  : »Die mit Erlass vom 20.5.1941 angeordnete Richtigstellung der Tatzeit im Anklagesatz war nicht mehr möglich, da die Hauptverhandlung bereits am 13.5.1941 stattgefunden hatte.«682 2.4.7 Verlegung nach Niedersachsen Am 20. Mai 1941 wurde Hermann Charasch um 16  :00 Uhr von der Haftanstalt Linz »zur Strafverbüßung«683 in das »Strafgefangenenlager in Linger«684 nach Niedersachsen überstellt. Dort hatte das nationalsozialistische Regime zunächst Konzentrations-, dann Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager mit zentraler Verwaltung in Papenburg errichtet, Einrichtungen des Justizapparats, die alle einen »ausgesprochen konzentrationslagerähnlichen Charakter«685 aufwiesen. In der auf 27. Mai 1941 datierten schriftlichen Anweisung, die der am Landgericht Linz angesiedelte »Justizinspektor als Rechtspfleger«686 an die Geschäftsstelle weitergab, wird das Straf680 Rassenschänder unschädlich gemacht. In  : Tages-Post vom 13.5.1941, S. 4. 681 Ministerialkanzlei Reichsjustizministerium Berlin an Oberstaatsanwalt Linz, datiert 20.5.1941, Handakten STA, »Sondergericht« Linz, OÖLA, K Ls Js 28/41 (Js 127/41). 682 Oberstaatsanwalt Linz an Reichsminister Justiz, datiert 29.5.1941, Handakten STA. 683 Bestätigung Haftanstalt Linz, datiert 20.5.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 684 Der Süden des Landkreises Emsland wurde auch als »Linger Land« bezeichnet. 685 STA Osnabrück, Prozess gegen Werner Schäfer, 1950, zit. n. Kurt Buck, Lageralltag und Zwangsarbeit. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 99. 686 Verfügung, datiert 27.5.1941, Anklagebehörde, OÖLA.

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gefängnis Lingen im Emsland angeführt. Als Ende der Haftzeit scheint 28. Februar 1946, 11  :30 Uhr, auf  : »Nach Strafverbüssung ist die Ueberstellung des Charasch an die Kriminalpolizeistelle Linz / Donau zu veranlassen.«687 Auf dem Weg nach Niedersachsen wurde Herbert Kaars Vater Anfang Juni 1941688 im Polizeigefängnis von Hamm in Nordrhein-Westfalen registriert. Am 4. Juni 1941 erfolgte kurz vor 6  :00 Uhr in der Früh der Weitertransport.689 Hermann Charasch wurde in das auch »Lager V« genannte ursprünglich als Konzentrationslager errichtete Strafgefangenenlager Neusustrum überstellt. In diesem Lager waren von Mitte 1940 bis Ende 1942 bis zu 1750 zivile polnische Strafgefangene sowie »in einem abgetrennten Lagerbereich«690 die größtenteils wegen »Rassenschande« verurteilten »jüdischen Gefangenen der Emslandlager«691 eingesperrt. Deren Zahl wird auf 125 beziffert, von denen nachweislich 120 ermordet wurden und lediglich fünf »die Verfolgung und den Massenmord«692 überlebt haben. Die Insassen der Lager, die bis 1940 ohne maschinelle Unterstützung Schwerstarbeit im Moor leisten mussten, wurden ab 1941 »nicht mehr zur Moorkultivierung eingesetzt, sondern vielfach ausgeliehen für die Rüstungsproduktion oder andere Gewerbezweige.«693 Nach Kriegsbeginn waren die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Lagern verschärft worden  : »Die Arbeitszeit wurde auf 12 Stunden verlängert, das Arbeitspensum weiter erhöht, während sich die Verpflegung verringerte und verschlechterte.«694 Ab 1942 verschlimmerte sich auch »die gesundheitliche Situation der Gefangenen zusehends.«695 Der für die Lager Börgermoor und Esterwegen zuständige Arzt, der wiederholt aus Papenburg anreiste, um die Strafgefangenen zu betreuen, stellte im Juni 1942 fest, »dass die Gewichtsabnahme in den letzten drei Monaten von 28 % auf 58 % gestiegen sei.«696 Der »Aufnahmemitteilung« ist zu entnehmen, dass Charasch im Lager Neusus­ trum am 5. Juni 1941 um 16  :30 Uhr unter der Gefangenenbuchnummer 240/41-460 registriert worden war. Die in Untersuchungshaft verbrachte Zeit wurde minutiös

687 Verfügung, datiert 27.5.1941. 688 Der Tag der Einlieferung ist unleserlich, siehe Transportbuch Polizeigefängnis Hamm, zit. n. ITS Digital Archive, Arolsen, 1.2.2.1/11678242. 689 Ebd. 690 Die Emslandlager I bis XV im Überblick. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 313. 691 Ebd. 692 Wiedemann, Die Strafgefangenen der Justiz im Emsland. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 137. 693 Bernd Faulenbach, Die Emslandlager in der deutschen und der europäischen Geschichte. In  : Ders./ Andrea Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 21. 694 Kurt Buck, Lageralltag und Zwangsarbeit. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 103. 695 Ebd., S. 111. 696 Ebd., S. 103.

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ausgerechnet. Sie belief sich gemäß den auf der Mitteilungskarte vermerkten Angaben auf 73 Tage, 22 Stunden und 30 Minuten. Der Vorsteher des Strafgefangenenlagers V wies die Linzer Anklagebehörde im Sommer 1941 mehrfach schriftlich darauf hin, dass auf Herbert Kaars Vater die »Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Kriegs begangenen Tat« anzuwenden sei, die eine »wesentliche Verschärfung«697 darstellte  : »Da er seine Tat während des Kriegs begangen hat […], fällt der Verurteilte unter obengenannte Verordnung. Gemäss vorbezeichneter Verordnung wurde der Verurteilte bereits am 8. Juli 1941 bei der dortigen Staatsanwaltschaft gemeldet. […] Weil der Gefangene die Strafe berechnet hat und zu seiner Zeit entlassen werden muss, wird nochmals dringend gebeten den Beschluss über Kriegstäter hier einzusenden.«698 Der »Ministerrat für die Reichsverteidigung« unter dem Vorsitz von Hermann Göring hatte am 11. Juni 1940 verordnet, dass für während des Kriegs begangene Taten »die in die Zeit des Kriegszustandes fallende Vollzugszeit in die Strafzeit nicht eingerechnet«699 werden dürfe und die eigentliche Strafzeit erst nach Kriegsende zu laufen beginne. Daraufhin bestätigte die Linzer Justiz, dass »die in die Zeit des Kriegszustandes fallende Vollzugszeit nicht eingerechnet«700 werde. In einem auf 23. Juli 1941 datierten Brief, den Hermann Charasch zwei Wochen vor Herbert Kaars Geburt im Lager in Neusustrum verfasst hatte, erkundigte er sich bei Theresia Kaar danach, wie die Geburt verlaufen sei  : »Ich glaube, daß du jetzt bestimmt schon entbunden hast, hoffentlich ist alles gut gegangen. Ich warte ständig auf Post von dir und auf ein Photo. […] Bitte schick mir bald ein Bild von den Kindern und auch von dir. Ich bin schon neugierig, ob es ein Bub oder Mädel ist, mir macht beides Freude und ich hoffe, daß du dich nicht mehr so grämst über mein Schicksal. Du mußt nur an die Kinder denken, dann wirst du schon wieder Mut haben, mir geht es ja auch so, aber ich tröste mich, weil es doch nicht immer so bleiben wird.«701 Herbert Kaar kam am 5. August 1940 in Linz als drittes Kind von Theresia Kaar und als viertes von Hermann Charasch zur Welt. Im Geburtsbuch der Israelitischen Kultusgemeinde Wien findet sich der Vermerk, dass Charasch beim Amtsgericht der niedersächsischen Stadt Papenburg, wo sich auch die zentrale Verwaltung der Emslandlager befand, am 2. Oktober 1941 eine Vaterschaftserklärung für seinen Sohn 697 Bernd Walter, Die Strafgefangenenlager im Emsland 1934–1945. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 127. 698 Vorsteher Strafgefangenenlager Neusustrum an STA Linz, datiert 17.8.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 699 Verordnung über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Kriegs begangenen Tat vom 11.6.1940. 700 Vermerk, datiert 28. 8. 1041, Anklagebehörde, OÖLA. 701 Hermann Charasch an Theresia Kaar, datiert 23.7.1941, Eigentum von Familie Kaar.

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Herbert abgab. Die Verhandlung, zu der Herbert Kaars Vater vom diensthabenden Wachtmeister vorgeführt wurde, fand im Strafgefangenenlager Neusustrum statt. Hermann Charasch erkannte an, »der Vater des von der Theresia Kaar am 5. August 1941 in Linz ausserehelich geborenen Kindes, namens Herbert Kaar, zu sein, und als solcher kraft Gesetzes verpflichtet zu sein, für das Kind den der Lebensstellung der Mutter entsprechenden Unterhalt zu gewähren. Der Verpflichtung zur Zahlung eines bestimmten Geldbetrages bedarf es nicht, da ich freiwillig sowohl für den Unterhalt der Mündelmutter und unserer beiden ausserehelichen Kinder […] sowie auch für den ausserehelichen Herbert Kaar Sorge trage.«702 »Wenn du diese Karte bekommst, ist Weihnachten, das Fest der Freude (leider für uns nicht), vorbei, hoffentlich hast du die Feiertage gut verbracht und hast für die Kinder einen Baum angezündet«,703 schrieb Charasch im Dezember 1941 an Theresia Kaar (siehe Abb. 14). Er sei immer in Gedanken bei ihr sowie den Kindern und habe sie »rund um den Weihnachtsbaum gesehen, die Kleinen mit glückstrahlenden Gesichtern und dich mit einem sorgenvollen Kopf, aber kränke dich nicht, nächste Weihnachten sind wir bestimmt wieder beieinander und da werden wir alles Versäumte gründlich nachholen.«704 Im März 1942 beschwerte sich Hermann Charasch, dass Theresia Kaars letzter Brief an ihn zu wenig ausführlich ausgefallen sei  : »leider war er viel zu kurz obwohl du Zeit und Platz gehabt hättest.«705 Der »streng reglementierte Postverkehr«706 stellte für die Strafgefangenen die einzige Möglichkeit dar, mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben  : »Die eigenen Briefe und die Antworten darauf konnten Rückhalt und Kraft geben. Manche Briefe von zuhause konnten aber auch die vielleicht letzte Widerstandskraft im Überlebenskampf brechen.«707 In zwei seiner Briefe erwähnte Charasch einen gewissen Adolf, der Interesse an Theresia Kaar gezeigt haben soll  : »Wenn der Adolf wiederkommt, dann schmeiß ihn hinaus, oder hast du ihn so gern  ? Dann behalte ihn dir, die Kinder nehme ich mir doch einmal und ich hoffe noch in diesem Jahr.«708 Auch wenige Wochen vor seinem Tod äußerte Hermann Charasch noch einmal die Hoffnung, möglicherweise schon bald in seine Heimat zurückkehren zu dürfen. Er stellte Theresia Kaar eine Verlegung in ein nahe Linz gelegenes Gefängnis in Aussicht  : »Bei mir ist es nicht ausgeschlossen, dass ich nächstens nach Österreich komme. Genaueres kann ich dir noch nicht schreiben. Wahrscheinlich komme ich 702 Ausfertigung Amtsgericht Papenburg, datiert 2.10.1941, OfA Theresia Kaar. 703 Hermann Charasch an Theresia Kaar, datiert 21.12.1941, Eigentum von Familie Kaar. 704 Ebd. 705 Hermann Charasch an Theresia Kaar, datiert 15.3.1942, Eigentum von Familie Kaar. 706 Kurt Buck, Lageralltag und Zwangsarbeit. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 101. 707 Ebd. 708 Hermann Charasch an Theresia Kaar, datiert 15.3.1942.

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Abb. 14  : Der Brief aus dem Lager Neusustrum vom 21. Dezember 1941.

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nach Garsten und […] da könntest du mich immer besuchen.«709 Den aufgestempelten Hinweis auf seinen nächsten »Schreibtag« ergänzte er mit »2.1.43«.710 Von Herbert Kaars Vater ist kein weiterer Brief überliefert. Zu einer Verlegung oder gar Entlassung sollte es nicht mehr kommen. Unter dem Betreff »Ableben des Gefangenen Hermann Israel Charasch« verständigte der Vorsteher des Lagers Neusustrum am 16. Dezember 1942 »den Herrn Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde«, dass der »durch Urteil des Sondergerichts Linz vom 13.5.1941 wegen Rassenschande zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilte Gefangene […] am 16.12.1942 um 5 Uhr verstorben«711 sei. Charasch wurde zwei Tage später auf dem Lagerfriedhof verscharrt. Die genauen Umstände seines Todes sind nicht bekannt. Erst mehr als einen Monat später wurde auch Theresia Kaar verständigt  : »Hierdurch teile ich Ihnen mit, daß der Schneider Hermann Israel Charasch am 16.12.1942 an Durchfall verstorben ist.«712 Während einer Reise nach Papenburg, die Herbert Kaar gemeinsam mit seiner Ehefrau und dem ältesten ihrer vier Kinder am 24. Oktober 2010 unternahm, wurde ihm im Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager eine Kopie der Sterbeliste ausgehändigt. Darauf scheint auch der Name seines Vaters auf  : »Von der Liste mit den zwanzig innerhalb weniger Tage Verstorbenen, deren einer mein Vater war, stammen neunzehn aus dem KZ Neusustrum  ! In einer Broschüre, die ich aus dem Doku-Zentrum mitgenommen habe, wird Neusustrum von überlebenden Häftlingen als die Hölle der Höllen bezeichnet.«713 Die Zahl der in den Emslandlagern und deren Außenlagern ermordeten Strafgefangenen wird auf 2200 bis 2400 geschätzt,714 die der zu Tode gekommenen Kriegsgefangenen, vorwiegend sowjetische Soldaten, auf 14.250 bis 24.000.715 Im Februar 1943 wandte sich Theresia Kaar schriftlich an den Kommandeur der Emslandlager in Papenburg und verwies auf das Schreiben vom 20. Jänner 1943. Darin sei ihr mitgeteilt worden, »dass der Nachlass des Verstorbenen mir zur Verwendung für die erbberechtigten Kinder zugesendet wird.«716 Nachdem bisher nichts bei ihr eingelangt sei, bat sie den Kommandeur, »zu veranlassen, dass diese Sachen an 709 Hermann Charasch an Theresia Kaar, datiert 21.11.1942. 710 Ebd. 711 Vorsteher Strafgefangenenlager V an STA Linz, datiert 16.12.1942, Anklagebehörde, OÖLA. 712 Abschrift Kommandeur Emslandlager an Theresia Kaar, datiert 20.1.1943, OfA Theresia Kaar, OÖLA, Kopie im Besitz von Herbert Kaar. 713 Kaar, Im Aschermoor, S. 6. 714 Siehe Wilfried Wiedemann, Die Strafgefangenen der Justiz im Emsland. In  : Faulenbach/Kaltofen (Hg.), Hölle im Moor, S. 141. 715 Siehe Gedenkstätte Esterwegen, URL  : https  ://www.gedenkstaette-esterwegen.de/geschichte/lager friedhoefe/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 716 Theresia Kaar an Kommandeur Emslandlager, datiert 17.2.1943, Eigentum von Familie Kaar.

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mich abgesendet werden, wenn dies bis heute noch nicht geschehen sein sollte.«717 Des Weiteren ersuchte sie um die Übermittlung eines Totenscheines, »den ich ja bei den Behörden brauchen werde.«718 2.4.8 Verbleib der Geschwister von Herbert Kaars Vater Am Tag seiner Festnahme in Linz am 28. Februar 1941 war Hermann Charasch von Kriminalsekretär Franz Gamnitzer auch zum Verbleib seiner Geschwister befragt worden  : »Über den gegenwärtigen Aufenthalt meiner weiteren 5 Geschwister kann ich keine Angaben machen.«719 Vier der Geschwister sollten die Shoah überleben  : Die am 13. Februar 1905 geborene zweitälteste Tochter Gisela, die in manchen Quellen auch als Gisella aufscheint, heiratete den Nichtjuden Franz Hafner und trat am 30. November 1938 aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus. Im selben Jahr wurde ihre Tochter Herta geboren. Herbert Kaar lernte diese Cousine im Zuge der Nachforschungen über seinen Vater kennen  : »Ihre Mutter, erzählte Herta, habe Theresienstadt ebenso wie das noch schlimmere Mauthausen nur überlebt, weil sie sich als Kürschnerin unentbehrlich für die Frauen der Nazibonzen zu machen verstand.«720 In der KZ-Gedenkstätte Mauthausen sind »nur Frauenzugänge aus Ravensbrück bekannt, […] dass auch aus Theresienstadt Frauen gekommen wären«,721 würde weiterer Recherchen bedürfen. Gisela Hafner starb am 8. Juli 1957 und wurde im Grab ihrer Eltern am Zentralfriedhof in Wien bestattet  : »Nach dem Grauen der KZs, über die sie laut Herta nie sprach, hatte sie hier ihre Ruhe gefunden.«722 Der am 27. Oktober 1906 geborene Isidor Charasch, der sich später Edouard Charasse nannte, heiratete in Wien die Nichtjüdin Karoline Remsberger und »flüchtete bereits kurz nach dem Anschluss nach Frankreich. Bis zu diesem Tag hatte Isidor seiner Frau verschwiegen, dass er Jude war, und sie verzieh ihrem Mann das auch nie.«723 Isidor hatte drei Söhne, überlebte den Zweiten Weltkrieg in Frankreich, wo er auch nach Kriegsende verblieb, und starb am 18. Mai 1989. Die jüngste der Schwestern, Franziska, geboren am 6. März 1909, flüchtete nach London, heiratete Henry Sztayn, auch Stein geschrieben, und lebte »noch weitgehend in der jüdischen Tradition«.724 Ihre Ehe blieb kinderlos. Franziska, die darauf 717 Theresia Kaar an Kommandeur Emslandlager. 718 Ebd. 719 Vernehmungsbogen Kriminalpolizei Linz, datiert 28.2.1941, Anklagebehörde, OÖLA. 720 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 183. 721 E-Mail KZ-Gedenkstätte Mauthausen an Verfasser, datiert 3.6.2020. 722 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 209. 723 Ebd., S. 265. 724 Ebd., S. 266.

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bestanden habe, »in einem jüdischen Friedhof begraben zu werden«,725 verstarb am 1. Dezember 2003. Der jüngere Bruder von Hermann Charasch, Siegfried, in den Quellen auch als Sigfried oder Fred bezeichnet, wurde am 12. Jänner 1913 geboren und heiratete 1936 im Wiener Stadttempel die Buchhalterin und Kontoristin Edith Singer. Am 11. Mai 1938 unterschrieb er einen der Fragebögen, die von der zur Fürsorge-Zentrale der Israelitischen Kultusgemeinde Wien gehörenden Auswanderungsabteilung vorgedruckt worden waren. Darin gab Siegfried Charasch, wohnhaft in der Oberen Donaustraße 85/5 im zweiten Bezirk in Wien, an, die polnische Staatsbürgerschaft zu besitzen, seit seiner Geburt in Wien zu leben und als geprüfter Schneidermeister sowie Herrenschneider »versiert in allen Kürschnerarbeiten«726 zu sein. Die Frage nach der bisherigen Tätigkeit und beruflichen Stellung beantwortete er mit den Worten »eigene Werkstätte«.727 Laut »Steuermandat« betrug sein monatlicher Verdienst zu diesem Zeitpunkt 120 Schilling. Siegfried Charasch sei »in der Lage, sich alle für die Auswanderung notwendigen Dokumente zu beschaffen«,728 auch wenn sein Reisepass im polnischen Konsulat hinterlegt sei. Er beherrsche »etwas« Englisch sowie Französisch und wolle »wenn möglich« nach Übersee auswandern, »wohin egal«.729 An Mitteln, die ihm für die Auswanderung zur Verfügung stünden, führte er die für die Ausübung seines Berufs »notwendigen Werkzeuge«730 sowie Maschinen an. Über Beziehungen im Ausland, besonders in dem Land, in das er auswandern wolle, verfüge er nicht. Siegfried Charasch gelang schließlich ebenfalls gemeinsam mit seiner Familie die Flucht nach Frankreich, wo er seinen Bruder Isidor traf  : »Beide Familien entgingen nur mit Glück drohender Deportation und damit dem wahrscheinlichen Tod. Nach dem Krieg blieben sie und wurden französische Staatsbürger.«731 Siegfried Charasch, der zwei Söhne und eine Tochter hatte, verstarb am 14. Oktober 1986 in Frankreich. Die älteste Schwester von Hermann Charasch, die am 15. Dezember 1903 geborene Modistin Antonie, und ihr Ehemann, der am 15. Jänner 1903 geborene Maschinenschlosser Michael Pilpel, versuchten ebenfalls, dem nationalsozialistischen Terror durch Flucht ins Ausland zu entkommen. Am selben Tag wie Siegfried Charasch unterfertigte Michael Pilpel den Fragebogen der Auswanderungsabteilung. Er war am 15. Jänner 1903 in der Stadt Horodenka geboren worden, die damals im 725 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 266. 726 Fragebogen Siegfried Charasch, AW, Fürsorge-Zentrale der IKG Wien, datiert 11.5.1938, Archiv IKG Wien. 727 Ebd. 728 Ebd. 729 Ebd. 730 Ebd. 731 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 265.

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Kronland Galizien lag und seit 1991 zur Ukraine gehört. Von September 1921 an lebte Pilpel in Wien. Er besaß ebenfalls die polnische Staatsbürgerschaft. Als Wohnadresse führte er die Wohnung in der Rögergasse 21/15 im neunten Bezirk in Wien an. Antonie und Michael Pilpel hatten 1934 im Wiener Stadttempel geheiratet, ihre Ehe sollte kinderlos bleiben. Der Schwager von Hermann Charasch gab an, seit 1. April 1938 arbeitslos zu sein und davor als Schlosser und Hilfsarbeiter für die Länderbank gearbeitet zu haben. Die Frage nach seinen Sprachkenntnissen beantwortete er mit »Polnisch, Deutsch, Hebräisch«.732 Er sei, wie auch Siegfried Charasch, in der Lage, sich alle für die Auswanderung notwendigen Dokumente zu beschaffen, und wolle »wenn möglich«733 ebenfalls nach Übersee auswandern. Jeweils keine Angaben machte er zu den Fragen, welche Pläne er für seinen neuen Aufenthalt habe, welche Mittel ihm zur Auswanderung zur Verfügung stehen würden und über welche Beziehungen er im Ausland verfüge. Auch Michael Pilpel vermerkte auf dem Fragebogen, keinen gültigen Pass zu besitzen. Er wurde am 27. Oktober 1939 von Wien nach Nisko am San mit dem zweiten Transport, der 672 Männer umfasste, deportiert734 und hat nicht überlebt. Seine Ehefrau Antonie, die unmittelbar vor ihrer Verschleppung in der Berggasse 39/3 im neunten Bezirk in Wien lebte,735 wurde am 2. November 1941 von Wien ins Getto Lodz deportiert. Dort kam sie am Tag darauf an. Auf einer von ehemaligen Insassen des Gettos und der Gedenkstätte Yad Vashem veröffentlichten Liste scheint sie mit richtigem Geburtsdatum sowie korrektem Vor- und Mädchennamen, aber unter dem falsch geschriebenen Nachnamen »Pilpet« auf.736 Gemäß den auf dieser Liste enthaltenen Angaben war sie im Getto in dem Gebäude mit der Adresse Ale­ xan­derhofstraße 41 untergebracht. Der 10. Mai 1942 wurde als jener Tag, an dem sie aus dem Getto weiterverschleppt wurde, eingetragen. Danach verliert sich ihre Spur. Die Nachkommen von Hermann Charasch und dessen Geschwistern gehen davon aus, dass Antonia Pilpel in Auschwitz ermordet wurde. Am 10. Mai 1942 verließ ein für das »Vernichtungslager« Kulmhof in Chełmno nad Nerem im besetzten Polen bestimmter Transport das Getto. 732 Fragebogen Michael Pilpel, AW, Fürsorge-Zentrale der IKG Wien, datiert 11.5.1938, Archiv IKG Wien. 733 Ebd. 734 Siehe Teilnehmer-Liste des am 27.10.1939 abgehenden Transports, zit. n. ITS Digital Archive, Arolsen, 1.2.1.1/11204265. 735 Siehe DÖW, Datenbanken, Shoah-Opfer, URL  : https  ://www.doew.at/personensuche?gestapo=on&f indall=&lang=de&suchen=Alle+finden&shoah=on&politisch=on&spiegelgrund=on&firstname=anto nie&lastname=pilpel&birthdate=&birthdate_to=&birthplace=&residence=&newsearch=10&iSortC ol_0=1&sSortDir_0=asc&lang=de (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 736 Siehe Organization of Former Residents of Lodz in Israel/Yad Vashem (Hg.), Lodz-Names. List of the Ghetto Inhabitants 1940–1944, zit. n. ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.22.1/1203385.

Herbert Kaar  : »Der Vater war nie ein Thema bei uns daheim«

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2.4.9 Ringen um Entschädigungszahlungen Theresia Kaar brachte im Februar 1944 nach einer mutmaßlichen Vergewaltigung durch einen sizilianischen Fremdarbeiter737 einen weiteren Sohn zur Welt. Gut ein Jahr nach Kriegsende, am 26. Juni 1946, suchte die Alleinerzieherin beim Magistrat Linz um die Ausstellung einer Amtsbescheinigung an, wie in Paragraf vier des ersten Opfer-Fürsorgegesetzes738 vorgesehen. Dieses begünstigte allerdings ausschließlich »Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich«739 und deren Nachkommen. Als Beleg für die Lebensgemeinschaft, in der sie mit Hermann Charasch vor dessen Festnahme gelebt hatte, verwies Kaar auch auf die Briefe, die sie von ihm aus dem Lager bekommen hatte. Außerdem teilte sie dem Magistrat mit, »beim Landesverband ehem. polit. Verfolgter registriert«740 zu sein. Der Sekretär des Verbands bestätigte im Oktober 1946, dass Theresia Kaar »bei uns als Hinterbliebene des Hermann Charasch registriert ist.«741 Ebenfalls im Oktober 1946 übermittelte die Polizeidirektion Wien eine Strafregisterauskunft über Hermann Charasch. Darin scheinen 12 Verurteilungen auf, darunter auch die des »Sondergerichts« wegen »Ras­senschande« vom 13. Mai 1941. Das Amt für Allgemeine Verwaltungsangelegenheiten der Stadt Linz befürwortete Anfang Dezember 1946 Theresia Kaars Ansuchen  : »Was den polit. Einsatz des Herrn Charasch betrifft, so dürfte wohl mit nicht geringerer Wahrscheinlichkeit, als die Zugehörigkeit zu einer dem Nationalsozialismus gegenüber feindl. eingestellten Partei, die es nahelegt, anzunehmen sein, daß Herr Charasch, der aus rassischen Gründen seine Verfolgung zu gewärtigen hatte, vor 1938 die Gelegenheit, da er als Schneider mit vielen Menschen zusammen gekommen ist, benützt hatte, einen polit. Einsatz im Kampf gegen den Nationalsozialismus durch Aufklärung zu leisten.«742 Die Beamten des Magistrats verwiesen auf die schwierige wirtschaftliche Lage, in der sich Theresia Kaar als Hausfrau und Mutter vaterloser Kinder befand. Dem Bezug einer Hinterbliebenenrente käme »zur Sicherung des Unterhalts der Frau und von 4 kleinen Kindern große Bedeutung zu. Frau Kaar macht den Eindruck eines netten und arbeitssamen Menschen und einer guten Mutter. Sie strebt auch geordnete Wohnverhältnisse an und wäre auch deswegen an der §-4-Bescheinigung 737 Siehe Interview mit Herbert Kaar, S. 9. 738 Gesetz über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich (Opferfürsorgegesetz), datiert 17.7.1945, URL  : https  ://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1945_90_ 0/1945_90_0.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 739 Ebd. 740 Ansuchen Theresia Kaar, datiert 26.6.1946, OfA, OÖLA, Kopie im Besitz von Herbert Kaar. 741 OÖ Landesverband ehemals polit. Verfolgter an Magistrat Linz, datiert 9.10.1946, OfA. 742 Magistrat Linz an Amt OÖ Landesregierung, datiert 3.12.1946, OfA.

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sehr interessiert.«743 Die Magistratsbediensteten thematisierten auch die Vorstrafen von Hermann Charasch und legten Theresia Kaars Ansuchen dem Amt der oberösterreichischen Landesregierung zur Entscheidung vor, verbunden mit der Frage, ob »die kleineren kriminellen Verfehlungen früherer Zeit außer Acht gelassen werden können«.744 Am 6. Februar 1947 teilte der Sekretär des oberösterreichischen Landesverbands ehemals politisch Verfolgter der Abteilung Fürsorge der Landesregierung mit Verweis auf eine am 25. Jänner 1947 erfolgte Besprechung ohne Angabe von Gründen mit, aufgrund eigener Erhebungen keine Bescheinigung ausstellen zu können  : »Der Verband beantragt auch die Ablehnung des Opferfürsorgeantrages der Frau Kaar.«745 Zwei Tage später wurde Theresia Kaars Ansuchen vom Land Oberösterreich abgelehnt, da die im Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. In der amtlichen Begründung wird ausgeführt, schon aus den von Herbert Kaars Mutter vorgelegten Unterlagen über die Verfolgung von Hermann Charasch wegen Verstößen gegen das damals geltende »Blutschutzgesetz« sei zu entnehmen, »daß nicht politische Gründe, bezw. nicht diese allein, für die Verurteilung und Inhaftierung maßgebend waren, diese Annahme noch durch die 11 Vorstrafen des Hermann Charasch bestätigt wird«.746 Mit 31. Jänner 1949 übernahm das Bezirksgericht Linz die Vormundschaft für die drei Kinder von Theresia Kaar und Hermann Charasch. Kaar bemühte sich weiter darum, alle Voraussetzungen zu erfüllen, um Entschädigungszahlungen zu erhalten. Nachdem die dritte Novellierung des Opferfürsorgegesetzes 1949747 mehr Möglichkeiten für Hinterbliebene von Opfern des nationalsozialistischen Terrorregimes schuf, Ansprüche geltend zu machen, wurde Theresia Kaar am 6. Juli 1950 beim Amt der oberösterreichischen Landesregierung vorstellig. Sie beantragte die dafür erforderliche Amtsbescheinigung für sich und die drei Kinder. Das Amt teilte dem Magistrat Linz daraufhin mit, dass festzustellen sei, »ob zwischen der Einschreiterin und dem Opfer eine Lebensgemeinschaft bestanden hat. […] Weiters ist nachzuweisen, ob das Opfer […] vor der Verhaftung den überwiegenden Lebensunterhalt der Einschreiterin bestritten hat.«748 Kaars Gnadengesuch um die Tilgung der Verurteilungen von Hermann Charasch wurde wenige Tage später vom Bundesministerium für Justiz abgelehnt, »weil den Ansprüchen von Hinterbliebenen politischer oder rassischer Opfer aus dem Opfer-

743 Magistrat Linz an Amt OÖ Landesregierung, datiert 3.12.1946, OfA. 744 Ebd. 745 OÖ Landesverband ehemals politisch Verfolgter an Amt OÖ Landesregierung, datiert 3.2.1947, OfA. 746 Bescheid Amt OÖ Landesregierung, datiert 8.2.1947, OfA. 747 3. Novelle des Opferfürsorgegesetzes, Bundesgesetz vom 9.2.1949. 748 Amt OÖ Landesregierung an Magistrat Linz, datiert 6.7.1950, OfA.

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fürsorgegesetz die Vorstrafen des Verstorbenen laut einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 28.11.1949 […] nicht entgegenstehen.«749 Das Bezirksverwaltungsamt der Stadt Linz übermittelte daraufhin der Abteilung Opferfürsorge der Landesregierung »noch ausständig gewesene Belege […], da nunmehr eine Anerkennung der Hinterbliebenen, ungeachtet der Vorstrafen des Opfers, das als Opfer rassischer Verfolgung ums Leben gekommen ist, erfolgen kann.«750 Am 23. November 1949, achteinhalb Jahre nach der Verurteilung und viereinhalb Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde das gegen Hermann Charasch gesprochene Urteil des Linzer »Sondergerichts« vom 13. Mai 1941 durch einen Beschluss des Landesgerichts Linz getilgt. Zu diesem Zeitpunkt war Herbert Kaars Vater bereits seit fast sieben Jahren tot. Am 19. Juli 1950 erklärte Theresia Kaar an Eides statt, am 1. Juni 1939 mit Hermann Charasch zusammengezogen und von da an nicht mehr selbst einer Arbeit nachgegangen zu sein  : »Er hat gut verdient u. ist ganz für meinen Lebensunterhalt u. den der Familie aufgekommen.«751 Zwei ehemalige Nachbarinnen wurden vom Magistrat Linz vorgeladen. Sie sagten ebenfalls aus, dass Charasch als Schneider »ordentlich verdient«752 habe und »ganz für den Unterhalt der Familie aufgekommen«753 sei. Herbert Kaars Vater beschrieben die beiden als »recht anständigen und fleißigen Menschen«,754 der auf Theresia Kaar »und auf die Kinder gut geschaut hat.«755 Die Beamten der Landesregierung erhielten im Juli 1950 den 1941 vom damaligen Landgericht Linz angelegten »Strafakt gegen Hermann Israel Charasch […] zur Einsichtnahme«,756 den sie beantragt hatten. Am 21. August 1950, mehr als fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wurden Theresia Kaar und ihre drei älteren Kinder schließlich als Hinterbliebene anerkannt. Das Amt der oberösterreichischen Landesregierung stellte ihnen die Amtsbescheinigungen aus, die unerlässlich waren, um eine Rente nach dem Opferfürsorgegesetz beantragen zu können. Theresia Kaar bezog bis zu ihrem Tod 1986 eine Hinterbliebenenrente. Ihre Kinder erhielten eine derartige Rente bis zum Ende jenes Jahres, in dem sie das 24. Lebensjahr vollendeten. Die Zahlungen wurden mehrmals aufgrund von Gesetzesänderungen angepasst. Herbert Kaars Hinterbliebenenrente belief sich zunächst auf 150 Schilling, wurde dann auf 170, mit 1. Juli 1960 auf 190 Schilling, mit 1. Jänner

749 Kreisgericht Wels an Theresia Kaar, datiert 14.7.1950, OfA. 750 Magistrat Linz an Amt OÖ Landesregierung, datiert 16.7.1950, OfA. 751 Eidesstattliche Erklärung Theresia Kaar, datiert 19.7.1950, OfA. 752 Niederschrift Katharina Litzlbauer, datiert 21.7.1950, OfA. 753 Niederschrift Hildegard Lüftner, datiert 21.7.1950, OfA. 754 Ebd. 755 Niederschrift Katharina Litzlbauer. 756 Aktenlager LG Linz an Amt OÖ Landesregierung, datiert 22.7.1950, OfA.

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1961 auf 210 und mit 1. Juni 1965 auf 252 Schilling erhöht. Sein Anspruch erlosch am 31. Dezember 1965.757 Die siebte Novelle des Opferfürsorgegesetzes in Österreich für Witwen, Lebens­ gefährtinnen und Kinder von inzwischen verstorbenen Personen, die zwischen 6. März 1933 und 9. Mai 1945 »aus politischen Gründen oder aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität«758 in gerichtliche oder polizeiliche Haft genommen worden waren, sah 1952 einen einmaligen Anspruch auf »Entschädigung zur Abgeltung von wirtschaftlichen Nachteilen«759 vor. Theresia Kaar beantragte 1954 eine derartige Zahlung, die ihr vom Amt der oberösterreichischen Landesregie­ rung mit der Begründung verwehrt wurde, dass Hermann Charasch »nicht österreichischer, sondern polnischer Staatsangehöriger war und er überdies ungetilgte Verbrechensvorstrafen betr. Eigentumsdelikte hatte.«760 2.4.10 Nachforschungen nach dem Tod der Mutter Herbert Kaar absolvierte nach der bis Anfang der 1960er-Jahre geltenden achtjährigen Pflichtschulzeit eine dreijährige Schlosserlehre. Bis 1971 arbeitete er als Schlosser und Kranführer im Linzer Hafen, danach in anderen Betrieben des Magistrats, zuletzt im Kontroll- und Sicherheitsdienst der Stadtbetriebe Linz. Erst im Erwachsenenalter habe er sich für seine Vorfahren väterlicherseits zu interessieren begonnen  : »Der fehlende Vater, über den auch nie jemand sprach, war eigentlich über Jahre für mich als Kind kein Thema.«761 Von seiner Mutter habe Kaar kaum etwas über das Leben von Hermann Charasch erfahren  : »Mutter hielt belastende Erinnerungen fest im Griff, und mit den Jahren perfektionierte sie die Kunst der Verdrängung.«762 Um seine krebskranke Mutter »nicht noch mehr zu belasten«,763 habe Herbert Kaar es vermieden, in den Monaten vor ihrem Tod nach seinem Vater zu fragen  : »Vielleicht wäre sie zuletzt eher dazu bereit gewesen, darüber zu reden. Vielleicht rechnete sie sogar damit, doch ich versäumte auch die letzte Gelegenheit, mehr über meinen Vater zu erfahren.«764 Nach dem Tod seiner Mutter am 18. Februar 1986 stellte Kaar Nachforschungen über den Verbleib seines Vaters an, denn »irgendwann beginnt man einmal, nach757 Bescheid Amt OÖ Landesregierung, datiert 6.12.1965, OfA Herbert Kaar, OÖLA, OF 496/1965, Kopie im Besitz von Herbert Kaar. 758 7. Novelle des Opferfürsorgegesetzes, Bundesgesetz vom 18.7.1952. 759 Ebd. 760 Bescheid, datiert 2.6.1954, OfA. 761 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 20. 762 Ebd., S. 19 763 Ebd., S. 36. 764 Ebd., S. 36.

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zudenken, woher komme ich  ? […] Meine Mutter hat sehr wenig geredet über ihn. Wenn wir gestritten haben, dann hat sie zu weinen angefangen und gesagt, wann das der Hermann erlebt hätte, wann das der Hermann erlebt hätte. […] Sie hat immer gesagt, er war ein guter Mensch.«765 Mehr als zehn Jahre lang war Herbert Kaar damit beschäftigt, nach Spuren seines Vaters zu suchen. Seine Geschwister und er hätten »keine Informationen über ihn gehabt, das war ja wirklich eine völlige Leere.«766 In seiner Autobiografie beschreibt Herbert Kaar die Nachforschungen als eine »mühsame, deprimierende Suche«.767 Viele Jahre lang habe er aus »einer unerklärlichen Scheu heraus«768 gezögert, der Geschichte seines Vaters nachzugehen  : »Ich schaffte es nicht. Bis jetzt wusste nur die Behörde von dem Makel meiner Abstammung.«769 Im Alter von 46 Jahren, am 9. Februar 1988, wurde Herbert Kaar schließlich beim Amt der oberösterreichischen Landesregierung vorstellig. Er bat um Einsicht in den Akt, der über seine Mutter geführt worden war und Schriftstücke über Anträge und Bescheide gemäß dem Opferfürsorgegesetz enthält. In dem Aktenvermerk über Kaars Besuch wurde festgehalten, dass dieser seinen Wunsch damit begründet habe, »daß ihm seine Mutter über den Kindesvater nichts Wesentliches erzählt hat.«770 Kaar wurden anlässlich seines Besuchs Kopien einzelner Aktenteile übermittelt. Am darauffolgenden Tag ersuchte er schriftlich um Einsichtnahme in den Akt, der für ihn »einen hohen Stellenwert«771 habe, da ihm keine anderen Quellen über seinen Vater zur Verfügung stünden  : »Aus verständlichen Gründen bin ich sehr interessiert, mehr über meinen Vater in Erfahrung zu bringen.«772 Das Land Oberösterreich teilte ihm einen Monat später jedoch mit, »daß einer weiteren Akteneinsicht nicht zugestimmt werden kann.«773 Daraufhin engagierte Herbert Kaar einen Rechtsanwalt. Dieser schrieb an den zuständigen Beamten und pochte mit dem Hinweis, sein Mandant sei gesetzlicher Erbe von Theresia Kaar, darauf, Einsicht nehmen zu dürfen  : »Abgesehen davon, daß meinem Mandanten nur einige wenige Aktenstücke gezeigt wurden, hat mein Mandant einen Rechtsanspruch auf Akteneinsicht, der nicht von der Zustimmung 765 Interview mit Herbert Kaar, S. 5. 766 Buchpräsentation, Bildungshaus St. Magdalena, 8.6.2010, zitiert nach Mitschnitt, Radio Oberösterreich, Lust aufs Leben vom 27.6.2010. 767 Kaar, Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last, S. 262. 768 Ders., »Mutter hatte die Erinnerungen an früher fest im Griff …«. In  : Riegler/Stockinger (Hg.), Generationen erzählen, S. 208. 769 Ebd., S. 209. 770 Aktenvermerk, datiert 9.2.1988, OfA Theresia Kaar, OÖLA, Kopie im Besitz von Herbert Kaar. 771 Herbert Kaar an Präsidium OÖ Landesregierung, datiert 10.2.1988, OfA Theresia Kaar. 772 Ebd. 773 Landeshauptmann OÖ an Herbert Kaar, datiert 10.3.1988, OfA.

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der Behörde abhängig ist. […] Sollte die Akteneinsicht weiterhin verweigert werden, ersuche ich um einen diesbezüglichen rechtsmittelfähigen Bescheid.«774 Im Akt findet sich der Vermerk, dass Herbert Kaar im April 1997, neun Jahre später, Einsicht genommen und von mehreren Aktenstücken Kopien erhalten habe.775 1996 reichte Herbert Kaar einen autobiografischen Text mit dem Titel »Hunde­ jahre« zu dem von der Arbeiterkammer Oberösterreich ausgelobten Max-vonder-Grün-Preis für Literatur zur Arbeitswelt ein und erhielt einen der vier Anerkennungspreise zugesprochen. Am 2. November 2005 nahm er im Bildungshaus St. Magdalena in Linz gemeinsam mit zwei Töchtern des 1943 enthaupteten Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter und dem Autor Martin Pollack an einer Podiumsdiskussion mit dem Titel »Opferkinder – Täterkinder« teil. Er berichtete über die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte seines Vaters  : »Ich sehe es fast als eine Verpflichtung, nachdem ich ihn so lange verleugnet habe, mich auf meine Wurzeln zu besinnen.«776 2010 erschien Herbert Kaars erstes Buch »Einhängen – Heben – Aufsetzen der Last. Eine Nachkriegsbiografie«, durch das sich das Leben seines Vaters wie ein roter Faden zieht. 2014 folgte der ebenfalls autobiografische Band »Heimat Hafen« und 2017 das dritte Buch »Not Aus«, das Gedichte und Prosatexte enthält. Seine Geschwister und er seien unterschiedlich mit dem Wissen über den Vater umgegangen, das im Lauf der Jahre größer wurde, konstatiert Kaar  : »Ich glaube, mein älterer Bruder hat sich Zeit seines Lebens geschämt. Er hat nie etwas wissen wollen davon, das hat er als beschämend empfunden. […] Ich habe nie ein Geheimnis draus gemacht. Meine Schwester ist auch schon vorsichtig, sie war in Israel vor Jahren, jetzt redet sie aber nicht mehr davon. Sie bekommt das natürlich auch mit, dass die aus den Löchern wieder herauskriechen. […] Sie sagt, das will sie nicht mehr hören. Aber wenn wir es nicht mehr hören wollen, wie sollen dann unsere Enkel eine Beziehung dazu bekommen  ?«777 Für ihn sei es insofern wichtig, viel über seinen Vater zu wissen, weil er dieses Wissen an die nachfolgenden Generationen weitergeben könne. Auf die Frage, welches Bild er von seinem Vater habe, antwortete Herbert Kaar, er habe ihn zunächst »ziemlich stark abgelehnt. Er hat uns alle in tödliche Gefahr gebracht. […] Darum habe ich ihn auch abgelehnt, ganz radikal, weil  : hat er das Recht, dass er Kinder in die Welt setzt, die dann selbst immens bedroht waren  ? In anderen Gegenden hätten wir nicht überlebt. Und wenn wir den Krieg gewonnen hätten,

774 Rechtsanwalt Peter Wagner an Amt OÖ Landesregierung, datiert 24.3.1988, OfA. 775 Siehe Vermerk, datiert 29.4.1997, OfA. 776 Opferkinder – Täterkinder, Podiumsdiskussion, Bildungshaus St. Magdalena, 2.11.2005, zit. n. Mitschnitt, Radio Oberösterreich, Lust aufs Leben vom 13.11.2005. 777 Interview mit Herbert Kaar, S. 9.

M1: »Ich habe meine Herkunft von den Eltern nie erfahren«

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dann wären wir dran gewesen, auch die Halbjuden.«778 Nachdem er inzwischen mehr über das Leben seines Vaters weiß, sei das Mitgefühl stärker geworden  : »Zuerst habe ich eine Wut auf ihn gehabt, weil er uns in so eine Lage gebracht hat. Dann habe ich ein Verständnis dafür gehabt, was das geheißen hat, mit dieser Bedrohung zu leben. […] Ich bin mit ihm ausgesöhnt. Er ist zur falschen Zeit an der falschen Stelle gewesen.«779

2.5 M1: »Ich habe meine Herkunft von den Eltern nie erfahren« 780 Durch die Nachforschungen, die seine Cousine W1781 in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre anzustellen begann, erhielt M1782 sukzessive Kenntnis über die Verfolgung, der seine Eltern und andere Vorfahren während der nationalsozialistischen Diktatur ausgesetzt waren. M1 wurde im vierten Quartal 1947 in Wien geboren. Beide Elternteile stammten aus jüdischen Familien und wurden, mit unterschiedlichen Transporten, von Wien nach Riga verschleppt, wo sie bis zur Räumung des Konzentrationslagers Kaiserwald im dritten Quartal 1944 Zwangsarbeit leisten mussten. Danach wurden sie ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig gebracht. Beide überlebten die Shoah. Abgemagert »wie Skelette«,783 kehrten sie im zweiten Quartal 1945 zu Fuß ins befreite Österreich zurück und heirateten 1946 in Wien, wo sie bis zu ihrem Tod wohnhaft blieben. Mit M1, ihrem einzigen Kind, hätten sie kaum über diese Zeit und ihre jüdische Abstammung gesprochen  : »Es war zu Hause tabu, das Thema. Die Herkunft war komplett tabu. Ich habe meine Herkunft von den Eltern nie erfahren.«784 Erste Hinweise auf die Geschichte seiner Herkunftsfamilie bekam M1, als er in der elterlichen Wohnung in Wien Anträge auf Entschädigung entdeckte, die sein Vater und seine Mutter in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre gestellt hatten  : »In einem Kastl, irgendwo bei den Dokumenten, schön unten irgendwo. Ich war damals 11 Jahre alt, 12 Jahre alt. Da stierlt man halt gerne herum.«785 Der Vater hatte 778 Interview mit Herbert Kaar, S. 9. 779 Ebd., S. 8. 780 Interview mit M1, Transkript S. 2. 781 Siehe Kapitel 2.7. 782 Da zwischen dem Interviewpartner und W1 ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, war eine Anonymisierung unumgänglich, um Rückschlüsse auf den Nachnamen von W1 zu verunmöglichen, auch wenn M1 die Anonymisierung nicht zur Bedingung für die Zustimmung zur Veröffentlichung des transkribierten Interviews gemacht hatte. Die Daten wurden vom Verfasser anonymisiert. 783 Interview mit M1, S. 4. 784 Ebd., S. 2. 785 Ebd., S. 7.

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auf seinem Antrag ausgeführt, im Dezember 1941 »ohne Mantel noch Hut«786 bei minus 41 Grad in Riga angekommen zu sein  : »Was ich sah und erlebte kann ich nicht schildern.«787 Auf dem von der Mutter von M1 unterschriebenen Antrag wurde vermerkt, dass diese im Februar 1942 gemeinsam mit ihrer Mutter in die lettische Hauptstadt deportiert worden war. Die Großmutter mütterlicherseits von M1 sei »dort vergast«788 worden. Zu dem Zeitpunkt, zu dem M1 auf diese Unterlagen stieß, habe er sich »nichts vorstellen können darunter.«789 Weder über die Anträge, noch über die jüdische Herkunft sei innerhalb der Familie geredet worden. Als Kind wurde M1 römisch-katholisch getauft. Ihm gegenüber hätten die Eltern das Wort »Jude« nicht verwendet  : »Statt ›Jude‹ haben sie ›Je‹ gesagt. ›Das ist ein Je‹. […] Aber ein Thema war es bei uns überhaupt nie.«790 Erst als M1 im Alter von 50 Jahren seine Cousine W1 kennenlernte, sei die Familiengeschichte zum Thema geworden. Davor habe er »nicht darüber reden können, weil es war kein Gesprächspartner für mich da.«791 Sein bester Freund, mit dem er 1962 Bekanntschaft geschlossen hatte, habe erst beim Begräbnis der Mutter von M1 im ersten Quartal 2005 von den jüdischen Wurzeln des ehemaligen Mitschülers erfahren. Während die Mutter in den letzten Jahren vor ihrem Tod mit ihrer Nichte W1 sehr wohl über die Vergangenheit sprach, schwieg sie ihrem Sohn gegenüber weiterhin  : »Ich habe die Mutter dann gefragt. ›Ich will da nicht reden darüber und das ist vorbei und das tut mir weh und ich will nichts hören davon.‹ Die Leute haben alle einen psychischen Schaden gehabt.«792 2.5.1 Jüdische Vorfahren von M1 Der jüdische Großvater mütterlicherseits von M1 wurde im ersten Quartal 1862 in Wien geboren und heiratete im zweiten Quartal 1888 in der Hauptsynagoge im ersten Wiener Gemeinde-Bezirk zum ersten Mal. Im zweiten Quartal 1889 brachte seine erste Ehefrau einen Sohn zur Welt und im vierten Quartal 1893 eine Tochter. Der Sohn verstarb im vierten Quartal 1939 in Shanghai. Nach dem Tod seiner ersten Frau im ersten Quartal 1910 ehelichte der Großvater im zweiten Quartal 1910 in Wien die Großmutter mütterlicherseits von M1, die den gleichen Mädchennamen trug wie die erste Gattin. Ob ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden Frauen bestand, geht aus den zur Verfügung stehenden Quellen nicht hervor. 786 Antrag Vater von M1, undatiert, Eigentum von M1. 787 Ebd. 788 Antrag Mutter von M1, undatiert, Eigentum von M1. 789 Interview mit M1, S. 17. 790 Ebd., S. 3. 791 Ebd., S. 5. 792 Ebd., S. 4.

M1: »Ich habe meine Herkunft von den Eltern nie erfahren«

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Gesichert ist, dass sie keine Schwestern waren. Die Eltern der zweiten Ehefrau waren im ersten Quartal 1875 in der Hauptsynagoge getraut worden. Die Großmutter mütterlicherseits von M1 hatte vier Brüder, geboren im zweiten Quartal 1876, im vierten Quartal 1877, im zweiten Quartal 1879 und im vierten Quartal 1883. Ihr Vater verstarb im Sommer 1902. Die Mutter von M1 wurde im zweiten Quartal 1911, gut ein Jahr nach der Hochzeit ihrer Eltern, in Wien geboren, wo sie von 1918 bis 1923 die Volksschule und von 1923 bis 1926 die Bürgerschule besuchte. Sie hatte einen Zwillingsbruder, der im dritten Quartal 1933 aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien austrat  : »Der hat eine Christin geheiratet vor dem Krieg und […] den Krieg Abb. 15  : Die Mutter von M1, aufgenommen 1930. überlebt.«793 Während der NS-Zeit befand sich der Bruder in Wien. Er heiratete im vierten Quartal 1946 zum zweiten Mal und starb im zweiten Quartal 1989. Bis zu ihrer Verschleppung nach Riga am 6. Februar 1942 lebte die Mutter von M1, die zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt war, mit ihren Eltern zusammen.794 Ob sie in den Jahren davor mit jemandem liiert gewesen war, wusste ihr Sohn nicht zu berichten  : »Ich habe nie etwas erfahren, ich habe auch nie gefragt und sie hat nie etwas erzählt.«795 Die Biografien der jüdischen Vorfahren väterlicherseits von M1 werden in dem Kapitel über die Familiengeschichte von seiner Cousine W1 (siehe Kapitel 2.7) skizziert. Der Vater von M1 kam im vierten Quartal 1907 im 20. Bezirk in Wien zur Welt. Er wuchs, wie sein älterer Bruder, bei einer Schwester seiner Mutter auf und sei von seinem Vater, dem Großvater von M1, vernachlässigt worden  : »Der Vater, Buchhalter, sei Kartenspieler gewesen, habe sich nie um ihn gekümmert. Die Mutter habe einen Hausbesorgerposten gehabt […].«796 M1 berichtete, sein Vater habe ihm 793 Interview mit M1, S. 21. 794 Inhaftierungsbescheinigung Mutter von M1, datiert 4. Quartal 1963, Arolsen. 795 Interview mit M1, S. 13. 796 Psychiatrisches Gutachten, Strafakt Vater von M1, Akten S. 146, datiert 4. Quartal 1938, WStLA.

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von einem guten Verhältnis unter den Geschwistern erzählt  : »Ich weiß, dass sich mein Vater mit seinen Geschwistern sehr gut verstanden hat, vor dem Krieg und als Jugendliche, als junge Menschen. Und dass sie Theater gespielt haben, hat er erzählt. Im zweiten Bezirk haben sie Theater gespielt.«797 Der Vater von M1 besuchte in Wien von 1914 bis 1919 die Volksschule, von 1919 bis 1921 die Bürgerschule und von 1921 bis 1924 die Gewerbeschule. Er übte den Beruf des Goldschmieds aus und arbeitete »im Ganzen 9 Jahre«798 bei seinem Lehrmeister. Im vierten Quartal 1929 lernte er seine im zweiten Quartal 1915 im 13. Bezirk in Wien geborene spätere erste Ehefrau kennen. Diese lebte zu diesem Zeitpunkt in der Wohnung ihrer Schwester im zehnten Bezirk und war arbeitslos  : »Er unterstützte sie materiell, veranlasste sie auch, wieder einen Arbeitsposten zu suchen und erhielt sie tatsächlich einen solchen in einem Restaurant am Ring als Küchengehilfin.«799 In der Beziehung mit dem um siebeneinhalb Jahre jüngeren Mädchen sah der Vater von M1 1938 den Grund für den Verlust seines Arbeitsplatzes, weil er »dann das Geschäft wegen seiner zukünftigen Frau vernachlässigt«800 habe. Ende 1930 wurde er entlassen. Zweieinhalb Jahre lang war er danach arbeitslos. Im zweiten Quartal 1930 trat er 23-jährig aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus.801 Im vierten Quartal 1933 heiratete der Vater von M1, der zu diesem Zeitpunkt konfessionslos war, mit 25 Jahren in einer römisch-katholischen Kirche in Wien seine Freundin, die zu diesem Zeitpunkt als Küchen- und Haushaltsgehilfin tätig war. Da die Braut mit 18 Jahren nach damaligem Recht minderjährig war, benötigte sie eine bezirksgerichtliche Einwilligung. 1934 ließ sich der Vater von M1 »aus Liebe«802 zu seiner Ehefrau taufen. Das Verhältnis zu ihrem Ehemann in den Jahren vor der Heirat beschrieb diese 1938 als »ganz ein gutes. Nach der Verehelichung kam es täglich zu Zwistigkeiten und gestaltete sich die Ehe unglücklich. […] Mein Mann war von Beruf Goldschmiedgehilfe und vor der Trauung durch ca. 3 Jahre arbeitslos. Ein halbes Jahr vor der Trauung richteten mein damaliger Bräutigam und ich uns […] eine Tierhandlung ein. Ich war seit meinem 14. Lebensjahre als Hausgehilfin in Stellung und habe seit meinem 15. Lebensjahre mit meinem Gatten ein Verhältnis gehabt.«803 Gemäß den Angaben, die der Vater von M1 1951 gegenüber der International Refugee Organization IRO804 machte, arbeitete er von 1933 bis zum »Anschluss« im 797 Interview mit M1, S. 19. 798 Psychiatrisches Gutachten, Strafakt Vater von M1, Akten S. 150. 799 Urteil, Strafakt Vater von M1, Akten S. 217. 800 Psychiatrisches Gutachten, Strafakt Vater von M1, Akten S. 150. 801 Siehe Trauungsbuch römisch-katholische Pfarrkirche Wien. 802 Niederschrift Vater von M1, Strafakt Vater von M1, Akten S. 51. 803 Niederschrift erste Ehefrau von M1, Strafakt Vater von M1, Akten S. 27. 804 Nachfolgeorganisation der United Nations Relief and Rehabilitation Administration UNRRA.

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März 1938 als selbstständiger Kaufmann, handelte mit Futtermitteln und verdiente monatlich 300 Schilling. Im zweiten Quartal 1935 kam das einzige Kind des Ehepaars zur Welt, eine Tochter. Sie litt an Bauchtuberkulose und befand sich wiederholt in Spitalsbehandlung. Der Vater von M1, der von Syphilis befallen war, führte die Tuberkulose der Tochter auf seine eigene Erkrankung zurück  : »Das Kind sei immer krank gewesen, er hätte das Kind mit seiner Krankheit nicht in die Welt setzen sollen, es sei ein Verbrechen von ihm gewesen  ! Aber wenn man verliebt ist.«805 2.5.2 Erweiterter Suizidversuch des Vaters von M1 Zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich im März 1938 betrieb der Vater von M1 eine Tierhandlung im zweiten Bezirk in Wien und wohnte mit seiner ersten Ehefrau und der gemeinsamen Tochter in einer aus Zimmer, Küche und Kabinett bestehenden Wohnung, die ebenfalls im zweiten Bezirk lag. Die Frau sowie auch mehrere Nachbarn gaben im dritten Quartal 1938 gegenüber der Kriminalpolizei an, dass der Vater von M1 nach der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich suizidal gewesen sei  : »Nach dem Umbruche stellte mein Mann öfters an mich das Ansinnen, dass wir gemeinsam mit dem Kinde durch Selbstmord mittels Leuchtgas aus dem Leben scheiden sollen, da er ja ohnehin hier nicht mehr leben könne. Mit diesen Plänen marterte er mich fast jeden Tag, wenn er abends vom Geschäfte heim kam.«806 Die Tochter von Nachbarn, die mit dem Vater von M1 und dessen erster Ehefrau befreundet war, sagte aus, dass »die Eheleute […] schon vor dem Umbruche nicht besonders gut miteinander gelebt haben. Nach dem Umbruche soll die Frau anfangs ganz unglücklich gewesen sein, weil sie Angst hatte, dass sie von ihrem Gatten […] weg müsse. Plötzlich sei aber bei Frau […] ein Stimmungswechsel eingetreten und erklärte sie ihren Gatten, dass sie von ihm weg gehe. Er war darüber sehr verzweifelt und bat seine Gattin, doch bei ihm zu bleiben. Als seine Bitte kein Ergebnis zeitigte, versuchte er sie zu bewegen, ihm doch wenigstens das Kind zu lassen, worauf sie ihm androhte, falls er ihr das Kind nicht geben wolle, werde sie 2 SA Männer holen. Diese werden ihm das Kind wieder abnehmen.«807 Die Ehe war zerrüttet, wie die Polizei später ermittelte  : »Die Erhebungen ergaben, daß […] nach dem Umbruch mit seiner arischen Gattin mehrmals Zerwürfnisse hatte, da sie nicht mehr mit ihm im gemeinsamen Haushalte leben wollte. Wiederholte Versuche […], seine Gattin zu bewegen, zu ihm zurückzukommen, blieben 805 Psychiatrisches Gutachten, Strafakt Vater von M1, Akten S. 153. 806 Niederschrift erste Ehefrau von M1, Strafakt Vater von M1, Akten S. 27, datiert 3. Quartal 1938, WStLA. 807 Bericht Kriminalpolizeileitstelle Wien, Akten S. 21, datiert 3. Quartal 1938.

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erfolglos.«808 Der Vater von M1 gab an, dass ihm seine Frau »fortgesetzt mit der Scheidung und mit Dachau gedroht hätte.«809 Er sei eifersüchtig gewesen  : Sie habe Zigaretten geraucht, sei ins Kaffeehaus gegangen, habe Karten gespielt und im ersten Quartal 1938 einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen.810 Die Ehefrau sagte hingegen aus, der Vater von M1 habe von seinem Einkommen »viel für sich verbraucht, weil er viel ins Kaffeehaus ging, wo er auch Karten spielte.«811 Der Vater von M1 versuchte in den Monaten nach dem »Anschluss« einerseits, eine Arbeit im »Altreich« zu bekommen, zuletzt als Gehilfe bei einem Goldschmied in Solingen in Nordrhein-Westfalen, andererseits ins Ausland zu emigrieren, etwa in die Vereinigten Staaten. Er korrespondierte auch mit anderen Frauen, denen er die Absicht mitteilte, sie nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau zu heiraten. Auch eine Annonce, die zur Veröffentlichung in einer Schweizer Zeitung bestimmt war, bereitete er vor  : »30 jähr. Wiener, gelernter Goldschmied, sucht intelligentes Mädchen, zwecks Einheirat in Geschäft etc. Branche egal.«812 In einem Brief, der den Poststempel von elf Tagen vor dem erweiterten Suizidversuch trägt, teilte die erste Ehefrau dem Vater von M1 mit, dass es zu spät sei und sie am Bezirksgericht um die Scheidung der Ehe angesucht habe  : »Die Scheidung lauft bereits. Und wird in kurzer Zeit erledigt sein.«813 An einem Sonntagvormittag im dritten Quartal 1938 fuhr der Vater von M1 mit dem Zug von Wien zu seiner mittlerweile im Süden Niederösterreichs im Haus ihrer Mutter lebenden Ehefrau. Mit der gemeinsamen Tochter, die bei der Schwester der Ehefrau untergebracht gewesen war, kehrte er »ohne Wissen und Einwilligung seiner Gattin«814 in die Wiener Wohnung zurück  : »Ich umarmte das Kind, küsste es und drehte in der Absicht, meinen und dem Leben des Kindes ein Ende zu bereiten, den Gashahn auf.«815 Zwischen 17  :30 und 18  :00 Uhr unternahm er diesen erweiterten Suizidversuch  : »Am […] 1938 gegen 19 Uhr wurde der Tierhändler […] in dem mit Leuchtgas erfüllten Zimmer seiner Wohnung bewußtlos, neben ihm seine 3 jähr. Tochter […] tot aufgefunden.«816 Der Sohn eines ebenfalls im dritten Stock lebenden Hausbewohners hatte Gasgeruch wahrgenommen, dessen Vater die Polizei verständigt.

808 Kriminalpolizeileitstelle Wien an STA Wien, Akten S. 3e, datiert 3. Quartal 1938, WStLA. 809 Meldung Kriminalpolizeileitstelle Wien, Akten S. 9, datiert 3. Quartal 1938, WStLA. 810 Siehe Psychiatrisches Gutachten, Strafakt Vater von M1, Akten S. 148. 811 Protokoll Hauptverhandlung, Strafakt Vater von M1, Akten S. 208, datiert 1. Quartal 1939, WStLA. 812 Heiratsannonce, Aktenbeilage 28, undatiert, WStLA. 813 Erste Ehefrau an Vater von M1, Aktenbeilage 7, datiert 3. Quartal 1938, WStLA. 814 Meldung Kriminalpolizeileitstelle Wien, Akten S. 9, datiert 3. Quartal 1938. 815 Niederschrift Vater von M1, Strafakt Vater von M1, Akten S. 55, datiert 3. Quartal 1938. 816 Kriminalpolizeileitstelle Wien an STA Wien, Akten S. 3e, datiert 3. Quartal 1938.

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Der Vater von M1, »der noch schwache Lebenszeichen von sich gab«,817 wurde zunächst in das Spital der Israelitischen Kultusgemeinde Wien gebracht. Dort fragte er »unaufhörlich nach seinem Kinde«.818 In den ersten Stunden nach der Tat war ihm nicht bewusst, dass seine Tochter nicht überlebt hatte. Am darauffolgenden Tag erfolgte die Überstellung in das Inquisitenspital des Landesgerichts für Strafsachen. Die Polizei nahm Ermittlungen wegen Mord auf  : »Als Motiv meines Selbstmordversuches führe ich das Zerwürfnis mit meiner Frau, die drohende Obdachlosigkeit und die Angst meine Existenz zu verlieren, an. Das Kind wollte ich deshalb töten, damit es nicht ohne mich auf der Welt bleibe.«819 Der Beruf des Vaters von M1 wurde mit Vogelhändler820 und Tierhändler821 angegeben. Er hatte vor der Tat für seine Frau einen Kartondeckel, »welcher in der Wohnung […] aufgefunden wurde und auf welchem einige Worte an seine Gattin gerichtet sind«,822 sowie einen Abschiedsbrief vorbereitet  : »Nimm mir die Tat nicht übel, aber es mußte so sein  ! Ohne meinem Kind konnte ich nicht scheiden  ! Möge Gott uns ruhen lassen  ! Bitte mir einen Wunsch zu erfüllen ich will Puppe an meiner Seite im Grabe haben. Ich konnte nicht anders mehr  ! Wie oft habe ich Dich gebeten zurückzukehren jetzt hast du uns auf dem Gewissen  !«823 Um die »ca. 14 Vögel«,824 die in der Tierhandlung gefunden wurden, nahm sich der Wiener Tierschutzverein an. Der Akt wurde nicht dem Reichs-Justizprüfungsamt in Berlin vorgelegt, das darüber wachte, ob die Rechtsprechung an allen Gerichten einheitlich erfolgte. Auf dem Papierstreifen mit der Aufschrift »Reichs-Justizprüfungsamt  ?«, der auf der Vorderseite des Aktenumschlags angebracht worden war, wurde die Antwortmöglichkeit »ja« durchgestrichen und »nein« mit Rotstift hervorgehoben. Ein Mitarbeiter der »Geheimen Staatspolizei« Wien war von Beginn an in die Ermittlungen involviert. Er war mit der ersten Ehefrau des Vaters von M1 bekannt und hatte das Wochenende, an dem der erweiterte Suizidversuch stattfand, im selben Haus wie sie im südlichen Niederösterreich verbracht.825 Zwei Wochen nach der Tat reichte die erste Ehefrau des Vaters von M1 Scheidungsklage beim Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien ein. Der Psychiater, der den Vater von M1 nach dem erweiterten Suizidversuch begutachtet hatte, kon817 Bericht Bezirkspolizeikommissariat Leopoldstadt, Akten S. 11, datiert 3. Quartal 1938. 818 Krankengeschichte Vater von M1, Strafakt Vater von M1, Aktenbeilage 107, datiert 3. Quartal 1938. 819 Niederschrift Vater von M1, Strafakt Vater von M1, Akten S. 56, datiert 3. Quartal 1938. 820 Siehe Verletzungsanzeige Vater von M1, Akten S. 15, datiert 3. Quartal 1938. 821 Siehe Amtsvermerk, Akten S. 17, datiert 3. Quartal 1938. 822 Meldung Kriminalpolizeileitstelle Wien, Akten S. 9, datiert 3. Quartal 1938. 823 Vater von M1 an erste Ehefrau, Aktenbeilage 16, undatiert. 824 Bericht Kriminalpolizeileitstelle Wien, Akten S. 21, datiert 3. Quartal 1938. 825 Siehe Amtsvermerk Kriminalpolizeileitstelle Wien, Akten S. 19, datiert 3. Quartal 1938.

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statierte, die Eheleute seien »eben wohl in vielem entgegengesetzte Charaktere«826 gewesen. Die Ehe wurde im vierten Quartal 1938 für aufgelöst erklärt.827 Nach der Scheidung erhob die Staatsanwaltschaft Wien auch Anklage und legte dem Vater von M1 »das Verbrechen des Meuchelmordes«828 zur Last  : »Aus dem gerichtsärztlichen Gutachten über den Geisteszustand des Beschuldigten ergibt sich zwar seine volle Zurechnungsfähigkeit, jedoch muss in Übereinstimmung mit dem erhobenen Sachverhalte zugestanden werden, dass der Beschuldigte, wie der Gerichtsarzt sagt, unter dem bestimmenden Einfluss sehr mächtiger Gefühle deprimierender und exzidierender Art gestanden ist, als er die Tat beging. Diese Umstände rechtfertigen die Annahme, dass der Beschuldigte die Tat unter dem Eindrucke einer heftigen und entschuldbaren Gemütsbewegung begangen hat.«829 Der Vater von M1 ersuchte um die Ladung seines älteren Bruders, des Vaters von W1, zur Gerichtsverhandlung, »welcher bezeugen kann, daß meine ehem. Frau einige Tage nach dem Begräbnis meines geliebten Kindes, bereits mit ihrer Freundin […] im Café Urania bis 1 h früh, zigarettenrauchend Rummy spielte!  ! ferner die Schwester von meiner ehem. Frau […], welche bezeugen kann wie ich zu meiner Frau war.«830 Seinem Ersuchen wurde stattgegeben. In der öffentlichen Verhandlung im ersten Quartal 1939 verzichtete der Verteidiger jedoch auf die Vernehmung der vom Vater von M1 beantragten Zeugen. Dem älteren Bruder wurden die Schlüssel zur Wohnung des Vaters von M1 übergeben. Das Urteil der Berufsrichter und Schöffen lautete auf drei Jahre schwerem Kerker wegen Meuchelmord »verschärft durch ein hartes Lager vierteljährlich und eine Dunkelhaft an jedem […]. Bei der Strafbemessung […] wurde angenommen als erschwerend  : der Umstand, dass die Tötung gegen eine nahe Verwandte, nämlich die leibliche Tochter erfolgte, als mildernd  : das Geständnis, die bisherige Unbescholtenheit und die hochgradige Erregung infolge des zerrütteten Ehelebens.«831 Die Illustrierte Kronen-Zeitung berichtete am Tag danach über den Ausgang des Prozesses  : »Unter Anwendung des außerordentlichen Milderungsrechtes hat der Senat den Angeklagten zu drei Jahren schweren Kerkers verurteilt.«832 Zehn Tage nach der Gerichtsverhandlung wurde der Vater von M1 vom Gefangenenhaus des Gerichts in die Männerstrafanstalt Stein an der Donau in Niederösterreich gebracht. Auf dem Überstellungs-Zettel sind die Abkürzungen »r. k.« für

826 Psychiatrisches Gutachten, Strafakt Vater von M1, Akten S. 164. 827 Siehe Trauungsbuch römisch-katholische Pfarrkirche Wien. 828 Anklageschrift, Strafakt Vater von M1, Akten S. 173, datiert 4. Quartal 1938. 829 Ebd., Akten S. 177, datiert 4. Quartal 1938. 830 Vater von M1 an Herrn Rat, Strafakt Vater von M1, Akten S. 181, datiert 1. Quartal 1939. 831 Urteil, Strafakt Vater von M1, Akten S. 216–227, datiert 1. Quartal 1939. 832 Illustrierte Kronen-Zeitung vom 1. Quartal 1939.

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»römisch-katholisch« und »verh« für »verheiratet« vermerkt.833 Im zweiten Quartal 1940 erfolgte die bedingte Entlassung, elf Monate und 16 Tage vor Ablauf der Strafe. Das Ende der Probezeit wurde auf ein Datum im zweiten Quartal 1943 festgelegt. Nachdem er freigekommen war, begann der Vater von M1 gemäß den Angaben, die er nach Kriegsende gegenüber der IRO machte, im ersten Quartal 1940 als Hilfsarbeiter am Mistplatz der Gemeinde Wien zu arbeiten. Vom dritten Quartal 1940 datiert ein mit dem Stempel des 154. Wiener Polizeireviers versehener »Meldezettel für Unterparteien«. Darauf wurde vermerkt, dass der Vater von M1 im 20. Bezirk in Wien geboren worden war und bis 1940 in einer Wohnung im zweiten Bezirk in Wien gelebt hatte. Als Beruf ist Goldarbeitergehilfe angegeben, als Familienstand geschieden und als Religionszugehörigkeit römisch-katholisch. Auf dem Meldezettel findet sich die Unterschrift der jüdischen Wohnungsgeberin, die ebenfalls am 3. Dezember 1941 nach Riga verschleppt werden sollte und die Shoah nicht überlebt hat. Als Datum des Auszugs wurde der 3. Dezember 1941 angegeben. An diesem Tag verließ der Transport Wien. Ebenfalls vermerkt wurde, dass der Vater von M1 nach Riga »ausgezogen« war.834 2.5.3 Verfolgung und Verschleppung der Eltern von M1 Im vierten Quartal 1941, wenige Tage, bevor der erste Transport von Wien nach Riga abging, wurde der Vater von M1 von der »Geheimen Staatspolizei« dazu gezwungen, eine vorgedruckte Vollmacht zu unterschreiben  : »Ich erteile, frei von jeder Beeinflußung, Irrtum oder Zwang im Vollbesitz meiner geistigen Besonnenheit und Überlegung nachstehende Sondervollmacht mit welcher ich die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, IV., Prinz Eugenstraße 22, oder deren Bevollmächtigte unwiderruflich beauftrage, Rechtsgeschäfte jeder Art, insbesondere Schenkungsverträge mit jeder Rechtsverbindlichkeit für mich, meine Erben und Rechtsnachfolger, sowie für meine unter meiner Gewalt stehenden Kinder, über das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen, sowie alle Rechte und Ansprüche abzuschließen.«835 In das vorgedruckte Vermögensverzeichnis, das der Sondervollmacht beigelegt war und vom Vater von M1 ebenfalls unterschrieben werden musste, wurde eingefügt, dass dieser bewegliche Vermögenswerte in Höhe von 39 Reichsmark besitzt  : »Die Juden hatten Vermögensformulare auszufüllen. Hier mußten sie ihre finanziellen Verhältnisse angeben. So wurde festgestellt, wieviel sie abzugeben hatten. Wer 833 Siehe Überstellungszettel Vater von M1, datiert 1. Quartal 1939, WStLA, historische Meldeunterlagen. 834 Siehe Meldezettel für Unterparteien, datiert 3. Quartal 1940, WStLA, historische Meldeunterlagen. 835 Sondervollmacht Vater von M1, datiert 4. Quartal 1941, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, HF.

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über 5000 Reichsmark an Vermögen besaß, mußte davon 20 Prozent an Abgaben entrichten.«836 Am 3. Dezember 1941 verschleppte das NS-Regime den zu diesem Zeitpunkt 34-jährigen Vater von M1 mit dem ersten Transport, der von Wien nach Riga fuhr und mit der Transportnummer 13 gekennzeichnet worden war.837 Als letzte Wohnadresse vor der Deportation scheint eine Wohnung im zweiten Bezirk in Wien auf, die sich der Vater von M1 mit mehreren anderen Personen teilen musste. Deren genaue Anzahl geht aus der Hausliste für die Jahre 1941 und 1942 nicht eindeutig hervor.838 1958 gab der Vater von M1 an, »mit den ganzen Hausparteien«839 nach Riga gebracht worden zu sein  : »Hatte meine Wohnung, sowie Geschäft, verloren. Wer das beschlagnahmt hat, kann ich leider nicht sagen, […] alles liegen u. stehen lassen und sofort in die Sperlschule zum Transport.«840 Von dem Schulgebäude in der Kleinen Sperlgasse 2a im zweiten Bezirk in Wien wurde der Vater von M1 zum Aspangbahnhof gebracht und deportiert. Das Haus war von der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« im Februar 1941 zum »Sammellager für die Transporte in das Generalgouvernement«841 umfunktioniert worden. Die Probezeit der bedingten Entlassung aus der Haft in Stein an der Donau lief im zweiten Quartal 1943 ab. Daraufhin verfügte der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Wien, von einer Entscheidung über den endgültigen Erlass der verhängten Strafe vorerst abzusehen. Begründet wurde diese Verfügung damit, dass der Vater von M1 am 3. Dezember 1941 »nach Riga verzogen«842 sei  : »Da es sich nicht um einen Fall geringerer Bedeutung handelt […] und eine Überprüfung des Verhaltens […] während eines grösseren Teils der Probezeit auch nicht möglich ist, wurde die Entscheidung über den endgültigen Erlass der Strafe derzeit ausgesetzt.«843 Die Mutter von M1 lebte gemäß den Angaben, die sie 1962 machte, am 13. März 1938 in einer Wohnung im 20. Bezirk.844 Dort wohnte sie auch zehneinhalb Wochen später noch, wie sie 1938 gegenüber der Israelitischen Kultusgemeinde Wien angab. Sie war zu diesem Zeitpunkt arbeitslos, wie bereits ein großer Teil der Personen jüdischer Herkunft  : »Durch Entlassungen und Berufsverbote verloren viele jüdische Menschen ihre Erwerbsmöglichkeiten  ; gleichzeitig wurde sichergestellt, daß in allen 836 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 67. 837 Siehe Deportationsliste 13. Transport, VWI. 838 Siehe Hausliste, VWI. 839 Antrag Entschädigung Vater von M1, Raum für nähere Ausführungen, undatiert, Eigentum von M1. 840 Ebd. 841 Brosch, Jüdische Kinder und LehrerInnen zwischen Hoffnung, Ausgrenzung und Deportation, S. 70. 842 Verfügung Oberstaatsanwalt beim Landgericht Wien, Strafakt Vater von M1, Akten S. 237. 843 Ebd. 844 Siehe Antrag Mutter von M1 an Sammelstelle A, datiert 2. Quartal 1962, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, HF.

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staatlichen Behörden, in der Armee und der Wirtschaft keine Juden mehr arbeiteten, da diese Bereiche an der antijüdischen Verfolgung beteiligt sein sollten.«845 Als Beruf gab sie Schneidergehilfin an, als bisherige Tätigkeit »Hilfsarbeiterin in einer Fahrradfabrik«846 und als neu erlernten Beruf »Hauswirtschaft, auch Kochen«.847 Gemäß den Angaben, die sie 1962 machte, bezog sie in den knapp vier Jahren zwischen der nationalsozialistischen Machtergreifung im März 1938 und der Deportation im Februar 1942 ein Einkommen in Höhe von 20 Reichsmark pro Woche für ihre Tätigkeit im Kinderheim der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sowie als Hilfsarbeiterin in einer Färberei und chemischen Putzerei im 21. Wiener Gemeinde-Bezirk.848 Wie tausende andere Personen jüdischer Herkunft auch, unternahm die Mutter von M1 Anstrengungen, zu emigrieren  : »Alle Bemühungen waren auf die Flucht ins Ausland ausgerichtet. Die Wiener Juden versuchten, so schnell wie möglich zu entkommen.«849 Als Antwort auf die Frage, ob die Mutter von M1 in der Lage sei, »sich alle für die Auswanderung notwendigen Dokumente zu beschaffen«,850 wurde »ja«851 notiert. Gefragt nach den Plänen für den neuen Aufenthalt, antwortete sie  : »Einen Erwerb zu suchen, eventuell in einem Betrieb oder in der Hauswirtschaft«.852 Sie gab an, dass ihr keine Mittel für die Auswanderung zur Verfügung stünden, dass sie keine Beziehungen im Ausland habe und keine Referenzen vorweisen könne. Über einen gültigen Reisepass verfügte die zu diesem Zeitpunkt 27-jährige Mutter von M1 im Mai 1938 nicht. Auf dem Fragebogen findet sich der Vermerk »wird beschafft«.853 Der Versuch, durch Emigration der Verfolgung durch das Regime zu entkommen, misslang. Im Herbst 1939 mussten die Mutter von M1 und ihre Eltern die Wohnung im 20. Bezirk verlassen und in eine Unterkunft im zweiten Bezirk übersiedeln, in der bereits andere Personen jüdischer Herkunft lebten.854 Der Beruf der Mutter von M1 wurde auf dem Meldezettel mit »Hausgehilfin«855 angegeben. Der Großvater

845 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 67. 846 Fragebogen Mutter von M1, Auswanderungsabteilung Israelitische Kultusgemeinde Wien, datiert 2. Quartal 1938, VWI, Auswanderungsbögen. 847 Ebd. 848 Siehe Antrag Mutter von M1 an Sammelstelle A, datiert 2. Quartal 1962, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, HF. 849 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 102. 850 Fragebogen Mutter von M1. 851 Ebd. 852 Ebd. 853 Ebd. 854 Meldezettel für Unterparteien, datiert 4. Quartal 1939, WStLA, historische Meldeunterlagen. 855 Ebd.

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mütterlicherseits von M1 verstarb gemäß der knapp vier Wochen später mit einem Stempelaufdruck des 150. Wiener Polizeireviers versehenen Mitteilung über einen Sterbefall und der 1958 ausgestellten Sterbeurkunde im ersten Quartal 1941 im Alter von 79 Jahren. Als Todesursachen sind Ödem, Herzschwäche und Altersschwäche angeführt.856 Er war zuletzt in einer Wohnung im zweiten Bezirk gemeldet. Die Adresse scheint auch als letzte Anschrift der Großmutter und der Mutter von M1 vor ihrer Deportation im Februar 1942 auf. Die Mutter von M1 sprach mit ihrer Nichte W1 60 Jahre danach auch über den Tod ihres Vaters  : »Der ist eben 41 gestorben und der hat damals gesagt, das hat mir die Tante auch erzählt, da war ja schon die Stimmung sehr schlecht, und der hat gesagt, ›ihr wollt ohne mich irgendwohin gehen‹ und so, und er ist aber Gottseidank, er hat sich einiges erspart, vorher gestorben.«857 Auch die Mutter von M1 und deren Mutter wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft »ausgehoben und verschickt«.858 Wenige Tage vor der Deportation musste die 61 Jahre alte Großmutter die von der »Geheimen Staatspolizei« vorbereitete »Sondervollmacht« unterschreiben. In dem Vermögensverzeichnis, das die Großmutter mütterlicherseits von M1 ebenfalls zu unterfertigen hatte, ist vermerkt, dass sie 20 Reichsmark an beweglichen Vermögenswerten besaß und von der Reichsversicherung in Berlin eine Rente in Höhe von 55 Reichsmark bezog. Vor ihrer Deportation nach Riga waren die Mutter von M1 und die Großmutter mütterlicherseits in einer »Sammelwohnung« im zweiten Bezirk untergebracht. In der Wohnung mit der Türnummer neun sind auf der Hausliste, die aus den Jahren 1941 beziehungsweise 1942 stammt, die Namen von insgesamt 15 Personen eingetragen. Fünf dieser Namen wurden im März 1942, nach der Deportation der beiden, hinzugefügt. Der älteste der Bewohner war zu Jahresbeginn 1942 78 Jahre alt, der jüngste vier. In der Spalte »Übersiedlungen« findet sich in der Zeile neben dem Namen der Mutter und der Großmutter jeweils der Vermerk »XVI. T.«.859 Der Transport, mit dem die beiden Frauen am Nachmittag des 6. Februar 1942 von Wien in Richtung Riga gebracht wurden, hatte die Nummer »XVI.«860 zugeteilt bekommen. 1962 gab die Mutter von M1 an, vor ihrer Verschleppung nach Riga in die Sperlschule gebracht worden zu sein.861 Der Transport umfasste rund 1000 Personen, kam am 10. Februar 1942 am Rigaer Güterbahnhof an und war der letzte von insgesamt vier, mit denen Jüdinnen und Juden aus Wien in die lettische Hauptstadt verschleppt wurden  : »Als im Februar 1942 856 Sterbeurkunde Großvater mütterlicherseits von M1, datiert 4. Quartal 1958, Eigentum von M1. 857 Interview mit M1, S. 8. 858 Antrag Entschädigung Mutter von M1, Raum für nähere Ausführungen, undatiert, Eigentum von M1. 859 Hausliste 1941–1942, 2. Bezirk, VWI. 860 Abgangsliste des XVI. Transports, datiert 6.2.1942, Arolsen, Deportationen aus dem Gestapobereich Wien. 861 Antrag Mutter von M1 an Sammelstelle A, datiert 2. Quartal 1962, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, HF.

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der letzte von Wien nach Riga gesandte Transport eintraf, wurden beim Empfang am Bahnhof Skirotava jenen Menschen, denen der kilometerlange Fußmarsch zum Ghetto zu beschwerlich erschien, Lastkraftwagen – tatsächlich handelte es sich dabei um getarnte ›Gaswagen‹ – zur Fahrt ins Ghetto angeboten. Von den 1000 aus Wien Deportierten erreichten nur 300 Personen das Ghetto zu Fuß.«862 In dieser Gruppe befanden sich auch die Mutter und die Großmutter von M1. Die rund 700 Personen, die im »coldest European winter of the 20th Century«863 nicht zu Fuß gehen konnten oder wollten, wurden in Bussen vom Bahnhof abtransportiert und in der Folge ermordet. Die Nationalsozialisten verschleppten von 3. Dezember 1941 bis 6. Februar 1942 insgesamt 4200 Personen jüdischer Herkunft vom Frachtenbereich des Aspangbahnhofs im dritten Bezirk in Wien ins besetzte Lettland. Nach mehrtägiger Fahrt erreichten die Transporte Riga  : »Die Deportierten wurden in das Ghetto eingewiesen oder mussten im Lager Salaspils Zwangsarbeit leisten. Aufgrund der furchtbaren Lebensbedingungen stieg die Sterblichkeitsrate der im Ghetto internierten Opfer, insbesondere bei geschwächten Menschen, vor allem aber bei älteren Personen und Kindern stark an.«864 In Riga trafen die Mutter und der Vater von M1 erstmals aufeinander  : »Die beiden haben sich kennengelernt im KZ Riga […] und mein Vater hat meiner Mutter versprochen, das habe ich aber nur gehört aus dritter Hand wieder, […] oder der Großmutter versprochen, ›wenn wir da lebend rauskommen, heiraten wir nachher‹. Also es war vielleicht nicht die ganz große Liebe, […] aber es war eben der Zusammenhalt in der Not. […] Ich weiß, dass meine Mutter meinen Vater nie geliebt hat in dem Sinn. Ich habe nie gesehen, dass sie sich geküsst hätten, Händchen gehalten hätten, wie man es oft so sieht.«865 Die Großmutter wurde in Riga ermordet  : »Die ist vergast worden, irgendwann ist die mit einem Lkw weggeführt worden und man hat dann nachher gesagt, die ist erstickt worden mit Gas in diesem Lkw.«866 Die genauen Umstände der Ermordung sind nicht bekannt. Aufgrund der unvollständigen Quellenlage erscheint es auch möglich, dass sie im Rahmen einer Massenerschießung867 im Frühjahr 1942 getötet wurde. 862 DÖW, Deportation der Juden, »Reichskommissariat Ostland«, URL  : https  ://ausstellung.de.doew.at/ b203html (letzter Zugriff  : 6.8.2020). 863 Harald Lejenäs, The Severe Winter in Europe 1941–42. The Large-scale Circulation, Cut-off Lows, and Blocking. In  : Bulletin of the American Meteorological Society 70 (1989) 3, S. 271. 864 DÖW, Deportation der Juden, »Reichskommissariat Ostland«. 865 Interview mit M1, S. 16. 866 Ebd., S. 11. 867 Vor der als »Aktion Dünamünde« oder »Operation Dünamünde« bezeichneten Massenhinrichtung wurden als arbeitsunfähig eingestufte jüdische Personen unter dem Vorwand, für die Arbeit in einer

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W1, die Cousine von M1, besuchte die Mutter von M1 regelmäßig in dem Altersheim, in dem sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte. Die beiden Frauen sprachen auch über die Deportation und den Verbleib der Großmutter  : »Sind in Riga angekommen und da ist gleich diese Selektion gewesen und die wollten aber dort nicht, dass es einen Aufstand gibt, weil die haben zur Großmutter gesagt, ›wollen Sie nicht in den Bus steigen  ? Dann müssen sie nicht so weit gehen.‹ Und sie hat gesagt, ›nein, ich gehe mit meiner Tochter lieber zu Fuß.‹ Und dadurch, hat sie gesagt, hat ihr das ein Jahr ihres Lebens noch gerettet, weil sie wäre sonst dort nie angekommen. Und in dem einen Jahr ist die Tante jeden Tag, sie hat gesagt so mit Holzschuhen oder irgendetwas, sind sie beim Schienenbau gewesen in Riga. Und nach einem Jahr irgendwann kommt sie zurück, waren circa 1000 Menschen weg, Kinder und ältere Menschen und auch ihre Mutter. Und sie hat sie dann nie wieder gesehen und es konnte nie festgestellt werden, was genau wie passiert ist.«868 Im Sommer 1944 kam die Mutter von M1 von Riga ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Im Einlieferungsbuch des Lagers wurde ein Tag im dritten Quartal 1944 vermerkt. In der Spalte »Haftart« scheinen die Stempelaufdrucke »Sch. H.«869 und »politisch« auf. Ab Ende Jänner 1945 wurden Häftlinge des Konzentrationslagers Stutthof auf »Todesmärschen« in Richtung Westen getrieben. Tausende überlebten die Strapazen der Fußmärsche, die sich zum Teil über zehn Tage hinzogen, und die von den Begleitmannschaften verübten Massaker nicht. Am 9. Mai 1945 erreichten Soldaten der 48. Sowjetarmee das bei Danzig gelegene Lager. Lediglich circa 100 Personen870 oder 2,38 Prozent der 4200 Jüdinnen und Juden, die in der Zeit von 3. Dezember 1941 bis 6. Februar 1942 von Wien nach Riga deportiert worden waren, überlebten die Shoah, darunter auch die Eltern von M1. Ende der 1950er-Jahre871 gab die Mutter von M1 an, während der drei Jahre und drei Monate dauernden Gefangenschaft zur Arbeit in der Wäscherei und zu Schienenarbeiten gezwungen worden zu sein. Monatelang habe sie dieselbe Kleidung tragen müssen und kaum zu essen bekommen  : »War bis zum Skelett abgemagert. Konservenfabrik im Rigaer Stadtteil Dünamünde benötigt zu werden, in den Wald von Biķernieki an der Stadtgrenze gebracht und ermordet. 868 Interview mit W1, Transkript S. 12. 869 »Schutzhaft« konnte willkürlich, zeitlich unbegrenzt und ohne Prüfung durch die Justiz von Organisationen des nationalsozialistischen Regimes, vor allem der »Geheimen Staatspolizei«, verhängt werden. 870 Siehe DÖW, Deportation der Juden, »Reichskommissariat Ostland«. 871 Da in dem Antrag auf Entschädigung darauf Bezug genommen wird, dass der Vater von M1 seit Mai 1958 arbeitslos war, und das Alter von M1 mit elf Jahren angegeben wurde, kann davon ausgegangen werden, dass der Antrag frühestens im vierten Quartal 1958 ausgefüllt wurde. Auf der letzten Seite der vierseitigen Hausratsliste, die dem Antrag beilag, wurde ein Stempel angebracht, der einen Tag im vierten Quartal 1958 aufweist.

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1945 kamen die Russen. Ich bekam den Typhus und mußte 6 Wochen in einem Spital liegen, nachher mußten ich und mein jetziger Gatte zu Fuß von Danzig nach Wien gehen. Wir gingen betteln, schliefen im Walde, waren überall verhasst, weil wir nur deutsch sprachen. In Polen war die Hölle. Keine Hilfe, keine Auskunft. Erst in Pressburg sprach man deutsch.«872 Auf dem 1951 ausgefüllten Antragsformular der IRO wurde festgehalten, dass der Vater von M1 im März 1945 befreit worden war. 1958 gab er an, bis Juni 1945 im Konzentrationslager gewesen, vor seiner Rückkehr nach Wien 1945 ebenfalls an Typhus erkrankt und in einer Stadt in Pommern medizinisch behandelt worden zu sein  : »1945 bekam ich Typhus, lag im Spital in Lauenburg (Danzig) und nachher mußten wir zu Fuß nach Wien gehen in 6 Wochen, bettelnd, ohne Schuhe ohne Geld, ohne Brot  !«873 Die mögliche Teilnahme an einem der Todesmärsche und der Spitalsaufenthalt in Lauenburg könnte die Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Angaben über das Ende der Gefangenschaft im Konzentrationslager Stutthof erklären. Die Namen der Eltern von M1 scheinen auf der von der »Austrian American League« im September 1945 erstellten Liste »Jews who returned to Vienna«874 auf. Der Name der Mutter ist auch in Band eins der 1946 vom »Central Committee of Liberated Jews in Bavaria«875 veröffentlichten Liste »Shārit Ha-Plātah« enthalten, einer »extensive list of survivors of Nazi tyranny published so that the lost may be found and the dead brought back to life.«876 Die Shoah überlebt zu haben, erklärte sich der Vater von M1 Ende der 1950erJahre mit seinen handwerklichen Fähigkeiten  : »Dank meiner Kenntnisse in Elektro. Inst. habe ich mir u. 5 Kameraden das Leben gerettet.«877 M1 berichtete, dass sein Vater einen Angehörigen der nationalsozialistischen »Schutzstaffel« erwähnt hatte, mit dem dieser in Riga Kontakt gehabt hätte  : »Da war er bei einem SS-Mann, das hat mir nichts gesagt, der sehr nett war und mein Vater war immer ein bisschen ein handwerklich geschickter Mensch und er hat gesagt  : ›Ich hätte müssen dort irgendwelche schweren Arbeiten verrichten. Ich weiß nicht mehr, was das war, aber er hat gesagt, er sucht einen Elektriker.‹ Mein Vater hat gesagt  : ›Ja, das kann ich alles.‹ Hat dort die Elektroleitungen gelegt, hat dem sein Auto repariert, obwohl er kein Mechaniker war, und war bei dem gut angeschrieben. Und es ist ihm gut, unter 872 Antrag Entschädigung Mutter von M1. 873 Antrag Entschädigung Vater von M1, Raum für nähere Ausführungen, undatiert, Eigentum von M1. 874 Jews who returned to Vienna, datiert September 1945, Arolsen. 875 Das Komitee, das »six weeks after the liberation while the roads were flooded with neglected survivors who were desperately seeking the meaning of the miracle given them« gegründet worden war, wirkte vom zerbombten Deutschen Museum in München aus. Siehe Abraham J. Klausner, The Central Committee. In  : The Central Committee of Liberated Jews in Bavaria (Hg.), Shārit Ha-Plātah. 876 Klausner, The Central Committee. 877 Antrag Entschädigung Vater von M1, Raum für nähere Ausführungen, undatiert, Eigentum von M1.

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Anführung, gut gegangen, das weiß ich, das hat er mir einmal erzählt. Er hat einmal gesagt, nicht alle SS-Leute waren schlecht.«878 2.5.4 Rückkehr der Eltern von M1 nach Wien Gut vier Wochen, nachdem sowjetische Soldaten das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig als letztes der nationalsozialistischen Konzentrationslager befreit hatten, kehrten die Eltern von M1 nach Wien zurück. W2, die im dritten Quartal 1934 geborene Tochter aus erster Ehe des Onkels von M1, berichtet von ihrer ersten Begegnung mit den Eltern von M1  : »Ich kann mich erinnern, wie mein Onkel […] vom KZ zurückgekommen ist […], wie die gekommen sind. […] Auf einmal kommen mir zwei Leute in Lumpen, Skelette, entgegen. Und er sagt  : ›Ich bin der Onkel […]. Wo ist dein Papa  ?‹ Habe ich gesagt  : ›Meine Eltern sind geschieden, die wohnen da nicht mehr.‹ Dann sind sie zu meiner Mama gegangen.«879 Von der späteren zweiten Ehefrau des Vaters von W1 bekamen die beiden Kleidungsstücke. Mit ihrer Rückkehr hatten die Verwandten in Wien nicht mehr gerechnet.880 Im Juni 1945 erhielten die Eltern von M1 eine erste Bestätigung der Israelitischen Kultusgemeinde. Darauf ist vermerkt, dass sie in zwei nationalsozialistischen Konzentrationslagern gewesen waren  : »Ueber Ihren Wunsch wird bestätigt, dass Sie sich als Rückkehrer aus dem Konzentrationslager Riga-Stutthof bei uns gemeldet haben. Es werden alle in Betracht kommenden Stellen gebeten, Ihnen nach Möglichkeit zu helfen und Ihre Bestrebungen weitgehend zu unterstützen.«881 Im Juli 1945 stellte die Kultusgemeinde den Eltern von M1 Lichtbildausweise aus. Auf Deutsch und in kyrillischer Schrift wurde bestätigt, dass sie sich nach ihrer Rückkehr aus den Konzentrationslagern Riga und Stutthof »bei der israelitischen Kultusgemeinde Wien gemeldet«882 haben. Auf dem Ausweis des Vaters von M1 wurde zusätzlich »Transport 3. Dez. 1941 von Wien«883 vermerkt. Dem Vater wurde im ersten Quartal 1946 vom Bezirkspolizeikommissariat Leopoldstadt in Wien ein nur im Inland gültiger Identitätsausweis ausgestellt, in dem der Familienstand fälschlicherweise mit »verheiratet« angegeben ist. Als Beruf scheint Juwelier und Goldschmied auf, die Körpergröße ist mit 165 Zentimetern vermerkt, die Form des Gesichts mit oval, die Farbe der Augen braun, die Farbe der Haare brünett und besondere Kennzeichen keine.884 Als Vertreter der Polizeidirektion Wien hatte Wil878 Interview mit M1, S. 15. 879 Interview mit W2, Transkript S. 10. 880 Siehe Interview mit M1. 881 Bestätigung IKG Wien, datiert Anfang Juni 1945, Eigentum von M1. 882 Lichtbild-Ausweis IKG Wien, datiert Anfang Juli 1945, Eigentum von M1. 883 Ebd. 884 Siehe Identitäts-Ausweis PDion Wien, datiert 1. Quartal 1946, Eigentum von M1.

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helm Merl, der in Kapitel 2.8 beschrieben wird, gegengezeichnet. Im ersten Jahr nach der Rückkehr nach Wien unterfertigte der Vater von M1 eine eidesstattliche Erklärung des KZ-Verbands. Die Frage, ob er »sich vor dem Naziumbruch (März 1938) politisch betätigt«885 habe, beantwortete er mit »Ja« und ergänzte »Illegale Arbeit K. P.«.886 Als Gründe für die Haft in Riga und Stutthof wurden rassische und politische angegeben. Eine Funktion in den Konzentrationslagern habe er nicht gehabt. Im zweiten Quartal 1946 schickte der Vater von M1 eine Karte, auf der sein Name, seine Adresse sowie »Juwelier u. Goldschmied«887 aufgedruckt war, an den KZ-Verband888 in Wien. Er ersuchte »höflichst, um rasche ErlediAbb. 16  : Der Vater von M1, aufgenommen 1945. gung meiner Legitimation, da ich selbe wegen meiner Gewerbesache dringend benötige.«889 Ein vom KZ-Verband eingesetzter Überprüfungsausschuss gelangte einstimmig zu der Ansicht, dass die vom Vater von M1 gemachten Angaben richtig seien und gegen eine Aufnahme »als ordentliches Mitglied des KZ-Verbandes nichts einzuwenden ist.«890 Die gewünschte Legitimation wurde im dritten Quartal 1946 ausgefolgt. Auf der Karteikarte, die vom KZ-Verband angelegt worden war, sind als Haftzeit 39 Monate angeführt  : von 3. Dezember 1941 bis 10. März 1945. Auch die Mutter von M1 erklärte gegenüber dem KZ-Verband an Eides statt, dass sie aus rassischen Gründen von 10. Februar 1942 bis 10. März 1945 in Riga und Stutthof inhaftiert gewesen sei. Sie gab an, von Beruf Schneiderin zu sein, sich vor der nationalsozialistischen Machtübernahme nicht politisch betätigt und in den Lagern keiner Widerstandsgruppe angehört zu haben. Der Untersuchungsausschuss gelangte auch in ihrem Fall einstimmig zur Ansicht, dass ihre Angaben der Wahrheit

885 Eidesstattliche Erklärung Vater von M1, KZ-Verband, datiert 3. Quartal 1946, DÖW. 886 Ebd. 887 Vater von M1 an KZ-Verband, datiert 2. Quartal 1946, DÖW. 888 Aktionskomitee der wegen ihrer Abstammung Verfolgten, 9. Bezirk in Wien. 889 Vater von M1 an KZ-Verband. 890 Protokoll Überprüfungsausschuss KZ-Verband, datiert 3. Quartal 1946, DÖW.

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entsprechen. Ihre Legitimation wurde am selben Tag wie die ihres Ehemanns ausgestellt. Als Haftzeit scheinen 37 Monate auf. Nach ihrer Rückkehr mussten die Eltern von M1 in Wien »wieder von vorne anfangen.«891 Zwischen 1945 und 1948 erhielten sie entsprechend den Angaben, die sie 1951 machten,892 Pakete von der jüdischen Hilfsorganisation »American Jewish Joint Distribution Committee«. Der »Joint« unterstützte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jüdische Displaced Persons in Europa. Im vierten Quartal 1946 heirateten die beiden in Wien. In der Mitteilung über die Eheschließung wurde als Beruf der Mutter »Schneiderin«893 angegeben. M1 kam im vierten Quartal 1947, ein Jahr und zwei Wochen nach der Hochzeit, in Wien zur Welt  : »Ich war ein Wunschkind meiner Mutter. […] Sie hat sich ein Kind gewünscht. […] Sie ist 36 damals gewesen und ich war ihr Ein und Alles, ich war ihr Liebling. Natürlich war die Eifersucht meines Vaters sehr intensiv dabei, und mein Vater wollte immer eine Tochter haben.«894 M1 wuchs als Einzelkind auf. Seine Eltern ließen ihn taufen  : »Ich bin mit vier oder fünf Jahren getauft worden, römisch-katholisch. Habe dann nachher von meiner Mutter erfahren, sie hat mich taufen lassen, weil sie in der Schule seinerzeit als Jüdin einmal schon verfolgt war. Die Kinder haben sie gehänselt, geneckt und weiß ich was  : ›Die Jüdin‹ und so. ›Die Juden‹ und weiß Gott. Und  : ›Das soll dir einmal nicht passieren, deswegen bist du römisch-katholisch.‹ […] Und deswegen habe ich möglicherweise auch einen englischen Namen bekommen von ihnen, damit ja um Gottes Willen nicht irgendwie dass man auf die Idee kommt, dass ich vielleicht eine Abstammung von Juden bin.«895 Die jüdische Herkunft der Familie sei kein Thema gewesen  : »Ich habe es irgendwie vermutet. […] Ich habe die Geburtsurkunde von meiner Mutter, die ist sogar auch noch da. Steht dort, geboren, also, Religion  : ›Mosaisch‹. Und da habe ich einmal die Mutter gefragt. Sagt sie  : ›Ja, das ist eine Religion.‹ Hat nicht gesagt, welche Religion. Ich habe dann schon gewusst, was es ist. Aber es war für mich kein Thema, weil ich habe mich nicht jüdisch gefühlt. Es war überhaupt kein Thema für mich.«896 Seine Eltern seien keine gläubigen Juden gewesen. Jüdische Feste, Bräuche und Traditionen hätten keinen Platz im Familienleben gehabt  : »Nein, bei uns war das überhaupt kein Thema, es war kein Thema. Das hat es nicht gegeben.«897 Im zweiten Quartal 1949 erhielt der Vater von M1 eine Amtsbescheinigung ausgehändigt, die alle öffentlichen Ämter und Stellen dazu verpflichtete, »den sie vor891 Antrag Entschädigung Mutter von M1. 892 Siehe Antrag auf Unterstützung IRO Vater von M1, datiert 3. Quartal 1951, Arolsen. 893 Siehe Mitteilung über Eheschließung, datiert 2. Quartal 1947, WStLA, historische Meldeunterlagen. 894 Interview mit M1, S. 11. 895 Ebd., S. 3. 896 Ebd., S. 15. 897 Ebd., S. 9.

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weisenden Inhaber bevorzugt vor allen anderen Parteien vorzulassen, sein jeweils gestelltes Ansuchen im Sinne der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes in jeder Weise im Rahmen der bezüglichen Vorschriften weitestgehend zu fördern und begünstigt und beschleunigt zu behandeln.«898 Im dritten Quartal 1951 stellte der Vater von M1 an die International Refugee Organization der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf einen Antrag auf Unterstützung und deponierte die Absicht, emigrieren zu wollen  : »Um die Zukunft meines Kindes zu sichern, will ich nach Amerika oder Canada auswandern. Hier kann ich keinen festen Fuss mehr fassen. […] Ich bitte die IRO, mir bei der Auswanderung nach Amerika oder Canada behilflich zu sein. Ich bitte um alle dazu notwendigen Dokumente und Ausweise.«899 Zu diesem Zeitpunkt lebte die Familie in einer Wohnung im zweiten Wiener Gemeinde-Bezirk. Bei der Antragstellung legte der Vater den im vierten Quartal 1945 vom Magistratischen Bezirksamt in Wien ausgestellten Gewerbeschein sowie das Meisterprüfungszeugnis für Juweliere der Wiener Kammer für Handel vor, das vom dritten Quartal 1946 datiert. Er gab an, ab seiner Rückkehr nach Wien bis März 1950 als selbstständiger Goldarbeiter tätig gewesen zu sein und über ein Einkommen von monatlich 1500 Schilling verfügt zu haben  : »Ich wollte mir wieder eine Existenz aufbauen und kämpfte bis März 1950. Wegen schlechtem Geschäftsgang musste ich das Geschäft liquidieren. Seit dieser Zeit bin ich bei meinem Bruder als Goldschmied angestellt.«900 Bis zum Zeitpunkt der Antragstellung im dritten Quartal 1951 war der Vater von M1 seinen Angaben zufolge als Angestellter seines Bruders, des Vaters von W1, beschäftigt und verdiente ebenfalls 1500 Schilling. Er gab an, Bargeld in Höhe von 12.000 Schilling zu besitzen, und führte als Verwandten einen in New York City lebenden Bruder seiner Mutter an. Fünfeinhalb Wochen nach der Antragstellung wurde der Vater von M1 ein zweites Mal bei der IRO in Wien vorstellig. Er legte Steuerbescheide für die Jahre 1945 bis 1950 vor. Sein steuerpflichtiges Einkommen belief sich, den Aufzeichnungen auf dem Antragsformular zufolge, in den Jahren 1945 und 1946 auf jeweils 236 Schilling, 1947 auf 4517 Schilling, 1948 auf 6130 Schilling, 1949 auf 4755 Schilling und 1950 auf 6844 Schilling. Knapp drei Wochen später, zwei Monate nach dem Tag, an dem ursprünglich der Antrag gestellt worden war, wurde der Vermerk »legal and political protection only«901 aufgestempelt. Die IRO stellte der Mutter und dem Vater von M1 im Herbst 1951 jeweils eine Identitätskarte aus.

898 Opferfürsorgegesetz vom 4.7.1947, S. 823. 899 Antrag auf Unterstützung IRO Vater von M1, datiert 3. Quartal 1951, Arolsen. 900 Ebd. 901 Siehe ebd.

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In den 1950er-Jahren wurden beide Elternteile arbeitslos  : die Mutter von M1 1953, der Vater im Mai 1958. Die Mutter stellte 1958 den Antrag, die in Riga ermordete Großmutter für tot erklären zu lassen. Im vierten Quartal 1958 bestätigte die Israelitische Kultusgemeinde dem Wiener Landesgericht für Zivilrechtssagen, dass die Großmutter mütterlicherseits von M1 in den Unterlagen der Gemeinde nicht als Überlebende der Shoah geführt wird  : »Auf Grund unserer Aufzeichnungen bestätigen wir, daß Frau […] am 6. Februar 1942 nach Riga deportiert wurde und in unserer Rückkehrerkartei nicht aufscheint.«902 Von dem Gericht wurden im zweiten Quartal 1959 weitere Schritte veranlasst  : »Auf Ansuchen der Tochter […] wird das Verfahren zur Todeserklärung eingeleitet und die Aufforderung erlassen, dem Gerichte Nachricht über den Vermissten zu geben. […] wird aufgefordert, vor dem gefertigten Gerichte zu erscheinen oder auf andere Weise von sich Nachricht zu geben.«903 Die Einleitung des Verfahrens datiert vom 20. April 1959, an dem sich der Geburtstag von Adolf Hitler zum 70. Mal jährte. Die Frage, ob es sich dabei um einen Zufall handelt oder nicht, kann mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Quellen nicht beantwortet werden. Im vierten Quartal 1959 wurde die Großmutter mütterlicherseits von M1 für tot erklärt. Auch das Gericht sah es als erwiesen an, dass diese nach ihrer Deportation ermordet worden war  : »Seither fehlt jede Nachricht.«904 In der Todeserklärung wurde festgestellt, dass die Großmutter »im Jahre 1942 aus rassischen Gründen von Wien nach Riga gebracht wurde«905 und den 8. Mai 1945 nicht überlebt hat  : »Der Ausspruch gründet sich auf die gepflogenen Erhebungen, insbesondere auf das Schrei­ben der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien […], des Zentralmeldungsamtes in Wien […] und auf die unbedenklichen Angaben der Antragstellerin.«906 Der Richter kam zu dem Schluss, dass »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt werden kann, daß sie sich in Lebensgefahr […] befunden hat. […] Berücksichtigt man überdies, daß seit dem Kriegsende, welcher Zeitpunkt für die in den Lagern angehaltenen Personen gleichzeitig das Ende der Gefahr für ihr Leben bedeutet hat, bereits erheblich mehr als ein Jahr vergangen ist und die Verschollene noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben hat, […] dann gewinnt die Annahme, daß die Verschollene bereits tot ist, umso mehr Wahrscheinlichkeit.«907

902 IKG Wien an LG ZRS Wien, datiert 4. Quartal 1958, Eigentum von M1. 903 Einleitung Todeserklärung, LG ZRS Wien, datiert 20.4.1959, Eigentum von M1. 904 Todeserklärung Großmutter mütterlicherseits von M1, LG ZRS Wien, datiert 3. Quartal 1959, Eigentum von M1. 905 Ebd. 906 Ebd. 907 Ebd.

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2.5.5 Anerkennung als Opfer Im zweiten Quartal 1949 wurde der Mutter von M1, wie im Opferfürsorgegesetz von 1947908 vorgesehen, eine Amtsbescheinigung ausgestellt. Ihrem Antrag auf Anerkennung der Anspruchsberechtigung war stattgegeben worden. Somit galt sie auch offiziell als »Opfer des Kampfes um ein freies und demokratisches Österreich«.909 Im dritten Quartal 1952 beantragte die Mutter von M1 Haftentschädigung. Knapp ein halbes Jahr später erkannte die Magistratsabteilung 12 des Amts der Wiener Landesregierung per Bescheid gemäß der siebten Novelle des Opferfürsorgegesetzes eine Haftzeit im Umfang von 38 Monaten an. In der Begründung wurde einerseits auf die Amtsbescheinigung verwiesen, andererseits dargelegt, dass die Antragstellerin nachgewiesen habe, von 6. Februar 1942 bis 10. März 1945 in Riga und Stutthof inhaftiert gewesen zu sein. Insgesamt bekam sie eine Haftentschädigung in Höhe von 16.385,60 Schilling zugesprochen, 431,20 Schilling für jeden in Haft verbrachten Monat. Die Entschädigung wurde auf vier Teilbeträge in Höhe von 4096,40 Schilling aufgeteilt. Die Auszahlung des ersten Teilbetrags stellte das Amt der Wiener Landesregierung für das Jahr 1952 in Aussicht, die der drei weiteren Teilbeträge jeweils für das dritte Quartal der darauffolgenden Jahre 1953, 1954 und 1955.910 1958 trat in Österreich das Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz911 in Kraft. Die Eltern von M1 machten daraufhin, wie in Paragraf fünf vorgesehen, den durch »die Wegnahme, den Verlust oder die Zerstörung von Gegenständen des Hausrates«912 entstandenen Schaden geltend, den sie durch die vom NS-Regime gesetzten »Maßnahmen politischer Verfolgung«913 erlitten hatten. Die Entscheidung, ob eine Entschädigung gewährt wurde, richtete sich einerseits nach der Anzahl der Punkte, die für die aufgelisteten Gegenstände des Hausrats vergeben wurden, andererseits nach der Höhe des Einkommens und dem Alter der Antragstellerinnen und Antragsteller. Insgesamt wurden 5321 Punkte für eine aus einem Zimmer, einer Küche und einem Kabinett bestehende Wohnung anerkannt, davon 90 für eine Tischabwasch, 160 für eine Zimmerbank, 40 für einen ein- bis vierflammigen Luster, 240 für drei Betten 908 Bundesgesetz vom 4.7.1947 über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich und die Opfer politischer Verfolgung, siehe Bundesgesetzblatt 183, datiert 1.9.1947, S. 821–826. 909 Amtsbescheinigung Mutter von M1, datiert 2. Quartal 1949, Eigentum von M1. 910 Siehe Bescheid AdWLR, datiert 1. Quartal 1953, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, HF. 911 Bundesgesetz vom 25. Juni 1958 über die Gewährung von Entschädigungen für durch Kriegseinwirkung oder durch politische Verfolgung erlittene Schäden an Hausrat und an zur Berufsausübung erforderlichen Gegenständen, siehe Bundesgesetzblatt 127, datiert 4.7.1958, S. 1.228–1.234. 912 Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz, S. 1.229. 913 Ergänzungsbogen, Antrag Schaden S. 2, Eigentum von M1.

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mit Einsatz, 12 für ein Bügeleisen, 120 für einen Staubsauger, 250 für einen Wäscheund Kleiderschrank aus Hartholz, 300 für eine Nähmaschine, 60 für vier Sessel aus Hartholz, 30 für einen Wandspiegel mit Rahmen und 100 Punkte für einen Ausziehtisch. Nicht anerkannt wurden einer von zwei aufgelisteten Lustern, eine von vier Tuchenten, sämtliche Gartenmöbel, ein mit Kohle befeuerter Haushaltsherd, ein Waschkasten mit Marmorplatte, zwei Kachelöfen und ein Waschstockerl.914 »Haus-, Tisch- und Bettwäsche« sowie »Geschirr, Besteck und sonstiger kleiner Hausrat« wurden unter Punkt »C. Schadensumfang« als »Totalverl.« verbucht.915 Auf Seite zehn des Formulars, mit dem Entschädigung nach dem Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz beantragt werden konnte, ist Raum für die »Darstellung der Schadensverursachung« vorgesehen. Der Vater von M1 führte aus, bis Ende des vierten Quartals 1938 in einer Gemeindewohnung in Wien gelebt zu haben, nachdem sich seine erste Ehefrau von ihm scheiden lassen hatte und aus Wien abgereist war  : »Hatte eine schöne Wohnungseinrichtung, wer das ganze beschlagnahmt hat kann ich nicht sagen da ich in Haft war. Mir blieb nur das übrig, was ich an hatte, aber weder Hut noch Mantel, auch mein Geschäft wurde mir weggenommen, das was ich mir ehrlich gespart hatte, Groschen um Groschen, alles war weg.«916 Den erweiterten Suizidversuch, bei dem seine Tochter aus erster Ehe ums Leben gekommen war, erwähnte er nicht. Der Vater von M1 gab an, Hauptmieter gewesen zu sein. Als Antwort auf die vorgedruckte Frage nach der »Anzahl der Personen, die bei Schadenseintritt dem gemeinsamen Haushalt angehörten«,917 führte er auch Gattin und Kind an. Diese Angaben wurden im Nachhinein von der Stelle, die für die Überprüfung zuständig war, korrigiert und mit dem Vermerk »entfällt«918 versehen. Der Vater von M1 wies darauf hin, dass er vom nationalsozialistischen Regime wegen seiner jüdischen Herkunft verfolgt worden war  : »Bin weder bei einer Partei gewesen noch hatte ich jemanden etwas getan, nur aus relig. Gründen wurde mir alles weggenommen. Bin derzeit (seit Mai 58) arbeitslos […]. Jetzt nach 12 J. bekam ich eine Wohnung. Nun mußte ich von vorn wieder anfangen, leider bin ich aber arbeitslos  !«919 Als Beruf führte er Kaufmann an, sein Gesamteinkommen im Jahr 1955 bezifferte er auf 15.480 Schilling. 1951 war im Antrag auf Unterstützung, den er bei der IRO gestellt

914 Siehe Hausratsliste Mutter von M1, datiert 4. Quartal 1958, Eigentum von M1. 915 Siehe Formular S. 8, Eigentum von M1. 916 Raum für Vermerke und nähere Ausführungen, insbesondere Darstellung der Schadensverursachung, Eigentum von M1. 917 Angaben zur Person des Geschädigten, Antrag Vater von M1, datiert 4. Quartal 1958, Eigentum von M1. 918 Ebd. 919 Raum für Vermerke und nähere Ausführungen, insbesondere Darstellung der Schadensverursachung.

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hatte, vermerkt worden, dass der Vater von M1 von 1936 bis 1938 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei in Wien gewesen war.920 Die von den Eltern ausgefüllten Formulare entdeckte der 1947 geborene M1 später in der elterlichen Wohnung  : »Da habe ich so Belege gefunden, die mein Vater geschrieben hat in den 50er-Jahren, wo um eine Art, Wiedergutmachung hat das damals geheißen, eine Geldrückforderung. […] Und da habe ich erst mitbekommen, was da tatsächlich […], wie arg das war, wie schlimm das eigentlich war. […] Ich muss so, mit 14, 15 Jahren muss es gewesen sein. […] Ich bin auf Dokumente gestoßen. Aber ich habe die Eltern nie angesprochen darauf, weil ich genau gewusst habe, ich kriege eh keine Antwort. […] Ich habe auch nie gefragt  : ›Was war da  ?‹ Und  : ›Ist jemand umgebracht worden  ?‹ Ich weiß nur, wie meine Mutter, einmal hat sie eine Geschichte erzählt, aber nicht mir, das habe ich mitgehört, da war ich damals auch so 12, 13 Jahre, dass sie zu einem SS-Mann gekommen ist und da ist daneben ein Kind gestanden, ein Mädchen. Und der hat zu meiner Mutter gesagt  : ›Schau, was ich mache‹. Hat gesagt  : ›Mädchen, ich gebe dir ein Zuckerl‹, hat die Mutter so erzählt. Sie hat den Mund aufgemacht, er nimmt seine Pistole und schießt dem Kind in den Mund, das hat meine Mutter erzählt.«921 In den ersten Jahrzehnten seines Lebens seien die jüdischen Wurzeln seiner Herkunftsfamilie sowie die Verfolgung, Deportation und Ermordung der Großmutter mütterlicherseits kein Thema im Leben von M1 gewesen  : »Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, es hat mich ja eigentlich überhaupt nicht beschäftigt, bis zum Tod meines Vaters überhaupt nicht. […] Und die Mutter ist gestorben vor 2005. Da habe ich über das Thema auch nie gesprochen. Erst später dann, in den letzten Jahren, hat mich das ein bisschen mehr beschäftigt. Gelesen ja, aber mit niemandem gesprochen und schon um Gottes Willen nicht meine Herkunft, das war kein Thema für mich.«922 Im Alter von 51 Jahren stellte die Mutter von M1 im zweiten Quartal 1962 einen Antrag an den Fonds der Sammelstelle A. Dieser war für die Abgeltung der Ansprüche jener Personen eingerichtet worden, die am 31. Dezember 1937 der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Österreich angehört hatten. Sie gab an, von 6. Februar 1942 bis 10. März 1945 in Riga und Stutthof inhaftiert und davor über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten verpflichtet gewesen zu sein, »den Judenstern zu tragen, weil ich Volljüdin war.«923 Die Angaben wurden überprüft und für korrekt befunden. Im vierten Quartal 1962 fiel die Entscheidung, den Antrag der Mutter von M1 in die Gruppe B924 einzureihen. Eineinhalb Monate später wurden 7500 Schilling aus920 Siehe Antrag auf Unterstützung IRO Vater von M1, datiert 3. Quartal 1951, Arolsen. 921 Interview mit M1, S. 17. 922 Ebd., S. 15. 923 Antrag Mutter von M1 an Sammelstelle A, datiert 2. Quartal 1962, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, HF. 924 Der Gruppe B wurden Personen ab dem 45. Lebensjahr zugeteilt, siehe Georg Weis, Schlussbericht,

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bezahlt, im dritten Quartal 1963 eine erste Nachzahlung in Höhe von 4167 Schilling und im ersten Quartal 1964 eine zweite von 833 Schilling. Im vierten Quartal 1964 folgten 2500 Schilling als dritte Nachzahlung, im vierten Quartal 1966 als vierte Nachzahlung 2583 Schilling, im vierten Quartal 1968 als fünfte Nachzahlung 833 Schilling sowie im zweiten Quartal 1970 als sechste und letzte Nachzahlung 584 Schilling.925 Der Vater von M1 arbeitete in den Jahren nach Kriegsende wieder in seinem erlernten Beruf als Goldschmied in Wien. Vorübergehend betrieb er »ein kleines Juwelengeschäft […] gegenüber der Wohnung, das ist aber nicht gegangen«,926 und eine Papier- und Büroartikelhandlung  : »Er war dann Geschäftsführer in diversen Juweliergeschäften im ersten Bezirk. Er war ein Fachmann, wirklich ein Fachmann mit Juwelen und so, und bis zu seinem Tod war er Angestellter bei einem Juwelier im ersten Bezirk.«927 Im dritten Quartal 1963 ersuchte die für die Anträge nach dem Opferfürsorgegesetz zuständige Magistratsabteilung 12 des Amts der Wiener Landesregierung den Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes im nordhessischen Bad Arolsen um Angaben zur Mutter von M1, wie »Dauer, Art und Grund der Inhaftierung«,928 im vierten Quartal 1963 ein weiteres Mal. Als Tag der Befreiung oder Entlassung ist der 10. März 1945 angeführt. Die Inhaftierungsbescheinigung wurde vier Tage, nachdem die zweite Anfrage eingelangt war, aufgesetzt. Unter dem Punkt »Geprüfte Unterlagen« sind die »Transportliste der Gestapo Wien«,929 als Grund für die Inhaftierung »Jüdin« und als Tag der Deportation nach Riga der 6. Februar 1942 vermerkt. Vom dritten Quartal 1963 datiert auch die Inhaftierungsbescheinigung für den Vater von M1. Der Internationalen Suchdienst stellte diese als Antwort auf die vom Sommer 1963 stammende Anfrage der Wiener Magistratsabteilung 12 aus. Darauf wurde vermerkt, dass der Vater von M1 am 3. Dezember 1941 von der Gestapo Wien mit dem 13. Transport nach Riga »evakuiert«930 worden war. Als Grund für die Inhaftierung wurde »Jude«931 angeführt. In den 1960er-Jahren leistete M1 seinen Grundwehrdienst beim österreichischen Bundesheer ab. Seinem Vater, der auf Besuch in die Kaserne gekommen war, habe er S. 29, URL  : https  ://www.entschaedigungsfonds.org/files/content/documents/nf/Sammelstelle%20A %20und%20B%20Schlussbericht.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 925 Siehe Zahlungsanweisungen an Mutter von M1, Fonds der Sammelstelle A, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, HF. 926 Interview mit M1, S. 20. 927 Ebd., S. 11. 928 AdWLR an ITS, datiert 4. Quartal 1963, Arolsen. 929 Inhaftierungsbescheinigung Mutter von M1, datiert 4. Quartal 1963, Arolsen. 930 Inhaftierungsbescheinigung Vater von M1, datiert 4. Quartal 1963, Arolsen. 931 Ebd.

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von einem strengen Vorgesetzten erzählt  : »Geht er hin, vor mir, ich habe es gehört, sagt er  : ›Mein Name ist […], ich war SS-Obersturmbannführer, was ist da los mit meinem Sohn  ? Der hat salutiert vor ihm […]. Heute weiß ich, was das für ein Rang ist, ist fast ein General oder so etwas. Der ist in Hochachtung dort gestanden, der hat mich gepflegt und gehegt dann. Das war 1966.«932 Zahlreiche Übersiedlungen in Wien binnen weniger Jahre sind dokumentiert  : »Vier Bezirke von der Geburt bis zum 16. Lebensjahr. […] Mein Vater war ein sehr unruhiger, unsteter Typ, also einfach nervös. Er war immer nervös. […] Alles immer so hektisch, aber geredet hat er nie darüber, hat auch nie geredet, dass er mit dem Herz etwas hat, hat man nichts erfahren.«933 Im Alter von 62 Jahren starb der Vater von M1 im dritten Quartal 1970 in Wien an den Folgen eines Herzinfarkts. In der Zeitschrift des KZ-Verbands veröffentlichte die zuständige Bezirksgruppe »die traurige Mitteilung vom plötzlichen Tod ihres langjährigen Mitgliedes«.934 M1 hatte seinen Vater als schweigsame Person in Erinnerung behalten  : »Mein Vater war ein sehr zurückgezogener, sehr introvertierter Mensch, hat kaum gesprochen oder nur sehr wenig gesprochen, war kein lauter Typ oder so, war ein Einzelgänger, war menschenscheu. Heute weiß ich, warum. Offensichtlich ist es in ihm drinnen gewesen. Er hat nie mit jemandem gesprochen, er hat keinen Freund gehabt, nie einen Freund gehabt in dem Sinn. Er war ein Einzelgänger, ein sehr introvertierter Mensch. Die Mutter wäre es nicht gewesen, weil die ist nach seinem Tod dann erst aufgeblüht ein bisschen, da war sie 60 oder 55, hat sie zum Leben angefangen, es war keine gute Ehe.«935 Die verwitwete Mutter von M1 lebte ab Mitte der 1960er-Jahre in einer Gemeindewohnung im zehnten Bezirk in Wien. Im ersten Quartal 1977 stellte sie einen Antrag an den Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte. Im vierten Quartal 1977 wurde entschieden, dass die Pensionistin gemäß dem Bundesgesetz vom 13. Dezember 1976, mit dem das Hilfsfondsgesetz geändert worden war, antragsberechtigt sei. Denn sie gelte aufgrund der in den Konzentrationslagern erlittenen Leiden »stets als bedürftig«.936 Ihr wurden, wie im Gesetz vorgesehen, 15.000 Schilling zugesprochen, die im vierten Quartal 1977 zur Auszahlung kamen.937

932 Interview mit M1, S. 25. 933 Ebd., S. 21. 934 Nachruf Vater von M1. In  : Der neue Mahnruf. 935 Interview mit M1, S. 9. 936 714. Bundesgesetz vom 13.12.1976, mit dem das Hilfsfondsgesetz geändert wird, S. 2.969. 937 Siehe Zahlungsanweisung, datiert 4. Quartal 1977, ÖStA, AdR, VVSt, FLD, HF.

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2.5.6 Durchbrechen des Schweigens Der 1947 geborene M1 hatte bereits in seiner Jugend Hinweise auf die Verfolgung seiner Eltern und die Ermordung seiner Großmutter mütterlicherseits gefunden. Innerhalb seiner Herkunftsfamilie wurde darüber erst in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre geredet, nachdem M1 von seiner Cousine W1 kontaktiert worden war, die er bis dahin nicht gekannt hatte  : »Meine Mutter hat über das ganze Thema nie etwas gesprochen, nie. […] Der Vater auch nicht. […] Ich habe dann später, wie ich dann älter war und das verstanden habe, schon versucht, meine Mutter auszufragen  : ›Was war da eigentlich  ?‹. Und  : ›Wie was war da  ?‹ – ›Über das will ich nicht reden.‹ […] Ich hätte auch bis heute wahrscheinlich mit niemandem darüber gesprochen, mit niemandem. Es ist vielleicht in der heutigen Zeit eh oft besser, dass man nicht darüber redet. […] Das war einfach in mir drinnen, das Geheimnis sozusagen. Nie darüber reden, über das redet man nicht, das ist Vergangenheit, das ist vergessen, vorbei.«938 Vom erweiterten Suizidversuch seines Vaters erfuhr M1 erst nach dessen Tod. Von der Tochter aus erster Ehe hatte er jedoch schon davor gehört  : »Mein Vater hat mir einmal erzählt von der […]. Da ist er dann, wie ich ein Kind war, auf den Friedhof, auf den Zentralfriedhof manchmal aufs Grab gegangen. Er hat immer gesagt  : ›Das Kind ist ins heiße Wasser gefallen und gestorben.‹ Nachher habe ich erfahren, was wirklich war. […] Ich glaube, auch sein schlechtes Gewissen, die ganze Art, warum das Kind umgekommen ist, hat ihn zu einem verschlossenen Menschen gemacht. Sehr introvertiert, nie gesprochen, er ist oft gesessen stundenlang im Zimmer, da ist er gesessen und hat geschaut.«939 Das Verhältnis zwischen M1 und seinem Vater sei schwierig gewesen  : »Ich muss sagen, ich habe mich mit dem Vater nie gut verstanden. Ich habe immer gespürt, mein Vater mag mich nicht. […] Er wollte […] eine Tochter haben, es ist ein Sohn geworden. Die Mutter hat mich geliebt, er hat mich eher nicht so geliebt. Es war immer ein Abstand da. Ich habe zum Vater nie ein Sohn-Vater-Verhältnis gehabt, nie. Ich war mit meinem Vater nie Fußball spielen oder irgendetwas, das hat es nicht gegeben. Und das Verhältnis ist bis am Schluss so geblieben, bis zu seinem Tod eigentlich. Es war ein sehr kühles Verhältnis, kein freundschaftliches, wie Vater und Sohn, und erst dann, später, wie ich erfahren habe, was da eigentlich wirklich gelaufen ist in der Zeit, hat er mir leid getan.«940 Auch an seinem Arbeitsplatz, an dem M1 als Beamter in leitender Funktion tätig gewesen war, habe er seine jüdische Herkunft nicht thematisieren können  : »Das 938 Interview mit M1, S. 6. 939 Ebd., S. 11. 940 Ebd., S. 15.

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hätte ich nie im Dienst sagen können, nie im Dienst. […] Und da waren viele Türken und auch jüdische […] und viele meiner Kollegen haben gesagt  : ›Da unten, der Saujud, der hat‹ weiß Gott was. Dann soll ich mich deklarieren als Chef  ?«941 Lediglich wenige Personen, darunter seine erste Ehefrau, von der M1 geschieden wurde, und auch die zweite, hätten davon Kenntnis gehabt, dass er aus einer jüdischen Familie stammt  : »Meine erste Frau hat es gewusst. […] Die hat es gewusst und die zweite weiß es auch. Mein bester Freund, den ich seit 1962 kenne, der hat es beim Begräbnis der Mutter erfahren, bei der Einäscherung, dass sie Jüdin war. Und ich habe ihn dann nachher darauf angesprochen  : ›Hast du das mitbekommen, was da war  ?‹ Sagt er  : ›Ja, ja.‹ Sagt er  : ›Das stört mich nicht.‹ Aus, wir haben auch nie mehr darüber geredet. […] Ich habe das eigentlich versucht zu verdrängen, es hat mich auch nicht sehr berührt, weil ich mit dem Judentum ja überhaupt nichts zu tun hatte. Das war für mich ja fremdartig.«942 Die Mutter von M1 starb im ersten Quartal 2005 im Alter von 93 Jahren in Wien. Im dritten Quartal 2010 besuchte M1 die Gedenkstätte im Wald von Biķernieki am Stadtrand von Riga, wo zwischen 1941 und 1944 mehr als 40.000 Personen ermordet worden waren, und gedachte seiner Großmutter mütterlicherseits. Er sei froh darüber, die Fotos und Dokumente seiner Eltern, die er in einer Holzkassette verwahrt halte, aufgehoben zu haben  : »Das Thema interessiert mich, aber für mich ist es trotzdem abgeschlossen das Ganze, und ich bin eigentlich sehr traurig, dass ich die Mutter nicht ausgefragt habe mehr. Ich hätte sie müssen in die Enge treiben. Ich weiß nicht, ob sie das gemacht hätte. […] Manchmal habe ich es angeschnitten, hat sie gesagt  : ›Ich will nichts wissen, ich will nichts wissen.‹ Aber vielleicht, wenn ich mehr in sie gedrungen wäre, vielleicht, ich weiß nicht.«943 Die jüdische Herkunft sei im familiären Umfeld von M1 und bei Gesprächen mit Freunden weiterhin kein Thema, wie er feststellt  : »Ich will es aber auch heute nicht breittreten […]. Ich rede nichts darüber. Ich gehe nicht hausieren und sage  : ›Ich bin auch Jude‹ oder so, das würde ich niemals machen. […] Wozu auch  ? […] Ich stehe nicht zum Judentum. Glauben ist für mich vollkommen egal. Und die Herkunft, ich kann nichts dafür. Aber es ist kein Thema. […] Weil ich kein gläubiger Mensch bin sowieso nicht. Also war es für mich keine große Sache, es zu verschweigen. Und ist auch für mich keine Sache, es jemandem zu erzählen. Warum soll ich auch  ? Es ist ja nichts Besonderes, sage ich immer.«944

941 Interview mit M1, S. 6. 942 Ebd., S. 8. 943 Ebd., S. 23. 944 Ebd., S. 28.

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2.6 Roman Frister  : »Ich war froh zu leben« 945 Der am 17. Jänner 1928 in der schlesischen Stadt Bielsko in Polen als einziges Kind eines jüdischen Ehepaars geborene Roman Frister veröffentlichte 1993 eine literarische Autobiografie in hebräischer Sprache. Darin thematisiert er einen bis dahin verschwiegenen Vorfall, der sich während seiner Gefangenschaft im Konzentrationslager Eintrachthütte in der oberschlesischen Stadt Świętochłowice, einem Außenlager von Auschwitz, im Herbst 1944 ereignet hatte. Der polnisch-israelische Journalist und Schriftsteller beschreibt in dieser Passage eine Begegnung mit einem Häftling aus Budapest, den er als Árpád Bácsi946 bezeichnet. Dieser war gemäß der nationalsozialistischen Ideologie als jüdischer Berufsverbrecher gekennzeichnet und genoss den Status eines »privilegierten Sträflings«.947 Der zu diesem Zeitpunkt 16-jährige Frister wurde seinen Angaben zufolge von diesem Mithäftling vergewaltigt und seiner Kopfbedeckung beraubt  : »Ein Häftling ohne Mütze war ein toter Häftling. Jeder, der beim Morgenappell nicht vorschriftsmäßig seine Mütze trug, wurde vom diensthabenden Offizier sofort erschossen.«948 Roman Frister schildert, wie er in der Folge einem schlafenden Mithäftling dessen Mütze stahl, woraufhin dieser an seiner statt hingerichtet wurde  : »Ich blickte mich nicht um. Ich wollte nicht wissen, wer erschossen worden war. Ich war froh zu leben.«949 Gemäß Fristers Angaben hatte der Vergewaltiger auch andere jugendliche Häftlinge sexuell missbraucht  : »Ich war der einzige, der von den Jungen, die er vergewaltigt hatte, übriggeblieben war. […] Árpád Bácsi war ein erfahrener Gefangener, vorsichtig genug, um keinen lebenden Zeugen zu hinterlassen. Homosexualität war ein Verbrechen, das die Nazis nicht einmal ihren wichtigsten Gefangenen vergaben. […] Ich wußte, daß dieser listige Fuchs auf der Lauer lag, auf den Moment wartend, an dem ich stolpern würde. Mein Fehler würde seine Gelegenheit sein. Ich durfte keinen Fehler machen.«950 Roman Frister war auch im Lager für jüdische Zwangsarbeiter im polnischen Industriegebiet Starachowice, das von Oktober 1942 bis Juli 1944 bestanden hatte, sowie in Auschwitz-Birkenau, Płaszów und im Konzentrationslager Mauthausen eingesperrt gewesen. Im Unterschied zu seinem Peiniger überlebte Frister, der im Mai 1943951 zusammen mit seinen Eltern in Krakau festgenommen worden war, die Zeit 945 Frister, Die Mütze oder Der Preis des Lebens, S. 300. 946 »Bácsi«  : Ungarisch für »Onkel« oder »älterer Herr«. 947 Frister, Die Mütze, S. 296. 948 Ebd., S. 297. 949 Ebd., S. 300. 950 Ebd., S. 405. 951 Siehe ders., Begegnung auf dem Bahnsteig, URL  : https  ://www.hagalil.com/israel/deutschland/frister. htm (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

Roman Frister  : »Ich war froh zu leben«

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in Gefangenschaft. Seine Mutter wurde in Krakau vor den Augen des Sohns von einem SS-Offizier mit dem Griff einer Pistole erschlagen. Sein Vater, ein Rechtsanwalt, starb in Starachowice an Typhus und Tuberkulose. Nach Kriegsende kehrte Roman Frister zunächst nach Polen zurück, arbeitete als Journalist und emigrierte 1957 nach Israel. Dort war er als Redakteur für die Tageszeitung »Ha’Aretz« sowie ab 1990 als Leiter der Journalisten-Schule Koteret in Tel Aviv tätig und veröffentlichte auch Romane, Sachbücher und Theaterstücke.952 Die Thematisierung der erlittenen Vergewaltigung und des begangenen Diebstahls fand in der internationalen Rezeption seiner Autobiografie große Beachtung  : »[…] Frister legt darin zum wachsenden Entsetzen des Lesers die Bilanz seiner eigenen Untaten vor. Er erzählt Geschichten, die ihn als Verräter, Betrüger und Erpresser erscheinen lassen. Er entlarvt sich sogar, beklemmender Höhepunkt der Selbstbezichtigung, als scheinbar skrupelloser Mittäter  : Wohlkalkuliert schickt Frister einen jüdischen Mithäftling in den sicheren Tod, um das eigene Leben zu retten. […] Warum wagt ein Jude, der mit 75 Jahren in Israel als Leiter einer Journalistenschule lebt, rund 50 Jahre nach dem Ende des Nazi-Terrors solche Selbstentblößungen  ? Er mußte doch ahnen, was ihm danach widerfuhr  : Ein Bekannter aus Tel Aviv beschied ihm nach der Lektüre, er wolle ihn nie wiedersehen.«953 Roman Frister erörtert in seiner Autobiografie, wie er mit der Verantwortung für den Tod des Mithäftlings umzugehen gelernt hatte  : »An welchem moralischen Maßstab sollte mein Benehmen gemessen werden  ? Nach der Moral, die Umstände, Zeitpunkt und Ort des Geschehens nicht berücksichtigt, oder nach jener, die eine gegebene Zeit und einen gegebenen Ort als entscheidend für das Urteil anerkennt  ? Der ersten zufolge muß ich mich schuldig bekennen. Nach der zweiten kann ich mich schuldlos fühlen, zumindest den Grundsatz ›im Zweifel für den Angeklagten‹ beanspruchen. Wenn ein Menschenleben der höchste Wert ist, ist es dann nicht zulässig, alles zu tun, um am Leben zu bleiben, auch wenn ein anderer dafür sterben muß  ? Wer ist berechtigt zu urteilen, welches Leben wichtiger ist  ? Meines oder das des unbekannten Häftlings, den ich zum Tode verurteilte, indem ich seine Mütze stahl  ?«954 In einem Interview mit der Direktorin der Moses Mendelssohn Akademie Halberstadt in Sachsen-Anhalt, das auf Video aufgezeichnet wurde, schildert Frister, wie schwer es ihm gefallen sei, dieses Buch zu schreiben. Der dreifache Vater thematisiert auch, wie seine Nachfahren reagiert hatten  : »Ich schrieb dieses Buch, als ich schon 60 Jahre alt war. Mein Verleger, der schon einige meiner Bücher verlegte 952 Siehe Ha’Aretz, URL  : https  ://www.haaretz.com/misc/writers/WRITER-1.4969130 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 953 Siehe exemplarisch Jürgen Hogrefe, Hinrichtung der Seele. In  : Der Spiegel Nr. 28 vom 7.7.1997, S. 172–175. 954 Frister, Die Mütze, S. 405.

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früher, wusste meine Geschichte und wollte dieses Buch haben schon 20 Jahre früher, aber ich war nicht reif genug, um dieses Buch zu schreiben. Also, ich glaube, ich brauchte noch Distanz von Ereignissen. Mit meinem Sohn, der heute 52 Jahre alt ist, wollte ich über meine Erlebnisse sprechen, als ich dieses Buch schrieb.«955 Der Sohn, Avigdor, sei zu dieser Zeit 18 Jahre alt und wehrpflichtig gewesen  : »Ich sagte  : ›Avigdor, weißt du, ich habe eigentlich schon 60 oder 80 Seiten geschrieben. Ich möchte dir erzählen, was passierte und so.‹ Und mein Sohn sagte  : ›Papa, ich habe kein Interesse an dieser Zeit.‹ Es war ziemlich schmerzhaft  : Mein eigener Sohn hat kein Interesse am Leben seines Vaters. Es dauerte ziemlich lange, bis ich verstand, was passierte, und jetzt kommen wir zu der israelischen Gesellschaft  : Er war damals 18 Jahre alt, es waren die ersten Tage, als er die Militäruniform trug, er hatte Waffen, Maschinenpistole. Es war eine Macho-Generation, und ein Vater, der wehrlos ins KZ ging, passte nicht in dieses Familienbild. Es dauerte noch 20 Jahre, bis mein Sohn und mein Enkel mich baten, mit ihnen zusammen in das Holocaust-Museum in Jerusalem, Yad-Vashem-Museum, hinfahren und erklären, was passierte.«956 In seiner Autobiografie berichtet Roman Frister auch von einer nächtlichen Begegnung mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers Płaszów  : »Amon Göth gehörte zu der Gattung von Menschen, die man, selbst wenn man sie nur einmal gesehen hat, nie wieder vergessen kann. Trotz der Dunkelheit wußte ich sofort, wer vor mir stand. Auch wenn ich seine Silhouette nicht erkannt hätte, seine Stimme war nicht zu verkennen.«957 Er beschreibt, wie er ihm hilflos gegenüber gestanden sei, »wohl wissend, daß jeder, der die Ausgangssperre verletzte, am Galgen endete.«958 Gemäß Fristers Angaben zog Göth die Pistole und richtete sie auf ihn  : »Er zögerte den Moment des Schusses hinaus, genoß seine Macht und meine gespannte Erwartung des Todes. Er wußte, in dem Augenblick, in dem er auf den Abzug drückte, wäre der angenehme Zeitvertreib vorbei. Ich habe keine Ahnung, wieviel Minuten vergingen, bis er sich entschloß, dem Spaß ein Ende zu setzen. Ich hörte ein metallisches Geräusch, als der Bolzen vergeblich knackte. Die Kugel kam nicht heraus.«959 Daraufhin sei es dem Häftling gelungen, in der Dunkelheit unterzutauchen und der drohenden Hinrichtung zu entkommen. Roman Frister war in den letzten Jahren vor seinem Tod als Polen-Korrespondent der Zeitung »Ha’Aretz« tätig. Er starb am 9. Februar 2015 in Warschau960 955 Interview mit Roman Frister (geb. 1928), geführt von Jutta Dick, Mai 2006, 9  :32–10  :08 min., URL  : https  ://www.youtube.com/watch  ?v=hoI85z7QyrQ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 956 Ebd., 10  :14–11  :27 min. 957 Frister, Die Mütze, S. 314. 958 Ebd. 959 Ebd., S. 406 f. 960 Siehe Ha’Aretz, URL  : https  ://www.haaretz.com/misc/writers/WRITER-1.4969130 (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

W1  : »Mir wird heute noch kalt, wenn ich daran denke«

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und wurde am jüdischen Friedhof bestattet. In seiner Autobiografie erwähnt er auch Georg Bachmayer, SS-Offizier und erster »Schutzhaftlagerführer« des Konzentrationslagers Mauthausen. Dort hatte der an Typhus erkrankte Frister Anfang Mai 1945 die Befreiung durch Soldaten der US-Armee erlebt. In den Tagen davor hätten Mithäftlinge in Erfahrung gebracht, »daß die Kommandantur plante, das Krankenhaus um weitere 2200 Patienten zu ›dezimieren‹. […] Aber in der gegebenen Situation, als die Nachricht von Hitlers Selbstmord schon allgemein bekannt und die endgültige Kapitulation nur noch eine Frage von Tagen war, glaubte Bachmayer, daß eine Geste gegenüber den Gefangenen seine Haut retten konnte. Die Hinrichtungen wurden im letzten Moment abgesagt  ; der Todesengel war gezwungen, auf meine Seele zu verzichten.«961

2.7 W1  : »Mir wird heute noch kalt, wenn ich daran denke« 962 Ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters, der im vierten Quartal 1995 im Alter von 83 Jahren gestorben war, besuchte die im dritten Quartal 1962 geborene W1963 gemeinsam mit ihrer Mutter am Wiener Zentralfriedhof auch das Grab des älteren der beiden Brüder ihres Vaters. Dieses befindet sich am neuen jüdischen Friedhof in der Nähe des evangelischen, auf dem ihr Vater begraben worden war. Bei der Friedhofsverwaltung erkundigte sie sich, wie es zu pflegen sei, »weil bei unserem Grab am evangelischen Friedhof weißt du es und dort halt nicht«.964 W1 fragte auch nach, ob es sein könne, dass in dem Grab des Onkels weitere Verstorbene liegen würden. Der Mitarbeiter der Verwaltung habe ihre zweite Frage bejaht und zur Überraschung von W1 die Namen ihrer Großeltern väterlicherseits genannt  : »Sage ich  : ›Die können ja nicht darin liegen.‹ – ›Warum können die nicht darin liegen  ?‹ Sage ich  : ›Wie soll das möglich sein  ? Meine Großmutter ist im KZ gestorben und mein Großvater war kein Jude. […] Ich glaube das nicht.‹ Mir wird heute noch kalt, wenn ich daran denke.«965 Ihr Vater war von 1962 bis zu dessen Tod 1995 in dritter Ehe mit ihrer Mutter verheiratet gewesen. Seiner dritten Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kindern gegenüber habe dieser immer versichert, er wäre »Halbjude«, sein früh verstorbener katholischer Vater wäre in einem Armengrab bestattet worden und seine jüdische Mutter in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager umgekommen  : »Ich

961 Frister, Die Mütze, S. 466. 962 Interview mit W1, Transkript S. 3. 963 Die Interviewpartnerin hatte eine Anonymisierung zur Bedingung für die Zustimmung zur Veröffentlichung des transkribierten Interviews gemacht. Die Daten wurden vom Verfasser anonymisiert. 964 Interview mit W1, S. 2 965 Ebd., S. 3.

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habe die Situation so hingenommen, wie sie mir dargestellt wurde oder uns dargestellt wurde, meines Wissens nach von klein auf. Über das Thema ›Großmutter‹ durften wir nicht reden, weil die ist ja, so habe ich es gehört, im KZ gestorben. Was aber nicht gestimmt hat. Der Großvater, ja, der war schon lange tot. ›Irgendwo liegt der in einem Armengrab, der war katholisch und die waren ja so arm.‹ Natürlich glaubst du das  ! Warum sollst du daran zweifeln, an diesen Geschichten  ?«966 Die als Unternehmerin tätige Mutter eines im vierten Quartal 1994 geborenen Sohns begann daraufhin, Nachforschungen über die Lebensgeschichte ihrer Vorfahren anzustellen  : »Ich habe fünf Jahre recherchiert, nonstop. Ich habe ja keine Ruhe gehabt […], nächtelang gesucht im Internet und dort und da und noch und noch.«967 Wie sich herausstellte, war ihr Vater 1931 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten und hatte die Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft mit gefälschten Papieren in Wien im Untergrund überlebt. Ihre Großmutter väterlicherseits und ihre Tante, die Schwester des Vaters, überstanden die Zeit bis zur Befreiung Wiens durch Soldaten der Roten Armee im April 1945 als jüdische »U-Boote« in einem Versteck. Der Großvater war bereits 1933 gestorben. Der jüngere der beiden Brüder des Vaters, der in Kapitel 2.5 beschrieben wird, überlebte die Shoah in mehreren Konzentrationslagern, dem älteren war rechtzeitig die Flucht ins Ausland geglückt  : »Im Krieg war es dann eigentlich so, dass ein Bruder in England war, die Schwester war versteckt, die war blond, die war liiert mit einem Schneider, der hat sie versteckt.«968 2.7.1 Jüdische Vorfahren von W1 Die Großmutter väterlicherseits von W1 stammte aus einer jüdischen Familie, die im damaligen Deutsch-Westungarn969 lebte, »wo ihr Vater Vorstand der Kultusgemeinde war«.970 Sie kam im dritten Quartal 1877 zur Welt. Der Großvater väterlicherseits, ein Prager Jude, wurde im Frühling 1878 geboren. Nachdem er die Bürgerschule absolviert und ein halbes Jahr lang in seiner Heimatstadt gearbeitet hatte, emigrierte er 1893 im Alter von 15 Jahren mit dem Schnelldampfer »Columbia« der Reederei »Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft« HAPAG nach New York City. Dort wohnte er zunächst bei einem seiner Brüder, bis es zu einem Streit mit seiner »sehr liebenswürdigen Schwägerin«971 kam. Dann wurde er von einem 966 Interview mit W1, S. 2. 967 Ebd., S. 14. 968 Ebd., S. 1. 969 Der deutschsprachige Teil Westungarns wurde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Österreich zugesprochen und in Burgenland umbenannt. 970 Interview mit W1, S. 1. 971 Meine Lebensgeschichte, Tagebuch Großvater väterlicherseits von W1, undatiert, Eigentum von W1.

W1  : »Mir wird heute noch kalt, wenn ich daran denke«

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Cousin unterstützt. Schließlich verließ er die USA wieder  : »Durch eine Schiffskarte von meiner lieben Mutter wurde ich gerettet und fuhr von dannen mit dem Schiff.«972 W1 berichtete, ihr Großvater väterlicherseits habe unter Spielsucht gelitten  : »Er stammt aus einer Bankiersfamilie, war aber das schwarze Schaf in der Familie, […] der war Spieler. Brüder von ihm sind nach Amerika und da hat er dann versucht, in Amerika Fuß zu fassen. Und in Amerika hat er meine Großmutter kennengelernt. Und die haben um 1900 am Schiff geheiratet, wie sie dann wieder zurückgekommen sind. Und das war sicher ein Fehler, weil der war bettelarm, weil er so spielsüchtig war. Und die Kinder haben nichts zu essen gehabt, und der dürfte ein ziemlich schlimmer, schrecklicher Vater gewesen sein, was ich so mitgekriegt habe. Aber mein Vater hat ihn trotzdem geliebt und hat sich nie beschwert.«973 Die Großeltern väterlicherseits von W1 heirateten im ersten Quartal 1903 in New York City. Im Herbst 1903 wurde in Wien ihr erstes Kind geboren, ein Sohn. Im Frühjahr 1904 notierte der Großvater, er »werde nie vergessen, den Fehler den ich begangen, indem ich nach dieser Stadt zugereist kam.«974 Die Familie lebte in Wien in ärmlichen Verhältnissen. Das Baby konnte nicht bei den Eltern verbleiben  : »Mein liebes Kind ist in der Fremde, ach, auch dieses kleine Kindlein hat sich schon, in seiner frühen Jugend, bei fremden Leuten zu gewöhnen. Nicht einmal diese kleine Freude schenkt mir der liebe Gott, mein Kind zu Hause haben zu können  !«975 Der Beruf des Großvaters wurde in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien mit »Comptoirist«,976 wohnhaft im 20. Bezirk, verzeichnet. Die Großmutter gab im Jahr 1946 als ihren Hauptberuf bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich im März 1938 »Private«977 an. Auf einem 1938 ausgefüllten Meldezettel wurde »Bedienerin« eingetragen.978 Nach der Geburt des zweiten Kindes, einer Tochter, drohte dem Ehepaar der Verlust der Wohnstätte  : »morgen soll ich aus dem Kabinett ausziehen, wo wir keinen Kreuzer im Haus haben. […] Ich stehe heute vor dem Abgrund wie noch nie  ! Ich habe keine Kleider, die Frau sieht erbärmlich aus, das Kind, ach, das weiß nichts davon.«979 In einem Tagebucheintrag, der das Datum vom 23. Februar 1907 trägt, schildert der Großvater einen Suizidversuch  : »Es war so um 2 Uhr Nachmittag, ein schöner lichter Tag. Da kam meine Frau von der Stadt ohne Kreuzer. Zu essen war nichts. 972 Tagebuch Großvater väterlicherseits von W1. 973 Interview mit W1, S. 17. 974 Tagebuch Großvater väterlicherseits von W1, datiert 11.4.1904. 975 Ebd. 976 Geburtsmatriken, Archiv IKG Wien. 977 Eidesstattliche Erklärung Großmutter von W1, Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten, datiert Herbst 1946, DÖW. 978 Siehe Meldezettel für Unterparteien, datiert 4. Quartal 1938, WStLA, historische Meldeunterlagen. 979 Tagebuch Großvater väterlicherseits von W1, datiert 14.9.1905.

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Wir stritten sehr. Ich fasste den Plan mich umzubringen. Meine Frau lief […] zum Hausmeister. Ehe ich Zeit hatte einen Strick abzuschneiden, war jener schon bei der Tür, und hätte dieselbe, wenn ich nicht sofort geöffnet hätte, eingeschlagen. Er tröstete mich, der gute Mann, ihm war das Weinen sehr nahe. Ich zitterte vor Erregung. Er also hat mich dem Tode entrissen, ohne ihn wäre ich sicherlich schon tot. […] Kein Hahn hätte um mich gekräht.«980 Zwei der sechs Kinder des Ehepaars starben früh  : Die im Sommer 1905 geborene Tochter und das im Herbst 1906 geborene drittälteste Kind, ebenfalls eine Tochter. Die ältere der beiden, die zum Zeitpunkt ihres Todes nicht bei den Eltern in Wien, sondern »bei fremden Leuten«981 in Niederösterreich wohnte, wurde im Juni 1907 begraben, sieben Wochen vor ihrem zweiten Geburtstag  : »Es war schauderhaft die Leiche anzusehen. Wir hatten grossen Kummer mit der Beerdigung. […] Nun schlafe ruhig und schätze dich glücklich, dass du von uns, von der ›schönen Welt‹ geschieden bist.«982 Im Herbst 1907 kam der zweite Sohn auf die Welt, im ersten Quartal 1910 die dritte Tochter und im zweiten Quartal 1912 schließlich das jüngste Kind, der Vater von W1  : »Mein Vater ist in eine ganz arme jüdische Familie hineingeboren.«983 Bis Ende Mai 1913 war die Familie an einer Adresse im 20. Wiener GemeindeBezirk gemeldet, von 31. Mai 1913 bis 8. Oktober 1926 im zweiten Bezirk und ab 9. Oktober 1926 an einer weiteren Anschrift im zweiten Bezirk.984 Der ältere der beiden Brüder des Vaters trat im Frühling 1927 aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus und 1938 wieder ein. Sein Beruf wurde von der Großmutter von W1 auf einem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgefüllten Formular mit Kaufmann angegeben.985 Ihm gelang rechtzeitig die Flucht nach England. Er diente in den Streitkräften des Vereinigten Königreichs im Rang eines Unteroffiziers und überlebte die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Dieser Onkel von W1 war mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet, einer »Christin, die hat, wie wir Kinder waren, öfter auf uns aufgepasst«.986 Die Ehe blieb kinderlos. Im Frühling 1967 starb dieser Onkel von W1 in Wien. Der zweitälteste Sohn, dessen Biografie in Kapitel 2.5 nachzulesen ist, war »Goldarbeiter«987 von Beruf. Er überlebte die Shoah als Häftling in mehreren Konzentrationslagern. Die einzige der drei Töchter der Großeltern von W1, die das 980 Tagebuch Großvater väterlicherseits von W1, datiert 23.2.1907. 981 Ebd., datiert 11.4.1904. 982 Ebd., datiert 7.6.1907. 983 Interview mit W1, S. 1. 984 Siehe WStLA, historische Meldeunterlagen. 985 Siehe Eidesstattliche Erklärung Großmutter von W1. 986 Interview mit W1, S. 3. 987 Eidesstattliche Erklärung Großmutter von W1.

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Kindesalter überstanden hatte, wurde von ihrer Mutter als »Modistin«988 bezeichnet. Sie trat im Herbst 1929, vor ihrer ersten Heirat, aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus und im Sommer 1935 wieder ein. Die Terrorherrschaft des NS-Regimes überlebte sie gemeinsam mit ihrer Mutter, der Großmutter von W1, als »U-Boot« versteckt in Wien. 2.7.2 Leben und Überleben des Vaters von W1 Der Vater von W1 besuchte von 1918 bis 1926 in Wien die fünfjährige Volksschule sowie die drei Jahre dauernde Bürgerschule.989 Nach Beendigung der Schulzeit absolvierte er eine Lehre zum Gold- und Silberschmied. Die Meisterprüfung legte er 1947 ab. Von Herbst 1926 bis Sommer 1934 war der Vater von W1 in der Wohnung seiner Eltern im zweiten Bezirk in Wien polizeilich gemeldet. Ende 1931, mit 19 Jahren, trat er erstmals aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus. Anfang 1933990 starb sein Vater, der Großvater väterlicherseits von W1, an Krebs und Tuberkulose.991 1934 heiratete der Vater von W1 eine gelernte Schneiderin. Im dritten Quartal dieses Jahres wurde ihr einziges gemeinsames Kind, die Tochter W2, geboren. Für den Zeitraum von Sommer 1934 bis Herbst 1938 findet sich in einer Übersicht über die Meldeadressen des Vaters von W1, die 1964 von der Bundespolizeidirektion Wien für das Opferfürsorge-Referat des Amts der Wiener Landesregierung erstellt worden war, der Eintrag »nicht vorfindlich«.992 Gemäß den Angaben von W2 lebte sie mit ihren Eltern während dieser gut vier Jahre im Kabinett der Wohnung ihrer Großmutter väterlicherseits im zweiten Bezirk in Wien. Dort waren auch ihre Tante, die Schwester des Vaters, und deren erster Ehemann wohnhaft  : »Die Gemeindewohnung hat meiner Großmutter gehört, der Mutter von meinem Vater. […] Wir hatte es nicht besonders leicht dort, denn meine Mutter war eine ›Arierin‹ und wegen des Geringsten ist sie beschimpft worden, ich weiß nicht, eine ›Schickse‹, eine ›Arierin‹ oder wie immer, ich kann mich nicht genau erinnern.«993 Nicht nur Mitglieder der Familie des Vaters von W1 und W2, sondern auch Teile der eigenen Herkunftsfamilie der Mutter von W2 hätten ihre Geringschätzung zum Ausdruck gebracht  : »Sie hatte es noch schwerer gehabt, denn sie hat meinen Vater geheiratet und ihre Mutter wollte von ihr nichts mehr wissen. Die hat sie hinausge988 Eidesstattliche Erklärung Großmutter von W1. 989 Die Bürgerschule wurde 1927 durch die Hauptschule ersetzt. 990 Siehe WStLA, historische Meldeunterlagen. 991 Siehe Krankengeschichte Vater von M1, Spital der israelitischen Kultusgemeinde Wien, datiert 3. Quartal 1938, Strafakt Vater von M1, Aktenbeilage 107, WStLA. 992 Bundespolizeidirektion Wien an Referat Opferfürsorge, datiert 1964, Eigentum von W1. 993 Interview mit W2, S. 1.

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worfen und hat gesagt, wenn du den heiratest, dann bist du nicht mehr meine Tochter. Die haben sich dann später versöhnt, aber es hat lange Zeit gedauert.«994 Im Herbst 1948 gab der Vater von W1, dessen Beruf mit »Goldschmiedmeister«995 notiert worden war, an, in der Zeit bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten in seinem erlernten Beruf tätig gewesen zu sein  : »Vor dem Jahre 1938 war ich als Goldschmiedgehilfe bei der Firma […] Gold- und Silberwaren-Erzeuger, Wien, […] mit einem durchschnittlichen Wochenlohne von S 60.- beschäftigt.«996 Aus einer von der Wiener Gebietskrankenkasse für Arbeiter und Angestellte ebenfalls im vierten Quartal 1948 erstellten Auflistung ist ersichtlich, dass der Vater von W1 im Zeitraum von Herbst 1926 bis Weihnachten 1931 bei der von ihm angeführten Firma angemeldet gewesen war. Von Frühling 1933 bis Frühling 1935 war er gemäß der Aufzählung bei einer Firma beschäftigt, die mit der ersten in unmittelbarem Zusammenhang steht und deren Name auch in ihrem Firmennamen führt. Aus den Quellen geht nicht eindeutig hervor, ob der Vater von Weihnachten 1931 bis Frühling 1933 und zwischen Frühling 1935 und 1938 für diese Firmen gearbeitet hat, ohne angemeldet gewesen zu sein, oder in diesen beiden Zeiträumen nicht für diese Unternehmen tätig war. W2 berichtete, dass sich ihr an Asthma leidender Vater, der zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich 25 Jahre alt war, einer Untersuchung seiner Tauglichkeit für den Wehrdienst unterziehen musste  : »Er war einen Tag ein Soldat. […] Er war untauglich, sie haben ihn den nächsten Tag entlassen. Eine Nacht hat er in der Kaserne verbracht, einen Tag war er eingerückt.«997 Im dritten Quartal 1938, ein halbes Jahr nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, musste die ganze Familiengemeinschaft aus der Wohnung im zweiten Bezirk ausziehen  : »Denn die Wohnung hat meiner Großmutter gehört, die eine Jüdin war. Meine Mutter wollte als ›Arierin‹ die Wohnung nehmen, aber erstens einmal war sie mit einem Juden verheiratet und hatte ein Kind, einen ›Mischling‹, und nein, es war nicht möglich.«998 Die Familie kam in der ebenfalls im zweiten Bezirk gelegenen Wohnung einer Bekannten der Eltern unter, die aus der Tschechoslowakischen Republik stammte und als Hausmeisterin tätig war  : »Die hatte eine furchtbare Wohnung, die hatte eine Dachwohnung oben und die hat vielleicht sieben oder acht Katzen gehabt und die hat alles in einem Zimmer gehabt, es war ihre Küche, das war ihr Wohnzimmer, es war ihr Schlafzimmer, da waren wir in einem Bett. Und mein

994 Interview mit W2, S. 1. 995 Niederschrift, MaBA 2. Bezirk Wien, datiert 4. Quartal 1948, WStLA, OfA Vater W1. 996 Ebd. 997 Interview mit W2, S. 20. 998 Ebd., S. 1.

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Papa hat sich eingemietet in einer Gaststätte in derselben Straße […] und da hat er ein Zimmer gemietet, […] da war kein Platz für den Papa gewesen.«999 Als im selben Haus ein größerer Raum frei wurde, in dem davor ein »jüdisches« Geschäft untergebracht gewesen war, übersiedelte die Familie innerhalb des Hauses  : »Was meine Eltern gemacht haben, die haben Ziegel geholt und haben eine Mauer gebaut. So wir hatten eine kleine Küche vorne, und dann hatten wir ein Schlafzimmer, aber natürlich im Schlafzimmer hatten wir kein Fenster, es war dunkel. Und in der Küche wir hatten, ich kann mich erinnern, eine Bettbank dort, zwei Fauteuils, einen Kocher und was immer, es war nicht besonders gut, es war eine furchtbare Zeit.«1000 Für den Zeitraum von Herbst 1938 bis Frühling 1943 scheinen drei verschiedene Wohnadressen im zweiten Bezirk auf. An der ersten dieser Anschriften war der Vater von W1 und W2 zweieinhalb Monate lang gemeldet, an der zweiten vier Monate und an der dritten vier Jahre und drei Monate. Ab Frühling 1943 befand sich dessen Wohnsitz an einer vierten Adresse im selben Bezirk. Bei dem Eintrag ist »ohne Abmeldung«1001 vermerkt. Diese Adresse scheint auch als »Vorwohnung« bei der ersten registrierten Ummeldung nach Kriegsende auf. Die Großmutter väterlicherseits von W1 war vom vierten Quartal 1938 bis zum zweiten Quartal 1941 in derselben Straße im zweiten Bezirk gemeldet wie der Vater von W1.1002 Auf dem Meldezettel des Vaters, der vom ersten Quartal 1939 datiert, wurde dessen erste Ehefrau als Wohnungsgeberin eingetragen. Als Beruf scheint »Mechaniker« auf, als Religionsbekenntnis »konfessionslos«.1003 Im ersten Quartal 1939 war der Vater von W1 eineinhalb Monate lang »als Hilfsarbeiter bei der Firma […] Tragbahren aus Eisenrohr-Erzeugung, Wien […] mit einem Wochenlohn von RM 23,– dienstverpflichtet.«1004 Für diese staatlich verordnete Tätigkeit deckt sich die niederschriftlich festgehaltene Angabe des Vaters über die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses mit der auf der Bestätigung der Wiener Gebietskrankenkasse. Dreieinhalb Jahre nach der Befreiung Wiens gab der Vater von W1 und W2 an, in den sechs Jahren zwischen dem Ende der Dienstverpflichtung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein Geld verdient zu haben. Für diesen Zeitraum war er bei der Krankenkasse nicht als beschäftigt gemeldet  : »Ich erkläre an Eides statt, dass ich vom […] 1939 bis zum Jahre 1945 ohne Einkommen war. Während dieser Zeit war ich als U-Boot meiner jetzigen Frau […], Wien VII., […] im Aufenthalte.«1005 999 Interview mit W2, S. 2. 1000 Ebd. 1001 Bundespolizeidirektion Wien an Referat Opferfürsorge, datiert 1964, Eigentum von W1. 1002 Siehe Meldezettel für Unterparteien, datiert 4. Quartal 1938, WStLA, historische Meldeunterlagen. 1003 Siehe Meldezettel für Unterparteien, datiert 1. Quartal 1939. 1004 Niederschrift, MaBA 2. Bezirk Wien, datiert 4. Quartal 1948, WStLA, OfA Vater W1. 1005 Ebd.

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Die Ehe zwischen dem Vater von W1 und seiner nichtjüdischen ersten Ehefrau zerbrach Anfang der 1940er-Jahre. Gemäß der Auskunft von W1 und W2 erfolgte die Scheidung 1944, nach zehn Ehejahren  : »Meine Mutter war dienstverpflichtet, die musste arbeiten gehen, sie ist um sechs Uhr arbeiten gegangen und leider die Ehe von meinen Eltern, die hat sich nicht gehalten. Denn mein Papa, der war halt immer so, der ist gerne nachts weggewesen, er hat gearbeitet im Prater. […] Der war dazumal offen bis vier Uhr Früh oft. […] Auf jeden Fall meine Eltern haben sich getrennt, noch nicht geschieden, ich glaube 1941 […], nein, die müssen sich eigentlich schon 1940 getrennt haben.«1006 Die Mutter von W2 musste untertags der vom nationalsozialistischen Regime verordneten Tätigkeit im Werk eines Nutzfahrzeugherstellers im elften Bezirk in Wien nachgehen. Am Abend und in der Nacht arbeitete sie zusätzlich als Kellnerin in einem Kaffeehaus im zweiten Bezirk. Der Vater von W1 und W2 konnte die gemeinsame Wohnstätte nur noch eingeschränkt benutzen, ohne Wissen seiner ersten Ehefrau  : »Mein Papa hatte nirgendwo zu wohnen. Meine Mutter ist um sechs Uhr Früh zur Arbeit gegangen und mein Papa hat bei mir angeklopft, ich bin gegangen und habe aufgemacht. Er hat sich niedergelegt und hat geschlafen.«1007 W2 zufolge habe sich ihre Mutter nie negativ über ihren Vater geäußert  : »Mein Vater hat schlecht über meine Mutter gesprochen, aber meine Mutter hat nicht schlecht über meinen Vater, die haben sich halt nicht mehr verstanden.«1008 Gemäß den Angaben von W1 war das Verhältnis zwischen ihrem Vater, der über gefälschte Papiere verfügte, und seiner ersten Ehefrau, der Mutter von W2, angespannt  : »Auf jeden Fall hat sie ihn nicht in die Wohnung hineingelassen, hat gesagt, wenn du nicht verschwindest, rufe ich die Gestapo. Also er hat keine Unterkunft wirklich gehabt, war zum Teil schon wo gemeldet, weil er ja gesagt hat, er ist ›Mischling ersten Grades‹, also das war eine Spur einfacher. Obwohl es ja nicht gestimmt hat […]. Und ich denke, er muss Kontakte zur Unterwelt irgendwie gehabt haben, dass man so gefälschte Sachen gehabt hat.«1009 Bei den gefälschten Papieren handelte es sich entsprechend einer Aussage des Vaters aus dem Jahr 1946 um einen falschen christlichen Taufschein, von dessen Existenz W2 gewusst habe  : »Denn einmal, wie mein Papa zu mir gekommen ist, um zu schlafen, aus irgendeinem Grund ist meine Mama nach Hause gekommen und hat meinen Papa dort gesehen. Und sie hat zu schreien angefangen und sie hat gesagt, ich gehe jetzt die Polizei holen, dass sie dich verhaften, ich will dich nicht in meiner Wohnung. Und da hat mein Papa seine Brieftasche herausgenommen, hat 1006 Interview mit W2, S. 3. 1007 Ebd., S. 3. 1008 Ebd., S. 5. 1009 Interview mit W1, S. 6.

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er gesagt  : ›[…] ich gebe jetzt meine Brieftasche hinter den Kasten. Niemand sagen und wenn ich verhaftet werde, dann lass die dort, und wenn nicht, dann komme ich mir meine Papiere holen.‹ Das ist das einzige, was ich je von den Papieren wusste.«1010 Der Vater von W1 und W2 habe permanent befürchtet, erwischt zu werden  : »Er hatte große Angst.«1011 Die Tarnung sei einmal beinahe aufgeflogen  : »Er hat gesagt, aber natürlich, […] nach dem Ganzen weiß man dann nicht, was stimmt nicht und was stimmt schon. Ich habe dann zur Mama gesagt  : ›Vielleicht hat das gar nicht gestimmt.‹ Er hat gesagt, einmal haben sie ihn mitgenommen und da ist er auf einem Lastwagen gewesen und da ist er heruntergesprungen und ist davongerannt. Muss nicht stimmen, kann aber stimmen […]. Ich kann es nicht sagen. Und es kann mir auch keiner beantworten, auch meine Geschwister nicht.«1012 Dass der Vater von W1 und W2 nach seiner Geburt nicht, wie im Judentum üblich, beschnitten worden war, habe ihm während der Herrschaft des NS-Regimes zum Vorteil gereicht  : »Das hat ihm sehr geholfen, denn zum Beispiel wenn er eine Razzia gehabt und er hat manchmal in einem Stundenhotel die Nacht geschlafen, denn wie gesagt, da waren Zeiten, da wusste er nicht, wo er schlafen soll, und da war eine Razzia. Und die haben ihm gesagt, er ist ein Jude, er ist kein ›Arier‹. Da hat er gesagt  : ›Schauen sie, ich bin kein Jude, ich bin nicht beschnitten.‹«1013 Die Zeitspanne bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs überlebte der Vater von W1 »irgendwie im Untergrund […], hat aber kaum darüber geredet, es waren sehr seltene Momente. Und er hat gesagt, er hat den Krieg in den Kaffeehäusern überlebt, weil er hat ja oft in der Nacht nicht wohin gehen können. Also ja, er hat Karten gespielt, ›Stoß‹ gespielt hat er, hat er gesagt, was ja auch verboten war, aber so hat er überlebt irgendwie. […] Ich glaube, er hat bei irgendwelchen Gaunern gearbeitet […], vielleicht war er Rausschmeißer, ich weiß es nicht. Er hat halt mit Mühe und Not sich durchbringen müssen. […] Was er wirklich alles erlebt hat, ich habe keine Ahnung.«1014 Als jene Kaffeehäuser, in denen ihr Vater verkehrt hatte, nannte W1 sowohl das Ende Jänner 2016 geschlossene »Café Urania« in der Radetzkystraße im dritten Wiener Gemeinde-Bezirk als auch das ebenfalls gesperrte »Café Rotunde« in der Ausstellungsstraße im zweiten Bezirk. In dessen Hinterzimmer sei »Stoß« gespielt worden, ein vor allem in der Wiener Unterwelt und im Rotlichtmilieu verbreitetes illegales Glücksspiel. 1010 Interview mit W2, S. 6. 1011 Ebd. 1012 Interview mit W1, S. 13. 1013 Interview mit W2, S. 6. 1014 Interview mit W1, S. 8.

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Dass ihr Vater in den Jahren zwischen dem »Anschluss« und dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Wien viel Zeit in Kaffeehäusern verbracht hatte, habe sie von ihm selbst erfahren  : »Er hat ja gesagt, er hat die ganzen Nächte durch Karten gespielt und tagsüber war er entweder bei seiner Freundin, die die Kommunisten-Eltern gehabt hat, oder im Prater oder irgendwo halt, einmal dort, einmal da. […] Am Tag hat er geschlafen und in der Nacht, wo die eher die Leute gesucht haben, ist er nicht ins Bett gegangen. Das hat ihm sicher auch das Leben gerettet.«1015 Mitte des zweiten Quartals 1964, 19 Jahre nach Kriegsende, gab der Vater von W1 gegenüber der Wiener Magistratsabteilung 12 an, ab Ende des Jahres 1940 beziehungsweise Anfang 1941 in Wien als »U-Boot« im Untergrund gelebt zu haben. Als Adresse, an der er bis zur Befreiung Wiens im April 1945 untergekommen war, führte er die der Wohnung im siebten Bezirk an, in der die Familie seiner zweiten Ehefrau damals lebte. Auch ein Hotel im zweiten Bezirk gab er als Wohnstätte an. Als Zeugen nannte er seine geschiedene erste Gattin, den Portier des Hotels und die Mutter seiner zweiten Ehefrau  : »so gebe ich an, daß die zwischen 1938 und 1945 vorgenommenen Ummeldungen immer durch meine Schwägerin […] vorgenommen wurden. Ich lebte an den oben angeführten Adressen ohne poliz. Anmeldung.«1016 In der Niederschrift sind auch nähere Angaben zur wirtschaftlichen Lage des Vaters während der im Untergrund verbrachten Jahre enthalten  : »Ich lebte während meiner U-Bootzeit hauptsächlich von Unterstützungen. […] Ich hielt mich untertags im Prater auf, wo ich Gelegenheitsarbeiten verrichtete. Ich kam immer erst am Abend in die jeweilige Wohnung. Ich habe keine Lebensmittel bezogen. Außerdem war es mir nicht möglich, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Ich lebte in der ständigen Angst vor Entdeckung und mußte mich gezwungenermaßen versteckt halten.«1017 Am Ende der Niederschrift findet sich seine Unterschrift. Im vierten Quartal 1948 hatte der Vater von W1 und W2 am Magistratischen Bezirksamt des zweiten Wiener Gemeinde-Bezirks angegeben, zwischen dem ersten Quartal 1939 und dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur in Wien im April 1945 kein Geld verdient zu haben. Im Unterschied dazu erinnerte sich W2 daran, dass ihr Vater in diesem Zeitraum sehr wohl berufstätig gewesen war  : »Mein Vater, ich glaube, es war eventuell 1942 er hat gearbeitet für eine Firma […], und die hatten, glaube ich, vier Filialen […]. Mein Vater war dort Bub für alles. Er hat die Lieferungen gemacht. […] Lederhandtaschen und Brieftaschen und so weiter. Wirklich sehr gut, vorzügliche Ware. Und da bin ich meinen Papa immer besuchen gegangen.«1018 1015 Interview mit W1, S. 13. 1016 Niederschrift, datiert Mitte 2. Quartal 1964, WStLA, OfA. 1017 Ebd. 1018 Interview mit W2, S. 3.

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W2 sei in diesem Zeitraum regelmäßig zu früh oder zu spät in die Schule gekommen. Daher wurde für sie 1943 eine Pflegestelle im zweiten Bezirk gefunden, für die Kostgeld bezahlt werden musste. An den Wochenenden habe sie ihren Vater regelmäßig im »Café Rotunde« aufgesucht  : »Da habe ich ihn jeden Sonntag getroffen und da hat er mir ein Eis gekauft oder ein Brötchen gekauft oder etwas. Dann hat er mir Kostgeld gegeben, er hat das Kostgeld bezahlt. Das Kostgeld war damals elf Mark in der Woche und ich habe fünf Mark Taschengeld bekommen. Und meine Mutter hat mir jede Woche zwei Mark Taschengeld gegeben. Meine Mutter habe ich nicht sehr viel gesehen. Ich habe sie hie und da gesehen, aber sehr selten, nicht so wie meinen Vater, ich habe ihn jede Woche gesehen.«1019 Während der Zeit, die der Vater von W1 im Untergrund verbringen musste, lernte er an seinem Arbeitsplatz in der Taschen-Fabrik seine im Frühjahr 1924 in Wien geborene zweite Ehefrau kennen. Sie war knapp 12 Jahre jünger als er und stammte, wie die erste Gattin, nicht aus einer jüdischen Familie, sondern war römisch-katholischer Konfession  : »Da hat im Büro im Stock unterhalb eine Frau, eine junge Frau, ein junges Fräulein eigentlich gearbeitet […]. Und er hat sie kennengelernt und sie haben sich verliebt. Und ihre Eltern haben in der Bernardgasse eine Wohnung gehabt und mein Vater konnte dort schlafen. Die Sachen haben sich etwas geändert, und anstatt dass ich ihn jeden Sonntag gesehen habe, bin ich dann in die Wohnung dorthin gegangen, da haben wir nachmittags Karten gespielt und die haben mir eine Mehlspeise gegeben und einen Kakao gemacht, das hat mir ganz gut dann gefallen.«1020 Gemäß den Angaben von W1 waren die Eltern der späteren zweiten Ehefrau ihres Vaters Kommunisten  : »Die haben auch geholfen, […] ihn zu verstecken und die Mutter zu verstecken und die Schwester zu verstecken und zu ernähren. Und die ist dann 44 schwanger geworden, […] und dann wurde sie vorgeladen, wer der Vater des Kindes ist, weil sie nicht verheiratet war. Ich glaube aufs Jugendamt oder so eine Stelle damals. Und da hat sie irgendeinen Namen erfunden  : ›Der war auf Fronturlaub und ich weiß nur seinen Vornamen.‹ Sie hat irre Probleme gehabt.«1021 Im vierten Quartal 1944 kam das Kind, eine Tochter, zur Welt  : »Und wie das geschehen ist, haben sie ein Zimmer bekommen in der Burggasse. Und zwar soll das ein sehr hoher Offizier vom Militär gewesen sein. Und da haben sie gewohnt und da hat auch dann meine Großmutter dort gewohnt.«1022 In der ersten Hälfte des Jahres 1943 war der Vater von W1 in Wien als Zeuge in die von der NS-Justiz betriebene Strafverfolgung eines 68-jährigen verheirateten Mannes involviert. Dieser war im Sommer 1919 bereits wegen Diebstahl zu sechs 1019 Interview mit W2, S. 4. 1020 Ebd. 1021 Interview mit W1, S. 7. 1022 Interview mit W2, S. 5.

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Wochen schwerem Kerker verurteilt worden. Er wohnte ebenfalls im zweiten Bezirk, wurde Anfang 1943 vorläufig festgenommen und kam in gerichtliche Untersuchungshaft. Der Generalstaatsanwalt warf dem vorbestraften Mechaniker im Kriegsjahr 1943 vor, »in den Monaten September bis Dezember 1942 in Wien fortgesetzt öffentlich den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen und zu zersetzen gesucht zu haben.«1023 In einem Lokal im zweiten Bezirk soll der Angeklagte im Herbst 1942 während eines Gesprächs über das vom Regime verhängte Verbot von Geldspielautomaten gegenüber einem Zeugen gemeint haben, wenn eine andere Regierung kommt, werde das Verbot aufgehoben werden  : »Sie werden schon sehen, dass ich recht habe, der Krieg ist auch schon verloren.«1024 Bei dem Zeugen handelte es sich nicht um den Vater von W1. Im darauffolgenden Monat kam es den Ermittlungen zufolge erneut zwischen denselben Personen zu einer Unterhaltung über einen Bekannten von ihnen. Dieser war mit dem »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« in Konflikt geraten und saß im Gefängnis  : »Er soll sich nichts daraus machen, er wird nicht lang sitzen. Wenn die neue Regierung kommt, wird selbstverständlich das Urteil aufgehoben […]. Wie kommen die dazu, sich in Privatangelegenheiten einzumengen […].«1025 Als weiteres »wesentliches Ergebnis der Ermittlungen«1026 wurde festgehalten, dass sich der Mechaniker bei einer anderen Gelegenheit »öffentlich und vor mehreren Personen«1027 über den Krieg geäußert habe, der seiner Meinung nach für den NS-Staat aussichtslos sei  : Was »die Partei«1028 mache, sei nicht mehr schön. »Ueber­ dies soll der Angeschuldigte […] im Lauf des Jahres 1942 wiederholt weitere abfällige Äusserungen über Staat und Partei gemacht haben.«1029 Der 68-Jährige würde die Vorwürfe leugnen, er werde »aber durch die Zeugen überführt werden.«1030 Als einer von drei Zeugen ist in der Anklageschrift der Vater von W1, »Angestellter […] in Wien 2.«,1031 angeführt. Das Urteil lautete schließlich auf ein Jahr Gefängnis. Der Verurteilte wurde 12 Monate und 12 Tage nach seiner Verhaftung freigelassen. Obwohl er mehr als ein Jahr in Haft verbracht hatte, wurde lediglich eine Teilstrafe als verbüßt vermerkt und die Reststrafe auf Bewährung bis Mitte 1946 ausgesetzt. Für die ersten gut acht 1023 Anklageschrift, datiert 1943, DÖW. 1024 Ebd. 1025 Ebd. 1026 Ebd. 1027 Ebd. 1028 Ebd. 1029 Ebd. 1030 Ebd. 1031 Ebd.

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Monate stellte ihm das Gericht außerdem einen Betrag in Höhe von 567 Reichsmark als »Kosten der Haft […] und weiter zur Sicherung der Haftkosten«1032 für die knapp sechs Monate bis Strafende in Rechnung. 2.7.3 Verbleib anderer Vorfahren von W1 während der NS-Diktatur Während des Interviews kam W1 mehrmals darauf zu sprechen, dass ihr Vater immer wieder die Deportation seiner jüdischen Mutter, der Großmutter väterlicherseits von W1, in ein nationalsozialistisches Konzentrationslager erwähnt habe, die jedoch nie stattgefunden hatte  : »Dann hat er erzählt, die Mutter, wie er sie das letzte Mal gesehen hat, wie sie da beim Fenster gestanden ist in diesem Auffanglager, und dann hat er sie nie wieder gesehen.«1033 Ob ihre Großmutter möglicherweise bereits für einen Transport in ein Konzen­ trationslager bestimmt war, wisse sie nicht. Ihr Vater habe gesagt, seine Mutter »war in einer Wohnung und von dort ist sie abtransportiert worden. […] Auf jeden Fall hat er immer damit gerechnet, dass ihn wer fragt  : ›Wo ist die  ?‹. Und dann hat er gesagt  : ›Ja, die ist weg.‹ Und das hat er uns dann halt auch erzählt. […] Und er hat auch gesagt, er weiß nicht, wo die Mutter gestorben ist, in welchem KZ. Und wie ich dann auf Maturareise in Israel war, da war ich mit meiner Mutter dort, habe ich gesagt, wir werden das da recherchieren. Hat sie gesagt  : ›Nein, mach das nur nicht, der Papa regt sich auf.‹«1034 Die Großmutter väterlicherseits von W1 erklärte 1946 an Eides statt, im Zeitraum von 1942 bis 1945 als jüdisches »U-Boot« an zwei Wohnadressen in der Leopoldstadt, dem zweiten Bezirk in Wien, gelebt zu haben. Sie führte dafür auch einen Zeugen und eine Zeugin an, die sie versteckt hätten. Die verwitwete Frau war während der Zeit, die sie in den Verstecken im Untergrund verbringen musste, zwischen 64 und 67 Jahre alt. Im Tagebuch des Großvaters väterlicherseits von W1 findet sich ein aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Jahr 1944 stammender undatierter Eintrag. Darin hielt die Tante von W1, die zumindest über einen längeren Zeitraum gemeinsam mit ihrer Mutter, der Großmutter von W1, im Untergrund lebte, fest, dass ihr späterer zweiter Ehemann sie und ihre Mutter versteckt hatte  : »Am 5. Mai 1943 von zu Hause fort. Leider hat mich das Schicksal sehr betroffen. […] Nun sitze ich 1 Jahr traurig in dem einsamen Kabinett. Das Leben kann sich kein Mensch vorstellen, wie es uns geht.«1035 1032 Anklageschrift, datiert 1943, DÖW. 1033 Interview mit W1, S. 7. 1034 Ebd., S. 2. 1035 Eintrag Tante von W1, Tagebuch Großvater väterlicherseits von W1, undatiert, Eigentum von W1.

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In dem Tagebucheintrag deutet die Tante von W1 an, dass das Zusammenleben mit ihrer Mutter schwierig gewesen sei  : »Die Frau ist furchtbar was die uns armen aufzulösen gibt.«1036 Sie notierte außerdem, dass sie und ihre Mutter dem Mann, der ihnen Unterschlupf gewährt hatte, »alles verdanken«.1037 Dieser und ihr Bruder, der Vater von W1, der mit falschen Papieren im Untergrund in Wien leben musste, würden sich sehr um die beiden kümmern  : »Wir haben ja so ziemlich zu essen […]. Aber essen ist nicht alles. Das hätte ich mir nie im Leben träumen lassen so elend zugrunde zu gehen. Nur der liebe Gott soll uns weiter am Leben erhalten das bete ich täglich. Es soll alles zum guten ausgehen damit wir alle unsere lieben wieder sehen. Auch mein armer lieber […] ist seit Juni 1943 von mir weg. Der liebe Gott soll ihm das Leben lassen. Hoffentlich wird alles wieder schön sein. Helfe uns armen lieber Gott.«1038 Der Vater von W1 sei mitverantwortlich dafür gewesen, Lebensmittel für sich, seine Mutter und die ebenfalls im Untergrund lebende Schwester aufzutreiben  : »Er ist, glaube ich, nur sehr schwer durchgekommen, weil er eben immer im Hinterkopf gehabt hat, er muss die Mutter ernähren. Die haben alle geschaut, dass die irgendwie die Leute, die versteckt waren, durchbringen. […] Die haben alle fast nichts zu essen gehabt, nur im Untergrund irgendwie im Schleichhandel. […] Also das war für alle schwierig, glaube ich, und natürlich, wenn du jetzt noch zusätzlich wen ernähren musst, von dem, was du fast nichts kriegst, ist schon schwierig.«1039 Die 1934 geborene W2 erinnerte sich an einen Besuch in dem Kabinett, in dem ihre Großmutter väterlicherseits und ihre Tante versteckt leben mussten  : »Da muss ich so ungefähr sieben, acht Jahre gewesen sein, sind wir hingegangen und ich habe die Omama begrüßt, aber wir mussten sehr leise sein, denn die Leute wussten nicht, dass die zwei Frauen dort wohnen. Und die Omama, die hat oft Hunger gehabt. Mein Papa hat ihr so viel Essen gebracht, wie möglich. Aber, sie dürfen nicht vergessen, meiner Tante ihr Mann hatte ja nur eine Lebensmittelkarte und da mussten drei Leute davon essen. Ich kann mich erinnern, hat meine Omama gesagt  : ›Ich muss manchmal Natron nehmen, denn ich habe so einen Hunger und mir tut der Magen weh.‹ Und in der Nacht durfte sie nicht auf die Toilette gehen, denn die Leute hätten das hören können. […] Die konnten sich ein bisschen frei bewegen, während die Frau in der Arbeit war. Sie ist zur Arbeit gegangen von Montag bis Samstag, wie die Leute damals gearbeitet haben. Und in der Nacht und am Sonntag mussten sie ganz mäusestill sein, sodass niemand wusste, dass da jemand drinnen ist.«1040 1036 Eintrag Tante von W1, Tagebuch Großvater väterlicherseits von W1. 1037 Ebd. 1038 Ebd. 1039 Interview mit W1, S. 16. 1040 Interview mit W2, S. 13.

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2.7.4 Leben des Vaters von W1 nach Kriegsende Neuneinhalb Wochen nach dem Ende der Kämpfe zwischen sowjetischen und deutschen Truppen im Stadtgebiet von Wien heirateten der Vater von W1 und die Mutter seiner zweiten Tochter in einer katholischen Pfarrkirche im zweiten Wiener Gemeinde-Bezirk. Im vierten Quartal 1945 wurde das zweite Kind des nunmehrigen Ehepaars, ein Sohn, geboren.1041 Die Taufe fand im ersten Quartal 1946 in derselben Pfarre nach römisch-katholischem Ritus statt. Auf dem Taufschein findet sich der Vermerk, dass der Großvater väterlicherseits von W1 der katholischen Kirche zugehörend gewesen wäre und die Großmutter mosaischen Glaubens sei. In Bezug auf den Vater von W1 und W2 wurde »konfessionslos«1042 und als Berufsbezeichnung »Sicherheitswachmann« eingetragen. Im Sommer 1947 kam das dritte Kind des Ehepaars, eine Tochter, zur Welt. Im ersten Quartal 1948, im Alter von 35 Jahren, trat der Vater von W1 wieder in die Israelitische Kultusgemeinde Wien ein, aus der er Ende 1931 als 19-Jähriger ausgetreten war. In den ersten Jahren nach Kriegsende arbeitete der Vater von W1 und W2 zunächst wieder in seinem erlernten Beruf  : »Nach dem Krieg hatten wir unser erstes Juweliergeschäft. Das erste hatten wir in der […]  ; Das zweite hatten wir in der […], das dritte am […], das vierte war im dritten Bezirk, aber das kannte ich nicht. Ich habe bei meinem Vater im Juweliergeschäft gearbeitet, war […] als Lehrling dort.«1043 W2 erinnerte sich, dass in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch Personen wie der »G’schwinde«,1044 die der Wiener Unterwelt zugerechnet wurden, auf Besuch in das Juweliergeschäft ihres Vaters im zweiten Bezirk kamen  : »Er hat diese Leute gekannt, weil im Kaffeehaus wurde ja ›Stoß‹ gespielt, welches verboten ist. […] Die sind Tag und Nacht gesessen und haben ›Stoß‹ gespielt, und da waren viele Leute von der Unterwelt. […] Sind viele Leute zum Tratschen gekommen, zum Beispiel zu uns sind sämtliche Polizisten gekommen, und im Hinterzimmer da war immer ein Bier für sie dort und Zigaretten, und da haben sie Pause gemacht.«1045 W2 war 1944 von der Pflegestelle wieder in die Wohnstätte ihrer Mutter übersiedelt. Sie lebte in den Jahren nach Kriegsende abwechselnd bei ihren geschiedenen Elternteilen  : »Mein Papa hat immer gesagt  : ›Ich will, dass du bei mir lebst.‹ Und meine Mama hat gesagt  : ›Nein, ich will, dass du bei mir bleibst.‹ […] So ich habe 1947, 1948 bei meinem Papa gewohnt, dann bin ich zurück zu meiner Mama, und

1041 Siehe Mitteilung über Geburt, WStLA, historische Meldeunterlagen. 1042 Taufschein erster Sohn des Vaters von W1, datiert 1. Quartal 1946, Eigentum von W1. 1043 Interview mit W2, S. 7. 1044 Siehe auch Marschall, Wiener Unterwelt. 1045 Interview mit W2, S. 17.

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nach einem Jahr war ich wieder schlimm, dann bin ich wieder bei meinem Papa eingezogen.«1046 Vor ihrer Emigration nach England in den 1950er-Jahren wohnte W2 beim Vater und arbeitete sowohl in dessen Juweliergeschäft als auch im Haushalt mit  : »Und da habe ich dann bei meinem Papa gewohnt bis 1952. Und leider ich hatte kein schönes Leben dort. Ich habe bei meinem Papa in der Firma gearbeitet. In der Früh bin ich um sechs Uhr aufgestanden, bin Milch holen gegangen, Semmeln, […] habe die Kinder angezogen und habe sie in den Kindergarten gebracht und dann später in die Schule. Dann bin ich in die Firma gegangen, das Geschäft, ich habe […] dort aufgeräumt, und dann ist der Arbeiter gekommen, und um fünf Uhr bin ich von der Firma weggegangen, […] habe die Kinder abgeholt von der Spielschule, habe sie nach Hause gebracht. Dann bin ich zurück ins Geschäft gegangen, habe die Auslage ausgeräumt, alles in einen Koffer, bin nach Hause und dann habe ich auf die Kinder aufgepasst.«1047 Im Alter von 18 Jahren emigrierte W2 nach England, wo bereits ihre Mutter lebte  : »Ich war ein junges Mädchen […] und ich wollte leben.«1048 1952 eröffnete der Vater von W1 und W2 sein erstes Geschäft in einer anderen Branche als der, für die er durch seine Lehre zum Gold- und Silberschmied ausgebildet war. In diesem zweiten Wirtschaftszweig blieb er bis zu seinem Tod tätig. 1995 umfasste der Betrieb insgesamt elf Geschäfte. Die Familie seiner dritten Ehefrau war ebenfalls in dieser Branche tätig. Mit 42 Jahren, im Herbst 1954, trat der Vater von W1 erneut aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus, in die er 1948, nach seinem ersten Austritt im Jahr 1931, wieder eingetreten war. 1959 erfolgte die Scheidung von seiner zweiten Ehefrau, die er während der NS-Zeit kennengelernt hatte. Im Frühling 1962 heiratete er in dritter Ehe die im Herbst 1924 geborene W3, die Mutter von W1, die zwei Töchter aus erster Ehe in die Beziehung einbrachte. 2.7.5 Anträge auf Anerkennung als Opfer 1946 beantragten sowohl der Vater von W1 als auch dessen Mutter die Aufnahme in den »Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten«. Beide füllten eine eidesstattliche Erklärung mit Angaben zu ihrem jeweiligen »Abstammungsgrad«, der Zeit, in der sie als jüdische »U-Boote« im Untergrund gelebt hatten, sowie zu Bürgen für ihr Verhalten »in der Haft« aus. Der Vater führte an, konfessionslos zu sein, bis 1938 als Silberschmiedegehilfe gearbeitet zu haben und eine monatliche Rente vom Fürsorgeamt in Höhe von 170 Schilling zu beziehen. Als Abstammungsgrad gab er »Jude« an. Er sei zum »Tragen des Judenkennzeichens« verpflichtet gewesen. Als 1046 Interview mit W2, S. 15. 1047 Ebd., S. 16. 1048 Ebd.

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Antwort auf die Frage, wo er als »U-Boot« untergekommen war, notierte er  : »Mit falschem christlichen Taufschein gelebt in Wien und bei meiner heutigen Frau […] ungemeldet gewohnt«.1049 Der Vater von W1 machte darüber hinaus die Angabe, keine Renten und sonstigen Unterstützungen zu beziehen sowie Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs, gesund und arbeitsfähig zu sein. An einer anderen Stelle der Erklärung und auf einer Karteikarte des Verbands findet sich der Vermerk »arbeitsunfähig«.1050 Als durch das nationalsozialistische Regime erlittene Verluste listete er »an Gesundheit Herzasthma […] an Wohnung und Einrichtung 1 Zimmer 1 Kücheneinrichtung […] an sonstigen Habseligkeiten alles«1051 auf. Der eidesstattlichen Erklärung wurden auch Bescheinigungen des Magistrats Wien beigelegt. Aus diesen geht hervor, dass der Vater und dessen zweite Ehefrau gemäß der Verordnung der österreichischen Staatskanzlei vom 11. Juni 1945 über die Registrierung der Nationalsozialisten1052 »bis zum heutigen Tage bei der nach diesem Wohnorte zuständigen Meldestelle keine Meldung im Sinne der Verordnung«1053 erstattet haben. Von den drei Kindern, die der Vater von W1 bis zu diesem Zeitpunkt in die Welt gesetzt hatte, erwähnte er lediglich die zwei, die er mit seiner zweiten Ehefrau bekommen hatte  : die 1944 geborene zweite Tochter und den 1945 geborenen ersten Sohn. Die 1934 geborene Tochter aus erster Ehe blieb in der eidesstattlichen Erklärung unerwähnt. Als Religionsbekenntnis der Kinder gab er römisch-katholisch an. Die Großmutter von W1 teilte in ihrer 1946 abgegebenen Erklärung mit, gegenwärtig im »Haushalt«1054 beschäftigt und nicht arbeitsfähig zu sein sowie an einer »Senkung«1055 zu leiden. Als durch das Nazi-Regime erlittene Verluste listete sie »Wohnung samt Möbeln«1056 und »an sonstigen Habseligkeiten Kleider Geld Wäsche«1057 auf. 1947 trat das zweite Opferfürsorgegesetz1058 in Kraft, mit dem das erste von 19451059 ersetzt worden war. Zu Beginn des vierten Quartals 1948 suchte der Vater von W1 1049 Eidesstattliche Erklärung Vater von W1, Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten, datiert 1946, DÖW. 1050 Ebd. 1051 Ebd. 1052 Siehe URL  : https  ://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1945_19_0/1945_19_0.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1053 Bescheinigung, datiert 1946, DÖW. 1054 Eidesstattliche Erklärung Großmutter von W1. 1055 Ebd. 1056 Ebd. 1057 Ebd. 1058 Bundesgesetz vom 4.7.1947 über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich und die Opfer politischer Verfolgung, Bundesgesetzblatt, datiert 1.7.1947, S. 821. 1059 Opferfürsorgegesetz vom 17.7.1945.

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beim Magistratischen Bezirksamt für den zweiten Bezirk in Wien um die Anerkennung als Opfer im Sinne dieses Bundesgesetzes an. Als Opfer der politischen Verfolgung wurden nun auch Personen angesehen, »die in der Zeit vom 6. März 1933 bis zum 9. Mai 1945 aus politischen Gründen oder aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität […] durch Eingriffe der NSDAP einschließlich ihrer Gliederungen in erheblichem Ausmaße zu Schaden gekommen sind. Als solche Schädigungen in erheblichem Ausmaße sind anzusehen […] c) ein Schaden an der Gesundheit, der nach den für Kriegsbeschädigte geltenden Bestimmungen die Zuerkennung der Versehrtenstufe III zur Folge hat, d) der Verlust oder die Minderung des Einkommens um mindestens die Hälfte gegenüber dem Zeitpunkte vor der gesetzten Maßnahme, wenn diese in ihrer Auswirkung mindestens dreieinhalb Jahre gedauert hat […].«1060 Mit seiner Unterschrift auf dem vorgedruckten Formular bat der »Goldschmie­d­ meister«1061 um die »Anerkennung als Opfer im Sinne des Opferfürsorgegesetzes«,1062 erklärte an Eides statt, »niemals Angehöriger oder Förderer der NSDAP, oder ihrer Wehrverbände«1063 gewesen zu sein und verpflichtete sich, alle erforderlichen Nachweise zu erbringen. Er wurde als »Passives Opfer«1064 eingeteilt, als wegen seiner Religion rassisch Verfolgter, »Sternträger« und »U-Boot«. Der Referent des Magistratischen Bezirksamts führte als Haftzeiten »8 Tage Rossauerlände Wien«1065 an. Ein Grund für diese Haft im Polizei-Gefangenenhaus an der Roßauer Lände im neunten Bezirk sowie ein genauer Zeitraum sind nicht vermerkt. Der durch die Verfolgung bedingte Einkommensverlust, den der »Goldschmied­ gehilfe«1066 erlitten hatte, wurde von wöchentlich 60 Reichsmark vor den vom Regime gesetzten Maßnahmen gegen Jüdinnen und Juden auf »ohne Einkommen«1067 nach Beginn der Repressionen angegeben. Handschriftlich wurde ergänzt, dass das Opfer entsprechend einer Bestätigung der Gebietskrankenkasse »nur bis 35 beschäftigt«1068 gewesen wäre, was vom Vater von W1 anders dargestellt wurde. Der Amtsarzt des Bezirksgesundheitsamts für den zweiten Bezirk in Wien vermerkte  : »Obgenannter war rassisch verfolgt (U-Boot)«.1069 Er stellte die Diagnose »Asthma bronchiale« und 1060 Opferfürsorgegesetz vom 17.7.1945, S. 822. 1061 Anspruchswerbung Opferfürsorge Vater von W1, datiert 4. Quartal 1948, WStLA, OfA. 1062 Ebd. 1063 Ebd. 1064 Eine Kategorie »Passives Opfer« findet sich nicht im Text des Opferfürsorgegesetzes, in dem zwischen Opfern »des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich« und »der politischen Verfolgung« unterschieden wird, siehe Opferfürsorgegesetz, S. 821 f. 1065 Ermittlungsergebnis, datiert 4. Quartal 1948, WStLA, OfA. 1066 Ebd. 1067 Ebd. 1068 Ebd. 1069 Bezirksgesundheitsamt an MaBA für den 2. Bezirk, datiert 4. Quartal 1948, WStLA, OfA.

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ergänzte, die »Gesundheitsschädigung kann als Folge der rassischen Verfolgung angesehen werden, erreicht jedoch nicht das Ausmaß der Versehrtenstufe III.«1070 Die Beamten des Magistratischen Bezirksamts kamen zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen für eine Anerkennung des Vaters von W1 als Opfer gegeben waren. Sie legten dessen Ansuchen dem Amt der Wiener Landesregierung »mit dem Antrag auf Stattgebung«1071 zur Entscheidung vor. Neun Tage später schickte das für Opferfürsorge zuständige Referat des Wiener Magistrats, der in dieser Angelegenheit als Amt der Landesregierung fungierte, ein Ersuchen um Ergänzung  : »Dem Verhandlungsakt sind sämtliche Beweisunterlagen über Einkommensverminderung beizuschließen. Mündliche Angaben können in keinem Falle anerkannt werden.«1072 Knapp zwei Wochen, nachdem das Ersuchen um Ergänzung ergangen war, entstand eine vom Leiter des Magistratischen Bezirksamts des zweiten Wiener Bezirks unterschriebene Niederschrift auf einer A4-Seite, die auf einer neuerlichen Befragung des Vaters von W1 in den Räumlichkeiten des Bezirksamts beruht. Dieser schilderte im Verlauf der Amtshandlung, dass er vor dem Jahr 1938 im sechsten Bezirk als Gehilfe bei einer Firma gearbeitet hatte, die Gold- und Silberwaren erzeugte. Der Firmengründer sei bereits gestorben, »die Söhne desselben befinden sich derzeit in Amerika und bin daher nicht in der Lage, irgendwelche Nachweise zu erbringen.«1073 An Eides statt erklärte er, nach der sechswöchigen Dienstverpflichtung Anfang 1939 bei dem Unternehmen, das Tragbahren aus Eisenrohr herstellte, kein Einkommen bis Kriegsende mehr bezogen und in der Wohnung seiner zweiten Ehefrau als »U-Boot« im Untergrund gelebt zu haben. Knapp zwei Wochen später erließ das Referat einen Bescheid, wonach dem Ansuchen um Anerkennung als Opfer im Sinne des Opferfürsorgegesetzes keine Folge gegeben werde. Für diese Entscheidung wurden formale Gründe ins Treffen geführt  : »Mangels Erbringung der erforderlichen Einkommensnachweise musste Ihr Ansuchen […] abschlägig beschieden werden.«1074 Innerhalb der zweiwöchigen Frist brachte der Vater von W1 formlos Berufung gegen den Bescheid bei der Magistratsabteilung 12 ein. Auf einem personalisierten Blatt Papier im Format A5, auf dem neben seinem Namen auch die Adresse, eine Telefonnummer und die Berufsbezeichnung »Juwelier, Gold- und Silberschmiedmeister«1075 aufgedruckt sind, erhob er handschriftlich Einspruch gegen die »Abweisung als Opfer. Ich habe von 1939–1945 kein Einkommen gehabt, war fast 3 Jahre ohne Obdach, habe Wohnung, Möbel, Bekleidung und Gesundheit eingebüßt, will man vielleicht

1070 Bezirksgesundheitsamt an MaBA für den 2. Bezirk, datiert 4. Quartal 1948, WStLA, OfA. 1071 MaBA für 2. Bezirk an AdWLR, datiert 4. Quartal 1948. 1072 Referat Opferfürsorge Magistrat Wien an MaBA für den 2. Bezirk, datiert 4. Quartal 1948. 1073 Niederschrift, MaBA 2. Bezirk Wien, datiert 4. Quartal 1948. 1074 Referat Opferfürsorge Magistrat Wien an Vater von W1, datiert 4. Quartal 1948. 1075 Vater von W1 an MA 12, datiert 4. Quartal 1948.

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behaupten, ich sei kein Opfer gewesen als Jude  ?«1076 Knapp acht Wochen später gab das Bundesministerium für soziale Verwaltung der Berufung Folge und hob wiederum per Bescheid »den abweislichen Bescheid des Amtes der Wiener Landesregierung […] betreffend das Ansuchen um Ausstellung eines Opferausweises«1077 auf. Das Ministerium berief sich in seiner Begründung auf Schriftstücke und Auskünfte  : »Unter Bezugnahme auf die vorliegende Bestätigung der Wiener Gebietskrankenkasse, die Geburtsurkunde des Matrikelamtes der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, sowie Ihrer eigenen Angaben, erscheinen die […] Voraussetzungen in gegenständlicher Anspruchswerbung gegeben. Aus den angeführten Gründen war daher spruchgemäß zu erkennen.«1078 Zwei Wochen später wies das für die Opferfürsorge zuständige Referat des Magistrats Wien das Bezirksamt für den zweiten Bezirk an, dem Vater von W1 einen »Opferausweis samt Begünstigungsheft«1079 auszustellen  : »Dieser Opferausweis hat dem Inhaber das Zutreffen der Voraussetzung […] und die Arten der erlittenen Schädigungen des Opfers zu bescheinigen. […] Dieser Opferausweis empfiehlt den Inhaber den öffentlichen Ämtern und Stellen einer weitgehenden bevorzugten Behandlung seiner Ansuchen.«1080 Im Besitz eines Opferausweises zu sein, bedeutete für Personen, die während der Herrschaft des NS-Regimes ein Leben im Untergrund führen mussten, noch nicht, Anspruch auf materielle Entschädigungsleistungen zu haben, von einem »geringen Steuerfreibetrag«1081 abgesehen. Mit dem Gesetz von 1947 hatte die Republik Österreich zwar auch Opfer anerkannt, die »aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität«1082 verfolgt worden waren  : »Hartnäckige, sich über Jahre ziehende Verhandlungen brauchte es, bis nach etlichen Novellen sowohl der rentenberechtigte Personenkreis als auch die entschädigungswürdigen Verfolgungstatbestände erweitert wurden.«1083 Erst die 12. Novelle ermöglichte es ehemaligen »U-Booten«, Entschädigung zu erhalten. Sie wurde 1961 im Nationalrat beschlossen und berücksichtigte auch Personen, die »auf der Flucht vor einer ihnen […] in der Zeit vom 13. März 1938 bis 9. Mai 1945 drohenden Verfolgung unter menschenunwürdigen Bedingungen im Verborgenen lebten«.1084

1076 Vater von W1 an MA 12, datiert 4. Quartal 1948. 1077 Bescheid Bundesministerium für soziale Verwaltung, datiert 1. Quartal 1949. 1078 Ebd. 1079 Referat Opferfürsorge Magistrat Wien an MaBA für den 2. Bezirk, datiert 1. Quartal 1949. 1080 Opferfürsorgegesetz, S. 823. 1081 Ungar-Klein, Schattenexistenz, S. 269. 1082 Opferfürsorgegesetz, S. 822. 1083 Ungar-Klein, Schattenexistenz, S. 269. 1084 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes vom 22.3.1961, Bundesgesetzblatt, 21.4.1961, S. 531.

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2.7.5.1 Antrag der Tante von W1 nach dem Opferfürsorgegesetz Auch die Tante von W1 beantragte Mitte des vierten Quartals 1948 beim Magis­ tratischen Bezirksamt für den zweiten Bezirk in Wien die »Anerkennung als Opfer im Sinne des Opferfürsorgegesetzes«.1085 Sie hatte gemeinsam mit ihrer Mutter, der Großmutter väterlicherseits von W1, die Verfolgung durch die Nationalsozialisten als jüdisches »U-Boot« überlebt und im Frühling 1947 in zweiter Ehe jenen Mann geheiratet, der den beiden Frauen während der im Untergrund verbrachten Zeit Unterschlupf gewährt hatte. Auf der »nur vom Referenten«1086 auszufüllenden Seite, auf der das Ermittlungsergebnis eingetragen wurde, ist als erlernter Beruf »Modistin« vermerkt. Das Strafregisteramt der Polizeidirektion Wien wurde am darauffolgenden Tag um »Auskunft über die Abstrafungen«1087 ersucht. Drei Wochen später erfolgte am Bezirksgesundheitsamt für den zweiten Bezirk eine amtsärztliche Untersuchung der Tante von W1. Gemäß deren Angabe, seit den drei als »U-Boot« verbrachten Jahren »sehr nervös«1088 zu sein, wurde eine Neuras­ thenie »mäßigen Grades«1089 diagnostiziert. Diese psychische Erkrankung könne »als Folge der rass. Verfolgung angenommen werden, erreicht aber nicht das Ausmaß einer Versehrtenstufe III im Sinne des Opferfürsorgegesetzes.«1090 Auch für die ebenfalls im vierten Quartal 1948 bei ihrem jüngeren Bruder festgestellte Gesundheitsschädigung war nicht die erforderliche Versehrtenstufe festgestellt worden. Die Tante von W1 wurde, ähnlich wie ihr Bruder, aus Gründen der Abstammung und der Religion als »passives Opfer« eingestuft. Ein Verlust von Möbeln gestand ihr das Magistratische Bezirksamt zwar zu, nicht jedoch eine Minderung oder einen Verlust des Einkommens. Denn die Tante sei ab 1933 in einer »Lebensgemeinschaft mit dem jetzigen Gatten«,1091 einem Schneider, gewesen. Dieser habe in der Zeit, »in der die Diskriminierung bestand«,1092 für den Lebensunterhalt gesorgt. Mitte des ersten Quartals 1949 erging der Bescheid des Amts der Wiener Landesregierung. Mit der Begründung, die Tante von W1 hätte »weder eine Einkommensverminderung, noch eine Gesundheitsschädigung im Sinne des obgenannten Gesetzes erlitten«,1093 wurde dem Ansuchen, gemäß dem Opferfürsorgegesetz von 1947 als Opfer anerkannt zu werden, nicht Folge gegeben. 1085 Anspruchswerbung an MaBA für 2. Bezirk, datiert 4. Quartal 1948. 1086 Ermittlungsergebnis MaBA für 2. Bezirk, datiert 4. Quartal 1948, WStLA, OfA. 1087 MaBA für 2. Bezirk an Strafregisteramt Polizeidirektion Wien, datiert 4. Quartal 1948. 1088 Bezirksgesundheitsamt an MaBA für 2. Bezirk, datiert 4. Quartal 1948, WStLA, OfA. 1089 Ebd. 1090 Ebd. 1091 Ermittlungsergebnis MaBA für 2. Bezirk, datiert 4. Quartal 1948. 1092 Ebd. 1093 Bescheid AdWLR, Referat Opferfürsorge, datiert 1. Quartal 1949, WStLA, OfA.

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Wie ihr Bruder, dessen Antrag zunächst ebenfalls abgelehnt worden war, verfasste die Tante von W1 einen formlosen handschriftlichen Brief und legte Berufung gegen den negativen Bescheid ein  : »Da ich samt meiner 72-jährigen Mutter rassisch verfolgt war und beide 3 Jahre U-Boot waren, so glaube ich, dass ich das Recht auf einen Opferausweis hätte. Da Nazi-Hinterbliebene befürsorgt werden, wo bleibt denn da die Wiedergutmachung für uns Juden  ?«1094 Sie kündigte auch an, mit Hilfe der Öffentlichkeit gegen eine mögliche Ablehnung ihrer Berufung vorgehen zu wollen  : »Sollte ich abermals abgewiesen werden, so werde ich Beweise sammeln und in den Zeitungen veröffentlichen.«1095 Das vom Bezirksgesundheitsamt im vierten Quartal des Jahres 1948 erstellte amtsärztliche Attest wurde daraufhin von der ebenfalls am Gesundheitsamt des Magistrats angesiedelten amtsärztlichen Untersuchungsstelle überprüft, der Inhalt des ursprünglich ausgestellten Zeugnisses für korrekt befunden  : »Es wird bestätigt, daß durch die rassische Verfolgung eine beträchtliche Gesundheitsschädigung hervorgerufen wurde. Diese erreicht jedoch nicht das Ausmaß der Versehrtenstufe III […].«1096 Gut vier Monate, nachdem die Tante von W1 gegen die Entscheidung des Amts der Wiener Landesregierung berufen hatte, erließ das Bundesministerium für soziale Verwaltung in zweiter Instanz einen Bescheid. Darin wurde die Argumentation der ersten Instanz aufgegriffen und auf deren Erhebungsbericht verwiesen. Das Ministerium hielt der Antragstellerin vor, »daß Sie seit dem Jahre 1933 in Lebensgemeinschaft mit dem jetzigen Gatten lebten und dieser seit dieser Zeit für Ihren Lebensunterhalt aufkam. Ein eigenes Einkommen hatten Sie nicht.«1097 In der Begründung wurde auch auf die erlittene körperliche Schädigung eingegangen und die Überprüfung des amtsärztlichen Zeugnisses thematisiert. Diese habe ergeben, »daß das im Gesetz geforderte Ausmaß der Versehrtenstufe III […] nicht erreicht werde. Demzufolge war wie eingangs zu entscheiden.«1098 Im Unterschied zu der Berufung ihres Bruders führte die der Tante von W1 nicht zu einer Aufhebung des Bescheids der Landesregierung. 12 Jahre später beantragte sie bei der für den Vollzug des Opferfürsorgegesetzes zuständigen Wiener Magistratsabteilung 12 die Ausstellung eines Opferausweises und die Gewährung »der Entschädigung für Sterntragen«1099 sowie »wegen Leben

1094 Berufung Tante von W1 an Referat Opferfürsorge, datiert 1. Quartal 1949. 1095 Ebd. 1096 Amtsärztliche Untersuchungsstelle Gesundheitsamt Magistrat Wien an Referat Opferfürsorge, datiert 3. Quartal 1949. 1097 Bescheid Republik Österreich, datiert 3. Quartal 1949, WStLA, OfA. 1098 Ebd. 1099 Antrag an AdWLR, datiert 3. Quartal 1961, WStLA, OfA.

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unter menschenunwürdigen Bedingungen (U-Boot)«.1100 Das Gesetz war 1961 zum 12. Mal novelliert worden. Ihren Antrag stellte die Tante von W1 auch in ihrer Eigenschaft als Hinterbliebene eines Opfers, ihrer Ende des ersten Quartals 1953 verstorbenen Mutter. Als »erbberechtigte Personen«1101 führte sie auch ihre drei Brüder an. Die Tante von W1 erwähnte in der Kurzfassung ihres »Schädigungsberichts«1102 erstmals auch, dass sie Einbußen finanzieller Natur erlitten habe. Daher ersuchte sie um »die Gewährung einer Entschädigung für Einkommensminderung als Heimarbeiterin bei der Firma […], und weiterer Gesundheitsschädigung für die folgenden Jahre, und ab 5. Mai 1942 als (U-Boot) mit meiner Mutter, und beide als Sternträger.«1103 Erneut bat die Magistratsabteilung 12 das Strafregisteramt Wien »um die Bekanntgabe der Vorstrafen«.1104 Vom Innenministerium wurde mitgeteilt, dass keine »Aufzeichnungen über eine erlittene Schädigung der Obgenannten aus politischen Gründen«1105 vorhanden seien. Die Israelitische Kultusgemeinde bestätigte, dass die Tante von W1 »dem Kreis der Judensternträger angehört hat.«1106 Auf dem Ersuchen um die Bekanntgabe der Meldedaten, das von der Magistratsabteilung 12 mehr als zwei Jahre später an die Bundespolizeidirektion Wien geschickt wurde, findet sich der handschriftliche Vermerk »Bitte sehr dringend«.1107 Aus einer Niederschrift, die im Zuge einer Verhandlung mit der Tante von W1 in der Magistratsabteilung 12 im vierten Quartal 1963 angefertigt wurde, geht hervor, dass diese zur Kenntnis genommen hätte, keinen Opferausweis beanspruchen zu können, da sie bereits zweimal abgewiesen worden sei  : »Ich ersuche um eine neuerliche Bescheidausfertigung. In diesbezüglichem Antrag kann ich keine neuen Beweismittel erbringen.«1108 Gut 20 Jahre, nachdem sie ihren eigenen Angaben zufolge im zweiten Quartal 1942 in den Untergrund gegangen war, beschrieb die Tante von W1 ihre Lebensumstände als jüdisches »U-Boot« in Wien folgendermaßen  : »Ich war weder polizeilich gemeldet noch bezog ich Lebensmittelkarten. Ich bin in dieser Zeit weder auf die Straße gegangen noch in den Luftschutzkeller. Ich wohnte damals mit meinem jetzigen Mann und meiner Mutter in einem kleinen Kabinett mit 1 Fenster und mußten alle in einem Bett schlafen. Leben dort sehr primitiv und menschenunwürdig.«1109 1100 Antrag an AdWLR, datiert 3. Quartal 1961, WStLA, OfA. 1101 Ebd. 1102 Ebd. 1103 Ebd. 1104 AdWLR an Bundespolizeidirektion Wien, 3. Quartal 1961, WStLA, OfA. 1105 Bundesministerium für Inneres an AdWLR, datiert 3. Quartal 1961, WStLA, OfA. 1106 Bescheinigung IKG Wien, datiert 3. Quartal 1961, WStLA, OfA. 1107 Ersuchen Bekanntgabe Meldedaten, datiert 4. Quartal 1963, WStLA, OfA. 1108 Niederschrift, MA 12, datiert 4. Quartal 1963, WStLA, OfA. 1109 Ebd.

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Die Namen sowie Adressen einer Zeugin und eines Zeugen wurden vermerkt. Darü­ ber hinaus versicherte die Tante von W1, sie habe »von keiner anderen Quelle eine Entschädigung bekommen«.1110 Die von ihr genannte Zeugin gab an, die Tante von W1 seit 1926 zu kennen und im selben Haus gewohnt zu haben. Sie bestätigte, dass diese »in dem Untermietzimmer ihres späteren Gatten gemeinsam mit ihrer Mutter versteckt gelebt hat. Ich habe sie dort 3x besucht, und gesehen, daß sie zu dritt in dem kleinen Kabinett wohnten und nur 1 Bett hatten. Ich habe ihr wiederholt Lebensmittelmarken zukommen lassen.«1111 Gemäß den Angaben der Zeugin habe sich die Tante von W1 bei Fliegerangriffen im Kasten der Wohnung versteckt, die sie nie verlassen habe  : »Ihr späterer Gatte hat für sie gesorgt, zumal er Arier war und dadurch nicht verfolgt wurde.«1112 Dass die Tante von W1 von Frühjahr 1942 bis Kriegsende »ein Leben im Ver­bor­ genen«1113 geführt hatte, bestätigte auch der von ihr angeführte zweite Zeuge. Dieser wurde ebenfalls befragt. Er sagte aus, die ganze Familie zu kennen und mit dem Ehemann der Tante trotz der schwierigen Umstände in Verbindung geblieben zu sein, »weil er schon von früher ein guter Freund war.«1114 In der auf seiner Aussage basierenden Niederschrift werden ebenfalls Besuche bei der im Untergrund lebenden Tante von W1 erwähnt  : »Ich habe sie sowohl mit Geld als auch mit Lebensmitteln unterstützt. Ich war auch 2x bei ihr in der Wohnung, sah daher ihr menschenunwürdiges Dasein.«1115 Weitere Treffen in der im zweiten Bezirk gelegenen Wohnung habe der Zeuge nicht riskieren könne, da in seinem Wehrpass »n. z. v.« vermerkt gewesen sei, die Abkürzung für »nicht zu verwenden«  : »Männliche Mischlinge im wehrfähigen Alter, die keine Uniform trugen, waren dadurch auch ohne Judenstern als Nichtarier gekennzeichnet und vor allem in den letzten Kriegsjahren vermehrt Kontrollen ausgesetzt.«1116 Jene Tschechin, die dem späteren Ehemann der Tante von W1 das Kabinett untervermietet hatte und selbst in der Wohnung lebte, dürfte nichts davon gewusst haben, dass darin zwei Frauen versteckt wurden. Dass die Tante und der Schneidermeister, der seine spätere Ehefrau und deren Mutter verborgen hielt, erst nach Kriegsende heirateten, habe zum Überleben der beiden jüdischen »U-Boote« beigetragen, argumentiert W2  : »Zu dieser Zeit war sie nicht verheiratet mit dem Mann. So sie konnten sie nicht finden auf diese Art und Weise. […] Der hat sich dort ein Zimmer in Untermiete genommen und wie die 1110 Niederschrift, MA 12, datiert 4. Quartal 1963, WStLA, OfA. 1111 Niederschrift Zeugin, datiert 4. Quartal 1963, WStLA, OfA. 1112 Ebd. 1113 Niederschrift Zeuge, datiert 4. Quartal 1963, WStLA, OfA. 1114 Ebd. 1115 Ebd. 1116 Raggam-Blesch, Alltag unter prekärem Schutz, S. 294.

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Frau in die Arbeit gegangen ist, dann hat er eben seine Freundin und ihre Mutter hingebracht.«1117 Die Tante von W1 und W2, die blondes Haar hatte, verließ in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs regelmäßig ihr Versteck  : »Meine Tante […] hat überhaupt nicht ›jüdisch‹ ausgeschaut. Die hat blonde lange Zöpfe getragen. Und von 1945 an ist sie frei auf der Straße gegangen. Und ich kann mich erinnern, sie ist auch in die Bernardgasse gekommen und hat mit uns dort Karten, sie ist fast jeden Nachmittag dorthin gegangen. Aber die ersten drei Jahre mindestens waren beide 24 Stunden am Tag immer in diesem einen Zimmer. […] Das war eigentlich ein Kabinett.«1118 Im vierten Quartal 1963 übermittelte die Bundespolizeidirektion Wien Meldedaten an die Magistratsabteilung 12. Aus diesen Daten geht hervor, dass die Tante von W1 bis zum ersten Quartal 1930 in der Wohnung ihrer Eltern im zweiten Bezirk in Wien gemeldet war und bis Mitte des zweiten Quartals 1942 unter dem Nachnamen ihres ersten Ehemanns an insgesamt vier Wohnadressen im zweiten Bezirk. Für die darauffolgenden gut drei Jahre scheint sie als nach »unbekannt«1119 abgemeldet auf. Ab sechs Wochen nach dem Ende der »Schlacht um Wien« am 13. April 1945 war sie wieder an einer Adresse im zweiten Bezirk registriert. Als Vorwohnung wurde »U-Boot« vermerkt. Mitte des ersten Quartals 1964 erging der von der Magistratsabteilung 12 verfasste Bescheid des Amts der Wiener Landesregierung, zweieinhalb Jahre nach der Antragstellung und 19 Jahre, nachdem die Tante von W1 das Ende des Zweiten Weltkriegs als jüdisches »U-Boot« in Wien erlebt hatte. Gemäß Paragraf 14 Absatz zwei Buchstabe c) der 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes wurde ihr »für ihr Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen im Verborgenen«1120 eine Entschädigung in Höhe von 12.600 Schilling gewährt. Sie erhielt einen Betrag von 350 Schilling »für jeden nachgewiesenen Kalendermonat der Freiheitsbeschränkung«1121 zugesprochen. Dabei kamen insgesamt 36 Monate zur Anrechnung, da angefangene Monate als volle galten. Über die anderen der von ihr nach dem Opferfürsorgegesetz geltend gemachten Ansprüche wurde in einem zweiten Bescheid befunden. Dieser datiert vom Ende des dritten Quartals 1964. Die Tante von W1 hatte auch um Entschädigung nach Paragraf 14 b. angesucht. In diesem Paragrafen ist geregelt, dass Inhabern einer Amtsbescheinigung oder eines Opferausweises für eine durch »Verfolgungsmaßnahmen«1122

1117 Interview mit W2, S. 12. 1118 Ebd., S. 13. 1119 Meldedaten, datiert 4. Quartal 1963, WStLA, OfA. 1120 Bescheid AdWLR, datiert 1. Quartal 1964, WStLA, OfA. 1121 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes vom 22.3.1961, Bundesgesetzblatt, 21.4.1961, S. 531. 1122 Ebd.

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erlittene Minderung ihres Einkommens eine Einmalzahlung in Höhe von 10.000 Schilling zusteht. Das Ersuchen wurde von der Magistratsabteilung 12 mit Verweis auf den 1949 abgewiesenen Antrag gleichen Inhalts zurückgewiesen, da die Antragstellerin »lediglich ihr bisheriges Vorbringen wiederholte«1123 und »Gleichheit der Sache«1124 vorliegen würde  : »Da die Anspruchswerberin weder Inhaberin einer Amtsbescheinigung noch eines Opferausweises ist, war auch diesem Ansuchen der Erfolg zu versagen.«1125 Bis zu ihrem Tod im Sommer 1966 wurde der Tante von W1 mit Verweis auf die in dieser Angelegenheit bereits gefällte Entscheidung die Ausstellung einer Amtsbescheinigung oder eines Opferausweises verwehrt, im Unterschied zu ihrem Bruder. Dem Vater von W1 war vom selben Referat des Wiener Magistrats bereits im ersten Quartal 1949 ein Opferausweis zuerkannt worden. 2.7.5.2 Antrag des Vaters von W1 auf Entschädigung Mitte des zweiten Quartals 1962 reichte der Vater von W1 bei der Magistratsabteilung 12 des Amts der Wiener Landesregierung einen formlosen Antrag ein. Er beantragte »die Auszahlung des Entschädigungsgeldes«1126 nach dem Opferfürsorge­ gesetz und führte als Gründe seine jüdische Abstammung, das Leben im Untergrund während der NS-Zeit und das dadurch entgangene Einkommen an  : »Nach dem Nürnberger Gesetz galt ich von 1938–1945 als Jude und mußte den ›Judenstern‹ tragen. Es gelang mir als ›U-Boot‹ zu leben. Von 1938–1945 konnte ich meinen erlernten Beruf als Goldschmied nicht ausüben und wurde daher auch noch finanziell geschädigt.«1127 Gegen Ende des ersten Quartals 1964, knapp zwei Jahre, nachdem der formlose Antrag eingelangt war, ersuchte die Magistratsabteilung 12 das Strafregisteramt der Bundespolizeidirektion Wien »um die Bekanntgabe der Vorstrafen«1128 des Vaters von W1. Im Akt findet sich kein Schriftstück, das aus den knapp zwei Jahren stammt, die zwischen dem Datum der Antragstellung und dem des Ersuchens an die Polizei liegen. Das Strafregisteramt übermittelte dem für das Opferfürsorgegesetz zuständigen Referat der Magistratsabteilung 12 acht Tage später ein Antwortschreiben. Dieses beinhaltete Stempelaufdrucke und eine maschingeschriebene Zeile, in der auf eine bezirksgerichtliche Verurteilung aus dem ersten Quartal des Jahres 1961 verwiesen wurde. Der Vater von W1 war zu einer Geldstrafe in Höhe von 400 Schilling oder zu drei Tagen

1123 Bescheid AdWLR, datiert 3. Quartal 1964, WStLA, OfA. 1124 Ebd. 1125 Ebd. 1126 Vater von W1 an AdWLR, datiert 2. Quartal 1962, WStLA, OfA. 1127 Ebd. 1128 AdWLR an Bundespolizeidirektion Wien, datiert 2. Quartal 1964, WStLA, OfA.

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Arrest verurteilt worden, weil er gegen Paragraf 411 des bis Ende 1974 geltenden Strafgesetzes verstoßen haben soll. Mit diesem Paragrafen wurden »vorsätzliche und bei Raufhändeln vorkommende körperliche Beschädigungen«1129 geahndet. Die Bundespolizeidirektion übermittelte der Magistratsabteilung auch eine Übersicht über die Wohnadressen, an denen der Vater von W1 ab Herbst 1926 gemeldet war. Auch daraus geht hervor, dass er knapp zwei Jahre lang, zwischen drittem Quartal 1943 und drittem Quartal 1945, nicht polizeilich registriert gewesen war. Der erste Eintrag nach dieser Periode im Untergrund datiert vom Frühsommer 1945, als Wien seit eineinhalb Monaten befreit war. Auf dem Formular findet sich darüber hinaus der Vermerk, wonach keine Haftdaten existieren. Auch eine von der für »Bevölkerungswesen« zuständigen Abteilung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien ausgestellte Bescheinigung liegt dem Akt bei. Daraus ist ersichtlich, dass der Vater von W1 »dem Kreis der Judensternträger angehört hat«.1130 Eineinhalb Monate, nachdem die Bundespolizeidirektion die Melde- und Haftdaten übermittelt hatte, setzte der Vater von W1 seine Unterschrift unter ein Schriftstück und bestätigte damit, dass er »nicht um Entschädigung bei einem anderen Staate angesucht habe und […] für den Einkommensschaden auf Grund anderer gesetzlicher Bestimmungen (Beamtenentschädigungsgesetz) keine Leistungen empfangen bzw. beantragt habe.«1131 Anfang des Jahres 1965 schickte die Magistratsabteilung 12 im Namen des Kanzleileiters und des Abteilungsleiters ein Ersuchen an das Magistratische Bezirksamt für den zweiten Bezirk. Die Beamten baten um die Mitteilung, »ob der Genannte in der Zeit von 1939 bis 1945 Lebensmittelkarten bezogen hat«.1132 Sie listeten fünf Adressen im zweiten Bezirk in Wien auf, an denen der Vater von W1 zwischen dem zweiten Quartal 1939 und Ende 1962 polizeilich gemeldet gewesen war. Sechs Tage später wurde eine Antwort auf das Ersuchen verfasst  : »Zu umseitiger Anfrage wird mitgeteilt, daß unter den angegebenen Daten der Gesuchte in der Kartei der ehemaligen Kartenstellen nicht aufscheint.«1133 Im zweiten Quartal 1965 wurde von der Magistratsabteilung 12 das Ermittlungsergebnis verschriftlicht und das Votum festgehalten, wonach dem Vater von W1 eine Entschädigung wegen der beantragten und nachgewiesenen Schädigungen nach Paragraf 14 b. des Opferfürsorgegesetzes zugesprochen wird. Darin ist geregelt, dass Inhaber eines Opferausweises eine Einmalzahlung in Höhe von 10.000 Schilling er-

1129 Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Übertretungen, Paragraf 411, URL  : http  ://alex.onb. ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&datum=1852&page=655&size=45 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1130 Bescheinigung, IKG Wien, Bevölkerungswesen, datiert 2. Quartal 1964, WStLA, OfA. 1131 Erklärung Vater von W1, MA 12, datiert 2. Quartal 1964, WStLA, OfA. 1132 Ersuchen MA 12 an MaBA für den 2. Bezirk, datiert 1. Quartal 1965, WStLA, OfA. 1133 Kartenstellenbestätigung, MaBA für den 2. Bezirk an MA 12, datiert 1. Quartal 1965, WStLA, OfA.

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halten, »wenn ihr Einkommen in der Zeit vom 6. März 1933 bis 9. Mai 1945 durch Verfolgungsmaßnahmen im Sinne dieses Bundesgesetzes in dem […] festgesetzten Ausmaß gemindert war«.1134 Über die ebenfalls beantragten und nachgewiesenen Schädigungen nach Paragraf 14. (2) c) werde gesondert entschieden. Mit diesem Abschnitt des Gesetzes wurde geregelt, dass Personen, die »auf der Flucht vor einer ihnen […] in der Zeit vom 13. März 1938 bis 9. Mai 1945 drohenden Verfolgung unter menschenunwürdigen Bedingungen im Verborgenen lebten«,1135 eine Entschädigung zu gewähren ist. Zu Beginn des dritten Quartals 1965 erging der Bescheid der Magistratsabteilung 12, wonach dem Vater von W1 die einmalige »Entschädigung für den Verlust des Einkommens«1136 in Höhe von 10.000 Schilling gewährt werde. Mehr als drei Jahre waren vergangen, seitdem er den formlosen Antrag gestellt und eine Entschädigungszahlung für den während der NS-Zeit erlittenen Einkommensverlust beantragt hatte. In der Begründung wurde auf den Opferausweis verwiesen, der dem Vater von W1 im ersten Quartal 1949 zuerkannt worden war  : »Auf Grund des für die Ausstellung des Opferausweises erbrachten Beweismaterials ist erwiesen, daß er eine Einkommensschädigung in dem im Gesetz verlangten Ausmaß erlitten hat.«1137 In dem Bescheid wurde auch festgehalten, dass gesondert über »die übrigen nach dem Opferfürsorgegesetz geltend gemachten Ansprüche«1138 entschieden werde. Vier Wochen, nachdem der Bescheid zugestellt worden war, sprach der Vater von W1, der als »amtsbekannt«1139 bezeichnet wurde, beim Amt der Wiener Landesregierung vor. Er zog den Antrag auf Gewährung einer Entschädigung »für mein Leben im Verborgenen zurück, da ich nicht unter menschenunwürdigen Verhältnissen lebte.«1140 Gleichzeitig ersuchte er um die Gewährung einer Entschädigung für »Sternträger«.1141 Der Vater von W1 erklärte sich damit einverstanden, »daß nachträglich gewährte Entschädigung […] für Zeiten, die sich mit dem Mindestzeitraum für das Tragen des Judensternes überschneiden, auf die […] bereits zuerkannte Entschädigung angerechnet wird.«1142 In einem zweiten Bescheid, der dreieinhalb Monate später übermittelt wurde, erkannte ihm das Amt der Wiener Landesregierung »eine Entschädigung für das 1134 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes vom 22.3.1961, Bundesgesetzblatt, 21.4.1961, S. 531. 1135 Ebd. 1136 Bescheid AdWLR, MA 12, datiert 3. Quartal 1965, WStLA, OfA. 1137 Ebd. 1138 Ebd. 1139 Niederschrift AdWLR, MA 12, datiert 3. Quartal 1965, WStLA. 1140 Ebd. 1141 Ebd. 1142 Erklärung Anrechnung, AdWLR, MA 12, datiert 3. Quartal 1965, WStLA, OfA.

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Tragen des Judensterns«1143 in Höhe von 6000 Schilling zu. Denn aufgrund der Auskünfte und Bestätigungen der Meldebehörde und der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sei es als erwiesen anzunehmen, dass »der Antragsteller durch mindestens 6 Monate den Judenstern getragen hat.«1144 Personen, die »auf Grund der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 […] den Judenstern durch mindestens sechs Monate getragen haben«,1145 stand gemäß Paragraf 14 a. der 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes eine einmalige Entschädigungszahlung in Höhe von 6000 Schilling zu. Ob der Vater von W1 das Zwangskennzeichen für Personen, die vom nationalsozialistischen Regime als Juden eingestuft wurden, zwischen September 1941 und Kriegsende tatsächlich auf seiner Kleidung getragen hatte, geht aus den zur Verfügung stehenden Quellen nicht hervor. In der zweiten Hälfte des Jahres 1965, gut zwei Jahrzehnte nach Kriegsende, wurden an ihn von der Republik Österreich auf Grundlage des Opferfürsorgegesetzes insgesamt 16.000 Schilling als Entschädigung ausbezahlt. 2.7.5.3 Antrag an Fonds der Sammelstelle B Ende des zweiten Quartals 1962 hatte der Vater von W1 zudem einen Antrag an den Fonds der Sammelstelle B gestellt. Dieser Fonds geht auf Artikel 26 des österreichischen Staatsvertrags »betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich«1146 vom 15. Mai 1955 zurück. Darin hatte sich die Republik Österreich gegenüber den vier Besatzungsmächten verpflichtet, Vermögen von Personen, Organisationen oder Gemeinschaften, die »rassischen, religiösen oder anderen Naziverfolgungsmaßnahmen unterworfen worden sind, unter seine Kon­ trolle zu nehmen, wenn […] diese Vermögenschaften, Rechte und Interessen ohne Erben bleiben oder durch sechs Monate nach Inkrafttreten des vorliegenden Vertrages nicht beansprucht werden«.1147 Mit dem Auffangorganisationsgesetz vom 13. März 1957 wurden diese Vermögenswerte, die vertragsgemäß »für Hilfe und Unterstützung von Opfern der Verfolgung durch die Achsenmächte und für Wiedergutmachung an solche verwendet werden«1148 sollten, an die in Wien angesiedelten Sammelstellen A und B zugewiesen. Von der Sammelstelle A wurden die Ansprüche jener Personen abgegolten, die am Stichtag 31. Dezember 1937 »der Israelitischen Religionsgemeinschaft angehört haben«,1149 von der Sammelstelle B die anderer Opfer der NS-Diktatur. 1143 Bescheid AdWLR, MA 12, datiert 4. Quartal 1965, WStLA, OfA. 1144 Ebd. 1145 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes vom 22.3.1961, Bundesgesetzblatt, 21.4.1961, S. 531. 1146 Staatsvertrag vom 15.5.1955, Bundesgesetzblatt, 30.7.1955, S. 726. 1147 Ebd., S. 741. 1148 Ebd. 1149 Auffangorganisationsgesetz vom 13.3.1957, Bundesgesetzblatt, 28.3.1957, S. 558.

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In seinem Antrag beantwortete der Vater von W1 die Frage, in welchen Staaten er seit 1938 gelebt habe, mit »U-Boot«. In der Zeit zwischen dem 13. März 1938 und dem 8. Mai 1945 sei er aus politischen Gründen wegen seiner Abstammung verfolgt worden. Die ebenfalls möglichen Antworten »Religion«, »politische Überzeugung« und »Nationalität« wurden durchgestrichen. Auf die Frage nach den Gründen der Verfolgung replizierte er »weil ich Jude war«,1150 und verwies auf seine Geburtsurkunde. Im Vorlagebericht zum Antrag des Vaters von W1 wurde vermerkt, dass dieser der Israelitischen Religionsgemeinschaft von der Geburt bis zum Austritt Ende 1931 angehört habe. Als Beweis dafür ist das Geburtszeugnis der Israelitischen Kultusgemeinde Wien angeführt, in dem der Austritt vermerkt sei. Weiters wurde notiert, »sämtliche«1151 Vorfahren seien Juden gewesen. Für die erlittene Verfolgung »wegen seiner jüdischen Abstammung«1152 ist der im Februar 1949 ausgestellte Opferausweis als amtlicher Nachweis angegeben. Als jene der »Naziverfolgungsmaßnahmen«,1153 denen der Vater von W1 unterworfen gewesen sei, war »Verpflichtung zur Tragung des Judensternes auf Grund der Polizeiverordnung vom 1. September 1941 […] durch mindestens 6 Monate«1154 gekennzeichnet. Im Feld »Beweis« wurde handschriftlich »ledig, 4 jüd. Großeltern, kinderlos«1155 ergänzt. Als weitere Verfolgungsmaßnahme führte der Antragsteller »Verlust oder Minderung des Einkommens um mindestens die Hälfte gegenüber dem Zeitpunkt vor der gesetzten Maßnahme durch mindestens 3 ½ Jahre«1156 an. Als Beweis dafür diente erneut der Opferausweis. In dem Antrag findet sich der Vermerk, dass der Vater von W1 laut Erhebung keine Zuwendung vom Hilfsfonds und auch keine Zahlung von der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des deutschen Bundesentschädigungsgesetzes von 1953 erhalten habe. Der Antrag wurde im Frühling 1962 der Gruppe B zugewiesen. Gemäß der sowohl vom Geschäftsführer als auch vom Generalsekretär der Sammelstelle B unterschriebenen Entscheidung, die vom ersten Quartal 1963 datiert, erfolgte die Einreihung in den Teil I der Gruppe B. Dafür seien »die gesetzlichen statutarischen Voraussetzungen«1157 gegeben. Ein Rechtsanspruch auf Leistungen war mit dieser Einreihung nicht gegeben. Ein Betrag in Höhe von 3333 Schilling wurde überwiesen. Im Sommer 1963 erfolgte eine Nachzahlung von 1333 Schilling. 1150 Antrag Sammelstelle B Vater von W1, datiert zweites Quartal 1962, ÖStA, AdR. 1151 Ebd. 1152 Ebd. 1153 Ebd. 1154 Ebd. 1155 Ebd. 1156 Ebd. 1157 Entscheidung Sammelstelle B, datiert Anfang 1963, ÖStA, AdR.

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2.7.6 Durchbrechen des Schweigens Dem Vater von W1 und W2 wurden in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit und seines Engagements für die Branche, in der er arbeitete, hochrangige Orden und Auszeichnungen verliehen. Im vierten Quartal des Jahres 1995, an einem Nachmittag gegen 15  :30 Uhr, starb er 83-jährig in seinem Wohnhaus im zweiten Bezirk in Wien am Schreibtisch sitzend  : »Er hat einen Sekundentod hier im Haus gehabt, er ist so im Sessel gesessen. […] Er ist mitten aus dem Leben gerissen worden, kein Mensch hätte gedacht, dass er an diesem Tag stirbt. Er hat noch mit meinem Bruder kurz davor diskutiert, weil einen Tag vor ihm ist der […] erschossen worden […]. Und da hat er sich aufgeregt über das Thema irgendwie und hat an dem Tag, es war Sonntag, auch noch gearbeitet im Geschäft, mit 83-einhalb. Und dann hat er sich hingesetzt und für ihn war es vorbei.«1158 In der Sterbeurkunde wurde »tot aufgefunden«1159 vermerkt. Eineinhalb Jahre nach dem Tod des Vaters von W1 und W2 wurde in Wien ein Weg nach ihm benannt. Bereits rund um den Tod waren innerhalb der Familie von W1 erste Zweifel an der Version der Geschichte aufgekommen, die der Vater tradiert hatte  : »Er hat sich ein Grab ausgesucht am evangelischen Friedhof, wo auch unsere ganze Familie liegt […]. Und kurz vor seinem Tod hat er zu meiner Mutter gesagt, er möchte dann dort einmal liegen, wo seine Leute sind. […] Sie hat überhaupt nicht gewusst, was er meint.«1160 Darüber habe W1 auch mit dem evangelischen Pfarrer gesprochen, der für das Gebiet, in dem das Haus ihrer Eltern liegt, zuständig war  : »Habe ich gesagt  : ›Ich weiß nicht, ich habe jetzt irgendwie ein komisches Gefühl, ist das richtig, was wir da tun, weil er ist doch zumindest halbjüdisch oder hat ein bisschen etwas Jüdisches in sich, wenn er jetzt da beerdigt wird  ?‹ Sagt er  : ›Schauen sie, der jüdische Glaube ist dem evangelischen relativ ähnlich.‹ Es war sein Wunsch, dass er da beerdigt wird, also gut.«1161 Um das Begräbnis in die Wege leiten zu können, war es erforderlich, eine Geburtsurkunde des Vaters zu beschaffen. Im Haus des Verstorbenen konnte keine gefunden werden. Die Mutter von W1 sei daraufhin beim Standesamt vorstellig geworden  : »Die haben gesagt, da müssen sie zur Kultusgemeinde gehen. Und dann hat sie auf der Kultusgemeinde angerufen und die haben gesagt, sie schicken sie. […] Und da sind uns die ersten Zweifel gekommen.«1162 1158 Interview mit W1, S. 19. 1159 Sterbeurkunde Vater von W1, datiert 4. Quartal 1995, Eigentum von W1. 1160 Interview mit W1, S. 2. 1161 Ebd., S. 3. 1162 Ebd., S. 5.

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Kurz vor Weihnachten 1996, gut ein Jahr nach dem Tod des Vaters von W1, habe sich die Situation »dramatisch geändert.«1163 Gemeinsam mit ihrer Mutter fuhr W1 zum Wiener Zentralfriedhof, um das Grab des Verstorbenen zu besuchen, »und auch aufs vierte Tor, wo ich gewusst habe, dass in einem Grab sein Bruder drinnen liegt, […] der Älteste. Da waren wir öfter dort und ich habe gesagt  : ›Schau, jetzt ist der Papa nimmer, fahren wir hin. Schauen wir, ob das Grab in Ordnung ist.‹ Dort hat es ausgeschaut wie im Wilden Westen. […] Und ich habe zu meiner Mutter gesagt  : ›Du Mama, gehen wir einmal zum Verwalter hinein und fragen wir den, was wir da machen dürfen.‹ Weil ich habe mich irgendwie verantwortlich gefühlt.«1164 Durch das an der Simmeringer Hauptstraße gelegene Tor Nummer vier gelangen Besucherinnen und Besucher direkt auf den neuen jüdischen Friedhof. Dieser wird von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien betreut. Er grenzt an den evangelischen Friedhof an, auf dem sich das Grab des Vaters von W1 befindet. Um nicht aus Unkenntnis gegen die Gesetze des Judentums zu verstoßen, erkundigte sich W1 bei einem Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung, wie das Grab des älteren der beiden Brüder ihres Vaters zu pflegen sei. Auf die Frage, ob es sein könne, dass darin weitere Verstorbene liegen würden, habe sie von dem orthodoxen Juden die Antwort erhalten, dass in dem Grab auch ihre Großeltern väterlicherseits bestattet worden seien  : »Sagt er  : ›Ja, da liegen die […] und der […] drinnen.‹ – ›Nein‹, sage ich. […] Zeigt er mir das, sagt er  : ›Ja.‹«1165 Der Vater hatte W1, ihrem Bruder und ihrer Mutter, seiner dritten Ehefrau, mehrmals erzählt, dass seine jüdische Mutter in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager zu Tode gebracht und sein römisch-katholischer Vater in einem Armengrab verscharrt worden wäre. Dem Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung habe sie entgegnet, dass ihr Großvater väterlicherseits als Nichtjude gar nicht auf einem jüdischen Friedhof beerdigt worden wäre  : »Er ruft in der Kultusgemeinde an, die Frau […], sie ist auch schon in Pension mittlerweile, gibt er mir die. Sagt sie  : ›Ja wissen sie, ich kann ihnen versichern, dass die beiden hier drinnen liegen. Und ich kann ihnen auch sagen, dass die Menschen, die das alles erlebt haben, oft entweder viel über das geredet haben oder gar nicht über das geredet haben oder irgendetwas erzählt haben.‹ Und sagt sie außerdem  : ›Ihre Großmutter ist als anerkanntes, […] die ist als eingetragenes U-Boot‹. Sie hat nachher eine kleine Entschädigung gekriegt, lächerlich. Ich habe dann auch das alles gefunden weil ich habe ja dann keine Ruhe mehr gegeben.«1166 1163 Interview mit W1, S. 3. 1164 Ebd. 1165 Ebd. 1166 Ebd., S. 4.

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W1 schildert, dass sie dort gestanden sei und »einen Auszucker«1167 bekommen habe  : »Ich habe zu meiner Mutter gesagt  : ›Das ist das Letzte‹, habe ich gesagt. Sage ich  : ›Wie gibt es das  ? Du warst 35 Jahre mit ihm verheiratet, hast keine Ahnung gehabt. Das gibt’s nicht.‹ Sie hat aber wirklich nichts gewusst. Sagt sie  : ›Ja‹. Sage ich  : ›Dass du dich da nicht aufregst  ?‹ Sage ich  : ›Wenn das mein Mann ist, erschlage ich den‹, habe ich gesagt. Ich war so aggressiv, ich habe drei Tage nicht schlafen können. […] Ich habe gesagt  : ›Wenn der jetzt zu Hause sitzt, gehe ich nach Hause und bring ihn um.‹ So böse war ich. Das wird mir ewig gespeichert bleiben.«1168 2.7.7 Auswirkungen auf die Angehörigen Daraufhin habe W1 den Entschluss gefasst, den auf dem Grab ihres Onkels aufgestellten Stein entfernen zu lassen  : »Ein neuer Grabstein muss her, wo meine Großeltern natürlich draufstehen mit den Daten. Ich habe gesagt  : ›Der alte muss sofort weg.‹ Ich war ganz böse und dann habe ich halt angefangen mit Recherche und Co. Und das hat mich überallhin geführt, wo man sich nur vorstellen kann, in die ganzen Archive. […] Und da habe ich ja alles gefunden.«1169 Auf ihren Vater sei sie »ziemlich sauer«1170 gewesen  : »Ich habe mir dann jahrelang gewünscht, dass ich eine Möglichkeit noch einmal habe, eine halbe Stunde lang mit ihm zu reden, dass ich sage  : ›Bitte, was war jetzt wirklich, sag mir jetzt die Wahrheit, ich will das jetzt wissen.‹ […] Und du kannst niemanden mehr fragen, und deswegen gehst du auf die Suche. […] Ich habe recherchiert, so viel ich konnte.«1171 Im Zuge der Nachforschungen stieß W1 auf zahlreiche Verwandte in Österreich, den USA und in anderen Ländern. Von deren Existenz hatte sie bis dahin nichts geahnt  : »Also ich habe da Menschen kennengelernt, wo ich sage  : ›Das gibt es nicht.‹ Das ist hoch interessant.«1172 W1 machte sich auf die Suche nach Personen, die ihr Auskunft über das Leben ihrer Vorfahren geben konnten  : »Ich wollte wissen, was passiert ist.«1173 W1 ist sich sicher, dass bis zum Tod ihres Vaters auch W3, ihre Mutter, über den gleichen Wissensstand verfügt hatte wie sie selbst  : »Sie hat nicht mehr gewusst als ich. Ich habe mir zuerst gedacht, […] vielleicht weiß sie doch etwas. Aber sie hat nichts gewusst.«1174 W3 versichert, dass sie bis nach dem Tod ihres Ehemanns keine Kenntnis von dessen früherer Zugehörigkeit zum Judentum hatte  : »Nein, das 1167 Interview mit W1, S. 4. 1168 Ebd. 1169 Ebd. 1170 Ebd., S. 5. 1171 Ebd. 1172 Ebd., S. 14. 1173 Ebd., S. 10. 1174 Ebd.

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habe ich nicht gewusst. Ein Halbjude schon, das habe ich schon gewusst. […] Lauter Lügen.«1175 W1 sei aufgebracht gewesen und habe das Schweigen ihres Vaters als Verrat empfunden  : »Für mich war erst einmal der Schock, die Aufregung, die Enttäuschung und dann mich damit näher zu befassen und beschäftigen, zu recherchieren.«1176 W3 hingegen habe gelassener reagiert  : »Warum soll mich das aufregen  ? Das kann mich überhaupt nicht aufregen. […] Ich finde das ja gar nicht tragisch. […] Mich hat das nicht aufgeregt.«1177 Auch seiner dritten Ehefrau hatte der Vater von W1 erzählt, dass er »überhaupt kein Jude«1178 sei und seine Mutter in einem Konzentrationslager gestorben wäre. W1 habe ihre Mutter gefragt, wie sie so lange mit ihrem Vater verheiratet gewesen sein und gleichzeitig nicht gewusst haben könne, dass dieser zwei jüdische Elternteile hatte und nicht einen  : »Ich habe dann zu meiner Mutter gesagt  : ›Eigentlich war jetzt der Papa nicht, wie er immer gesagt hat, Halbjude.‹ Und sagt die Mama  : ›Na ja, jetzt bist du das, was wir geglaubt haben, was der Papa war, halbjüdisch.‹ Und sagt sie  : ›Kannst ja stolz darauf sein.‹ Und da habe ich eigentlich gefunden, dass meine Mutter eine super Einstellung dazu gehabt hat. Und sie hat es damals nicht einfach gehabt in der Familie  : ›Wie kannst du so etwas heiraten  ?‹«1179 Die Frage, wie erfreut die Mitglieder ihrer Herkunftsfamilie darüber gewesen waren, dass W3 einen Mann mit jüdischen Wurzeln geheiratet hatte, beantwortete sie folgendermaßen  : »Die waren nie erfreut. Es war schon immerhin meine zweite Ehe, und es war die erste nicht erfreut und die zweite, und eine dritte wäre auch nicht erfreut gewesen.«1180 W1 meinte jedoch, dass die Brüder ihrer Mutter einmal gesagt hätten, »so etwas hat es noch nicht gegeben bei uns in der Familie«.1181 Konfrontiert mit dieser Aussage ihrer Tochter, entgegnete W3  : »Na ja, kann man leicht sagen, nicht  ? Egal, nicht  ? […] Vielleicht haben sie auf das angespielt, dass er Halbjude ist.«1182 Während ihrer Recherchen fand W1 heraus, dass die Großmutter väterlicherseits nicht, wie von ihrem Vater behauptet, in einem Konzentrationslager umgekommen war, sondern die Shoah als jüdisches »U-Boot« im Untergrund in Wien überlebt hatte  : »Ich weiß ja, dass sie 1953 erst gestorben ist und ich weiß, wo sie gestorben ist und woran sie gestorben ist. Und da muss ich wirklich sagen, da bin ich echt auf den 1175 Interview mit W3, Transkript S. 19. 1176 Interview mit W1, S. 14. 1177 Interview mit W3, S. 26. 1178 Ebd., S. 19. 1179 Interview mit W1, S. 13. 1180 Interview mit W3, S. 14. 1181 Ebd. 1182 Ebd., S. 15.

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Plafond gesprungen deswegen. […] Er wollte diese Illusion hochhalten, dass das so war. Und den anderen Kindern, also seinen Kindern aus den ersten beiden Ehen, hat er gesagt, wenn ihr ihnen etwas sagt, braucht ihr gar nicht mehr zu mir kommen.«1183 Die vier Kinder aus erster und zweiter Ehe des Vaters von W1 und die geschiedenen Ehefrauen hatten im Unterschied zu W1 Kenntnis davon, wie der Vater, dessen Mutter und dessen Schwester die Shoah überlebt hatten  : »Die haben die alle gekannt, die haben ja auch die Großmutter gekannt.«1184 Dass »alle anderen«1185 Bescheid gewusst hatten, nur sie, ihre Mutter und ihr Bruder nicht, sei für W1 schwer zu akzeptieren gewesen. W1 rief ihre Halbschwester W2 an, die in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre nach England emigriert war. Sie erkundigte sich nach Personen, auf deren Namen sie bei ihren Nachforschungen gestoßen war  : »Da habe ich mir gedacht, bist du narrisch. Jahrzehnte haben die den Mund gehalten und dann musst du die fast dazu zwingen, dass die den Mund aufmachen, ein Wahnsinn. Und dann hat sie gesagt, ja, der Papa hat ihr gesagt, weil mit 18 ist sie nach England, die Mutter war auch dort, und sie ist jedes Jahr gekommen und ich war auch oft in London, und der Papa hat gesagt  : ›Wenn du über das redest, brauchst du nie wieder hierherkommen. Und wenn ich sterbe, komm auch nimmer.‹ Nur damit das alles nicht herauskommt. Das ist doch ein Wahnsinn. […] Ich finde es furchtbar, dass ich nie die Chance hatte, mit ihm über das wirklich zu reden. Das hätte ich sehr gerne getan. Meiner Mutter war es nicht so wichtig, aber mir war es wichtig.«1186 W2 verteidigte ihr Schweigen gegenüber ihrer Halbschwester W1  : »Wir konnten […] nichts sagen, wir durften nicht, wir mussten das respektieren.«1187 Sie berichtete von Drohungen, die ihr Vater ihr gegenüber ausgesprochen habe  : »Wir sind zum Stillschweigen gezwungen worden […].‹«1188 W2 sei nicht darüber informiert gewesen, was genau W1, deren Bruder und W3 wussten  : »Ich weiß nur, ich habe über die Sache nichts reden dürfen.«1189 Ihr Vater habe ihr »andauernd verboten, nicht nur andauernd, immer, immer«,1190 darüber zu sprechen  : »Er hat mir immer gedroht, er hat gesagt  : ›Nichts sagen, nichts sagen von unserer Omama, nichts sagen, nichts sagen. Erzähl niemandem etwas. Du weißt von nichts.‹ Und er hat mir immer gedroht und meiner Mutter auch […], sogar noch in dem Jahr, wo er gestorben ist. Er hat es immer wieder gesagt, immer wieder, jedes Mal, wenn ich mit ihm gesprochen 1183 Interview mit W1, S. 7. 1184 Ebd., S. 7. 1185 Interview mit W2, S. 22. 1186 Interview mit W1, S. 7. 1187 Interview mit W2, S. 22. 1188 Ebd., S. 1. 1189 Ebd., S. 27. 1190 Ebd., S. 8.

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habe und jedes Mal, wenn ich ihn gesehen habe. Mein Vater wollte ein Arier sein, er wollte nicht jüdisch sein. Er wollte nicht, dass seine Familie es weiß, weil er hat genauso gefunden, dass Juden sind zweitklassige Leute. Ich weiß nicht, warum, aber leider so ist es.«1191 Dass ihr Vater zwei jüdische Elternteile hatte, sei W2 seit ihrer Kindheit bekannt gewesen  : »Ich habe es immer gewusst. […] Ich habe es sehr schwer in der Schule gehabt, denn zum Beispiel in der Schule wussten sie auch, dass ich ein Mischling bin. […] Ich habe nie zur Toilette gehen dürfen. […] 1944 hätte ich in die erste Hauptschule kommen sollen, aber dadurch, dass ich ein Mischling war, Mischlinge durften nur in die fünfte Klasse gehen. […] Ich kann mich erinnern, ich bin in meinem Bett gelegen, war ich vielleicht sechs Jahre alt, und ich habe gesagt, ich will keine Jüdin sein, ich will eine Arierin sein.«1192 Von der dritten Ehefrau und den beiden Kindern aus dritter Ehe abgesehen, seien alle über die jüdischen Wurzeln des Vaters von W1 und W2 informiert gewesen  : »Alle seine Freunde haben es gewusst, alle. Nur seine Familie hatte es nicht gewusst.«1193 W2 erinnerte sich daran, dass ihr Vater nach Kriegsende gelegentlich über die Zeit gesprochen hatte, in der er mit falschen Papieren im Untergrund leben musste  : »Er hat manchmal darüber geredet, ich kann mich erinnern, Geschichten, wie er erzählt hat, wie die Razzia, wie sie ihn aufgegriffen haben und so weiter, […] die hat er mir erzählt, weil ich habe ja bei ihm im Geschäft gearbeitet und da sind seine Freunde gekommen. Das waren Freunde, die sind von England zurückgekommen, und Freunde sind von Amerika zurückgekommen, und mein Vater war ein Mensch, der konnte tausend Leute unterhalten, er war ein fantastischer Redner. Und er war ein fantastischer Mensch, er hat so kleine Anekdoten davon erzählt, das waren Leute, das waren auch jüdische Leute, und da konnte er ja frei sprechen und das erzählen, […] wie er aufgegriffen ist, von den Razzien und wie er den Krieg überstanden hat und so weiter.«1194 Wäre das Geheimnis nicht ohne ihr Zutun gelüftet worden, hätte W2 dem Willen ihres Vaters, W1 nichts zu verraten, weiterhin entsprochen  : »Es war meinem Vater sein Wunsch, er wollte es nicht haben. Und dadurch, dass ich fühle, dass ich eine Halbjüdin bin, dass ich bin nicht der Mensch, der ich sein will. […] Nachdem sie es von anderen Leuten gehört hat, dann habe ich ihr natürlich erzählt, was ich wusste, denn das Geheimnis war draußen. Ich habe mein Geheimnis nicht gebrochen, denn andere Leute haben es ihr erzählt und dann wollte ich ihr eben so viel von der Familie erzählen, als wie ich ihr erzählen konnte.«1195 1191 Interview mit W2, S. 9. 1192 Ebd., S. 6. 1193 Ebd., S. 8. 1194 Ebd., S. 12. 1195 Ebd., S. 10.

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Seine dritte Familie hatte der Vater von W1 und W2 Anfang der 1960er-Jahre gegründet. Damals sei es Personen außerhalb des Familienverbands, die über seine jüdische Herkunft Bescheid wussten, nicht so wichtig gewesen, darüber zu sprechen  : »Schauen sie, bei der Zeit, […] es war ein gar nicht mehr so wichtiger Punkt. Die Leute haben halt geglaubt, dass die das wissen. Kein Mensch hat gewusst, dass es ein Geheimnis war. Und, ich meine, sind wir uns ehrlich, sie werden jetzt nicht gehen und werden sagen, ja […] wissen Sie, dass Ihr Mann ein Jude ist  ?«1196 W1 vermutet, dass ihr Vater deshalb bei der Behauptung geblieben sei, seine Mutter wäre in einem Konzentrationslager gestorben, weil ihn eine Abänderung dieser Aussage als Schwindler entlarvt hätte  : »Ich glaube, er hat die Tür zugemacht und er wollte diese Tür einfach nicht mehr aufmachen. Er wollte vielleicht auch nicht als Lügner dastehen, weil das ist doch eine ziemliche Lüge, zu sagen, die Mutter ist im KZ gestorben. Ich sage, wenn man das der Gestapo sagt, ja, da muss ich lügen, das ist wichtig. Aber der eigenen Familie dann das vorzuenthalten, das hat sicher auch damit zu tun, dass meine Mutter eher aus einer Familie gekommen ist, die nicht so auf Juden war, sage ich einmal, […] und da wollte er nicht so dastehen vielleicht.«1197 W1 erklärt sich das Schweigen ihres Vaters über die jüdische Herkunft damit, dass dieser mit dem Judentum nichts mehr zu tun haben wollte  : »Er ist nicht dazu gestanden, dass sein Vater Jude war, da hat er eben gesagt, er war katholisch. So wie er es halt im Krieg erzählt hat, hat er es uns dann – also seiner letzten Ehefrau und uns, meinem Bruder und mir – auch erzählt. […] Er wollte kein Jude sein, er hat gewusst, was das bedeutet und wie schwer das ist, deswegen wollte er es eigentlich nicht.«1198 Auch W2 argumentiert, ihr Vater »wollte nicht jüdisch sein. Der Vater wusste ganz genau, dass Juden nicht akzeptiert werden.«1199 W1 bezeichnet ihren Vater, der 50 Jahre alt war, als sie geboren wurde, als Patriarchen. Dieser habe »nichts an sich herangelassen. Er war sehr aggressiv zum Teil, er hat das alles nicht verarbeitet, zu uns halt eher, zur Familie. Zu fremden Menschen nicht, die haben ihn alle wahnsinnig geschätzt. Aber bei uns hat er dann so richtig die Aggressionen herausgelassen, war nicht ganz einfach.«1200 Lediglich »drei oder vier Mal«1201 sei es »um diese Themen gegangen […], ganz selten einmal, das waren so spezielle Momente, wo er dann ein bisschen was erzählt hat, und ich war dann immer ganz ruhig und habe mir nur gedacht, hoffentlich redet er weiter. Ich habe mich nichts fragen getraut und wir waren da ganz eingeschüchtert zu dem Thema. […] Ich

1196 Interview mit W2, S. 14. 1197 Interview mit W1, S. 8. 1198 Ebd., S. 6. 1199 Interview mit W2, S. 8. 1200 Interview mit W1, S. 7. 1201 Ebd., S. 2.

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habe mir gedacht, mein Gott, der hat so viel mitgemacht und es ist so schlimm, da traue ich mich nicht.«1202 Bei diesen seltenen Gelegenheiten sei die Familiengeschichte Thema von Tischgesprächen im Elternhaus von W1 gewesen  : »Das war meistens beim Essen. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin, und wir haben da eine relativ kleine Küche, und da sitzt man ganz eng beieinander. Und es hat manchmal Situationen gegeben, und ich würde einmal sagen, dass das eher im Winter war, weil im Sommer waren meine Mutter und mein Vater sehr im Stress. Aber es waren manche Momente, ich würde sagen, Mittagessen, Nachmittag, wo er gesagt hat  : ›Setz dich her‹. Und dann war er guter Stimmung. Und dann hat sich so etwas ergeben, wo er über das geredet hat, aber über Dinge, die halt nicht gestimmt haben. Oder vielleicht haben sie gestimmt, nur hat er dann, wie es weitergegangen ist, anders dargestellt. Und das weiß ich halt nicht und das kann mir kein Mensch beantworten, weil es absolut niemand von den Leuten weiß, wie es wirklich war.«1203 Aus der Sichtweise von W1 stellte sich in den Jahren nach dem Tod ihres Vaters dessen Version der Familiengeschichte in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus als unvollständig und in wesentlichen Punkten inkorrekt heraus  : »Trotz allem hat sich meine Beziehung zu meinem Vater nicht verändert dadurch. Ich habe ihn noch immer gerne. […] Ich habe wirklich in jederlei Hinsicht versucht, es zu verstehen, und ich akzeptiere das. Und heute ist es nimmer so, dass ich sage, ich muss das unbedingt wissen. Es gibt Dinge, die kannst du nicht erfahren mehr. Und da musst du es aushalten, dass du es nicht weißt. Und da musst du dann irgendwie eine Ruhe damit finden.«1204 Nachdem W1 eigenen Angaben zufolge fünf Jahre lang recherchiert hatte, waren die Nachforschungen für sie vorerst einmal beendet  : »Du musst irgendwann das abschließen. Wenn was dazukommt und sich ergibt, bin ich immer bereit, mich damit zu beschäftigen. […] Ich war angetrieben den ganzen Tag. […] Ich möchte auch die Zeit nicht missen, das ist aber sehr anstrengend. Und es hat sich dann immer wieder etwas ergeben.«1205 Aufgrund der Recherchen von W1 herrscht innerfamiliär Klarheit über die Familiengeschichte in Bezug auf die Zeit der NS-Diktatur in Österreich. Auch eine mögliche Umbettung der sterblichen Überreste des am evangelischen Friedhof bestatteten Vaters sei thematisiert worden  : »Und natürlich ist dann noch eine Diskussion losgegangen. Nachdem ich das alles gewusst habe, habe ich zu meiner Mutter gesagt, so, und jetzt nehmen wir ihn heraus aus dem Grab und jetzt geht er auf den 1202 Interview mit W1, S. 5. 1203 Ebd., S. 20. 1204 Ebd., S. 11. 1205 Ebd., S. 14 f.

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jüdischen Friedhof zu seiner Familie, Strafversetzung oder so, das war es nicht, weil er ja zu ihr gesagt hat, er will zu seinen Leuten. Und sie hat gesagt, sie weiß es nicht, wo das ist. Und er hat ja noch mit ihr das Grab gekauft. Und dann habe ich gesagt, sie muss das entscheiden. Sie hat gesagt  : ›Nein, er bleibt da, wo er ist.‹ Habe ich gesagt  : ›Dann soll es mir auch recht sein.‹ […] Und tatsächlich ist ja der evangelische Friedhof gleich neben dem jüdischen. Also er liegt Mauer an Mauer. Und er hat sich das Grab ausgesucht. Und sie hat dann gesagt  : ›Er hat dieses Grab wollen, er wollte hier beerdigt werden und jetzt bleibt er auch hier.‹ […] Und es sind auch dann die ganzen jüdischen Freunde bis auf einen zum Begräbnis nicht gekommen.«1206 Der im vierten Quartal 1963 geborene Bruder von W1 habe kaum Interesse an den Ergebnissen der Recherchen gezeigt, die seine Schwester angestellt hatte  : »Er will das alles nicht wissen. Er hat es sich schon angehört, aber er will damit eigentlich nichts zu tun haben, und das interessiert ihn nicht.«1207 Ihren im vierten Quartal 1994 geborenen Sohn nahm W1 hingegen regelmäßig mit, wenn sie auf der Suche nach Spuren von Vorfahren Friedhöfe oder Archive aufsuchte  : »Meine Mutter hat gesagt, ich bin eine Totengräberin. Mein Kind ist mitgegangen auf den Friedhof. Der hat mit diesem Thema gar kein Problem. Das einzige, wo mein Sohn Sorge gehabt hat  : ›Sag das niemandem, dass wir jüdisch sind, weil was ist, wenn sowas noch einmal wiederkommt.‹ […] Und ich finde es traurig, weil meine anderen Geschwister haben sich nicht daran beteiligt. Nur meine Mutter und ich und dann auch mein Kind, wie es schon ein bisschen älter war. Und für uns war das gut. Das hat unserer Beziehung sehr gutgetan, der Mama und meiner. Und ich glaube, dass das auch wichtig ist, sich damit zu beschäftigen. Die anderen wollten nicht. Was das mit denen gemacht hat, kann ich nicht beurteilen.«1208 Zu wissen, dass beide Großeltern väterlicherseits dem Judentum angehört hatten und ihr Vater daher von der nationalsozialistischen Rassenideologie als Jude eingestuft worden war, habe W1 anfangs in einen inneren Konflikt gebracht, »weil ich mir gedacht habe, ok, es ist jetzt anders, als ich es gedacht habe. […] Halbjude hat meine Mutter gesagt, jetzt bist du halb. Und ich habe mir dann gedacht, wo gehöre ich jetzt hin. […] Und dann habe ich gesagt  : ›Nein, ich bin eine Christin und meine Mutter ist Christin und mein Vater ist Jude, das passt doch so, wie es ist.‹ Das war ein bisschen ein Konflikt am Anfang, weil ich nicht gewusst habe, wo ich jetzt hingehöre. […] Es hat sich insofern schon verändert, dass ich mich dann mit der jüdischen Kultur natürlich auseinandergesetzt und Seminare gemacht habe.«1209

1206 Interview mit W1, S. 22. 1207 Ebd., S. 9. 1208 Ebd., S. 19. 1209 Ebd., S. 22.

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Nach dem anfänglichen Schock und dem Zorn, den sie verspürt hatte, sei W1 im Lauf der Zeit »sanftmütiger geworden, sagen wir so. Und für mich hat sich jetzt vielleicht insofern etwas verändert, dass ich sage, ich bin älter geworden, ich kann verstehen, warum man solche Geheimnisse hat […]. Es war so, wie es war, ich habe meinen Vater geliebt, er hat eine furchtbare Zeit gehabt, er hat die Möglichkeit gehabt zu überleben, und das war sicher nicht leicht. Was er dabei alles erlebt hat, weiß ich nicht. Also, ich sage, er war eigentlich ein mutiger Mensch. Was ich persönlich schade finde, ist, dass er nicht die Möglichkeit gehabt hat, das selbst zu verarbeiten […]. Aber ich sage, ich habe es insofern ganz gut verarbeitet, weil ich mich damit beschäftigt habe. Das war meine Möglichkeit, damit umzugehen. […] Und ich habe mir nicht gedacht, dass ich ihm das irgendwie verzeihen könnte, aber man kann. […] Es war für ihn eine Lebenslüge. Ich habe es ihm verziehen.«1210 Auch wenn W1 ihrem 1995 verstorbenen Vater gegenüber nach Abschluss der Recherchen »sehr milde gestimmt«1211 sei, würde sie viel darum geben, ihn mit seiner »Lebenslüge« konfrontieren zu können  : »Ich würde mir schon wünschen, mit ihm einmal über das zu reden, aber nicht um zu diskutieren oder zu streiten, sondern einfach so, wie ich mit meinem Sohn reden würde  : ›Erzähl mir doch das.‹ Nur, mein Vater war halt nicht so. […] Er hätte Unterstützung gebraucht, er hätte das Ganze irgendwie verarbeiten müssen, aber das hat es damals halt nicht gegeben […]. Es wäre für uns alle leichter gewesen und vor allem für ihn selbst.«1212 Ihr Vater habe ihr ganzes Weltbild ins Wanken gebracht  : »Ich bin ihm nicht mehr böse. Aber für mich war es wirklich ein Schock.«1213

2.8 Harry Merl  : »Wie ein darüber gebreitetes Tuch« 1214 Von den Vorkommnissen der Jahre 1938 bis 1945 wollte der am 11. November 1934 in Wien als Sohn einer jüdischen Familie geborene Harry Merl nach Kriegsende jahrzehntelang »nichts wissen«.1215 Das Einzelkind überlebte die Shoah gemeinsam mit seinen Eltern in Wien. Sabine und Wilhelm Merl mussten für die »Vugestap«, auch »Vugesta« genannt, Zwangsarbeit verrichten. Die »Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Geheimen Staatspolizei« war eingerichtet worden, um die gestohlenen Gegenstände zu verwerten. Während seine Eltern unterwegs waren,

1210 Interview mit W1, S. 17. 1211 Ebd., S. 19. 1212 Ebd. 1213 Ebd., S. 28. 1214 Interview mit Harry Merl, Transkript S. 4. 1215 Ebd.

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wartete das Kind den ganzen Tag über allein in der Wohnung auf sie. Der Großvater väterlicherseits, die beiden Großmütter und zahlreiche andere Verwandte, mindestens 21 Personen,1216 wurden ermordet. Nach Kriegsende redete Harry Merl mit seinen Eltern, »die wirklich geschädigt waren durch das, was passiert ist«,1217 kaum über diese Zeit  : »Sie haben gesagt, lass uns in Ruhe, es war so und das verstehst du sowieso nicht. Und ich habe nicht insistiert darauf, dass sie reden, sondern wenn sie nicht reden wollten, dann war das so.«1218 Selbst mit seiner Ehefrau hatte der Psychiater und Familientherapeut jahrelang nicht über die traumatisierenden Ereignisse gesprochen, denen er als Bub im Kindergarten- und Volksschulalter ausgesetzt war  : »Ich habe es eher gemieden. […] Meine Frau hat sich interessiert und ich wollte eigentlich nichts wissen davon, das war wirklich wie ein darüber gebreitetes Tuch.«1219 2.8.1 Harry Merls Eltern und Großeltern Harry Merls Großmutter mütterlicherseits, Amalia Kornspan, wurde am 13. Mai 18871220 unter dem Mädchennamen Beer im österreichischen Kronland Galizien in Butschatsch, polnisch Buczacz, als jüngstes von elf Kindern geboren. Die Stadt gehört seit dem Zerfall der Sowjetunion zur Ukraine. In den Quellen wird Amalia auch als Amalie angeführt, ebenso mit ihrem jüdischen Vornamen Malka, auch Malca oder Malke geschrieben. Die Herren- und Damenschneiderin war keine streng orthodoxe Jüdin. Sie »hat gern gesungen«.1221 Merls Großmutter lernte ihren späteren Ehemann, den am 22. November 1887 geborenen Beamten und Musiker Julius Kornspan, auf einer Ballveranstaltung in Lemberg kennen. Julius wird in manchen Schriftstücken auch mit seinem jüdischen Namen Juda genannt. In Lemberg, das von 1772 bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörte, heirateten die beiden am 11. Jänner 1910. Während des Ersten Weltkriegs flüchtete Amalia Kornspan gemeinsam mit ihrer am 20. November 1912 in Lemberg geborenen Tochter Sabine, die in den Quellen auch als Sabina oder Sonja auftaucht, »vor den Russen«1222 nach Wien. In einem Anfang 1216 Siehe Antrag auf Unterstützung, PCIRO, Wilhelm Merl, datiert 12.11.1948, Arolsen, URL  : https  :// collections.arolsen-archives.org/archive/80746020/?p=1&s=wilhelm%20merl&doc_id=80746022 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1217 Renata Schmidtkunz, Harry Merl. Psychoanalytiker und Begründer der Familientherapie. In  : Ö1, Im Gespräch vom 19.3.2020. 1218 Interview mit Harry Merl, S. 1. 1219 Ebd., S. 4. 1220 Siehe Meldezettel für Haupt-Wohnparteien, Malka Kornspan, datiert 30.10.1923, WStLA, historische Meldeunterlagen. 1221 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte. 1222 Ebd., S. 2.

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der 1960er-Jahre verfassten amtlichen Bericht wurde festgehalten, Sabine Kornspan »ist 1916 aus einem der Oststaaten in Österreich eingetroffen«.1223 Amalia Kornspan war bis Mitte Jänner 1917 in der Salzachstraße 11 und ab 15. Jänner 1917 in der Salzachstraße 7/38 im 20. Wiener Gemeinde-Bezirk gemeldet.1224 Ihr Vater, Julius Kornspan, geriet während des Ersten Weltkriegs als Soldat der k. und k. Monarchie in russische Kriegsgefangenschaft. Er kehrte nicht mehr zurück  : »Angeblich soll er sich in eine Russin verliebt haben und von ihrem eifersüchtigen Mann erschossen worden sein. Seine letzte Postkarte aus dem Kriegsgefangenenlager in Werchne-Udinsk, Eisenbahnpark, Sibirien […] stammt vom 21.1.1916.«1225 Kornspan war in dem Lager der neunten Kompanie,1226 von der russischen Lagerverwaltung auch neunte Rotte genannt,1227 zugeteilt gewesen. In Österreich hatte er zunächst als vermisst gegolten und war dann für tot erklärt worden. Die »Kriegswitwe«1228 Amalia Kornspan bezog eine Witwenpension und betrieb, »um etwas dazuzuverdienen«,1229 in ihrer Wohnung in der Salzachstraße 7/38 in Wien »mit zwei Mädchen eine Schneiderei.«1230 Dort kamen vorübergehend auch zwei ihrer Geschwister, der Krankenhausverwalter Wilhelm und die Schreiberin Klara, unter, die ebenfalls nach Wien gekommen waren. Beide sollten die Shoah nicht überleben.1231 Amalia Kornspan, die ihrem Schwiegersohn Wilhelm Merl als »nicht so zäh«1232 in Erinnerung geblieben war, musste ihrer Tochter Sabine auch den Vater ersetzen. Harry Merls Großvater väterlicherseits, Littmann Merl, wurde am 25. ­Oktober 1879 in der Ortschaft Chotymyr, polnisch Chocimierz,1233 ebenfalls im heute zur Ukra­ine gehörenden Teil Galiziens geboren. Sein Vorname scheint in manchen Quellen auch als Littman oder Litmann auf. Am 15. Juni 1904 heiratete er nach jüdischem Ritus in Wien in der Tempelgasse die am 29. März 1881 im ­galizischen Obertyn geborene Sara Ellenberg, auch Sarah geschrieben. Als zweites von sechs Kindern wurde Harry Merls Vater Wilhelm am 3. Juli 1906 in Wien geboren. Wäh1223 Vorlagebericht, Fonds der Sammelstelle A, GZ 4.126/E, datiert 16.10.1962, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1224 Siehe WStLA, historische Meldeunterlagen Malka Kornspan. 1225 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 2. 1226 Ebd. 1227 Georg Wurzer, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Rußland im Ersten Weltkrieg, phil. Diss., Universität Tübingen 2000, S. 97, URL  : https  ://d-nb.info/963181882/34 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1228 Meldezettel für Haupt-Wohnparteien, Malka Kornspan. 1229 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 3. 1230 Notizen Harry Merl, zur Verfügung gestellt von Pascal Merl. 1231 Siehe Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 3. 1232 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 2, Eigentum von Harry Merl. 1233 Auswanderungsfragebogen Littmann Merl, IKG Wien, VWI, 16596.

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rend des Ersten Weltkriegs erlitt Littmann Merl als Soldat der kaiserlich und königlichen Armee »Durchschüsse an beiden Kniegelenken«.1234 Seine Ehefrau, die »Hausierersgattin«1235 Sara Merl, erkrankte 1916 während eines Besuchs bei ihrer am 13. November 18701236 geborenen Schwester. Chaje Feige Goldberg führte in Schaffe in Südmähren »bei einem jüdischen Kaufmann namens Kohn den Haushalt«.1237 Sara wurde in Wien im Spital der Israelitischen Kultusgemeinde behandelt und starb am 26. September 1916 im Alter von 35 Jahren. Drei Tage später fand das Begräbnis am Zentralfriedhof statt  : »Als sie in Wien begraben wurde, kam mein Großvater auf Krücken aus dem Lazarett zum Begräbnis. Er kehrte dann ins Lazarett zurück. Mein Vater war als einziges Kind beim Begräbnis.«1238 Chaje Feige Goldberg zog in der Folge zu ihrem Schwager nach Wien. Littmann Merl konnte aufgrund der an der Ostfront erlittenen Schussverletzungen »sein Lebensmittelgeschäft nicht mehr weiterführen«.1239 Er durfte »als Entschädigung für seine Kriegsverletzung«1240 im Prater einen tragbaren Verkaufsstand betreiben und bot als Straßenhändler Süßwaren feil. Die Familie wohnte im zweiten Bezirk in der Wehlistraße 218/10,1241 die zwischen 1938 und 1945 Admiral-ScheerStraße hieß. Littmann Merl und seine Schwägerin Chaje Feige Goldberg, »einfache und sehr gläubige Juden«,1242 heirateten am 7. Juli 1932 im Wiener Stadttempel. Harry Merls Vater besuchte in Wien die Volks- sowie die Bürgerschule und anschließend die Kunstgewerbliche Fachschule für Gold- und Silberschmiede. Von 1922 bis 1926 durchlief er eine Lehre zum Gold- und Silberschmied bei der Firma »Sommer, Walter & Co Gold- und Silberschmiede« im ersten Bezirk. 1926 erhielt er von der Genossenschaft der Juweliere den Lehr- und den Gesellenbrief. Bis 1927 arbeitete Wilhelm Merl in dem Unternehmen als Gehilfe weiter. Danach war er als Silberarbeiter in der »S. Grosser Gold- und Silberwarenfabrik« im ersten Bezirk sowie bis 1934 als Dosenmacher und Silberschmied bei der Firma »Alois Nöhmayr Goldwarenerzeugung« im 18. Bezirk tätig. Harry Merls Mutter absolvierte nach der Volks- und der Bürgerschule von 1927 bis 1929 die private Handelsschule »Allina« im ersten Wiener Gemeinde-Bezirk. Sie wurde Buchhalterin in der Firma »Josef Zwieback und Bruder« im sechsten Bezirk, 1234 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 2. 1235 URL  : http  ://www.friedhoefewien.at/. 1236 In manchen Quellen scheint als Geburtsdatum auch 19.11.1870 auf. 1237 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 2. 1238 Ebd. 1239 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 37. 1240 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 2. 1241 Lehmann’s, 1932, 1, I. Teil, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/zoom/ 2477174?query=Merl%2C%20Littmann (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1242 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 36.

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die 1932 Konkurs anmelden musste. Ihr erstes Gehalt als Büroangestellte, Buchhalterin und »Korrespondentin«1243 betrug 104,65 Schilling.1244 Bis zu ihrer Heirat war Sabine Kornspan darüber hinaus als Kontoristin bei einer Kreditgesellschaft tätig. Für die Zeit nach der Verehelichung scheint »Haushalt« auf, versehen mit dem Zusatz »ist gute Hausnäherin und geschickt in allen wirtschaftlichen Arbeiten.«1245 Sabine und Wilhelm Merl zählten zu den Anhängern des ursprünglich aus Brünn in Mähren stammenden Zionisten, Journalisten und Politikers Robert Stricker, »der sich gegen jegliche Unterscheidungen zwischen West- und Ostjuden aussprach, für eine einheitliche jüdische Gemeinde eintrat«1246 und für die während des Ersten Weltkriegs nach Wien geflüchteten galizischen Juden zu einer Integrationsfigur geworden war.1247 Harry Merls Sohn Oliver legte 1981 Aufzeichnungen an, nachdem er seine Großeltern befragt hatte. Darin findet sich auch der Vermerk, seine Großmutter Sabine Merl sei in Wien »auf Beschau geschickt worden. Schon mit 16 Jahren ins Café Westend.«1248 Sie hätte eigentlich »einen Kornspan, Erben einer Margarinefabrik, heiraten«1249 sollen, Wilhelm Merl hingegen »eine Branntweinerstochter.«1250 Gemäß den Angaben ihres Sohns waren die beiden keine gläubigen Juden, »wenngleich der Vater im Chor der Israelitischen Kultusgemeinde gesungen hat«.1251 Am 27. Mai 1934 gaben sie sich in der Synagoge in der Wiener Tempelgasse im zweiten Bezirk das Jawort.1252 Das Ehepaar kam in der Wohnung von Sabine Merls Mutter, Amalia Kornspan, in der Salzachstraße unter. Dort richtete sich der Gold- und Silberschmied Wilhelm Merl eine Werkstätte ein.1253 Mit seiner Schwiegermutter verstand er sich »nicht so gut«.1254 Am 11. November 1934 wurde Harry Merl im Brigittaspital, einem Entbindungsheim der Stadt Wien im 20. Bezirk, geboren. 1935 legte Wilhelm Merl bei der Wiener Juwelier- und Goldschmiedezunft die Meisterprüfung ab. Bis Ende 1938 betrieb er in der Wohnung seiner Schwiegermutter ein Juwelier-, Gold- und Silberschmiedegeschäft. Er erzeugte »Gold- u. Silberartikel, Spezialgebiet jede Art von Dosen, Etuis mit künstlerischen Treibarbeiten, 1243 Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1244 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 6. 1245 Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1246 Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt, S. 294. 1247 Siehe ebd., S. 294–299. 1248 Notizen Harry Merl, zur Verfügung gestellt von Pascal Merl. 1249 Ebd. 1250 Ebd. 1251 Föderl-Schmid/Müller, Unfassbare Wunder, S. 126. 1252 Siehe Trauzettel für das Zentralmeldungsamt, WStLA, historische Meldeunterlagen. 1253 Wohnungen Familie Merl Wien 1938 bis 1945, Eigentum von Harry Merl. 1254 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 2.

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außerdem alle Arten von Fassungen f. Juwelen, sowie Silbergeschirr«.1255 Sein Sohn Harry »durfte immer wieder den Blasbalg treten, wenn er Gold schmolz.«1256 1948 wurde in einem an die Vereinten Nationen gerichteten Antrag auf Unterstützung vermerkt, dass Wilhelm Merl bis Dezember 1938 als selbstständiger Silberschmied in Wien gearbeitet und dafür ein Einkommen in Höhe von 400 Schilling bezogen hatte. 2.8.2 Beginn der Verfolgung nach dem »Anschluss« Bis Anfang Oktober 1939 lebten Harry Merl und seine Eltern in Amalia Kornspans Wohnung in der Salzachstraße,1257 die der Familie als »gepflegte Wohnung«1258 in Erinnerung geblieben ist. Am 5. Jänner 1939 musste Wilhelm Merl seinen Gewerbeschein zwangsweise zurücklegen.1259 Am 22. März wurde Harry Merls Mutter im Zuge der antisemitischen Ausschreitungen in Wien dazu gezwungen, Symbole wie das Kruckenkreuz der Vaterländischen Front sowie Parolen, die gegen den Nationalsozialismus gerichtet und vor allem in der letzten Phase des autoritären Ständestaates angebracht worden waren, von Straßen und Häusern zu entfernen. Derartige Ausschreitungen standen in den Wochen nach der Machtübernahme der NSDAP auf der Tagesordnung. Der Historiker Gerhard Botz bezeichnet die »Reibpartien« als »Demütigungsrituale, die bei den Betroffenen und deren Nachkommen in unlöschbarer, jedoch kaum erzählbarer Erinnerung eingebrannt blieben«.1260 Auf einem Zettel wurde Harry Merls Mutter handschriftlich bestätigt, an einer »Reibpartie« teilgenommen zu haben  : »Merl Sabine […] hat heute im Heim Engerthstrasse gerieben«.1261 Das Stück Papier stammt von einem Notizblock mit Werbeaufdrucken des deutschen Putzmittelherstellers »Siegel und Co«. Rund einen Monat später wurde Sabine und Wilhelm Merl ebenfalls auf einem Zettel bescheinigt, dass sie »das SS Heim am Tabor 3 heute Dienstag den 26. April 1938 gereinigt haben«.1262 Die Unterschrift ist unleserlich. Darunter findet sich der Vermerk »SS 89/II./6.«. Zur Zeit des autoritären Ständestaats waren zu »Putzscharen« zusammengefasste Anhänger der damals verbotenen NSDAP herangezogen worden, um nationalsozialistische Schmierereien zu beseitigen. Zu »Reibpartien« wurden unbeteiligte Personen jüdischen Glaubens gezwungen. Sie waren dadurch 1255 Siehe Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1256 Föderl-Schmid/Müller, Unfassbare Wunder, S. 126. 1257 Vorlagebericht Fonds Sammelstelle A. 1258 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 2, 1259 Siehe Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1260 Siehe Botz, »Finis Austriae« und nationalsozialistische Diktatur, S. 100. 1261 Bestätigung »Reibpartie«, 22.3.1938, Eigentum von Harry Merl. 1262 Bestätigung »Reibpartie«, 26.4.1938, Eigentum von Harry Merl.

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einer öffentlichen Erniedrigung und Verhöhnung ausgesetzt  : »Mit scharfer Lauge und Zahnbürsten mußten die Wiener Juden ständestaatliche Kruckenkreuze oder Schuschnigg-Parolen von der Straße waschen. Wo keine Kruckenkreuze mehr aufgestrichen waren, malte die SA zusätzliche auf, um die Volksbelustigung monatelang weiterzutreiben.«1263 2.8.2.1 Anträge der Familie Merl an die Auswanderungsabteilung Am 30. Mai 1938 reichten die »Kontoristin und Schneiderin«1264 Sabine Merl und der selbstständige Gold- und Silberschmiedemeister Wilhelm Merl für sich, ihren Sohn Harry und für die »gelernte erstklassige Schneiderin für Kleider, Mäntel, Kostüme, etc.«1265 Amalia Kornspan einen der Fragebögen ein, den die Auswanderungsabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien vorbereitet hatte  : »Alle Bemühungen waren auf die Flucht ins Ausland ausgerichtet. Die Wiener Juden versuchten, so schnell wie möglich zu entkommen.«1266 Die leitenden Funktionäre der jüdischen Gemeinde hatten Adolf Eichmann und der von ihm aufgebauten »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« in Wien »zusichern müssen, in der Zeit vom 1. Mai 1938 bis zum 1. Mai 1939 20 000 mittellose Juden zur Auswanderung zu bringen. Der Begriff ›Auswanderung‹ verschleiert allerdings, daß die Juden nicht freiwillig das ›Dritte Reich‹ verließen.«1267 Sabine Merl, die den Fragebogen ausfüllte,1268 schrieb unter dem Punkt »Beruf (Spezialfach)«, ihr Ehemann sei »Spezialist in Gold- und Silberwarenerzeugung von Zigaretten- und Puderdosen, Kämmen, Lippenstiften sowie in allen einschlägigen Arbeiten bestens versiert. Ausserdem Kenntnisse in Schlosserei, Mechanik und Elektrotechnik«.1269 Die monatlichen Verdienste des Gold- und Silberschmieds sind mit circa 650 Schilling bis März 1938 angegeben. Seither sei er arbeitslos, Arbeitslosenunterstützung habe er keine bezogen. Wilhelm Merl war den Angaben zufolge teilweise in der Lage, sich die für eine Auswanderung notwendigen Dokumente zu besorgen. Als mögliche Destinationen wurden New York, England, Italien, Frankreich und Belgien genannt. Wilhelm Merl plane, in seiner Branche unterzukommen.1270 Für eine Emigration nach Übersee stünden ihm keine Mittel zur Verfügung,

1263 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 59. 1264 Auswanderungsfragebogen Wilhelm Merl, VWI, 2590/154. 1265 Ebd. 1266 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 102. 1267 Ebd. 1268 Siehe Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 11. 1269 Auswanderungsfragebogen Wilhelm Merl, VWI, 2590/154. 1270 Siehe ebd.

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für eine Auswanderung in ein europäisches Land würde er »seine Habseligkeiten verkaufen«.1271 Auf die Frage, welche »Beziehungen haben Sie im Ausland, besonders in dem Land, wohin Sie auswandern wollen«,1272 findet sich die Antwort, dass jeweils neun Onkel und Tanten sowie eine Großmutter und »unzählige Cousinen u. Cousins«1273 in New York wohnen würden sowie zwei Cousins in Paris  : »Die Umstände zwangen sie, verfälschte bzw. nur teilweise richtige Angaben bei Verwandtschafts- und Freundesbeziehungen zu machen.«1274 Wilhelm Merl verfügte den gegenüber der Fürsorge-Zentrale der Israelitischen Kultusgemeinde Wien gemachten Angaben zufolge über einen »guten reichen Freund«1275 in London, Pflegeeltern sowie Cousins in Triest, aber über keinen gültigen Reisepass. Dem Fragebogen liegt eine handschriftliche Notiz der Auswanderungsabteilung vom 20. Februar 1939 bei. Sie ist mit »4 Personen nach China« überschrieben. Der Preis der Fahrkarten für Amalia Kornspan und das Ehepaar Merl wurde mit jeweils 350 Reichsmark kalkuliert. Für das Ticket des vierjährigen Harry Merl veranschlagte der Sachbearbeiter 175 Reichsmark. Von den Fahrtkosten in Höhe von insgesamt 1225 Reichsmark seien circa 300 durch den Verkauf des Mobiliars aufbringbar. Die Familie werde, wie festgestellt wurde, von Verwandten unterstützt und wohne bei der Schwiegermutter des Antragstellers, die als Kriegswitwe eine Rente in Höhe von 25,70 Reichsmark erhalte. Jedoch sei »fraglich, ob die Rente weiter bezahlt wird.«1276 Die für die Wohnung in der Salzachstraße anfallende Miete wurde auf monatlich circa 13 Reichsmark beziffert, die Wohnung als fast leer beschrieben. Amalia Kornspan sei »schwer herzleidend, steht in Spitalsbehandlung«.1277 Der Unterzeichner, dessen Unterschrift unleserlich ist, formulierte als Eindruck »sichtbare Armut«.1278 »Vollkommene Stattgebung«1279 empfahl er in Bezug auf den Antrag auf Auswanderung. Der Familie glückte die Ausreise jedoch nicht. In den Aufzeichnungen von Oliver Merl findet sich ein Hinweis, wonach Wilhelm Merl auch die Möglichkeit gehabt hätte, allein zu emigrieren. Darauf habe dieser jedoch verzichtet, denn er wollte nicht »Frau und Kind verlassen«.1280

1271 Auswanderungsfragebogen Wilhelm Merl. 1272 Ebd. 1273 Ebd. 1274 Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 11 f. 1275 Auswanderungsfragebogen Wilhelm Merl. 1276 Ebd. 1277 Ebd. 1278 Ebd. 1279 Ebd. 1280 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 7.

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2.8.2.2 Anträge anderer Verwandter an die Auswanderungsabteilung Harry Merls am 3. Juli 1912 geborener Onkel Hermann Merl wohnte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als Untermieter in »einem armseligen Kabinett«1281 am Sterneckplatz 2/24 im zweiten Wiener Gemeinde-Bezirk. Er war »kurz […] mit einem Mannequin«1282 verheiratet. Hermann Merl stellte ebenfalls im Mai 1938 einen Antrag an die Auswanderungsabteilung der Kultusgemeinde. Bei dieser musste er auch aus einem anderen Grund vorsprechen  : Merl war in eine Auseinandersetzung verwickelt gewesen.1283 Diese hatte offenbar seine nichtjüdische Ehefrau zum Anlass  : »In der Firma geriet er in eine Schlägerei mit einem Mitarbeiter, der Hermanns Frau als ›Judenhure‹ beschimpft hatte. Vom Gericht freigesprochen, bemühte sich Onkel Hermann um eine Ausreisegenehmigung.«1284 Der gelernte Mechaniker gab an, über einen gültigen Reisepass sowie Sprachkenntnisse in Englisch und Französisch zu verfügen und in der Lage zu sein, »sich alle für die Auswanderung notwendigen Dokumente zu beschaffen«.1285 Er hatte nach seiner dreijährigen Lehrzeit als Externist die Matura nachgemacht und ein Medizinstudium begonnen. Von der »Aktion Gildemeester« wurden 150 der für die Bahnund Schiffsreise in die USA veranschlagten 330 Reichsmark bereitgestellt. Diese Organisation war in die Vertreibung und den Vermögensentzug auswanderungswilliger Jüdinnen und Juden involviert. Der Verantwortliche der Kultusgemeinde sprach sich am 22. September 1938 dafür aus, die noch offenen 180 Reichsmark zu übernehmen. Denn bei dem Bittsteller würde es sich um einen arbeitslosen Werkzeugschlosser handeln, »der ausser den Kleidern, die er am Leibe trägt, und der Arbeitslosen-Unterstützung nichts mehr besitzt«,1286 ganz mittellos sei und nichts aufbringen könne. Hermann Merl glückte am 28. September 1938 die Flucht. Er gelangte an Bord eines Dampfers der Schifffahrtsgesellschaft »Red Star Line« nach New York. Sieben Jahre später kehrte er als US-Soldat vorübergehend wieder nach Europa zurück  : »Nach Kriegsende kam er im September 1945 als Vernehmungsoffizier […] zurück nach Deutschland und Österreich.«1287 Hermann Merl heiratete in den USA erneut, wurde Vater von drei Söhnen und starb 2004 in Los Angeles.1288 Auch die Hutmacherin Henriette Merl, genannt Jetti, bemühte sich 1938 erfolgreich um eine Ausreise in die USA. Die am 19. Juli 1909 geborene Schwester von 1281 Auswanderungsfragebogen Hermann Merl. 1282 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 4. 1283 Siehe ebd. 1284 Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 11. 1285 Auswanderungsfragebogen Hermann Merl. 1286 Ebd. 1287 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 52. 1288 Siehe ebd., S. 100.

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Wilhelm und Hermann Merl wohnte nach wie vor in der elterlichen Wohnung in der Wehlistraße 218/10 in Wien. Bis 14. September 1938 war sie eigenen Angaben zufolge als Modistin beschäftigt gewesen. Zum Zeitpunkt der Antragstellung am 19. November 1938 hatte Jetti Merl alle für die Auswanderung notwendigen Dokumente »bereits beschafft«.1289 Sie verfügte sowohl über einen Reisepass, der am 27. September 1938 ausgestellt worden war und ein Jahr Gültigkeit hatte, als auch über ein Einreisevisum für die USA. Von den 350 Reichsmark, die für die Bahnund Schiffsfahrt von der Auswanderungsabteilung veranschlagt wurden, steuerte die »Aktion Gildemeester« 150 bei. Die restlichen 200 stellte die Kultusgemeinde bereit. Für Jetti Merl war ein Platz auf dem unter niederländischer Flagge fahrenden Passagierdampfer »Nieuw Amsterdam« der Reederei »Holland America Line« vorgesehen. Am 28. November 1938 verließ sie im Alter von 29 Jahren Wien. Die Bestätigung der »Aktion Gildemeester« über die Leistung eines Beitrags in Höhe von 150 Reichsmark trägt das Datum 30. November 1938. Am 2. Dezember legte der Dampfer in Rotterdam ab. Harry Merls Tante blieb in New York City, »wo sie sich verliebte, heiratete und eine Familie gründete.«1290 In einem 1948 ausgefüllten Antrag findet sich der Hinweis, dass Jetty Brillson im New Yorker Stadtbezirk Bronx in der Tiebout Avenue 2390 wohnt.1291 Die Mutter eines Sohns starb 1990.1292 Wilhelm Merls Vater Littmann Merl wurde im Mai 1938 das Gewerbe entzogen  : »Mein Großvater mußte den Stand 1938 ›zurückgeben‹.«1293 Im November 1938 befand er sich vorübergehend in Haft.1294 Er versuchte ebenfalls, sich mit seiner Ehefrau und den Töchtern Paula, in den Quellen auch als Pauline angeführt, und der »Miedermacherin«1295 Rosa vor der Verfolgung durch das Regime in die USA zu retten. Die beiden Töchter lebten wie ihre Schwester Jetti 1938 in der elterlichen Wohnung in der Wehlistraße 218. Auf der Karteikarte der Kultusgemeinde wurde als Littmann Merls bisheriger Beruf »Kaufmann« vermerkt, ebenso, dass er keine Mittel besitze und nicht über Sprachkenntnisse verfüge. Als sein Auswanderungsziel ist New York angegeben, als das seiner zweiten Ehefrau Chaje Feige Merl, die als Schneiderin bezeichnet wird, sowie der 1907 geborenen Tochter Paula und der 1913 geborenen Rosa sind es jeweils die USA. Die Bemühungen, ins rettende Ausland zu gelangen, waren jedoch nicht erfolgreich. Als letzte Wohnadresse von Chaje Feige und Littmann Merl in Wien scheint Rueppgasse 13/5 im zweiten Bezirk auf. 1289 Auswanderungsfragebogen Jetti Merl, VWI, IKG Wien. 1290 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 51. 1291 Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1292 Siehe Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 100. 1293 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 2. 1294 Auswanderungsfragebogen Jetti Merl. 1295 Meldezettel für Unterparteien, Rosa Merl, datiert 9.3.1931, WStLA, historische Meldeunterlagen.

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In dem Gespräch mit Oliver Merl Anfang der 1980er-Jahre berichteten Harry Merls Eltern auch von Überlegungen Wilhelm Merls, ohne seine Familie das Land zu verlassen. Dieser hatte offenbar vor, gemeinsam mit den Wind-Burschen nach Belgien auszuwandern. Harry habe sich jedoch vor die Tür gestellt und gesagt, sein Vater dürfe nicht fortgehen. Wilhelm Merl soll daraufhin den Wind-Burschen mitgeteilt haben, »ich komm nicht weg«,1296 und bei seiner Familie in Wien geblieben sein. Die Flucht war den Erinnerungen von Harry Merls Eltern zufolge nicht erfolgreich  : »Die Wind-Burschen wurden in Belgien erwischt und erschossen.«1297 2.8.3 Drohende Deportation nach Nisko Das Klavier, das während Harry Merls ersten Lebensjahren in der Wohnung in der Salzachstraße gestanden war, hatte für ihn eine große Bedeutung  : »In unserer bescheidenen kleinen Wohnung gab es eine Kostbarkeit  : ein Klavier aus dem Hause Rosenkranz. Meine Mutter hatte es gebraucht für 900 Schilling gekauft. Auf diesem Klavier klimperte ich voller Begeisterung schon als kleines Kind herum und lernte schnell die ersten Melodien.«1298 Zu Jahresende 1938 sahen sich Harry Merls Eltern gezwungen, das Instrument zu verkaufen. Ein Tischler1299 fungierte als Schätzmeister und bestätigte, dass Anna Pospisil, ebenfalls wohnhaft in der Salzachstraße im 20. Bezirk in Wien, das von der deutschen Klavierbaufirma Rosenkranz hergestellte Pianino »zu dem von mir mit einem Betrag von RM 190.- eingeschätzten Preis erworben und dem Verkäufer den Kaufpreis in meiner Gegenwart bar ausbezahlt hat.«1300 Sabine Merl quittierte am 30. Dezember 1938 mit ihrer Unterschrift den Empfang des Geldes. Nach Kriegsende wurde der Verkauf rückabgewickelt. Anna Pospisil unterschrieb ebenfalls auf der Rückseite der vom Schätzmeister ausgestellten Bescheinigung, 190 Reichsmark empfangen und das Klavier zurückgegeben zu haben. Unter ihrer Unterschrift prangt ein Stempel der Firma »Franz Pospisil Delikatessen«. Am 17. Jänner 1939 stellte Harry Merls Großmutter Amalia Kornspan ein Ansuchen an die Auswanderungsabteilung der Kultusgemeinde. Darin teilte sie ihre Absicht mit, am 25. Jänner 1939 nach Lemberg auszuwandern. Sie sei im Besitz eines gültigen Reisepasses, eines Einreisevisums für Lemberg und eines tschechoslowakischen Durchreisevisums. Den von der Kultusgemeinde angebrachten Stempeln ist zu entnehmen, dass Kornspan für den 24. Jänner vorgeladen wurde. Sie »blieb 1296 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 4. 1297 Ebd. 1298 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 19. 1299 Siehe Bescheinigung Klavierverkauf, 30.12.1938, Eigentum von Harry Merl. 1300 Siehe ebd.

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bis zum 30.1.1939 in Wien und kehrte an diesem Tag nach Polen zurück, da dies der Stichtag war, an dem polnische Staatsangehörige in ihre Heimat zurückkehren mußten, sonst wäre sie für staatenlos erklärt worden und hätte ihre Witwenpension verloren.«1301 Bis 3. März 1939 war Amalia Kornspan in der Salzachstraße 7/38 in Wien gemeldet.1302 Die in der Kohlmessergasse 4 im ersten Bezirk untergebrachte »Beratungsstelle für Berufsausbildung und Umschichtung« der Auswanderungsabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde stellte Wilhelm Merl im ersten Quartal 1939 einen Berechtigungsschein für die Teilnahme an einem Schlosser-Kurs in der Landstraßer Hauptstraße im dritten Bezirk aus. Der Schein, der von 6. März bis 5. April gültig war und auf 6. April bis 5. Mai 1939 prolongiert wurde, wies Merl als Teilnehmer des »mit Zustimmung der Geheimen Staatspolizei, Leitstelle Wien, eingerichteten«1303 Kurses aus. Anfang Oktober 1939 wurden Harry Merl und seine Eltern in die zur »Sammelwohnung« umfunktionierte Wohnstätte eines Ehepaars am Fleischmarkt 18 im ersten Wiener Gemeinde-Bezirk eingewiesen. Dieses Paar bestand aus einem Teil, der gemäß den »Nürnberger Gesetzen« als jüdisch eingestuft wurde, und einem, der als nichtjüdisch galt. In der Wohnung dienten Kisten als Möbel.1304 Sabine und Wilhelm Merl verfügten zu diesem Zeitpunkt über keinen nennenswerten Besitz mehr. Schmuck und andere wertvolle Gegenstände hatten sie der Frau eines Cousins von Sabine Merl anvertraut. Nach Kriegsende sollten sie diese Wertgegenstände nicht mehr zurückbekommen.1305 Die Familie, die »sich täglich melden«1306 musste, war auf die Unterstützung durch die Kultusgemeinde angewiesen. Als weitere Wohn­ adresse scheint Fleischmarkt 22 auf. Im Oktober 1939 befahl die Wiener »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« der Israelitischen Kultusgemeinde, »auswanderungsfähige gesunde Männer auszuwählen und in einer Liste zu verzeichnen […]. Insbesondere Handwerker sollten hierbei berücksichtigt werden.«1307 Harry Merls Sohn Oliver notierte 1981, dass sein Großvater Wilhelm Merl für einen Transport vorgesehen gewesen sei  : »Arbeitslager Minsk  ?«1308 Von der Kultusgemeinde sei Wilhelm und Sabine Merl mitgeteilt worden, dass sie »gemeinsam gehen können.«1309 1301 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 3. 1302 Siehe WStLA, historische Meldeunterlagen Malka Kornspan. 1303 Teilnehmer-Berechtigungsschein, Eigentum von Harry Merl. 1304 Siehe Wohnungen Familie Merl Wien 1938 bis 1945, Eigentum von Harry Merl. 1305 Siehe Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 7. 1306 Ebd. 1307 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 197. 1308 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 5. 1309 Ebd.

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Am 20. Oktober 1939 verließ ein erster Transport Wien mit dem Ziel Nisko im polnischen Karpatenvorland, am 26. Oktober ein zweiter. Das Ehepaar Merl war für den dritten Transport vorgesehen, der für November 1939 geplant gewesen wäre,1310 aber nicht durchgeführt wurde  : »Jene Männer und Frauen, die sich zum dritten Transport nach Polen gemeldet hatten, wurden nicht mehr nach Nisko verschleppt. Statt dessen wurden sie vom Aspangbahnhof in ein Obdachlosenheim in der Gänsbachergasse gebracht. Die SS internierte sie und trennte die Männer und Frauen voneinander. Sie wurden erst Anfang Februar 1940 entlassen. Die meisten Juden hatten ihre Wohnungen vor dem Deportationstermin aufgegeben. Nun waren sie obdachlos.«1311 In dem »Sammellager« in der Gänsbachergasse 3 waren rund 7501312 Frauen und Kinder getrennt von den Männern »in riesigen Schlafsälen«1313 untergebracht. Familie Merl musste dort von 3. November 1939 bis 12. Februar 19401314 bleiben. Wilhelm Merl war in dieser Zeit als Hausschlosser tätig. Sein Arbeitstag begann um 6  :00 Uhr in der Früh mit dem morgendlichen Apell. Sabine Merl arbeitete als Sekretärin. Nach ihrer Freilassung aus dem ehemaligen Obdachlosenheim zog die Familie in eine »Sammelwohnung« in der Wipplingerstraße 12 im ersten Bezirk. Mehrere Parteien waren dort in einem einzigen Raum untergebracht.1315 Während dieser Zeit lernte Harry Merl eigenen Angaben zufolge lesen und schrei­ ben, verbrachte aber auch viel Zeit allein. Einmal bettelte er gemeinsam mit seinem Cousin Robert, dem Sohn seiner Tante Rosa, vor dem Gebäude des Volksbildungshauses Urania im ersten Bezirk.1316 Am 1. April 1940 musste Sabine Merl gemäß dem »Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen«, einer der unzähligen gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Rechtsnormen, den zusätzlichen Vornamen »Sara« eintragen lassen. Der Historiker Doron Rabinovici beziffert die Zahl der vom NS-Regime bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlassenen antijüdischen Gesetze auf 250.1317 2.8.4 Merls Vater als Zwangsarbeiter beim Straßenbau Ab der ersten Hälfte des Jahres 1939 wurden Personen jüdischer Abstammung zunehmend auch zur Zwangsarbeit in Österreich herangezogen, das auf Grundlage des 1310 Siehe Christa Mehany-Mitterrutzner, Vernichtung – Deportationen nach Maly Trostinec, 1942. In  : DÖW (Hg.), Deportation und Vernichtung – Maly Trostinec, S. 51. 1311 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 208 f. 1312 Siehe Mehany-Mitterrutzner, Vernichtung – Deportation nach Maly Trostinec, S. 51 f. 1313 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 25. 1314 Antrag Fonds Sammelstelle A, GZ 4.126/E, 16.10.1962, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1315 Siehe Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 215. 1316 Siehe Wohnungen Familie Merl Wien 1938 bis 1945, Eigentum von Harry Merl. 1317 Siehe Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 130.

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am 14. April 1939 erlassenen »Ostmarkgesetzes« in sieben »Reichsgaue« gegliedert war. Als im »Reichsgau Steiermark« tausende Bauarbeiter benötigt wurden, schickte das Wiener Arbeitsamt im April 1940 »einige Hundert jüdische Arbeitskräfte zu Bauarbeiten nach Eisenerz«.1318 Dort wurde ein Abschnitt der Eisenstraße errichtet  : »Seit Ausbruch des Krieges herrschte Mangel an Arbeitskräften. Juden wurden nun bei Straßenarbeiten und bei der Müllbeseitigung ausgebeutet. Sie waren zu Sklaven degradiert, standen auf der untersten Lohnstufe und durften bloß noch Hilfsarbeiten verrichten.«1319 1948 teilte Wilhelm Merl mit, von April bis 31. Dezember 1940 Zwangsarbeit im Steinbruch in Eisenerz geleistet zu haben.1320 1962 gab er den Zeitraum von Februar bis Dezember 1940 an.1321 Harry Merls Enkelsohn Pascal Merl nennt den 23. April 1940 als den Tag, an dem sein Urgroßvater väterlicherseits »von Wien in ein Arbeitslager am Präbichl-Pass in der Nähe von Eisenerz gebracht wurde.«1322 Geplant war dort ein Höchststand von 750 jüdischen Zwangsarbeitern. Anfang Mai 1940 betrug ihre Zahl 340. Sie waren auf drei Lager, »in denen schreckliche Zustände herrschten«,1323 aufgeteilt  : »Kremplhof verfügte über vier Wohnbaracken, von denen zwei für erst noch eintreffende Juden reserviert waren. Im Lager Bründlgschütt wohnten in vier Baracken 206 jüdische Zwangsarbeiter, am Präbichl in getrennten Baracken 110 Juden und 90 ›arische‹ Arbeiter.«1324 Die im Lager Präbichl internierten jüdischen Zwangsarbeiter waren »meist auf schwerste Handarbeiten physisch gar nicht vorbereitet«.1325 Sie wurden im Schichtbetrieb eingesetzt und trugen »einen roten Tuchfleck am Rücken bzw. eine rote Armschleife«.1326 Von den Baufirmen erhielten sie nur unzureichende Verpflegung, wie in anonymen Briefen an die Kultusgemeinde in Wien berichtet wurde.1327 Der Historiker Wolf Gruner hält fest, die Zwangsarbeiter »in vielen österreichischen Lagern litten also schon 1940 bittere Not  ; ohne ausreichend Lebensmittel bei härtester Arbeit, ohne adäquate Arbeitskleidung und genügend Wäsche.«1328 Wilhelm Merl gab 1981 im Gespräch mit seinem Enkelsohn Oliver Merl an, sich während dieser 1318 Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung, S. 167. 1319 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 220. 1320 Siehe Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1321 Antrag Fonds Sammelstelle A, datiert 25.5.1962, Wilhelm Merl, GZ 4.128, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1322 Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 15. 1323 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 220. 1324 Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung, S. 167. 1325 Ebd., S. 173. 1326 Ebd., S. 171. 1327 Siehe ebd., S. 173 ff. 1328 Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung, S. 176.

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Zeit vier Wochen lang im Gerichtsgebäude von Eisenerz in Dunkelhaft befunden zu haben. Er wurde der Sabotage bezichtigt, nachdem die etwa 20 Kilometer lange Telegrafenleitung, die von den Zwangsarbeitern errichtet wurde, gerissen war. Am 11. Juni 1940 kamen 248 jüdische Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen aus Wien im Lager Traunsee in Traunkirchen an. Sie wurden zum Ausbau der Salzkammergut-Straße, damals Reichsstraße 339, eingesetzt und waren harten Arbeitsbedingungen ausgesetzt, wie der Historiker Wolfgang Quatember konstatiert  : »Zum einen waren die Lagerinsassen, die überwiegend Angestellte oder Gewerbetreibende waren, nicht an die schwere körperliche Arbeit gewöhnt, zudem dürfte die Arbeitsbekleidung äußerst mangelhaft gewesen sein.«1329 Harry Merls Vater wurde am 21. Dezember 1940 polizeilich als »Zugang« im Lager registriert und »der zuständigen Ortspolizeibehörde«1330 gemeldet. Als Berufsbezeichnung scheint »H. A.« als Abkürzung für »Hilfsarbeiter« auf. Auf Nachforschungen, die zu einem anderen Zwangsarbeiter angestellt worden waren, beruht die Beschreibung des Lagers am Traunsee, die Wolf Gruner wiedergibt  : »Das Lager sei zwar von Stacheldraht umgeben gewesen, doch war keine Wache vorhanden. Die Lagerinsassen gingen in geschlossener Kolonne, aber ohne Bewachung zur Arbeitsstelle und zurück. Sie durften das Lager nicht eigenmächtig verlassen.«1331 Den Insassen sei Urlaub zum Besuch Angehöriger in Wien gewährt worden. Am 20. Mai 1941 wurde Merls »Abgang« vermerkt. Im polizeilichen Veränderungsnachweis findet sich in der Spalte »Beruf« die Bezeichnung »Goldschmied«.1332 Im Jänner 1948 gab Wilhelm Merl an, bis April 1941 in Traunkirchen gewesen zu sein, danach bis Juli 1941 in Mitterweißenbach und anschließend wieder in Traunkirchen.1333 In dem ebenfalls 1948 eingebrachten Antrag auf Unterstützung, der nach einem mündlichen Interview ausgefüllt worden war, findet sich auch eine auf die Zeit unmittelbar nach seinem Einsatz als Zwangsarbeiter im Eisenerzer Steinbruch bezogene Passage  : »Dann wurde ich nach Mitterweissenbach ueberstellt und verblieb dort bis April 1941 und dann bis Anfang 1942 war ich in Traunkirchen als Zwangsarbeiter weiter tätig.«1334 Auf die Frage nach seinen Aufenthaltsorten der letzten zehn Jahre gab Harry Merls Vater an, von 1941 bis Februar 1942 als Zwangsarbeiter im Straßenbau in 1329 Wolfgang Quatember, Das Reichsstraßenbau-Wohnlager Traunsee, URL  : https  ://memorial-eben see.at/website/index.php/de/geschichte/18-salzkammergut-1938-45/15-lager-traunsee (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1330 Polizeilicher Veränderungsnachweis für Gefolgschaftsmitglieder der RAB-Lager, datiert 22.2.1941, zur Verfügung gestellt von Pascal Merl. 1331 Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung, S. 299. 1332 Polizeilicher Veränderungsnachweis für Gefolgschaftsmitglieder der RAB-Lager, datiert 29.5.1941. 1333 Eidesstattliche Erklärung Wilhelm Merl, DÖW, 20.100/7662. 1334 Antrag auf Unterstützung, PCIRO.

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Traunkirchen und Mitterweißenbach eingesetzt gewesen zu sein.1335 In der südlich von Ebensee gelegenen Ortschaft, die zur Stadtgemeinde Bad Ischl gehört, befand sich ebenfalls ein Arbeitslager für Personen jüdischer Herkunft  : »Außer sehr ungenauen Augenzeugenberichten können über das Lager Mitterweißenbach bis dato keine näheren Angaben gemacht werden.«1336 Dieses Lager war ebenfalls im Zuge des Ausbaus der Salzkammergut-Straße eingerichtet worden. Es bestand spätestens ab 1939 und mindestens bis Juni 1942.1337 In Mitterweißenbach waren deutlich weniger Personen untergebracht, die Zwangsarbeit verrichten mussten, als in Traunkirchen  : 47 waren es am 2. Oktober 1941, als das Lager mehr Insassen zählte als davor und danach.1338 Es stand unter dem Kommando des nationalsozialistischen »Reichsarbeitsdiensts« RAD  : »Im Lager Mitterweißenbach hätten die Lagerführung einige RAD-Funktionäre innegehabt, die Arbeiter seien von einem Vorarbeiter zur Arbeit geführt worden, aber dort nicht bewacht gewesen. Nach der Arbeit hätten sie sich frei bewegen können.«1339 2.8.5 Rückkehr des Vaters nach Wien Mit gemischten Gefühlen erinnerte sich Harry Merl an die Zeit, die er gemeinsam mit seiner Mutter in Wien verbracht hatte, während der Vater Zwangsarbeit verrichten musste  : »Dieses Alleinsein mit meiner Mutter war einerseits gut, weil sie mir Lesen beigebracht hat, aber auf der anderen Seite war sie natürlich machtlos, wenn ich etwas gemacht habe, was nicht gut war. Dann hat sie mich geschlagen.«1340 Auch einzelne Ausflüge in den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs blieben ihm in Erinnerung  : »Wenn, dann bin ich mit meiner Mutter auf den Zentralfriedhof gegangen, dort bin ich halt herumgegangen und herumgesprungen. Ich weiß gar nicht, was ich genau gemacht habe dort, aber es war niemand da, es war meine Mutter da und ich.«1341 Seine Mutter habe alles unternommen, um »sich und ihr Kind in Wien durch die Kriegszeit zu bringen«,1342 »und ich bin ihr zutiefst dankbar. Ich weiß auch, dass sie während dieser Zeit ungewollt schwanger wurde und eine Abtreibung vornehmen lassen musste, sonst wären wir sofort deportiert worden.«1343

1335 Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1336 Quatember, Das Reichsstraßenbau-Wohnlager Traunsee. 1337 Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung, S. 308. 1338 Ebd. 1339 Ebd., S. 299. 1340 Schmidtkunz, Psychoanalytiker und Begründer der Familientherapie. 1341 Interview mit Harry Merl, S. 9. 1342 Föderl-Schmid/Müller, Unfassbare Wunder, S. 126. 1343 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 84.

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Harry Merl und seine Eltern schilderten in Gesprächen mit ihren Nachkommen und auch gegenüber anderen an der Familiengeschichte interessierten Personen wiederholt eine Episode  : Diese trug sich ihren Erzählungen zufolge in einem Delikatessengeschäft in der Wiener Ungargasse während der Zeit zu, als Wilhelm Merl Zwangsarbeit im Straßenbau verrichten musste. Harry Merl war an diesem Tag offen­bar nicht an seiner Kleidung als Person erkennbar, die entsprechend den 1935 vom Regime erlassenen »Nürnberger Gesetzen« als Jude galt. In der Konditorei, in die seine Mutter mit ihm gegangen war, um Schaumrollen zu kaufen, sei Harry Merl von einer Verkäuferin angesprochen worden  : »Wirst ein strammer Hitlerjunge. Wie heißt du denn  ?«1344 Er habe daraufhin mit den Worten »Harry Merl Israel«1345 geantwortet. In den Notizen von Merls Sohn Oliver findet sich ein Hinweis auf eine mögliche Selbstverletzung Wilhelm Merls im Salzkammergut  : Als unter den Zwangsarbeitern Gerüchte umgegangen seien, dass sie deportiert und in ein Konzentrationslager gebracht werden sollten, habe sich Harry Merls Vater die Hand gebrochen. Er sei »in die Stadt«1346 zu einem Primararzt gebracht worden, der die Bruchstelle »röntgenisiert«1347 und eingefascht habe. Wilhelm Merl soll darauf gedrängt haben, nach Wien zurückfahren zu dürfen, wo er Frau und Kind habe und sich auch seine Schwester Paula befinden würde, die als Operationsschwester tätig sei. Mit dem Rothschild-Spital verfügte Wien während der NS-Zeit außerdem über das einzige Krankenhaus für Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des heutigen Öster­ reich. Mit den Worten »Na, sie kommen ja zurück«1348 habe ihm der Primar eine entsprechende Bescheinigung ausgestellt, die der »Scharführer«1349 akzeptiert hätte. Oliver Merl notierte, sein Großvater hätte schließlich mit der Eisenbahn nach Wien fahren sollen. Aus Angst, im Zug aufgegriffen zu werden, sei er jedoch ausgestiegen und habe sich »zu Fuß nach Wien in der Nacht ohne Stern«1350 auf den Weg gemacht. Aus Oliver Merls Aufzeichnungen geht hervor, dass Wilhelm Merls Rückkehr nach Wien auch vom »Judenreferenten« der Gestapo-Leitstelle Wien, Karl E ­ bner, legitimiert worden sein soll. Ebner galt als »graue Eminenz«1351 der Wiener Gestapo und brüstete sich 1943, 48.500 Jüdinnen und Juden aus seinem Dienstbereich 1344 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 4. 1345 Ebd. 1346 Ebd., S. 7. 1347 Ebd. 1348 Ebd. 1349 Ebd. 1350 Ebd., S. 10. 1351 Thomas Mang, Gestapo-Leitstelle Wien – Mein Name ist Huber. In  : DÖW, Mitteilungen (2003) 164, S. 2.

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in Richtung Osten »evakuiert«1352 zu haben. Wilhelm Merl wurde in Traunkirchen bereits als »U-Boot«1353 geführt  : »Dr. Ebner hat das Lager in Traunkirchen verständigt.«1354 Wie andere Täter auch, sorgte Ebner für den Fall, dass der Zweite Weltkrieg mit einer Niederlage für das nationalsozialistische Regime enden würde, im Lauf der Jahre vor  : »Er und sein Untergebener Johann Rixinger gingen mit den jüdischen Funktionären höflicher um als ihre untergeordneten Beamten.«1355 Für den Zeitraum von Februar bis Juni 1942 sind in dem 1948 gestellten Antrag auf Unterstützung an die IRO »ohne Arbeit in Freiheit kaserniert«1356 und die Spitalsbehandlung in Wien angeführt. Ein jüdischer Bekannter Wilhelm Merls habe sich für ihn bei der Gestapo eingesetzt.1357 Von Harry Merls Eltern wurde dieser als »Paradejude von Rixinger und Ebner«1358 bezeichnet. Ab diesem Zeitpunkt war Merls Vater »für die Räumung verwaister jüdischer Wohnungen zuständig«.1359 Er habe für Bernhard Witke,1360 einen der Schätzmeister der Gestapo und »übelsten Arisierer«,1361 gearbeitet. Witke gilt als einer der »Hauptakteure dieser Wohnungsräumungen«.1362 Die Arbeit bei der »Vugestap« sei begehrt gewesen, weil »man hoffte, dadurch selbst der Deportation zu entgehen«.1363 2.8.6 Deportation und Ermordung der Großeltern 1981 notierte Harry Merl, sich noch an den Tag erinnern zu können, an dem er als Siebenjähriger gemeinsam mit seinem Vater zu dem Schulgebäude in der Sperlgasse 2a gegangen war. Dort befand sich seit Februar 1941 das größte Wiener »Sammellager« für Jüdinnen und Juden, die verschleppt werden sollten. Merls Großvater Littmann und dessen zweite Ehefrau Chaje Feige Merl waren für den 1300 Personen umfassenden Transport »IV/11« vorgesehen, der am 24. September 1942 von Wien 1352 Mang, Gestapo-Leitstelle Wien – Mein Name ist Huber, S. 3. 1353 Siehe Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 19. 1354 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 8. 1355 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 391. 1356 Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1357 Siehe Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 31. 1358 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 8. 1359 Ebd. 1360 In den Quellen findet sich der Nachname sowohl mit einem »t« als auch mit zwei »t« geschrieben. 1361 Vorlagebericht Staatsamt für Inneres/Dienststelle für Vermögenssicherung an STA beim LG Wien I, datiert 25.9.1945, WStLA, Vr 2331/45. 1362 Robert Holzbauer, »Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens im Lande Österreich«. Die »VUGESTA« – die »Verwertungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo«. In  : Spurensuche (2000) 1–2, S. 47, URL  : http  ://members.aon.at/robert.holzbauer/spurensuche.pdf (letzter Zugriff  : 18.4.2020), S. 9. 1363 Holzbauer, »Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens im Lande Österreich«, S. 47.

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abgehen sollte  : »Ich erinnere mich, wie er heruntergewinkt hat und wie mein Vater geweint hat. Es war das erste Mal, daß ich meinen Vater weinen gesehen hatte.«1364 Schweigend seien Harry Merl und sein Vater dann zu ihrer Unterkunft zurückgegangen  : »Es war klar, dass ich ihn nicht anreden darf, weil das ist so etwas wie eine Sperre gewesen für mich. Also ich war erstaunt und erschrocken. Er hat aber nichts geredet und ich habe auch nicht gefragt.«1365 Littmann und Chaje Feige Merl wurden während der letzten großen Deportationswelle, die den noch in Wien lebenden Jüdinnen und Juden galt, nach Theresienstadt verschleppt. Diese Deportationen hatten im Juni 1942 begonnen und sollten im Oktober 1942 enden.1366 Betroffen waren diesmal vor allem Personen, »für die bisher noch Ausnahmeregelungen gegolten hatten«,1367 wie die »Schwerkriegsbeschädigten und mit Tapferkeitsorden Ausgezeichneten […]. Fast 70 Prozent der von Wien nach Theresienstadt geschickten österreichischen Juden wurden letztlich in Auschwitz vergast.«1368 Littmann Merl wurde am 16. Mai 1944 mit dem 2500 Personen umfassenden Transport »Ea« von Theresienstadt nach Auschwitz gebracht und ermordet.1369 Chaje Feige Merl war bereits am 6. Oktober 1942 in Theresienstadt im Alter von 71 Jahren umgekommen. Als Todesursache wurde Gehirnschlag angegeben.1370 Im »Totenbuch Theresienstadt« findet sich auch ein Eintrag zu einer Sara Merl, die auch denselben Geburtstag aufweist wie Littmann Merls erste Ehefrau  : 29. März 1881. Als ihr Todestag ist der 25. September 1942 vermerkt.1371 An diesem Tag kam der Transport mit der Nummer »IV/11« in Theresienstadt an, mit dem auch Littmann und Chaje Feige Merl von Wien deportiert worden waren. Weitere Angaben gehen aus den zur Verfügung stehenden Quellen nicht hervor. Amalia Kornspan, Willy Merls Großmutter mütterlicherseits, wollte ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und ihren Enkelsohn zunächst »nach Polen nachkommen lassen«.1372 Auf einer Postkarte aus Lemberg, die Kornspan an ihre Tochter Sabine Merl adressierte und auf den 23. November 1942 datierte, teilte sie ihren »teuren Kinder«1373

1364 Harry Merl, Meine Lebensgeschichte, S. 2. 1365 Interview mit Harry Merl, S. 6. 1366 Siehe Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 240. 1367 Ebd. 1368 Ebd. 1369 Siehe Alphabetisches Verzeichnis zum Transport Ea, datiert 16.5.1944, zit. n. ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.42.1/4958164. 1370 Todesfallanzeige Getto Theresienstadt, datiert 6.10.1942, Nationalarchiv Prag, Židovské matriky, Ohledací listy ghetto Terezín, Bd. 36. 1371 Totenbuch Theresienstadt, Sara Merl, Arolsen, URL   : https  ://collections.arolsen-archives.org/ archive/5064449/?p=1&s=merl&doc_id=5064449 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1372 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 5. 1373 Postkarte Malca Kornspan an Sabine Merl, datiert 23.11.1942, Eigentum von Harry Merl.

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mit, dass sie gottlob gesund sei. Sie erkundigte sich nach ihrem Enkelsohn Harry und bat darum, ihr oft an ihre Wohnadresse in der Pełtewna 43, Tür 20, zu schreiben. Die zu diesem Zeitpunkt 55-jährige herzkranke Frau übermittelte ihrer Tochter auch die Adresse jener Uniform-Fabrik der Bekleidungswerke »Schwarz und Co« in Lemberg, in der sie Zwangsarbeit leisten musste. Eine ebenfalls an Sabine Merl adressierte Postkarte, die als Absender die Firma »Schwarz und Co« aufweist und am 12. Mai 1943 in Lemberg abgestempelt wurde, enthält neben den Adressen des Absenders und der Empfängerin lediglich ein zusätzliches Wort  : »Gestorben.«1374 Unter den Aufzeichnungen aus den 1980er-Jahren findet sich auch der Vermerk, dass Sabine Merls Mutter »in eine Grube geschossen«1375 wurde. Am 28. Juni 1962 erklärte das Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien Amalia Kornspan für tot. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Harry Merls Großmutter mütterlicherseits den 12. Mai 1943 nicht überlebt hatte.1376 2.8.7 Flucht und Deportation von Paula Merl Wilhelm Merls Schwester Paula fand in der Wohnung des am 20. Oktober 1896 geborenen technischen Zeichners Friedrich Broz am Sterneckplatz 19 im zweiten Wiener Gemeinde-Bezirk Unterschlupf. Paula Merl hatte in Wien unter anderem als Köchin und Operationsschwester1377 gearbeitet. Im Juni 1942 war sie »vom Arbeitsheim davongelaufen«1378 und untergetaucht. Friedrich Broz lebte getrennt von seiner Ehefrau. Gemäß der nationalsozialistischen Rassenlehre galt er als »Mischling I. Grades«. Broz wurde am 8. August 1942 festgenommen, weil er Gebrauchsgegenstände deportierter Jüdinnen und Juden in seiner Wohnung versteckt haben soll und »eine Jüdin bei sich beherbergte, um sie vor der Deportation zu retten. Gegen Broz wurden Schutzhaft und Einweisung in ein KZ beantragt.«1379 Bei dieser Jüdin dürfte es sich um Pauline Merl gehandelt haben. Die Gestapo Wien lieferte Friedrich Broz am 6. November 1942 in das Konzentrationslager Mauthausen ein, wo ihm die Häftlingsnummer 13.991 zugewiesen

1374 Postkarte »Schwarz und Co« an Sabine Merl, datiert 12.5.1943, Eigentum von Harry Merl. 1375 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 5. 1376 Siehe Amtsvermerk, datiert 21.1.1963, Meldezettel für Haupt-Wohnparteien, Malka Kornspan, datiert 30.10.1923, WStLA, historische Meldeunterlagen. 1377 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 1. 1378 Brief Ehepaar Cerny an Ehepaar Merl, datiert 5.10.1983, Eigentum von Familie Merl. 1379 DÖW, Gestapo-Opfer, URL  : https  ://www.doew.at/personensuche?gestapo=on&findall=&lang=de &suchen=Alle+finden&shoah=on&politisch=on&spiegelgrund=on&firstname=friedrich&lastname =broz&birthdate=&birthdate_to=&birthplace=&residence=&newsearch=10&iSortCol_0=1&sSort Dir_0=asc&lang=de# (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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wurde.1380 Am 11. März 1944 erfolgte die Überstellung in das Nebenlager Gusen und am 9. Juni 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald.1381 Dort kam er am 16. Juni 1944 an, erhielt die Häftlingsnummer 38.9041382 und erlebte am 11. April 1945 die Befreiung durch Soldaten der 3. US-Armee. Nach einer Befragung durch Offiziere des US Military Government of Germany wurde als Grund für seine Verhaftung im Jahr 1942 »favoured jews«1383 angegeben. Während der Haft habe er die »usual mistreatments«1384 erfahren. Am 2. Mai 1945 verfügte der zuständige Ausschuss der Militärregierung, Friedrich Broz freizulassen.1385 Paula Merl hatte rechtzeitig von der Festnahme ihres Freundes erfahren  : »Ich bin damals davongelaufen aus seiner Wohnung, weil ich gewußt habe, dass er verhaftet werden wird und ich ihm helfen wollte. Ich bin zu seiner Frau und habe sie gebeten, ihm Wäsche und Essen zu bringen. Sie wollte nicht, doch dann hat sie doch ja gesagt.«1386 Harry Merls Tante besaß gefälschte Papiere und arbeitete unter falschem Namen unter anderem in der Landwirtschaft. Am 28. Februar 1943 wurde sie in Salzburg »bei einer Hotelkontrolle, wo man auch meine Handtasche und Gepäck und meine falsche Legitimation gefunden hat, verhaftet«,1387 wie sie in einem Brief an ihre Schwester Rosa erzählt. Diese war seit 11. Oktober 1932 mit dem als nichtjüdisch eingestuften Friseur Franz Cerny1388 verheiratet. Die beiden Schwestern waren, wie aus dem Schreiben hervorgeht, auch während Paula Merls Zeit im Untergrund in Briefkontakt gestanden. Die in Wien lebende Rosa Cerny hatte ihrer Schwester Paula auch Lebensmittel-Marken zukommen lassen, wie diese im Verhör zugegeben habe  : »Ich sagte, ja, nur einmal, aber nur Schwarzbrotmarken und sonst nichts. Der Referent wollte wissen, ob es auch Fleischmarken waren, aber das habe ich energisch verneint.«1389 Der Brief, den Paula Merl auf ein Stück Leinengewebe geschrieben hatte, wurde aus der Haft geschmuggelt. Rosa und ihr Ehemann Franz Cerny tippten ihn 1983 ab. Sie bezeichneten ihn als »kaum mehr leserlichen Leinenstreifen«1390 und gaben des-

1380 Häftlingszugangsbuch der politischen Abteilung, KZ-Gedenkstätte Mauthausen, MM/Y36b. 1381 Veränderungsliste, KZ-Gedenkstätte Mauthausen, MM/Y37/38. 1382 Häftlings-Personal-Karte, Konzentrationslager Buchenwald, Arolsen. 1383 Fragebogen für Insassen der Konzentrationslager, Military Government of Germany, datiert 24.4. 1945, Arolsen. 1384 Ebd. 1385 Ebd. 1386 Brief Ehepaar Cerny an Ehepaar Merl, datiert 5.10.1983, Eigentum von Familie Merl. 1387 Ebd. 1388 Siehe Meldezettel für Unterparteien, Rosa Merl, datiert 9.3.1931, WStLA, historische Meldeunterlagen. 1389 Brief Ehepaar Cerny an Ehepaar Merl. 1390 Ebd.

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sen Inhalt in einem Brief an die Familie von Harry Merl wieder. Paula empfiehlt darin ihrer Schwester Rosa für den Fall, dass diese von der Gestapo vorgeladen werde, sich nicht einschüchtern zu lassen, auch wenn man ihr mit dem Einsperren drohen würde  : »Du unterschreibst nichts, was dir schaden könnte. Du sagst, du weißt von nichts, auch nicht, dass ich in einem Hotel gewohnt habe.«1391 Paula Merl erwähnt auch, dass Rosas Ehemann Franz Cerny, genannt Ferry, von der Gestapo vorgeladen worden war. Ziel dieses Termins sei es gewesen, ihn unter Druck zu setzen und davon zu überzeugen, sich von seiner als jüdisch kategorisierten Ehefrau scheiden zu lassen. Franz Cerny habe eine Scheidung abgelehnt, worauf ihm damit gedroht worden sei, dass man »ihn und die Kinder zu Juden erklären wird«.1392 Die vierköpfige Familie würde gemäß den Drohungen der Gestapo mit ihrer Wohnung keine Freude mehr haben, weil sie glauben sollte, »nach dem Osten verschickt zu werden«.1393 Am 5. April 1943 wurde die »ledige Stickerin« Paula Merl schließlich von der Gestapo erkennungsdienstlich behandelt  : »Der effizienten Erfassung der Identität schenkte man höchste Aufmerksamkeit. Auf A5-Kuverts mit dem Fingerabdruck der Betroffenen war die Personalbeschreibung von den Beamten in gebotener Schnelligkeit zu erledigen. Zwölf Kategorien zur Beschreibung der Verfolgten sollten die Charakterisierung erleichtern.«1394 Harry Merls Tante wurde von der Bürokratie der Gestapo folgendermaßen charakterisiert  : 1,64 m groß, schlank, waagrechte Schulterneigung, sehr niedrige zurückweichende Stirn, braunes Haar, grau-braune Augen, die Nase »ausgebogen«, die Ohren »sehr groß«, oval, »sehr anliegend«, der Mund groß, dünne Lippen und die Zähne lückenhaft. Als besonderes Kennzeichen ist angeführt  : »Narbe nach Blinddarmoperation«.1395 Im Tagesrapport der Gestapo ist festgehalten, Paula Merl habe im Juni 1942 ihren Arbeitsplatz »eigenmächtig« verlassen und sich unter dem Namen »Johanna Pressl« in den Alpen- und Donaugauen umhergetrieben  : »Ihren Lebensunterhalt fristete sie durch Gelegenheitsarbeiten als landwirtschaftliche Arbeiterin bei Bauern. Gegen sie wird Schutzhaft beantragt.«1396 Paula berichtete ihrer Schwester in dem Kassiber außerdem, dass sie zunächst drei Wochen lang in Salzburg eingesperrt gewesen sei, sieben Wochen im Polizeigefangenenhaus an der Wiener Rossauer Lände, die bis 1919 Elisabethpromenade 1391 Brief Ehepaar Cerny an Ehepaar Merl. 1392 Ebd. 1393 Ebd. 1394 DÖW, Die Erkennungsdienstliche Kartei der Gestapo Wien, URL  : https  ://www.doew.at/erinnern/ personendatenbanken/gestapo-opfer/die-erkennungsdienstliche-kartei-der-gestapo-wien (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1395 Erkennungsdienstliche Kartei, Gestapo-Leitstelle Wien, Pauline Merl, datiert 5.4.1943, DÖW, WStLA. 1396 Tagesrapport Gestapo-Leitstelle Wien, datiert 5.4.1943, DÖW.

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geheißen hatte, »und jetzt die sechste Woche in Krems. Von hier komme ich leider Gottes in das Konzentrationslager in Auschwitz. […] Gott gebe, dass ich gesund wiederkomme und mit meinem innigst geliebten Fritz wieder vereint bin. Hoffentlich ist er schon frei. […] Für mich hat das Leben nur einen Sinn, wenn ich wieder zu ihm kommen kann.«1397 Paula Merl wurde »in ein unbekanntes Lager deportiert«1398 und ermordet. In dem Schriftstück, in dem der Inhalt von Paula Merls Brief wiedergegeben wird, fordert das Ehepaar Cerny seinen Neffen Harry und dessen Frau Christine Merl auf, das aus der Haft geschmuggelte Schreiben deren Kindern nicht vorzuenthalten, »denn hier wird eine menschliche Tragödie offenbar gemacht.«1399 Sie berichteten auch von einer Begegnung mit Paulas Freund Friedrich Broz in Bad Gleichenberg im Südosten der Steiermark  : »ein alter, gebrochener Mann, der kurz darauf auch gestorben ist. Wir haben ihn auf Paula angesprochen. Ja, die Paula, wie geht’s ihr denn  ? Seine Gedanken waren vernebelt, die Erinnerung an das Vergangene total ausgelöscht. Ein spätes Opfer. Die Erinnerung an Liebe und Treue und schöne Stunden mit einer sehr liebenden Frau sind vom Winde verweht worden, so, als wäre nichts geschehen.«1400 2.8.8 »Sammelwohnung« am Nestroyplatz Von Anfang März 1942 bis Ende 19441401 lebten Harry Merl und seine Eltern in einer »Sammelwohnung« im zweiten Bezirk am Nestroyplatz 1, Stiege 3, Türnummer 10.1402 Die Türnummern 36 und 20 scheinen in einer eidesstattlichen Erklärung ebenfalls auf, die Sabine Merl 1947 abgab.1403 Auch die Straßennamen Mohapelgasse, bis 1939 und nach Kriegsende Tempelgasse, sowie Czerningasse, die beide am Nestroyplatz auf die Praterstraße treffen, tauchen in Zusammenhang mit diesem Zeitraum auf. Unter der Türnummer 10 am Nestroyplatz 1 waren auch mindestens elf weitere Personen registriert. Darunter befand sich auch die am 18. März 1903 geborene 1397 Brief Ehepaar Cerny an Ehepaar Merl. 1398 DÖW, URL  : https  ://www.doew.at/personensuche?gestapo=on&findall=&lang=de&suchen=Alle+f inden&shoah=on&politisch=on&spiegelgrund=on&firstname=pauline&lastname=merl&birthdate =&birthdate_to=&birthplace=&residence=&newsearch=10&iSortCol_0=1&sSortDir_0=asc&lang =de (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1399 Brief Ehepaar Cerny an Ehepaar Merl. 1400 Ebd. 1401 Siehe Liste Wohnungen, Erinnerungsweg 14.12.2013, Eigentum von Harry Merl. 1402 Siehe Hausliste Nestroyplatz 1/3/10, 2. Bezirk, 1941–1942, IKG Wien, VWI. 1403 Eidesstattliche Erklärung Sabine Merl, datiert 21.5.1947, Verband der wegen ihrer Abstammung Verfolgten, DÖW, 20.100/7661.

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Irene Jokl,1404 die am 31. August 1942 mit dem Transport Nummer 39 nach Maly Trostinec im besetzten Weißrussland deportiert und am 4. September 1942 ermordet wurde,1405 ebenso die am 28. August 1874 geborene Wilhelmine Haas, verschleppt am 22. Juli 1942 nach Theresienstadt und am 21. September 1942 weiter nach Treblinka, wo sie getötet wurde,1406 und der am 1. März 1872 geborene Heinrich Pressburger, der am 27. August 1942 nach Theresienstadt gebracht, am 16. Mai 1944 mit demselben Transport wie Littmann Merl nach Auschwitz überstellt und ebenfalls ermordet wurde.1407 In dieser Zeit hatte Harry Merl auch Kontakt zu der am 22. März 1935 in Klagenfurt geborenen Eva Preis und deren am 12. Juni 1936 ebenfalls in Klagenfurt geborenen Bruder Peter Adolf Preis. Die Geschwister waren mit ihren Eltern Else und Felix Preis in der nahe gelegenen Hofenedergasse 6 untergebracht. Lediglich in dieser kurzen Zeitspanne habe Merl während des Zweiten Weltkriegs mit anderen Kindern gespielt  : »Das war eigentlich nur dort, wo die Eva da war nämlich, diese kurze Zeit, in der wir am Nestroyplatz gewohnt haben. Das ist ganz ein lebhaftes Bild, dieser Schutthaufen vom Tempel, wo halt Kinder waren. Da war eine Reihe von Familien, die haben dort gewohnt […]. Und das war die einzige Zeit zum Spielen, ganz kurz, nur ein paar Wochen müssen das gewesen sein, weil die Leute sind dann alle nach Auschwitz gekommen […]. Da war eben die Familie Viola und da war ein kleiner Bub in meinem Alter. Aber die sind auch deportiert und umgebracht worden.«1408 Die am 23. Dezember 1911 geborene Edith Martha Viola, der am 9. Jänner 1902 geborene Ernst Viola und ihr am 15. November 1926 geborener Sohn Heinz Viktor Viola wurden mit dem Transport Nummer 24 am 2. Juni 1942 vom Wiener Aspangbahnhof zum Frachtenbahnhof in Minsk und von dort weiter nach Maly Trostinec deportiert  : »Diejenigen Deportieren, die nicht zur Arbeit im Lager ausgewählt worden waren, wurden mit Lastwagen zu den Gruben gebracht, die von weißrussischen Zwangsarbeitern auf einer Lichtung im Blagowschtschina-Wald ausgehoben worden waren. 1404 Siehe Hausliste Nestroyplatz. 1405 DÖW, Personen-Datenbanken, Shoah-Opfer, URL  : https  ://www.doew.at/personensuche?gestapo =on&findall=&lang=de&suchen=Alle+finden&shoah=on&politisch=on&spiegelgrund=on&firstna me=irene&lastname=jokl&birthdate=&birthdate_to=&birthplace=&residence=&newsearch=10&iS ortCol_0=1&sSortDir_0=asc&lang=de (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1406 DÖW, Personen-Datenbanken, Shoah-Opfer, URL  : https  ://www.doew.at/personensuche?gestapo =on&findall=&lang=de&suchen=Alle+finden&shoah=on&politisch=on&spiegelgrund=on&firstna me=wilhelmin&lastname=haas&birthdate=&birthdate_to=&birthplace=&residence=&newsearch= 10&iSortCol_0=1&sSortDir_0=asc&lang=de# (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1407 DÖW, Personen-Datenbanken, Shoah-Opfer, URL  : https  ://www.doew.at/personensuche?gestapo =on&findall=&lang=de&suchen=Alle+finden&shoah=on&politisch=on&spiegelgrund=on&firstna me=Heinrich&lastname=Pressburger&birthdate=&birthdate_to=&birthplace=&residence=&news earch=10&iSortCol_0=1&sSortDir_0=asc&lang=de (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1408 Interview mit Harry Merl, S. 9.

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Nach der Ankunft mussten sie sich entkleiden und ihre Wertsachen abgeben.«1409 Die Frauen, Männer und Kinder wurden ermordet. Der Transport Nummer 24 umfasste 1000 Personen, darunter 60 Kinder unter 14 Jahren. Niemand hat überlebt.1410 Am 20. August 1942 erfolgte die Deportation der Familie Preis nach Theresienstadt, wo der Vater am 28. Februar 1944 starb. Die Mutter und die beiden Kinder wurden am 16. Mai 1944 mit demselben Transport wie Littmann Merl und Heinrich Pressburger, der in derselben Wohnung am Nestroyplatz gewohnt hatte wie Familie Merl, nach Auschwitz verschleppt und ermordet. Auf der Rückseite eines Fotos der Geschwister Preis, das Harry Merl aufbewahrt hat, findet sich der Vermerk »Eva war meine erste große Liebe.«1411 2.8.9 Zwangsarbeit in Wien Nachdem der Armbruch verheilt war, musste Wilhelm Merl zwischen Juni 1942 und April 1945 in Wien Zwangsarbeit verrichten, wie aus seinen Angaben in dem 1948 gestellten Antrag auf Unterstützung hervorgeht. Nicht näher bezeichnete Erdarbeiten werden darin angeführt. Für das Jahr 1943 sind Sabine, Wilhelm und Harry Merl in den von der jüdischen Gemeinde erstellten Hauslisten am Nestroyplatz unter der Türnummer 20 eingetragen, gemeinsam mit vier weiteren Personen, darunter der am 28. Juni 1906 geborene Karl und die am 1. Jänner 1916 geborene Marie Kandel. Diese Listen mussten der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« des »Sicherheitsdiensts« der SS vorgelegt werden. Sowohl neben den Namen der Eltern von Harry Merl als auch neben denen des Ehepaars Kandel steht in der Hausliste unter der Rubrik »In Arbeit bei« vermerkt, dass sie in der Möbelverwertungsstelle für Schätzmeister Witke tätig waren. Als Adresse ist die Krummbaumgasse 8 im zweiten Bezirk angeführt. Dort befand sich ab Mitte 1942 die zentrale Verwertungsstelle in einer ehemaligen Sozialeinrichtung der Israelitischen Kultusgemeinde.1412 Unter der Leitung des am 1. Mai 1896 geborenen Tischlermeisters Bernhard Witke wurden bis zu 180 jüdische Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen ausgebeutet.1413 Das Volksgericht Wien verurteilte Witke am 12. Jänner 1949 wegen Hochverrat zu dreieinhalb Jahren »schwerem Kerker, verschärft durch ein hartes Lager vierteljährlich«.1414 1409 Winfried R. Garscha, »Ein unermüdliches Beharren auf Empirie und Nüchternheit«. Die Erforschung der Vernichtungsstätte Maly Trostinec. In  : DÖW (Hg.), Deportation und Vernichtung – Maly Trostinec, S. 135. 1410 Siehe ebd., S. 149. 1411 Foto von Eva und Peter Preis, Eigentum von Harry Merl. 1412 Siehe Holzbauer, »Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens«, S. 47. 1413 Siehe ebd., S. 48. 1414 Siehe Urteil Volksgericht Wien, WStLA, Vr 2331/45.

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Die Ehepaare Merl und Kandel hatten sich bereits vor der Machtergreifung der NSDAP kennengelernt. Beide waren Anhänger des Zionisten Robert Stricker. Auch die meisten anderen in der Liste eingetragenen Hausbewohnerinnen und -bewohner verrichteten Zwangsarbeit für die 1940 von der Gestapo Wien zum gewinnbringenden Verkauf der »beschlagnahmten Umzugsgüter jüdischer Emigranten«1415 eingerichtete Verwaltungsstelle »Vugestap«, auch als »Vugesta« bezeichnet. Ursprünglich war sie gegründet worden, »um die Sachwerte jener Juden einzuziehen, die Österreich verließen. Die jüdische Habe wurde an Museen sowie nach Verteilerplan an die nationalsozialistische Klientelgemeinschaft billig und weit unter ihrem Schätzwert verschleudert. […] Die für die ›Vugesta‹ tätigen Händler beschäftigten zum Ausräumen der Wohnungen und in ihren Magazinen wiederum jüdische Zwangsarbeiter, denen sie bloß minimale Löhne zu zahlen brauchten.«1416 Wilhelm Merl war Teil jener Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter, die im Auftrag der Gestapo die in den Wohnungen unfreiwillig zurückgelassenen Gegenstände abzutransportieren hatte  : »Eine eigene Abteilung der Kultusgemeinde, die sogenannte ›Sucher-Gruppe‹, hatte mit Lastwagen dafür zu sorgen.«1417 Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Möbel in das Depot im Wiener Messepalast zu bringen, jenem Gebäudekomplex der Hofstallungen, in dem sich seit 2001 das Museumsquartier befindet  :1418 »Ich habe in der Zeit von 1943 bis einige Zeit vor dem Umbruch 1945 in der Verwertungsstelle für jüdisches Umzugsgut als Möbelpacker gearbeitet.«1419 Sabine Merl war »etwa eineinhalb Jahre lang«1420 damit beschäftigt, die »verworrene Buchhaltung«1421 der Firma von Rudolf Schneeweiß, einem Freund von Karl Ebner, aufzuarbeiten. In Oliver Merls Aufzeichnungen ist dieser als »Schneeweiß (Nazi)«1422 angeführt. Mindestens ein arisiertes Lebensmittelgeschäft1423 und später einen Pelzhandel soll Rudolf Schneeweiß betrieben haben. Harry Merls Mutter konnte die Buchhaltung zum Teil in der Wohnung in der Wipplingerstraße 12 erledigen  : »Sie arbeitete monatelang bis tief in die Nacht hinein. Sie musste Berge von Rechnungen ordnungsgemäß verbuchen. Dieser Umstand schützte uns aber vor der drohenden Deportation. Schneeweiß hatte nämlich gute Kontakte zu einflussreichen Gestapobeamten.«1424 1415 Merkblatt »Vugestap«, DÖW, URL  : https  ://www.doew.at/erkennen/ausstellung/gedenkstaette-salz torgasse/die-gestapo-und-die-verfolgung-der-juden-und-juedinnen (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1416 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 219. 1417 Ebd., S. 254. 1418 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 8. 1419 Zeugenvernehmung Wilhelm Merl, datiert 14. Jänner 1947, WStLA, Vr 2331/45. 1420 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 8. 1421 Ebd. 1422 Ebd. 1423 Siehe Föderl-Schmid/Müller, Unfassbare Wunder, S. 126. 1424 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 29.

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2.8.9.1 »Untertags war ich halt allein«1425 Schließlich wurde auch Harry Merls Mutter als Zwangsarbeiterin für die »Vugestap« eingesetzt  : »Möbel, Hausrat und Schmuck sowie Tafelsilber und Bilder mussten geordnet, sortiert und in Sammeldepots abtransportiert werden.«1426 Von 30. Dezember 1944 bis Kriegsende lebte die Familie in der Odeongasse 10 im zweiten Bezirk. »Untertags war ich halt allein«,1427 erinnert sich Harry Merl an jene Zeit während des Zweiten Weltkriegs, in der er stundenlang in der Wohnung auf die Rückkehr seiner Eltern wartete  : »In der Früh stellte mir meine Mutter eine Thermoskanne mit Tee und etwas Essen auf den Tisch, denn meine Eltern kamen oft erst sehr spät abends nach Hause. So war ich den ganzen Tag allein.«1428 Beim Herumstöbern in der Wohnung entdeckte Harry Merl Veronal-Tabletten. Diese hatte seine Mutter »für den Fall, dass sie deportiert werden«,1429 vorbereitet und in einer Lampe versteckt. In zu hoher Dosis eingenommen, entfaltete das Schlafmittel, dessen Produktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingestellt wurde, eine tödliche Wirkung.1430 Die von Hugh John Lofting verfassten Abenteuer des Doktor Dolittle, der mit Tieren und Pflanzen sprechen kann, spendeten Harry Merl eigenen Angaben zufolge in dieser Zeit Trost. Die beiden aus einer geräumten Wohnung stammenden Bände las er in dieser Zeit nicht nur einmal, »sondern, ich weiß nicht, 20, 30, 50 Mal. Das war meine Welt, die hat mich getröstet. Denn da war jemand, der Wohltäter war und gesiegt hat und sich nicht hat beirren lassen.«1431 Seine Eltern seien »nicht auf die Idee gekommen, mir irgendetwas zu erklären. Sie haben mich versorgt, so gut es gegangen ist […]. Meine Annahme ist, dass das, was über unsere Familie gekommen ist, obwohl wir Gott sei Dank durchgekommen sind, dass das meine Eltern erschüttert hat, es einen solchen Bruch gegeben hat gegenüber der Erwartung von einem neuen Leben, einem Familienleben, dass sie es einfach ertragen haben und schon gar nicht auf die Idee gekommen sind, mir etwas zu erklären. Ich habe aber auch nicht gefragt, sondern wie es war, war es.«1432 Bei unterschiedlichen Gelegenheiten erzählte Harry Merl auch über eine Erinnerung, die sich besonders eingebrannt hatte  : »Ich bin in Panik hinausgelaufen, weil ein Bombenangriff war, und ich hätte ja nicht aus der Wohnung hinausdürfen. Ich bin in die 1425 Interview mit Harry Merl, S. 1. 1426 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 32. 1427 Interview mit Harry Merl, S. 1. 1428 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 35. 1429 Schmidtkunz, Psychoanalytiker und Begründer der Familientherapie. 1430 Siehe Veronal. Geschichte eines Schlafmittels, Pharmazeutische Zeitung vom 17.11.2003, URL  : https  :// www.pharmazeutische-zeitung.de/inhalt-47-2003/magazin-47-2003/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1431 Interview mit Harry Merl, S. 2. 1432 Ebd., S. 1.

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Stadt gelaufen, in Richtung Donaukanal. Und dann habe ich auf einmal meinen Vater vorbeifahren gesehen in einem Lastwagen, wo es darum gegangen ist, die Möbel zu transportieren, und habe geschrieben  : Papa, Papa, und er ist tatsächlich stehen geblieben, er muss den Chauffeur gestoppt haben. Und das war so meine Rettung damals.«1433 Überliefert ist auch, dass ein SS-Mann mit Nachnamen Schauerhofer, den Wilhelm Merl über den Kaufmann Rudolf Schneeweiß gekannt haben dürfte, regelmäßig Harry Merls Eltern telefonisch darüber Auskunft gab, ob sich ihr Name auf einer Deportationsliste befindet. Dafür verwendeten sie die verschlüsselte Frage »Wird Kohle geliefert oder nicht  ?«.1434 Denn »letztlich sollte die gesamte jüdische Bevölkerung deportiert werden.«1435 Während aus den Aufzeichnungen Oliver Merls hervorgeht, dass es sich dabei um Schauerhofer gehandelt haben dürfte, stellt Pascal Merl die Vermutung an, dass Johann Rixinger, der »Judenreferent« der Wiener Gestapoleitstelle, diese entscheidenden Informationen weitergab.1436 »Freundschaften brechen zusammen«,1437 notierte Harry Merls Sohn Oliver 1981 nach dem Gespräch mit seinen Großeltern in Wien. Diese hatten sich aber auch an die Hilfsbereitschaft einer kommunistischen Familie namens »Madel«1438 aus der Nachbarschaft zwischen Odeongasse und Nestroyplatz im zweiten Wiener Gemeinde-Bezirk erinnert. Bei dieser Familie dürfte es sich um die des Drehers Wilhelm Madl,1439 die am Nestroyplatz 1 wohnte, handeln. 2.8.9.2 Als »U-Boote« im Kellerversteck Die letzten Wochen vor der Befreiung Wiens durch sowjetische Soldaten Mitte April 1945 überlebten Harry Merl und seine Eltern in einem Kellerversteck. Dort standen ihnen zwei Matratzen zur Verfügung  : »Bis dahin war es ja so, dass meine Eltern noch arbeiten konnten, aber dann hat meine Mutter die Meldung gekriegt, jetzt kommt’s ihr dran, […] und dann sind wir in dieses Versteck hinein, […] wie meine Eltern das gemacht haben, weiß ich nicht. Ich weiß nur, wir waren in einem Keller dann und […] mein ständiges Gefühl war, es ist so, es hat nichts anderes gegeben.«1440 19 Personen, die von der nationalsozialistischen Gesetzgebung als Jüdinnen und Juden eingestuft worden waren, sollen in dem Haus in der Odeongasse von der Hausbesor1433 Interview mit Harry Merl, S. 5. 1434 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 8. 1435 Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 309. 1436 Siehe Pascal Merl, Harry Israel Merl. 1437 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 9. 1438 Ebd. 1439 Lehmann’s, 1942, 1, I. Teil, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/zoom/ 243499?query=madel (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1440 Schmidtkunz, Psychoanalytiker und Begründer der Familientherapie.

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gerin versteckt worden sein.1441 Harry Merls Vater habe dafür mit Gold bezahlt, das er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mit einer Feile zerrieben und in einem Polster verborgen hatte.1442 Die Bewegungsfreiheit des damals zehnjährigen Buben Harry sei in dieser Phase besonders stark eingeschränkt gewesen  : »Ich weiß nicht mehr, was ich gemacht habe. Ich bin halt da in dem Keller herumgegangen, sonst hätte ich eh nichts machen können.«1443 Im Kohlenkeller erlebte Familie Merl die Befreiung Wiens durch die Rote Armee. Nachdem Harry Merl und seine Eltern das Versteck verlassen hatten, mussten sie noch einmal Zuflucht vor versprengten Mitgliedern der SS suchen, die Jagd auf jüdische »U-Boote« machten. Karl Kandel, der ebenfalls mit dem Zionisten Robert Stricker sympathisiert und am Nestroyplatz gewohnt hatte, riet ihnen, »über den Donaukanal in den dritten Bezirk zu flüchten«.1444 Die Familie versteckte sich auf den Dachboden eines Hauses  : »Kandel hat auch beim Schneeweiß gearbeitet […] hat die Merls die letzten drei Wochen durchgebracht […] vermittelte ihnen U-Boot Quartier […] III. Bezirk Marxergasse.«1445 Von Harry Merls Eltern sind Aussagen überliefert wie »Wir wollten Hitler überleben und dann sterben.«1446 oder »Ich wollte einen Fuß von einem russischen Soldaten sehen und sterben.«1447 Sein Vater und seine Mutter seien geschädigt gewesen, diagnostiziert Harry Merl,1448 sie hätten »diesen Krieg nie überwunden.«1449 Mit ihm sei während der NS-Zeit nie über das Erlebte gesprochen worden, niemand habe ihm etwas erklärt. Nach Kriegsende habe diese Zeit weiterhin schwer auf seinen Eltern gelastet  : »Totschweigen, Verdrängen, ja nicht auffallen  ! Jedem, der sich auch nur ein bisschen für sie interessierte, begegneten sie mit äußerstem Misstrauen. Das war wohl ihre Art und Weise, mit all dem Unfassbaren irgendwie fertig zu werden.«1450 Über das Erlebte sei nicht geredet worden  : »Meine Eltern haben nichts sprechen wollen darüber, […] sie haben mit mir über ihr Leben nicht gesprochen.«1451 Auch er selbst habe lange geschwiegen  :1452 »Und dazu kommt aber auch noch, dass ich eigentlich, das klingt komisch, nichts wissen wollte von der Zeit. Ich wollte 1441 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 3. 1442 Siehe Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 51. 1443 Interview mit Harry Merl, S. 10. 1444 Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 28. 1445 Aufzeichnungen Oliver Merl, S. 3. 1446 Ebd. 1447 Ebd. 1448 Siehe Schmidtkunz, Psychoanalytiker und Begründer der Familientherapie. 1449 Otmar Schrott, Harry Merl. In  : Radio Oberösterreich, Linzer Torte vom 7.10.2018. 1450 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 55. 1451 Schrott, Harry Merl. 1452 Siehe Föderl-Schmid/Müller, Unfassbare Wunder, S. 130.

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nichts wissen.«1453 In Form eines Erinnerungswegs besuchte Harry Merl in den Jahren 2001 bis 2017 mehrmals mit seinen Kindern und Enkelkindern die verschiedenen Wohnorte der Familie Merl in Wien während der NS-Zeit  : »Es war ein bisschen ein Anfang von meiner Befreiung und von meinem Auftauen.«1454 Er selbst habe lange mit seinen Kindern nicht darüber gesprochen  : »Erst, als sie mich gefragt haben und gesagt haben, Papa, wie war das. Und dann habe ich halt erzählt, was ich gewusst habe. Aber ich habe sehr lange alles gemieden, was aus dieser Zeit da war. […] Das war wie wenn mein Gefühl abgeschnitten wäre. […] Das ist jetzt anders. Ich bin mit der Zeit aufgetaut.«1455 2.8.10 Erste Jahre nach Kriegsende Nach Kriegsende trat Harry Merls Vater der Kommunistischen Partei bei.1456 Von Juli 1945 bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Verwaltungsangestellter der Wiener Polizeidirektion. 1948 bezog Wilhelm Merl ein Gehalt in Höhe von 600 Schilling. Er besaß wieder einen Gewerbeschein und verrichtete »noch diverse Gelegenheitsarbeiten in seiner Branche, um sich in Übung zu halten.«1457 In den Monaten nach Kriegsende erstellte die 1939 in New York City als österreichische Exilorganisation gegründete »Austrian-American League«, die Otto Habsburg-Lothringen nahestand, eine mit 30. November 1945 datierte Liste. Darauf waren in alphabetischer Reihenfolge die Namen von Jüdinnen und Juden verzeichnet, die unter dem NS-Regime in Wien überlebt hatten.1458 Auf Seite 14 finden sich auch die Namen und Geburtsdaten von Harry, Sabine und Wilhelm Merl. Als Wohnadresse der Familie ist das Haus in der Odeongasse 10 im zweiten Wiener Gemeinde-Bezirk angeführt, in dem die drei das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung erlebt hatten. Nach Kriegsende besuchte Harry Merl in Wien für kurze Zeit die Volksschule und ab Herbst 1945 die Hauptschule. Er wechselte an das Realgymnasium in der Hagenmüllergasse 30 im dritten Bezirk, wo er im Herbst 1946 der zweiten Klasse angehörte  :1459 »Ich wollte das sehen und machen, was ich halt nach dem Krieg erlebt habe. Ich bin in die Schule gegangen, ich habe Freunde in der Schule gehabt und dann eben die Geschichte mit dem Jazz und in Verbindung auch mit meinen Schulkollegen und in der Zeit war das etwas, das uns befreit hat. Es war meine eigentliche 1453 Interview mit Harry Merl, S. 1. 1454 Ebd., S. 6. 1455 Ebd., S. 3. 1456 Siehe Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 30. 1457 Siehe Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1458 List of Austrian Jews residing in Vienna during the occupation, datiert 30.11.1945, DÖW, 11564/5. 1459 Eidesstattliche Erklärung Wilhelm Merl, DÖW, 20.100/7662.

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Befreiung, dass ich nichts wissen wollte.«1460 1954 maturierte Harry Merl mit Auszeichnung.1461 Auf einem Formular des ursprünglich als »Aktionskomitee der jüdischen KZler« gegründeten »Verbands der wegen ihrer Abstammung Verfolgten« erklärte Wilhelm Merl im Oktober 1946 an Eides statt, seine Eltern, eine Schwester, die Schwiegermutter sowie weitere Verwandte durch das Nazi-Regime verloren zu haben, insgesamt 21 Personen. Als materielle Verluste zählte er eine vollständig eingerichtete Werkstätte in der Salzachstraße 7/38 im 20. Bezirk, die komplett eingerichtete Wohnung und »an sonstigen Habseligkeiten alles«1462 auf. Am 3. Mai 1947 erhielt Harry Merls Vater als Sachleistung 200 Zigaretten. Am 15. Jänner 1948 trat Wilhelm Merl dem Verband bei. In der eidesstattlichen Erklärung, die Sabine Merl im Mai 1947 unterschrieb, gab sie an, ihr Gesundheitszustand sei »mittel«.1463 Auf die Frage, welche Verluste sie durch das Nazi-Regime erlitten habe, führte sie unter dem Punkt »Familienstand« an, ihre Mutter und sämtliche Verwandte verloren zu haben. Unter »Vermögen, Stellung, wirtschaftliche Existenz« nannte sie die Goldschmied-Werkstätte ihres Ehemanns sowie die Wohnung und die Einrichtung.1464 1948 stellten der »Gold- und Silberschmied« Wilhelm Merl, die »Kontoristin und Hausfrau« Sabine Merl und ihr Sohn Harry Merl an die Preparatory Commission der International Refugee Organization der Vereinten Nationen in Wien einen Antrag auf Unterstützung. Die Familie wohnte zu diesem Zeitpunkt in der Landstraßer Hauptstraße 98 im dritten Wiener Gemeinde-Bezirk. Die IRO mit Sitz in Genf war 1946 als Nachfolgeorganisation der United Nations Relief and Rehabilitation Administration UNRRA eingerichtet worden »to solve the problem of refugees and displaced persons created by the Second World War and its immediate aftermath«.1465 Sie wurde 1953 durch den United Nations High Commissioner for Refugees UNHCR ersetzt. In den ersten Jahren nach Kriegsende hatte die Familie auch Unterstützung von der UNRRA erhalten, die nicht finanzieller Art war, sowie von der jüdischen Hilfsorganisation JDC, dem American Jewish Joint Distribution Committee mit Hauptsitz in New York, auch »Joint« genannt. Wilhelm Merls Antwort auf die Frage, ob er in Europa verbleiben wolle, wird folgendermaßen wiedergegeben  : »Nein, meine ganze Familie wurde hier umgebracht 1460 Interview mit Harry Merl, S. 1. 1461 Siehe Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 55. 1462 Eidesstattliche Erklärung Wilhelm Merl, DÖW, 20.100/7662. 1463 Eidesstattliche Erklärung Sabine Merl, DÖW, 20.100/7661. 1464 Siehe ebd. 1465 Summary of AG-018-007 IRO, United Nations Archives and Records Management Section, URL  : https  ://web.archive.org/web/20160330235321/https  ://archives.un.org/sites/archives.un.org/files/ files/Finding%20Aids/2015_Finding_Aids/AG-018-007.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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es waren 21 Personen und so will ich nicht mehr auf diesem Unglueckskontinent bleiben.«1466 Als Auswanderungsziel sind die USA angeführt, als mögliches Datum scheint der 15. November 1948 auf, der dritte Tag nach der Antragstellung. Auf dem Antrag findet sich auch der Vermerk, Wilhelm Merl, der Deutsch spricht und Englisch lernt, »erwartet USA Arb. Vertrag v. New York.«1467 Dem Akt liegt auch ein auf den 1. März 1949 datiertes Certificate des »Area Team V – Vienna« der PCIRO bei. Sabine Merl bestätigt darauf, »dass es mir bewusst ist, dass mein Name, sowie der meines Mannes und meines Sohns auf einer Master List zur Auswanderung nach USA aufscheinen. […] Ich wuensche, die Abreise meiner Familie aus Geschaeftsgruenden aufzuschieben.«1468 Am 17. April 1950 bestätigten Sabine und Wilhelm Merl jeweils mit ihren Unterschriften den Empfang einer Identitätskarte der IRO. 1951, drei Jahre nach der Antragstellung, wurde Wilhelm und Sabine Merl, deren Englischkenntnisse als mäßig beschrieben werden, »Legal and Political Protection Only«1469 zugestanden. In dem 2019 erschienenen Porträtband werden die Bemühungen von Sabine und Wilhelm Merl, zu emigrieren, ebenfalls thematisiert  : »Nach dem Krieg wollten die Eltern in die USA auswandern, weil ein Onkel und eine Tante, die sich rechtzeitig dorthin retten konnten, bereits in Amerika gelebt haben. Weil es aber nur für den Vater den für die Einreise notwendigen Bürgen gab, blieb er bei und mit seiner Familie in Österreich.«1470 2.8.11 Anträge an den »Hilfsfonds« Am 25. Mai 1962 unterschrieben Sabine und Wilhelm Merl jeweils einen Antrag an den österreichischen Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter. Dieser Fonds war 1956 mit einem Volumen von insgesamt 1,15 Milliarden Schilling eingerichtet und 1962 erweitert sowie um 600 Millionen Schilling aufgestockt worden. Zuständig war die Sammelstellte A in Wien. Diese war gemäß Artikel 26 des Staatsvertrags, in dem die »Vermögenschaften, Rechte und Interessen von Minderheitsgruppen in Österreich«1471 geregelt sind, für Personen geschaffen worden, die »am 31. Dezember 1937 der israelitischen Religionsgemeinschaft angehörten«.1472

1466 Antrag auf Unterstützung, PCIRO. 1467 Ebd. 1468 Ebd. 1469 Ebd. 1470 Föderl-Schmid/Müller, Unfassbare Wunder, S. 130. 1471 Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich. 1472 73. Bundesgesetz vom 13. März 1957 über die Schaffung von Auffangorganisationen.

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Von den in Frage kommenden »Naziverfolgungsmaßnahmen«,1473 denen Antragstellerinnen und Antragsteller in der Zeit vom 13. März 1938 bis 8. Mai 1945 betroffen gewesen sein mussten, traf auf Sabine Merl die als »Haft in einem Konzentrationslager oder Anhaltelager oder in einem Gefängnis durch mindestens 3 Monate«1474 bezeichnete Maßnahme zu. Die erzwungene Unterbringung in dem »Sammellager« in der Gänsbachergasse von 3. November 1939 bis 12. Februar 1940 wurde angerechnet.1475 Als Beweis führte die bearbeitende Stelle einen Bescheid der Magistratsabteilung 12 vom 6. Dezember 1954 an.1476 Harry Merls Mutter gab in ihrem Antrag auch an, dass sie gemäß der »Nürnberger Gesetze« als »Volljüdin« gegolten hatte  : »Ich trug den Judenstern von 1939– 1945«.1477 Am 28. November 1962 entschied das Kuratorium der Sammelstelle A, dass Sabine Merl der Gruppe »B« zugewiesen wird, »da die gesetzlichen statutarischen Voraussetzungen für sie gegeben sind«.1478 Am 3. Dezember 1962 wurde eine Zahlungsanweisung über den Betrag von 7500 Schilling ausgestellt, am 13. September 1963 eine Nachzahlung von 4167 Schilling, am 21. Februar 1964 eine zweite Nachzahlung in Höhe von 833 Schilling, am 1. Oktober 1964 eine dritte Nachzahlung über 2500 Schilling, am 28. September 1966 eine vierte in Höhe von 2583 Schilling, am 5. Dezember 1968 eine fünfte über 833 Schilling und am 18. Juni 1970 eine sechste Nachzahlung in Höhe von 584 Schilling. Auch Wilhelm Merl brachte in seinem Antrag die Zeit in der Gänsbachergasse vor. Als weitere »Verfolgungsmaßnahmen« unter dem Punkt »in einem Ghetto oder einem Zwangsarbeitslager durch mindestens 6 Monate angehalten«1479 listete er auf, von Februar bis Ende Dezember 1940 in Eisenerz in der Steiermark und von Jänner 1941 bis Dezember 1941 in Traunkirchen in Oberösterreich gewesen zu sein. Als Beweis führte er eidesstattliche Erklärungen an. Als »Volljude« eingestuft, habe auch er von 1939 bis 1945 »den Stern«1480 getragen. Wie seine Ehefrau, so wurde auch Wilhelm Merl in die Gruppe »B« eingereiht und erhielt ebenfalls in sieben Tranchen Beträge in derselben Höhe von insgesamt 19.000 Schilling überwiesen. Am 16. Februar 1977 beantragten Sabine und Wilhelm Merl weitere Zuwendungen des Hilfsfonds. Dessen Grundlagen waren während der dritten Amtszeit von 1473 Vorlagebericht, Fonds der Sammelstelle A, Geschäftszahl (GZ) 4.126/E, datiert 16.10.1962, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1474 Vorlagebericht, Fonds der Sammelstelle A. 1475 Antrag Fonds Sammelstelle A, GZ 4.126/E, datiert 16.10.1962, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1476 Ebd. 1477 Ebd. 1478 Entscheidung Fonds Sammelstelle A, GZ 4.126/E, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1479 Antrag Fonds Sammelstelle A, GZ 4.128, datiert 25.5.1962, Wilhelm Merl, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1480 Ebd.

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Bundeskanzler Bruno Kreisky am 13. Dezember 1976 erneut geändert worden  : Nun konnten auch »Berufsschäden«1481 geltend gemacht werden. Am 31. März 1978 erhielt Harry Merls Vater 6500 Schilling zugesprochen, am 12. Juni 1980 den Betrag von 2700 Schilling und am 19. Februar 1981 1400 Schilling. Harry Merls Mutter bekam ebenfalls in drei Auszahlungen Zuwendungen in Höhe von insgesamt 10.800 Schilling, um 200 mehr als ihr Ehemann. Eine weitere Zahlung könne nicht erfolgen, schrieb der Geschäftsführer des Hilfsfonds, Georg Weis. Denn nach der »Durchführung des Beschlusses des Kuratoriums, aufgrund dessen obige Zahlung erfolgt, wird das Vermögen des Hilfsfonds erschöpft sein.«1482 Am Umschlag des Aktes findet sich folgender Stempelabdruck  : »endgültig erledigt 18. März 1981«.1483 2.8.12 Umgang mit den traumatischen Erlebnissen Harry Merl berichtet, dass seine Eltern die Ermordung ihrer Angehörigen das ganze Leben lang belastet und gequält habe  : »Der Holocaust war insofern ein Thema, wie soll ich sagen, in der Verbitterung, besonders meines Vaters, und was meine Mutter betrifft, besonders in dem Umbringen meiner Großmutter.«1484 Bei Sabine Merl, die bis kurz vor ihrem Tod ein Altwarengeschäft im 16. Bezirk in Wien betrieb, sei »die Angst von damals«1485 besonders groß gewesen  : »Mein Vater, der hat auch so eine Gabe gehabt, die ich zum Glück auch habe. Der hat gesagt, na ja, so wars. Aber meine Mutter, die ist, wenn es zum Beispiel Sturm geläutet hat, wenn jemand auf Besuch kommen wollte, schon zusammengezuckt. Meine Eltern sind lange wenig außer Haus gegangen.«1486 Harry Merl studierte nach der Matura an der Universität Wien Medizin. Er absolvierte die Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie. Zunächst arbeitete Merl in der Anstalt Mauer-Öhling in Niederösterreich. Bis zu seiner Pensionierung war er danach am damaligen Wagner-Jauregg-Krankenhaus des Landes Oberösterreich in Linz tätig, wo er das Institut für Psychotherapie leitete. 1958 erfolgte die Heirat. Mit seiner Ehefrau Christine, einer Krankenschwester und Mormonin, bekam Harry Merl fünf Söhne. Er trat der »Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« bei, der auch seine Ehefrau angehörte. Im Alter von 33 Jahren verfasste Merl, der zu dieser Zeit noch in Mauer-Öhling tätig war, einen Brief an seine Eltern. Darin wirft er ihnen unter anderem vor, sich

1481 178. Bundesgesetz vom 13. Juni 1962, mit dem das Hilfsfondsgesetz ergänzt wird. 1482 Entscheidung Hilfsfonds, GZ 5.497, datiert 9.3.1981, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1483 Akt Hilfsfonds, GZ 5.497, ÖStA, AdR, BMfF, VVSt, FLD, HF. 1484 Interview mit Harry Merl, S. 5. 1485 Ebd., S. 3. 1486 Ebd.

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nicht zum Judentum bekannt zu haben  : »Wir sind in eine schwere Zeit hineingekommen, eine Zeit, in der es schwer war, Jude zu bleiben, aber es ist besser, zu sterben, als das aufzugeben. Ihr habt Euch damals und auch später nach dem Krieg geschämt, Juden zu sein. Ihr habt nicht nur wegen Eures Judentums, sondern an Eurem Judentum gelitten. Euren Worten nach war ein Jude feig, schmutzig und als polnischer Jude der ›Abschaum‹, ein echtes Naziwort. Und so wollte ich auch kein Jude sein und hasste mich selbst dafür, mit jener Kraft, zu der nur ein Jude fähig ist.«1487 Harry Merls Eltern »überwanden die Angst, als Juden erkannt zu werden, nie. […] Sie wollten das Erlebte verdrängen.«1488 Sowohl seiner Mutter als auch seinem Vater verdanke er sein Leben, wie Merl in Johannes Neuhausers Biografie zitiert wird  : »Zeit seines Lebens war mein Vater unsterblich in meine Mutter verliebt. Er starb nur fünf Wochen nach ihr.«1489 Wilhelm Merl verschied am 22. Februar 1992 im Alter von 85 Jahren in Wien. Auf die Frage, ob es gut für ihn gewesen wäre, wenn seine Eltern mehr mit ihm über das Erlebte gesprochen hätten, antwortete Harry Merl  : »Das kann ich nicht sagen, das kann ich nicht sagen. Also während der Zeit des Kriegs wäre es wahrscheinlich auch ganz gut gewesen. Aber da haben sie einfach keinen Kopf gehabt dazu. Und nach dem Krieg, da wollte ich nicht.«1490 Erst Jahrzehnte nach Kriegsende sei die Bereitschaft gestiegen, sich mit der NSZeit zu beschäftigen  : »Es ist immer noch ein Auftauen da, verbunden ein bisschen mit meinem Alter, dass ich halt auch schon ein bisschen vergesslicher werde. Aber es ist vor allem die Trauer. Die ist sehr stark. Die Trauer um die Verluste an Leuten, die mir wichtig waren. Das ist sehr deutlich. Oder auch jetzt, wenn ich so Dokumentationen sehe, da kommt auch die Trauer und ich frage mich immer, wer trauert über all die, die mit einem Zug nach Auschwitz gegangen sind.«1491 Auf die Frage, ob es für ihn und seine Eltern zumindest eine Zeit lang essenziell gewesen sei, zu schweigen, antwortete Harry Merl  : »Ob es für meine Eltern wichtig war  ? Es war nicht so gut für sie, es wäre besser gewesen, sie hätten frei darüber sprechen können, aber das war nicht möglich. […] Für mich war das Schweigen insofern gut, als ich mich nach Vorwärts gerichtet habe  : Mein Studium und der Beruf und die Musik, nämlich der Jazz, das war ganz wichtig. Wie der Krieg aus war, haben wir eine ebenerdige Wohnung zugewiesen bekommen vom Wohnungsamt damals. Und da war ein Musikstück, das hat geheißen ›Trumpet Blues‹. Und ich habe da das Bedürfnis gehabt, alle Fenster aufzumachen, das ganze Haus soll das hören. […] Das

1487 Brief Harry Merl an Sabine und Wilhelm Merl, datiert 22.3.1968, zit. n. Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 9 f. 1488 Pascal Merl, Harry Israel Merl, S. 32. 1489 Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 85. 1490 Interview mit Harry Merl, S. 4. 1491 Ebd., S. 6.

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war irgendwie mein Befreiungsschrei.«1492 Die Musik sei zu seinem Lebenselixier geworden.1493 In gewisser Weise seien die Geschehnisse während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft innerhalb der Familie inzwischen aufgearbeitet, wie Harry Merl während des Interviews im Mai 2019 konstatiert, auch dank der Aufführungen des Theaterstücks »Harry Merl – eine Lebensgeschichte. Vom verfolgten jüdischen Kind zum Vater der Familientherapie in Österreich«.1494 Zunächst sei er unsicher gewesen, ob dieses Stück öffentlich aufgeführt werden sollte. Auch seine Frau habe Angst davor gehabt. Ihr Sohn Mario Merl habe sie jedoch ermutigt und gesagt, dies sei wichtig. Die Befürchtungen hätten auch mit seinen Eltern zu tun gehabt  : »Meine Eltern haben, besonders meine Mutter, Angst gehabt, zu zeigen oder auch nur den Verdacht zu wecken, dass wir Juden sind. Das war ein Makel. Und ich habe für mich, bei aller Bemühung nach Vorwärts zu gehen, versucht, mein Judentum nicht zu zeigen oder zu vermeiden. Ich wollte sozusagen einer von allen anderen sein. Es war eine gewisse Angst da davor, als Jude gesehen zu werden […]. Das war schon ein Hindernis, auch in Bezug auf das Theaterstück. […] So ist das auch ein Stück Aufarbeitung. […]. Und die Rückmeldungen waren so freundlich, so mitfühlend, das war für mich unglaublich. […] Denn ich persönlich habe das Gefühl gehabt, hinter alldem, was ich mache, steckt auch die Angst, erkannt zu werden als Jude.«1495

2.9 Margit Eidenberger  : »Was heißt das jetzt für mich  ? « 1496 Nach dem überraschenden Tod ihres Vaters Alfred Augustinus Ranftler am 16. September 2011 entdeckte die am 4. Oktober 1965 in Wien geborene Margit Eidenberger in dessen Haus im niederösterreichischen Guntramsdorf ausschließlich Dokumente, die von ihrem Großvater väterlicherseits und dessen Vorfahren stammten, aber »nichts, absolut nichts«1497 von der Mutter ihres Vaters und deren Ahnen. Die Großmutter väterlicherseits war am 3. April 2002 im Alter von 94 Jahren verstorben  : »Und ich finde wirklich von allen möglichen Leuten etwas und von meinem Großvater, der irgendwie in einer kriegswichtigen Flugzeugindustrie in Wiener Neudorf gearbeitet hat und deswegen nicht eingezogen werden musste im Zweiten Weltkrieg, und von irgendwelchen Leuten, […] und dann habe ich mir gedacht, das ist doch ei1492 Interview mit Harry Merl, S. 7. 1493 Siehe Neuhauser, Vater der Familientherapie, S. 56. 1494 Die szenische Lesung lief von 3.11.2018 bis 20.6.2019 als Gastspiel im freien Theaterhaus »Tribüne Linz« in der Inszenierung von Johannes Neuhauser. 1495 Interview mit Harry Merl, S. 8. 1496 Interview mit Margit Eidenberger, Transkript S. 9. 1497 Ebd., S. 5.

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genartig  : Jetzt haben wir das Haus […] von oben bis unten alles herumgedreht, und so viel habe ich gefunden, und es gibt nichts von meiner Großmutter.«1498 Ihr am 13. April 1935 geborener Vater war am 29. Juni 1945, elf Wochen nach der Befreiung Wiens durch sowjetische Truppen, im Alter von zehn Jahren in der römisch-katholischen Heilig-Geist-Kirche im 16. Wiener Gemeinde-Bezirk getauft worden. Auf dem Taufschein entdeckte Eidenberger, dass der Mädchenname ihrer Großmutter »Blödy« lautet. Darauf war auch vermerkt worden, dass diese aus Holíč im Nordwesten der Slowakei stammte. Als Religionsbekenntnis war »konfessionslos« eingetragen worden.1499 Margit Eidenberger, die sich »immer schon für Geschichte interessiert«1500 hatte, vermutete aufgrund des Mädchennamens, dass ihre Großmutter väterlicherseits jüdische Vorfahren hatte. Ihre Mutter, deren Ehe mit Eidenbergers Vater am 7. Dezember 1968 geschieden worden war, bestätigte schließlich, dass die Großmutter aus einer jüdischen Familie stammte  : »Meine Mutter hat das jedenfalls gewusst, aber die hat auch nicht darüber geredet.«1501 Auf diese neuen Erkenntnisse habe sie eigenen Angaben zufolge mit Erstaunen und Unglauben reagiert  : »Und dann habe ich einmal kurz nachgerechnet, so blöd das jetzt klingt  : Was heißt das jetzt für mich, eine Generation, zwei Generationen, drei Generationen, was heißt das für meine Kinder, vier Generationen später, ist das jetzt wichtig oder nicht  ?«1502 Ihre Großmutter war mit einem nichtjüdischen Mann verheiratet gewesen. Die genauen Umstände, unter denen ihr Vater und dessen Mutter in Wien die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur überlebt hatten, konnte Margit Eidenberger nicht eruieren. Ihr Vater war das einzige Kind seiner Eltern gewesen. Von ihrer Mutter habe sie erfahren, dass dieser einmal erwähnt hätte, die Großmutter, die aus einer kinderreichen Familie stammte, »hat ja viel mitgemacht in ihrem Leben  : Jüdin, sieben oder acht Kinder, einige davon im KZ umgekommen, die Eltern offensichtlich im KZ umgekommen.«1503 2.9.1 Eidenbergers jüdische Vorfahren vor dem »Anschluss« Margit Eidenbergers jüdische Urgroßeltern stammten beide aus Ländern der k. u. k. Doppelmonarchie  : Ihr Urgroßvater Jakob Blödy,1504 der Vater ihrer Großmutter väterlicherseits, wurde am 4. November 1868 in der Gemeinde Unín im Westen der 1498 Interview mit Margit Eidenberger, S. 7. 1499 Taufschein Alfred Ranftler, datiert 30.6.1945, Eigentum von Margit Eidenberger. 1500 Interview mit Margit Eidenberger, S. 19. 1501 Ebd., S. 8. 1502 Ebd., S. 9. 1503 Ebd., S. 12. 1504 Andere Versionen des Nachnamens, die in den Quellen auftauchen, lauten Blöd, Bloedy, Blody, Bledy und, in Zusammenhang mit Eidenbergers Urgroßmutter, Blödyová.

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Slowakei geboren, die bis 1918 zum Königreich Ungarn gehörte. Ihre Urgroßmutter Helene1505 Frankenbusch kam am 12. November 1872 in der Stadt Boskovice im Süden von Mähren, das bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie einen Teil von Österreich bildete, auf die Welt. Zehn Kinder, sieben Mädchen und drei Buben, lassen sich den Urgroßeltern zuordnen. Ihre Biografien konnten anhand der zur Verfügung stehenden Quellen, wie der historischen Wiener Meldeunterlagen oder der Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, nur bruchstückhaft rekonstruiert werden. Als Geburtsort der vier ältesten und der drei jüngsten Kinder scheint Wien auf. Die anderen drei kamen in der slowakischen Kleinstadt Holíč1506 auf die Welt. Am 27. Dezember 1894 wurde Rosa, das älteste der Kinder, geboren, am 20. Juli 1896 die zweitälteste Tochter Olga.1507 Richard, der älteste der Söhne, kam am 13. Jänner 1898 auf die Welt. Die drittälteste Tochter hieß Sidonie, ihr Geburtstag fiel auf den 14. März 1900. Am 3. August 1901 wurde die viertälteste Tochter Elise in Holíč geboren, wo auch 1902 der zweitälteste Sohn Max und am 21. Juli 19071508 Margit Eidenbergers Großmutter Irene, das siebtälteste der zehn Kinder, auf die Welt kamen.1509 Ab Sommer 1908 lebte die Familie nachweislich in Wien  : Von 18. August 1908 bis 1. August 1909 war Jakob Blödy im 12. Bezirk in der Reschgasse 2/19 gemeldet, davor für einen unbekannten Zeitraum in der Aichhorngasse 8 ebenfalls im 12. Bezirk.1510 Am 16. April 1909 wurde Grete als achtes der zehn Kinder geboren. Am 5. Juli 1909 heiratete Helene Frankenbusch im jüdischen Stadttempel in Wien den Hausierer Jakob Blödy. Am Hochzeitstag wurde Richard, der älteste Sohn, von Jakob Blödy als dessen Kind legitimiert, am 2. Februar 1911 die älteste Tochter Rosa und im selben Jahr auch Grete, die knapp drei Monate vor der Hochzeit geboren worden war. Hermine, die jüngste der sieben Töchter, kam am 11. Februar 1911 in Wien auf die Welt, Alfred, das jüngste der zehn Kinder, am 30. März 1913.1511 1505 Für den Vornamen finden sich in den Quellen auch die Schreibweisen Helena, Ilona und Mária Helena, siehe exemplarisch die Liste der am 17.4.1942 von Trnava deportierten Jüdinnen und Juden, URL  : https  ://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de&s_lastName=bl%C3%B6dy&s_ firstName=helena&s_place=&s_dateOfBirth=&cluster=true (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1506 1869 wurden 1.316 der 4.939 Einwohnerinnen und Einwohner von Holíč der jüdischen Gemeinde zugerechnet, 1919, 50 Jahre später, zählte die jüdische Gemeinde 503 Mitglieder, siehe Spector/ Wigoder (Hg.), The Encyclopedia of Jewish Life Before and During the Holocaust (Bd. 1), S. 522. 1507 Zu Olga, die 1896 geboren wurde, konnte lediglich der Eintrag in den Geburtsbüchern der Wiener Kultusgemeinde ausfindig gemacht werden. 1508 Siehe Verstorbenensuche Irene Ranftler, Friedhöfe Wien, URL  : https  ://www.friedhoefewien.at/ verstorbenensuche (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1509 Siehe Geburtsschein Alfred Ranftler, datiert 4.5.1935, Eigentum von Margit Eidenberger. 1510 Siehe MA 8 an Verfasser, datiert 16.9.2020, Eigentum des Verfassers. 1511 Siehe Geburts-, Trauungs- und Sterbebücher IKG Wien, zit. n. GenTeam, URL  : www.genteam.at (letzter Zugriff  : 14.9.2020).

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Die Anzahl und die Zusammensetzung der Kinder, die bei Jakob Blödy in Wien mitgemeldet waren, variiert  : Für den Zeitraum von 18. August 1908 bis 1. August 1909 scheinen Max, Irene und Grete auf, die als sechstes bis achtes Kind geboren worden waren. Für 4. März 1910 bis 30. September 1915 wurden Richard, Sidonie, Elise, Max, Irene und Grete registriert, bis auf die zwei ältesten und die zwei jüngsten alle der Kinder. In den Zeiträumen von 2. Oktober 1915 bis 1. November 1915 und von 6. November 1915 bis 15. Oktober 1918 waren jeweils die jüngsten fünf Kinder Max, Irene, Grete, Hermine und Alfred mitgemeldet, von 18. Oktober 1918 bis 15. Mai 1920 die vier jüngsten Kinder Irene, Grete, Hermine und Alfred. Die beiden ältesten Kinder, die Töchter Rosa und Olga, werden in den auffindbaren Meldeunterlagen des Urgroßvaters von Margit Eidenberger nicht erwähnt.1512 Zwischen 1. August 1909 und 4. März 1910 war die Familie in der Michael-BernhardGasse 7 im 12. Wiener Gemeinde-Bezirk gemeldet, von 4. März 1910 bis 30. September 1915 in der Laaer Straße 8 im zehnten Bezirk. Aus einem Fenster im zweiten Stock dieses Hauses stürzte sich am 19. November 1910 Rosa, die älteste Schwester von Eidenbergers Großmutter Irene. Am Tag darauf berichtete das »Deutsche Volksblatt« unter dem Titel »Die Tragödie einer 15-jährigen Bilderagentin« über diesen versuchten Suizid  : »[…] Rosa Blödy […] wurde gefährlich verletzt von der Freiwilligen Rettungsgesellschaft ins Franz Josefsspital überführt. Der Selbstmordversuch des jungen Mädchens erfolgte unter aufregenden Umständen und ist auch sonst bemerkenswert. Als ältestes von den sieben Kindern des Hausierers Jakob Blödy mußte es verdienen und wurde Agentin bei einer Firma, die sich mit der Vergrößerung von Photographien befaßt. Dieses für ein so junges Mädchen beschwerliche Herumhausieren von Tür zu Tür setzte es manchen Anfechtungen und Unerträglichkeiten aus.«1513 Jakob Blödy wollte seine Tochter am Tag des Suizidversuchs offenbar zu deren Dienstgeber begleiten, »um sich nach ihrem Guthaben zu erkundigen. Für jedes Bild bekam sie nämlich 2 K. sofort, während 1 K. als Guthaben blieb. Vor dem Hause kehrte die Tochter um und hieß ihren Vater warten, mit der Angabe, ihre Handschuhe vergessen zu haben. Sie lief in den zweiten Stock und stürzte sich vor den Augen der entsetzten Parteien in den Hof.«1514 Rosa Blödy überlebte den Versuch, Selbstmord zu begehen. Von 2. Oktober bis 1. November 1915 war die Familie in der Hebbelgasse 2a im zehnten Wiener Gemeinde-Bezirk gemeldet, von 6. November 1915 bis 15. Oktober 1918 ebenfalls im zehnten Bezirk in der Katharinengasse 18. Am 24. April 1918 wurde im Wiener Amtsblatt verlautbart, dass Jakob Blödy in der Ettenreichgasse 7 ei-

1512 Siehe MA 8 an Verfasser, datiert 16.9.2020, Eigentum des Verfassers. 1513 Die Tragödie einer 15-jährigen Bilderagentin. In  : Deutsches Volksblatt vom 20.11.1910, S. 7. 1514 Ebd.

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nen »Klein-Verschleiß von Brennmaterialien«1515 betrieb, am 21. Mai 1918 unter der Überschrift »Eintragungen in den Erwerbsteuerkataster«, dass Blödy in der Senefeldergasse 33 im zehnten Bezirk ein »Kleinfuhrwerksgewerbe«1516 angemeldet hatte. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs lebte Margit Eidenbergers Großmutter vorübergehend in Großbritannien  : »Sie hat mir einmal erzählt, sie ist verschickt worden, weil ja damals, die haben ja alle nichts zu essen gehabt und dann gab es solche Kinder-, so Aufpäppel-Lager und da ist die Oma nach England […] gekommen. Da war sie relativ lange, ich weiß jetzt nicht mehr genau, wie lange, aber relativ lange, Monate jedenfalls, weil sie manchmal erzählt hat, wie sie heimgekommen ist, hat sie plus/minus Deutsch verlernt gehabt. Und ihre Mutter schickt sie um Zündhölzer zum Einkaufen und sie geht in die Trafik oder wo auch immer hin und ihr fällt auf Deutsch nicht ein, sie will immer »matches« sagen und ›I want to buy matches‹. Bis sie sich halt wieder adaptiert hat in Wien.«1517 In Lehmann’s Wohnungs-Anzeiger erschien 1919 ein Eintrag zu Jakob Blödy, dem die Adressen Katharinengasse 18 und Ettenreichgasse 7 sowie der Hinweis, dass er eine Holzhandlung betrieb, zu entnehmen sind.1518 Während sich das Adressbuch in Druck befand, wurden Änderungen bekannt  : Als neue Anschriften scheinen Wolfgang-Schmälzl-Gasse 11 und Stuwerstraße 43 im zweiten Wiener Gemeinde-Bezirk auf. Statt der Holzhandlung ist eine Kohlenhandlung angeführt.1519 Als letzte Meldeadresse Jakob Blödys vor dessen Tod wurde Stuwerstraße 43 verzeichnet, in der er ab 18. Oktober 1918 mit seiner Familie registriert war.1520 Der Urgroßvater von Margit Eidenberger starb am 15. Mai 1920 im Alter von 53 Jahren im Wiedner Spital und wurde zwei Tage später auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt.1521 Wie am 5. Juni 1920 im Amtsblatt der Stadt Wien bekanntgegeben wurde, betrieb die Urgroßmutter nach dem Tod ihres Ehemanns in der Stuwerstraße 43 einen »Handel mit Obst, Gemüse, Naturblumen und Geflügel im Umherziehen«.1522 1515 Eintragung in den Erwerbsteuerkataster, Gewerbe-Unternehmungen. In  : Amtsblatt der Stadt Wien vom 24.4.1918, S. 1.046. 1516 Eintragung in den Erwerbsteuerkataster, Gewerbe-Unternehmungen. In  : Amtsblatt der Stadt Wien vom 18.5.1918, S. 1.340. 1517 Interview mit Margit Eidenberger, S. 13. 1518 Siehe Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1919, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek. at/wbrobv/periodical/pageview/2398263?query=bl%C3%B6dy (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1519 Siehe Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1919, Veränderungen während des Druckes, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/pageview/2398102?query=bl%C3%B6dy (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1520 Siehe MA 8 an Verfasser, datiert 16.9.2020, Eigentum des Verfassers. 1521 Siehe Friedhofs-Datenbank IKG Wien, URL  : https  ://secure.ikg-wien.at/Db/Fh/ (letzter Zugriff  : 13.9.2020). 1522 Eintragung in den Erwerbsteuerkataster, Gewerbeunternehmungen, datiert 5.6.1920. In  : Amtsblatt der Stadt Wien vom 21.7.1920, S. 1.855.

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Ihre Tochter Sidonie wurde am 7. Dezember 1920 außerkirchlich mit Franz Neumann getraut. In der Wohnung in der Stuwerstraße nahm die Großmutter von Margit Eidenberger am 8. Mai 1922 im Alter von 15 Jahren offenbar ebenfalls in suizidaler Absicht Gift zu sich. Sie war damals genauso alt, wie ihre Schwester Rosa bei deren Suizidversuch im Jahre 1910 gewesen war. Auch über diesen Vorfall wurde in der Presse berichtet  : »Gestern nachmittags hat sich die 15-jährige Irene Blödy in ihrer Wohnung, 2. Bezirk, Stuwerstraße 43, aus unbekannter Ursache durch Lafol zu vergiften versucht. Die Rettungsgesellschaft leistete ihr erste Hilfe und brachte sie in das Allgemeine Krankenhaus.«1523 Wie ihre älteste Schwester überlebte auch Irene den Selbstmordversuch. Am 8. März 1923 trat die drittälteste Tochter Sidonie, die zu diesem Zeitpunkt in Wien in der Ennsgasse 20 im zweiten Bezirk wohnhaft war, aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus. Am 20. Mai 19231524 heiratete die älteste Schwester Rosa in der Synagoge in der Wiener Pazmanitengasse den am 20. Oktober 1894 in New York City geborenen Joy Myler. Dieser wird in manchen Quellen auch als Gustav Myler bezeichnet. Er besaß die österreichische Staatsbürgerschaft.1525 Am 31. August 1925 fand sich im »Amtsblatt zur Wiener Zeitung« die Verlautbarung, dass über das Vermögen der »Handelsfrau«1526 Rosa Myler, Blumauergasse 24 im zweiten Bezirk, ein Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Am 7. Dezember 1925 wurde am Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien das Ausgleichsverfahren beendet. Als Bürge und »Zahler«1527 fungierte Rosas Ehemann »Gustav Myler, Vertreter in Wien«.1528 Am 2. Dezember 1927 trat Margit Eidenbergers Großmutter Irene im Alter von 22 Jahren aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus. Ihre Wohnadresse wurde mit Wolfgang-Schmälzl-Gasse 14 im zweiten Bezirk angegeben. In Adolph Lehmann’s Wohnungs-Anzeiger scheint unter dieser Adresse für die Jahre 1931 bis 1933 die »Waffelbäckerin«1529 Irene Blödy und für das Jahr 1927 Helene Blödy auf.1530

1523 Selbstmordversuch einer Fünfzehnjährigen. In  : Illustrierte Kronenzeitung vom 9.5.1922, S. 6. 1524 Siehe AdWLR an ITS, datiert 7.8.1962, 6.3.3.2/107957205, ITS Digital Archive, Arolsen. 1525 Siehe AdWLR, MA 12, datiert 1958, Antrag an Hilfsfonds, ÖStA, AdR, AHF, Zl. 28.589. 1526 Konkurse und Ausgleichsverfahren. In  : Amtsblatt zur Wiener Zeitung und Zentralanzeiger für Handel und Gewerbe vom 31.7.1925, S. 475. 1527 Konkurse und Ausgleichsverfahren. In  : Amtsblatt zur Wiener Zeitung und Zentralanzeiger für Handel und Gewerbe vom 29.10.1925, S. 664. 1528 Ebd. 1529 Siehe Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1931, Teil 1, S. 118, URL  : https  ://www.digi tal.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/pageview/2474205?query=bl%C3%B6dy (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1530 Siehe Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger 1927, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek. at/wbrobv/periodical/pageview/2522260?query=bl%C3%B6dy (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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Eidenbergers Großmutter heiratete am 5. April 1930 »vor dem Magistrat Wien«1531 den Schlossergehilfen Otto Sylvester Ranftler. Dieser war am 9. Dezember 1902 in Wien als uneheliches Kind von Josefina Drexler und Josef Karl Ranftler geboren und 12 Tage später in der römisch-katholischen Pfarrkirche »Zur Heiligen Familie« im 16. Bezirk in Wien getauft worden. Die Eltern von Eidenbergers Großvater väterlicherseits hatten am 15. November 1903 geheiratet. 1908 war Otto Sylvester Ranftler als Kind seines Vaters anerkannt worden. Am 18. März 1930, zweieinhalb Wochen vor der Heirat, hatte er seinen Austritt aus der katholischen Kirche vollzogen.1532 Max Blödy, der wie seine Schwestern Elise und Irene in Holíč geboren worden war, wurde in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre mindestens zweimal festgenommen und gerichtlich verurteilt. Er soll an Einbruchsdiebstählen beteiligt gewesen sein. Am 11. September 1931 zog sich »der 29-jährige Hilfsarbeiter Max Blödy, Malzgasse 12 wohnhaft«,1533 nach einem Einbruch im fünften Bezirk in die Wohnung eines Ehepaars, das im selben Haus ein Gasthaus betrieb, auf der Flucht beim Sprung aus einem Fenster im ersten Stock »Brüche des linken Unterarmes und des linken Fußes«1534 zu. Während der zweite Einbrecher entkommen konnte, wurde Blödy festgenommen  : »Er war mit seinem Komplicen, den er nicht näher kennen will, durch das Gangfenster eingestiegen. Im Besitze Blödys fand man eine goldene Damenuhr, eine goldene Halskette, 60 Schilling Bargeld und ein Paar Ohrgehänge, die er aus der Wohnung gestohlen hatte.«1535 Die »oftmals vorbestraften Einbrecher Max Blödy und Josef Meixner«1536 wurden für diese Tat zu sechs beziehungsweise acht Monaten schwerem Kerker verurteilt.1537 Am 7. April 1933 erschien in der Zeitung »Der Abend« ein Artikel über einen weiteren Einbruch in Wien, an dem Max Blödy beteiligt gewesen sein soll  : »Durch die Erhebungen der Kriminalbeamten wurde festgestellt, daß den raffinierten Einbruch, der aus Wien abgeschaffte 36-jährige unterstandslose Josef Meixner und der 30-jährige Vertreter Max Blödy aus Holic begangen haben dürften. […] Die Spur Blödys führte nach Preßburg, wo er hoppgenommen wurde.«1538 Die »Illustrierte Kronen Zeitung« berichtete ausführlich über die Festnahme des »Zitronen-Hausierers«  :1539 »Es ist nun gelungen, den Täter in der Person des 31-jährigen Max Blödy 1531 Taufschein Alfred Ranftler, datiert 30.6.1945, Eigentum von Margit Eidenberger. 1532 Siehe Taufbuch der Pfarre Ottakring »Zur Heiligen Familie«, datiert 1902, URL  : https  ://data.ma tricula-online.eu/de/oesterreich/wien/16-neuottakring/01-08/?pg=310 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1533 Ungleiches Schicksal zweier »Gefallenen«. In  : Illustrierte Kronen-Zeitung vom 12.9.1931, S. 10. 1534 Ebd. 1535 Ebd. 1536 Einbrechersprung aus dem ersten Stock. In  : Illustrierte Kronen-Zeitung vom 12.11.1931, S. 20. 1537 Siehe ebd. 1538 Raffinierter Wohnungseinbruch aufgeklärt. In  : Der Abend vom 7.4.1933, S. 2. 1539 Ein Wiener Einbrecher in Bratislava verhaftet. In  : Illustrierte Kronen-Zeitung vom 7.4.1933, S. 8.

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zu verhaften. Die Festnahme erfolgte in Bratislava, wo sich der Mann verdächtig gemacht hatte. Beim Verhör gab Blödy den Einbruch in Wien zu.«1540 Die Leserinnen und Leser der »Arbeiter-Zeitung« erfuhren einen Tag später, wie die Polizei den beiden auf die Spur gekommen war  : »So intelligent sie sich bei dem Einbruch zeigten, so blöd waren sie nachher. Sie besuchten ein Gasthaus nach dem andern, machten große Zechen und zeigten verschiedenen Leuten die gestohlenen Schmuckstücke und Sparkassenbücher. So fiel es den Kriminalbeamten nicht schwer, die beiden Burschen zu erwischen.«1541 In »Der Tag« war zu lesen, dass auch die Freundin von »Max Blödy aus Holic, der aus Österreich ausgewiesen ist«,1542 an der Tat beteiligt gewesen sein dürfte  : »Die Geliebte des Blödy, die 28-jährige Maria Radosa, 10. Bez., Katharinagasse 18, wurde wegen Verdachtes der Diebstahlsteilnehmung der Staatsanwaltschaft angezeigt.«1543 Die Adresse Katharinengasse 18, in der Max Blödys Geliebte wohnhaft war, schien 1919 in Lehmann’s Wohnungs-Anzeiger in Zusammenhang mit Jakob Blödy auf. Einem Zeitungsbericht über den ersten Tag des Prozesses ist zu entnehmen, dass Max Blödy für diese Tat nicht in Wien vor Gericht gestellt wurde  : »Blödy, der tschechoslowakischer Staatsbürger ist, wird sich in der Tschechoslowakei wegen des Diebstahls zu verantworten haben.«1544 In den zur Verfügung stehenden Quellen fand sich kein Hinweis auf den weiteren Verbleib dieses Bruders von Margit Eidenbergers Großmutter. Irenes 1909 geborene Schwester Grete Blödy trat am 27. Juni 1933 aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus. Sie war zu diesem Zeitpunkt ledig und wohnte in der Wachaustraße im zweiten Wiener Gemeinde-Bezirk. Hermine Blödy, die jüngste der Schwestern, vollzog am 2. März 1935 ihren Austritt aus der Kultusgemeinde. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie in der Wohnung ihrer Mutter in der Wolfgang-SchmälzlGasse 14. Margit Eidenbergers Vater Alfred Augustinus Ranftler wurde am 13. April 1935 im 18. Wiener Bezirk in der Gersthoferstraße 129 geboren, fünf Jahre nach der Hochzeit seiner Eltern  : »Ich meine, in der damaligen Zeit ist das, fünf Jahre ohne Kind, ist das eher ungewöhnlich gewesen, ohne Verhütungsmittel und so weiter. […] Also zumindest er wollte nicht. […] Ich glaube, sie wollte schon ein Kind, also den Papa, haben.«1545

1540 Ein Wiener Einbrecher in Bratislava verhaftet. 1541 Die verunglückte Tochter in der Unfallstation und der Wohnungsschlüssel unter dem Fußabstreifer. In  : Arbeiter-Zeitung vom 8.4.1933, S. 7. 1542 Zwei raffinierte Einbrecher verhaftet. In  : Der Wiener Tag vom 8.4.1933, S. 5. 1543 Ebd. 1544 Feiner Gaunertrick. In  : Der Abend vom 8.7.1933, S. 3. 1545 Interview mit Margit Eidenberger, S. 19.

Margit Eidenberger  : »Was heißt das jetzt für mich  ?«

Abb. 17  : Der Geburtsschein von Alfred Ranftler, ausgestellt am 4. Mai 1935.

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Die Familie wohnte zum Zeitpunkt der Geburt im 16. Bezirk in der Nauseagasse 16. Die Ehe ihrer Großeltern sei schlecht gewesen, erzählt Margit Eidenberger  : »Warum die geheiratet haben, ich weiß es nicht oder ich kann es einfach nicht sagen. Und das Kind, das er nicht wollte, und offensichtlich seine Mutter hat ihm das auch dann irgendwie, vorgeworfen ist jetzt vielleicht das falsche Wort, aber hat gesagt, also  : ›Du hast da die Jüdin geheiratet und jetzt kriegt ihr auch noch ein Kind‹, nicht.« Eidenbergers Großeltern blieben jedoch bis zum Tod miteinander verheiratet. Die Ehe zwischen Irene Ranftlers ältester Schwester Rosa und Joy Myler hingegen wurde am 28. Dezember 1937 geschieden.1546 2.9.2 Eidenbergers jüdische Vorfahren nach dem »Anschluss« In Lehmann’s Wohnungs-Anzeiger scheint in den Ausgaben der Jahre 1937 bis 1941 Margit Eidenbergers Großvater väterlicherseits, Otto Ranftler, unter der Adresse Hasnerstraße 83 im 16. Bezirk in Wien auf.1547 Dem Häuser-Verzeichnis zufolge wohnten der Schlosser »Ranftler O.« und die Bedienerin »Ranftler I.« im Haus Hasnerstraße 81.1548 Die Hausnummer 81 taucht auch in anderen Quellen auf, beispielsweise auf dem Taufschein von Eidenbergers Vater Alfred Ranftler.1549 Der Großvater und der Vater besuchten am 15. März 1938 die »Kundgebung zu Ehren des Führers«1550 am Wiener Heldenplatz  : »Mein Vater hat gesagt, er ist mit meinem Großvater am Heldenplatz gestanden, wie der Hitler gekommen ist, wo ja angeblich niemand war im Nachhinein dann. Da war er eben drei, vier Jahre alt. Da hat er sich aber noch erinnern können daran und hat eben gesagt, es waren extrem viele Leute dort.«1551 Otto Ranftler arbeitete von 10. Oktober 1939 bis 5. April 1945 als Maschinenschlosser in »kriegswichtigen« Betrieben.1552 Er war vom Kriegsdienst freigestellt 1546 Siehe Geburts-, Trauungs- und Sterbebücher IKG Wien, zit. n. GenTeam, URL  : www.genteam.at (letzter Zugriff  : 14.9.2020). 1547 Siehe exemplarisch Lehmann’s, 1941, S 1049, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek.at/wbrobv/ periodical/pageview/2431948 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1548 Siehe exemplarisch Häuser-Verzeichnis 1941, S. 341, URL  : https  ://www.digital.wienbibliothek. at/wbrobv/periodical/pageview/2433363?query=ranftler%20bedienerin%20schlosser%20hasner stra%C3%9Fe (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1549 Siehe Taufschein Alfred Ranftler, datiert 30.6.1945, Eigentum von Margit Eidenberger. 1550 Befehl des Reichsführers-SS und Chefs der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, für die Kundgebung und Paraden in Wien am 15. März 1938, datiert 14.3.1938, zit. n. DÖW (Hg.), »Anschluß« 1938. Eine Dokumentation, Wien 1988, URL  : https  ://www.doew.at/cms/download/78t22/maerz 38_heldenplatz.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1551 Interview mit Margit Eidenberger, S. 13. 1552 In seinem Arbeitsbuch sind die Patronenfabrik der Gustloff-Werke in Lichtenwörth, die Wiener Neustädter Flugzeugwerke und die Flugmotorenwerke Ostmark in Wiener Neudorf angeführt,

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und musste in seinem Wehrpass eine vom »Wehrmeldeamt Wien 3« im 16. Bezirk ausgestellte »Wehrpassnotiz« mitführen, in der auf seine Tätigkeit verwiesen wurde   : »Sie stehen der Bedarfsstelle, für die Sie unabkömmlich gestellt sind, zur Verfügung und dürfen die Arbeit bei dieser Bedarfsstelle nicht ohne Einverständnis des zuständigen Arbeitsamtes u. Wehrbezirkskdos. aufgeben.«1553 Wie es ihrer Großmutter und ihrem Vater gelungen war, in Wien der nationalsozialistischen Verfolgungsmaschinerie zu entgehen, war Eidenberger nicht bekannt   : »Ich meine, irgendwann haben die ja angefangen, nicht nur Juden, sondern auch ›Halbjuden‹ zu deportieren. Wie sie das gemacht hat, dass sowohl sie als auch mein Vater eigentlich ungeschoren durch den Zweiten WeltAbb. 18  : Irene Ranftler und ihr Sohn Alfred Ende krieg gekommen sind, habe ich keine der 1930er-Jahre. 1554 Ahnung.« Auch in den Quellen ist kein Hinweis darauf zu finden. In der Ausgabe von 1939 wurde in Lehmann’s Wohnungs-Anzeiger zum letzten Mal ein Eintrag zu Margit Eidenbergers Urgroßmutter Helene Blödy, »Private«,1555 wohnhaft in der Wolfgang-Schmälzl-Gasse 14, veröffentlicht. Gemäß den Angaben ihres Sohns Alfred Blödy1556 lebte sie danach in Bratislava. Im Oktober 1941 wurde dort die Anordnung erlassen, die jüdische Bevölkerung zu vertreiben, um »Wohnund Geschäftsräume in der rasch wachsenden Hauptstadt zu gewinnen. Bis März 1942 mussten 6723 der in Bratislava lebenden 15.102 Juden die Stadt verlassen. Sie

siehe Arbeitsbuch Otto Ranftler, Eigentum von Margit Eidenberger. 1553 Wehrpassnotiz Otto Ranftler, datiert 18.2.1941, Eigentum von Margit Eidenberger. 1554 Interview mit Margit Eidenberger, S. 13. 1555 Siehe Lehmann’s, 1939, Geschäftsbetriebe und Hausparteien, Teil 4, S. 130, URL  : https  ://www. digital.wienbibliothek.at/wbrobv/periodical/pageview/2426034?query=bl%C3%B6dy (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1556 Siehe Gedenkblatt Helena Blody, Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem, datiert 22.6.1986, URL  : https  ://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=de&itemId=1387980&ind=1 (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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durften nur das Nötigste mitnehmen  ; ihr noch vorhandener Besitz wurde beschlagnahmt und später verkauft.«1557 Margit Eidenbergers Urgroßmutter gelangte schließlich in die westslowakische Stadt Trnava. Im Herbst 1941 wurden dort 1166 Jüdinnen und Juden, die davor in Bratislava gelebt hatten, registriert. Im März 1942 kam es zur Verschleppung von Mädchen und jungen Frauen von Trnava nach Auschwitz, im April folgten weitere Deportationen  : »Family deportations began in April with nearly 1,300 sent to Sered by 11 April, most to be deported to Majdanek and Lubartow in the Lublin dist. (Poland). Another 509 were deported to Auschwitz on 14 April and 212 to Opole on 21 April. In all, 82 % of the Jews were deported in 1942.«1558 Von Trnava wurde Helene Blödy mit dem Transport, der das Datum vom 17. April 19421559 trägt und am 21. April 1942 »abgegangen«1560 war, über die ­westslowakische Stadt Nováky1561 nach Lublin im besetzten Polen deportiert. Dort kam sie am 22. ­April 1942 an.1562 Auf der Transportliste sind neben der Nummer 386 der Name »Blödyová Helena«1563 sowie das Geburtsdatum 12. November 1872 vermerkt. Die 49 Transporte, die bis Ende Juni 1942 die Slowakei verließen, umfassten jeweils »etwa 1000 Menschen, die in Güterwaggons gepfercht wurden«.1564 Als letzte Adresse vor der Deportation von Eidenbergers Urgroßmutter findet sich Suchá 1 in Trnava.1565 1942 wurden insgesamt 57.628 Personen aus der Slowakei nach Auschwitz und in den Distrikt Lublin verschleppt  : »Die überlieferten Briefe aus den Gettos bei Lublin offenbaren das große Elend der Deportierten, bevor sie schließlich von dort in die Vernichtungslager der ›Aktion Reinhardt‹ transportiert 1557 Barbara Hutzelmann, Einleitung. Slowakei. In  : Heim u. a. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, S. 30. 1558 Spector/Wigoder (Hg.), The Encyclopedia of Jewish Life Before and During the Holocaust (Bd. 3), S. 1.332 f. 1559 Siehe Transportliste, Transport »Tirnau II« vom 17.4.1942, Archiv Yad Vashem, URL  : https  ://collections. arolsen-archives.org/archive/1-1-47-1_1369002/?p=1&doc_id=5161756 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1560 Transport Trnava und Nováky, Transportlisten deportierter Jüdinnen und Juden aus der ZentralSlowakei und der westlichen Slowakei, datiert 17.4.1942, 1.1.47.1/5161741, ITS Digital Archive, Arolsen. 1561 In Nováky war ein Sammel- und Durchgangslager für slowakische Jüdinnen und Juden eingerichtet worden. 1562 Siehe Datenbank Shoah-Opfer, DÖW, URL  : https  ://www.doew.at/personensuche?findall=&lang= de&shoah=on&firstname=helene&lastname=blody&birthdate=&birthdate_to=&birthplace=&resid ence=&newsearch=10&iSortCol_0=1&sSortDir_0=asc&lang=de&suchen=Suchen (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1563 Transport Trnava und Nováky. 1564 Hutzelmann, Einleitung. Slowakei, S. 34. 1565 Siehe Liste der im April 1942 von den westslowakischen Städten Trnava und Sered in den Distrikt Lublin deportierten Jüdinnen und Juden, Archiv Yad Vashem, URL  : https  ://yvng.yadvashem.org/ nameDetails.html?language=de&itemId=9114618&ind=1 (letzer Zugriff  : 30.12.2021).

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und ermordet wurden.«1566 Jüdinnen und Juden aus der Slowakei »waren die ersten, die in den Lagern Majdanek und Auschwitz-Birkenau ermordet wurden.«1567 Der Eintrag auf der Transportliste ist die letzte Spur von Helene Blödy. Im Archiv des staatlichen Museums Majdanek fand sich kein Hinweis auf ihren weiteren Verbleib  : »The transport was taken to Opole Lubelskie, where in the ghetto only part of them remained. From the five transports to Opole (totaling 4,302 deportees), only 1,400 Jews remained in the ghetto  ; the remainder were sent to labor camps in the area, for example Poniatowa camp, which finished it’s operation in November 1943 during execution codenamed ›Erntefest‹ and all Jews in the camp were shot.«1568 Auch Richard Blödy, der 1898 geborene Sohn von Helene, überlebte die Shoah nicht. Gemäß den Angaben seines Bruders Alfred1569 hatte er vor Beginn des Zweiten Weltkriegs mit seiner Ehefrau Rosa, die mit Mädchennamen Fischer hieß, in Šamorín gelebt. Die westslowakische Kleinstadt gehörte von 1938 bis 1945 zu Ungarn. Als letzte Adresse vor der Deportation wurde Ventúrska 11 in Bratislava angegeben.1570 Auf einer mit dem Datum vom 7. Juni 1942 versehenen Liste slowakischer Jüdinnen und Juden, die vor ihrer Deportation nach Polen in das Transitlager in der nordwestslowakischen Stadt Žilina gebracht worden waren, finden sich auch die Namen des Marktfahrers Richard Blödy und seiner Ehefrau Růžena Blödyová, deren Beruf mit »Haushalt«1571 angegeben wurde.1572 Gemäß den Zugangslisten des Konzentrationslagers Auschwitz wurde der »Arbeiter« Richard Blödy am 20. Juni 1942 »eingeliefert aus der Slowakei«.1573 Ihm wurde die Häftlingsnummer 40.084 zugeteilt. Zwei Wochen nach der Ankunft wurde er ermordet. Im Sterbezweitbuch des Standesamts Auschwitz ist vermerkt, dass Richard Blödy »am 4. Juli 1942 um 19 Uhr 40«1574 ver1566 Hutzelmann, Einleitung. Slowakei, S. 34. 1567 Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem, Die Ermordung der Juden des Balkans und der Slowakei, URL  : https  ://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/fate-of-jews/balkans-andslovakia.html (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1568 E-Mail Łukasz Myszala/Państwowe Muzeum na Majdanku an Verfasser, datiert 18.9.2020. 1569 Siehe Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer, Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem, URL  : https  ://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=de&itemId=1900993 &ind=1 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1570 Siehe Eintrag Nr. 13976/1942, Sterbezweitbuch Standesamt Auschwitz, datiert 9.7.1942, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.2.1/568422. 1571 Namentliche Listen slowakischer Juden, datiert 7.6.1942, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.47.1/ 5166981. 1572 Siehe Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer, Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem, URL  : https  ://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=de&itemId=5357843 &ind=1 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1573 Liste Zugänge vom 20.6.1942, Abteilung II Konzentrationslager Auschwitz, datiert 21.6.1942, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.2.1/494588. 1574 Eintrag Nr. 13976/1942, Sterbezweitbuch Standesamt Auschwitz.

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storben war. Als offizielle Todesursache wurde »Myocardinsuffizienz«1575 angegeben. Wie dem Buch zu entnehmen ist, war der Eintrag »auf schriftliche Anzeige des Arztes Doktor der Medizin Kreibich in Auschwitz vom 4. Juli 1942«1576 erfolgt. Im Zuge der Besetzung Österreichs und des Sudetenlands hatte das Regime auch den 1913 geborenen jüngsten Bruder, Alfred Blödy, verschleppt. Im Konzentrationslager Dachau wurde er im Zugangsbuch am 3. Juni 1938 unter der Nummer 15.240 als staatenloser Handelsangestellter aus Wien, wohnhaft zuletzt in der Wolfgang-Schmälzl-Gasse 14, registriert und in Block 24/2 untergebracht.1577 Unter dem Punkt »Art« wurde »Sch. J.«,1578 die Abkürzungen für »Schutzhäftling« oder »Schutzhaft« und »Jude«, eingetragen. Dreieinhalb Monate später, am 16. September 1938, kam er frei.1579 Im März 1941 befand sich Alfred Blödy in den slowakischen Orten Čemerné und Zohor, im Juni 1943 im Arbeits- und Konzentrationslager Sered im Westen der Slowakei. Sered diente als »Sammellager« für die weitere Deportation in die »Vernichtungslager«.1580 Im September 1944 nahmen die Nationalsozialisten die Verschleppung von Jüdinnen und Juden aus der Slowakei, die im Oktober 1942 eingestellt worden war, wieder auf  : »In mindestens elf Transporten wurden zwischen dem 30. September 1944 und 31. März 1945 etwa 12000 Juden zunächst – bis Anfang November 1944 – nach Auschwitz, später nach Theresienstadt, Sachsenhausen und Ravensbrück deportiert.«1581 Alfred Blödy wurde am 13. Oktober 1944 von Auschwitz nach Mieroszów in Niederschlesien überstellt. Dort war im September 1944 das Lager Friedland, ein Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen, in Betrieb genommen worden. Ihm wurde die Nummer 67.303 zugeteilt. Dem Transport gehörten 50 slowakische Häftlinge an. Als Beruf Blödys, dessen Inhaftierungsgrund »Jude«1582 lautete, wurde auf der Transportliste »Tischler« eingetragen.1583 Aus einer »Berufsliste« der im Außenlager Friedland eingesetzten 510 »jüdischen männlichen Häftlinge«1584 geht hervor, dass er Zwangsarbeit für die Firma »Fritz Schubert« leisten musste. 1575 Eintrag Nr. 13976/1942, Sterbezweitbuch Standesamt Auschwitz. 1576 Ebd. 1577 Siehe Zugangsbuch Konzentrationslager Dachau, datiert 3.6.1938, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.6.1/9892351. 1578 Veränderungsmeldungen Konzentrationslager Dachau, datiert 3.6.1938, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.6.1/9909263. 1579 Siehe Schreibstubenkarte Konzentrationslager Dachau, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.6.7/ 10618517. 1580 Siehe Korrespondenz T/D 403246, ITS Digital Archive, Arolsen, 6.3.3.2/99153439. 1581 Barbara Hutzelmann, Einleitung. Slowakei, S. 44. 1582 ITS an Regierungsbezirksamt für Wiedergutmachung Koblenz, datiert 14.2.1956, ITS Digital Archive, Arolsen, 6.3.3.2/99153444. 1583 Transportlisten Groß-Rosen, datiert 13.10.1944, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.11.1/136919. 1584 Berufsliste der im Außenlager Friedland eingesetzten 510 jüdischen Häftlinge, datiert 6.12.1944, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.11.1/136887.

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Alfred Blödy überlebte. Als Datum seiner Befreiung scheint der 8. Mai 1945 auf.1585 Sein Name wurde in das im Oktober 1945 vom »American Joint Distribution Committee« in Bratislava erstellte Register aufgenommen. Es enthält die Namen von Überlebenden der »antijewish persecution in Slovakia within the period of March 1939 until April 1945«,1586 die zum Zeitpunkt der Listenerstellung in der Slowakei aufhältig waren. Im Dezember 1945 verfasste das »Austrian Jewish Aid Committee« ein Verzeichnis von »Austrian Jews who returned from Concentrationcamps to Vienna/Austria«.1587 Die Namen von 2160 Personen, darunter Alfred Blödy, sind angeführt. Als Adresse wurde Wolfgang-Schmälzl-Gasse 14 angegeben. Dort war seine Herkunftsfamilie ab 1919 gemeldet gewesen. 1946 heiratete Blödy in zweiter Ehe Jolán Schön. 1949 emigrierte er nach Israel, wo er 1954 als Kaufmann in der Stadt Binyamina lebte.1588 1986 war Alfred Blödy seinen Angaben zufolge unter dem Namen A. Jaron beziehungsweise Avraham Yaron in der israelischen Stadt Haifa wohnhaft.1589 Im Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem finden sich Gedenkblätter, die von diesem Großonkel Margit Eidenbergers am 22. Juni 1986 ausgefüllt worden waren  : je eines für dessen 1917 geborene erste Ehefrau Irene und die 1943 geborene gemeinsame Tochter Ruth, die seinen Angaben zufolge beide 1944 in Auschwitz ermordet worden waren, sowie für seine Mutter Helene Blödy und die älteste Schwester Rosa. Gemäß den Angaben von Alfred Blödy hatte seine Schwester Rosa vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Meran und während des Kriegs in Florenz gelebt, war nach Auschwitz deportiert und ermordet worden, wie ihr Bruder zu diesem Zeitpunkt irrtümlicherweise glaubte.1590 Rosa Myler war am 17. Jänner 1938 nach Italien ausgewandert.1591 Als Wohnort vor ihrer Deportation scheint in den Quellen die Gemeinde San Donato Val di Comino in der italienischen Provinz Frosinone auf. Dort war sie ab Juli 1940 interniert. Unter den vom »Sicherheitsdienst des Reichsführers SS« in Rom zwischen Oktober

1585 Korrespondenz T/D 403246, datiert 2.12.1954, ITS Digital Archive, Arolsen, 6.3.3.2/99153441. 1586 Register of all persons saved from antijewish persecution in Slovakia, Bd. 1, datiert 15.10.1945, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.1.1.3/78817786. 1587 List of Austrian Jews who returned from various Concentration Camps to Vienna, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.1.1.3/78805258. 1588 Korrespondenz T/D 403246. 1589 Siehe Gedenkblatt Richard Blody, Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem, datiert 22.6.1986, URL  : https  ://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de&advancedSearch=true&sln_value=Yaron&sln_ type=synonyms&sfn_value=Avraham&sfn_type=synonyms (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1590 Siehe Gedenkblatt Rosa Miller, Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem, datiert 22.6.1986, URL  : https  ://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de&s_lastName=bl%C3%B6dy&s_firstName =rosa&s_place=&s_dateOfBirth=&cluster=true (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1591 Siehe Antrag Rosa Myler an Hilfsfonds, datiert 15.11.1956, ÖStA, AdR, AHF, Zl. 28.589.

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1943 und Juni 1944 festgenommenen Jüdinnen und Juden befand sich auch Rosa Myler. Sie wurde von der deutschen Bürokratie als Rosa Blodi, geboren am 27. Dezember 1894 in Wien, registriert. Eine vom »Kommando Rom« des »Sicherheitsdiensts« erstellte Liste mit Namen von jüdischen Personen, die in das »Durchgangslager« Fossoli bei Carpi in der Provinz Modena gebracht werden sollten, enthält ihren Namen.1592 Am 9. April 1944 erfolgte die Verschleppung nach Fossoli und in den darauffolgenden Wochen1593 nach Auschwitz,1594 wo ihr die Häftlingsnummer A 53871595 zugeteilt wurde. Auf einem weiteren Gedenkblatt ist vermerkt, dass sie nach der Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Auschwitz lebend gesehen worden war  : »Visto dopo la liberazione a Osviecim.«1596 Ein in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre erstelltes Verzeichnis von aus Italien deportierten Personen enthält den Namen Rosa Myler sowie den Vermerk »veduta in vita ad Auschwitz dopo la liberazione.«1597 Vom polnischen Roten Kreuz wurde nach der Befreiung der Name Rosa Myler in ein Register von Überlebenden aufgenommen.1598 1977 informierte Rosa, die älteste Schwester der Großmutter von Margit Eidenberger, den Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes, dass sie zwischen 25. Jänner 1945 und Oktober 1945 in einem Spital in der südpolnischen Stadt Katowice behandelt worden war.1599 Sie hatte überlebt und war nach Turin gezogen. Ihr geschiedener Ehemann Joy Myler hatte in Wien vor seiner Verschleppung im zweiten Bezirk in der Blumauergasse 5 gewohnt.1600 Er wurde am 27. Juli 1942 mit dem 1000 Personen umfassenden Transport »AAu« von Prag nach Theresien1592 »Judenliste« des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD in Italien für den Abtransport nach Fossoli bei Carpi, undatiert, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.47.1/5156956. 1593 In den Quellen finden sich 23.5.1944 und Juni 1944 als Zeitpunkt der Einlieferung in Auschwitz, siehe Korrespondenz T/D 885019, ITS Digital Archive, Arolsen, 6.3.3.2/107957212. 1594 Siehe Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer, Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem, URL  : https  ://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=de&itemId=7080583 &ind=1 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1595 Siehe AdWLR an ITS, datiert 7.8.1962, 6.3.3.2/107957205, ITS Digital Archive, Arolsen. 1596 Siehe Gedenkblatt Rosa Myler, Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem, undatiert, URL  : https  :­­ //yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=de&itemId=939462&ind=1 (letzter Zugriff  : 21. 10.2021). 1597 Deportierte aus Italien und verwandte Informationen, Comitato richerche deportati ebrei, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.14.1/459855. 1598 Verzeichnis Überlebender nach der Befreiung von Auschwitz, Polski Czerwony Krzyż, undatiert, ITS Digital Archive, Arolsen, 1.1.2.1/517550. 1599 Rosa Myler an das Informationsamt Arolsen, datiert 15.6.1977, ITS Digital Archive, Arolsen, 6.3.3.2/107957202. 1600 Siehe Wissenschaftliche Buchhandlung Minerva an Dienststelle für verfallene Vermögenswerte Berlin, datiert 19.6.1942, ÖStA, AdR, Zl. 11.712.

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stadt verschleppt und am 12. Oktober 1944 mit dem Transport »Eq«, dem 1500 Frauen, Männer und Kinder zugeteilt worden waren, weiter nach Auschwitz. Dort traf er am 14. Oktober ein. Joy Myler wurde ermordet  :1601 »In Auschwitz in Gaskammer umgekommen.«1602 Wenige Tage vor seiner Deportation aus Wien hatte die im ersten Bezirk in Wien ansässige »Wissenschaftliche Buchhandlung Minerva« bei der »Dienststelle für verfallene Vermögenswerte« in Berlin eine »Forderung gegen verfallene Vermögen des Juden«1603 Myler in Höhe von 420,14 Reichsmark geltend gemacht. Über den Verbleib der anderen Geschwister von Margit Eidenbergers Großmutter fanden sich in den zur Verfügung stehenden Quellen keine Angaben. Ob die 1896 geborene Schwester Olga, der 1902 geborene Bruder Max und die 1909 geborene Schwester Grete die Shoah überlebt haben, ließ sich nicht feststellen, auch nicht, unter welchen Umständen die Schwestern Sidonie, Elise und Hermine der nationalsozialistischen Verfolgungsmaschinerie entkommen waren. 2.9.3 Eidenbergers Vorfahren nach 1945 Am 23. August 1947 heirateten die Großeltern väterlicherseits von Margit Eidenberger in der katholischen Pfarrkirche Heiliger Geist in Wien auch kirchlich.1604 Eidenbergers Vater Alfred Ranftler absolvierte eine Lehre zum Buchdrucker. Er trat zunächst der »B-Gendarmerie«, einer Vorgängerorganisation des österreichischen Bundesheers, bei und arbeitete dann bis zu seiner Pensionierung als Beamter im öffentlichen Dienst. In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre begann Ranftler, nachdem er die Externisten-Matura für Beamte abgelegt hatte, ein Studium der Staatswissenschaften in Wien, das er nicht abschloss.1605 Die älteste Schwester der Großmutter von Margit Eidenberger, Rosa Myler, kehrte nach ihrer Genesung nach Italien zurück. Sie lebte zumindest von 19561606 bis zu ihrem Tod »allein«1607 als Hausfrau in Turin und bezog eine öffentliche Wohlfahrtsunterstützung, die 1956 ihren Angaben zufolge monatlich 3000 Lire ausmach1601 Siehe Karteikarte Joy Myler, Transportkartei Getto Theresienstadt, zit. n. Arolsen, URL  : https  ://collec tions.arolsen-archives.org/archive/5068087/?p=1&s=joj%20myler&doc_id=5068087 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1602 Antrag Rosa Myler an Hilfsfonds, datiert 15.11.1956, ÖStA, AdR, AHF, Zl. 28.589. 1603 Siehe Wissenschaftliche Buchhandlung Minerva an Dienststelle für verfallene Vermögenswerte Berlin. 1604 Taufbuch Neuottakring, URL  : https  ://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/wien/16-neuottakring/ 01-08/?pg=310 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1605 Siehe Zeugnisse und Dokumente aus dem Nachlass von Otto Ranftler, Eigentum von Margit Eidenberger und Interview mit Margit Eidenberger, S. 3. 1606 Siehe Bescheid AdWLR, datiert 2.3.1956, ÖStA, AdR, AHF, Zl. 28.589. 1607 Antrag an Hilfsfonds, datiert 15.11.1956, ÖStA, AdR, AHF, Zl. 28.589.

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te.1608 Im August 1956 beantragte Myler beim Amt der Wiener Landesregierung die Auszahlung einer Opferrente. Ihr »Ansuchen um Anerkennung als Opfer im Sinne des Opferfürsorgegesetzes vom 4. Juli 1947«1609 wurde mit der Begründung, dass die Frist für die Ausstellung der dafür notwendigen Amtsbescheinigung und des Opferausweises mit 31. Dezember 1952 abgelaufen war, abgewiesen.1610 Im November 1956 füllte sie einen Antrag an den Hilfsfonds aus. Darin geht sie auf die körperlichen Qualen, die ihr zugefügt worden waren, ein  : »Bin gesundheitlich sehr geschädigt. […] Halb blind durch Experimente an den Augen, die ich in Auschwitz erlitt.«1611 In einem handschriftlich verfassten Brief ersucht sie im Juni 1957 erneut um eine Hilfeleistung  : »An meiner Gesundheit Abb. 19  : Irene Ranftler und ihr Sohn Alfred in den schwer geschädigt, und bis heute schwer 1950er-Jahren. leidend, bitte ich mich in den Reihen der Hilfsbedürftigen einzureihen.«1612 Ein Jahr später, im November 1957, erhielt sie ein Schreiben des Hilfsfonds  : »Nach einer Meldung der Polizeidirektion Wien waren sie seit dem Jahre 1928 jeweils immer nur auf relativ kurze Zeit in Wien gemeldet. Insbesondere wird uns mitgeteilt, dass Sie am 31. Dezember 1937 – von Italien kommend – nach Wien eingereist, aber bereits wieder am 17.1.1938 nach Italien abgereist sind. Wir müssen deshalb annehmen, dass Sie Ihren ständigen Wohnsitz und Aufenthalt nicht in Österreich, sondern in Italien hatten, fragen aber trotzdem bei Ihnen an, welchen Verfolgungsmassnahmen Sie zwischen dem 31.12.1937 und dem 17.1.1938 (ca. 14 Tage) ausgesetzt waren, die Sie schliesslich veranlasst haben, bereits am 17. Jänner 1938 zum Daueraufenthalt nach Italien zurückzukehren.«1613 In ihrem Antwort-

1608 Siehe Antrag an Hilfsfonds, datiert 15.11.1956. 1609 Bescheid AdWLR, datiert 2.3.1956, ÖStA, AdR, AHF, Zl. 28.589. 1610 Siehe Ebd. 1611 Antrag Rosa Myler an Hilfsfonds, datiert 15.11.1956, ÖStA, AdR, AHF, Zl. 28.589. 1612 Rosa Myler an Hilfsfonds, datiert 9.6.1957. 1613 Hilfsfonds an Rosa Myler, datiert 7.11.1957.

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schreiben vom April 1958 verweist Rosa Myler darauf, in Auschwitz gewesen zu sein und »alles«1614 überlebt zu haben. Wäre sie in Wien »erwischt«1615 worden, hätte sie die Hilfe des österreichischen Staats nicht mehr nötig, weil sie nicht mehr am Leben wäre  : »Es waren die selben Leute, die mich in Italien verfolgten – mir Schäden an Leib und Seele zufügten, ist das nicht dasselbe  ?«1616 Im Mai 1958 fasste die Zuerkennungskommission des Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz und ständigen Aufenthalt im Ausland haben, den Beschluss, den Antrag von Rosa Myler nicht einzureihen  : »Nach § 3 der Statuten können nur Personen Zuwendungen erhalten, die in der Zeit zwischen dem 5.3.1933 und dem 8.5.1945 aus politischen Gründen verfolgt wurden und ausgewandert sind. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass die Auswanderung und der damit verbundene Auslandsaufenthalt in kausalem Zusammenhang mit der politischen Verfolgung stehen muss. […] Da die Antragstellerin in Österreich nicht verfolgt wurde, kann ihre Einreihung nicht erfolgen.«1617 Im April 1959 wurde ihr vom Hilfsfonds dennoch eine »einmalige Abfertigung«1618 in Höhe von 19.000 Schilling überwiesen. Das Kuratorium des Hilfsfonds hatte diese Entscheidung »mit Rücksicht auf die besonderen Umstände des Falles«1619 getroffen. Myler musste mit ihrer Unterschrift bestätigen, »von der Rentenfürsorge nach dem Opferfürsorgegesetz ausgeschlossen«1620 zu sein, um Leistungen aus dem Hilfsfonds beziehen zu können. Im Juli 1962 stellte Rosa Myler, die nach wie vor die österreichische Staatsbürgerschaft besaß,1621 einen Antrag an den Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter in Wien. Darin erwähnte sie auch ihre 1901 geborene Schwester Elise Prager, die zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Ehemann Alois Prager in der Taborstraße 100 im zweiten Bezirk in Wien wohnte, sowie ihre jüngste Schwester Hermine Laubheimer, die in der Kampstraße 13 ebenfalls im zweiten Bezirk lebte.1622 Myler gab unter Punkt »C. Bargeld« an, dass 1943, während ihrer Gefangenschaft im Gefängnis in Rom, 300.000 Lire aus ihrem Besitz konfisziert worden seien  : »Mein Hab und Gut blieb zurück, wo ich interniert war. Bei Rückkehr fand ich nichts mehr. Die SS gab keine Bestätigung. Andere mit mir Eingelieferte sind ver1614 Rosa Myler an Hilfsfonds, datiert 12.4.1958. 1615 Ebd. 1616 Ebd. 1617 Beschluss Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz und ständigen Aufenthalt im Ausland haben (Hilfsfonds), datiert 21.5.1958, ÖStA, AdR, AHF, Zl. 28.589. 1618 Rosa Myler an Hilfsfonds, datiert 18.4.1959. 1619 Mitteilung Hilfsfonds, datiert 27.3.1959. 1620 Rosa Myler an Hilfsfonds, datiert 23.4.1959. 1621 Staatsbürgerschaftsnachweis, datiert 18.1.1962, ÖStA, AdR, ABGF, Zl. 7.875. 1622 Wie diese beiden Schwestern der Großmutter von Margit Eidenberger die Shoah überlebt hatten, geht aus den zur Verfügung stehenden Quellen nicht hervor.

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nichtet worden. Vor der Internierung konnte ich einen Betrag durch Verkauf von Wäsche, die ich erzeugte, erlangen, da mir die Behörden 8 Tage Zeit ließen. Das Geld war für die Emigration nach Amerika bestimmt.«1623 Vom Abgeltungsfonds wurde ihr keine Zuwendung gewährt, da sie kein »schriftliches Beweismaterial aus der Zeit der Konfiskation«1624 vorgelegt habe »und die Antragstellerin dazu nicht in der Lage ist«.1625 Am 3. Dezember 1962 wurde Hermine, die 1911 geborene Schwester von Margit Eidenbergers Großmutter, mit Erich Adolf Kurt Jenschke getraut. Am 8. April 1968 starb in Wien Otto Ranftler, Margit Eidenbergers Großvater väterlicherseits, der »sehr krank war, immer schon«.1626 Hermine Jenschke verstarb im Herbst 1975 und wurde am 27. November 1975 in Wien begraben.1627 1977 füllte Rosa Myler einen an den Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte in Wien gerichteten Antrag aus, auf dem sie angab, 40 Monate lang in San Donato Val di Comino interniert, zehn Monate lang in Auschwitz inhaftiert und von April 1944 bis Oktober 1945 im Spital gewesen zu sein  : »Körpergewicht 32 Kilo«.1628 Sie führte ins Treffen, aufgrund der erlittenen Misshandlungen eine Gesundheitsschädigung davongetragen zu haben und in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt gewesen zu sein  : »Brachte mich mit Nähen fort. Seit Jahren der Augen wegen verhindert.«1629 Am 8. November 1977 wurde ihr vom Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte eine Aushilfe in Höhe von 15.000 Schilling überwiesen.1630 Im Jänner 1979 fragte Myler an, »ob eine weitere Hilfe möglich ist«.1631 Sie verwies auf ihre 1900 geborene Schwester Sidonie Ehrenworth und ihren Bruder Alfred Jaron, die beide »einen Betrag erhalten«1632 hätten. Das Kuratorium des Hilfsfonds erklärte ihr daraufhin, nicht vor Ende Juni 1979 entscheiden zu können, »ob, wann und in welcher Höhe eine 2. Zahlung möglich sein wird.«1633 Im August teilte ein Turiner Arzt dem Hilfsfonds mit, dass die 84-jährige Rosa Myler krank sei und im Spital Molinette in Turin behandelt würde.1634 Am 18. August 1979 starb »Frau Rosa Myler 1623 Antrag Rosa Myler an Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter, datiert 26.7.1962, ÖStA, AdR, ABGF, Zl. 7.875. 1624 Beschluss Fonds zur Abgeltung von Vermögensverlusten politisch Verfolgter, datiert 6.9.1962. 1625 Ebd. 1626 Interview mit Margit Eidenberger, S. 14. 1627 Verstorbenensuche Friedhöfe Wien, URL  : https  ://www.friedhoefewien.at/verstorbenensuche (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1628 Antrag an Hilfsfonds, datiert 28.10.1977, ÖStA, AdR, NHF II, Zl. 24.760. 1629 Ebd. 1630 Siehe Zahlungsanweisung, datiert 8.11.1977. 1631 Rosa Myler an Hilfsfonds, datiert 23.1.1979. 1632 Ebd. 1633 Hilfsfonds an Rosa Myler, datiert 2.2.1979. 1634 Siehe Medico Chirurgo Giuseppe Weiß an Hilfsfonds, datiert 10.8.1979.

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Blody«.1635 Am 14. September 1979 wurde eine weitere Aushilfe in Höhe von 14.000 Schilling angewiesen1636 und am 12. Dezember 1979 mit dem Vermerk »beneficiary unknown«1637 rückgebucht. 2.9.4 Ende des Schweigens Am 3. April 2002 verstarb Irene Ranftler, Margit Eidenbergers Großmutter väterlicherseits, am 16. September 2011 auch »sehr überraschend«1638 ihr Sohn Alfred Ranftler und drei Monate danach dessen zweite Ehefrau Helga. Im Haus der Eheleute in Guntramsdorf im niederösterreichischen Bezirk Mödling stieß Eidenberger auf Mappen mit Dokumenten  : »Dann haben wir die ganzen Sachen nach Steyr gebracht und dann habe ich mich an einigen verregneten Wochenenden da hingesetzt und einmal angefangen, das durchzuschauen. Und dann kamen da alle möglichen Dokumente zum Vorschein, die man halt so hat.«1639 Ihr Vater war ein Einzelkind gewesen und hatte die Bestattung seiner Mutter, die am 16. April 2002 begraben worden war, veranlasst. Dennoch befanden sich in den Mappen keinerlei Unterlagen über die Großmutter  : »Ich habe ganz viele Dokumente gefunden, […] den Geburts- und Taufschein und was weiß ich von der Seite, die in Richtung des Großvaters geht, von seinem Vater, und nichts, absolut nichts, von meiner Großmutter, was schon deshalb irgendwie eigenartig war, weil er ja das Begräbnis organisiert hat.«1640 Eidenberger entdeckte schließlich auf dem Taufschein ihres Vaters den Mädchennamen ihrer Großmutter, Blödy. Während eines Spazierganges sprach sie mit ihrer Mutter darüber. Diese habe zunächst erstaunt reagiert  : »Und dann sagt die Mutti darauf  : ›Ja, hast du das nicht gewusst  ?‹ Sage ich  : ›Was habe ich nicht gewusst.‹ – ›Ja die Oma.‹ Sage ich  : ›Was mit der Oma  ?‹ Na ja, also da ist eben die Geschichte, meine Eltern waren irgendwie jung verheiratet, und dann hat es irgendeine Auseinandersetzung gegeben zwischen meiner Großmutter und meiner Mutter. Und der Papa greift irgendwie kalmierend ein und sagt  : ›Na ja, du musst ein bisschen nachsichtig sein mit der Oma, mit der Mama oder wie auch immer, weil sie hat ja viel mitgemacht in ihrem Leben.‹«1641 In ihrer Kindheit und Jugend hatten Margit Eidenberger und ihre Schwester Irene die Großmutter wöchentlich besucht, um bei ihr zu essen. Über die Zeit der 1635 Ospizio Israelitico di Torino an Hilfsfonds, datiert 6.2.1980. 1636 Siehe Zahlungsanweisung an Rosa Myler, datiert 14.9.1979. 1637 Rückbuchung, datiert 12.12.1979. 1638 Interview mit Margit Eidenberger, S. 1. 1639 Ebd., S. 3. 1640 Ebd., S. 5. 1641 Ebd., S. 12.

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nationalsozialistischen Diktatur habe die Oma bei diesen Gelegenheiten nicht viel erzählt  : »Nein, also  : ›Ich habe diese Geschwister, wir waren viele Kinder‹. Ja, aber das war normal in der damaligen Zeit. Und eben  : ›Die Verhältnisse waren schlecht und deswegen sind dann ein paar ausgewandert.‹ Aus.«1642 Eidenberger erinnert sich, dass ihre Großmutter hin und wieder über ihre Familie gesprochen hatte  : »Die Oma hat schon erzählt von ihren Geschwistern, einer ist nach England gegangen, aber du ordnest das, wenn du 12 Jahre alt bist, du ordnest das ja nicht ein, ich meine, der ist halt nach England gegangen, mein Gott, und einer ist nach Israel gegangen. Und einer war einmal auf Besuch, da war ich aber allein daheim als junges Mädchen. Und dann läutet irgendjemand an der Tür, und ich mach auf, und da steht ein Mann draußen, den ich in meinem Leben noch nie gesehen habe, und der erklärt, er ist der Bruder meiner Großmutter und er kommt uns jetzt besuchen. Und, na ja, was tust du als ordentlich erzogenes junges Mädchen  ? Ich meine, das kann ja bald jemand behaupten, sagst  : ›Entschuldigung, aber ich kenne Sie nicht und ich lasse Sie jetzt da sicher nicht hinein.‹ Dann habe ich den Menschen auch nie wieder gesehen.«1643 In der Folge stellte Margit Eidenberger keine weiteren Nachforschungen über die Geschichte ihrer Herkunftsfamilie an  : »Ich bin nirgendwo hingegangen und habe nichts weiter geforscht. Ich habe es nicht so weit getrieben, dass ich sage, ich muss da jetzt, keine Ahnung, in den Kirchenakten nachschauen oder sonst noch wo, in Holíč irgendetwas auftreiben, weil es war irgendwie sehr eine aufwühlende Zeit, und dann redest mit allen möglichen darüber, eben mit meiner Schwester und mit meinem Mann, und irgendwann habe ich es einfach dann so, es ist, wie es ist, und ich habe es dann akzeptiert, und es verändert mich ja auch nicht. Ich bin sowieso wer ich bin, aber trotzdem, du kommst ins Nachdenken, und habe gesagt  : ›Ok, das ist es jetzt und da lasse ich es jetzt dabei.‹ Ich hebe das auf. Meine Schwester zum Beispiel hat gesagt, das interessiert sie alles nicht, die ganzen Dokumente. Und was meine Kinder einmal damit machen, wenn ich selber sterbe oder gestorben bin, das ist dann denen ihre Sache.«1644 Margit Eidenbergers Schwester habe sich nicht für die Dokumente und die Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren interessiert  : »Die Dokumente sind ihr völlig egal, wobei das jetzt nicht an den Dokumenten im Speziellen liegt, an solchen Dingen liegt ihr prinzipiell nichts. Ich habe mich immer schon für Geschichte interessiert und sie geht halt einen anderen Weg und hat gesagt  : ›Ok, wenn du das hast, dann ist das recht und passt für mich.‹ Aber, mein Gott, wenn ich sie nicht habe, ich brauche sie nicht.«1645 1642 Interview mit Margit Eidenberger, S. 11. 1643 Ebd., S. 12. 1644 Ebd., S. 9–12. 1645 Ebd., S. 19.

Ursula Aistleitner  : »Sie wollten mich damit nicht belasten«

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Dass ihr Vater nicht mit ihr über seine jüdischen Vorfahren gesprochen hatte, erklärt sich Eidenberger damit, »dass er sich für etwas geniert hat, wo er weder etwas dazu beigetragen hat noch etwas dafürkann. Das war halt seine Strategie damit umzugehen. Und je weniger davon wissen, umso besser und umso leichter lässt sich mit diesem Problem umgehen, glaube ich.«1646 Sie würde sich wünschen, mit ihm über das Verschweigen dieses Teils der Familiengeschichte sprechen zu können  : »Das hätte ich schon noch gerne gemacht. Wenn es da irgendwie so eine Zeitmaschine gäbe, […] die Frage hätte ich gerne gestellt oder würde ich noch stellen. […] Es gab die schwierigen Jahre, und wie sie durch den Krieg gekommen sind, aber nachher, dann in den 80er-, 90er-Jahren, ich meine, da war ja kein Grund mehr eigentlich, mitten in Österreich.«1647

2.10 Ursula Aistleitner    : »Sie wollten mich damit nicht belasten« 1648 Während ihrer Jugend versuchte die am 24. April 1958 in Linz geborene Ursula Aistleitner zunächst vergeblich, Informationen über ihren leiblichen Vater Misiu Lazarovitz,1649 dessen Name in jüngeren Quellen mit Michael Lasarowitsch angegeben wird, zu erlangen  : »Und dann auf einmal hat es geheißen, er hat jüdische Abstammung.«1650 Aistleitner wuchs im Kinderdorf St. Isidor in Leonding im Bezirk Linz-Land auf. Weitere Auskünfte habe sie damals nicht erhalten, weder von ihrer Ziehmutter im Kinderdorf noch von Verwandten  : »Sie wollten mich damit anscheinend nicht belasten.«1651 Auch ihre leibliche Mutter, die, wie Aistleitners Vater, psychisch krank gewesen sei, habe ihr »viel zu wenig gesagt.«1652 Als Erwachsene begann Ursula Aistleitner zu recherchieren  : »Es hat schon gebohrt in mir, weil ich wollte einfach wissen, wo meine Wurzeln liegen.«1653 Dass ihr Vater in Rumänien auf die Welt gekommen war, die Shoah unter ungeklärten Umständen überlebt und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Oberösterreich ihre Mutter kennengelernt hatte, habe sie »erst viel später erfahren«,1654 Jahre nach 1646 Interview mit Margit Eidenberger, S. 8. 1647 Ebd., S. 16. 1648 Interview mit Ursula Aistleitner, Transkript S. 6. 1649 In der ältesten schriftlichen Quelle, die zur Verfügung steht, scheint diese Schreibweise des Namens auf, siehe Antrag auf Unterstützung PCIRO Misiu Lazarovitz, IRO Kapfenberg, datiert 8.12.1947. 1650 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 6. 1651 Ebd. 1652 Ebd., S. 15. 1653 Ebd., S. 12. 1654 Ebd., S. 1.

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dessen Tod am 16. März 1979. Aistleitner absolvierte nach ihrer Schulzeit eine Ausbildung zur Stationsgehilfin im Krankenhaus in Vöcklabruck. Nach der Erziehung und Betreuung ihrer drei in den 1980er-Jahren geborenen Kinder begann sie, in einem Blumengeschäft zu arbeiten. Bei ihren Recherchen, die sich über Jahre erstreckten, bekam sie Unterstützung von ihrem Ehemann, einem Gymnasialprofessor. 2.10.1 Leben von Aistleitners Vater bis 1958 Der Name von Ursula Aistleitners Vater taucht in den Quellen in unterschiedlichen Versionen auf  : In den ältesten zur Verfügung stehenden Dokumenten findet sich die Schreibweise Misiu Lazarovitz. Auf einem Antragsformular, das 1947 ausgefüllt wurde und den Vornamen Misiu sowie den Nachnamen Lazarovitz aufweist, unterschrieb Aistleitners Vater selbst mit »Lazarovitz«.1655 In den jüngeren Quellen scheint am häufigsten Michael Lasarowitsch auf. Diese Art, den Namen zu schreiben, wurde auch von den österreichischen Behörden in den 1970er-Jahren verwendet.1656 Daneben finden sich auch der Vorname Michal sowie die Nachnamen Lasarowits, Lazarowicz und Lazarowitsch.1657 Die Angaben zum Geburtsdatum differieren ebenfalls  : Das auf dem ältesten Dokument verzeichnete Datum lautet auf den 24. Dezember 1923. In anderen Quellen scheinen auch der 6. Februar 1924 und vor allem der 6. Dezember 1924 auf.1658 1947 wurde der Vater von Ursula Aistleitner von der für Kapfenberg in der Steiermark zuständigen Stelle der Internationalen Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen als Misiu Lazarovitz, geboren am 23. Dezember 1923, registriert, 1950 von der für Linz zuständigen Stelle als Michael Lazarovits, geboren am 6. Dezember 1924.1659 Auf einem 1950 ausgefüllten Antragsformular der Vereinten Nationen, das mit »Mental Case« überschrieben wurde, scheint als Geburts- und Aufenthaltsort der letzten zehn Jahre Bukarest auf.1660 Nach einer Befragung durch einen Vertreter der Internationalen Flüchtlingsorganisation, die Ende Dezember 1949 in Bad Ischl stattgefunden hatte, wurde protokolliert, dass Misiu Lazarovitz als Sohn einer jüdisch1655 Siehe Antrag auf Unterstützung PCIRO, Misiu Lazarovitz, IRO Kapfenberg, datiert 8.12.1947, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2.1.3/80719894. 1656 Siehe exemplarisch Bescheinigung der Flüchtlingseigenschaft, BPDion Linz, datiert 2.10.1975, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1657 Siehe Auszug aus DP-Meldeunterlagen, datiert 10.3.1966, ITS Digital Archive, Arolsen, 6.3.3.2/ 87306702. 1658 Siehe exemplarisch Bescheinigung der Flüchtlingseigenschaft. 1659 Siehe Office of the High Commissioner for Refugees, Interoffice Memorandum, datiert 9.12.1957, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2.1.3/80719905. 1660 Antrag auf Unterstützung PCIRO Michael Lazarovits, IRO Linz, datiert 4.4.1950, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2.1.3/80719895.

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rumänischen Familie zur Welt gekommen war und zwei Schwestern sowie einen Bruder hatte. Auf einer 1958 angelegten Karteikarte der Israelitischen Kultusgemeinde Linz ist der Vorname des Vaters von Misiu Lazarovitz mit Lazar vermerkt und jener der Mutter mit Renée.1661 Der Mädchenname der Mutter lautete Goldenberg. Den 1949 protokollierten Aussagen zufolge verstarb der Vater 1930. Misiu Lazarovitz besuchte in Bukarest die Volks- und die Mittelschule.1662 Den Zweiten Weltkrieg überlebte er gemäß den Quellen aus den Jahren 1947 und 1949 in Rumänien  : »During the war he had to work in factories.«1663 Aus den 1947 verschriftlichten Angaben geht hervor, dass Ursula Aistleitners Vater von 1940 bis 1944 Zwangsarbeit im rumänischen Landesteil Moldau leisten musste  :1664 »Die Zwangsarbeitslager für Juden wurden im September 1944 aufgelöst.«1665 Zum Verbleib der anderen Familienmitglieder finden sich keine Angaben. Das 1944 gestürzte Regime des rumänischen Diktators Ion Antonescu, das mit der NS-Diktatur verbündet gewesen war, wird für die Ermordung von bis zu 400.000 Jüdinnen und Juden verantwortlich gemacht.1666 Nicht die gesamte jüdische Bevölkerung Rumäniens war unmittelbar von der Verschleppung in nationalsozialistische Konzentrationslager betroffen  : »Das Kriterium für die Deportation war rein geographisch  : In einigen Provinzen wurden die Juden vollständig deportiert, in anderen Landesteilen nicht. Diejenigen, die überlebten, erlitten Entrechtung und Ausplünderung.«1667 1947 gab Misiu Lazarovitz an, von 1944 bis 1947 studiert zu haben. 1949 wurde protokolliert, dass er eineinhalb Jahre lang Medizin-Student gewesen sei  : »After the end of the war he started to study medicine. In 1946 he was called to military duty, but after 6 months he deserted and went to Austria.«1668 Auf dem im Dezember 1947 ausgefüllten Antragsformular ist vermerkt, dass Lazarovitz bis Mai 1947 in Bukarest gelebt und wegen der schlechten Lebensbedingungen sowie der »Lust«,1669 nach Palästina auszuwandern, Rumänien verlassen hatte. Diesem Formular ist des Weiteren zu entnehmen, dass er neben seiner Muttersprache Rumänisch auch mäßig Jiddisch 1661 Karteikarte Michael Lasarowitsch, IKG Linz, datiert 12.3.1958, Eigentum IKG Linz. 1662 Antrag auf Unterstützung PCIRO Misiu Lazarovitz, IRO Kapfenberg, datiert 8.12.1947. 1663 Record of Interview, IRO, datiert 28.12.1949, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2.1.3/80719897. 1664 Siehe Antrag auf Unterstützung PCIRO Misiu Lazarovitz, IRO Kapfenberg. 1665 Mariana Hausleitner, Einleitung. Rumänien. In  : Heim u. a. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, S. 73. 1666 Siehe Die Ermordung der rumänischen Juden, Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad V ­ ashem, URL  : https  ://www.yadvashem.org/de/holocaust/about/final-solution-beginning/romania.html#nar rative_info (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1667 Glass, Minderheit zwischen zwei Diktaturen, S. 301. 1668 Record of Interview, IRO, datiert 28.12.1949, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2.1.3/80719897. 1669 Antrag auf Unterstützung PCIRO, Misiu Lazarovitz, IRO Kapfenberg, datiert 8.12.1947.

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sprechen, lesen und schreiben konnte.1670 1950 wurde festgehalten, dass er auch fließend Deutsch und mäßig Französisch beherrschte.1671 Warum Ursula Aistleitners Vater versucht hat, in Österreich Fuß zu fassen, ließ sich nicht zweifelsfrei feststellen. Die Lebensbedingungen für Jüdinnen und Juden im Rumänien der Nachkriegszeit könnten eine Rolle gespielt haben  : »Die Ausgrenzung des jüdischen Bevölkerungsteils aus dem wirtschaftlichen und sozialen Leben des Landes, die Erfahrung von Deportation, Erniedrigung und Gewalt, der Verlust von Familien und Freunden, von Hab und Gut, all dies bewirkte bei vielen Betroffenen eine tiefe Entfremdung gegenüber dem rumänischen Staat und der sie umgebenden nicht-jüdischen Mehrheit.«1672 Misiu Lazarovitz gab an, zunächst in Wien und Admont im Norden der Obersteiermark gelebt zu haben. Dort war nach Kriegsende ein Lager für »Displaced Persons« eingerichtet worden. Am 8. Dezember 1947 wurde er erstmals von der für Kapfenberg zuständigen Stelle der IRO registriert. In Admont arbeitete er in der Lager-Werkstatt.1673 Von der Obersteiermark wurde er eigenen Angaben zufolge nach Graz ins Krankenhaus verlegt. Der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen entnahm aus den Meldeunterlagen für »Displaced Persons« folgende Aufenthaltsdaten von Ursula Aistleitners Vater  : »am 8. Dezember 1947 im DP-Lager Admont/Österreich  ; am 18. März 1948 im DP-Lager Asten bei Linz  ; am 18. März 1949 im DP-Lager Schloß Hellbrunn/ Salzburg  ; am 24. Juni 1949 in Salzburg, Reichenhallerstraße 13  ; am 22. Oktober 1949 im DP-Lager Ebelsberg  ; am 22. Februar 1950 in Salzburg, Faberstraße 11  ; am 31. März 1950 und 4. April 1950 im DP-Sanatorium Bad Ischl/Österreich«.1674 Entsprechend einer auf den Raum Linz bezogenen Aufstellung,1675 die vom 22. Oktober 1949 datiert und mit »Psychiatrie« überschrieben ist, war Misiu Lazarovitz zu diesem Zeitpunkt im Lager in Ebelsberg registriert. Gemäß einer Liste über Krankenbewegungen in österreichischen Spitälern,1676 die den Stand von Dezember 1949 widerspiegelt, wurde er am 29. September 1949 im Sanatorium für »Displaced Persons« in Bad Ischl aufgenommen. In der für die Diagnose vorgesehenen Spalte ist »Schizophrenie« angeführt, in der mit »Lager« überschriebenen Spalte »S« als Abkürzung für »Salzburg«. Entlassungsdatum wurde keines angegeben. In der Spalte »Tage« findet sich der Eintrag »31«. 1670 Siehe Antrag auf Unterstützung PCIRO, Misiu Lazarovitz, IRO Kapfenberg. 1671 Siehe Antrag auf Unterstützung PCIRO, Michael Lazarovits, IRO Linz, datiert 4.4.1950. 1672 Glass, Minderheit zwischen zwei Diktaturen, S. 301. 1673 Antrag auf Unterstützung PCIRO, Misiu Lazarovitz, IRO Kapfenberg. 1674 ITS an UNHCR Wien, datiert 10.3.1966, ITS Digital Archive, Arolsen, 6.3.3.2/87306702. 1675 Psychiatrie Linz, datiert 22.10.1949, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.1.1.2/82046715. 1676 Krankenhausbewegungen in österreichischen Spitälern, datiert Dezember 1949, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.1.1.2/82048746.

Ursula Aistleitner  : »Sie wollten mich damit nicht belasten«

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Auf den Gesundheitszustand von Aistleitners Vater wird in dem Protokoll der Befragung, die 1949 in Bad Ischl stattgefunden hatte, ebenfalls eingegangen  : »According to chief-doctor in hospital suffering from ›arrested‹ scizofrenia. […] Michael gives the impression of a light mentally sick person. His thoughts are always circulating round his sickness. He thinks he caught his illness during his student-time when he worked day and night and didn’t get food and sleep regularly. Says his escaping from military duty was probably caused by lack of patience. Thinks the treatment he got in Graz was wrong and made his condition worse. Seems to be unsatisfied with the most in life and suffering from persecution mania.«1677 Der Vertreter der Internationalen Flüchtlingsorganisation hielt 1949 in seinem Protokoll des Weiteren fest, dass Ursula Aistleitners Vater in die USA emigrieren wollte, wo ein Onkel von ihm leben würde. 1947 hatte Misiu Lazarovitz auf eine Tante mit Namen Laura Ginsburg in Atlantic City in den USA verwiesen.1678 1949 wurde die Aussage von Aistleitners Vater wiedergegeben, wegen seiner Krankheit von Zeit zu Zeit eine Behandlung zu benötigen, die er seiner eigenen Auffassung nach in Israel nicht bekommen würde. Eine Verlegung nach Ebelsberg im Süden von Linz empfahl der leitende Arzt »as an experiment«.1679 In Ebelsberg bestand einerseits ein Rehabilitationszentrum, andererseits sollten dort auch jüdische »Displaced Persons« auf die Emigration nach Israel vorbereitet werden. Lazarovitz gab jedoch an, nicht in der Lage zu sein, einen der Vorbereitungskurse besuchen zu können. Zur Durchführung einer weiteren Behandlung müsste er nach Einschätzung des Mediziners »another 2–3 weeks«1680 in Bad Ischl bleiben. Auf der Rückseite des Protokolls wurde vermerkt, dass Ursula Aistleitners Vater 1948 beantragt hatte, nach Israel zu emigrieren. Auf keinen Fall würde er nach Rumänien zurückkehren oder in Österreich bleiben wollen  : »No – hopes to go to USA«.1681 Als Ergebnis der Befragung findet sich der Vermerk, Misiu Lazarovitz zur Rehabilitation nach Ebelsberg zu verlegen. Er wurde als chronisch krank eingestuft. Auf einer Liste vom 31. März 1950 scheinen »Mental Cases« des Sanatoriums Bad Ischl auf.1682 Unter Punkt »II. Furthermore the following Jewish cases are in other institutions as listed below«1683 ist in der Spalte »former residence« neben dem Namen von Aistleitners Vater »Graz resp. Wegscheid« angeführt. Während sich Misiu Lazarovitz in Bad Ischl im Sanatorium befand, legte die Internationale Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen eine »Disability Registry Card« an. Darauf wurde 1677 Record of Interview, IRO. 1678 Antrag auf Unterstützung PCIRO, Misiu Lazarovitz, IRO Kapfenberg. 1679 Record of Interview, IRO. 1680 Ebd. 1681 Ebd. 1682 Mental Cases, datiert 31.3.1950, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.1.1.2/82046820. 1683 Ebd.

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vermerkt, dass Lazarovitz an Schizophrenie erkrankt sei. »Unemployable even after special treatment«1684 lautete die Einschätzung des Arztes der Organisation. Am 1. April 1950 befand sich Ursula Aistleitners Vater noch im Sanatorium in Bad Ischl. Am 10. April 1951 scheint als Anschrift das Lager für »Displaced Persons« mit der Bezeichnung »Camp Asten«1685 im Bezirk Linz-Land auf. Dort waren auch chronisch Kranke untergebracht. Auf einem Formular der Flüchtlingsorganisation, das vom 12. Oktober 1951 datiert, wurde als Adresse ebenfalls »Camp Asten«1686 angegeben sowie vermerkt, dass Misiu Lazarovitz für alle Leistungen in Frage komme.1687 Auf einer Liste des »Resettlement Movement to Canada« der Internationalen Flüchtlingsorganisation findet sich ein am 24. Dezember 1924 in der Stadt Lugoj im damaligen rumänischen Kreis Severin geborener Ingenieur mit Namen Mihail Lazarovici. Die auf dieser Liste verzeichneten Personen waren für die Überfahrt mit dem Schiff »MS Nelly« vorgesehen, das am 9. Juni 1951 in Bremerhaven ablegen sollte. Mihail Lazarovici wurde als einer von mehreren Passagieren verzeichnet, die aus Österreich nach Kanada emigrieren sollten. Der Internationale Suchdienst schrieb 1966 in Bezug auf Aistleitners Vater an das Büro der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen in Wien  : »am 9. Juni 1951 von Bremerhaven an Bord des Schiffes ›Nelly‹ nach Kanada ausgewandert«.1688 In allen anderen zur Verfügung stehenden Quellen finden sich keinerlei Hinweise auf eine mögliche Emigration nach Kanada. Die Parallelen, die der Name und das Geburtsdatum aufweisen, könnten daher auf einem Zufall beruhen. Allerdings wurden zum weiteren Verbleib von Ursula Aistleitners Vater in den Jahren 1952 bis 1957 keine anderen Anhaltspunkte gefunden. 2.10.2 Leben von Aistleitners Vater ab 1958 Am 24. April 1958 kam Ursula Aistleitner in der damaligen Landes-Frauenklinik in der Linzer Lederergasse 47 als uneheliches Kind der Hilfsarbeiterin Stefanie Schöftner auf die Welt.1689 Ihre am 20. November 1929 geborene Mutter1690 stammte aus der damaligen Gemeinde Schönegg im Mühlviertel. Sie lebte zur Zeit der Geburt ihres ersten Kindes in der Derfflingerstraße 23a in Linz.1691 Auf Aist-

1684 Disability Registry Card Michael Lazarowitsch, IRO, undatiert, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2. 1.3/80719896. 1685 Formular CM/1, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2.1.3/80719895. 1686 Beratungsdienst in Österreich, Misiu Lazarovitz, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2.1.3/80719901. 1687 Ebd. 1688 ITS an UNHCR Wien, datiert 10.3.1966. 1689 Siehe Geburtsurkunde Ursula Beate Schöftner, datiert 17.3.1969, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1690 Siehe Geburtsurkunde Stefanie Schöftner, datiert 11.4.1983, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1691 Siehe Taufschein Ursula Beate Schöftner, datiert 2.2.1961, Eigentum von Ursula Aistleitner.

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leitners Geburtsurkunde wurden keine Angaben zum Kindsvater vermerkt.1692 Die Eltern waren nicht verheiratet  : »Es hat geheißen  : ›Wir haben kein Geld zum Heiraten gehabt.‹«1693 Fünf Tage nach der Geburt wurde das Kind in der Hauskapelle der Klinik getauft.1694 Am 12. März 1958 bestätigte die Israelitische Kultusgemeinde Linz, dass »Herr Lasarowitsch Michael, derzeit wohnhaft in Lager 63, Baracke 21, bei der Israelitischen Kultusgemeinde in Linz registriert ist.«1695 Im Barackenlager am Linzer Bindermichl, das als »Lager 63 bezeichnet wurde, waren »Displaced Persons« untergebracht. An diesem Tag wurde in der Kultusgemeinde auch eine Karteikarte angelegt, auf der in den darauffolgenden Jahren stichwortartig Informationen zu Misiu Lazarovitz notiert wurden. Am 9. Juni 1958, eineinhalb Monate nach der Geburt, war die Mutter von Ursula Aistleitner nach wie vor in der Derfflingerstraße 23a in Linz gemeldet.1696 Im Juni 1958 wurden auf einem Registrierungsformular des »Zwischenstaatlichen Komitees für europäische Auswanderung« der Vereinten Nationen, einer der Nachfolgeorganisationen der Internationalen Flüchtlingsorganisation, das Linzer »Camp Bindermichl« und das »Lager 67« in Linz-Wegscheid als Adressen von Misiu Lazarovitz angegeben. Darüber hinaus findet sich der Vermerk, dass dieser nach Wien, »Aufenthaltsort unbekannt«,1697 verzogen ist. Aistleitner wurde zunächst in ein von Schwestern geführtes Säuglingsheim in Linz gebracht  : »Ich dürfte angeblich von dem Zeitpunkt von meiner Mutter weggegeben worden sein, da sie mich angeblich mit Erdäpfeln gefüttert hat oder mit Püree, das weiß ich nicht, weil ich wäre angeblich laut Aussagen meiner Tanten erstickt an dem Essen, das sie mir gegeben hat, wahrscheinlich weil sie überfordert war oder nicht gut drauf war oder nicht in Behandlung war, weil ihr alles seelisch zu viel geworden ist und auch körperlich.«1698 Ab 1960 wohnte sie im Kinderdorf St. Isidor bei Linz. An Treffen mit ihren leiblichen Eltern in den ersten Jahren erinnert sich Ursula Aistleitner nicht  : »Es hat immer nur geheißen, deine Mutter ist krank und dein Vater ist arbeitslos oder arbeitet nichts oder so, ganz komisch irgendwie.«1699 Über ihren

1692 Siehe Geburtsurkunde Ursula Beate Schöftner. 1693 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 6. 1694 Siehe Taufschein Ursula Beate Schöftner. 1695 Bestätigung IKG Linz, datiert 12.3.1958, Eigentum IKG Linz. 1696 Siehe Geburtenbuchabschrift Ursula Beate Schöftner, datiert 9.6.1958, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1697 Refugee/Migrant Registration Michael Lasarowits, Intergovernmental Committee for European Migration, datiert 23.6.1958, ITS Digital Archive, Arolsen, 3.2.2.1/81424857. 1698 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 2. 1699 Ebd., S. 6.

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Vater sei im Kinderheim kaum gesprochen worden  : »Nur dass er meine Mutter ausgenützt hat und dass er ein Schnorrer war.«1700 Am 3. Jänner 1961 erschien Misiu Lazarovitz, dessen Adresse zu diesem Zeitpunkt mit Barackensiedlung 117, Baracke 26/18, angegeben wurde, beim Amt der oberösterreichischen Landesregierung. Er bat um eine Bestätigung, wonach er bisher keinen Antrag nach dem Opferfürsorgegesetz gestellt habe. Seinen Angaben zufolge benötigte er diese, um in Köln eine Wiedergutmachungszahlung nach dem deutschen Bundesentschädigungsgesetz beantragen zu können. Eine Woche später wurde ihm bescheinigt, dass er »bisher beim Amt der oberösterreichischen Landesregierung in Linz keinen Antrag auf Anerkennung als politisches bezw. rassisches Opfer im Sinne des Opferfürsorgegesetzes«1701 gestellt und keine Entschädigung erhalten habe. In den Akten findet sich ein interner Vermerk, der den Gesundheitszustand von Lazarovitz zum Inhalt hat  : »Partei ist schizophren u. arbeitsunfähig.«1702 Vom 22. September 1964 datiert ein internes Schriftstück des Landes Oberösterreich. Darin wird erstmals auf eine mögliche Haft in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager Bezug genommen  : »Der Obgenannte ist rassisch Verfolgter, war ca. 3 Jahre in Konzentrationslagern […].«1703 In dem eine Seite umfassenden Schreiben ist auch festgehalten, dass Misiu Lazarovitz nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitze und daher in Österreich kein Anspruch nach dem Opferfürsorgegesetz bestehe  : »Weil die Entschädigungssache in der Bundesrepublik Deutschland schon jahrelang anhängig ist, ist Lazarowitsch in Notlage geraten.«1704 Von der »Opferinteressenvertretung« sei ihm 1963 eine »kameradschaftliche Beihilfe von S 200,– und im Jahre 1964 eine solche Beihilfe von S 300.- gewährt«1705 worden. Die zweite Beihilfe ist, wie es heißt, letztmalig ausbezahlt worden. Der Vater von Ursula Aistleitner habe auf den Beirat der »Opferinteressenvertretung« »keinen günstigen Eindruck«1706 gemacht. Er würde »nur eine kleine monatliche Zuwendung von der Jüdischen Kultusgemeinde«1707 erhalten. Daher wurde beantragt, »ihm nochmals eine Beihilfe von S 300,– (dreihundert) aus den Mitteln der ›Wirtschaftlichen Fürsorge für Geschädigte nach dem Opferfürsorgegesetz‹ gewähren zu wollen.«1708 Einem handschriftlichen Vermerk auf dem Schreiben ist zu vernehmen, 1700 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 9. 1701 Bestätigung Amt der OÖ LR an Michael Lasarowitsch, datiert 10.1.1961, OÖLA, FOF-2-1961. 1702 Ebd. 1703 Vortrag an den Herrn Landeshauptmann, datiert 22.9.1964, OÖLA, FOF-2-1961. 1704 Ebd. 1705 Ebd. 1706 Ebd. 1707 Ebd. 1708 Ebd.

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dass der damalige oberösterreichische Landeshauptmann Heinrich Gleißner von der Österreichischen Volkspartei die Beihilfe genehmigt hat. Im November 1964 befürwortete der Jurist Maximilian Tauchner in einem Schrei­ ben an die Filiale der Länderbank in der Linzer Johann-Konrad-Vogel-Straße ein Gesuch von Ursula Aistleitners Vater, der bei der Bank ein Überbrückungsdarlehen beantragt hatte. Tauchner betrieb in München eine Kanzlei für Wiedergutmachung. Er vertrat in Deutschland eigenen Angaben zufolge Misiu Lazarovitz in dessen »Entschädigungssache«  :1709 »Ich kann Ihnen – entgegen früherer Mitteilungen – heute sagen, dass sich der Anspruch des Herrn Lazarovits in positiver abschliessender Bearbeitung befindet und er mit einem größeren Betrag voraussichtlich rechnen kann.«1710 Ob das Darlehen von der Linzer Bankfiliale gewährt wurde, geht aus den zur Verfügung stehenden Quellen nicht hervor. Am 4. Dezember 1964 suchte Ursula Aistleitners Vater auch beim Land Oberösterreich um ein Überbrückungsdarlehen an. Sein Antrag wurde dem Beirat der »Opferinteressenvertretung« vorgelegt. Dieser beschied abschlägig  : »Da kein Nachweis dafür vorliegt, daß Lazarowitsch die bei den Entschädigungsbehörden der Deutschen Bundesrepublik beantragten Entschädigungsleistungen tatsächlich erhalten wird und keine Möglichkeit besteht die Rückzahlung des Darlehensbetrages im Abzugswege sicherzustellen, wird das Ansuchen um ein Darlehen, unabhängig von der Höhe des Betrages abgelehnt.«1711 Auch eine »kameradschaftliche Beihilfe« für Personen, die keine österreichische Staatsbürgerschaft besaßen und daher nicht vom Opferfürsorgegesetz berücksichtigt wurden, kam für den Beirat nicht in Frage  : »Im Hinblick darauf, daß aber im Jahre 1964 bereits S 600.- als kameradschaftliche Beihilfe an den Antragsteller ausbezahlt wurden, wird auch der Antrag auf eine weitere nicht rückzahlbare Beihilfe abgelehnt. Für die Ablehnung war das Verhalten des Antragstellers, vor allem seine drohende und unkorrekte Haltung bei Vorsprachen mitbestimmend.«1712 Von ihrer leiblichen Mutter und anderen Verwandten habe Aistleitner Vergleichbares über ihren Vater zu hören bekommen  : »Er war nicht einfach, er hat halt immer so aufgedreht und wahrscheinlich kein Geld gehabt. Meine Mutter hat dann einmal gesagt, er hat einen Kerzenhandel gehabt, immer so kleine Gelegenheitsjobs.«1713 Aus dem für die »Heimathilfe« vorgesehenen Topf wurde ihrem Vater dann trotzdem ein Darlehen in Höhe von 300 Schilling gewährt. Zum Schluss wird in dem internen Schreiben die Erwartung formuliert, von ihm zukünftig keine Besuche mehr 1709 Vortrag an den Herrn Landeshauptmann, datiert 22.9.1964. 1710 Maximilian Tauchner an Länderbank AG, datiert 26.11.1964, OÖLA, FOF-2-1961. 1711 Bericht an den Herrn Landeshauptmann, datiert 17.12.1964, OÖLA, FOF-2-1961. 1712 Ebd. 1713 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 11.

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im Landhaus in Linz zu erhalten  : »Es ist zu hoffen, daß die entschiedene Haltung des Beirates den Antragsteller in Hinkunft davon abhält weiter im Büro des Herrn Landeshauptmanns vorzusprechen.«1714 Am 7. Dezember 1964 wurde Misiu Lazarovitz in Köln eine »laufende Rente wegen Schadens an Körper oder Gesundheit nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) zuerkannt«.1715 Die dazugehörigen Akten sind nicht auffindbar.1716 Gemäß den Angaben auf der im März 1958 von der Israelitischen Kultusgemeinde Linz angelegten Karteikarte bezahlte er in den sechs Monaten von Oktober 1966 bis März 1967 jeweils 10 Schilling an die Kultusgemeinde. Als weitere Wohnadressen neben Baracke 21 des Lagers 63 sind Wacholderweg 7 und Pritzstraße 16, beide im damaligen Linzer Stadtteil Kleinmünchen, angeführt. Von ihren Verwandten sei Ursula Aistleitner berichtet worden, dass sich die Mitglieder der Herkunftsfamilie ihrer leiblichen Mutter und ihr Vater gekannt hätten  : »Es soll angeblich auch mein Vater ein paar Mal Kontakt gehabt haben, aber er ist halt als Schnorrer bezeichnet worden und als der ›Michl‹ und hat keiner etwas zu tun haben wollen mit ihm. […] Er hat kein Bleiberecht bei meinen Verwandten gehabt.«1717 Ende der 1960er-Jahre wurde die Feststellung der Vaterschaft gerichtlich angeordnet, »weil der Vater die Vaterschaft geleugnet hat, mein Vater.«1718 Die damals elfjährige Ursula Aistleitner musste dazu einen Fußabdruck anfertigen lassen. Es kam zur ersten Begegnung, die ihr in Erinnerung geblieben ist  : »Das war in Urfahr beim Jugendfürsorgeamt. Meine Ziehmutter hat mich am Schoß gehabt, und auf einmal sehe ich dort einen Arzt und eine Fürsorgerin oder Schwester, ich weiß es nicht, und meinen Vater, der immer nur geredet hat, ein gut gewachsener, nicht hässlicher, also ein gutaussehender Mann eigentlich. Aber er war sehr geschwätzig, an das kann ich mich noch erinnern. Er hat sehr viel geredet, vom Krieg und von irgendwelcher Verfolgung, das weiß ich, dass es halt nichts Positives war. Und der Arzt hat ihn immer zu beschwichtigen versucht.«1719 Auch von ihrem Vater sei ein Fußabdruck genommen worden  : »Und dann hat er die Schuhe wieder angehabt und die Socken und steht im Raum und macht immer so, also er winkt mir, ich soll zu ihm. Und ich habe dann zum Rutschen angefangen, und die Gertrud-Mutter hat das gesehen und hält mich immer fester, und auf einmal geht er rasch auf mich zu und gibt mir so einen zusammengerollten Geldschein. Ich weiß nicht, wie viel das war, ich glaube, ein Hunderter war es. Und  : ›Geben Sie das dem

1714 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 11. 1715 Bezirksregierung Düsseldorf an Aistleitner, datiert 29.1.2001, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1716 Siehe Landesarchiv Nordrhein-Westfalen an Verfasser, datiert 14.10.2019, Eigentum des Verfassers. 1717 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 21. 1718 Ebd., S. 3. 1719 Ebd., S. 4.

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Kind.‹ Er hat ein Banater-Deutsch gesprochen. […] Und gibt mir das und stürmt hinaus aus der Tür und schmeißt die Tür, also die Tür ist zugeflogen, das weiß ich noch.«1720 Das Bezirksgericht Linz urteilte am 13. März 1969, »daß der Rentner Michael Lasarowits, israelitisch, wohnhaft in Linz, Pritzstraße 16, staatenlos, geb. am 6. Dez. 1924 in Bukarest, als Vater des Kindes anzusehen ist.«1721 Nach dieser Begegnung habe sie ihren Vater nur noch wenige Male gesehen, erinnert sich Ursula Aistleitner. Im Alter von etwa 15 Jahren sei sie einmal von der Adop­ tivmutter ihrer Halbschwester, der von einem anderen Vater stammenden zweiten Tochter ihrer Mutter, mit dem Auto im Kinderheim abgeholt worden  : »Und ich sehe da, auf der rechten Seite steht mein Vater an der Ampel. Er hat immer eine Tasche gehabt und höhere Schuhe und einen Staubmantel. Und ich habe so hingeschaut, ich habe nicht aussteigen können, ich hätte eigentlich aussteigen sollen und die alleine weiterfahren lassen sollen. […] Ich habe gewusst, das muss er sein. Und auch er hat mich sehr aufmerksam angeschaut. Und da hat es mir dann so einen Stich gegeben. Ich habe da immer noch nicht gewusst, wo er sich aufhält. Er hat mich nur groß angeschaut. Er hat versucht, zu lächeln, es ist ihm aber nicht so gelungen.«1722 Im Alter von 16 oder 17 Jahren habe sie ihren Vater während eines Einkaufs mit ihrer Ziehmutter in Linz ein letztes Mal gesehen  : »Sagt sie zu mir auf einmal  : ›Du, Ursula, ich muss dir jetzt etwas Wichtiges sagen, aber du darfst dich nicht bemerkbar machen.‹ Beim Blumen Lehmann in der Stockhofstraße soll angeblich mein Vater sein und Blumen kaufen. […] Er hat mich nicht gesehen, auch wieder mit einem Staubmantel, mit einer Aktentasche und mit hochhackigen Schuhen. […] Und die Haare schön zurückfrisiert. […] Und ich habe ihm dann nachgeschaut. […] Insgeheim habe ich mich gefreut, und dann war ich so traurig, dass ich nicht trotzdem hingelaufen bin. […] Und das war ein großes Versäumnis, weil was hätte er mir denn schon getan  ? Ich hätte halt einmal endlich Klarheit gehabt, wie er reagiert hätte. Und das hat mir nachher schon sehr wehgetan, auch dann schon, wie er tot war.«1723 Das Meldeamt der Linzer Bundespolizeidirektion teilte ihr 1991 die Adresse Badergasse 1 im Linzer Stadtteil Ebelsberg als letzte polizeilich registrierte Wohn­ adresse ihres Vaters mit. Von dort war er 1972 »unbek. wohin«1724 abgemeldet worden. Im Herbst 1975 wurde ihm von der Bundespolizeidirektion eine Bescheinigung der Flüchtlingseigenschaft ausgestellt, die als »Identitätspapier im Sinne des Artikels 27 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge«1725 gültig war. Auf der

1720 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 4. 1721 Geburtenbuchabschrift Ursula Beate Schöftner, datiert 9.6.1958, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1722 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 9. 1723 Ebd., S. 20. 1724 Auskunft Meldeamt BPDion Linz, datiert 20.9.1991, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1725 Bescheinigung der Flüchtlingseigenschaft, datiert 2.10.1975, Eigentum von Ursula Aistleitner.

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Abb. 20  : Das Reisedokument mit der Nummer 42077.

Rückseite des Lichtbildausweises findet sich der Vermerk, dass die Angaben zur Person »auf den Angaben des Ausweisinhabers«1726 beruhen. Gemäß der Personsbeschreibung war die Gesichtsform oval, die Farbe der Augen blaugrau und die Farbe der Haare dunkelbraun. Besondere Kennzeichen wurden keine angeführt.1727 Im November 1976 erhielt Ursula Aistleitners Vater ein Reisedokument von der Republik Österreich. Es beruhte ebenfalls auf der am 28. Juli 1951 verabschiedeten »Genfer Flüchtlingskonvention« und war zwei Jahre lang gültig. Der staatenlose Flüchtling war damit berechtigt, in 16 europäische Länder und die USA sowie nach Australien und Kanada zu reisen. Seine Körpergröße wurde mit 176 Zentimetern und die Gesichtsfarbe mit weiß angegeben sowie die Nase als gerade beschrieben (siehe Abb. 20).1728 Am 16. März 1979 verstarb »Michael Lasarowitsch, Pensionist, mosaisch, wohnhaft Linz, Pritzstraße 16«,1729 im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Als Todes1726 Bescheinigung der Flüchtlingseigenschaft. 1727 Siehe ebd. 1728 Reisedokument Michael Lasarowitsch, datiert 29.11.1976, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1729 Abschrift Sterbebuch Michael Lasarowitsch, datiert 19.3.1979, Eigentum IKG Linz.

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ursache wurde von dem Linzer Spital »cirrhosis carcinomatosa«1730 angegeben, eine Organverhärtung, vermutlich der Leber, ausgelöst durch eine Krebserkrankung. Im Sterbebuch ist des Weiteren vermerkt, dass der Verstorbene »nicht verheiratet«1731 gewesen war. Abhängig davon, ob als Geburtsdatum 24. Dezember 1923 oder 6. Dezember 1924 angenommen wird, wurde Misiu Lazarovitz 55 oder 54 Jahre alt. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Linz bestattet, in einem »Mittellosengrab […]. Ich besuche das Grab hin und wieder noch.«1732 2.10.3 Aistleitners Nachforschungen Im Erwachsenenalter begann Ursula Aistleitner, Nachforschungen über ihren Vater anzustellen  : »Ich habe gedacht, jetzt frage ich einfach einmal nach, ob er noch lebt. Ich will einfach Kontakt mit ihm haben.«1733 Im September 1991 holte sie in Linz eine Meldeauskunft über ihren Vater ein. Daraus ist die Wohnadresse, unter der dieser zuletzt registriert gewesen war, ersichtlich.1734 Aistleitner schickte auch einen Brief an eine Adresse in der israelischen Stadt Haifa, an der ihren Recherchen entsprechend der Bruder ihres Vaters, Isaac Lasarowitsch, leben sollte  : »Ich habe leider meinen Vater nie gekannt und habe erst vor kurzem erfahren, daß er am 16.3.1979 in Linz verstorben ist. Durch Zufall habe ich erfahren, daß Sie, als sein Bruder, in Haifa leben. Ich bitte Sie, mir dies zu bestätigen und mir alles, was Sie über meinen Vater und Ihre Familie wissen, zu schreiben.«1735 Der Brief wurde mit dem von der israelischen Post aufgestempelten Vermerk »inconnu«1736 retourniert. Im Oktober 2000 teilte ihr das für Opferfürsorge zuständige Referat des Wiener Magistrats aufgrund einer Anfrage mit, dass ihr Vater keine Anträge an dieses Amt gestellt habe, und verwies sie an das österreichische Sozialministerium sowie die Abteilung Wiedergutmachung der Bezirksregierung Düsseldorf.1737 Der deutsche Bundesverband »Information und Beratung für NS-Verfolgte« fand in seinen Unterlagen »keine Vorgänge zum Namen des Herrn Lazarowitsch«.1738 Die Bezirksregierung Düsseldorf informierte sie schließlich, »dass Ihr Vater zu Lebzeiten

1730 Abschrift Sterbebuch Michael Lasarowitsch. 1731 Ebd. 1732 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 23. 1733 Ebd., S. 20. 1734 Auskunft Meldeamt BPDion Linz, datiert 20.9.1991, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1735 Aistleitner an Isaac Lasarowitsch, datiert 17.11.1991, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1736 Ebd. 1737 AdWLR an Aistleitner, datiert 3.10.2000, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1738 Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte an Aistleitner, datiert 1.12.2000, Eigentum von Ursula Aistleitner.

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eine laufende Rente nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhielt.«1739 Auf erneute Nachfrage wurde ihr der Grund mitgeteilt  : »Herr Lasarowitsch gehörte zum Personenkreis der Verfolgten des NS-Regimes.«1740 Ihre leibliche Mutter, die am 25. April 2002 gestorben war, habe Aistleitner erzählt, dass ihr Vater im Konzentrationslager Auschwitz gewesen sei  : »Meine Mutter behauptet auch, dass er angeblich Tote weggeräumt hat in Auschwitz. Das hat sie auch gesagt. Ich weiß nicht, ob ich ihr das glauben soll.«1741 Bei den Nachforschungen, die Ursula Aistleitner zur Geschichte ihres Vaters und zu dessen Herkunftsfamilie angestellt hat, habe sie von ihrem Ehemann große Unterstützung erfahren  : »Mein Mann hat mich auch sehr unterstützt. Ich habe mir gedacht, wenn ich jüdische Vorfahren habe, wollte ich eigentlich mehr wissen. Da habe ich mich sehr beschäftigt damit.«1742

2.11 Exkurs Johann Reiter  : »Das war ein Tabuthema« 1743 Dass Johann Reiter während der Zeit der NS-Diktatur von einem Militärgericht in Wien zum Tod verurteilt worden war, erfuhr der 1975 geborene Verfasser im Herbst 2015 von seinem Vater Horst Reitter, der am 18. September 1938 auf die Welt gekommen war. Johann Reiter war einer der beiden Brüder des Vaters von Horst Reitter. Über diesen Vorfahren, einen Sozialdemokraten, war auch innerhalb der Herkunftsfamilie von Horst Reitter nicht gesprochen worden  : »Das war ein Tabuthema, weil das war ein Feind, der Nazifeind sozusagen, der Johann.«1744 Horst Reitters Vater, Karl Reitter, war nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich der NSDAP beigetreten. Zu den Hinterbliebenen und Nachkommen des Hingerichteten hatte er zeit seines Lebens enge Kontakte unterhalten. Wie sich im Lauf der Recherchen herausgestellt hat, wurde der 1898 geborene Maurer Johann Reiter im August 1939 zur deutschen Wehrmacht eingezogen und in der tschechischen Stadt Brünn stationiert. Im September 1939 erschoss er einen Unteroffizier im Streit und trug selbst einen Durchschuss am linken sowie einen Streifschuss am rechten Oberschenkel davon. Wegen der Tötung des Zugführers verurteilte ihn das Kriegsgericht der Division 177 zunächst zu zweieinhalb Jahren Haft und in einer zweiten Verhandlung schließlich zum Tod. Das Urteil wurde am 25. Juli 1940 am

1739 Bezirksregierung Düsseldorf an Aistleitner, datiert 19.12.2000, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1740 Bezirksregierung Düsseldorf an Aistleitner, datiert 29.1.2001, Eigentum von Ursula Aistleitner. 1741 Interview mit Ursula Aistleitner, S. 25. 1742 Ebd., S. 10. 1743 Interview mit Horst Reitter, Transkript S. 8. 1744 Ebd.

Johann Reiter  : »Das war ein Tabuthema«

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Wiener Militärschießplatz Kagran vollstreckt. Gemäß dem 1951 erlassenen Bescheid über die Anerkennung der Tochter Reiters als »Opfer des Kampfes um ein freies und demokratisches Österreich«1745 war ihr Vater »wegen Befehlsverweigerung zum Einsatz zur Front«1746 verurteilt worden. Es könne angenommen werden, »dass Johann Reiter aus seiner gegen den Nationalsozialismus gerichteten politischen Anschauung heraus, den Einsatz zur Front verweigert hat.«1747 Vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes wird er als »Opfer der NS-Militärjustiz«1748 bezeichnet. Susanne Edtbauer, die 1963 geborene jüngere der beiden Enkeltöchter des Hingerichteten, beschreibt ihren Großvater anhand der Erzählungen ihrer Mutter, der Tochter Johann Reiters, als politisch denkenden Menschen, der »immer wieder irgendwo angeeckt ist oder halt einfach nicht sich so artikuliert und benommen hat, wie es von ihm, oder wie die Gesellschaft im Regime von ihm erwartet hätte. Das hat es anscheinend öfter gegeben, nicht nur dann zum Schluss, was dann dementsprechend ausschlaggebend war für seine Verurteilung, sondern immer wieder. Also, er war anscheinend ein Mensch, der eben seine Meinung gehabt hat, und mit der hat er nicht hinter dem Berg gehalten, sondern die hat er kundgetan, und zwar in jeder nicht nur möglichen, sondern auch unmöglichen Situation.«1749 2.11.1 Leben vor der nationalsozialistischen Machtübernahme Am 28. Oktober 1898 um 17  :00 Uhr wurde Johann Reiter als viertes eheliches Kind des Zimmermanns Josef und seiner Ehefrau Carolina Reitter,1750 geborene Treidl, im Haus Markt 166 in St. Georgen im Attergau geboren. Das Haus befand sich zu diesem Zeitpunkt im Besitz des Vaters. Am Ersten Weltkrieg nahm Reiter als Kaiserschütze teil. Für seinen Einsatz erhielt er die Silberne Tapferkeitsmedaille erster Klasse. Diese hohe militärische Auszeichnung brachte ihm auf ­Grundlage des Tapferkeitsmedaillenzulagengesetzes vom 26. März 1931 eine jährliche Geldzuwendung »nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes und seiner Durch­ führungsverordnungen«1751 ein.1752 1745 Bescheid Amt der LR Salzburg, datiert 7.9.1951, SLA, OfA 18546. 1746 Ebd. 1747 Ebd. 1748 URL  : https  ://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/aufrechterhaltung-der-mannes zucht/johann-reiter-1898-1940 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1749 Interview mit Susanne Edtbauer, Transkript S. 1. 1750 Während der Nachname der Eltern in den meisten Quellen mit zwei »t« aufscheint, wurde der ihres Sohns Johann mit einem »t« geschrieben. 1751 Anerkennungsurkunde Silberne Tapferkeitsmedaille 1. Klasse, datiert 5.3.1932, Eigentum von Susanne Edtbauer. 1752 Siehe BPDion Salzburg an Magistrat Salzburg, datiert 23.8.1951, SLA, OfA 18546.

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Familien von Opfern

Am 28. April 1920 wurde der Onkel von Horst Reitter am Landesgericht Salzburg wegen Diebstahl und versuchter Körperverletzung sowie nach dem »Preistreibereigesetz« zu acht Wochen schwerem Kerker verurteilt, am 11. März 1921 wegen Diebstahl zu zwei Jahren schwerem Kerker. Diese zweite Strafe wurde ihm bedingt nachgesehen. In der Zwischenkriegszeit war er bis zu seiner Einberufung zur deutschen Wehrmacht im Sommer 1939 als Maurer bei der Stadtgemeinde Salzburg angestellt  : »Dem Erhebungsergebnis zufolge war Reiter ein guter und verlässlicher Arbeiter und sorgte einwandfrei für seine Familie.«1753 Am 7. Juli 1926 verstarb Johann Reiters Vater Josef, der zuletzt in AttnangPuchheim im oberösterreichischen Bezirk Vöcklabruck wohnhaft gewesen war. Am 1. März 1927 heiratete Johann Reiter in der Gemeinde Aigen, die in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre in die Stadt Salzburg und zum Teil auch in die Nachbargemeinde Elsbethen eingegliedert wurde, die um sieben Jahre ältere Maria Kössler.1754 Seine Ehefrau war am 30. Oktober 1891 in Bischofshofen im Salzburger Bezirk St. Johann im Pongau geboren worden.1755 Am 13. Jänner 1929 kam Hildegard, das einzige Kind von Maria und Johann Reiter, in Müllegg im Salzburger Stadtteil Mülln auf die Welt.1756 Das Ehepaar war zu diesem Zeitpunkt in Aigen wohnhaft. Ab 1. Jänner 1931 stand der Familie in Lehen am nördlichen Rand der Stadt Salzburg eine 34,13 Quadratmeter große Gemeindewohnung in Block U der neu errichteten Scherzhauserfeld-Siedlung zur Verfügung, »bestehend aus einem Zimmer, Küche, Vorzimmer, Speisekammer, Dachboden, Keller und sonstigem Zubehör«.1757 Gemäß den Aussagen von Susanne Edtbauer erzählte ihre Mutter zwar nicht regelmäßig über deren Vater, »aber was sie erzählt hat, war immer, dass er sehr stolz war, dass ihm die Oma ein Mäderl geschenkt hat. Er war sehr liebevoll zur Mama, und sie war halt immer sehr stolz, weil er so ein großer, stattlicher Mann war. Er hat sie anscheinend oft am Arm getragen. Dazumal war das halt so, dass man halt, wenn man frei gehabt hat am Wochenende, ins Wirtshaus irgendwo gegangen ist nach der Kirche, und das hat ihr halt immer das Gefühl gegeben von der kleinen, heilen Familie in dieser schlimmen Zeit. Also, das hat man schon gemerkt, das war immer so ihr Anker, das hat sie immer so mit einem angenehmen, positiven Gefühl erzählt, mit so einem gut aufgehobenen Gefühl.«1758

1753 BPDion Salzburg an Magistrat Salzburg, datiert 23.8.1951. 1754 Siehe Meldekartei Johann Reiter, datiert 1.9.1936, Stadtarchiv Salzburg. 1755 Siehe Taufbuch Bischofshofen 1891, URL  : https  ://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/salz burg/bischofshofen/TFBVIII/?pg=22 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1756 Siehe Antrag auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung, datiert 8.8.1951, SLA, OfA 18546. 1757 Mietvertrag, datiert 17.2.1931, Eigentum von Susanne Edtbauer. 1758 Interview mit Susanne Edtbauer, S. 1.

Johann Reiter  : »Das war ein Tabuthema«

Abb. 21  : Maria Reiter, geborene Kössler, die Ehefrau von Johann Reiter.

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Abb. 22  : Die einzige bekannte Aufnahme von ­Johann Reiter.

Als Funktionär des Republikanischen Schutzbundes war ihr Großvater in der Scherzhauserfeld-Siedlung in »wildeste, eben zeitbedingte Aktionen«1759 involviert, etwa in Auseinandersetzungen mit SS-Leuten. Erzählungen zufolge habe er eine jähzornige Art gehabt. Johann Reiter war offenbar sehr auf seine Meinung bedacht. Mehrmals soll er auch in Handgreiflichkeiten verwickelt gewesen sein  : »Dann hat er nicht nur mit Worten, sondern auch anderweitig gewisse Konflikte ausgetragen, dass sie einmal geschlägert oder dass einmal die Fäuste geflogen sind, aber das weiß ich nur von Dritten.«1760 Am 30. September 1930 verhängte das Bezirksgericht Salzburg gegen ihn eine Geldstrafe in Höhe von zehn Schilling oder 24 Stunden Arrest wegen Körperverletzung.1761 Reiter war Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und Schutzbundführer im Salzburger Stadtteil Lehen.1762 Während des österreichischen Bürgerkriegs im

1759 Interview mit Susanne Edtbauer, S. 1. 1760 Ebd., S. 2. 1761 Siehe Der Liquidator der Einrichtungen des Deutschen Reiches in der Republik Österreich an das Amt der Salzburger Landesregierung, datiert 13.11.1953, SLA, OfA 18546. 1762 Siehe Gert Kerschbaumer, Johann Reiter. Stolpersteine Salzburg, URL  : http  ://www.stolpersteine-­ salzburg.at/de/orte_und_biographien?victim=Reiter,Johann&hilite=Reiter (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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Februar 1934 wurde er festgenommen  : »In der Wohnung des verhafteten Schutzbundführers Johann Reiter konnte lediglich seine Schutzbundkappe beschlagnahmt werden.«1763 Weil er am 12. Februar 1934 an einem Streik teilgenommen hatte, musste Reiter eine dreimonatige Arreststrafe verbüßen  : »In politischer Hinsicht war Reiter nach dem I. Weltkrieg Sozialist und hatte am Februaraufstand 1934 insoferne teilgenommen, als er am 12.2.1934 in den damals verbotenen Streik trat.«1764 Seinem »Gnadengesuch um Erlassung bzw. Herabsetzung der Strafe wird mangels Vorliegen rücksichtswürdiger Gründe keine Folge gegeben.«1765 Auch die Verfahrenskosten und die der Haft hatte er zu tragen  : »Ausserdem wurde dem Beschuldigten die Tragung der Kosten des Strafverfahrens mit einem Beitrag von 10 % der verhängten Strafe (1 Tag = 10 S) das sind 90 S sowie die Tragung der Kosten des Strafvollzuges auferlegt.«1766 Am 17. Mai 1934 erfolgte die Entlassung aus dem Polizeigefängnis.1767 Mit 1. September 1936 wurde Johann Reiter in den Heimatverband der Stadt Salzburg aufgenommen. Das damit verbundene Heimatrecht erstreckte sich auch auf Reiters Ehefrau Maria und die gemeinsame Tochter Hildegard.1768 2.11.2 Leben nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1939 wurde Horst Reitters Onkel zur deutschen Wehrmacht einberufen, »bei welcher er ohne besondere Charge in einer Gebirgsjägereinheit diente«.1769 Am 29. August 1939 musste er in Oberalm bei Salzburg, damals ein Teil der Stadt Hallein, einrücken. Johann Reiter wurde der zweiten Kompanie des Landesschützen-Regiments vier zugeteilt. Die Aufstellung dieser Einheit erfolgte in der tschechischen Stadt Brünn. Die Kompanie sollte in der ersten September-Hälfte verlegt werden, um am Überfall auf Polen teilzunehmen.1770 In Brünn erschoss Johann Reiter, der den Dienstrang eines Gefreiten bekleidete, einen Unteroffizier im Rang eines Zugführers. Zu diesem tödlichen Streit dürfte es am 5. September 1939 gekommen sein. Denn an diesem Tag erlitt er selbst einen Durchschuss des linken Oberschenkels und wurde daraufhin im Brünner Reservelazarett I behandelt. Zwei Tage später trug er bei einem Fluchtversuch einen Streif1763 Kerschbaumer, Johann Reiter. 1764 BPDion Salzburg an Magistrat Salzburg, datiert 23.8.1951, SLA, OfA 18546. 1765 Bescheid Sicherheitsdirektor für das Bundesland Salzburg, datiert 30.3.1934, Eigentum von Susanne Edtbauer. 1766 Ebd. 1767 Siehe Haftbescheinigung BPDion Salzburg, datiert 28.2.1955, SLA, OfA 18546. 1768 Siehe Stadtmagistrat Salzburg an Johann Reiter, datiert 25.11.1936, Eigentum von Susanne Edtbauer. 1769 BPDion Salzburg an Magistrat Salzburg, datiert 23.8.1951, SLA, OfA 18546. 1770 Siehe Zentralkarteikarte, Johann Reiter, datiert 10.11.1970, Deutsche Dienststelle Berlin.

Johann Reiter  : »Das war ein Tabuthema«

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schuss am rechten Oberschenkel davon.1771 Am 8. September 1939 wurde Reiter zur weiteren Behandlung nach Wien in das Reservelazarett I verlegt. Am 2. November 1939 erfolgte um 14  :10 Uhr die Überstellung in das Wehrmachts-Untersuchungsgefängnis in der Hardtmuthgasse 42 im zehnten Wiener Gemeinde-Bezirk. Dort war auch das bezirksgerichtliche Gefangenenhaus untergebracht. Gegen den Untersuchungshäftling wurde wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung ermittelt.1772 Von 4. bis 20. Dezember 1939 befand er sich im Reservelazarett VII in Wien zur Begutachtung der beiden »Oberschenkelschüsse«,1773 danach in der Standort-Arrest­ anstalt. Vom Gericht der 177. Division wurde ihm der Prozess gemacht. Robert Fleischhacker, Verteidiger in Strafsachen mit Büro im ersten Wiener Gemeinde-Bezirk und Mitglied des »Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes«, berichtete Johann Reiters Ehefrau Maria über den Prozess, der wiederholt werden musste  : »Ihr Gatte wurde bei der ersten Verhandlung zu 2½ Jahren verurteilt. Da das Gericht annahm, dass er nicht recht wusste was er tat, als er seinen Zugsfuehrer erschoss. Da das Urteil vom Gerichtsherrn nicht bestaetigt wurde, fand eine zweite Verhandlung statt, bei welcher sich durch die Aussagen der Zeugen herausstellte, dass Ihr Mann bewusst auf den Unteroffizier schoss. Er wurde daher bei dieser Verhandlung zum Tode verurteilt.«1774 Die Verurteilung zum Tod und einer »Gesamtstrafe« in Höhe von sechs Jahren Gefängnis erfolgte am 12. Juni 1940 wegen Totschlag und Tätlichkeit gegen einen Vorgesetzten sowie Tätlichkeit und Widersetzung gegen drei Vorgesetzte, jeweils mit der »Waffe im Felde«.1775 Susanne Edtbauers Mutter Hildegard war zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt  : »Ich glaube, das war für sie so schlimm. Sie weiß nur, also, das hat sie schon erzählt, wie sie das letzte Mal nach Wien haben fahren dürfen, müssen, wie sie ihn das letzte Mal gesehen haben, und da hat sie teilweise gar nicht weiterreden können. […] Das war kurz bevor halt das passiert ist. Aber ich weiß nicht genau, wie lang vorher das war, das weiß ich alles nicht, ich weiß nur, dass sie da eben hinunterfahren haben dürfen unter Anführungszeichen, dass sie ihn das letzte Mal sehen, bevor er hingerichtet worden ist. […] Aber, wie gesagt, sie hat dann immer entweder abgebrochen oder wir haben gesehen, dass ihr das so nahe geht, dann haben wir auch nie nachgefragt.«1776 Zu einer Begnadigung kam es nicht, wie der Verteidiger an Reiters Ehefrau berichtete  : »Ich habe sofort ein Gnadengesuch an den Fuehrer als Obersten Befehls1771 Siehe Eingegangene Meldungen, Zentralkarteikarte, Johann Reiter, Deutsche Dienststelle Berlin. 1772 Siehe Karteikarte Johann Reiter, Gerichtsakten Division 177, ÖStA, AdR, MaNsZ GerA. 1773 Siehe Eingegangene Meldungen, Zentralkarteikarte. 1774 Robert Fleischhacker an Marie Reiter, datiert 1.8.1940, Eigentum von Susanne Edtbauer. 1775 Der Liquidator der Einrichtungen des Deutschen Reiches in der Republik Österreich an das Amt der Salzburger LR, datiert 13.11.1953, SLA, OfA 18546. 1776 Interview mit Susanne Edtbauer, S. 2.

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haber der Wehrmacht gerichtet, da dieses Gnadengesuch abschlaegig beschieden wurde, musste die Exekution an Ihrem Mann vollzogen werden. Ich selbst wurde erst am Abend vorher verstaendigt und habe mit Ihrem Mann noch gesprochen.«1777 Die Todesstrafe wurde am Morgen des 25. Juli 1940 vollstreckt, nachdem Reiter um 6  :00 Uhr aus dem Untersuchungsgefängnis abgeholt worden war  :1778 »Die Erschießungen wurden mit Tagesanbruch vollzogen – je nach Jahreszeit zwischen 6.15 Uhr und 7.15 Uhr in der Früh. Um 5 Uhr begannen die Vorbereitungen für den Abtransport der Todeskandidaten im betreffenden Wehrmachtgefängnis. Die an Händen und Füßen gefesselten Häftlinge mussten in einen bereitstehenden, vergitterten Lastwagen steigen. […] Zur Durchführung der Erschießungen wurden Wehrmachtangehörige abkommandiert.«1779 Johann Reiter war der erste von mindestens 129 zum Tod Verurteilten, die zwischen 1940 und 1945 am Militärschießplatz Kagran erschossen wurden.1780 Sein Leichnam wurde am Wiener Zentralfriedhof in einem Schachtgrab bestattet.1781 Nach der Hinrichtung erhielten die Hinterbliebenen in Salzburg, die nach wie vor in der Scherzhauserfeld-Siedlung wohnhaft waren,1782 eine Rente zugesprochen  : »Die Gattin Reiters, Maria, geborene Kössler, bezog nach dem Tode ihres Mannes während der NS-Zeit eine Witwenrente von monatl. 17.- RM und eine Halbwaisenrente für die Tochter Hildegard Reiter […] von monatl. 13.- RM.«1783 Ab 1. August 1940 wurde der Tochter von der Salzburger Landesversicherungsanstalt auch eine monatliche Waisenrente ausbezahlt.1784 Am 26. September 1941 starb Johann Reiters Mutter Carolina in Attnang-Puchheim, am 4. Jänner 1944 seine Ehefrau Maria in Salzburg. Reiters Tochter Hildegard, die Mutter von Susanne Edtbauer, beantragte am 8. August 1951 die Ausstellung einer Amtsbescheinigung nach dem Opferfürsorgegesetz. In der Begründung verwies sie auch auf die politische Einstellung ihres Vaters  : »Mein Vater Johann Reiter wurde bei Kriegsbeginn im September 1939 von der deutschen Wehrmacht zur Kriegsdienstleistung einberufen. Vorerst folgte er dem Einberufungsbefehl, verweigerte dann aber im November 1939 an die Front abgestellt zu werden, als über1777 Robert Fleischhacker an Marie Reiter, datiert 1.8.1940, Eigentum von Susanne Edtbauer. 1778 Siehe Totenzettel Johann Reiter, WStLA, historische Meldeunterlagen  ; Sterbeurkunde Johann Reiter, datiert 23.3.1942, SLA, OfA 18546. 1779 Brigitte Bailer, »Die Vollstreckung verlief ohne Besonderheiten.« Hinrichtungen in Wien, 1938 bis 1945. In  : Dies./Maderthaner/Scholz, »Die Vollstreckung verlief ohne Besonderheiten.« , S. 29 ff. 1780 Siehe Exenberger/Riedel, Militärschießplatz Kagran, S. 21. 1781 Siehe Zentralkarteikarte, Johann Reiter, datiert 10.11.1970, Deutsche Dienststelle Berlin  ; Exenberger/Riedel, Militärschießplatz Kagran, S. 84. 1782 Siehe Sterbeurkunde Johann Reiter, datiert 23.3.1942, SLA, OfA 18546. 1783 BPDion Salzburg an Magistrat Salzburg, datiert 23.8.1951, SLA, OfA 18546. 1784 Bescheid Landesversicherungsanstalt Salzburg, datiert 25.4.1942, Eigentum von Susanne Edtbauer.

Johann Reiter  : »Das war ein Tabuthema«

Abb. 23  : Die vom Verteidiger verfasste Verständigung über die Hinrichtung, S. 1.

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Abb. 23  : Die vom Verteidiger verfasste Verständigung über die Hinrichtung, S. 2.

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zeugter Gegner des Faschismus, als welcher er auch bereits im Februar 1934, weil er sich am Februaraufstande beteiligte, zu 3 Monaten Arrest verurteilt worden ist, die weitere Militärdienstleistung. Dabei geriet er mit seinem vorgesetzten Unteroffizier in eine Auseinandersetzung in deren Verlauf er denselben, nachdem er von diesem angeschossen worden war, niederschoß. […] Anfügen möchte ich noch, daß mein Vater seinem Heimatlande gegenüber im 1. Weltkrieg als Kaiserschütze seine Pflicht in einem solchen Ausmaße erfüllt hat, daß er mit der silbernen Tapferkeitsmedaille 1. Klasse ausgezeichnet worden ist.«1785 Die Bundespolizeidirektion Salzburg wurde daraufhin vom Salzburger Magistrat mit Erhebungen beauftragt. Hildegard Reiter war in der Stadt Salzburg gemeldet »und zur Zeit bei der amerikanischen Schule in Klessheim als Bedienerin beschäftigt. Sie hat dort ein Monatseinkommen von 700.- S, ist vermögenslos und hat nur für sich zu sorgen. Über sie scheint Nachteiliges weder in politischer, noch in moralischer Hinsicht auf.«1786 Gemäß dem Bescheid, der im September 1951 erlassen wurde, lagen bei Johann Reiters Tochter die im Opferfürsorgegesetz vom 4. Juli 1947 festgelegten Voraussetzungen vor.1787 1955 wurde Hildegard Reiter eine Haftentschädigung in Höhe von 3018,40 Schilling zuerkannt. Für jeden der insgesamt 14 Monate, die sich Johann Reiter nach seiner Streikteilnahme 1934 und vor seiner Hinrichtung 1940 in Haft befunden hatte, wurde seiner Tochter »pro Haftmonat die Hälfte von 70 % der jeweiligen Unterhaltsrente«1788 gewährt. Am 30. Juli 1953 kam Hildegard Reiters Tochter Elfriede auf die Welt. Am 17. September 1955 heirateten Hildegard und Karl Edtbauer. Am 9. Oktober 1963 wurde Susanne Edtbauer geboren. Hildegard Edtbauer verstarb am 11. April 2008 in der Stadt Salzburg. Susanne Edtbauers Bild von ihrem Großvater Johann Reiter war durch die Erzählungen ihrer Mutter geprägt worden. Diese habe ihn beschrieben »als gestandenes Mannsbild, wie man so sagt, der seinen eigenen Dickschädel gehabt hat und trotzdem die weiche Seite, die er gerade bei seiner Tochter gern ausgelebt hat. […] Anscheinend, was halt die Mama gesagt hat, er ist nicht lang wo gesessen, dann haben sie gleich wieder zum Politisieren angefangen. Also das war anscheinend auch von ihm innerer Antrieb, nicht wenn ihn wer anredet, sondern dass er einfach seine Meinung kundtut.«1789 In ihrer Herkunftsfamilie sei die Hinrichtung Johann Reiters sehr wohl thematisiert worden. Edtbauers Mutter Hildegard, Reiters Tochter, habe auch mit Außen1785 Antrag auf Ausstellung einer Amtsbescheinigung, datiert 8.8.1951, SLA, OfA 18546. 1786 BPDion Salzburg an Magistrat Salzburg, datiert 23.8.1951. 1787 Siehe Bescheid Amt der Salzburger Landesregierung, datiert 7.9.1951, SLA, OfA 18546. 1788 Bescheid Amt der Salzburger Landesregierung, datiert 21.3.1955, Eigentum von Susanne Edtbauer. 1789 Interview mit Susanne Edtbauer, S. 3.

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stehenden darüber gesprochen  : »Sie ist immer dahintergestanden, sie hat da nie etwas hinter dem Berg gehalten oder geleugnet, das war so und das ist so und fertig Punkt. Da ist nie irgendwie so das Tuch des Vergessens oder des Verschweigens, sondern das ist immer offen ausgesprochen worden.«1790 2.11.3 Durchbrechen des Schweigens Horst Reitter hingegen kann sich nicht daran erinnern, dass sein am 11. Februar 1904 geborener Vater Karl Reitter bis zu dessen Tod am 27. Jänner 1992 jemals mit ihm über den hingerichteten Bruder geredet hätte  : »Ich glaube eher, dass er kein gutes Verhältnis gehabt hat und dass er das verheimlichen wollte vor uns, das glaube ich schon. Weil, dass er gar nichts gewusst hat, das glaube ich nicht.«1791 Karl Reitter war eigenen Angaben zufolge von Mai 1938 bis Mai 1945 Mitglied von NSDAP und SA gewesen.1792 Zwischen den Brüdern sei es aufgrund ihrer unterschiedlichen politischen Ansichten zu Spannungen gekommen. Der nationalsozialistisch gesinnte Eisenbahner Karl Reitter habe die sozialdemokratische Einstellung seines Bruders Johann Reiter abgelehnt  : »Ich habe immer das Gefühl, mein Vater redet nicht über den, weil er sich geniert oder irgend so etwas, habe ich den Eindruck gehabt.«1793 Die unterschiedliche Schreibweise der Nachnamen von Johann Reiter und Karl Reitter führt Horst Reitter auf diesen Konflikt zurück  : »Mein Vater hat sich angeblich mit zwei ›t‹ schreiben lassen, keiner wusste wann und wie, weil er sich nicht so schreiben wollte wie der Johann. Das war so das, was ich so herausgehört habe, geglaubt habe.«1794 Bereits der Nachname des Vaters von Karl Reitter und Johann Reiter wurde jedoch in die Matriken sowohl mit zwei als auch einem »t« eingetragen  : Jeweils mit zwei »t« im Taufbuch der römisch-katholischen Pfarre Regau in Oberösterreich, wo Josef Reitter am 20. Jänner 1865 geboren worden war, im Trauungsbuch der Pfarre St. Georgen im Attergau, wo Caroline Treidl und Josef Reitter am 30. Juni 1890 geheiratet hatten, sowie im Taufbuch der Pfarre Attnang, wo Karl Reitter am 11. Februar 1904 auf die Welt gekommen war.1795 Ins Taufbuch 1790 Interview mit Susanne Edtbauer, S. 3. 1791 Interview mit Horst Reitter, S. 2 1792 Siehe Registrierungsblatt zur Verzeichnung der Nationalsozialisten, datiert 29.10.1947, OÖLA, Attnang, Bezirk Vöcklabruck. 1793 Interview mit Horst Reitter, S. 8. 1794 Ebd., S. 17. 1795 Siehe Taufbuch Regau 1865, URL  : https  ://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/oberoesterreich/ regau/106%252F1865/?pg=2 (letzter Zugriff  : 3.10.2020)  ; Trauungsbuch St. Georgen im A ­ ttergau 1890, URL  : https  ://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/oberoesterreich/st-georgen-im-­atter gau/207%252F1890/?pg=4 (letzter Zugriff  : 21.10.2021)  ; Taufbuch Attnang 1904, URL  : https  ://

Johann Reiter  : »Das war ein Tabuthema«

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von St. Georgen im Attergau hingegen, wo Johann Reiter herstammte, wurde der Familienname mit einem »t« eingetragen.1796 Nach dem Ende der NS-Diktatur verlor Karl Reitter seinen Arbeitsplatz bei den Österreichischen Bundesbahnen  : »Ich weiß auch nicht, wie weit mein Vater sich im Nachhinein dann von dem Nationalsozialismus distanziert hat, da haben wir auch kaum geredet. Er wurde ja dann vom Dienst suspendiert, er ist ja gekündigt worden bei der Bahn. Die Sozialdemokraten haben ihn praktisch rausgeschmissen, und das hat auch irgendwie einen Einfluss, dass ich mit den ›Sozi‹ gefühlsmäßig nicht sehr nahe bin. […] Die haben ihn praktisch aus der Bahn hinausbefördert, und da war er einige Jahre dann Nachtwächter in einem Holzbetrieb in Wankham bei Attnang.«1797 Das Ehepaar Josef und Carolina Reitter hatte acht eheliche Kinder in die Welt gesetzt. Horst Reitters Vater pflegte intensive Kontakte zu seinen Geschwistern und deren Familien. Die Enkelkinder des hingerichteten Bruders, Elfriede und Susanne Edtbauer, verbrachten einen Teil ihrer Schulferien in der Wohnung von Horst Reitters Eltern im oberösterreichischen Attnang-Puchheim. Auch Johann Reiters Tochter Hildegard stattete ihrem Onkel Karl Reitter und dessen Familie Besuche ab  : »Ich weiß nicht, wie das am Anfang war, aber soweit ich mich zurückerinnern kann, mit der Hilde und ihrer Familie gab es immer Kontakte. Die waren auch immer eingeladen bei uns, und die Elfi und die Susanne waren als Kinder eben bei meinen Eltern in den Ferien, ich weiß nicht mehr wie lang, eine Woche, zwei Wochen, länger.«1798 Dass sein Onkel Johann Reiter »im Krieg«1799 gewesen war, wusste Horst Reitter, der Vater des Verfassers, spätestens seit der ersten Hälfte der 1970er-Jahre. Weiterführende Informationen über dessen Verbleib besaß er jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht  : »Dass mit dem irgendetwas war, das Gefühl habe ich schon lange gehabt. Nur weiß ich nicht genau, seit wann. Weil, mein Vater hat über den nichts gesagt. Also ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater den Johann, Bruder Johann, da erwähnt hat, dass der irgendetwas angestellt haben soll und dadurch exekutiert wurde. Also das hat er, kann ich mich nicht erinnern, dass er das einmal erzählt hat.«1800 Als Horst Reitter im Herbst 2015 mit den genealogischen Forschungen eines entfernten Verwandten konfrontiert wurde, habe er von der Hinrichtung Johann Reiters gehört, ohne jedoch genauere Hintergründe zu erfahren  : »Ich war auch nicht sehr neugierig, muss ich auch ganz ehrlich sagen. Erst in den letzten Jahren, kann data.matricula-online.eu/de/oesterreich/oberoesterreich/attnang/106%252F1904/?pg=4 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1796 Siehe Taufbuch St. Georgen im Attergau 1898, URL  : https  ://data.matricula-online.eu/de/oester reich/oberoesterreich/st-georgen-im-attergau/106%252F1898/?pg=24 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 1797 Interview mit Horst Reitter, S. 8. 1798 Ebd., S. 4. 1799 Ebd., S. 1. 1800 Ebd.

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man sagen, […] hat mich das eben mehr interessiert. […] Ich habe mich eben relativ spät für das interessiert, muss ich ganz ehrlich sagen.«1801 Auf die Frage, ob ihn die Lebensgeschichte seines hingerichteten Onkels beschäftige, antwortete Reitter  : »Ich meine, es lässt mich nicht kalt, sagen wir, es berührt mich natürlich schon, aber nicht so sehr, weil er eben kein naher Verwandter ist.«1802

1801 Interview mit Horst Reitter, S. 1 f. 1802 Ebd., S. 10.

3. Täter- und Täterinnen-Familien Acht der zehn Fallbeispiele, die in diesem Kapitel enthalten sind, beziehen sich auf die Lebensgeschichten von an nationalsozialistischen Verbrechen unmittelbar beteiligten Personen. Fünf der zehn Fälle basieren auf den Biografien von Männern, die nachweislich Mitglied der »Schutzstaffel« SS und der »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« NSDAP gewesen waren. In einem Fall war der Vorfahr, über den geschwiegen worden war, Mitglied der paramilitärischen »Sturmabteilung« SA und der NSDAP gewesen. Eine männliche Person war Parteimitglied und Angehöriger der Wehrmacht. Einer weiteren konnte, entgegen der von einer Nachfahrin geäußerten Vermutung, lediglich die Beteiligung am Zweiten Weltkrieg als Soldat des Heers nachgewiesen werden. Ein Fallbeispiel beruht auf der Lebensgeschichte eines »Rassenhygienikers«, ein weiteres auf der einer Schlossbesitzerin, die in ein Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern involviert gewesen war. Ein Teil der Fallbeispiele basiert auf autobiografischen Publikationen. Mehrere Nachfahren von wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten Nationalsozialisten wollten auf Anfrage kein Interview geben. Bei ihren Vorfahren handelt es sich beispielsweise um den 1946 hingerichteten ehemaligen Leiter des »Reichssicherheitshauptamts« RSHA und des »Sicherheitsdiensts« SD, Ernst Kaltenbrunner, sowie den 1962 in Israel gehängten Organisator der Verfolgung, Verschleppung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden, Adolf Eichmann. In deren Familien sei, so die Aussagen in den abschlägigen Antworten, die Täterschaft der Vorfahren ein Tabuthema oder nie ein Thema gewesen. Mitglieder der Herkunftsfamilie hätten darüber einen Mantel des Schweigens gebreitet. Für die Reihung innerhalb des Kapitels wurden Kriterien wie die Mitgliedschaft bei den nationalsozialistischen Kampforganisationen SS und SA sowie bei der ­NSDAP herangezogen, ebenso die Art der Täterschaft, die nachgewiesen werden konnte, oder die Stellung innerhalb der Hierarchie der NS-Diktatur. Bei neun dieser zehn Vorfahren, über die geschwiegen worden war, handelt es sich um Männer. In einem Fall wird die Lebensgeschichte einer Frau thematisiert.

3.1 W4  : »Am Anfang war es schon sehr heftig für mich« 1 Als die im ersten Quartal 1971 in Oberösterreich geborene Unternehmerin W42 mit Anfang 40 anfing, sich mit der Geschichte ihrer Familie auseinanderzusetzen, sei sie 1 Interview mit W4, Transkript S. 1. 2 Die mit der Interviewpartnerin mündlich getroffene Vereinbarung lautet, solange ihre Mutter lebt, die

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»auf alles draufgekommen«.3 Im Kindesalter war ihr eingeredet worden, dass der aus dem Bundesland Salzburg stammende Ehemann ihrer Großmutter mütterlicherseits, der nicht der leibliche Vater ihrer Mutter war, in den 1960er-Jahren vom Hausdach gefallen und gestorben sei. In der späten Adoleszenz erfuhr sie von ihrer im ersten Quartal 1965 geborenen Schwester, dass der Stiefvater ihrer Mutter »ein Nazi«4 gewesen und nicht bei einem Sturz ums Leben gekommen sei, sondern im zweiten Quartal 1965 Suizid verübt habe, »aber konkrete Hintergründe hat sie mir nicht erzählt. Ich weiß gar nicht, ob sie das damals gewusst hat.«5 Gegen den Ehemann ihrer Großmutter, den sie als »sozialen Vater ihrer Mutter« oder »sozialen Großvater« bezeichnet, waren von der österreichischen Justiz im ersten Quartal 1965 Vorerhebungen wegen Totschlag eingeleitet worden. W4 fand im Zuge ihrer Nachforschungen, »dieser eher wilden emotionalen Reise«,6 heraus, dass ihr Stiefgroßvater ab 1933 Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei NSDAP7 gewesen und 1937 der zivilen SS beigetreten war. Von 1939 bis 1945 hatte er dem Nachrichtendienst SD, dem »Sicherheitsdienst des Reichsführers SS«, gedient. Als Mitglied eines »Einsatzkommandos« war er von 1941 bis 1943 »im Osten« in den besetzten Gebieten »an der Vernichtung der Juden und der sonstigen Personen, die dem dritten Reiche unerwünscht waren«,8 beteiligt gewesen  : »Am Anfang war es schon sehr heftig für mich. […] Für mich wäre es leichter gewesen, wenn mir das daheim erzählt worden wäre. […] Ich habe total viele Fragen, aber es ist niemand mehr da, der mir die beantworten kann.«9 3.1.1 Leben und Strafverfolgung vor 1938 Der Stiefgroßvater von W4 kam im zweiten Quartal 1912 als uneheliches Kind einer im zweiten Quartal 1888 geborenen Kellnerin und eines Kaufmanns auf die Welt. Am Tag darauf wurde er römisch-katholisch getauft. Seine Mutter war zum Zeitpunkt der Geburt 23 Jahre alt. Als Taufpatin scheint die Wirtin jenes Gasthofs auf, in dem die Mutter beschäftigt war. Der Geburtsort befindet sich in einer touristisch geprägten österreichischen Gemeinde, die 1939 in die angrenzende Bezirkshauptstadt eingegliedert worden ist.

3 4 5 6 7 8 9

Forschungsdaten ausschließlich in anonymisierter Form zu veröffentlichen. Die Daten wurden vom Verfasser anonymisiert. Interview mit W4, S. 25. Ebd., S. 23. Ebd., S. 4. Ebd., S. 27. In Österreich war die NSDAP zwischen Juni 1933 und dem »Anschluss« im März 1938 verboten. Gendarmerieposten an Volksgericht, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. Interview mit W4, S. 22.

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Der Name des leiblichen Vaters, der aus einem Nachbarbezirk stammte, scheint im Taufbuch nicht auf. Er findet sich beispielsweise auf einem Formular der USArmee, das im dritten Quartal 1946 im US-Internierungslager am Gelände des na­ tio­nalsozialistischen Konzentrationslagers Dachau10 bei München ausgefüllt ­wurde.11 In einem 1948 erstellten Leumundszeugnis, in dem die Vermögensverhältnisse der Eltern des Stiefgroßvaters von W4 verzeichnet wurden, ist vermerkt, der Vater »besitzt ein zweistöckiges Haus mit Gemischtwarenhandlung und kleiner Landwirtschaft (2 ha Grund). Dessen Ehefrau ist bereits verstorben. Die Mutter […] ist in Salzburg […] wohnhaft und besitzt angeblich kein Vermögen.«12 Diese hatte in der Zwischenzeit geheiratet und trug den Nachnamen ihres Ehemanns. Im ersten Quartal 1919 wurde die spätere Ehefrau des Stiefgroßvaters von W4 geboren. Ihr Geburtsort befindet sich im selben Bezirk wie der des Stiefgroßvaters, aber in einer anderen Gemeinde. Am Tag nach der Geburt fand die Taufe statt. Von 1918 bis 1926 besuchte der Stiefgroßvater von W4 sechs Klassen Volks- sowie zwei Klassen Bürgerschule. Im zweiten Quartal 1923 empfing er das Sakrament der Firmung. Nachdem seine Schulzeit zu Ende war, arbeitete der Stiefgroßvater »infolge Fehlens eines geeigneten Lehrplatzes teils im väterlichen Betrieb […] als Hilfsarbeiter und in der Landwirtschaft.«13 Gemäß den Angaben in seinem knapp eineinhalb Seiten umfassenden handschriftlichen Lebenslauf aus dem zweiten Quartal 1944 wechselte er 1931 in das Hotel- und Gastgewerbe. Dieser Lebenslauf wurde vor der Verehelichung mit der Großmutter von W4 auf einem dafür vorgesehenen Formular des »Rasse- und Siedlungshauptamts« der SS verfasst. Zunächst arbeitete der Stiefgroßvater in einem Gasthof als Hausdiener. Er eignete sich »in der Folgezeit gewisse Fachkenntnisse an, u. a. die für den Sprachgebrauch erforderlichen Kenntnisse der engl. u. franz. Sprache. Von 1934–1938 arbeitete ich in verschiedenen Hotels als Lohndiener und Portier«14 sowie als Hilfsarbeiter in der Bauwirtschaft.15 Gemäß Paragraf vier des österreichischen »Nationalsozialistengesetzes« von 1947 mussten alle Personen, die »zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 27. April 1945 a) der NSDAP oder ihren Wehrverbänden SS oder SA oder b) dem NS-Soldatenring 10 In der US-Besatzungszone existierten bis 1950 insgesamt 46 Einrichtungen für Internierte. Dem Internierungslager in Dachau kam eine gewisse Sonderstellung zu, da es ein Speziallager für mutmaßliche Kriegsverbrecher beherbergte. Siehe Kathrin Meyer, Die Internierung von NS-Funktionären in der US-Zone Deutschlands. In  : Dachauer Hefte 19 (2003) 19, Zwischen Befreiung und Verdrängung, S. 24. 11 Siehe Formular US-Armee, datiert 3. Quartal 1946, Landesarchiv. 12 Leumundschreiben, LG an Gendarmeriepostenkommando, datiert 1. Quartal 1948, Landesarchiv. 13 Lebenslauf Stiefgroßvater von W4, datiert 2. Quartal 1944, Kopie im Eigentum von W4. 14 Ebd. 15 Siehe Taufbuch, URL  : https  ://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/ (letzter Zugriff  : 20.8.2020).

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oder dem NS-Offiziersbund angehört haben oder c) Führer in den Wehrverbänden NSKK oder NSFK vom Untersturmführer oder Gleichgestellten aufwärts oder Funktionäre in einer sonstigen Gliederung, Organisation oder in einem sonstigen angeschlossenen Verband von dem einem Ortsgruppenleiter der NSDAP entsprechenden Rang aufwärts oder Angehörige der Gestapo oder des SD waren«,16 ein Registrierungsblatt ausfüllen. Auf dem des Stiefgroßvaters von W4, das 1948 erstellt wurde, scheint als erlernter Beruf auch »Küchenmetzger«17 auf. Im zweiten Quartal 1937 zeigte ihn ein Gendarm aus »eigenem Antrieb«18 an und nahm ihn fest. Dem Stiefgroßvater von W4 wurde vorgeworfen, Mitglied der SS-Ortsgruppe zu sein und »als solches die monatlichen Mitgliedsbeiträge und außerdem noch anderweitige Kampfspenden geleistet«19 zu haben. Als Beweismittel ist die Aussage eines »Sturmführers« der SS angeführt. Dieser soll gegenüber zwei Gendarmen ausgesagt haben, dass er ihn und vier weitere Männer zwei Jahre zuvor »als Mitglieder zur SS angeworben habe. Die vorgenannten SS-Männer waren mir unterstellt und habe ich auch bei ihnen die Mitgliedsbeiträge einkassiert. Weiters habe ich an meine unterstellten SS-Leute zu Weihnachten 1936 mehrere Parteispendenmarken mit der Aufschrift ›Rein halte dein Blut‹ zum Preise von 50 g verkauft. Weiters verteilte ich an meine SS-Leute den österr. Beobachter und zwar pro Exemplar um 20 g. […] Alle 14 Tage fanden im Hause des […] Appelle statt«.20 Den Mitgliedern sei bei den Zusammenkünften »strengste Verschwiegenheit aufgetragen«21 worden. Der Stiefgroßvater von W4 leugnete bei seiner Einvernahme, der SS anzugehören  : »Ich habe mich weder vor noch nach dem Verbot für die NSDAP sowie für die SS interessiert und war auch nie Mitglied dieser Partei. Ebenso stelle ich in Abrede, für die SS jemals einen Mitgliedsbeitrag geleistet zu haben. Ich habe auch nie den österr. Beobachter bekommen und weiß von dem Bestande einer SS-Formation in […] überhaupt nichts.«22 1944 legte der Stiefgroßvater von W4 gegenüber dem »Rasse- und Siedlungshauptamt« der SS jedoch seine Mitgliedschaften offen  : »Mitglied der NSDAP bin ich seit […] 1933, Mitglied der SS seit Anfang Feber 1937.«23 16 Bundesverfassungsgesetz vom 6.2.1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten, Bundesgesetzblatt, datiert 17.2.1947, S. 278, URL  : https  ://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1947_25_0/1947_25_ 0.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 17 Registrierungsblatt Stiefgroßvater von W4, datiert 2. Quartal 1948, Landesarchiv. 18 Gendarmerieposten-Kommando an Bezirksgericht, datiert 2. Quartal 1937, Landesarchiv. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Lebenslauf Stiefgroßvater von W4, datiert 2. Quartal 1944, Kopie im Eigentum von W4.

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Auf dem Personal-Fragebogen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei wurde 1938 außerdem vermerkt, dass der Stiefgroßvater von W4 1931 der SA beigetreten war. 1933 hatte er gemäß seinen Angaben zuletzt Beiträge an einen SA-Sturmführer bezahlt. Von 1933 bis Februar 1937 leistete er keine Zahlungen an die Partei  : »Konnte infolge des strengen Dienstes mich nicht mehr aktiv betätigen. […] Bekam 1932 als Lohndiener Arbeit, war dadurch gezwungen, meinen Wohnort ständig zu wechseln. In den Sommer- und Wintermonaten war ich in Arbeit in einem Gasthaus, hatte eine Arbeitszeit von 4h – 5h früh bis 10 – 12h nachts. War mir daher unmöglich den Dienst in der SA od. Turnverein nachzukommen. Meine nat. soz. Gesinnung jedoch trug ich immer offen zur Schau. 1934 wurde meinem Arbeitsgeber wegen mir nach einer Hausdurchsuchung mit der Sperrung des Betriebes gedroht. In der folgenden Zeit mußte ich mich beschränken, so gut es mir möglich war, mit Geldspenden der großen Sache zu dienen (Spenden für eingesperrte Kameraden, Winterhilfe, Benzinkauf für Hakenkreuzfeuer usw.).«24 Aus der Partei sei er weder ausgetreten noch ausgeschlossen worden. Als Zeitpunkt des Wiedereintritts scheint Februar 1937 auf, weil ab diesem Monat wieder Parteibeiträge bezahlt wurden. Die Verhaftung des Stiefgroßvaters von W4 im zweiten Quartal 1937 erfolgte wegen »vorhandener Verabredungsgefahr, da zu befürchten steht, daß er auf eine die Ermittlung der Wahrheit hindernde Art auf Zeugen und noch anderen Mitschuldigen einwirken und dadurch die weitere Untersuchung erschweren könnte«.25 Eine Stunde später wurde er »dem Bezirksgerichte […] gegen Übernahmsbestätigung eingeliefert.«26 Auch bei der ersten gerichtlichen Einvernahme bestritt der Stiefgroßvater, Mitglied der zu diesem Zeitpunkt in Österreich verbotenen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder der SS zu sein  : »Ich war nie Mitglied der NSDAP, weder vor noch nach dem Verbote der Partei. Ich kam wohl von Zeit zu Zeit in das Haus der […], aber nur zu dem einen Zweck, um mich mit […] und […] zu treffen, weil sie Berufskollegen sind, die ich schon lange kenne. Zu einem politischen Zweck bin ich aber nie hingekommen. Es kann sein, dass wir hin und wieder auch auf ein politisches Thema gelegentlich gekommen sind. Aber es ist nie so weit gekommen, dass ich Mitglied der Partei geworden wäre. Daher ist es auch unmöglich, dass ich Mitgliedsbeiträge einbezahlt haben soll oder Appelle besucht habe.«27 Über die Zahlung von Mitgliedsbeiträgen und die Teilnahme an Appellen äußerte sich der Stiefgroßvater von W4 im Jahr darauf auf dem Personal-Fragebogen der

24 Abschrift Personal-Fragebogen NSDAP zum Antragschein auf Ausstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich, datiert 2. Quartal 1938, Landesarchiv. 25 Gendarmerieposten-Kommando an Bezirksgericht, datiert 2. Quartal 1937, Landesarchiv. 26 Ebd. 27 Aussage 1 Bezirksgericht, datiert 2. Quartal 1937, Landesarchiv.

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NSDAP  : »Hatte 1936 das Glück, meinen Arbeitsplatz wechseln zu können, kam in ein Hotel, meine Arbeitszeit wurde etwas günstiger. So konnte ich mich wieder aktiv betätigen, trat Feber 1937 in die SS ein, konnte an den Appellen und Aktionen anwesend sein und bezahlte seither pünktlich meinen Monatsbeitrag von 2,30 S.«28 Ein führendes Mitglied der SS bestätigte die Angaben mit seiner Unterschrift. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP befürwortete den Stiefgroßvater von W4 »zur Aufnahme«.29 Der Kreisleiter nahm dies im dritten Quartal 1938 zur Kenntnis. Im ersten Quartal 1947 gab der Stiefgroßvater von W4 an, »wegen einmaliger Bezahlung von 1 Schilling Unterstützung an SS-Angehörigen (Spende)«30 in Haft gewesen zu sein. Drei Tage nach der Festnahme im zweiten Quartal 1937 leitete die Staatsanwaltschaft der Landeshauptstadt eine Voruntersuchung wegen der Teilnahme an einer bewaffneten Verbindung und deren Unterstützung ein. Die Anklagebehörde beantragte sowohl die Verhängung der Untersuchungshaft als auch die Verbindung des Falls mit einer anderen anhängigen Strafsache. Diese betraf weitere mutmaßliche SS-Mitglieder. Eine Woche nach der Verhaftung ersuchte das Landesgericht der Landeshauptstadt das Bezirksgericht, eine Gegenüberstellung durchzuführen. Sollte der Stiefgroßvater von W4 danach weiterhin leugnen, dann »wolle er dem landesgerichtlichen Gefangenenhaus überstellt werden, ansonsten wolle er weiters dortgerichts in Haft behalten werden, weil dann Enthaftung in Erwägung gezogen wird.«31 Zwölf Tage nach der Festnahme wurde der Stiefgroßvater von W4 jener Person gegenübergestellt, die angegeben hatte, sein »Rottenführer« zu sein. Daraufhin änderte er seine Aussage  : »Ich gebe es zu, dass ich zur Rotte des […] zugeteilt war. Ich war wohl dem Namen nach dieser Gruppe angehörig, habe mich jedoch im Allgemeinen an den Übungen und Aussprachen nicht beteiligt. Über Einladung des […], der mich auch zur SS angeworben hat, bin ich einmal zu einer Besprechung zu […] gekommen. Ich werte dies aber nicht als einen regelrechten Appell, weil in der Hauptsache über körperliche Ertüchtigung gesprochen wurde. […] Einen Mitgliedsbeitrag habe ich nie bezahlt, weil ich auch nie dazu verhalten wurde. An Zeitschriften und Zeitungen wurde mir nie eine Nummer übergeben. […] Jedenfalls habe ich mich nie als richtiges, vollwertiges Mitglied der SS betrachtet.«32 Zwei Wochen nach der Verhaftung meldete ein Revierinspektor des für den Bezirk zuständigen Gendarmerieposten-Kommandos an das Landesgericht in der 28 Abschrift Personal-Fragebogen NSDAP. 29 Ebd. 30 Erklärung, datiert 1. Quartal 1947, Kopie im Eigentum von W4. 31 LG an Bezirksgericht, datiert 2. Quartal 1937, Landesarchiv. 32 Aussage 2 Bezirksgericht, datiert 2. Quartal 1937, Landesarchiv.

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Landeshauptstadt, dass der Stiefgroßvater von W4 nicht als vorbestraft verzeichnet aufscheint. Dieser sei »jedoch dem Posten als unentwegter, fanatischer Nazi bekannt.«33 Der bis zu diesem Zeitpunkt gerichtlich unbescholtene Stiefgroßvater wurde schließlich nach einem Monat und zehn Tagen »über Auftrag des Herrn Untersuchungsrichters gegen Gelöbnis enthaftet.«34 Zwei Monate nach der Festnahme erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Die Hauptverhandlung fand im vierten Quartal 1937, ein halbes Jahr nach der Verhaf­tung, im Landesgericht der Landeshauptstadt statt. Bei dem Prozess mussten sich insgesamt neun »Genossen wegen verschiedener Verbrechen nach dem Staatsschutzgesetz«35 verantworten. Dem Stiefgroßvater von W4 wurde vorgeworfen, Mitglied der SS zu sein und damit gegen die Paragrafen zwei36 und fünf37 des Staatsschutzgesetzes verstoßen zu haben. Die meisten der Angeklagten erschienen ohne Verteidiger vor Gericht. Der Stiefvater der Mutter von W4 wurde als Viertangeklagter bezeichnet. Er bestritt, jemals einer nationalsozialistischen Organisation angehört zu haben  : »Ich war niemals Mitglied der SS oder auch nur der NSDAP, ich habe das auch nie zugegeben.«38 Ihm wurden die beiden Parteispendenmarken vorgelegt, die bei der Durchsuchung durch die Gendarmerie in seiner Geldtasche gefunden und beschlagnahmt worden waren. Daraufhin gab er an, gedacht zu haben, »sie seien vom ›Antisemitenbund‹ herausgegeben. […] Ich dachte nicht, dass ich bei Ankauf dieser Spendenmarken etwas Verbotenes mache.«39 Obwohl der Stiefgroßvater von W4 im zweiten Quartal 1937 seine diesbezügliche Aussage vor dem Untersuchungsrichter am Bezirksgericht unterschrieben hatte, leugnete er, je zugegeben zu haben, der »SS-Rotte« seines mutmaßlichen »Rottenführers« zugeteilt gewesen zu sein  : »Ich habe dieses Protokoll unterschrieben, ohne dass es mir vorgelesen worden wäre. Ich gab niemals zu, dass ich mit meinem Wissen der Rotte des […] zugeteilt war, auch bei Gegenüberstellung mit […] nicht. Damals befand ich mich schon lange Zeit in Haft, die Saison hatte begonnen und ich fürchtete, meinen Posten als Lohndiener zu verlieren, wenn ich nicht bald antrete. […] Ich 33 Gendarmerieposten-Kommando an LG, datiert 2. Quartal 1937, Landesarchiv. 34 Enthaftungsbericht, datiert 2. Quartal 1937, Landesarchiv. 35 Protokoll Hauptverhandlung, datiert 4. Quartal 1937, Landesarchiv. 36 Teilnahme an einer bewaffneten Verbindung oder Unterstützung einer bewaffneten Verbindung, Strafdrohung  : 6 Monate bis 5 Jahre Kerker, siehe Staatsschutzgesetz, Bundesgesetzblatt für den Bundesstaat Österreich vom 11.7.1936, S. 455, URL  : http  ://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=bgl&da tum=19360004&seite=00000455 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 37 Teilnahme an einer staatsfeindlichen Verbindung oder Unterstützung einer staatsfeindlichen Verbindung, Strafdrohung  : 6 Monate bis 5 Jahre Kerker, siehe Staatsschutzgesetz, S. 455 f. 38 Protokoll Hauptverhandlung, datiert 4. Quartal 1937, Landesarchiv. 39 Ebd.

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machte daher ›einige Angaben‹, ich bleibe aber dabei, dass ich niemals zugab, dass ich bei der SS war und dem […] unterstellt war. Dies ist nicht der Fall gewesen.«40 Die zwei Berufsrichter und die beiden Schöffen sprachen alle neun Angeklagten schuldig. Das Schöffengericht sah es als erwiesen an, dass diese sich von Sommer 1936 bis April 1937 in der Bezirkshauptstadt führend »an einer heimlich und verbotswidrig nach militärischen Grundsätzen organisierten Verbindung«41 betätigt haben. Der Stiefgroßvater von W4 wurde zu zweieinhalb Monaten Kerker verurteilt. Das Gericht rechnete die Untersuchungshaft auf die Strafe an und gewährte ihm einen zweiwöchigen Strafaufschub, »weil er derzeit als Hilfsarbeiter Arbeit habe«.42 In der Begründung des Urteils wurde ausgeführt, das Abbrennen von Hakenkreuzund Höhenfeuern anlässlich des Geburtstags von Adolf Hitler im April 1937 habe zur Aushebung des Sturmbanns der SA in der Region geführt  : »Zum Teil wurde auch die besonders geheim gehaltene Organisation der SS in […] aufgedeckt und deren Führer in der Person des […] festgestellt. Die heutigen Angeklagten waren teils Unterführer, teils Mitglieder der erwähnten SS Formation und entwickelten auch nach dem Juliabkommen eine rege politische Tätigkeit, die insbesondere darin bestand, dass sie die vom […] abgehaltenen Appelle besuchten, sich von ihm in politischer wie militärischer Richtung schulen liessen, Mitgliedsbeiträge und Spenden für nat. soz. Zwecke zahlten und das Kampfblatt der NSDAP Oesterreichs gegen Entrichtung eines Regiebeitrages bezogen. Die Angeklagten, die meist den Beruf eines Hoteldieners betreiben, waren während der Sommer- und Winterfremdensaison meist in Beurlaubtenstand.«43 Zwei Wochen nach der Gerichtsverhandlung wurde der »Untersuchungs-Gefangene […] um 12 Uhr Mittag in Strafhaft genommen.«44 Er musste lediglich einen Teil der Strafe absitzen, wie im zweiten Quartal 1938 auf dem Personal-Fragebogen der NSDAP vermerkt wurde  : »8 Wochen Arrest unverbüßt.«45 3.1.2 Verbrechen während der NS-Zeit Der Stiefgroßvater von W4 hatte seinen Angaben zufolge nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich »den Wunsch, in den Staatsdienst zu kommen. Ich bewarb mich, und wurde auf Grund meiner Sprachkenntnisse – ich beherrsche mehrerer Fremdsprachen – zum SD eingezogen.«46 Mit Jahresbeginn 1939 sei er 40 Protokoll Hauptverhandlung. 41 Urteil, datiert 4. Quartal 1937, Landesarchiv. 42 Protokoll Hauptverhandlung. 43 Urteil, datiert 4. Quartal 1937, Landesarchiv. 44 Landesgerichtliche Gefangenhausverwaltung, datiert 4. Quartal 1937, Landesarchiv. 45 Abschrift Personal-Fragebogen NSDAP 46 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv.

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hauptamtlich in den »Sicherheitsdienst des Reichsführers SS« übernommen worden, wie der Stiefgroßvater selbst mitteilte. Er war der Dienststelle in der Hauptstadt des Landkreises, aus dem er stammte, zugeteilt. Auf dem Lebenslauf, den er 1944 für das »Rasse- und Siedlungshauptamt« der SS erstellte, gab er an, »Geschäftsführer der SD-Hauptaußenstelle […]«47 gewesen zu sein. Im ersten Quartal 1939 trat der Stiefgroßvater von W4 aus der katholischen Kirche aus. Bei seiner Musterung im vierten Quartal 1939 gab er den Wunsch an, der Luftwaffe zugeteilt zu werden. Gemäß den Angaben des Wehrbezirkskommandos war der Stiefgroßvater zu diesem Zeitpunkt zwischen 169 und 172 Zentimeter groß, zwischen 63 und 64,5 Kilogramm schwer, schlank und hatte keine Vorstrafen. Die Verurteilung aus dem vierten Quartal 1937 fand keine Erwähnung. Er wurde wegen seiner Tätigkeit für den SD unabkömmlich gestellt und nicht zur Wehrmacht eingezogen. Die Großmutter mütterlicherseits von W4 hatte zunächst eine Beziehung mit einem anderen Mann. Im ersten Quartal 1940 kam die Mutter von W4 als uneheliches Kind zur Welt  : »Meine Mutter kommt aus […], ist dort […] unterm Krieg als lediges Kind geboren. Ihr Vater ist gefallen und wir hatten eigentlich nicht sehr viel Kontakt mit dieser Familie.«48 Im vierten Quartal 1941 trat die Großmutter aus der katholischen Kirche aus. Der Stiefgroßvater hatte zu diesem Zeitpunkt den Rang eines Oberscharführers49 der SS inne. Er schickte im zweiten Quartal 1941 dem Wehrmeldeamt seines Landkreises eine Mitteilung  : »Im Auftrage des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD bin ich mit sofortiger Wirkung zu einem Sondereinsatz befohlen. Nähere Angaben und Aufenthaltsort darf ich aus staatspolitisch geheimzuhaltenden Gründen nicht machen.«50 Vom zweiten Quartal 1931 bis zum dritten Quartal 1943 war der Stiefgroßvater von W4 in einer Bezirkshauptstadt polizeilich gemeldet. Der Bürgermeister bestätigte 1947, dass dieser »am 14.5.1941 zum SD – Osten zum Wehrdienst eingerückt«51 war. Gemäß den Angaben, die in dem 1944 handschriftlich verfassten Lebenslauf gemacht wurden, erfolgte am 9. Mai 1941 die »Abordnung zum Einsatzkommando 8«.52 1964 als Zeuge über seinen »Einsatz in Russland«53 und die Abkürzung »EK« befragt, die für die »Einsatzkommandos« verwendet wurde, behauptete der Stiefgroßvater von W4  : »Den Ausdruck EK 8 habe ich nie gekannt.«54 47 Lebenslauf Stiefgroßvater von W4, datiert 2. Quartal 1944, Kopie im Eigentum von W4. 48 Interview mit W4, S. 1. 49 Niedrigster Unteroffiziersrang der SS. 50 Aufenthaltsmitteilung Stiefgroßvater von W4 an Wehrmeldeamt, datiert 2. Quartal 1941, Kopie im Eigentum von W4. 51 Amtsbestätigung Bürgermeister Bezirkshauptstadt, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 52 Lebenslauf Stiefgroßvater von W4, datiert 2. Quartal 1944, Kopie im Eigentum von W4. 53 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv. 54 Ebd.

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Bei dieser Zeugenbefragung gab er allerdings zu, 1941 »auf eine Polizeischule bei Berlin«55 gekommen zu sein  : »An einen Ortsnamen erinnere ich mich nicht mehr. Von dieser Polizeischule aus kam ich im Sommer 1941 zu einer anderen Polizeischule, die an einem Ort an der Mulde in Sachsen lag. Ich weiss, dass hier die Einsatzkommandos aufgestellt wurden.«56 Im Zuge der geheimen Vorbereitungen für den Angriff HitlerDeutschlands auf die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 erfolgte, wurde im Mai 194157 »das Stammpersonal der Einsatzgruppen für den Rußlandfeldzug in der Grenzpolizeischule Pretzsch (an der Elbe, nordöstlich von Leipzig) […] zusammengezogen.«58 Die vier »Einsatzgruppen« A, B, C und D, denen jeweils mit Nummern und Buchstaben bezeichnete »Sonder- und Einsatzkommandos« angehörten, umfassten am »Vorabend des Angriffs auf die Sowjetunion«59 rund 3000 Individuen. Das »Einsatzkommando 8« gehörte der »Einsatzgruppe B« an, die unmittelbar nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion 521 Personen zählte.60 »Mit einer grösseren Einheit, die sich zusammensetzte aus Kriminalbeamten, Stapobeamten, SD-Leuten und Schutzpolizisten sind wir dann nach dem Osten ausgerückt.«61 Die motorisierte »Einsatzgruppe B« verließ Pretzsch am 22. Juni 194162 und gelangte über Posen, Warschau und Minsk nach Smolensk im Westen Russlands  : »Die Praxis der Einsatzgruppen überstieg bei weitem den Terror, den diese Männer zuvor als Gestapo- oder SD-Angehörige praktiziert hatten. […] Mit der Entscheidung zum Angriff auf die Sowjetunion erreichte der Vernichtungskrieg einen weiteren Höhepunkt.«63 Mit den »Massenexekutionen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion«64 begann im Juni 1941 der »systematische Völkermord an den europäischen Juden«.65 Die »Einsatzgruppen« und ihre »Sonder- und Einsatzkommandos« verübten »Massaker in kaum vorstellbarem Ausmaß«.66 Sie waren für Fahndungen und Exekutionen in den besetzten Gebieten verantwortlich  : »The operations of the Einsatzgruppen marked the beginning of the systematic liquidation of the Jews in Estonia, 55 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964. 56 Ebd. 57 Siehe Peter Klein, Einleitung. In  : Ders. (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42, S. 21. 58 Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 121. 59 Klein, Einleitung, S. 23. 60 Siehe Ereignismeldung UdSSR Reichssicherheitshauptamt Nr. 19, zit. n. Schwurgerichtsanklage STA Kiel gegen Heinz Richter, datiert 11.8.1967, S. 42, Landesarchiv. 61 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv. 62 Siehe Schwurgerichtsanklage STA Kiel gegen Heinz Richter, S. 44. 63 Michael Wildt, Einleitung. In  : Ders. (Hg.), Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit, S. 24 f. 64 Norbert Kampe, Vorwort. In  : Klein (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion, S. 7. 65 Ebd. 66 Benz, Der Holocaust, S. 60.

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Latvia, Lithuania, Eastern Poland, and the former Russian territories occupied by the Germans.«67 Die Mitglieder erledigten »Sonderaufgaben im Auftrag des Führers, […] was nichts anderes hieß als Massenmord.«68 Der Auftrag lautete, die jüdische Bevölkerung, kommunistische Funktionäre sowie andere »unerwünschte«69 Personen zu ermorden  : »The ­Einsatzgruppen generally accomplished their mission either by deceiving victims to report to a central location for the purposes of relocation and then killing them instead, or by conducting manhunts through a district. Although later, carbon monoxide gas vans were sometimes used, the preferred method of ecexution was by shooting.«70 »Säuberungsaktionen«71 wurden durchgeführt, mutmaßliche Partisanen hingerichtet  : »Morde an nur fünfzig bis hundert Menschen figurierten als ›kleinere Exekutionen‹. Daneben ist die Rede von ›Massenexekutionen‹, von ›Großaktionen‹, die auch einmal ›mehrere Tage in Anspruch‹ nahmen.«72 Zu den Einsatzorten machte der Stiefgroßvater von W4 keine genauen Angaben  : »Ich erinnere mich, dass wir irgendwie über Warschau gekommen sind. Wo wir in Russland später unseren Standort hatten, erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiss, dass ich irgendwann einmal in Mogilew war und irgendwo an einem Ort in der Nähe von Gomel.«73 Das »Einsatzkommando 8« bestand zu Beginn, divergierenden Angaben zufolge, aus 21474 oder 141 Personen. Es wurde in sechs Trupps aufgeteilt.75 Diese gelangten über Warschau nach Białystok, wo sie spätestens am 1. Juli 1941 eintrafen76 und eine Woche lang blieben. Danach war das »Einsatzkommando« zwei Wochen lang im weißrussischen Baranawitschy stationiert. In der zweiten Julihälfte 1941 erreichte es Minsk und gelangte sechs Wochen später über Baryssau77 und Orscha nach Mahiljou.78 Dort hatte es von 9. September 194179 bis zum Rückzug der deutschen Truppen im Herbst 1943 seine Befehlsstelle. Für Ende des Jahres 1943 wurde eine Mitgliederzahl von 244 genannt.80 67 Headland, Messages of Murder, S. 11. 68 Wildt, Einleitung, S. 25. 69 Siehe Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 8. 70 Siehe MacLean, The Field Men, S. 14. 71 Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 8. 72 Ebd., S. 9. 73 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv. 74 Siehe Christian Gerlach, Die Einsatzgruppe B 1941/42. In  : Klein (Hg.), Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42, S. 64. 75 Siehe Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 157. 76 Siehe ebd. 77 Weißrussische Stadt, auch Borissow genannt. 78 Von den deutschen Besatzern wurde die Stadt Mogilew genannt. 79 Siehe Gerlach, Die Einsatzgruppe B, S. 59. 80 Siehe ebd., S. 64.

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Bereits während des Vormarschs führten die Mitglieder des »Einsatzkommandos« Massenerschießungen durch, die nach dessen Abschluss intensiviert wurden  : »Anfang Oktober 1941 begann die totale Ermordung der Juden durch die Einsatzgruppe B mit der Vernichtung der großen Ghettos. Das Fanal bildete die Erschießung von 2.273 jüdischen Männern, Frauen und Kindern am 2. und 3. Oktober in Mogilew durch das Ek 8 und das Polizeibataillon 322 […]. Es folgten Massenerschießungen in schneller Folge  : Am 19. Oktober wurden weitere 3.726 Juden in Mogilew erschossen, so daß weniger als 1.000 übrigblieben, die in ein Zwangsarbeiterlager gesperrt wurden  ; […] mindestens 7.000 vom Minsker Nachkommando des Ek 8 in Borissow  ; im November über 2.000 in Gomel, über 6.500 in Bobruisk, etwa 2.000 in Orscha von verschiedenen Teiltrupps des Ek 8. Dazu kam die Vernichtung der meisten kleineren Ghettos, alles im Wesentlichen bis Ende November 1941.«81 Für den Zeitraum von 22. Juni 1941 bis 29. September 1943 scheint der Stiefgroßvater von W4 auf dem von ihm unterschriebenen Fragebogen des »Rasse- und Siedlungshauptamts« als »Frontkämpfer«82 auf. In dieser Zeit war er gemäß den maschinschriftlich festgehaltenen Angaben für das »Einsatzkommando« in den besetzten Gebieten der Sowjetunion unterwegs  : »Dem Einsatzkommando 8 waren mehrere Teilkommandos unterstellt, die auf dem Vormarsch teilweise zu selbstständigen Aktionen eingesetzt wurden. […] Die Teilkommandos bestanden in der Regel aus fünf bis zehn Gestapo-, SD- oder Kripoangehörigen und etwa der doppelten Anzahl von Polizeibeamten und Waffen-SS-Leuten.«83 1964 nach Namen anderer Mitglieder des »Einsatzkommandos« befragt, entgegnete der Stiefgroßvater von W4  : »An irgendwelche Namen von Kameraden zu dieser Zeit kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Ganz dunkel habe ich den Namen Bradfisch, oder Bradwirt in Erinnerung. […] Mein damaliger SD-Chef hiess Döring. Er war SS-Obersturmführer. An Namen von Kameraden, die mit mir unter Döring standen, habe ich keine Erinnerung mehr. […] Dass das SD-Kommando Döring einem grösseren Einsatzkommando unterstand, habe ich damals nicht gewusst und weiss ich auch heute nicht. […] Wer der Chef von Döring war, weiss ich auch nicht. Den Namen Sturmbannführer Richter habe ich niemals gehört.«84 Der studierte Volkswirt und Jurist Otto Bradfisch war von 4. Juni 1941 bis 1. April 194285 Leiter des »Einsatzkommandos 8« der »Einsatzgruppe B«. Er wurde 1961 in München und 1963 in Hannover zu insgesamt 13 Jahren Gefängnis verurteilt und

81 Siehe Gerlach, Die Einsatzgruppe B, S. 59. 82 R. u. S.-Fragebogen, datiert 2. Quartal 1944, Kopie im Eigentum von W4. 83 Schwurgerichtsanklage STA Kiel gegen Heinz Richter, S. 59. 84 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv. 85 Gerlach, Die Einsatzgruppe B, S. 52.

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1969 vorzeitig aus der Haft entlassen.86 Der Kriminalpolizist Wilhelm Döring war der Truppführer jenes Teilkommandos,87 das zunächst in Baryssau stationiert war und als »Einsatztrupp 5« bezeichnet wurde  : »Zu diesem Trupp gehörten 2 Kriminalbeamte, 2 Angehörige der Gestapo, 1 Angehöriger des SD, 3 Kraftfahrer, 7 Angehörige der Waffen-SS und ein Dolmetscher im Range eines SS-Untersturmführers. Der Trupp verfügte über 3 Pkw.«88 Im Mai 1942 erfolgte die Verlegung nach Klinzy. 1963 wurde der Stiefgroßvater von W4 während eines Krankenhausaufenthalts »von einem Bonner Beamten, der Schröder hiess«,89 zu Döring befragt. Das Landgericht Bonn verurteilte diesen 1968 zu vier Jahren Haft.90 Der Jurist Heinz Richter war Nachfolger von Otto Bradfisch. Er leitete von 1. April 1942 bis September 1942 das »Einsatzkommando 8«. Das Urteil des Landgerichts Kiel gegen Richter lautete 1969 auf sieben Jahre Zuchthaus.91 Auf dem Weg von Pretzsch nach Mahiljou wurden »von den Angehörigen des Einsatzkommandos 8 zahlreiche Aktionen durchgeführt, die in erster Linie die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den Durchzugsgebieten bezweckten.«92 1964 musste der Stiefgroßvater von W4 auch zu seiner Beteiligung am nationalsozialistischen Massenmord Stellung nehmen  : »Ich kann mich auch erinnern, dass von unserem Kommando unter Döring Judenerschiessungen in Russland durchgeführt worden sind. Ich habe aber keine Erinnerung mehr daran, wie diese und wo diese Erschiessungen durchgeführt worden sind.«93 Die Staatsanwaltschaft Kiel listete 1967 in ihrer Anklageschrift gegen Heinz Richter die bis zu diesem Zeitpunkt bekannten Morde auf, die das »Einsatzkommando 8« verübt hatte  : »Von Mitte Oktober 1941 bis […] 1. April 1942 fanden in Mogilew und Umgebung […] Massenerschießungen statt, denen insgesamt mindestens 9500 Menschen, darunter auch 16 geisteskranke Kinder, zum Opfer fielen. Diese Massen­ erschießungen wurden zum Teil von Kommandos unter Harnischmacher und Dö86 Siehe Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 362  ; MacLean, The Field Men, S. 45. 87 Siehe Schwurgerichtsanklage STA Kiel gegen Heinz Richter, S. 59 f. 88 Urteil gegen Wilhelm Döring, Landgericht Bonn, datiert 19.2.1964. In  : Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966 (Bd. 19), Amsterdam 1978, S. 712. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil am 2.10.1963 auf und verwies die Strafsache zurück an das Landgericht Bonn. 89 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv. 90 Siehe MacLean, The Field Men, S. 50  ; Walter Kornfeld, Verbrechen der Einsatzgruppen. Strafverfolgung vor österreichischen Geschworenengerichten am Beispiel des Prozesses gegen Josef Wendl, Dipl. Arb., Universität Wien 2012, S. 65, URL  : http  ://othes.univie.ac.at/20438/1/2012-04-05_9809793.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 91 Siehe Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, S. 362  ; MacLean, The Field Men, S. 100  ; Kornfeld, Verbrechen der Einsatzgruppen, S. 63. 92 Schwurgerichtsanklage STA Kiel gegen Heinz Richter, S. 61. 93 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv.

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Abb. 24  : Die zweite und dritte Seite des Briefs an »Mein Dirndl« vom 25. Jänner 1943.

ring sowie von dem Teilkommando Schulz in Gomel durchgeführt.«94 Die Zahlen stammten aus anderen Gerichtsverfahren. Das »Einsatzkommando 8« wird für die Ermordung von mindestens 20.108 Personen95 verantwortlich gemacht, die übergeordnete »Einsatzgruppe B« für den Tod von »mindestens 150.000«96 Männern, Frauen und Kindern. Während der Stiefgroßvater von W4 selbst an der Ermordung von »unerwünschten« Personen in den besetzten Gebieten beteiligt war, stellte er im Jänner 1943 in einem Brief an die Großmutter von W4 in einer Passage über den Tod des »Kreisleiters« jenes Landkreises, aus dem er stammte, und über die tödlich verunglückte Braut eines Bekannten fest  : »Beide Fälle sind sicherlich tragisch und harte Fügungen des Schicksals. Dagegen ist aber nicht anzukämpfen, das Leben ist […] so.«97 »Im Osten«98 steht neben dem Datum dieses Briefes geschrieben (siehe Abb. 24).

94 Schwurgerichtsanklage STA Kiel gegen Heinz Richter, S. 65. 95 MacLean, The Field Men, S. 28. 96 Gerlach, Die Einsatzgruppe B, S. 61. 97 Ebd. 98 Brief Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 25.1.1943, Eigentum von W4.

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Im Mai 1943 teilte der Stiefgroßvater seiner zukünftigen Ehefrau auf einer Feldpostkarte mit, wieder gut bei seinen Kameraden angekommen zu sein.99 Im Juli 1943 schickte er ihr einen Brief aus Russland  : »Wie Du, mein Dirndl, bereits erfahren hast, soll ich demnächst in die Heimat zurückkommen. […] Ich weiß, wenn nichts dazwischen kommt, fahre ich vermutlich zu Beginn des kommenden Monats von hier ab. […] Es wäre auch herrlich, wenn ich im August zurück käme und mit dir noch wandern und bergsteigen gehen könnte.«100 Auf dem im zweiten Quartal 1944 ausgefüllten Fragebogen scheinen folgende Orden und Ehrenabzeichen auf, die dem Stiefgroßvater von W4 verliehen worden waren  : die für besondere »Verdienste um die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich«101 verliehene »Ostmarkmedaille«, die »Ostmedaille«, die »als Anerkennung für Bewährung im Kampf gegen den bolschewistischen Feind und den russischen Winter innerhalb des Zeitraums vom 15. November 1941 bis 15. April 1942«102 für an der Ostfront eingesetzte Angehörige von Wehrmacht und SS vorgesehen war, sowie das »Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern«. Diese Auszeichnung war »für besondere Verdienste bei Einsatz unter feindlicher Waffenwirkung oder für besondere Verdienste in der militärischen Kriegsführung«103 gedacht. Das »Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse mit Schwertern« erhielten Soldaten, Zivilisten und auch SD-Mitarbeiter als Auszeichnung für ihre Beteiligung an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten  : »Überwiegend wurde diese Ehre […] den hauptamtlichen SD-Führern für ihren, wie es hieß, ›Kampf gegen einen hinterhältigen Feind‹ in den besetzten Gebieten zuteil«.104 In dem von ihm verfassten Lebenslauf gab der Stiefgroßvater von W4 im zweiten Quartal 1944 an, Ende August 1943 wieder in die »Heimatdienststelle«105 zurückversetzt worden zu sein  : »Er hat sich dann scheinbar nach Hause versetzen lassen, ganz bewusst.«106 Nach Kriegsende behauptete er bei mehreren Gelegenheiten, dass es sein Wunsch gewesen sei, das »Einsatzkommando« zu verlassen  : »Mit Sicherheit weiss ich, dass ich auf mein eigenes Betreiben hin von dem SD-Kommando  99 Siehe Feldpostkarte Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 19.5.1943, Eigentum von W4. 100 Brief Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 21.7.1943, Eigentum von W4. 101 Verordnung über die Stiftung der Medaille zur Erinnerung an den 13.3.1938 vom 1.5.1938, Reichsgesetzblatt, datiert 1.5.1938, S. 431. 102 Verordnung über die Stiftung der Ostmedaille vom 26.5.1942, Reichsgesetzblatt, datiert 6.6.1942, S. 375. 103 Verordnung über die Stiftung des Kriegsverdienstkreuzes vom 18.10.1939, Reichsgesetzblatt, datiert 24.10.1939, S. 2069. 104 Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsens, München 2008, S. 212. 105 Lebenslauf Stiefgroßvater von W4, datiert 2. Quartal 1944, Kopie im Eigentum von W4. 106 Interview mit W4, S. 18.

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wegkam.«107 Das »Einsatzkommando 8« wurde im Oktober 1943 aufgelöst, die »Einsatzgruppe B« im Sommer 1944.108 Im Oktober 1943 erwähnte der Stiefgroßvater von W4 in einem Brief an seine spätere Ehefrau einen Plan, der sich »vielleicht verwirklichen«109 ließe, wofür aber »unter allen Umständen die Erwerbung des Neubauernscheines erforderlich wäre«.110 Er trug ihr auf, zwei Lehrbücher über Ackerbau und Pflanzenbau bei der Kreisbauernschaft zu bestellen  : »Ein kleiner Anfang wäre damit gemacht und dann müsste man halt sehen wie sich die weiteren Dinge dann anlassen.«111 In diesem Brief dürfte auf die »Versprechung von Siedlungsraum für ›blond-blauäugige‹ Kolonialbauern im ›Osten‹ und die Erwartung eines ›Herrenvolk‹-Daseins«112 Bezug genommen werden. Im zweiten Quartal 1944, am Tag nach seinem 32. Geburtstag, bat der Stiefgroßvater von W4 das »Rasse- und Siedlungshauptamt« der SS um die Übersendung der »Vordrucke zu einem Verlobungs- und Heiratsgesuch«.113 Dieser Stelle musste die geplante Heirat von SS-Angehörigen gemeldet werden. Als ständige Heimatanschrift ist eine Adresse angeführt, die sich in der Hauptstadt des Nachbar-Landkreises114 seines Geburtsorts befindet. Die Braut wohnte zu diesem Zeitpunkt in der Hauptstadt des Landkreises, aus dem beide stammten. Als Glaubensbekenntnis des Antragstellers und der zukünftigen Ehefrau scheint »gottgläubig«115 auf. Als Datum des Eintritts in die SS wurde ein Tag im ersten Quartal 1937 angegeben, als SS-Einheit der »Sicherheitsdienst« SD, dem der Stiefgroßvater von W4 hauptamtlich als Angestellter angehörte, und als militärischer Rang der eines SS-Hauptscharführers.116 Als ehrenamtliche Tätigkeit ist die Mitarbeit bei der SS-Standarte seines Landkreises angeführt. Unter außerberufliche Fertigkeiten sind ein Führerschein der Klasse drei, das SA-Wehrabzeichen sowie das Reichssportabzeichen in Bronze aufgelistet. Der Stiefgroßvater von W4 gab an, keine öffentliche Unter107 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv. 108 Siehe MacLean, The Field Men, S. 23 und S. 28. 109 Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 14.10.1943, Eigentum von W4. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Botz, »Finis Austriae« und nationalsozialistische Diktatur, S. 102. 113 Stiefgroßvater von W4 an Reichsführer SS, datiert 2. Quartal 1944, Kopie im Eigentum von W4. 114 Die österreichischen Bezirke wurden, wie die Verwaltungsbezirke anderer Behörden im NS-Staat, gemäß der 3. Verordnung über den Neuaufbau des Reichs vom 28.11.1938 in Landkreise umbenannt. 115 Die vom »Reichsministerium des Innern« per Erlass vom 26. November 1936 vorgeschriebene amtliche Bezeichnung für das Bekenntnis jener Personen, die aus den christlichen Kirchen ausgetreten waren, sich selbst nicht als »gottlos« einstuften und ihre Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus signalisieren wollten. Siehe Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 181 f. 116 Zweithöchster Dienstgrad in der Gruppe der Unterführer, die den Unteroffizieren in der Wehrmacht entsprachen.

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stützung in Anspruch zu nehmen. Ein Berufswechsel liege nicht vor. Zwei SS-Mitglieder im Rang eines Untersturmführers117 beziehungsweise eines Oberscharführers,118 die in der Hauptstadt des Landkreises wohnten, aus dem beide Eheleute stammten, fungierten als »Bürgen für die zukünftige Ehefrau«.119 Eine kirchliche Trauung war, neben der standesamtlichen, nicht vorgesehen. Die Großmutter und der Stiefgroßvater von W4 heirateten Ende des zweiten Quartals 1944 (siehe Abb. 25). Die Ehefrau brachte im vierten Quartal 1944 einen Sohn zur Welt. Ihre uneheliche Tochter, die Mutter von W4, wurde vom Stiefgroßvater nicht adoptiert. Diese verbrachte ihre ersten Lebensjahre bei ihrem Großvater mütterlicherseits und dessen zweiter Ehefrau  : »Das einzige, was meine Mutter sehr gerne erzählt, Abb. 25  : Der Bräutigam in Uniform bei der Hochzeit 1944. weil die ist ja bei ihrer Stiefgroßmutter aufgewachsen, bis sie acht oder neun war. […] Die war auch um einiges jünger und sehr modern eingestellt. Meine Mutter hat die wohl sehr geliebt und die war extrem kritisch, die hat sich immer extrem kritisch gegenüber Hitler geäußert. Meine Mutter hat mir von einer Episode erzählt, da war dann der Pfarrer da und hat mit ihr geschimpft, liebe […]-Bäuerin, wenn du weiter so redest, dann kommst du auch wohin.«120 3.1.3 Festnahme nach Kriegsende und Gefangenschaft Am Pfingstmontag 1945, der auf den 21. Mai fiel, wurde der Stiefgroßvater von W4 von Angehörigen des US-amerikanischen Nachrichtendiensts Counter Intelligence Corps im Bundesland Salzburg festgenommen. Knapp zwei Wochen davor, in der Nacht von 8. auf 9. Mai 1945, war die bedingungslose Kapitulation der deutschen 117 Niedrigster Offiziersrang der SS. 118 Niedrigster Unteroffiziersrang der SS. 119 Stiefgroßvater von W4 an Reichsführer SS. 120 Interview mit W4, S. 15.

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Wehrmacht unterzeichnet worden. Das CIC agierte gemäß den Bestimmungen der präventiven Verhaftung bestimmter Personengruppen, wie den ehemaligen Angehörigen des SD. Die Festnahme und Internierung von Personen, die »politisch schwer belastet waren, […] erfolgte vorbeugend, um der damals erwarteten Gefahr einer nationalsozialistischen Untergrundbewegung zu begegnen. Neben diesem sicherheitspolitischen Anliegen basierte die Internierung für die Besatzungsmacht jedoch auch auf einem moralischen Aspekt, denn den als ›Nazi-Aktivisten‹ angesehenen Internierten und selbstverständlich auch den mutmaßlichen Kriegsverbrechern wurde eine Mitverantwortung für den Angriffskrieg und die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus zur Last gelegt, die es zu ahnden galt.«121 Der Stiefgroßvater von W4 wurde in das von der dritten US-Infanterie-Division bei München auf freiem Feld zwischen dem Fliegerhorst Fürstenfeldbruck und der Ortschaft Emmering errichtete Kriegsgefangenenlager überstellt  : »Bis zu 70 000 Kriegsgefangene waren zeitweise in dem sogenannten Oklahoma P.O.W. Camp in­ haftiert.«122 Mitte Juni 1945 berichtete er seinen Eltern in einem Brief, der aus dem Camp hinausgeschmuggelt worden war, dass er sich bereits seit circa vier Wochen in dem Lager befinde  : »Seid unbesorgt um mich, ich bin gesund, es geht mir gut, bin mir keiner Schuld bewußt u. hoffe daher auf baldige Heimkehr.«123 Der als »Cage 12« bezeichnete Bereich war für ehemalige SS-Angehörige vorgesehen. Diesen war es, im Unterschied zu anderen Kriegsgefangenen, nicht erlaubt, das Camp zu verlassen  : »Besonders streng gingen die GIs gegen Angehörige des Lagers 12 vor, das im Juni 1945 aufgelöst und dessen Insassen in das Lager A in die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau und auch nach Bad Aibling verlegt wurden.«124 Anfang Juli 1945 befand sich der Stiefgroßvater von W4 noch in dem Lager bei Fürstenfeldbruck,125 einen Monat später bereits im größten Kriegsgefangenenlager Süddeutschlands, dem »Prisoner of War Enclosure« PWE 26 in Mietraching bei Bad Aibling im Landkreis Rosenheim  : »Ich vertraue felsenfest auf unsere Zukunft u. lasse mich durch Tücken des Schicksals nicht unterkriegen.«126 Auch in diesem Lager gab es einen eigenen »Cage« für ehemalige SS-Angehörige. Zunächst war der Stiefgroßvater von W4 in dem mit der Nummer 17 bezeichneten Bereich un121 Kathrin Meyer, Die Internierung von NS-Funktionären in der US-Zone Deutschlands. In  : Dachauer Hefte 19 (2003) 19, Zwischen Befreiung und Verdrängung, S. 25. 122 Katharina Brauer-Bals, Die amerikanische Militärpräsenz in Fürstenfeldbruck 1945–1957. Eine deutsch- amerikanische Sozial- und Kulturgeschichte, Master-Arb., Universität Augsburg 2017, S. 28. 123 Stiefgroßvater von W4 an Eltern, datiert 15.6.1945, Eigentum von W4. 124 Brauer-Bals, Die amerikanische Militärpräsenz in Fürstenfeldbruck, S. 30. 125 Siehe Stiefgroßvater von W4 an Mutter, datiert 10.7.1945, Eigentum von W4. 126 Stiefgroßvater von W4 an Mutter, datiert 12.8.1945, Eigentum von W4.

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tergebracht, Mitte August 1945 in Lager 13  : »Es dauert hoffentlich nicht mehr zu lange.«127 Von Anfang Dezember 1945 datiert ein maschingeschriebener Brief »an den Führer der Widerstandsbewegung des Landes […]«.128 Diese Person soll während des Zweiten Weltkriegs den Widerstand gegen das Hitler-Regime unterstützt haben. Als Absenderin des gut halbseitigen Schreibens, das keine Unterschrift trägt, scheint die Großmutter mütterlicherseits von W4 auf. Sie bittet den Adressaten, Nachforschungen zum Verbleib ihres Ehemanns anzustellen. Bei dessen Verhaftung durch den Geheimdienst CIC hätte es geheißen, »es handle sich nur um eine kurze Vernehmung. Seit diesem Zeitpunkt fehlt jede Nachricht von meinem Mann.«129 Die Briefe, die der Stiefgroßvater von W4 bereits aus den Kriegsgefangenenlagern geschickt hatte, blieben unerwähnt. Die Großmutter von W4 verwies auch auf ihre Sorgepflichten  : »Ich habe zwei Kinder im Alter von 6 Jahren und einem Jahr zu betreuen und ernähren und sehe mich durch eine derart in die Länge gezogene Untersuchung gegen meinen Ehemann in meiner Existenz auf das Schwerste bedroht.«130 Von Mietraching bei Bad Aibling wurde der Stiefgroßvater von W4 nach Dachau im Nordwesten von München ins »PWE 29/1« verlegt. Dieses Lager war nach der Befreiung des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Dachau von der US-Armee eingerichtet worden  : »Kann die erfreuliche Mitteilung machen, daß wir von nun an laufend wöchentlich 1 Karte u. 1 Brief schreiben u. unbeschränkt Briefe und Pakete empfangen können.«131 Auf den ersten Briefen aus Dachau setzte er bei den Absenderangaben den militärischen Rang »Oberfeldwebel«,132 der dem Rang eines »Hauptscharführers« der SS entsprach, vor seinen Namen. Ins »Camp Nr. 29 […] wurden ›War Crimes Suspects‹, deren Schuld in Vernehmungen und Prozessen nicht nachgewiesen werden konnte, zur Entnazifizierung […] eingewiesen.«133 In Dachau kam es im dritten Quartal 1946 zu einer Befragung des Stiefgroßvaters von W4 über dessen Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Organisationen. Er gab an, von 1937 bis 1939 bei der SS, von 1938 bis 1945 bei der NSDAP und von 1939 bis 1945 beim SD gewesen zu sein. Bis 1938 wäre er keiner politischen Betätigung nachgegangen. Der Stiefgroßvater behauptete, wiederholt versucht zu haben, seine Tätigkeit für den SD zu beenden  : »Mehrmalige schriftliche u. mündliche Anträge auf Entlassung von SD. Unter Hinweis auf das Angestelltenverhältnis (Kün127 Stiefgroßvater von W4 an Eltern, datiert 19.8.1945, Eigentum von W4. 128 Großmutter von W4 an Führer der Widerstandsbewegung, datiert 3.12.1945, Eigentum von W4. 129 Ebd. 130 Ebd. 131 Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 27.1.1946, Eigentum von W4. 132 Siehe exemplarisch Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 13.2.1946, Eigentum von W4. 133 Gabriele Hammermann, Das Internierungslager Dachau 1945–1948. In  : Dachauer Hefte 19 (2003) 19, Zwischen Befreiung und Verdrängung, S. 53.

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digungsrecht) mit Strafbedrohung abgelehnt.«134 Auf die Frage, ob seiner Meinung nach ein Grund bestehe, warum er nicht vom CIC hätte verhaftet werden sollen, antwortete er  : »Ja, weil ich keine strafbaren Handlungen begangen habe«.135 Ende August 1946 schrieb der Stiefgroßvater von W4 an seine Ehefrau, er und die anderen, die aus demselben Bundesland stammen, »hoffen stark, bald einmal in ein Lager nach drüben zu kommen. […] Habe mich im Leben immer ehrlich u. anständig durchgeschlagen, kann jedem offen in die Augen sehen.«136 Anfang Juni 1946 berichtete er, eine Beschäftigung im Kriegsgefangenenlager gefunden zu haben  : »Bin jetzt Koch. […] Hatte einmal 50 kg, jetzt 70.«137 Ein Jahr und sieben Wochen nach seiner Verhaftung thematisiert der Stiefgroßvater von W4 in einem Brief die Kriegsgefangenschaft, die er als Last seines Schicksals bezeichnet  : »Mein Tun u. Handeln war immer u. wird immer von Gefühlen der Menschlichkeit geleitet. Die Gefangenschaft kann ich keinesfalls als Tilgung persönlicher Schuld deuten, sondern als Eingriff des Schicksals.«138 Die Beziehungen zu seinem Vater139 und zu anderen Personen, die ihm nahegestanden waren, hatten sich verschlechtert  : »Es macht mir auch schon fast gar nichts mehr aus, wenn sich die Verwandten u. Freunde ausschweigen.«140 Im November 1946 wurde der Stiefgroßvater von W4 zunächst nach Darmstadt in Hessen in das »Civilian Internment Enclosure 91« verlegt  : »Die Parole von der Verlegung ist nun doch zur Wirklichkeit geworden, kamen zwar nicht wie vermutet in die Heimat zurück, sondern noch weiter weg und doch ist es wieder ein Schritt näher zur Heimat.«141 In den darauffolgenden Tagen erfolgte die Überstellung in das »Civilian Internment Camp 74« nach Ludwigsburg in Baden-Württemberg  : »Haben es aber anscheinend nicht schlecht getroffen hier, zudem soll auch dieser Aufenthalt nicht von langer Dauer sein, vermutlich geht es dann doch Richtung Heimat. Wäre ja auch doch bald an der Zeit, möchte man wenigstens meinen.«142 Jener ehemalige SS-Offizier, der im April 1944 im Zuge der Einholung der Heiratsgenehmigung durch den Stiefgroßvater von W4 als Bürge genannt worden war, berichtete der Großmutter von W4 zu Jahresende 1946 über ein Treffen in Gefangenschaft. Dieser befand sich, im Unterschied zum Stiefgroßvater von W4, bereits 134 Formular US-Armee, datiert 3. Quartal 1946, Landesarchiv. 135 Ebd. 136 Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 28.4.1946, Eigentum von W4. 137 Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 2.6.1946, Eigentum von W4. 138 Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 8.7.1946, Eigentum von W4. 139 Ob damit der leibliche Vater oder der Ehemann der Mutter gemeint war, geht aus den Quellen nicht hervor. 140 Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 2.9.1946, Eigentum von W4. 141 Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 13.11.1946, Eigentum von W4. 142 Stiefgroßvater an Großmutter von W4, datiert 18.11.1946, Eigentum von W4.

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wieder in Freiheit  : »Gross war die Freude als in den ersten Novembertagen […] nach Darmstadt gekommen ist. Leider war die Zeit unseres Beisammenseins recht kurz, denn schon nach wenigen Wochen ging er mit vielen Kameraden nach Österreich ab.«143 Der Stiefgroßvater von W4 wurde in das Internierungslager Camp Marcus W. Orr, auch als Lager Glasenbach bezeichnet, im Süden der Stadt Salzburg überstellt. Dort waren sowohl NS-Funktionsträger untergebracht als auch »jene mutmaßlichen Kriegsverbrecher, für die keine eigenen Lager bestanden.«144 Ende Jänner 1947 wurde der Höchststand von 8051 Gefangenen erreicht.145 In den Krankenberichten, die im Salzburger Landesarchiv verwahrt werden, scheint der Name des Stiefgroßvaters von W4 nicht auf. Im ersten Quartal 1947 füllte dieser im Internierungslager einen zweisprachigen Erhebungsbogen146 aus. Er gab an, weder haupt- noch ehrenamtliche Funktionen innerhalb der NSDAP bekleidet zu haben und von 1939 bis 1945 Mitglied des »Sicherheitsdiensts« gewesen zu sein. Als seine Tätigkeit beim SD führte er »Angestellter«147 an. Im zweiten Quartal 1947 sprach sich der Sicherheitsdirektor des Bundeslands gegenüber der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit in Wien für eine Enthaftung aus  : »Gegen eine Entlassung bei anschließender Dienstverpflichtung nach dem Arbeitspflichtgesetz am Wohnsitze bestehen keine Bedenken.«148 Eine Woche später teilte das Gendarmerieposten-Kommando des Bezirks, in dem der Stiefgroßvater von W4 geboren worden war, der Sicherheitsdirektion jedoch schriftlich mit, entgegen den vorliegenden Angaben sei festgestellt worden, »war illegal […] war im Osteinsatz als SD Mann und hat sich hervorragend bei der Liquidierung von Juden beteiligt. […] Gegen die Rückkehr des Genannten bestehen Bedenken. Begründung  : […] die politischen Parteien lehnen ganz entschieden eine Rückkehr des […] ab und verlangen dessen Weiterinhaftierung und Übergabe an die österr. Gerichte.«149 3.1.4 Ermittlungen 1947 und Einstellung des Verfahrens 1949 Im dritten Quartal 1947 zeigte einer der beiden Gendarmen, die bereits an der Festnahme des Stiefgroßvaters von W4 im zweiten Quartal 1937 beteiligt gewesen wa143 Ehemaliger SS-Offizier an Großmutter von W4, datiert 27.12.1946, Eigentum von W4. 144 Dohle/Eigelsberger, Camp Marcus W. Orr, S. 153. 145 Siehe ebd., S. 93. 146 Die Lagerleitung hatte im Frühjahr 1947 10.000 Stück dieser Erhebungsbögen angefordert, die von der Amtsdruckerei der BPDion Salzburg hergestellt wurden, siehe Dohle/Eigelsberger, Camp Marcus W. Orr, S. 229. 147 Erklärung, datiert 1. Quartal 1947, Kopie im Eigentum von W4. 148 Sicherheitsdirektion an Innenministerium, datiert 2. Quartal 1947, Kopie im Eigentum von W4. 149 Gendarmeriepostenkommando an Sicherheitsdirektion für das Bundesland, datiert 2. Quartal 1947, Kopie im Eigentum von W4.

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ren, diesen erneut »aus eigenem Antrieb«150 an. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Stiefgroßvater nach wie vor im Internierungslager Camp Marcus W. Orr. Als Zeugen wurden der Revierinspektor, der die Anzeige erstattet hatte, der zweite Gendarm, der in der Zwischenzeit vom Gendarmerieposten der Bezirkshauptstadt in die Landeshauptstadt gewechselt war und den Rang eines Stabsrittmeisters bekleidete, sowie ein Revierinspektor aus der benachbarten Bezirkshauptstadt genannt. Als Beweismittel führte der Gendarm sowohl die Originallisten der ehemaligen »Kreisleitung« der NSDAP als auch das Eintrittsdatum und die Mitgliedsnummer sowie Aussagen des Beschuldigten an, die dieser ihm und anderen gegenüber getätigt habe  : »Er wurde auch im Jahre 1939 nach der CSR und dem Osten (Polen) abgeordnet und hat dort aus rein politischer Gehäßigkeit Grausamkeiten gegen Juden und andere Personen, die den Nazimachthabern nicht erwünscht waren, begangen. Diese Umstände hat […] selbst nach seiner Rückkehr öffentlich und in Beisein des Gefertigten erzählt und sich hiebei gerühmt, wie er diese unschuldigen Menschen geschlagen und mißhandelt hat. Dabei machte er auch noch Propaganda und erklärte, der Krieg ist unbedingt notwendig und muß sein. Ebenso erklärte er, daß die anderen Völker unterjocht werden müssen und wenn es nicht anders geht, werden sie ausgerottet, so wie die Juden, die auf jeden Fall rücksichtslos vernichtet werden müssen.«151 Der Kommandant des Internierungslagers wurde über die Anzeige informiert  : »Das Bundesministerium für Inneres beehrt sich zu ersuchen, den Genannten zur Verfügung der österreichischen Gerichtsbehörden in Gewahrsam zu halten.«152 Drei Tage später wurde der Stiefgroßvater von W4 vom Internierungslager in das Gefängnis des Landesgerichts einer Landeshauptstadt überstellt. Auf der Bestätigung über die Übernahme des Gefangenen wurde vermerkt, dass gegen diesen wegen der Paragrafen acht,153 zehn,154 elf155 und zwölf156 des Verbotsgesetzes, zwei,157 drei,158 150 Gendarmerieposten an LG-Volksgericht, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 151 Ebd. 152 Innenministerium an Kommandant Internierungslager Camp Marcus W. Orr, datiert 2. Quartal 1947, Kopie im Eigentum von W4. 153 Verstöße gegen Registrierungspflicht der Nationalsozialisten, Strafdrohung  : 1 bis 5 Jahre Kerker. 154 Hochverrat wegen Betätigung als »Illegaler« zwischen 1.7.1933 und 13.3.1938, Strafdrohung  : 5 bis 10 Jahre schwerer Kerker. 155 Betätigung als »Illegaler« in einem der Wehrverbände, Strafdrohung  : 10 bis 20 Jahre schwerer Kerker und Verfall des gesamten Vermögens. 156 Beträchtliche finanzielle Förderung der NSDAP oder ihrer Verbände als »Illegaler«, Strafdrohung  : 10 bis 20 Jahre schwerer Kerker und Verfall des gesamten Vermögens. 157 Kriegshetzerei, Strafdrohung  : je nach Tatvorwurf 10 bis 20 Jahre schwerer Kerker, lebenslanger schwerer Kerker oder Todesstrafe. 158 Quälereien und Misshandlungen, Strafdrohung  : je nach Tatvorwurf 5 bis 10 Jahre schwerer Kerker, 10 bis 20 Jahre schwerer Kerker oder Todesstrafe.

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vier159 und acht160 des Kriegsverbrechergesetzes sowie wegen Paragraf 58161 des Strafgesetzes ermittelt werde. Am selben Tag fand eine Vernehmung des Beschuldigten statt. Dieser wurde als Hotelangestellter mit Sorgepflichten für die Ehefrau und deren zwei Kinder im Alter von drei und sechs Jahren verzeichnet. Er behauptete, von Mai 1938 bis 1945 und nicht ab 1933 der NSDAP angehört sowie im April 1938 und nicht im Februar 1937 der SS beigetreten zu sein. Seine Einsätze »im Osten« blieben unerwähnt.162 Neun Tage später beantragte die Staatsanwaltschaft der Landeshauptstadt die Verhängung der Untersuchungshaft und die Einleitung der Voruntersuchung wegen Verstößen gegen die Paragrafen zehn163 und elf164 des Verbotsgesetzes. Die anderen Paragrafen, die auf der Übernahmebestätigung angeführt wurden, scheinen nicht mehr auf, jedoch ein Hinweis auf die Einsätze in den besetzten Gebieten  : »SDMann im Ausland  : Rußland, C. S. R., Polen.«165 Knapp zwei Wochen nach der Überstellung richtete die Großmutter von W4 ein erstes handschriftliches Gesuch an das Volksgericht. Darin bat sie um die Enthaftung ihres Ehemanns  : »Am 27.7.1947 mußte er sich nach einem […] Blinddarmdurchbruch einer schweren Operation unterziehen, zur Zeit liegt er im […] Krankenhaus in […] und bedürfte nach seiner Entlassung von dort dringendst der häuslichen Pflege und Erholung. Meine Ersparnisse sind auch schon völlig aufgebraucht, so daß mir mein Mann als Erhalter der Familie nach der nun schon 2 ¼ Jahre dauernden Trennung dringendst benötigt wird.«166 Vier Wochen nach seiner Überstellung gab der Beschuldigte erneut an, er »habe der NSDAP bis zum Jahre 1938 nie angehört […]. Der SS trat ich nach dem Umbruch 1938 bei und wurde wegen der erlittenen Vorstrafe auf 1937 rückdatiert. Wie es zu meinem Eintrittsdatum […] 1932 und zu einer Mitgliedsnummer von […] gekommen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. […] Zu meiner Verurteilung im Jahre 1937 kam es deshalb, weil ich eine einmalige Kampfspende für die NSDAP gegeben hatte und diese erschien in einer Liste, welche dann später gefunden wurde. […] Ich habe damals zwar mit der NSDAP sympathisiert, habe aber weder ihr noch einer Wehrformation angehört.«167 159 Verletzung der Menschlichkeit und der Menschenwürde, Strafdrohung  : je nach Tatvorwurf 1 bis 5 Jahre Kerker, 5 bis 20 Jahre schwerer Kerker oder Todesstrafe. 160 Hochverrat am österreichischen Volk, Strafdrohung  : Todesstrafe. 161 Hochverrat, Strafdrohung  : Todesstrafe. 162 Siehe Vernehmung des Beschuldigten, LG, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 163 Hochverrat wegen Betätigung als »Illegaler«. 164 Betätigung als »Illegaler« in einem der Wehrverbände. 165 Antrags- und Verfügungsbogen, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 166 Großmutter von W4 an Volksgericht, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 167 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, LG, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv.

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Dass er beim SD angestellt gewesen war, bestritt der Stiefgroßvater von W4 hingegen nicht. 1938 sei er nach dem Ende der Wintersaison arbeitslos geworden und habe sich an den »Kreisleiter« der NSDAP gewandt. Dieser habe ihm 1939 die Stelle vermittelt  : »Ich habe dort als Wagenwäscher angefangen, kam schließlich in die Registratur. […] Ich war bis 1942 in […] und kam erst danach nach Russland, zu einer SD-Aussenstelle im Mittelabschnitt. In Polen oder in der CSR bin ich nie gewesen. Ich bestreite entschieden, […] gegen Juden oder andere Leute Grausamkeiten begangen zu haben, da dies nicht der Wahrheit entspricht.«168 Knapp eineinhalb Monate nach der Überstellung ersuchte das Landesgericht das Bezirksgericht jenes Bezirks, in dem der Stiefgroßvater von W4 in den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtübernahme gelebt und gearbeitet hatte, den Gendarmeriebeamten, der die Anzeige verfasst hatte, als Zeugen zu vernehmen. Insbesondere sei dieser zu den in der Anzeige angeführten Grausamkeiten zu befragen. Unterlagen seien vorzulegen, Zeugen namhaft zu machen. Der Revierinspektor gab im Rahmen seiner Zeugenbefragung zu Protokoll, der Stiefgroßvater von W4 habe ihm spätestens Ende 1942 erzählt, »dass er im Osten bei dem Einsatz gegen die Juden u. die Bevölkerung als SD-Angehöriger tätig sei u. er schilderte mir, wie die Leute zusammengetrieben u. geprügelt würden, wie sie jammern u. dann getötet wurden. […] Ich glaube zwar sicher, dass der Beschuldigte auch schon 1939 bei solchen Einsätzen war, kann aber nach genauer Überlegung dies nicht mit Bestimmtheit sagen u. auch nicht mit Bestimmtheit sagen, dass er in der CSR oder in Polen war. Jedenfalls war er aber im Osten u. hat mir zu dem früher angegebenen ungefähren Zeitpunkt das Entsprechende erzählt.«169 Der Gendarm übermittelte in der Folge auch ein Schreiben des Bezirksobmanns der Sozialistischen Partei. Darin verwies dieser auf das im Original aufliegende Verzeichnis der ehemaligen NSDAP-Mitglieder und bestätigte, dass der Stiefgroßvater von W4 im Februar 1933 der Partei beigetreten war. Der Tag des Beitritts zur zivilen SS sei ihm hingegen nicht bekannt  : »Nach den gepflogenen Erhebungen war […] in der Verbotszeit sehr aktiv als Nationalsozialist tätig, da er mit den in […] als Rowdies bekannten Brüdern […] befreundet gewesen ist.«170 Trotz Urgenz durch das Landesgericht wurden keine weiteren Zeugen namhaft gemacht  : »Die seinerzeitigen Zeugen, die Angaben über […] machten, waren bei der neuerlichen Einvernahme nicht mehr in der Lage, konkrete Angaben zu machen, und gaben nur in allgemeinen Redewendungen an, daß […] wohl ein gefährlicher Nazi war, doch Konkretes konnten sie nicht vorbringen.«171 168 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, LG, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 169 Protokoll Zeugenvernehmung Revierinspektor, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 170 Bestätigung Bezirksobmann Sozialistische Partei Österreichs, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 171 Revierinspektor an LG-Volksgericht, datiert 4. Quartal 1947, Landesarchiv.

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Gut zwei Monate nach der Überstellung verfasste die Großmutter von W4 ein weiteres Gesuch an das Volksgericht. Auf dem handschriftlichen Brief vermerkten auch die Bezirksorganisation der Sozialistischen Partei Österreichs, die Bezirksleitung der Österreichischen Volkspartei und der Bürgermeister der Hauptstadt jenes Bezirks, in dem der Stiefgroßvater von W4 geboren worden war, keinen Einspruch gegen eine »Enthaftung auf Gelöbnis«172 zu erheben. Auch die Bürgermeister zweier anderer Gemeinden, in denen der Stiefgroßvater von W4 während der NS-Zeit gelebt hatte, setzten sich für seine Entlassung ein  : »Dann ist er freigekommen weil das ist damals relativ leicht gegangen. Da hat man die Unterschrift, ich glaube, von drei Bürgermeistern oder von zwei Bürgermeistern gebraucht, das war nicht so ein Problem, und hat dann eigentlich relativ friedlich bis Mitte der 60er-Jahre gelebt.«173 Die Bürgermeister gaben an, dass der Stiefgroßvater von W4 seine Dienststellung »in keiner Weise missbraucht hat«.174 Sie verwiesen auf dessen Verhalten während des Diensts, das »in jeder Weise einwandfrei«175 gewesen wäre  : »Im Interesse seiner Frau und Kind, die von der Fürsorge unterstützt werden, ersuche ich demselben zu berücksichtigen, damit er wieder die Möglichkeit hat, für seine Familie zu sorgen.«176 Im vierten Quartal 1947 beschloss das Oberlandesgericht »nach Anhörung der Oberstaatsanwaltschaft […], den Beschuldigten auf freien Fuß zu versetzen.«177 Am darauffolgenden Tag wurde der Stiefgroßvater von W4 enthaftet  : »Er leistet das vorgeschriebene Gelöbnis und erklärt, seinen Aufenthalt in […] zu nehmen.«178 Nach seiner Entlassung war der Stiefgroßvater von W4 als Hilfsarbeiter bei einem Zimmerermeister in dem Bezirk beschäftigt, der an jenen angrenzt, in dem er geboren worden war. Sein Wochenlohn betrug »durchschnittlich 120.- Schilling«.179 Als ehemaliger Angehöriger von SS und SD galt er entsprechend dem »Natio­ nalsozialistengesetz« als »belastet«,180 war sühnepflichtig und musste bis Ende 1950 Sühneabgaben leisten. In den handschriftlich geführten Personenindizes der Bezirkshauptmannschaft jenes Bezirks, in dem der Stiefgroßvater von W4 vor seiner Verhaftung im zweiten Quartal 1945 gelebt hatte, finden sich Einträge zur Eintreibung eines Wiedergutmachungsbetrags in den Jahren 1949 und 1950. Für die Jahre

172 Ersuch um Enthaftung, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 173 Interview mit W4, S. 1. 174 Marktgemeindeamt an Volksgericht, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 175 Ebd. 176 Bürgermeister an Volksgericht, datiert 3. Quartal 1947, Landesarchiv. 177 Beschluss Oberlandesgericht, datiert 4. Quartal 1947, Landesarchiv. 178 Protokoll LG, datiert 4. Quartal 1947, Landesarchiv. 179 Leumundschreiben, LG an Gendarmeriepostenkommando, datiert 1. Quartal 1948, Landesarchiv. 180 Registrierungsblatt Stiefgroßvater von W4, datiert 2. Quartal 1948, Landesarchiv.

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1949 bis 1955 sind in den Indizes jenes Bezirks, in dem er geboren worden war, Rückerstattungen der NS-Unterstützung vermerkt.181 Ohne eine Begründung anzuführen, beantragte die Staatsanwaltschaft im ersten Quartal 1949, das Verfahren gegen den Stiefgroßvater von W4 einzustellen.182 Fünf Tage später wurde dieser per Gerichtsbeschluss »außer Verfolgung gesetzt«.183 Knapp ein Jahr später, im ersten Quartal 1950, fasste die Ratskammer des Landesgerichts unter dem Vorsitz eines Richters des Oberlandesgerichts den Beschluss, dass dem Stiefgroßvater von W4 für die 16 Wochen Haft, die zwischen der Überstellung aus dem Internierungslager Camp Marcus W. Orr und der Entlassung im vierten Quartal 1947 lagen, kein Anspruch auf Entschädigung zustand, »weil ein die Verfolgung und Haft hinreichend begründeter Verdacht vorlag, der in der Folge durch die Ergebnisse der Voruntersuchung nicht zur Gänze entkräftet worden ist.«184 Im zweiten Quartal 1949 traten die Großmutter mütterlicherseits und der Stiefgroßvater von W4 wieder in die römisch-katholische Kirche ein. Im vierten Quartal 1955 war der Stiefgroßvater als Verwalter in Oberösterreich tätig, seine Ehefrau als Beschließerin.185 Im ersten Quartal 1957 ließen sich die beiden auch kirchlich trauen.186 1957 machte der Stiefgroßvater von W4 den Führerschein.187 1963 übersiedelte das Ehepaar von Oberösterreich in das Bundesland Salzburg. 3.1.5 Ermittlungen in den 1960er-Jahren und Suizid Im vierten Quartal 1961 übermittelte die Landespolizei Schleswig-Holstein der »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg eine Liste mutmaßlicher Mitglieder des zur »Einsatzgruppe B« gehörenden »Einsatzkommandos 8«. Die Polizeibehörde hatte Ermittlungen gegen Hans Graalfs,188 einen ehemaligen Zugführer des »Einsatzkom181 Siehe Landesarchiv Salzburg an Verfasser, datiert 11.10.2019, Eigentum des Verfassers. 182 Siehe STA an Untersuchungsrichter, datiert 1. Quartal 1949, Landesarchiv. 183 Beschluss Ratskammer LG, datiert 1. Quartal 1950, Landesarchiv. 184 Ebd. 185 Beschließerinnen sind in österreichischen Beherbergungsbetrieben für das Waschen, Bügeln und Sortieren der Wäsche zuständig, siehe Berufslexikon Arbeitsmarktservice Österreich, URL  : https  :// www.berufslexikon.at/berufe/2775-BeschliesserIn/ (letzter Zugriff  : 14.10.2020). 186 Siehe Taufbuch, URL  : https  ://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/ (letzter Zugriff  : 20.8.2020). 187 Siehe Landesarchiv Salzburg an Verfasser, datiert 11.10.2019, Eigentum des Verfassers. 188 Wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 760 Fällen wurde Graalfs 1964 in Kiel zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, der deutsche Bundesgerichtshof verwarf 1965 die Revision der STA und des Angeklagten, siehe Urteil gegen Hans Graalfs, Landgericht Kiel, datiert 8.4.1964. In  : Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966 (Bd. 19), Amsterdam 1978, S. 777 und S. 811  ; Kornfeld, Verbrechen der Einsatzgruppen, S. 66 f.

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mandos«, aufgenommen. Die Liste enthielt auch den Namen, das Geburtsdatum, den Geburtsort und den ehemaligen Dienstgrad des Stiefgroßvaters von W4.189 Im ersten Quartal 1963 wurde in einem behördlichen Vermerk in einer österreichischen Landeshauptstadt auf drei aus Österreich stammende Personen verwiesen, deren Namen auf dieser Liste aufscheinen, darunter der Stiefgroßvater von W4.190 Im ersten Quartal 1964 wurde dieser in jener Gemeinde, in der er zu diesem Zeitpunkt wohnte und als Verwalter eines Beherbergungsbetriebs arbeitete, von Kriminalbeamten als Zeuge befragt. Gut 20 Jahre nach seiner Rückkehr aus dem »Osten« schilderte der Stiefgroßvater bei dieser Zeugenbefragung unter Wahrheitspflicht, »was ich von meiner Zeit beim SD während der Kriegsjahre noch in Erinnerung habe.«191 Die Polizisten schenkten den Begründungen für die Erinnerungslücken keinen Glauben. Sie konfrontierten den Stiefgroßvater von W4 auch mit ihren Zweifeln. Die Staatsanwaltschaft kam zu dem Schluss, der Befragte habe »sehr geringes Erinnerungsvermögen an den Tag gelegt«.192 Die Rechtfertigung des Zeugen wurde in der Niederschrift festgehalten  : »Mir fehlt eben jegliche Erinnerung an meinen Einsatz in Russland. […] Wenn mir jetzt gesagt wird, dass es vollkommen unglaubhaft ist, dass ich heute so gar keine Erinnerung mehr an die zwei Jahre SD-Einsatz in Russland mehr habe, so kann ich doch nichts daran ändern. Mir fehlt an diese Zeit die Erinnerung. Ich habe während meines Lebens viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen und meine, dass ich dadurch mein Erinnerungsvermögen verloren habe.«193 In diesem Zusammenhang behauptete der Stiefgroßvater von W4, dass seine Ehefrau und der 19-jährige Sohn geisteskrank wären. Er selbst »habe erst vor einem Jahr einen schweren Sturz erlitten und lag längere Zeit mit schwerer Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Es ist auch möglich, dass ich auf Grund dieses Sturzes Schaden an meinem Erinnerungsvermögen gehabt habe.«194 Im ersten Quartal 1965 informierte das österreichische Innenministerium das Justizministerium darüber, dass »im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft Kiel und dem Landeskriminalamt für Schleswig-Holstein Ermittlungen gegen ehemalige Führer und Angehörige des Einsatzkommando 8 geführt«195 würden. In diesem Zusammenhang seien drei österreichische Staatsangehörige vernommen worden,

189 Landespolizei Schleswig-Holstein an Ludwigsburger Zentrale Stelle, datiert 4. Quartal 1961, Kopie im Eigentum von W4. 190 Siehe AV, datiert 1. Quartal 1963, Kopie im Eigentum von W4. 191 Niederschrift Zeugenbefragung, datiert 1. Quartal 1964, Landesarchiv. 192 STA an Bezirksgericht, 2. Quartal 1964, Landesarchiv. 193 Ebd. 194 Ebd. 195 Bundesministerium für Inneres an Bundesministerium für Justiz, datiert 1. Quartal 1965, Landesarchiv.

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»die ehemals dem Einsatzkommando 8 angehört haben«,196 darunter der Stiefgroßvater von W4. Einer der beiden anderen habe zugegeben, »etwa vom März 1942 bis Herbst 1943 (zumindest bis 24. September 1943) […] in Mogilew und Umgebung […] an zahlreichen Vergasungsaktionen […] selbst teilgenommen zu haben.«197 Das Justizministerium ersuchte daraufhin die Oberstaatsanwaltschaft per Erlass, die Staatsanwaltschaft »anzuweisen, vorerst im Rahmen von gerichtlichen Vorerhebungen […] ehestens die Verjährung unterbrechende Verfolgungsschritte in die Wege zu leiten.«198 Jenes Mitglied des »Einsatzkommandos«, das die »Vergasungsaktionen« gestanden hatte, wurde in den 1970er-Jahren von einem österreichischen Gericht freigesprochen. Gegen den dritten erfolgte keine Anklageerhebung. Im zweiten Quartal 1965 ersuchte das Landesgericht für Strafsachen das Strafregisteramt der Polizei um Auskunft über die Verurteilungen des Stiefgroßvaters von W4. Die Gemeinde, in der dieser wohnte, wurde um ein Leumundszeugnis gebeten. Zwei Tage später erteilte das Strafregisteramt die Auskunft, dass keine »mitzuteilende Strafe vorgemerkt«199 sei. Das Landesgericht informierte parallel dazu das Bezirks- und Arbeitsgericht jenes Bezirks, in dem der Stiefgroßvater von W4 lebte und als Verwalter arbeitete, dass die Staatsanwaltschaft Vorerhebungen nach Paragraf 212 des Reichsstrafgesetzbuchs200 eingeleitet habe. Das Bezirksgericht wurde ersucht, ihn zu vernehmen. Mit Verweis auf dessen geringes Erinnerungsvermögen bat das Landesgericht, dem Stiefgroßvater von W4 auch die Niederschriften der Aussagen jener beiden anderen österreichischer Mitglieder des »Einsatzkommandos 8« vorzuhalten, gegen die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls Voruntersuchungen liefen.201 Da der Wohnort des Stiefgroßvaters zwar im selben politischen Bezirk wie das Bezirksgericht, aber im Sprengel des benachbarten Gerichtsbezirks lag, musste das Ersuchen des Landesgerichts für Strafsachen an das Bezirksgericht im benachbarten politischen Bezirk weitergeleitet werden. Elf Tage, nachdem es beim tatsächlich zuständigen Gericht eingelangt war, verübte der Stiefgroßvater von W4 im Alter von 53 Jahren in der Gemeinde, in der er zuletzt wohnhaft und beruflich tätig gewesen war, Suizid  : »Mir wurde als Kind immer eingeredet, der ist vom Dach gefallen, was ich sehr spannend gefunden habe, weil es gibt scheinbar wirklich eine Geschichte, wo er vom Dach gefallen ist, aber halt ein Unfall. Ich habe herausgefunden aber, dass er sich erhängt hat. Ob es einen Abschiedsbrief gibt  ? Keine Ahnung, ich weiß es nicht. Ich war auch in dem Haus, wo er sich erhängt hat. Das ist inzwischen wieder 196 Bundesministerium für Inneres an Bundesministerium für Justiz, datiert 1. Quartal 1965, Landesarchiv. 197 Ebd. 198 Amtsvermerk Justizministerium, datiert 1. Quartal 1965, Kopie im Eigentum von W4. 199 Auskunft des Strafregisteramts, datiert 2. Quartal 1965, Landesarchiv. 200 Totschlag, Strafdrohung  : 5 Jahre bis lebenslanges Zuchthaus. Das zur Tatzeit geltende Recht wurde angewendet. 201 Siehe LG für Strafsachen an Bezirksgericht, datiert 2. Quartal 1965, Landesarchiv.

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so eine Pension, das war so eine Pension, die meine Großeltern betrieben haben, […] und habe mich auch mit der jetzigen Besitzerin darüber unterhalten und auch mit den Nachbarn von dort, aber da ist jetzt nicht wirklich etwas herausgekommen für mich, was mir jetzt in irgendeiner Form weitergeholfen hätte.«202 Die beiden anderen Mitglieder des »Einsatzkommandos 8«, gegen die damals ebenfalls ermittelt worden war, wurden beide nicht gerichtlich verurteilt  : »Da war er vielleicht ein bisschen vorschnell, weil die sind dann alle freigesprochen worden, das war ein Fehlurteil, also das war irgendwie ein Scherz das Ganze. […] Mein Vater hat mir erzählt, am Begräbnis von dem Mann, also von meinem Stiefgroßvater, hat sein Halbbruder gemeint, dass er ihn eh rausholen hätte können. Dieser Halbbruder war damals Honorarkonsul von […] in […]. Keine Ahnung, ob das dahingesagt war, keine Ahnung, ob das sich mein Papa richtig gemerkt hat, ich weiß es nicht.«203 Das Bezirksgericht informierte das Landesgericht über den Todesfall. Die Staatsanwaltschaft beantragte daraufhin die Beendigung des Verfahrens nach Paragraf 224 des damals gültigen Strafgesetzes. Dieser sah vor, dass nach dem »Tod des Thäters […] die Verfolgung des Verbrechers, und die Anwendung der Strafe«204 aufgehoben wird. Der leitende Erste Staatsanwalt berichtete daraufhin fälschlicherweise in einem mehrere Fehler aufweisenden Schreiben an die Oberstaatsanwaltschaft, dass die Beendigung des Verfahrens gegen einen der beiden anderen ehemaligen Angehörigen des »Einsatzkommandos 8« wegen dessen Tod beantragt worden sei. Allerdings starb dieser, im Gegensatz zum Stiefgroßvater von W4, erst 29 Jahre später und wurde im ersten Quartal 1994 begraben.205 Die Pensionsversicherungsanstalt erkundigte sich sechs Wochen nach dem Suizid beim Innenministerium, ob der Anhaltung des Stiefgroßvaters von W4 unmittelbar nach Kriegsende bis zu dessen Verlegung im dritten Quartal 1947 »ein Tatbestand zugrunde lag, der nach den österr. Gesetzen strafbar ist, oder strafbar wäre.«206 Im dritten Quartal 1965 antwortete das Ministerium, dass sich dieser im Camp Marcus W. Orr in Haft befunden habe  : »Diese Anhaltung war eine Maßnahme der Besatzungsmacht auf Grund der Automatic-Haft.«207 Im vierten Quartal 1965 wurde

202 Interview mit W4, S. 21. 203 Ebd., S. 19. 204 Strafgesetzbuch, Kaiserliches Patent vom 17.5.1852, Reichsgesetz- und Regierungsblatt, S. 536. 205 Siehe Friedhöfe Wien, Verstorbenensuche, URL  : https  ://www.friedhoefewien.at/eportal3/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 206 Pensionsversicherungsanstalt an Bundesministerium für Inneres, datiert 2. Quartal 1965, Kopie im Eigentum von W4. 207 Bundesministerium für Inneres an Pensionsversicherungsanstalt, datiert 3. Quartal 1965, Kopie im Eigentum von W4.

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das Verfahren gegen den Stiefgroßvater von W4 schließlich von der österreichischen Justiz beendet.208 Im vierten Quartal 1966, gut eineinhalb Jahre nach dem Tod des Stiefgroßvaters von W4, tauchte dessen Name in den Ermittlungen einer anderen österreichischen Staatsanwaltschaft als mutmaßlicher Angehöriger der »SS-Sonderformation Dirlewanger« auf. Diese Staatsanwaltschaft veranlasste weitere Erhebungen, die im vierten Quartal 1970 abgeschlossen wurden. Sie listete 27 Namen von Österreichern auf, die der Einheit angehört haben sollen, darunter auch der Stiefgroßvater von W4. In den zur Verfügung stehenden Quellen findet sich allerdings kein weiterer Hinweis auf eine mögliche Zugehörigkeit zu dieser Einheit. Auch auf einer 1998 publizierten unvollständigen Liste der Mitglieder209 scheint sein Name nicht auf. Die Einsatzgebiete des »Einsatzkommandos 8« und der »SS-Sonderformation Dirlewanger« überschnitten sich jedoch  :210 Von Februar 1942 bis Juli 1944 war die »SS-Sonderformation« im östlichen Weißrussland stationiert. Sie kam »sowohl selbständig wie auch in Zusammenarbeit mit anderen Verbänden der SS, der Polizei und der Wehrmacht zum Einsatz.«211 3.1.6 Nachforschungen von W4 Gegenüber ihren Enkeltöchtern habe die Großmutter mütterlicherseits von W4 nicht über ihren verstorbenen Ehemann geredet  : »Wir hatten nicht sehr viel Kontakt, aber die hat da gar nicht darüber gesprochen. Da war überhaupt kein Weg hinzu. […] Die hat darüber gar nichts gesprochen, die war da sehr distanziert, […] das ist gar nicht gegangen.«212 Die Großmutter starb im vierten Quartal 2004 im Alter von 85 Jahren. Danach begann W4, sich mit der Geschichte ihrer Familie, mit der sie sich eigenen Angaben zufolge davor nie auseinandergesetzt hatte, zu beschäftigen  : »Nationalsozialismus, also Nazi, war bei uns immer ein Schimpfwort zu Hause, und ich habe dann relativ lange gebraucht, bis ich draufgekommen bin, dass da meine Familie schon auch ein bisschen was damit zu tun gehabt hat. Und das habe ich dann eigentlich, wie ich mich irgendwie so ein bisschen mit Familienforschung und Genealogie beschäftigt habe, herausgefunden. […] Ich habe meine Familie zurückerforscht bis 1480 oder so.«213

208 Siehe STA an LG für Strafsachen, datiert 4. Quartal 1965, Landesarchiv. 209 Siehe MacLean, The Cruel Hunters., S. 269–275. 210 Siehe Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen  ; MacLean, The Cruel Hunters  ; Klausch, Antifaschisten in SS-Uniform. 211 Siehe Klausch, Antifaschisten in SS-Uniform, S. 59. 212 Interview mit W4, S. 11. 213 Ebd., S. 24.

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Ihrer Mutter sei es »extrem schwergefallen«,214 über den Stiefgroßvater von W4 zu sprechen  : »Sie dürfte ihn sehr gern gehabt haben, und wenn sie von ihm redet, redet sie auch immer von ihrem ›Vati‹, was ich sehr spannend finde, weil sie hat nicht einmal denselben Nachnamen getragen, bevor sie geheiratet hat. Und ich glaube, es ist wahnsinnig schwer für Kinder, zu realisieren, dass zwar jetzt der Vater ein liebender Vater oder ein liebender Opa sein kann, aber der dennoch Verbrechen begangen hat. […] Und bei meiner Mutter habe ich eigentlich nie nachgefragt, weil die hat auch immer sofort zugemacht, wenn ich da irgendetwas gefragt habe. […] Ich glaube, er war für meine Mutter eine ganz wichtige Person, weil er für meine Mutter sehr viel getan hat. Meine Mutter war in England, meine Mutter war in Frankreich, wie sie Teenager war, also in den 50er-Jahren. Dürfte ein sehr gutes Verhältnis zu ihm gehabt haben. Sie hatte auch ein gutes Verhältnis zu seiner Familie. Sein Halbbruder war ihr Trauzeuge, das dürfte sehr eng gewesen sein. Und ich glaube, das mit seiner Kriegsvergangenheit, das hat sie einfach ausgeblendet, weil ihr das geholfen hat, da darüber hinwegzusehen.«215 Im Juli 2019 fuhr W4 gemeinsam mit ihrer Schwester nach Murmansk und besuchte das Grab des leiblichen Vaters ihrer Mutter. Dieser war als Soldat der deutschen Wehrmacht bei den Kämpfen in der Region umgekommen. Während die anderen Mitglieder der Herkunftsfamilie von W4 in unterschiedlichem Ausmaß Interesse an ihren Nachforschungen gezeigt hätten, sei die Mutter nicht daran interessiert gewesen  : »Mein Vater hat versucht, da ein bisschen zu vermitteln, aber das ist halt auch sehr schwierig für ihn, weil er gegenüber seiner Frau natürlich nicht illoyal werden will, was ich auch verstehe. Mein Vater hat versucht, mir Informationen zu geben, die er hat, und war auch sehr interessiert dann. Und meine Mutter, wie gesagt, meine Mutter setzt sich überhaupt nicht damit auseinander, für meine Mutter existiert das alles gar nicht. […] Meine Mutter hat gesagt, so auf die Tour  : ›Ja, das kann schon sein.‹ Aber sie weiß da nichts und sie will da eigentlich auch gar nichts wissen. […] Ich habe einmal mit meiner Cousine darüber geredet, und die war total, also so  : ›Nein, das interessiert mich gar nicht, weil ich habe den nie kennengelernt, ich habe eigentlich nie Kontakt gehabt zu dieser Familie, es interessiert mich nicht.‹ […] Und, ja, finde ich auch ok.«216 Innerhalb der Herkunftsfamilie von W4 sei über ihren Stiefgroßvater, den Ehemann ihrer Großmutter mütterlicherseits, durchwegs positiv gesprochen worden  : »Eigentlich gut. Ich habe mich dann auch mit meinem Vater, der ihn noch kennengelernt hat, weil meine Eltern haben geheiratet bevor der Selbstmord war, darüber gemailt und ausgetauscht, und er hat gesagt  : ›Das war ein total netter Mann, nur 214 Interview mit W4, S. 2. 215 Ebd., S. 12. 216 Ebd., S. 22.

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wenn das Thema zum Krieg gekommen ist, hat er zugemacht, war extrem in sich gekehrt, betrübt.‹ Also das sind jetzt wirklich Zitate von meinem Vater  : ›Betrübt und hat nichts gesprochen.‹ Also das war so, ja.«217 W4 versuchte, möglichst viel über ihren Stiefgroßvater mütterlicherseits herauszufinden  : »Ich habe mich da reingelesen und reingelesen und reingelesen, ich war da Monate über beschäftigt, hab irrsinnig viel recherchiert, und irgendwann war ich dann einmal an dem Punkt, wo ich mir gedacht habe, ok, der soziale Vater von meiner Mama war ein Kriegsverbrecher, das kann man auch nicht schönreden, das kann man nicht wegreden und nicht wegdiskutieren, das ist so. Und das war natürlich schon ein ziemlich ein Schlag in die Magengrube. Und auf der anderen Seite habe ich mir dann gedacht  : Was hat das jetzt mit mir zu tun  ? Ich fühle mich da jetzt nicht dafür deswegen schuldig oder so. So, wie es vielleicht meine Mutter macht. Die fühlt sich da scheinbar echt schuldig, obwohl sie ein Kind war. Das ist das Arge, das ist das, was ich nicht verstehe, die kann da nichts dafür.«218 Dass in ihrer Herkunftsfamilie nie über die Verbrechen, die der Stiefgroßvater mütterlicherseits begangen hatte, gesprochen wurde, führt W4 auf diese Schuldgefühle ihrer Mutter zurück. Schon lange habe sie nicht mehr mit ihr darüber geredet  : »Ich will ihr ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ich komme mir da manchmal auch so komisch vor, ich will ihr auch das Bild von ihrem ›Vati‹, wie sie ihn nennt, auch nicht wegnehmen. Weil sie hat es eh nicht so leicht gehabt und das ist natürlich schon arg, wenn man dann hergeht und die positive Elternperson sozusagen anpatzt. Weil sie kann sich das nicht vorstellen, ich meine, ich kann mir das auch nicht vorstellen, dass jetzt ein Mensch, den ich total gern habe, Kinder und Frauen umbringt. […] Und zu sagen, ok, das ist passiert, das war ein Mensch, der hatte die Seite und die Seite, und die Seite war, er war ein guter Vater oder Stiefvater, aber er war ein Kriegsverbrecher, das schafft sie bis heute nicht und das wird sie, glaube ich, auch nicht mehr schaffen.«219 W4 recherchierte in Wiener Archiven, konsultierte Historiker und las Bücher über die Verbrechen der »Einsatzkommandos«  : »Ich war im Staatsarchiv und hatte damals das Glück, dass ich zufällig an einen ziemlich kompetenten Historiker gekommen bin […] und der mir da sehr geholfen hat. […] Dass er bei einem Einsatzkommando war, das habe ich erst im Staatsarchiv herausgefunden. […] Und ich war im Dokumentationsarchiv, die auch fantastisch waren und wo ich mir einfach die ganzen Sachen durchgelesen habe, das waren Aussagenprotokolle, das waren Bücher, die ich gelesen habe zum Thema was dieses Einsatzkommando gemacht hat. Ich weiß jetzt nicht, wo mein, wo der Stiefvater meiner Mama dabei war, keine Ahnung, also so genau konnte ich das nicht rekonstruieren. Das habe ich jetzt auch ein bisschen 217 Interview mit W4, S. 4. 218 Ebd., S. 7. 219 Ebd., S. 15.

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ruhen lassen, vielleicht wenn ich irgendwann einmal Zeit und Lust habe, schaue ich mir das noch genauer an. Ich weiß jetzt so viel, dass ich mir ein Bild machen habe können, und das ist jetzt für mich auch, glaube ich, einmal genug.«220 Die Erinnerungslücken, die ihr Stiefgroßvater gemäß den Einvernahmeprotokollen aufwies, hätten sie besonders gestört, wie W4, die aus einer sozialdemokratischen Eisenbahnerfamilie stammt, während des Interviews mehrmals betont  : »Mich hat das fasziniert, wie man Ausreden für sich selber erfinden kann, wenn man irgendetwas macht. Ich weiß, die Zeit war scheiße, ich weiß, den Leuten ist es nicht weiß Gott wie gut gegangen. […] Es war nicht so, dass das weiß Gott was für eine super Zeit war und dass der weiß Gott was für eine Bildung genossen hätte oder sonst etwas, das ist mir alles ganz klar, aber, und das ist wirklich ein großes Aber, das rechtfertigt noch lange nicht das, was da passiert ist. Weil ich kann nicht sagen, mir geht’s scheiße und jetzt behandle ich alle anderen schlecht. Das geht sich nicht aus für mich. Das hat mich schon aufgeregt wie ich ein Kind war, dieses Rausreden, dieses nicht bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, das habe ich irgendwie überhaupt nicht verstanden. […] Was mich immer schon extrem gestört hat, war dieses verlogene Nachkriegsösterreich.«221 Gemeinsam mit anderen Personen, die ebenfalls aus Täterfamilien stammen, gründete W4 eine Selbsthilfegruppe. Davon abgesehen, habe sich für sie durch das Wissen über ihren Stiefgroßvater, das sie während der Nachforschungen angehäuft hat, nicht allzu viel geändert  : »Dass das Unrecht war, habe ich immer gewusst. Ich habe nicht gewusst, wie gesagt, dass die Familie involviert war. Vielleicht schaue ich genauer hin jetzt. Ich habe mich, seitdem ich, glaube ich, 14 bin, mit dem Thema wirklich intensiv beschäftigt, aber ich glaube, es ist schon auch irgendwie eine Pflicht, wenn man das weiß und sich wirklich auseinandergesetzt hat, dass man dann einen kritischeren Blick bekommt und vielleicht auch kritischer darauf schaut auf irgendwelche Bewegungen, die in die Richtung gehen, wo man sich denkt, das geht einfach gar nicht, und ich glaube, weil man sich das auch in Zukunft ersparen will. Wenn man sich intensiv mit einem Thema auseinandersetzt und man weiß, dass das Unrecht ist, dann will man das ja verhindern.«222 W4 nahm »auch genug professionelle Hilfe in Anspruch. […] Wenn ich darüber nachdenke, die verschiedenen Situationen im Zuge von dieser Recherche damals, das war jetzt kein emotionaler Spaziergang […].«223 Im Diskurs, den sie mit ihrer Mutter über deren Stiefvater habe, störe sie die emotionale Ebene  : »Es gleitet dann immer in eine Emotionalität ab, die dann gepaart mit Vorwürfen kommt, auch von meiner 220 Interview mit W4, S. 9. 221 Ebd., S. 10. 222 Ebd., S. 17. 223 Ebd., S. 19.

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Seite. Wo ich ihr vorwerfe  : ›Du hast nie mit mir darüber geredet  ! […] Und dann kommt der Gegenvorwurf […] von meiner Mutter wie aus der Pistole geschossen  : ›Das ist alles jetzt so lang aus, und was betrifft dich das jetzt, und du hast ja eh dein Leben, und beschäftige dich mit der Zukunft und nicht mit der Vergangenheit.‹ […] Das ist so ein ganz großer Knoten, und wir schaffen es nicht, den aufzulösen, was ich wahnsinnig schade finde, weil ich glaube, sehr viel Zeit bleibt uns nicht mehr.«224

3.2 Jennifer Teege  : »War mein ganzes Leben eine Lüge  ? « 225 Im Sommer 2008 entdeckte die am 29. Juni 1970 in München geborene deutsche Werbetexterin Jennifer Teege in der Psychologie-Abteilung der Hamburger Zentralbibliothek ein Buch226 über die Tochter des aus Wien stammenden ehemaligen SSHauptsturmführers Amon Göth.227 Dieser war von März 1943 bis September 1944 Kommandant des auf dem Gelände des Krakauer Gettos errichteten Konzentrationslagers Płaszów gewesen und im September 1946 in Krakau wegen Massenmord hingerichtet worden. In jener Frau, die auf dem Einband abgebildet war, erkannte Teege ihre leibliche Mutter Monika Hertwig. Jennifer Teege war von Hertwig im Alter von vier Wochen in ein katholisches Kinderheim gebracht und mit sieben Jahren zur Adoption freigegeben worden.228 Mit ihrer Mutter hatte sie eigenen Angaben zufolge seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Teege realisierte in der Folge, dass sie die »Enkelin eines Massenmörders«229 war  : »Alles, was mein Leben bis dahin ausgemacht hat, stelle ich nun in Frage […]. War mein ganzes Leben eine Lüge  ?«230 Jennifer Teege entstammte der Beziehung, die ihre Mutter, die Tochter von Amon Göth und Ruth Irene Kalder, in München mit einem nigerianischen Studenten, einer Person of Color, geführt hatte  : »Mein Großvater hätte mich bestimmt erschossen.«231 Sie war im Alter von sieben Jahren von ihrer Pflegefamilie adoptiert worden. Ab diesem Zeitpunkt trug sie nicht mehr den Nachnamen Göth, den ihre Großmutter 1948 angenommen und ihre Mutter später abgelegt hatte  : »So wie meine Großmutter zeitlebens Amon Göth verklärt und entschuldigt hat, so habe ich zu Beginn meiner Nachforschungen dazu geneigt, sie zu milde zu betrachten. Ich sagte mir  : Sie hat niemandem etwas Böses getan. Sie war nicht aktiv an seinen Taten 224 Interview mit W4, S. 16. 225 Teege/Sellmair, Amon, S. 16 ff. 226 Kessler, »Ich muß doch meinen Vater lieben, oder  ?«. 227 Für biografische Details siehe Sachslehner, Der Henker. 228 Siehe ebd. 229 Teege/Sellmair, Amon, S. 15. 230 Ebd., S. 16 ff. 231 Ebd., S. 56.

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beteiligt.«232 Teeges »geliebte Großmutter«233 hatte Amon Göths Verbrechen nach Kriegsende geleugnet.234 Sie verübte am 29. Jänner 1983 Suizid. Jennifer Teeges Mutter war im November 1945 in der oberbayerischen Kreisstadt Bad Tölz auf die Welt gekommen. Sie hatte ihrer Tochter die »Ungeheuerlichkeiten der Familiengeschichte«235 verschwiegen  : »Weshalb hatte meine Mutter es nicht für nötig befunden, mich über meine Herkunft aufzuklären  ?«236 Ihr am 11. Dezember 1908 in Wien geborener Großvater mütterlicherseits war am 11. Februar 1943 zum Lager-Kommandanten von Płaszów ernannt worden  : »Als Göth den Posten übernahm, begann in Plaszow die Zeit unvergleichlichen Terrors. Der neue Kommandant ordnete schon nach wenigen Tagen die erste Exekution an  : Zwei Gefangene wurden auf dem Appellplatz gehängt, weil sie versucht hatten, aus dem Lager ins Ghetto zu gelangen. Zur gleichen Zeit erschoss Göth zwei Häftlinge, die gerade Steine trugen, und dies – wie ein Augenzeuge berichtete – nur, um seine eigene Zielsicherheit zu testen. Göth ermordete eigenhändig viele Häftlinge. […] In der Strafkompanie arbeitete man in Steinbrüchen so gut wie ohne Essen. Amon Göth übte als Lagerkommandant eine grenzenlose Willkür aus.«237 Göth wurde am 13. September 1944 wegen des Vorwurfs der »Bereicherung am Eigentum der Häftlinge«238 sowie der ordnungswidrigen Behandlung von Gefangenen239 in Płaszów durch die »Geheime Staatspolizei« festgenommen. Zu Kriegsende befand er sich in einem Lazarett in Bad Tölz. Am 5. Mai 1945240 wurde Teeges Großvater von Angehörigen des CIC verhaftet und im Frühling 1946 nach Polen überstellt. Ab 27. August 1946241 stand er unter großem Publikums- und Medieninteresse in Krakau vor Gericht  : »Die Presse kommentierte täglich die Geschehnisse im Gerichtssaal. Es war sichtlich schwer, die journalistische Distanz zu bewahren. Die Titel der Artikel ›Silhouette eines ungeheuerlichen Verbrechers‹, ›Der Plaszower Henker vor Gericht‹, ›Und er mordete doch‹, ›Er tötete selbst  !‹, ›Die Braune Bestie‹ geben die Stimmung wieder, die sich im Lauf des Prozesses einstellte. Nach achttägiger Verhandlung verurteilte der Oberste Nationale Gerichtshof den Angeklagten Amon Göth zum Tode durch Erhängen, zu lebenslänglichem Verlust der 232 Teege/Sellmair, Amon, S. 95. 233 Ebd., S. 16. 234 Siehe ebd. 235 Ebd., S. 127. 236 Ebd., S. 20. 237 Angelina Oster, Im Schatten von Auschwitz. Das KZ Krakau-Plaszow – Geschichte und Erinnerung. In  : Dachauer Hefte 19 (2003) 19, Zwischen Befreiung und Verdrängung, S. 171 f. 238 Ebd., S. 173. 239 Siehe ebd. 240 Siehe ebd., S. 174. 241 Siehe ebd.

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öffentlichen und Ehrenrechte und zur Konfiszierung des gesamten Vermögens. Der Staatspräsident machte vom Gnadenrecht keinen Gebrauch, das Urteil wurde in Krakau am 13. September 1946 vollstreckt.«242 Jennifer Teeges leibliche Mutter Monika Hertwig war selbst »mit dem bleiernen Schweigen der Nachkriegszeit«243 aufgewachsen. Sie hatte als Kind erzählt bekommen, ihr Vater Amon Göth wäre »im Krieg gefallen«,244 wie in dem 2002 in Interviewform veröffentlichten Buch »Ich muß doch meinen Vater lieben, oder  ?« des deutschen Journalisten Matthias Kessler beschrieben ist. Hertwig hieß zum Zeitpunkt des Interviews im Frühjahr 2001 noch Göth. Der Autor hatte sie, wie er in dem Band erläutert, aufgefordert, zu verschiedenen Begriffen Stellung zu nehmen, ohne vorher lange darüber nachzudenken. Die Antwort auf die Frage nach dem Begriff »Familie« lautete demgemäß »Schweigen«.245 Jennifer Teege war 38 Jahre alt, als sie in Hamburg das Buch mit dem Bild ihrer Mutter auf dem Cover fand und »komplett aus dem Nichts«246 davon Kenntnis erlangte, wer ihr Großvater gewesen war. Davor schien ihr Leben »im Lot«247 gewesen zu sein, wie Teege in ihrer 2013 veröffentlichten Autobiografie beschreibt, die sie gemeinsam mit der Journalistin Nikola Sellmair verfasst hat  : »Zuerst brauchte ich Zeit, um mich von dem Schock zu erholen. […] Mir kam es so vor, als hätte ich all die Jahre eine Art Doppelleben geführt. Als hätte ich meine Freundinnen und alle Menschen um mich herum betrogen.«248 Die Entdeckung des Buchs mit dem Foto ihrer Mutter sei für ihr Leben entscheidend gewesen  : »Jeder Mensch will wissen, woher er kommt, wer seine Eltern und seine Großeltern sind. […] Das Buch war der Schlüssel zu allem, der Schlüssel zu meinem Leben. Es lüftete endlich mein Familiengeheimnis, aber die Wahrheit, die nun endlich offen vor mir lag, war schrecklich.«249 Amon Göths Enkeltochter gab in ihrer Autobiografie an, dass sie sich betrogen gefühlt hatte »um meine Geschichte. Um meine Kindheit. Um meine Identität.«250 Nachdem Teege von dieser »Familienlüge«251 erfahren hatte, konfrontierte sie ihre leibliche Mutter damit. Diese habe ihr entgegnet, immer versucht zu haben, sie 242 Oster, Im Schatten von Auschwitz, S. 175. 243 Teege/Sellmair, Amon, S. 16. 244 Kessler, »Ich muß doch meinen Vater lieben, oder  ?«, S. 144. 245 Ebd., S. 14. 246 Julia Schaaf, Ich bin mehr. In  : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.9.2013, URL  : https  ://www. faz.net/aktuell/gesellschaft/jennifer-teege-ich-bin-mehr-12573936.html?printPagedArticle=true#pa geIndex_2 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 247 Teege/Sellmair, Amon, S. 235. 248 Ebd. 249 Ebd., S. 246. 250 Ebd., S. 18. 251 Ebd., S. 123.

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zu schützen und »herauszuhalten aus diesem ganzen ›Göth-Mist‹. […] Sie versteht nicht, was diese fremde Tochter von ihr will. Warum sie so unbedingt daran festhält, dass auch eine furchtbare Wahrheit besser ist als das Schweigen, auch eine kaputte Familie besser als gar keine Wurzeln.«252 Ihre Mutter habe nicht begriffen, »dass das Nicht-Wissen die größere Bürde war.«253 Nach eingehender Beschäftigung mit der Geschichte ihrer Herkunftsfamilie könne sie nachempfinden, warum ihre Mutter so lange über die Vergangenheit geschwiegen hatte, wie Jennifer Teege resümiert. Dennoch empfinde sie das Wissen um dieses Familiengeheimnis, das sie schockiert habe,254 als Befreiung  : »Ich glaube, wir können nur dann mit der Vergangenheit fertig werden und sie auch irgendwann hinter uns lassen, wenn wir offen mit ihr umgehen. Denn wer das Gefühl hat, sich und seine Identität verstecken zu müssen, wird krank. Das ist der Grund, warum ich so erschüttert war, als ich erfuhr, was meine Mutter vor mir verborgen hatte  : Das Familiengeheimnis, das ihre Kindheit und Jugend, ihr ganzes Leben überschattet hat – sie ließ auch mich damit aufwachsen. Ich habe viel zu spät davon erfahren.«255

3.3 Claudia Brunner  : »Die Stille in unserer Gesellschaft« 256 Die 1972 in Graz geborene österreichische Politikwissenschafterin Claudia Brunner veröffentlichte im Alter von 32 Jahren zusammen mit dem deutschen Journalisten und Autor Uwe von Seltmann ein autobiografisches Buch.257 Darin sind ihre jahrelangen Bemühungen, das innerfamiliäre Schweigen über ihren Großonkel Alois Brunner258 zu durchbrechen, dokumentiert  : »Die Brunners […] hüllen sich seit mittlerweile drei Generationen in Unwissenheit oder Schweigen – fast alle. Seit ich als 13-Jährige von der Existenz dieses gar nicht so entfernten Verwandten erfahren habe, empfinde ich jedenfalls eine Aura des Geheimnisvollen, des Unaussprechbaren, des Gefährlichen, wenn der Name Alois Brunner fällt. Und 14 Jahre, nachdem ich das Foto auf der Titelseite der deutschen Illustrierten Die Bunte mit Schaudern und Neugier betrachtet habe, möchte ich mir von der Person Alois Brunner, von meinem Großonkel, tatsächlich ein Bild machen.«259 252 Teege/Sellmair, Amon, S. 191. 253 Ebd., S. 185. 254 Ebd., S. 261. 255 Ebd., S. 182. 256 Claudia Brunner, Phantomschmerzen. In  : Dies./von Seltmann, Schweigen die Täter, reden die Enkel, S. 47. 257 Ebd. 258 Für biografische Angaben zu Alois Brunner siehe exemplarisch Hafner/Schapira, Die Akte Alois Brunner. 259 Brunner, Phantomschmerzen, S. 17 f.

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1985 war in der deutschen Zeitschrift »Bunte« ein Interview mit Alois Brunner, dessen Beruf auf dem Fragebogen des »Rasse- und Siedlungshauptamts« der SS mit »Kaufmann«260 angegeben worden war, erschienen. Durch seine Flucht über Ägypten nach Syrien hatte sich der Onkel ihres Vaters nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Strafverfolgung durch die Justiz entzogen. In Frankreich wurde der ehemalige SS-Hauptsturmführer und wichtigste Mitarbeiter Adolf Eichmanns 1954 in Abwesenheit von zwei Militärgerichten jeweils zum Tod verurteilt. 2001 folgte ein Schuldspruch wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Alois Brunner, den seine Großnichte als »Phantom der Zeitgeschichte«261 bezeichnet, wurde bei diesem letzten Prozess ebenfalls in Abwesenheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Mitte der 1980er-Jahre nahm Claudia Brunners Vater mit dem gesuchten Kriegsverbrecher einen losen Briefkontakt auf, der Brunners Angaben zufolge bis 1990 andauerte. Unter dem falschen Namen »Doktor Georg Fischer« lebte Alois Brunner in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Bevor Claudia Brunner ihren autobiografischen Text verfasste, hatte sie diese Briefe gelesen  : »Ich habe Einblick gehabt, aber ich habe sie streckenweise nicht ganz verstanden und auch atmosphärisch sehr schwer ausgehalten. Es sind teilweise wirre Zeilen, Begriffe, die eindeutig irgendwie kodierte Sprache sind, die ich nicht mehr so ganz verstehen konnte. Und gleichzeitig hatten diese Briefe natürlich etwas unheimlich Verbotenes.«262 Nachdem Claudia Brunner ihren Vater um Erlaubnis gefragt hatte, verarbeitete sie diesen Briefwechsel in dem Text  : »Ja, weil das eigentlich seine Geschichte ist und nicht meine. Und das war mir sehr wichtig, das mit ihm auch zu klären und ihm zu sagen, warum mir das wichtig ist, das zu schreiben, eben weil ich das Gefühl hatte, ich will aussteigen aus dieser Dynamik des Geheimnisses, des Verheimlichens, auch wenn ich es natürlich nicht auf allen Ebenen kann, weil es mich emotional, mental immer noch irgendwie in dieser Weise beschäftigt.«263 Alois Brunner war am 8. April 1912 als Sohn einer Bauernfamilie in der Ortschaft Nádkút264 im deutschsprachigen Teil Westungarns geboren worden. Seinen Angaben zufolge war er von 16. Dezember 1931 bis 15. November 1938 Mitglied der SA, von 6. September 1933 bis 24. August 1938 der »Österreichischen Legion« in Deutschland und ab 15. November 1938 der SS gewesen.265 Seine Großnichte beschreibt in 260 Fragebogen »Rasse- und Siedlungshauptamt« SS, zit. n. Hafner/Schapira, Die Akte Alois Brunner, S. 27. 261 Brunner, Phantomschmerzen, S. 39. 262 Schweigen die Täter, reden die Enkel. In  : ORF Radio Burgenland Extra vom 8.4.2004. 263 ORF Radio Ö1, Kontext – Sachbücher und Themen vom 12.3.2004. 264 Der deutsche Name lautet Rohrbrunn. Deutsch-Westungarn wurde nach dem Ersten Weltkrieg Österreich zugesprochen. Rohrbrunn ist Teil der Marktgemeinde Deutsch Kaltenbrunn im Burgenland. 265 Siehe Fragebogen »Rasse- und Siedlungshauptamt« SS, zit. n. Hafner/Schapira, Die Akte Alois Brunner, S. 27.

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»Schweigen die Täter, reden die Enkel«, wie ihr die Beschäftigung mit diesem Vorfahren psychisch zugesetzt hatte  : »[…] ob ich schon einmal an eine Psychotherapie gedacht hätte […]  ? Kommt nicht in Frage, ich werde doch wohl mit dem bisschen Familiengeschichte im Rucksack allein fertig werden. […] Das wäre doch gelacht, wenn ich den Alten nicht wegstecke.«266 Sie berichtete auch über ein Treffen von Angehörigen der »dritten Generation« in Wien. Auf Einladung des Österreichischen Bundesjugendrings und eines israelischen Dachverbands von Jugendorganisationen waren im Oktober 1999 rund 20 Personen aus Israel und Österreich zusammengekommen  : »Bei aller Verschiedenheit zwischen unseren Biografien und Geschichten entdecken wir erstaunliche Parallelen, wie zum Beispiel die Übernahme von Schuldgefühlen Jahrzehnte nach den tatsächlichen Ereignissen, Tabus und Familiengeheimnisse […].«267 Zu einer weiteren Versammlung war Brunner im Juli 2000 nach Tel Aviv gereist, »um dort abermals mit jüdischen Israelis der dritten Generation die Stille zu durchbrechen. Die Stille in uns und in unserer Gesellschaft […].«268 Alois Brunner war von November 1938 bis Februar 1945 in Wien, Berlin, Thessaloniki, Paris, Südfrankreich und der Slowakei für die Verfolgung, Verhaftung und Verschleppung zehntausender Jüdinnen und Juden in Gettos und »Vernichtungslager« verantwortlich. Seine Großnichte stellte eigene Nachforschungen über ihn an. Am 2. März 2001 nahm sie in Paris am dritten Prozess gegen ihren Großonkel, dem in diesem Fall »die Deportation von 345 jüdischen Kindern aus dem Durchgangslager Drancy bei Paris nach Auschwitz und Bergen-Belsen«269 zur Last gelegt wurde, teil. Sie reiste auch in die nordöstlich von Paris gelegene Stadt Drancy, in der sich von Oktober 1941 bis August 1944 ein »Sammel- und Durchgangslager« befunden hatte. Alois Brunner war ab 2. Juli 1943 Kommandant dieses Lagers gewesen. Aus Drancy wurden mehr als 60.000 Personen, vor allem französische Jüdinnen und Juden, nach Auschwitz und in andere deutsche »Vernichtungslager« verschleppt  : »Was ich nun weiß, ist mehr, als ich eigentlich zu finden, aber auch mehr, als ich auszuhalten geglaubt habe.«270 Nach der Urteilsverkündung am 2. März 2001 wurde Claudia Brunner von Eva Twaroch, der damaligen Korrespondentin des ORF in Paris, gefragt, warum sie als einziges Mitglied ihrer Herkunftsfamilie dem Prozess beigewohnt hatte  : »Ich bin eben die, die sich einerseits bewusst und andererseits auch öffentlich damit auseinan266 Brunner, Phantomschmerzen, S. 31 f. 267 Ebd., S. 33. 268 Ebd., S. 47. 269 Lebenslang für NS-Verbrecher Brunner. In  : Der Spiegel vom 2.3.2001, URL  : https  ://www.spiegel. de/politik/ausland/urteil-lebenslang-fuer-ns-verbrecher-brunner-a-120431.html (letzter Zugriff  : 21. 10.2021). 270 Brunner, Phantomschmerzen, S. 29.

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dersetzt. Ich möchte nicht sagen, dass sich die anderen nicht auseinandersetzen. Das macht jeder auf seine Weise, wie er es kann und wie er es für richtig hält. Ich glaube, es ist ein sehr schwieriges Thema. Man kann niemandem vorwerfen, es anders zu machen, die Auseinandersetzung. Wünschen würde man sich natürlich, dass es bewusster passiert und mehr darüber gesprochen wird, weil ich habe die Erfahrung gemacht, je mehr man darüber spricht und je mehr man auch selbst sagt, auf welcher Seite man steht, umso leichter wird es irgendwann, mit der Vergangenheit in einer Weise fertig zu werden.«271 Von manchen Verwandten sei sie als Verräterin angesehen worden, wie Claudia Brunner im Lauf ihrer Nachforschungen bewusst geworden sei  : »Das Wort ist nie so direkt an mich herangetragen worden, aber ich bin mir sicher, dass es gedacht wurde oder in anderer Form ausgesprochen wurde. Auch meine Anwesenheit in Paris beim Prozess gegen ihn oder jetzt das Schreiben des Buchs ist nicht von allen gerne gesehen, das ist klar.«272 Brunners Recherchen seien innerhalb ihrer Herkunftsfamilie kontroversiell aufgenommen worden  : »Die Hauptkonfliktline war der bereits erwähnte Vater von mir in meiner Familie, der einerseits sich selbst immer sehr interessiert hat für diesen Großonkel, aber durch seine Zugehörigkeit zur sogenannten zweiten Generation ihm noch viel näher war, viel mehr Loyalität noch eingefordert wurde von ihm, unausgesprochen. Das gehört für mich auch zum Makaber-Faszinierenden so eines Familiengeheimnisses, dass sich da diese Bindungen sehr deutlich machen lassen, Bindungen an Dinge, an Personen, die weit weg sind von der Gegenwart und auch geografisch weit entfernt sind, und die trotzdem funktionieren und eine Dynamik in der eigenen Familie mitprägen.«273 Durch ihre jahrelange Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte durchbrach Claudia Brunner das Schweigen  : »Ich wünsche mir einerseits, dass mehr Menschen meiner Generation nachfragen und in ihrer Familie einen Diskussionsprozess in Gang bringen, wenn sie das möchten. Dass die, die es vielleicht bis jetzt noch nicht gewagt haben, ein bisschen Rückendeckung haben und sehen, da gibt es mehr Leute, die sich den Kopf so zerbrechen.«274 In dem autobiografischen Buch schildert sie die Beschäftigung mit dem »Familiengeheimnis, das ich nicht ganz freiwillig teile«,275 sowie den innerfamiliären »Umgang mit unserem unheimlichen Familienphantom«.276 Das Buch sei für sie »trotz allem ein Mittel zur Distanzierung geworden«.277 Von ihrem Vorhaben, die »rechte 271 Brunner-Urteil. In  : ORF Zeit im Bild 3 vom 2.3.2001. 272 Schweigen die Täter – reden die Enkel. In  : ORF Radio Burgenland Extra vom 8.4.2004. 273 Ebd. 274 Ebd. 275 Brunner, Phantomschmerzen, S. 64. 276 Ebd., S. 76. 277 Ebd.

Mireille Horsinga-Renno  : »In den Nächten lag ich schlaflos«

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Hand des Holocaust-Organisators Adolf Eichmann«278 eines Tages persönlich zu treffen, sei Claudia Brunner im Lauf der Recherchen zwar abgekommen  : »Aber auch wenn ich die physische, direkte Konfrontation mit Alois Brunner nicht mehr ernsthaft in Erwägung ziehe, sind zumindest einige meiner Gedanken und Beweggründe bereits Teil einer Diskussion, die inzwischen die familiäre Geborgenheit, aber auch die damit verbundenen Schweigegebote verlassen hat […].«279

3.4 Mireille Horsinga-Renno    : »In den Nächten lag ich schlaflos« 280 Die 1947 in Straßburg geborene Mireille Horsinga-Renno »stolperte«281 am 9. September 1993 bei der Lektüre eines Buchs,282 das sie am Tag davor in der Bücherei der französischen Gemeinde Fegersheim in der damaligen Region Elsass entdeckt hatte, über den Namen ihres Großonkels Georg Renno. Dieser war als Euthanasiearzt von Jänner bis März 1940 in der Landesanstalt Leipzig-Dösen, ab Mai 1940 in der »Gau-Heil- und Pflegeanstalt« Niedernhart in Linz und von Juni 1940 bis Ende 1944283 in der »Tötungsanstalt« Schloss Hartheim284 im oberösterreichischen Bezirk Eferding tätig gewesen  : »Ein nie zuvor erlebter Zorn kochte in mir hoch. Ich beschloss, die dunkle Vergangenheit Georg Rennos ans Tageslicht zu bringen. Zuerst musste ich herausfinden, warum er nie mit mir über jene Vergangenheit gesprochen hatte. Der Name, den ich gerade in einem unumstrittenen, von Historikern verfassten Buch gelesen hatte, war der meinige, der meines Vaters, meiner Vorfahren, und er war in eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte verwickelt  !«285 Ihre autobiografische Spurensuche erschien 2006 auf Französisch.286 2008 folgte die deutschsprachige Übersetzung.287 Als Horsinga-Renno ihren Großonkel davor zum letzten Mal in dessen Haus im pfälzischen Bockenheim an der Weinstraße besucht hatte, war erstmals die Zeit der 278 Lebenslang für NS-Verbrecher Brunner. In  : Der Spiegel vom 2.3.2001. 279 Brunner, Phantomschmerzen, S. 71. 280 Horsinga-Renno, Der Arzt von Hartheim, S. 10. 281 Ebd., S. 90. 282 Langbein/Rückerl/Kogon (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. 283 Siehe Peter Schwarz, Der Gerichtsakt Georg Renno als Quelle für das Projekt Hartheim. In  : DÖW (Hg.), Jahrbuch 1999, Wien 1999, S. 81 ff. 284 In der Gaskammer von Hartheim, der größten der sechs nationalsozialistischen Euthanasieanstalten, wurden mehr als 28.000 Personen ermordet, siehe Schwarz, Der Gerichtsakt Georg Renno, S. 80. 285 Horsinga-Renno, Der Arzt von Hartheim, S. 91. 286 Dies., Cher oncle Georg. 287 Dies., Der Arzt von Hartheim.

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Täter- und Täterinnen-Familien

nationalsozialistischen Diktatur thematisiert worden, die sie bis zu diesem Zeitpunkt in den Gesprächen ausgeklammert hatte  : »Bei unseren Besuchen vermied ich es sorglich, über den Krieg zu sprechen. Ich wusste nicht, was er in jener Zeit getan hatte, und ich wollte mir kein Urteil über sein Verhalten anmaßen. Onkel Georg war so intelligent, kultiviert, höflich und großzügig, dass ich ihn mir ohnehin nicht im Strudel der Geschichte vorstellen konnte, geschweige denn als überzeugten Nazi.«288 Georg Renno war am 13. Jänner 1907 in Straßburg auf die Welt gekommen, nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner Familie aus dem Elsass vertrieben worden und in Ludwigshafen im Bundesland Rheinland-Pfalz zur Schule gegangen. Mireille Horsinga-Renno hatte nach ihrer Hochzeit mit einem Postbeamten am 25. Oktober 1969 den Vorsatz gefasst, Ahnenforschung zu betreiben  : »Ich beschloss, meinen Stammbaum zu erforschen. Ich wollte meine Wurzeln erkunden und dieses Wissen später auch an meine Kinder weitergeben.«289 Die Absolventin einer Sekretärinnen-Schule lebte als Hausfrau und Mutter im Elsass. Als Grundlage für ihre Nachforschungen diente eine von ihrer Mutter erstellte handschriftliche Liste. Da­ rauf waren »Namen von möglichen Vorfahren, von deren Existenz ich bisher nie gehört hatte«,290 verzeichnet  : »Meine Recherchen hinsichtlich unseres Stammbaums gingen nur langsam voran. […] Einmal erwähnte jemand einen Georg Renno, einen entfernten Cousin meines Großvaters. Aber niemand wusste mehr – und niemand schien besonders erpicht darauf zu sein, mehr zu erfahren. ›Er gehörte den Nazis an‹, sagten sie. […] Es hieß, er sei Arzt gewesen, habe aber nicht praktizieren dürfen. Vielleicht war ihm ein Kunstfehler unterlaufen oder so etwas.«291 Gemäß Horsinga-Rennos Angaben erhielt sie im Juni 1980 von einem Cousin ihres Vaters die Adresse Georg Rennos. Sie verfasste ein Schreiben an ihn, das »nur wenige Tage später«292 beantwortet wurde  : »Sein Brief war herzlich und begeistert, und er bat mich, ihn einfach ›Onkel Georg‹ zu nennen. Er zeigte sich hocherfreut, dass ein Nachfahre seines Onkels Jakob, meines Urgroßvaters, Verbindung mit ihm aufgenommen hatte  !«293 Weitere Briefe sowie Telefonate und, ab 20. Juli 1981,294 auch Besuche in Bockenheim folgten. Bei diesen Gelegenheiten seien auch die ärztliche Laufbahn Rennos und dessen Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs zur Sprache gekommen  : »Seinen Erzählungen zufolge leitet er im Dienst der Polizei eine psychiatrische Praxis und arbeitet als Nervenarzt in einem Krankenhaus mit 75

288 Horsinga-Renno, Der Arzt von Hartheim, S. 83. 289 Ebd., S. 39. 290 Ebd., S. 21. 291 Ebd., S. 44. 292 Ebd., S. 45. 293 Ebd., S. 45. 294 Siehe ebd., S. 67.

Mireille Horsinga-Renno  : »In den Nächten lag ich schlaflos«

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Betten.«295 Georg Renno hatte in München und Heidelberg Medizin studiert und war 1930 der NSDAP296 sowie 1931 der SS beigetreten.297 Aufgrund der häufigen Abwesenheiten des ärztlichen Leiters Rudolf Lonauer übte in Hartheim hauptsächlich Mireille Horsinga-Rennos Großonkel die »Funktion des Tötungsarztes«298 aus. Zu den Aufgaben des stellvertretenden ärztlichen Leiters zählten im Rahmen der nationalsozialistischen Euthanasie-Aktion »T4«299 die »Beaufsichtigung des gesamten Tötungsvorgangs«300 in Hartheim und ab Juni 1941301 die »Selektion« von als krank und arbeitsunfähig eingestuften KZ-Häftlingen  : »Neben seiner Eigenschaft als Anstaltsarzt in Hartheim war Renno gerade in der Anfangszeit der Aktion ›T4‹ auch als ›T4‹-Gutachter aktiv. Als solcher besuchte er laut Anklageschrift über fünfzig öffentliche und kirchliche Heil- und Pflegeanstalten, Altersheime und Siechenanstalten im Bereich der ›Ostmark‹, um mittels spezieller Meldebögen den für die Euthanasie bestimmten Personenkreis auszuwählen.«302 Georg Renno war Ende Mai 1940 zum »Gutachter« ernannt worden.303 Zwischen August 1941 und seiner Rückkehr nach Hartheim im Sommer 1943 leitete er die als »Tötungsanstalt« eingerichtete Kinderfachabteilung Waldniel in Rheinland-Pfalz. 1942 erkrankte er an einer Lungentuberkulose und verbrachte Kuraufenthalte im Schwarzwald in Baden-Württemberg sowie in Davos im Schweizer Kanton Graubünden.304 Nach Kriegsende lebte Renno zunächst unter falschem Nachnamen in Ludwigshafen. Anfang 1955 nahm er wieder seinen richtigen Namen an. Sechseinhalb Jahre später, am 25. Oktober 1961, wurde Mireille Horsinga-Rennos Großonkel festgenommen. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main erhob gegen ihn und zwei ehemalige Mitarbeiter der »T4«-Zentrale in Berlin am 7. November 1967 Anklage wegen Mord  : »Der Umfang der Ermittlungen und Recherchen ist aus heutiger Sicht einmalig und unübertroffen, in keinem anderen Euthanasieverfahren wurden jemals so viele Dokumente, Gerichtsakten und Zeugenaussagen kompiliert 295 Horsinga-Renno, Der Arzt von Hartheim, S. 57. 296 Georg Renno erhielt die Mitgliedsnummer 288.710, siehe Horsinga-Renno, Der Arzt von Hartheim, S. 28. 297 Siehe Schwarz, Der Gerichtsakt Georg Renno, S. 81. 298 Brigitte Kepplinger, Aspekte der Täterforschung. Die Täterinnen und Täter von Hartheim. In  : Rohrbach/Schwanninger (Hg.), Beyond Hartheim, S. 22. 299 Die Aktion »T4« wurde nach der Adresse ihrer Zentrale, die in der Kanzlei des »Führers« in der Berliner Tiergartenstraße 4 eingerichtet worden war, benannt. 300 Schwarz, Der Gerichtsakt Georg Renno, S. 82. 301 Siehe Simone Loistl, »… in politischer und charakterlicher Hinsicht vorzügliche Eignung …«. Rudolf Lonauer – eine biografische Skizze. In  : Rohrbach/Schwanninger (Hg.), Beyond Hartheim, S 105. 302 Schwarz, Der Gerichtsakt Georg Renno, S. 82. 303 Siehe Loistl, »… in politischer und charakterlicher Hinsicht vorzügliche Eignung …«, S. 103. 304 Siehe Schwarz, Der Gerichtsakt Georg Renno, S. 82.

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Täter- und Täterinnen-Familien

und ausgewertet. Allein dieser enorme Aufwand belegt die Entschlossenheit der Staatsanwaltschaft, die Vorgänge in und um Hartheim aufzuklären und die Täter zu überführen.«305 Am 20. August 1969 begann der Prozess am Landgericht Frankfurt am Main. Die Strategie der Verteidigung bestand darin, eine Verhandlungsunfähigkeit Georg Rennos zu erwirken  : »Ärztekollegen stellten immer neue Gutachten bei, denen zufolge der damals 62jährige aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sei, einen Prozeß durchzuhalten.«306 Am 19. Dezember 1975 wurde das Verfahren gegen ihn »aus gesundheitlichen Gründen«307 endgültig eingestellt. Die beiden anderen Angeklagten erhielten Haftstrafen wegen Beihilfe zum Massenmord im Umfang von sieben beziehungsweise zehn Jahren.308 Nach dem letzten Besuch im Haus ihres Großonkels begann Mireille HorsingaRenno, »an der Fassade zu kratzen, nicht ahnend, dass meine Recherchen mich in einen Abgrund führen und mir das andere Gesicht eines Menschen offenbaren würde, den ich noch immer schätzte und sogar bewunderte.«309 Bei diesem Besuch war die Zeit des Nationalsozialismus zur Sprache gekommen. Gemäß den Schilderungen seiner Großnichte habe Georg Renno die Existenz von Gaskammern geleugnet und diese als amerikanische Propaganda bezeichnet. Horsinga-Renno habe erkannt, dass ihr »geliebter Onkel in Wahrheit immer ein überzeugter Nazi gewesen war.«310 In den darauffolgenden Wochen sammelte sie Informationen über die Tätigkeit ihres Großonkels im Rahmen der Aktion »T4« und schickte ihm Kopien von Dokumenten  : »Einerseits brannte ich darauf, ihn zum Reden zu bringen über seine Vergangenheit, auch auf die Gefahr hin, mich mit ihm zu überwerfen. Andererseits spürte ich solches Mitleid mit diesem alten Mann, den ich noch immer bewunderte, der mir nie etwas Böses getan hatte und dem ich keinesfalls Schaden zufügen wollte  !«311 Mireille Horsinga-Renno beschrieb, wie es ihr während eines Telefongesprächs mit Georg Renno nicht möglich gewesen sei, ihn »zu diesem Thema auszufragen«.312 Sie beschloss, weitere Nachforschungen anzustellen sowie Aufzeichnungen über den Fortgang der Recherchen zu führen  : »Ich verbrachte viele Abende schreibend am

305 Schwarz, Der Gerichtsakt Georg Renno, S. 84. 306 Ebd., S. 90. 307 Peter Eigelsberger, Das Personal der Tötungsanstalt Hartheim vor dem Volksgericht Linz. In  : Rohrbach/Schwanninger (Hg.), Beyond Hartheim, S. 118. 308 Siehe Schwarz, Der Gerichtsakt Georg Renno, S. 91. 309 Horsinga-Renno, Der Arzt von Hartheim, S. 86. 310 Ebd. 311 Ebd., S. 98. 312 Ebd.

Uwe von Seltmann  : »Die Vergangenheit wirkt in uns weiter«

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Computer. In den Nächten lag ich schlaflos. Die ganze Angelegenheit nahm mich derart mit, dass ich Magenschmerzen bekam.«313 Weitere Telefonate folgten, bei denen Georg Renno »immer wieder auf das Thema zu sprechen«314 gekommen sei  : »Dabei versuchte er, sich zu rechtfertigen, indem er sich als Opfer hinstellte, das unter Androhung harter Strafen dazu gezwungen worden sei, Befehle auszuführen.«315 Mireille Horsinga-Renno berichtete, dass Renno ihr auch revisionistische Texte geschickt habe. Am 4. Oktober 1997 starb ihr Großonkel im Alter von 90 Jahren. Horsinga-Renno fuhr im Zuge ihrer Recherchen auch nach Hartheim. Sie traf den oberösterreichischen Schriftsteller Walter Kohl, der zwei Bücher über die »Tötungsanstalt« sowie ihren Großonkel veröffentlicht hatte,316 und engagierte eine »auf die Bearbeitung von Biographien«317 spezialisierte Ghostwriterin. Auch zehn Jahre nach Rennos Tod lastete dessen Geschichte »immer noch auf mir, in all ihrem Grauen.«318 Mireille Horsinga-Renno stellte sich die Frage, warum Georg Renno an jenem Abend von sich aus auf die Gaskammern zu sprechen gekommen sei  : »Warum wählte Renno nach all den Jahren des Schweigens und Abstreitens ausgerechnet den Augenblick unseres Besuchs, um sich der Vergangenheit zuzuwenden  ? Glaubte er, dass der Moment gekommen war, Rechenschaft abzulegen  ?«319 Sie stellte fest, dass sie sich damit abfinden müsse, nicht auf alle Fragen Antworten zu bekommen  : »Die Tür des absoluten Schweigens hatte sich hinter Georg Renno geschlossen. Ich musste akzeptieren, dass ich nie erfahren würde, was ihn damals dazu brachte, bei den Untaten der Nazis mitzumachen.«320

3.5 Uwe von Seltmann    : »Die Vergangenheit wirkt in uns weiter« 321 In seinem gemeinsam mit Claudia Brunner 2004 veröffentlichten autobiografischen Buch »Schweigen die Täter, reden die Enkel« dokumentiert der am 29. Juli 1964 im nordrhein-westfälischen Müsen geborene Journalist und Schriftsteller Uwe von 313 Horsinga-Renno, Der Arzt von Hartheim, S. 10. 314 Ebd., S. 103. 315 Ebd. 316 Kohl, Die Pyramiden von Hartheim  ; ders., »Ich fühle mich nicht schuldig«. 317 Horsinga-Renno, Der Arzt von Hartheim, S. 113. 318 Ebd., S. 152 f. 319 Ebd., S. 158. 320 Ebd., S. 123. 321 Uwe von Seltmann, Einleitung. Die Schatten der Vergangenheit. In  : Brunner/Ders., Schweigen die Täter, reden die Enkel, S. 14.

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Seltmann in Tagebuchform die Nachforschungen, die er über Lothar von Seltmann, seinen Großvater väterlicherseits, angestellt hatte. Zu Beginn der Recherchen notierte der Enkelsohn, dass er von diesem Vorfahren, der knapp 20 Jahre vor seiner Geburt gestorben war, »lediglich einige kopierte und schlecht lesbare Dokumente besaß, aber keine Fotografie. Von dem ich nichts wusste, außer dass er SS-Mann war, dass drei seiner sechs Kinder in der Nähe von Vernichtungslagern geboren wurden und dass er seit Februar 1945 irgendwo in Schlesien als vermisst galt. Mein Großvater, das Phantom, das Tabu, über das in der Familie nicht geredet wurde, mein Großvater, der mich seit fast zwei Jahrzehnten – mal mehr, mal weniger, meist unbewusst – beschäftigte […].«322 Lothar von Seltmann war am 12. Jänner 1917 in Graz als Sohn von Marie und Josef Armand von Seltmann auf die Welt gekommen, Anfang 1945 unter nicht restlos geklärten Umständen gestorben und am 27. Juli 1957 vom Amtsgericht Frankfurt am Main für tot erklärt worden.323 Ursprünglich war Uwe von Seltmann gemäß eigenen Angaben davon ausgegangen, dass sein Vorfahr nicht an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen ist  : »Mein Großvater Lothar von Seltmann war ein vergleichsweise namenloses Rädchen im Getriebe der NS-Maschinerie. Über ihn ist nur wenig bekannt  ; ich versuche seit einiger Zeit, sein Leben nachzuzeichnen.«324 Wie sich im Lauf der Recherchen jedoch herausstellte, war gegen den Vater seines Vaters in der Nachkriegszeit unter anderem von der österreichischen Justiz in Wien und Salzburg wegen Mordverdacht ermittelt worden  : »Der Genannte steht in Verdacht, während der Kriegszeit in Polen als ehemaliger SS-Angehöriger im Stabe des früheren SS- und Polizeiführers Lublin, SS-Gruppenführer Odilo Globocnik, im Zuge der so genannten Aktion Reinhard Kriegsverbrechen gegenüber Juden begangen zu haben.«325 Der Großvater des Autors war am 1. März 1931 dem »Nationalsozialistischen Schülerbund«, am 1. März 1933 der SA und am 4. April 1934 in Bayern der »Öster­ reichischen Legion« beigetreten. Uwe von Seltmanns Vater kam in Krakau zur Welt. In einem dort verfassten Tagebucheintrag, der mit »Mittwoch, 10. November 1999«326 überschrieben ist, thematisiert der Autor, wie er im Lauf der Zeit Hassgefühle gegen seinen Großvater entwickelt hatte  : »Ja, verdammt noch mal, ich fühle mich schuldig. Seit zwanzig Jahren fühle ich mich schuldig. […] Verantwortlich für 322 von Seltmann., »Er war ein großer Charmeur …«. In  : Brunner/Ders., Schweigen die Täter, reden die Enkel, S. 95. 323 Für biografische Angaben zu Lothar von Seltmann siehe von Seltmann, »Er war ein großer Charmeur…«, S. 108–116  ; Bertrand Perz, The Austrian Connection. Das Personal der Dienststelle des SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik im Distrikt Lublin. In  : Rohrbach/Schwanninger (Hg.), Beyond Hartheim, S. 31–59. 324 von Seltmann, Einleitung, S. 11. 325 von Seltmann, »Er war ein großer Charmeur …«, S. 152. 326 Ebd., S. 95.

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das, was mein Großvater getan hatte – obwohl ich keinen Deut Ahnung von dem hatte, was seine Aufgabe gewesen war. Ich wusste nichts über ihn, weil auch mein Vater nichts über ihn wusste. Ich glaubte ihm, weil er – wie seine Geschwister – bei Pflegeeltern aufgewachsen ist. Seine Mutter, meine Großmutter, war ihm Herbst 1945 an Typhus gestorben, da war der Jüngste gerade ein paar Monate und mein Vater zweieinhalb Jahre alt.«327 Lothar von Seltmann hatte ab 1. Dezember 1934 in der thüringischen Stadt Gotha die deutsche Aufbauschule besucht. Uwe von Seltmann berichtet in seinem autobiografischen Text, wie er bei einer seiner Lesungen einer ehemaligen Mitschülerin seines Großvaters begegnet war  : »Großvater sei öfter bei ihr zu Hause gewesen, erzählte sie, in einem Dorf im Thüringer Wald. Er sei anfangs sehr schüchtern gewesen, ein, zwei Jahre jünger als sie, jemand, um den man sich kümmern musste. Sie habe ihn auch in Wien besucht, bereits während des Krieges, als er schon verheiratet und Familienvater war. Da habe er sie nächtelang durch die Wiener Kaffeehäuser geführt, auch beim Heurigen seien sie gewesen. Und auch das Landhaus meiner Urgroßeltern kenne sie, aber sie wisse nicht mehr genau, wo es liege, irgendwo in den Alpen, traumhafte Aussicht. Irgendwann hätten sie den Kontakt verloren, wann genau, daran könne sie sich nicht mehr erinnern. Sie besitze noch Briefe und Fotos von ihm, sie lagerten im elterlichen Haus im Thüringer Wald.«328 Der Schriftsteller erhielt, seinen Angaben zufolge, Einblick in diese Dokumente. Er sichtete Archivalien sowie Briefe, die sein Großvater zwischen den 1920er-Jahren und Anfang 1945 an dessen Eltern geschickt hatte. Uwe von Seltmann bereiste auch Städte, in denen sein Großvater gelebt hatte und stationiert gewesen war, wie Krakau  : »Mein Vater wurde in Krakau geboren, als zweitjüngstes von sechs Kindern. Im Mai 1943, während des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzung.«329 Von dem österreichischen Historiker Bertrand Perz, der seinen Vater kontaktiert hatte, erfuhr er im Februar 2001, dass Lothar von Seltmann ein enger Vertrauter Odilo Globocniks gewesen war  : »Und mein Großvater ein Mitarbeiter dieses Massenmörders  ? Das konnte nicht sein, nein, das durfte nicht sein.«330 Bereits während Globocniks Zeit als Wiener Gauleiter von 24. Mai 1938 bis 30. Jänner 1939 war Lothar von Seltmann für diesen als Geschäftsführer im Gauverband Wien des »Volksbundes für das Deutschtum im Ausland«331 tätig. Nach vorübergehendem Militärdienst bei der Waffen-SS folgte er dem Kriegsverbrecher ins besetzte Polen. Wie Perz ausführt, hatte sich Odilo Globocnik mit einer »Gruppe 327 von Seltmann., »Er war ein großer Charmeur …«, S. 100. 328 Ebd., S. 105. 329 Ebd., S. 99. 330 Ebd., S. 107. 331 Siehe Perz, The Austrian Connection, S. 47 f.

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von engsten österreichischen Vertrauten«332 umgeben, »die sich lange kannten und nicht nur ähnliche ideologische Haltungen einnahmen. Vor allem teilten sie miteinander auch eine mehrjährige politische Erfahrung des Arbeitens im Untergrund während des Verbots der NS-Bewegung in Österreich zwischen 1933 und 1938.«333 Uwe von Seltmanns Großvater wurde mit der »Heimholung« der deutschen Minderheit aus dem ukrainischen Wolhynien betraut. Er stieg im Sommer 1940 zum »Stabsleiter der Umsiedlungsaktion Staffel-Ost (Cholmer und Lubliner Land)« auf, am 15. August 1940 zum Beauftragten der »Volksdeutschen Mittelstelle« beim SSund Polizeiführer Lublin, Odilo Globocnik, und im Sommer 1941 zum Leiter der Hauptabteilung »Volkspolitisches Referat« im Rang eines SS-Obersturmführers.334 Ab 1. Februar 1942 war Lothar von Seltmann in Krakau tätig  : zunächst als Beauftragter des SS-Hauptamts »Volksdeutsche Mittelstelle« und ab 1. Juni 1942 im Stab des SS- und Polizeiführers im Distrikt Krakau.335 Am 22. Jänner 1943 wurde er als SS-Schütze dem SS-Panzer-Grenadier-ErsatzBataillon Warschau336 zugeteilt. Im Frühjahr 1943 war der Großvater des Schriftstellers an der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Getto beteiligt  : »Die Vergangenheit wirft ihre Schatten bis in die Gegenwart, sie wirkt in uns weiter, erst recht, wenn wir versuchen, sie zu verdrängen und zu beschweigen.«337 Uwe von Seltmann und Claudia Brunner, die beiden Autoren des Buchs »Schweigen die Täter, reden die Enkel«, seien in ihren jeweiligen Familien die einzigen gewesen, die »das Tabu gebrochen«338 und sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der jeweiligen Herkunftsfamilie beschäftigt hätten  : »Wir wollen weder familiäre Schmutzwäsche waschen noch in einen larmoyanten Betroffenheits-Schicksals-Bericht abdriften oder uns gar outen  ; wir wollen auch keine Anleitungen und Handlungsanweisungen geben, wie mit der Familienvergangenheit umzugehen sei. Unser Anliegen ist es vielmehr, mit unseren persönlichen Erzählungen ein Thema öffentlich zu machen, das bisher den individuellen Horizont und den familiären Bereich kaum überschritten hat. Mit dem Sterben der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entwickelt sich eine neue Dynamik in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der Schuld der Vorfahren. Vielen jüngeren Menschen ermöglicht es erst der zeitliche Abstand, sich mit der Familienvergangenheit zu befassen.«339 332 Perz, The Austrian Connection, S. 33. 333 Ebd. 334 Siehe ebd., S. 48  ; von Seltmann, »Er war ein großer Charmeur …«, S. 111 ff. 335 Siehe von Seltmann, »Er war ein großer Charmeur …«, S. 113 f. 336 Ebd., S. 122. 337 von Seltmann, Einleitung, S. 14. 338 Ebd., S. 11. 339 Ebd., S. 13 f.

Richard Danzmayr  : »Es ist halt sehr viel Stillschweigen«

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Uwe von Seltmann spricht sich dafür aus, das innerfamiliäre Schweigen zu durchbrechen  : »Wenn wir reden, beginnen plötzlich auch andere zu reden – Enkel, die wissen wollen, was ihre Großmütter und Großväter getan haben, Söhne und Töchter, die sich für die Taten ihrer Mütter und Väter schämen und mit ihren Schuldgefühlen nicht fertig werden. Eines ist für uns klar  : Moralische Schuld vererbt sich nicht, aber die psychischen, moralischen und sozialen Folgen ihres Beschweigens beschädigen noch die folgenden Generationen. Die Vergangenheit reicht in die Gegenwart hinein, wirkt in uns weiter, ob es uns passt oder nicht. Das Thema NS-Zeit ist auch in der dritten Generation aktuell.«340 Auch nach Jahren der Nachforschungen blieben für Uwe von Seltmann zentrale Fragen zu seinem Großvater unbeantwortet  : »Ich würde ihn gerne selber fragen, ob er ein Mörder war. Aber er ist tot. Und so werde ich auf diese Frage keine Antwort bekommen.«341 Während der Historiker Bertrand Perz ausführt, dass Lothar von Seltmann »nach Kämpfen bei Murmansk als vermisst«342 gelte, kommt dessen Enkelsohn anhand von Briefen und Berichten von Familienmitgliedern zu dem Schluss, dass sein Großvater bei Świętoszów in Niederschlesien gestorben sein dürfte  : »Am 13. Februar 1945 soll Großvater noch eine Feldpostkarte abgeschickt haben. Am 13. oder 14. Februar hat er zum letzten Mal mit seinem Schwager telefoniert, wurde er zum letzten Mal von anderen gesehen. Er soll, seine Waffe bei sich tragend, alleine losgegangen sein.«343 Die sterblichen Überreste wurden nicht gefunden  : »Dennoch trägt ein Grabstein seinen Namen. Der Grabstein steht auf dem Wiener Zentralfriedhof Gruppe 21, Reihe 1, Nummer 15. Ich bin nie dort gewesen. Ich habe noch nicht meinen Frieden mit Großvater gemacht. Aber ich habe aufgehört, ihn zu hassen.«344

3.6 Richard Danzmayr  : »Es ist halt sehr viel Stillschweigen« 345 In welche Geschehnisse sein Großvater mütterlicherseits während der Herrschaft des NS-Regimes involviert gewesen war, erfuhr der am 10. Dezember 1975 in Linz geborene Psychologe Richard Danzmayr von Mitgliedern seiner Herkunftsfamilie »tröpfchenweise«.346 Gesichertes Wissen konnte er »relativ wenig«347 erlangen  : »Ich weiß nicht genau, wann er gestorben ist, aber auf jeden Fall, bevor ich vier Jahre alt 340 von Seltmann, Einleitung, S. 12 f. 341 Ders., »Er war ein großer Charmeur …«, S. 167. 342 Perz, The Austrian Connection, S. 49. 343 von Seltmann, »Er war ein großer Charmeur…«, S. 171. 344 Ebd., S.172. 345 Interview mit Richard Danzmayr, Transkript S. 3. 346 Ebd., S. 4. 347 Ebd., S. 1.

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war. Also, ich habe überhaupt keine Erinnerung. Es ist mir gesagt worden, dass er Polizeichef war von Linz. Er ist auch in Kriegsgefangenschaft gewesen, sein Name ist Franz Herb und recht viel mehr ist nicht darüber gesagt worden.«348 In einem Brief an die Linzer Staatsanwaltschaft, die in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre und zu Beginn der 1950er-Jahre Ermittlungen gegen Danzmayrs Großvater führte, schrieb die Kriminalabteilung der Polizei Linz im Juli 1946, Franz Herb »gehörte zu den prominentesten nationalsozialistischen Führern in Oberösterreich.«349 Der am 5. August 1904 in Wien geborene Herb trat 1930 in die NSDAP ein und wurde 1936 in Wien wegen Hochverrat zu einer Gefängnisstrafe im Ausmaß von zweieinhalb Jahren verurteilt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich bedachte ihn die Parteiführung mit dem Amt eines Landesrats der oberösterreichischen Landesregierung. Franz Herb nahm am Zweiten Weltkrieg teil. 1941 erwarb er gemeinsam mit einem zweiten hochrangigen Nationalsozialisten einen 1938 von der jüdischen Familie Spitz arisierten Weingroßhandel in Linz, 1943 weitere Liegenschaften. Nach Kriegsende wurde Herb im Camp Marcus W. Orr in Salzburg interniert, in dem Funktionäre des NS-Staats und mutmaßliche Kriegsverbrecher gefangen gehalten wurden. Richard Danzmayrs Großvater, der nach seiner Entlassung aus der Haft im Mai 1947 als Arbeiter in der Kokerei der VÖEST tätig war, wurde 1951 in Linz erneut wegen Hochverrat verurteilt. Das Gericht erklärte sein gesamtes Vermögen für verfallen.350 Alle Fragen über seinen Großvater, die Danzmayr an Familienmitglieder gerichtet hatte, seien »irgendwie komisch beantwortet worden«.351 Als Gymnasiast habe er »nachgefragt und da ist einfach wirklich nicht viel gekommen, außer halt, dass er ein Nazi war und Militär beziehungsweise Polizist. Und das hat uns dann schon immer mehr interessiert. Auch meine Schwestern und ich haben dann nachgefragt. Es ist halt sehr viel Stillschweigen.«352 3.6.1 Danzmayrs Großvater vor dem »Anschluss« Richard Danzmayrs Großvater Franz Karl Herb wurde am 5. August 1904 als Sohn von Berta Herb, die mit Mädchennamen Spanner hieß, und Franz Ernst Herb, einem Buchhalter und Privatbeamten, im Haus Jörgerstraße 1 im 17. Wiener Gemeinde-­ Bezirk geboren und zehn Tage später römisch-katholisch getauft  :353 »Ich glaube, er 348 Interview mit Richard Danzmayr, S. 1. 349 PDion Linz an STA Linz, datiert 12.7.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 350 Siehe Urteil LG Linz als Volksgericht, datiert 11.1.1951, OÖLA, VgVr 1277/47. 351 Interview mit Richard Danzmayr, S. 2. 352 Ebd., S. 3. 353 Siehe Geburts- und Taufschein Franz Herb, Pfarre Breitenfeld, Erzdiözese Wien, datiert 5.9.1910, Eigentum von Familie Danzmayr.

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war Einzelkind und ein ›verwöhnter Pimpf‹, so hat das einmal irgendwer genannt.«354 Herbs spätere Ehefrau Johanna Tochtermann war zweieinhalb Wochen vor ihm, am 24. Juli 1904, auf die Welt gekommen.355 Die Herkunftsfamilie des Großvaters wohnte bis September 1911 in der Lazarettgasse 41 im neunten Bezirk sowie von 5. September 1911 bis 14. September 1917 in dem Haus mit der Anschrift Neulerchenfelderstraße 3 am Gürtel im 16. Bezirk, danach vorübergehend in Judenburg in der Steiermark, wo Franz Ernst Herb als Buchhalter arbeitete.356 Danzmayrs Großvater absolvierte fünf Klassen Volksschule, vier Klassen Realschule und drei Jahrgänge einer technischen Mittelschule.357 Als erlernten Beruf führte er im Mai 1938 Techniker an, als bis zu diesem Datum außerdem ausgeübte Tätigkeiten Gießereiarbeiter, Materialverwalter, Geschäftsleiter und Landesrat.358 Herbs Körpergröße wurde mit 166 Zentimetern angegeben, die Augenfarbe mit grau und die Haarfarbe mit dunkelblond.359 Von 18. Oktober 1920 bis 23. September 1924 war er in der Burggasse 130 im siebten Wiener Gemeinde-Bezirk gemeldet und von 12. Oktober 1924 bis 1. April 1925 in der Wassergasse 23 im dritten Bezirk.360 Gemäß den Angaben auf dem Personalfragebogen der SA trat Franz Herb am 4. Februar 1922 im Alter von 17 Jahren dem »Sturmbann Wien« des paramilitärischen Verbands »Bund Oberland« bei und bekleidete den Dienstrang eines »Etats-Feldwebels«.361 Im Frühjahr 1922 wurde er Mitglied der »Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei« in Wien. Deren Ortsgruppe Josefstadt-Neubau gehörte Richard Danzmayrs Großvater bis Anfang 1925 an. Seine Mitgliedschaft im antirepublikanisch-völkischen »Bund Oberland« endete demgemäß am 31. März 1925. Am darauffolgenden Tag, dem 1. April 1925, rückte er zum österreichischen Bundesheer ein. Herb wurde dem Niederösterreichischen Leichten Artillerieregiment Nr.  1 zugeteilt. Von 4. April 1925 bis 25. November 1927 war er auf dem Areal der Artilleriekaserne in der Vorgartenstraße im zweiten Bezirk gemeldet, danach bis April 1928 in der im Schloss Kaiserebersdorf untergebrachten Artilleriekaserne im elften Bezirk in Wien sowie von 17. April bis 10. Mai 1928 erneut in der Artille354 Interview mit Richard Danzmayr, S. 9. 355 Siehe ärztliche Bescheinigung, datiert 18.2.1947, OÖLA, VgVr 1277/47  ; SA-Personalfragebogen Franz Herb, BArch, R 9361 III, 567453  ; Meldezettel Franz Herb, WStLA, historische Meldeunterlagen. 356 Siehe WStLA, historische Meldeunterlagen. 357 Siehe SA-Personalfragebogen Franz Herb, BArch, R 9361 III, 567453. 358 Siehe ebd.  ; siehe Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 359 Siehe ebd.  ; Bericht PDion Linz an STA Linz, datiert 8.1.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 360 Siehe WStLA, historische Meldeunterlagen. 361 SA-Personalfragebogen Franz Herb.

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riekaserne im zweiten Bezirk.362 Er bekleidete den Rang eines Unteroffiziers363 und gab an, 1926 die »Deutsche Soldatengewerkschaft« mitbegründet sowie 1932 den »Deutschen Nationalsozialistischen Soldatenbund« ins Leben gerufen zu haben  : »Ich war Mitglied des Deutschen Soldatenbundes und war ehrenamtlich in der Bundesleitung des Deutschen Soldatenbundes tätig.«364 Am 5. Mai 1928 heirateten Franz Herb und die Kleidermacherin Johanna Tochtermann. Das Ehepaar wohnte zunächst in der Wiedner Hauptstraße 10 im vierten Bezirk. Am 15. Juni 1928 wurde Isolde, die älteste der drei Töchter, geboren, am 31. Jänner 1930 das zweitälteste der vier Kinder, Wolfgang. Ab 7. August 1930 war die Familie in der städtischen Wohnhausanlage mit der Adresse Laxenburger Straße 49 bis 57 im zehnten Wiener Gemeinde-Bezirk gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt hatte Herb beim österreichischen Bundesheer den Dienstgrad eines Unteroffiziers im Rang eines Zugsführers inne.365 Am 8. Oktober 1930 trat er in Wien der NSDAP bei. Richard Danzmayrs Großvater mütterlicherseits erhielt die Mitgliedsnummer 300.749366 und war in der Ortsgruppe Lainz-Speising beziehungsweise in einer »Heereszelle«367 aktiv. Anfang 1932 erfolgte der Beitritt zum »Gruppenstab Österreich«368 der SA, »und zwar als beratendes Mitglied, weil ich damals aktiver Angehöriger des österr. Bundesheeres gewesen bin.«369 Eigenen Angaben zufolge nahm er 1932 in Wien am »Gauparteitag« der NSDAP, der von 29. September bis 2. Oktober abgehalten wurde, teil.370 Drei Tage, bevor die NSDAP in Österreich verboten wurde, habe er »noch vor den Maßnahmen, die gegen die damaligen nationalsozialistisch eingestellten Soldaten im Bundesheer ergriffen wurden«,371 im Rang eines Zugsführers den Dienst quittiert und einen Reservistenpass erhalten  : »Am Tage des Ausscheidens aus dem Bundesheer am 16.6.1933 wurde ich schon zum SA-Sturmbannführer befördert.«372 Nach Kriegsende beteuerte Herb, »nie«373 einem Sturmbann angehört zu haben.

362 Siehe WStLA, historische Meldeunterlagen. 363 Siehe SA-Personalfragebogen Franz Herb. 364 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 365 Siehe Meldezettel Franz Herb, WStLA, historische Meldeunterlagen. 366 Siehe Mitgliedskarte Franz Herb, NSDAP-Gaukartei, BArch R 9361-IX KARTEI, 14990651. 367 Siehe Mitgliedskarte Franz Herb, NSDAP-Zentralkartei, BArch, R 9361-VIII KARTEI, 10291804. 368 Siehe SA-Personalfragebogen Franz Herb, BArch, R 9361 III, 567453. 369 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 370 Siehe SA-Personalfragebogen Franz Herb. 371 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946. 372 Ebd. 373 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47.

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Nachdem der Großvater von Richard Danzmayr aus dem Bundesheer ausgeschieden war, meldete er sich am 19. Juni 1933 nach Linz374 ab. 1947 gab er an, zunächst in Leonding bei Linz gewohnt zu haben  :375 »Die ganze Familie ist ja deswegen umgezogen, das ist mir schon gesagt worden, weil da Unterstützung war in Leonding.«376 In der Folge wohnten Danzmayrs Großeltern mit den Kindern im »Ort Leonding«.377 Dort war sein Großvater bis 1937 unter den Adressen Landwied 18 und Landwied 26 registriert  : »Von Ostern 1937 bis nach dem Umbruch 1938 wohnte er in Linz, Harrachstr. 36 und von da an in Urfahr, Hagenstr. 2, bzw. Parzhofstr. 26.«378 In der Harrachstraße 36 war Herb ab 26. März 1937 gemeldet, danach in der Hagenstraße 2 und ab 3. Oktober 1942 in der Parzhofstraße 26.379 Nach dem Verbot der NSDAP in Österreich am 19. Juni 1933 gehörte Richard Danzmayrs Großvater der Linzer SA an, den 1947 protokollierten Angaben zufolge ohne eine Funktion auszuüben.380 Seine Aufgabe sei es gewesen, in Linz oder Umgebung eine Reitschule zu leiten  : »Diese Reitschule sollte neben dem Zivilbetrieb auch der SA die Möglichkeit geben, ihre Mitglieder im Reiten und Fahren auszubilden.«381 1938 gab er jedoch an, von 17. Juni 1933 bis 25. Juli 1934 dem Stab der SA-Brigade 4 angehört zu haben, mit der Aufstellung einer Reiterstandarte beauftragt und Sonderreferent der »Gruppe Österreich« für Waffen gewesen zu sein.382 Gemäß der von der Staatsanwaltschaft Linz 1950 gegen ihn erhobenen Anklage war Franz Herb für die Anschaffung von Maschinengewehren und anderen Waffen in großem Umfang zuständig.383 Ab August 1934 sei er im Rang eines »Sturmbannführers« mit der Reorganisation und dem »Neuaufbau der SA im Gebiete Linz-Land betraut«384 gewesen. Von Anfang August 1934 bis Ende Oktober 1936 war Herb »bei gleichzeitiger Beibehaltung des SA-Dienstes«385 politischer Bezirksleiter der NSDAP von LinzLand. Zunehmend geriet er in den Fokus der Sicherheitsbehörden  : »Wegen Verdachtes der illegalen Betätigung wurde ich einige Male in polizeiliche Untersuchung

374 Siehe Meldezettel Franz Herb, WStLA, historische Meldeunterlagen. 375 Siehe Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten, datiert 14.3.1947, NS-Registrierungsakt Urfahr, Franz Herb, Archiv Stadt Linz. 376 Interview mit Richard Danzmayr, S. 12. 377 Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten. 378 Bericht Polizeikommissariat Urfahr, datiert 21.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 379 Siehe Meldekartei Franz Herb, Archiv Stadt Linz. 380 Siehe Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 381 Siehe ebd. 382 Siehe SA-Personalfragebogen Franz Herb, BArch, R 9361 III, 567453. 383 Siehe Anklageschrift, datiert 22.6.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 384 SA-Personalfragebogen Franz Herb. 385 Ebd.

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gezogen.«386 1947 berichtete die Kriminalabteilung der Bundespolizeidirektion Linz, dass sich Danzmayrs Großvater »schon während der Verbotszeit in hervorragender Weise politisch betätigt hat.«387 1938 gab dieser selbst an, insgesamt vier Wochen in Polizeihaft verbracht und »unzählige Hausdurchsuchungen und Vorführungen bei den verschiedenen Behörden«388 miterlebt zu haben. Nach seiner Festnahme im Jänner 1935 wurde über ihn die Untersuchungshaft verhängt. Ab 2. März 1936 stand Franz Herb, dessen Beruf zu diesem Zeitpunkt mit technischer Beamter angegeben wurde,389 drei Tage lang in Wien vor Gericht. Über die Verhandlung wurde auch in mehreren österreichischen Tageszeitungen berichtet  : »Die Umsturzbestrebungen geheimer nationalsozialistischer Organisationen kommen in einem Hochverratsprozeß gegen sieben Führer zur Sprache, die bald nach dem Niederbruch des Juliaufstandes herangegangen waren, die versprengten Anhänger zu sammeln, in neue SA- und SS-Gruppen zu gliedern, einen Nachrichtendienst wieder einzurichten und geheime alte Waffenbestände aufzufrischen und zu ergänzen. […] Die SA-Männer Wagner und Herb hatten Waffen und Munition zu beschaffen und ihre Verteilung vorzunehmen.«390 Am 4. März 1936 wurden Franz Herb und zwei weitere Angeklagte am Wiener Landesgericht wegen Hochverrat nach Paragraf 58 des damals geltenden Strafgesetzes zu je zweieinhalb Jahren schwerem Kerker391 verurteilt, die anderen vier zu eineinhalb oder zwei Jahren  : »Sämtliche Angeklagte wurden des entfernten Hochverrates nach § 58 schuldig befunden und unter Anwendung außerordentlichen Milderungsrechtes und Einrechnung der Untersuchungshaft verurteilt.«392 Im Herbst 1936, gemäß der handschriftlichen Angabe auf einem Anhänger aus Karton am 4. November 1936,393 kam Herb jedoch im Zuge der »Verwaltungsamnestie«394 vorzeitig frei  : »Einen Teil meiner Kerkerstrafe habe ich in der Strafanstalt Garsten verbüßt. Die Untersuchungshaft vom Jänner 1935 wurde mir eingerechnet. Ich hatte somit insgesamt 18 Monate verbüßt.«395 Der restliche Teil der Haftstrafe, die

386 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 387 Bericht BPDion Linz, datiert 11.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 388 Siehe SA-Personalfragebogen Franz Herb. 389 Siehe Die Wühlarbeit nach dem Juliputsch. In  : Kleine Volks-Zeitung vom 3.3.1936, S. 10. 390 Siehe ebd. 391 Siehe Strafregisteramt PDion Wien an LG Linz, datiert 3.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 392 Urteil im Nazi-Hochverratsprozeß. In  : Der Wiener Tag vom 5.3.1936, S. 9. 393 Siehe Anhänger aus Karton, Eigentum von Uta Danzmayr. 394 Siehe Ilse Reiter-Zatloukal, Die Begnadigungspolitik der Regierung Schuschnigg. Von der Weihnachtsamnestie 1934 bis zur Februaramnestie 1938. In  : Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (2012) 2, S. 352. 395 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47.

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bis 22. Juli 1937 gedauert hätte,396 wurde ihm bis 28. Juni 1941 bedingt nachgesehen.397 Von 13. Juli 1936 bis 28. Februar 1937 war Danzmayrs Großvater den im Personalfragebogen der SA enthaltenen Angaben zufolge »Wehrsportführer« der »SAStandarte 14 Linz« und Stellvertreter des Standartenführers, von März 1937 bis 31. März 1938 »Wehrsportführer« der »Brigade 4«, Stabsführer und, bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten, auch Stellvertreter des Brigadeführers.398 Am 29. Mai 1937 kam das dritte Kind von Johanna und Franz Herb auf die Welt, eine Tochter, die den Namen Gerda erhielt. Im Jänner 1947 gab Herb an, sich zwischen der Entlassung aus der Haft im September 1936 und der nationalsozialistischen Machtübernahme im März 1938 »auf Grund eines grundsätzlichen Befehls der damaligen Landesleitung«399 nicht mehr politisch betätigt zu haben  : »Beim Umbruch im März 1938 wurde ich auf Grund meiner bereits in der Verbotszeit erlittenen Haft zum SA-Standartenführer ernannt und gleichzeitig als Landesrat bestellt. […] Als ehrenamtlicher Standartenführer war ich Referent für Reit- und Fahrausbildung der SA und des NSRK,400 innerhalb der SA-Gruppe Alpenland (Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg).«401 Im darauffolgenden Jahr sagte er dann aus, »niemals«402 eine Standarte geführt zu haben. 3.6.2 Betätigung zwischen März 1938 und Mai 1945 Mit Wirkung vom 12. März 1938 wurde »der Stabsführer der illegalen Brigade 4, Oberösterreich, SA-Führer Franz Herb«,403 zum Standartenführer ernannt. 1947 berichtete die Polizei im Linzer Stadtteil Urfahr, Herb bekleidete »den hohen Rang eines SA-Standartenführers.«404 Bei Adolf Hitlers Besuch in Linz am 13. März 1938 kam Richard Danzmayrs Großvater eine zentrale Rolle zu, wie den wortidenten Berichten in der Presse zu entnehmen war  : »Der Stabsführer der SA-Brigade Oberösterreich, Standartenführer Franz Herb, meldet dem Führer die österreichische SA.«405 396 Siehe Anhänger aus Karton. 397 Siehe Leumundschreiben BPDion Linz an LG Linz, datiert 3.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 398 Siehe SA-Personalfragebogen Franz Herb, BArch, R 9361 III, 567453. 399 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 400 Nationalsozialistisches Reiterkorps, dem alle berittenen Einheiten der Kampforganisationen der NSDAP angehörten. 401 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 402 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947. 403 Der Führer vollzieht Beförderungen in der österreichischen SA. In  : Völkischer Beobachter. Wiener Ausgabe vom 16.6.1938, S. 5. 404 Bericht Polizeikommissariat Urfahr, datiert 28.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 405 Der große Tag von Linz. In  : Illustrierte Kronen-Zeitung vom 14.3.1938, S. 9.

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Herb nahm an diesem Tag auch am Abendessen mit dem nationalsozialistischen Diktator teil  : »Ueber Wunsch des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler verbrachten die alten Kämpfer der früheren illegalen nationalsozialistischen Gauführung Oberösterreichs die Stunde, während der das Bundesgesetz vom Zusammenschluß Oesterreichs mit dem Deutschen Reich am Sonntag abends verkündet wurde, gemeinsam mit dem Führer. Zum Abendtisch im Hotel ›Weinzinger‹ waren von der Gauleitung Landeshauptmann Gauleiter Eigruber […] geladen, von der SA-Führung waren eingeladen Stabschef der Brigade 4 Franz Herb […].«406 Über diesen Tag war in der Herkunftsfamilie von Richard Danzmayr wiederholt gesprochen worden  : »Gesagt worden ist einmal, dass er auch in Linz am Balkon mit gestanden ist, wie der Hitler einmarschiert ist, das ist einmal gesagt worden.«407 Am 20. März 1938 erschienen in den Zeitungen gleichlautende Artikel über die Ernennung neuer Mitglieder der nationalsozialistischen Landesregierung  : »Die SA-Führer Brigadeführerstellvertreter Franz Herb und Ludwig Ziegler wurden zu Landräten ernannt.«408 Danzmayrs Großvater war gemäß einem Bericht der Kriminalabteilung I des Polizeikommissariats Urfahr vom Mai 1947 eine der »führenden Persönlichkeiten der NS-Aera. […] Wie durch vertrauliche Ermittlungen in Erfahrung gebracht wurde, wäre Herb anfangs als Gauleiter für Oberdonau ausersehen gewesen, wurde jedoch hiebei von Eigruber verdrängt.«409 Gemäß der 1950 von der Linzer Staatsanwaltschaft verfassten Anklageschrift führte ihn die NSDAP als Altmitglied  :410 »Nach der Annexion Österreichs wurde der Beschuldigte durch Belassung seiner Mitgliedsnummer aus der Vorverbotszeit als ›Alter Kämpfer‹ anerkannt.«411 Von 1. April bis 30. Juni 1938 war Herb, den Angaben auf dem Personalfragebogen zufolge, Führer der Linzer »SA-Reiterstandarte 94«.412 Seine Postanschrift wurde am 8. Mai 1938 mit Harrachstraße 36 in Linz angegeben.413 Am 18. Mai 1938 trat er aus der katholischen Kirche aus.414 Wegen seines Einsatzes für die NSDAP während jener Zeit in den 1930er-Jahren, in der die Partei in Österreich verboten gewesen war, und seiner wegen Hochverrat abgesessenen Gefängnisstrafe wurde Franz Herb am 30. Novem406 Der Führer mit alten Kämpfern beim Abendtisch. In  : Neueste Zeitung. Bebildertes Abendblatt der »Innsbrucker Nachrichten« vom 14.3.1938, S. 2. 407 Interview mit Richard Danzmayr, S. 8. 408 In die Landesregierung Oberösterreichs berufen. In  : Völkischer Beobachter. Wiener Ausgabe vom 20.3.1938, S. 5. 409 Bericht Polizeikommissariat Urfahr, datiert 28.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 410 Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 26. 411 Siehe Anklageschrift, datiert 22.6.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 412 Siehe SA-Personalfragebogen Franz Herb, BArch, R 9361 III, 567453. 413 Ebd. 414 Siehe Taufbuch 1904/141 Pfarre Breitenfeld, Erzdiözese Wien, URL  : https  ://data.matricula-online. eu/de/oesterreich/wien/08-breitenfeld/01-07/?pg=144 (letzter Zugriff  : 2.10.2020).

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ber 1939415 mit dem »Blutorden«,416 den er »nach Frankreich nachgeschickt erhielt«,417 ausgezeichnet  : »Die Nummer des Blutordens ist mir nicht mehr erinnerlich.«418 Gemäß einem Eintrag auf seiner NSDAP-Mitgliedskarte lautete sie 2547.419 Für besondere »Verdienste um die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich«420 wurde ihm die »Ostmark-Medaille« verliehen. Auch mit der Dienstauszeichnung der NSDAP in Bronze, die eine mindestens zehnjährige Mitgliedschaft voraussetzte, wurde er geehrt, »vermutlich zu Beginn des Rußlandfeldzuges«.421 Alle Auszeichnungen habe er, eigenen Angaben zufolge, während seines Wehrdiensts erhalten.422 In der oberösterreichischen Landesregierung war Herb »Referent für Staatsbürgerschaftsangelegenheiten, Verkehrsangelegenheiten und Spektakelpolizei.«423 Als Landesrat habe er seinen Bekundungen zufolge die Geschäfte unparteiisch geführt  : »Allen meinen ehemaligen Untergebenen bei der O.Ö. Landesregierung ist bekannt, daß ich allen Volksgenossen, die sich in ihrer Bedrängnis an mich gewandt haben, hilfreiche Hand geboten habe. Ich habe niemals jemand aus politischer Gehässigkeit einen Schaden zugefügt.«424 Herb nannte Personen, die dies bezeugen könnten  : »Den gewesenen Beamten des Landesjugendamtes Klug habe ich aus der Haft der Geheimen Staatspolizei befreit, weil er für die Revolutionären Sozialisten irgendeine Aktion durchgeführt hat. Es war dies glaublich im April 1938. Derselbe ist jetzt Mitglied der KPÖ. Ich habe mich sehr eingesetzt für die Rückkehr des Schutzbundführers Bernaschek, als Zeuge führe ich an meinen Kraftfahrer und ehemaligen Schutzbundführer Hans Hödl.«425 Hödl, wie Franz Herb »gottgläubig«,426 gab am 4. März 1947 zu Protokoll, diesem 1938 als Kraftfahrer vorgestellt worden zu sein. Er habe ihm mitgeteilt, dass er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei gewesen sei  : »Ich kann mich genau darauf erinnern, daß Herb damals mir darauf geantwortet hat, daß ihn die politische Vergangenheit nicht interessiere und er lediglich einen anständigen Kraftfahrer 415 Siehe Mitgliedskarte Franz Herb, NSDAP-Zentralkartei, BArch, R 9361-VIII KARTEI, 10291804. 416 Höchste Auszeichnung der NSDAP. 417 Bericht Polizeikommissariat Urfahr, datiert 21.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 418 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 419 Siehe Mitgliedskarte Franz Herb, NSDAP-Zentralkartei, BArch, R 9361-VIII KARTEI, 10291804. 420 Verordnung über die Stiftung der Medaille zur Erinnerung an den 13.3.1938 vom 1.5.1938, Reichsgesetzblatt, datiert 1.5.1938, S. 431, URL  : http  ://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1 938&size=45&page=609 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 421 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 422 Siehe Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten. 423 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946. 424 Ebd. 425 Ebd. 426 Amtliche Bezeichnung zur NS-Zeit für Personen, die aus den christlichen Kirchen ausgetreten waren  ; siehe Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, S. 281 ff.

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brauche.«427 Ähnlich lautende Aussagen von zwei weiteren Zeugen wurden ebenfalls verschriftlicht. Gemäß dem Protokoll der Beschuldigtenvernehmung vom selben Tag verwies der Großvater von Richard Danzmayr auch auf einen hochrangigen Polizeibeamten  : »Als Auskunftsperson über meine persönliche Einstellung politischen Gegnern gegenüber führe ich den jetzigen Leiter der Staatspolizei Linz, Dr. Petrich an.«428 Polizeirat Petrich war in die Ermittlungen gegen Herb involviert.429 Der von ihm ebenfalls namentlich genannte Beamte Josef Klug erklärte hingegen »ausdrücklich«,430 nichts von einer Intervention Herbs zu seinen Gunsten zu wissen  : »Es ist richtig, daß sich ehemalige Kameraden des Schutzbundes für meine Enthaftung eingesetzt haben, doch ist mir nichts bekannt, daß sich der ehemalige Landesrat und SA-Führer Franz Herb zwecks Enthaftung für mich eingesetzt hätte.«431 Klug war in Linz-Urfahr von der Kriminalpolizei als Zeuge über die Inhaftierung durch die Nationalsozialisten wegen seiner ehemaligen Mitgliedschaft beim Republikanischen Schutzbund befragt worden. In einem 1947 erstellten Polizeibericht wurde der Leiter des Polizeireferats der Landeshauptmannschaft Linz zitiert. Dieser war Franz Herb in dessen Zeit als Landesrat untergeben gewesen  : »Herr Hofrat Dr. Lentner hat hiebei die Überzeugung gewonnen, daß Herb wohl ein überzeugter Nationalsozialist war, doch war er in seiner Amtsführung korrekt und hat weder in weltanschaulicher noch in politischer Hinsicht auf seine Untergebenen einen Druck ausgeübt.«432 Franz Herb wurde Mitglied des Aufsichtsrats der Firma Stern und Hafferl Bahnen.433 Gemäß seinen eigenen Angaben rückte er am 26. August 1939 als Unteroffizier zur Wehrmacht ein. Im Mai 1940 habe er »an der Front«434 davon erfahren, dass seine Tätigkeit als Mitglied der Landesregierung ausgelaufen war  : »Im Jahre 1940 wurde ich vom Innenministerium benachrichtigt, daß mein Mandat als Landesrat erloschen sei, da inzwischen das Reichs-Überleitungsgesetz auch für die Ostmark in Geltung sei. Somit hatte ich keinerlei politische Funktion mehr inne.«435 Für die übrigen Mitglieder der nationalsozialistischen Landesregierung fand sich eine andere Verwendung  : »Ing. Breitenthaler als Gauhauptmann, Professor Lenk als Regierungsdirektor für die Schulabteilung, Danzer als Gaukämmerer, Hinterleitner

427 Zeugenvernehmung Hans Hödl, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 428 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 429 Siehe PDion Linz an Polizeikommissariat Urfahr, datiert 8.1.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 430 Niederschrift Zeugenbefragung Josef Klug, datiert 3.2.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 431 Ebd. 432 Bericht BPDion Linz, datiert 11.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 433 Siehe Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten. 434 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947. 435 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47.

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als Präsident der Wirtschaftskammer, Herb Franz scheidet aus und ist derzeit zur Wehrmacht eingerückt.«436 Innerhalb der Herkunftsfamilie von Richard Danzmayr wurde über mögliche Gründe für den Abgang aus der Landesregierung spekuliert  : »Ich glaube, es dürfte mit seinem direkten Vorgesetzten nicht so gut funktioniert haben, das hat meine Tante einmal gesagt. Das dürfte aufgrund seiner Frauengeschichten gewesen sein, so wie das meine Tante damals dargestellt hat, also weil sein Vorgesetzter direkt, ich weiß nicht, ob das nicht eh der Gauleiter war, der hat auch meine Großmutter gekannt oder die ist zu dem vorsprechen gekommen, weil er da irgendwie ein Verhältnis im Büro gehabt hat mit irgendwem oder so. So hat das meine Tante erzählt.«437 Der »Reichsstatthalter in Oberdonau« beantragte für Franz Herb anlässlich des Ausscheidens eine Übergangsentschädigung  : »Herb ist alter Kämpfer, Träger des Blutordens und war über 2 Jahre durch seine Tätigkeit für die verbotene NSDAP in der Männerstrafanstalt inhaftiert. Er ist verheiratet und hat 2 Kinder.«438 Die Auszahlung der Entschädigung wurde am 6. Juni 1940 vom »Reichsminister des Innern« angeordnet.439 Am 12. Juli 1940 wies der »Reichsstatthalter in Oberdonau« die Registrierungsoberkasse an, einen Abfindungsbetrag »aus Mitteln des Reichsgaues Oberdonau«440 an Herbs Ehefrau in Höhe von 12 Monatsbezügen zu jeweils 1068,62 Reichsmark abzüglich bereits geleisteter Zahlungen in bar auszuhändigen. Zur Auszahlung kamen schließlich 8731,74 Reichsmark.441 Im Jahr 1940 bezog Danzmayrs Großvater aus diesen öffentlichen Mitteln netto insgesamt 13.810,19 Reichsmark.442 Vom 1. November 1940 datiert der »Dauerausweis« für Paris, der Franz Herb, zu diesem Zeitpunkt im Rang eines Oberwachtmeisters, ausgestellt wurde. Als zugewiesene Unterkunft ist Fort Neuf de Vincennes vermerkt. Das amtliche Dokument war bis 31. Jänner 1941 gültig.443 Am 25. November 1941, rückwirkend mit 1. Jänner 1941,444 erwarb Herb gemeinsam mit dem »Gauinspekteur« der NSDAP, Franz Steiner, eigenen Angaben zufolge »als Meistbieter«,445 die Weinhandlung Andreas Ferihumer im Linzer Stadtteil Urfahr. Diese war am 19. März 1938 ihren jüdischen Besitzern geraubt worden  : »Ich stelle in Abrede, daß ich die ehemals jüdische Wein436 Verwendung der Landesräte, undatiert, Personalakt Land OÖ, OÖLA. 437 Interview mit Richard Danzmayr, S. 10. 438 Verwendung der Landesräte. 439 Siehe Der Reichsstatthalter in Oberdonau an den Reichsstatthalter in Oberdonau, Unterabteilung I b/P, datiert 20.6.1940, Personalakt Land OÖ, OÖLA. 440 Ebd. 441 Siehe Auszahlungs-Anordnung, Personalakt Land OÖ, OÖLA. 442 Detaillierung der Bezüge des Landesrats Franz Herb, datiert 28.4.1941, Personalakt, OÖLA. 443 Dauerausweis Paris Franz Herb, Eigentum von Uta Danzmayr. 444 Siehe Abschrift Kaufvertrag, datiert 25.11.1941, OÖLA, VgVr 1277/47. 445 Protokoll fortgesetzte Vernehmung des Beschuldigten, datiert 15.9.1947, OÖLA, VgVr 1277/47.

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handlung Ferihumer in Urfahr arisiert habe. Der Vorgang dieses Kaufgeschäfts war der, daß mir im Jahre 1941 durch die Gauleitung der Kauf dieser Firma angetragen wurde, um mir eine Berufsmöglichkeit zu verschaffen. Diese Firma war damals meines Wissens Staatsbesitz und wurde vom Finanzpräsidium Oberdonau gekauft. Der diesbezügliche Kaufvertrag kam ungefähr Ende November 1941 zustande.«446 Richard Danzmayrs Großvater war zu diesem Zeitpunkt »eingerückt«.447 Deshalb hatte er seine Ehefrau Johanna Herb als »Machthaberin«448 zu diesem Geschäft bevollmächtigt. Die Hauptniederlassung der Weinhandlung befand sich in der Hauptstraße 16, wo das Büro und eine Verkaufsstelle untergebracht waren. Weitere Liegenschaften in der Parzhofstraße 29 gehörten ebenfalls dazu. Die früheren Besitzer, Friederike Spitz und ihre Söhne Alexander und Eduard, hatten sechs Tage nach der nationalsozialistischen Machtübernahme »aus Gram über das ihnen angetane Unrecht«449 Suizid verübt. Zuvor war der Spirituosenerzeuger Viktor Spitz, ein weiterer Sohn Friederikes, verhaftet worden.450 Der Verkauf an Herb und Steiner, die bis zu diesem Zeitpunkt über keinerlei Erfahrungen im Weingroßhandel verfügt hatten, erfolgte »über Einschreiten des Gauleiters«.451 In der Abschrift des Kaufvertrags scheint ein Kaufpreis in Höhe von 524.636 Reichsmark auf.452 Herb nannte einen Preis von 630.000 Reichsmark. Die Finanzierung sei durch die Landeshypothekenanstalt für Oberösterreich erfolgt. Deren Direktor habe ihm »seinerzeit schon mitgeteilt, daß die Firma, wie auch im Kuratoriumsprotokoll angegeben sei, zu teuer gekauft wurde. Es kann meinerseits von keiner Bereicherung durch nationalsozialistische Maßnahmen gesprochen werden.«453 Der Preis wäre um 20.000 Reichsmark zu hoch gewesen, wie Herb 1947 zu Protokoll gab.454 Auch der von den neuen Eigentümern eingesetzte Geschäftsführer Hans Steiner, ein Cousin des »Gauinspekteurs« Franz Steiner, behauptete 1947, »dass der Betrieb nach meiner Schätzung um 150.000 RM ca. zu teuer gekauft worden ist.«455 Jener Kaufmann, der die Geschäfte der Weinhandlung zwischen 1939 und 1941 geführt hatte, bezeichnete den Kaufpreis hingegen als »angemessen«.456 446 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 447 Protokoll fortgesetzte Vernehmung des Beschuldigten, datiert 15.9.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 448 Abschrift Kaufvertrag, datiert 25.11.1941, OÖLA, VgVr 1277/47. 449 Bericht Polizeikommissariat Urfahr, datiert 28.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 450 Siehe Michael John, Modell Oberdonau  ? Zur wirtschaftlichen Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung Oberösterreichs. In  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3 (1992) 2, S. 217. 451 Zeugenvernehmung Walter Nadler, datiert 9.4.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 452 Siehe Abschrift Kaufvertrag, datiert 25.11.1941, OÖLA, VgVr 1277/47. 453 Niederschrift Befragung Herb, datiert 7.1.1946. 454 Siehe Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 455 Zeugenvernehmung Hans Steiner, datiert 23.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 456 Zeugenvernehmung Rudolf Schwarzäugl, datiert 17.6.1947, OÖLA, VgVr 1277/47.

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In dem neunseitigen Bericht über die Geschäftsgebarung der »Ariseure«457 Franz Steiner und Franz Herb, der vom August 1946 datiert, befasst sich der Linzer Steuerberater Rudolf Pesinger auch mit dem Erwerb der Firma durch Herb und Steiner  : »Der Kaufpreis wurde bis auf RM 70.000.- die heute noch auf der Passivseite stehen, vom vorhandenen Firmenbargelde und durch einen Credit bei der O.Oe. Hypothekenanstalt, Linz bezahlt.«458 Gegen die Gewährung dieses Kredits, der 180.000 Reichsmark betrug, und eines Darlehens in Höhe von 70.000 Reichsmark bestanden bei der Oberösterreichischen Landes-Hypothekenanstalt »gewisse Bedenken«.459 Diese wurden jedoch nicht näher spezifiziert. Die Kriminalabteilung des Polizeikommissariats im Linzer Stadtteil Urfahr, der nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der russischen Besatzungszone lag, verfasste im Februar 1947 einen Bericht. Darin wurde Herb der Arisierung bezichtigt  : »Über die Arisierungsvorgänge von Seiten des Franz Herb und seines Komplicen Franz Steiner wurde am hiesigen Platze folgendes erhoben  : Die Weinkellerei Ferihumer, Urfahr, Parzhofstraße 26, wurde von Franz Herb und Franz Steiner als je zur Hälfte arisiert. Auf die gleiche Art und Weise setzten sich die beiden auch in den Besitz der Liegenschaften Urfahr, Hauptstraße 16, Friedhofstraße 3 und des 1.056 qm großen Geschäftsgrundstückes Parzhofstraße 29.«460 Am 5. Februar 1942 schlossen Franz Herb und Franz Steiner einen Gesellschaftsvertrag ab. Sie traten als offene Gesellschafter in die arisierte Firma Andreas Feri­ humer ein.461 Die ebenfalls von der Familie Spitz arisierten Liegenschaften mit den Adressen Hauptstraße 16 und Friedhofstraße 5 in Linz-Urfahr gingen im Februar 1943 um den Preis von 58.000 Reichsmark462 in das Eigentum der beiden NS-Funktio­ näre über.463 Richard Danzmayrs Großvater war nach wie vor eingerückt. Daher ließ er sich auch bei diesem Rechtsgeschäft durch seine Ehefrau Johanna Herb vertreten. Im Oktober 1944 erwarben Franz Herb und Franz Steiner um 80.500 Reichsmark auch das Haus Parzhofstraße 26 in Urfahr  : »Das Objekt Parzhofstr. 26 weist ein Bauareal von 923 qm auf, ist einstöckig und in gutem Bauzustand. Zum Hause gehört noch ein Garten mit 1691 qm Größe.«464 In Richard Danzmayrs Herkunftsfamilie war dieses am Auberg im Linzer Stadtteil Urfahr gelegene Haus wiederholt thematisiert worden  : »Es wird zum Beispiel erzählt, es habe ein Haus gegeben am Auberg und das war halt nach dem Krieg nimmer. Ja, aber das hat es vor dem Krieg auch 457 Bericht Rudolf Pesinger, datiert 6.8.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 458 Ebd. 459 OÖ Landes-Hypothekenanstalt an LG Linz, datiert 28.2.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 460 Bericht Polizeikommissariat Urfahr an BPDion Linz, datiert 8.2.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 461 Siehe Gesellschaftsvertrag, datiert 5.2.1942, OÖLA, VgVr 1277/47. 462 Siehe Buchlustrum Bezirksgericht Urfahr, datiert 16.4.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 463 Siehe Abschrift Kaufvertrag, datiert 11. und 16. Februar 1943, OÖLA, VgVr 1277/47. 464 Bericht Polizeikommissariat Urfahr, datiert 28.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47.

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Abb. 26  : Das Schreiben von »Gauleiter« August Eigruber vom 5. Mai 1945.

nicht gegeben für die Familie, also wird’s wohl ein geraubtes Haus gewesen sein aus unserer Sicht, meine Geschwister und ich reden öfter darüber.«465 Am 21. Mai 1943 starb Franz Herbs Mutter Berta in Wien.466 Am 17. Juni 1943 kam in Linz das vierte Kind von Johanna und Franz Herb, Danzmayrs Mutter, auf die Welt. Am 25. September 1943 wurde ihr zu Ehren eine nationalsozialistische

465 Interview mit Richard Danzmayr, S. 1. 466 Siehe Trauungsbuch 1901–1903/80 Pfarre Altlerchenfeld, Erzdiözese Wien, URL  : https  ://data.ma tricula-online.eu/de/oesterreich/wien/07-altlerchenfeld/02-23/?pg=309 (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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Feierstunde abgehalten, in deren Verlauf dem Mädchen von seiner »Sippe«467 der Name Uta gegeben wurde. Einem Bericht des Polizeikommissariats Urfahr vom Mai 1947 zufolge wurde Franz Herb während des Zweiten Weltkriegs »fast ausschließlich im Hinterland eingesetzt (Linz, Wels, ehem. Protektorat) […]. Bereits am 8. Mai 1945 war er von der Wehrmacht zurück und ist dies auch nur auf Grund seines ständigen Hinterlandeinsatzes zu erklären.«468 Herb sei, wie seine Ehefrau 1947 angab, wegen eines Gallen- und Leberleidens von der Front abgezogen worden.469 Zu Kriegsende bekleidete er den Offiziersrang eines Oberleutnants.470 Der »Gauleiter« von »Oberdonau«, August Eigruber, beauftragte ihn noch Anfang Mai damit, die im Stift in Spital am Pyhrn eingelagerten Goldreserven der ungarischen Nationalbank zu bewachen (siehe Abb. 26). 3.6.3 Strafverfolgung nach Kriegsende Am 4. Mai 1945 wurde Franz Herb vom US-amerikanischen Nachrichtendienst CIC, der nach Repräsentanten des NS-Regimes und Kriegsverbrechern fahndete, in Lambach im oberösterreichischen Bezirk Wels-Land festgenommen  : »Nach meiner Rückkehr kam ich in das Kriegsgefangenenlager Lambach und von dort wurde ich schließlich in das Lager Glasenbach überstellt. Es war dies am 18. Oktober 1945.«471 Im September 1945 war er im »Prisoner of War Camp« in Pupping inhaftiert, wo er als »leader of the camp-police«472 fungierte. Im Protokoll der Hauptverhandlung scheint der 11. Oktober 1945 als Beginn der Verwahrungshaft im Lager Glasenbach, wie das Camp Marcus W. Orr auch genannt wurde, auf.473 Gemäß den Angaben, die seine Ehefrau 1947 machte, befand sich Herb »im Lager Lambach, Pupping, Peuer­ bach, Camp Marcus W. Orr in Glasenbach«474 und im März 1947475 ein weiteres Mal im Lager Pupping. Richard Danzmayr berichtete, sein Großvater, der als »Frauenheld«476 bekannt war, hätte sich nach Kriegsende nur noch in geringem Ausmaß auf nationalsozialistische Netzwerke stützen können  : »Ich glaube, dass er auch jetzt nicht die große Un467 Urkunde Feierstunde, Eigentum von Uta Danzmayr. 468 Bericht Polizeikommissariat Urfahr, datiert 28.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 469 Siehe Johanna Herb an LG Linz als Volksgericht, undatiert, OÖLA, VgVr 1277/47. 470 Siehe Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 471 Ebd. 472 Passierschein P. O. W. Camp Pupping, datiert 21.9.1945, Eigentum von Uta Danzmayr. 473 Siehe Protokoll Hauptverhandlung, datiert 11.1.1951, OÖLA, VgVr 1277/47. 474 Johanna Herb an LG Linz, undatiert, OÖLA, VgVr 1277/47. 475 Siehe Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten. 476 Interview mit Richard Danzmayr, S. 2.

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terstützung dann mehr gehabt hat bei den Ehemaligen, also bei den Nazis. Das war dann recht, dürfte recht verbittert gewesen sein.«477 Innerhalb der Familie wurde auch über mögliche Hintergründe für die Festnahme in Lambach geredet, von denen die Großmutter berichtet hätte  : »Das dürfte ihr gesagt worden sein, dass er von eigenen Leuten verraten worden ist, aber das ist so Hörensagen, Geschichten. Er wird dort auch nicht gut angekommen sein.«478 Am 12. Juli 1946 wurde von der Kriminalabteilung der Linzer Polizei Strafanzeige gegen Danzmayrs Großvater wegen dessen illegaler Betätigung für NSDAP und SA in den 1930er-Jahren sowie wegen Bereicherung und Hochverrat am österreichischen Volk erstattet  : »Franz Herb war Mitglied der ehemaligen nationalsozialistischen Landesregierung für Oberösterreich und hatte die Funktion eines SA-Brigadeführers inne. Er gehörte zu den prominentesten nationalsozialistischen Führern in Oberösterreich. Durch die Arisierung der Weinhandlung Ferihumer in Urfahr hat er sich durch die nationalsozialistischen Maßnahmen bereichert. Er befindet sich im Lager Glasenbach in Haft und seine Entlassung aus dem Lager Glasenbach wird überwacht.«479 Zehn Tage später beantragte die Staatsanwaltschaft die Einleitung der Voruntersuchung und die Verhängung der Untersuchungshaft.480 Vom 6. August 1946 datiert der neunseitiger Bericht des Steuerberaters Rudolf Pesinger über die geschäftliche Entwicklung der arisierten Weingroßhandlung. Während die Firma am 19. März 1938 folglich über ein Kapital in Höhe von 449.135 Schilling verfügt hatte, betrug der Abgang am 31. Dezember 1945 mindestens 388.411 Schilling  : »Demnach wurden nicht allein sämtliche Reingewinne, sondern darüber hinaus noch bei 1 Million RM bzw. Schillinge verwirtschaftet. Lediglich Warenvorräte in der Höhe von S 215.000.-, die geplündert wurden, fallen den Ariseuren eventuell nicht zur Last […].«481 Über diese Plünderungen wurde in Richard Danzmayrs Herkunftsfamilie ebenfalls gesprochen  : »Da habe ich aber einmal etwas gehört, dass anscheinend irgendwann nach dem Krieg der Wein über die Gasse hinun­tergelaufen ist durch den Mob irgendwie.«482 Das »Verschwinden« des Kapitals führte der Steuerberater auf Unkosten in Folge der »katastrophalen Geschäftsführung«483 und auf »namhafte Privatentnahmen der Ariseure Steiner und Herb«484 zurück  : »Es wäre zu trachten das Privateigentum der Ariseure Franz Steiner und Franz Herb, aber auch jenes des Geschäftsführers 477 Interview mit Richard Danzmayr, S. 2. 478 Ebd., S. 11. 479 PDion Linz an STA Linz, datiert 12.6.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 480 Siehe Antrags- und Verfügungsbogen, datiert 22.6.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 481 Bericht Rudolf Pesinger, datiert 6.8.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 482 Interview mit Richard Danzmayr, S. 10. 483 Bericht Pesinger. 484 Ebd.

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Hans Steiner restlos zur Wiedergutmachung der Schäden heranzuziehen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu belangen.«485 Auch der interimistische Verwalter der Weingroßhandlung kritisierte 1947, wie die Geschäfte nach dem Kauf durch Herb und Steiner geführt worden waren  : »Soweit ich als kommissarischer Leiter der Firma Einblick in die Geschäftsgebarung nach 1941 zu nehmen Möglichkeit hatte, stelle ich fest, dass durch diese Geschäftsgebarung die Firma geradezu ruiniert worden ist. Nach meinem Ermessen trägt hiefür die Hauptverantwortung der spätere Geschäftsführer Hans Steiner. Er hat noch nach 1945 einen Grossteil der Geschäftseinrichtung auf eigene Rechnung verkauft und zwar zu Schleuderpreisen.«486 Am 5. Jänner 1947 wurde Franz Herb »um 17 Uhr vom Anhaltelager Glasenbach in das hiesige Polizeigefängnis überstellt.«487 Als damalige Wohnadresse des ehemaligen Brigadeführer-Stellvertreters der SA und Landesrats scheint Hagenstraße 2 im Linzer Stadtteil Urfahr auf. Dort hatte er zum Zeitpunkt des Erwerbs der Weinhandlung gewohnt.488 Als Religionsbekenntnis ist »gottgläubig« vermerkt, als Familienstand verheiratet.489 Zwei Tage später wurde Herb, wohnhaft in der Parzhofstraße 26 in Linz,490 aus der Haft vorgeführt und »nach Wahrheitserinnerung«491 zu seiner nationalsozialistischen Betätigung vor und nach der Machtübernahme im März 1938 sowie zu seinem Immobilienbesitz befragt. Das zu diesem Zeitpunkt noch im Eigentum von Franz Herb und Franz Steiner stehende Haus in der Parzhofstraße bezeichnete Herb als »schwer belastet. Die Wohnungseinrichtung ist Eigentum meiner Frau, die sie schon in die Ehe miteingebracht hat. Wertsachen besitze ich nicht.«492 Für die arisierte Weinkellerei Ferihumer war am 1. Jänner 1946 ein Verwalter bestellt worden.493 Richard Danzmayrs Großvater bestritt, vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten Handlungen gesetzt zu haben, die »auf eine gewaltsame Änderung der Regierungsform in Österreich zu Gunsten der NSDAP« 494 abgezielt hätten, und bat um seine Enthaftung. Nach der Einvernahme »zur Sache« hielt die Kriminalabteilung der Linzer Polizei fest  : »Seine Angaben erscheinen zum Großteil glaubwürdig und er macht einen guten Eindruck.« 495 Auf dem am selben Tag erstellten Vermögensverzeichnis wurden als Beruf Weinhändler, als Hausbesitz die Liegenschaft in 485 Bericht Pesinger. 486 Zeugenvernehmung Karl Pfatschbacher, datiert 13.6.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 487 Amtsvermerk BPDion Linz, datiert 5.1.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 488 Siehe Abschrift Kaufvertrag, datiert 25.11.1941, OÖLA, VgVr 1277/47. 489 Siehe Amtsvermerk BPDion Linz, datiert 5.1.1947. 490 Siehe Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 491 Ebd. 492 Niederschrift Befragung Franz Herb, datiert 7.1.1946, OÖLA, VgVr 1277/47. 493 Siehe Zeugenvernehmung Karl Pfatschbacher, datiert 13.6.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 494 Niederschrift Befragung Herb. 495 Bericht PDion Linz an STA Linz, datiert 8.1.1947, OÖLA, VgVr 1277/47.

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der Parzhofstraße 26 und als Betrieb oder Geschäft die Weinhandlung Ferihumer in Urfahr angegeben. Dem Verzeichnis zufolge hatte Danzmayrs Großvater zu diesem Zeitpunkt Sorgepflichten für seine Ehefrau und die vier gemeinsamen Kinder. 496 Am Vormittag des 11. Jänner 1947 wurde Franz Herb, dessen Beruf mit Techniker angeführt ist,497 vom Polizeigefängnis in das Gefangenenhaus des Linzer Landesgerichts überstellt und in Untersuchungshaft genommen. Am 2. Februar 1947 leitete die Staatsanwaltschaft Linz eine Voruntersuchung wegen Verstößen gegen Paragraf elf des Verbotsgesetzes498 und Paragraf sechs des Kriegsverbrechergesetzes499 ein. Am 25. Februar 1947 ging ein von Johanna Herb unterzeichneter maschingeschriebener Brief bei Gericht ein. Darin bat Richard Danzmayrs Großmutter um die Enthaftung ihres Ehegatten, da keine Haftgründe mehr vorliegen würden  : »Mein Mann hat in seiner Strafsache wahrheitsgemässe Angaben gemacht und steht er jederzeit dafür ein, was er gemacht hat. Ich habe 4 Kinder und habe meinen Wohnsitz in Urfahr. Wir sind der grössten Not ausgesetzt, da für uns mein Mann nicht sorgen kann. Wäre mein Mann auf freiem Fuss, könnte er einem Verdienst nachgehen und wären wir dieser grossen Not nicht ausgesetzt.«500 Dem Schreiben ist zu entnehmen, dass sich Franz Herb zu diesem Zeitpunkt in Pupping im Bezirk Eferding in Haft befand. Dort war 1941 ein Barackenlager für Kriegsgefangene errichtet worden. Johanna Herb wies darauf hin, dass ihr Ehemann seit Mai 1945 durchgehend inhaftiert gewesen sei  : »Er hat fast eine zweijährige Haftzeit hinter sich. Ich kann daher annehmen, dass er durch die Vorhaft die Strafe, die er zu erwarten hat, wenn nicht zur Gänze, so wenigstens zum grossen Teil verbüsst hat.«501 In dem Brief wurde noch auf eine chronische Gelenksentzündung verwiesen, von der Johanna Herbs Hände betroffen seien  : »Ich kann keiner Arbeit nachgehen um für die Familie in Allem aufzukommen. Ich habe für 4 Kinder im Alter von 3, 9, 17 und 18 Jahren zu sorgen. Schon auch deshalb kann ich keinem Erwerb nachgehen, da ich zwei unmündige Kinder habe.«502 Für den Fall, dass dem Gesuch auf Enthaftung nicht nachgekommen werde, wurde gebeten, das Schreiben an das Oberlandesgericht Linz als Haftbeschwerde weiterzuleiten. 496 Vermögensverzeichnis, datiert 7.1.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 497 Übernahme-Bericht LG Linz, datiert 11.1.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 498 Betätigung als »Illegaler« in leitender Funktion oder Träger von Parteiauszeichnungen wie dem Blutorden, Strafrahmen  : zehn bis 20 Jahre schwerer Kerker und Verfall des gesamten Vermögens, siehe 13. Verfassungsgesetz vom 8.5.1945 über das Verbot der NSDAP, Staatsgesetzblatt S. 20. 499 Missbräuchliche Bereicherung, Strafrahmen  : ein bis fünf Jahre Kerker oder fünf bis zehn Jahre schwerer Kerker, siehe 32. Verfassungsgesetz vom 26.6.1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten, Staatsgesetzblatt S. 55. 500 Johanna Herb an LG Linz, undatiert, OÖLA, VgVr 1277/47. 501 Ebd. 502 Ebd.

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Am 3. März 1947 bekannte sich Franz Herb gemäß dem Protokoll seiner Vernehmung »der illegalen Tätigkeit zugunsten der NSDAP«503 in den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich schuldig, bestritt aber erneut, eine gewaltsame Änderung der Verfassung angestrebt zu haben. Er sei lediglich daran interessiert gewesen, das 1933 durch die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs de facto außer Kraft gesetzte Bundesverfassungsgesetz wieder in Geltung zu setzen  : »Mein Ziel war auf legalem Wege die demokratische Verfassung von 1929 herbeizuführen.«504 Am 12. März 1947 legte das zur Ahndung von NS-Verbrechen eingerichtete Linzer Volksgericht, das beim Landesgericht Linz angesiedelt war, den Akt dem Oberlandesgericht Linz zur Entscheidung über die Bitte auf Enthaftung vor, ebenso die ablehnende Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Linz.505 Als am 14. März 1947 das gemäß dem Verbotsgesetz von 1945 erforderliche Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten ausgefüllt wurde, befand sich Richard Danzmayrs Großvater mütterlicherseits im Lager Pupping in Haft.506 Das Oberlandesgericht Linz fasste am 21. März 1947 den Beschluss, »den Antrag auf Versetzung auf freien Fuß mangels hinreichender Gründe abzuweisen.«507 Vom selben Tag datiert ein Bericht der Kriminalabteilung I des Polizeikommissariats Urfahr über die Ermittlungen gegen Franz Herb  : »Er ist der Bevölkerung von Urfahr als einer der ältesten Kämpfer für die NSDAP bekannt und galt als einer der führenden Nationalsozialisten.«508 Am 26. März 1947 verfügte das Landesgericht Linz, Unterlagen von der Landeshauptmannschaft Linz und dem Bezirksgericht Urfahr über die 1938 erfolgte Arisierung der Weinhandlung Andreas Ferihumer sowie den »Erwerb der Firma Ferihumer Urfahr Parzhofstr. 26 und der Liegenschaften Hauptstr. 16, Friedhofstr. 3 und Parzhofstr. 29 im Jahre 1941 durch Franz Steiner und Franz Herb«509 zu beschaffen. Am 2. April 1947 ging ein zweites Gesuch von Danzmayrs Großmutter beim Landesgericht Linz ein. Darin verwies Johanna Herb erneut auf ihre gesundheitlichen Leiden sowie auf die ihres Ehemanns  : »Leide seit längerer Zeit an chronischer Gelenksentzündung. Da jede medikamentische Behandlung ohne Erfolg, bliebe nur eine Kur eines Bades, welche mir Heilung oder wenigstens Linderung verschaffen könnte. Wäre mein Mann zu Hause, so könnte ich ruhiger wegfahren, da ich die Kinder dann nicht ohne Aufsicht zurück lassen müßte. Auch macht mir der Gesund-

503 Protokoll Vernehmung des Beschuldigten, datiert 4.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 504 Ebd. 505 Siehe Vermerk LG Linz, datiert 12.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 506 Siehe Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten. 507 Beschluss Oberlandesgericht Linz, datiert 21.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 508 Bericht Polizeikommissariat Urfahr, datiert 21.3.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 509 Antrags- und Verfügungsbogen LG Linz, datiert 9.4.1947, OÖLA, VgVr 1277/47.

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heitszustand meines Mannes Sorgen, da er ja seinerzeit wegen eines Gallen- und Leberleidens von der Front zurückgestellt wurde.«510 Am 7. Mai 1947 fasste das Oberlandesgericht Linz den Beschluss, Richard Danzmayrs Großvater »auf freien Fuß zu versetzen«.511 Am darauffolgenden Tag wurde Franz Herb »gegen Gelöbnis«512 aus der Untersuchungshaft entlassen.513 In den darauffolgenden Tagen zog er jedoch erneut die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden auf sich  : »Da sich Herb nach seiner Entlassung in Urfahr aufhielt und Beobachtungen gemacht wurden, daß in seiner Wohnung prominente bzw. bekannte Nazi ein- und ausgehen und die russische Stadtkommandantur über sein politisches Verhalten vor, während und nach dem Verbot der NSDAP Kenntnis erlangte, erhielt das Polizeikommissariat Urfahr den Auftrag, Herb neuerlich festzunehmen und in das Arbeitslager Gründberg einzuweisen.«514 Von 24. Mai 1947 bis 15. September 1947 befand er sich im Lager Gründberg in Linz-Urfahr in Haft.515 Im August 1947 teilte die für die sowjetische Besatzungszone in Oberösterreich516 zuständige Zivilverwaltung Mühlviertel dem Volksgericht Linz mit, welches Vermögen Herb ihren Ermittlungen zufolge zu diesem Zeitpunkt besaß  : »Im Zuge der vermögenssichernden Massnahmen wurde festgestellt, dass Obgenannter zur Hälfte Besitzer der Liegenschaft Urfahr, Parzhofstrasse 26 ist, welche mit S 95.000.- verschuldet ist. Sonstige Vermögenswerte sind nicht vorhanden.«517 Gemäß Paragraf 17 des österreichischen Verbotsgesetzes von 1947518 war Herb als ehemaliges hochrangiges Mitglied der SA »belastet«.519 Er hatte »Sühnefolgen« zu tragen, die ihm aufgrund seines Ansuchens vom 28. September 1950 vom Bundespräsidenten teilweise erlassen wurden.520 »Wiedergutmachungsbeträge« in Höhe von 4000 Schilling musste Richard Danzmayrs Großvater außerdem rückerstatten. Diese hatte ihm das nationalsozialistische Regime als Entschädigung für die Strafverfolgung und Haft in den 1930er-Jahren ausbezahlt  : »Dagegen hat Herb um Zahlungsaufschub angesucht.«521 510 Johanna Herb an LG Linz als Volksgericht, undatiert, OÖLA, VgVr 1277/47. 511 Beschluss Oberlandesgericht Linz, datiert 7.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 512 Beschuldigtenprotokoll, datiert 8.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 513 Siehe Landesgerichtliches Gefangenenhaus Linz an LG Linz, datiert 8.5.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 514 Sicherheitsdirektion für das Mühlviertel an LG Linz, datiert 3.7.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 515 Siehe Protokoll fortgesetzte Vernehmung des Beschuldigten, datiert 15.9.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 516 Der Linzer Stadtteil Urfahr gehörte zur sowjetischen Zone. 517 Zivilverwaltung Mühlviertel an LG Linz als Volksgericht, datiert 14.8.1947, OÖLA, VgVr 1277/47. 518 25. Bundesverfassungsgesetz vom 6.2.1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten, siehe Bundesgesetzblatt, 17.2.1947. 519 Meldeblatt zur Registrierung der Nationalsozialisten. 520 Siehe Bundeskanzleramt an Magistrat Urfahr, datiert 4.1.1955, NS-Registrierungsakt Urfahr, Franz Herb, Archiv Stadt Linz. 521 Zivilverwaltung Mühlviertel an LG Linz als Volksgericht, datiert 20.10.1948, OÖLA, VgVr 1277/47.

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Abb. 27  : Der Identitätsausweis Nr. 24277, ausgestellt 1949 von den Alliierten.

Zwei Jahre und drei Monate nach der Strafanzeige gegen Franz Herb erkundigte sich die Zivilverwaltung Mühlviertel in Zusammenhang mit der Rückerstattung der »Wiedergutmachungsbeträge« beim Linzer Volksgericht nach dem Verfahrensstand  : »Da in der Anzeige […] ausdrücklich auf die Wiedergutmachungsforderung verwiesen wird, wird um Mitteilung über den Stand des Verfahrens gebeten. Weiters wolle bekanntgegeben werden, ob die Rückerstattung des Wiedergutmachungsbetrages durch das Gericht veranlasst wird.«522 Am 7. Oktober 1949 wurde Franz Steiner, ehemaliger »Gauinspekteur« der ­NSDAP in Oberösterreich und Mitgesellschafter der arisierten Weingroßhandlung Andreas Ferihumer, vom Volksgericht Wien wegen Hochverrat nach den Paragrafen zehn523 und elf524 des Verbotsgesetzes von 1947 zu einem Jahr schwerem Kerker und

522 Zivilverwaltung Mühlviertel an LG Linz als Volksgericht, datiert 20.10.1948. 523 Strafrahmen  : 5 bis 10 Jahre schwerer Kerker, siehe 25. Bundesverfassungsgesetz vom 6.2.1947, Bundesgesetzblatt, 17.2.1947, S. 279. 524 Strafrahmen  : 10 bis 20 Jahre schwerer Kerker, siehe 25. Bundesverfassungsgesetz, S. 280.

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Vermögensverfall verurteilt. Ein Freispruch erfolgte hingegen vom Vorwurf des Verstoßes gegen Paragraf vier525 des Kriegsverbrechergesetzes.526 Am 22. Juni 1950, knapp vier Jahre, nachdem die Anzeige gegen Danzmayrs Großvater erstattet worden war, erhob die Staatsanwaltschaft Linz Anklage wegen Hochverrat  : »Der Beschuldigte trat im Jahre 1930 in Wien der NSDAP unter der Mitgliedsnummer 300.749 bei und war seit 1932 auch Mitglied der SA. In der Verbotszeit war er bei der SA führend tätig und hatte die Aufgabe, die SA mit Waffen zu versorgen. […] Bei der Beurteilung des Verschuldensgrades wurde der große Umfang und der bedeutende Kostenaufwand bei der Anschaffung und Sicherstellung der Waffen sowie die hohe Eignung derselben (Maschinengewehre) zur ausgedehnten Kampfbereitschaft als besonders schwerwiegend angenommen.«527 Gleichzeitig stellte die Anklagebehörde den Antrag, das Verfahren wegen des Verdachts der missbräuchlichen Bereicherung nach Paragraf sechs des Kriegsverbrechergesetzes einzustellen.528 Die Hauptverhandlung wurde für 21. September 1950 ausgeschrieben.529 Am 20. September 1950 beschloss das Gericht jedoch, diese zu verschieben.530 Als neues Datum wurde der 23. November 1950 festgelegt.531 Zwei Tage vor dem Ersatztermin bat der Verteidiger um eine erneute Verschiebung  : »Der Angeklagte ist laut zuliegender Beilage erkrankt und derzeit bettlägerig. Er kann daher zur Verhandlung nicht erscheinen.«532 Dem Vertagungsgesuch lag eine ärztliche Verschreibung bei, auf der eine Gallenkolik als Grund der Erkrankung aufscheint.533 Herb war zu diesem Zeitpunkt Beschäftigter der VÖEST in Linz. Die Hauptverhandlung musste ein weiteres Mal auf einen späteren Zeitpunkt gelegt werden.534 Als neuer Termin wurde der 15. Dezember 1950 bestimmt,535 der jedoch wegen einer nicht näher begründeten »Verhinderung des Gerichts«536 zunächst auf 21. Dezember 1950 und in weiterer Folge auf 11. Jänner 1951 verschoben wurde.

525 Verletzung der Menschlichkeit und der Menschenwürde, siehe 32. Verfassungsgesetz vom 26.6.1945, Staatsgesetzblatt vom 28.6.1945, S. 56, URL  : https  ://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1945_ 32_0/1945_32_0.pdf (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 526 Siehe Amtsvermerk STA Linz, datiert 23.11.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 527 Anklageschrift, datiert 22.6.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 528 STA Linz an Untersuchungsrichter, datiert 22.6.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 529 Siehe Ausschreibung, datiert 8.8.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 530 Siehe Beschluss LG Linz als Volksgericht, datiert 20.9.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 531 Siehe Ausschreibung, datiert 4.11.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 532 Rechtsanwalt Paul Fromherz an Volksgericht Linz, datiert 21.11.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 533 Verschreibung, datiert 21.11.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 534 Siehe Beschluss LG Linz als Volksgericht, datiert 22.11.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 535 Siehe Ausschreibung, datiert 1.12.1950, OÖLA, VgVr 1277/47. 536 Beschluss LG Linz als Volksgericht, datiert 7.12.1950, OÖLA, VgVr 1277/47.

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Während des Prozesses am 11. Jänner 1951, der um 9  :45 Uhr begann, bekannte sich Franz Herb im Sinne der Anklage schuldig  : »Ich bleibe bei meiner bisherigen Verantwortung und gebe somit ohne weiteres zu, dass ich der NSDAP seit dem Jahre 1930 angehört habe, im Zuge des Erfassungsverfahrens unter Belassung meiner früheren Mitgliedsnummer aus der Vorverbotszeit als ›Alter Kämpfer‹ anerkannt wurde […] und der NSDAP auch während der Verbotszeit zugehört habe und mich in dieser Zeit für diese betätigt habe. […] Ich gebe auch zu, Inhaber des Blutordens, der Dienstauszeichnung der NSDAP in Bronze und der Ostmarkmedaille gewesen zu sein.«537 Die zwei Berufs- und drei Schöffenrichter sprachen Richard Danzmayrs Großvater wegen Mitgliedschaft bei der NSDAP zwischen 1. Juli 1933 und 13. März 1938, Zugehörigkeit zur SA im Rang eines Standartenführers sowie Tragen von Parteiauszeichnungen der NSDAP des Hochverrats schuldig. Sie verurteilten ihn zu einem Jahr schwerem Kerker »verschärft durch ein hartes Lager vierteljährlich«538 sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens, die jedoch als »uneinbringlich«539 verbucht wurden. Das Gericht erklärte das gesamte Vermögen für verfallen (siehe Abb. 28). Die in Verwahrungs- und Untersuchungshaft verbrachte Zeit wurde berücksichtigt. Damit war die verhängte Haftstrafe bereits verbüßt  : »Der Angeklagte verzichtet auf Rechtsmittel und tritt die Strafe an.«540 Nach 35 Minuten war die Verhandlung beendet. Das Urteil wurde am 13. Juli 1951 in Folge 28 der Amtlichen Linzer Zeitung verlautbart.541 Am 16. April 1952 verstarb Franz Herbs Vater, der Urgroßvater von Richard Danzmayr.542 Am 25. August 1956 beantragte Herb schriftlich beim Landesgericht Linz, dass ihm das verfallene Vermögen »zu erstatten ist«.543 Denn in seinem Fall sei die im Juli 1956 beschlossene Vermögensverfallsamnestie544 nicht anwendbar. Die Staatsanwaltschaft Linz stellte daraufhin an das Linzer Landesgericht den Antrag, das Vermögen zu erstatten. Das Landesgericht ersuchte in der Folge das Strafregisteramt in Wien um eine Auskunft über die Vorstrafen des Kokerei-Arbeiters Franz Herb, »wohnhaft Urfahr, Parzhofstr. 26«.545 In seiner Antwort listete das Amt die 537 Protokoll Hauptverhandlung, datiert 11.1.1951, OÖLA, VgVr 1277/47. 538 Urteil LG Linz als Volksgericht, datiert 11.1.1951, OÖLA, VgVr 1277/47. 539 Endverfügung, datiert 15.1.1951, OÖLA, VgVr 1277/47. 540 Protokoll Hauptverhandlung, datiert 11.1.1951. 541 Siehe Bundesministerium für Finanzen an LG Linz als Volksgericht, undatiert, OÖLA, VgVr 1277/47. 542 Siehe Trauungsbuch 1901–1903/80 Pfarre Altlerchenfeld, Erzdiözese Wien, URL  : https  ://data.matri cula-online.eu/de/oesterreich/wien/07-altlerchenfeld/02-23/?pg=309 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 543 Antrag an LG Linz, datiert 25.8.1956, OÖLA, VgVr 1277/47. 544 Siehe 155. Bundesverfassungsgesetz vom 18. Juli 1956, womit Gruppen ehemaliger Nationalsozialisten in Ansehung der Strafe des Vermögensverfalls amnestiert werden. 545 LG Linz an Strafregisteramt Wien, datiert 7.9.1956, OÖLA, VgVr 1277/47.

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Abb. 28  : Die zweite Seite des vom Volksgericht Linz verschriftlichten Urteils.

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beiden Verurteilungen wegen Hochverrat vom 4. März 1936 und 11. Jänner 1951 auf. Das Gericht fällte daraufhin den Beschluss, das für verfallen erklärte Vermögen zu erstatten.546 Für den Erwerb der Liegenschaften und die Geschäftsgebarung der arisierten Weingroßhandlung musste sich Herb nie vor Gericht rechtfertigen, auch nicht für seine nationalsozialistische Betätigung während der Zeit der NS-Diktatur in Öster­ reich. Dass sein Großvater geleugnet hatte, unrechtmäßig an Liegenschaften gelangt zu sein, die er in der Nachkriegszeit wieder verlor,547 empört Danzmayr  : »Das spricht halt auch wirklich für einen unglaublichen Feigling. Also ich habe mir gedacht, er ist ein verbohrter Nazi bis zum Schluss gewesen, der es halt nicht besser gewusst hat, aber wahrscheinlich war er einfach ein korrupter Sack.«548 Mit Beschluss des Landesgerichts Linz vom 8. Juni 1959 wurde das Urteil vom 11. Jänner 1951 getilgt.549 Danzmayrs Großmutter mütterlicherseits, Johanna Herb, verstarb am 18. September 1964.550 Am 8. Mai 1969 heiratete der Großvater standesamtlich in zweiter Ehe Rosa Gruber in Linz. Knapp drei Jahre später, am 28. April 1972,551 starb Franz Herb im Linzer Allgemeinen Krankenhaus. Gemäß den Angaben von Richard Danzmayr sei dieser unbeherrscht, jähzornig und bis zu seinem Tod nationalsozialistisch eingestellt gewesen  : »Der Großvater war sehr grantig anscheinend und bis zum Schluss sehr überzeugt von dieser nationalsozialistischen Idee.«552 Als Todesursache wurde Bauchspeicheldrüsen-Entzündung angeführt, als letzte Wohnadresse Leonfeldnerstraße 17 in Linz.553 3.6.4 Durchbrechen des Schweigens Danzmayr, der 1975 geborene Enkelsohn von Franz Herb, habe als Schüler begonnen, Fragen zu stellen  : »Ich glaube, das war so in Volksschule und Gymnasium, wie wir das durchgenommen haben. Das muss eh 1988 gewesen sein, 38/88 war so viel Gedenken, da habe ich dann ein bisschen, da ist auch in der Schule gefragt worden, wie das mit den 546 Siehe Beschluss LG Linz, datiert 9.10.1956, OÖLA, VgVr 1277/47. 547 Mitte der 1950er-Jahre schien als Wohnadresse noch Parzhofstraße 26 auf, siehe Bundeskanzleramt an Franz Herb, datiert 4.1.1955, NS-Registrierungsakt Urfahr, Franz Herb, Archiv Stadt Linz  ; ab 9.6.1960 war Herb in der Strabergerstraße 13 in Linz gemeldet, ab 4.6.1969 in der Leonfeldnerstraße 17 in Linz, siehe Meldekartei Franz Herb, Archiv Stadt Linz. 548 Interview mit Richard Danzmayr, S. 13. 549 Siehe Urteil LG Linz als Volksgericht, datiert 11.1.1951, OÖLA, VgVr 1277/47. 550 Siehe Pfarrfriedhof Urfahr, Sektor 5, Grab 6027. 551 Siehe ebd.  ; siehe Taufbuch 1904/141 Pfarre Breitenfeld, Erzdiözese Wien, URL  : https  ://data.matri cula-online.eu/de/oesterreich/wien/08-breitenfeld/01-07/?pg=144 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 552 Interview mit Richard Danzmayr, S. 1. 553 Siehe Sterbe-Zweitbuch 1972, 1511/72, Archiv Stadt Linz.

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Großeltern ist. Da habe ich das erste Mal so ein bisschen nachgefragt, im Gymnasium dann ein bisschen genauer, glaube ich, wie wir es auch in Geschichte durchgemacht haben. […] Also als Schüler ist ganz wenig gekommen, und wir haben halt dann immer mehr nachgefragt, und im Lauf der Jahre, vor allem auch bei Familienfeiern immer wieder einmal gefragt, durchaus provokativ das Ganze, aber da ist immer wieder ein bisschen etwas. Und einiges haben wir selber uns zusammengereimt oder halt nachgefragt.«554 Die Vorstellung, die Richard Danzmayr von seinem Großvater hatte, war unter anderem geprägt von einem Foto  : »Es hat auch eine Zeit lang ein großes Bild gegeben, das bei uns gehängt ist, also mit Uniform, ich glaube, es war eine Wehrmachtsuniform. Und sonst nichts. Ein Foto habe ich einmal gesehen, wo er meine älteste Schwester an der Hand hat, da war er schon relativ alt und dick, das kann ich mich noch erinnern, aber es ist nirgends eines aufgestellt gewesen oder so.«555 Innerhalb von Danzmayrs Herkunftsfamilie sei Franz Herbs nationalsozialistische Vergangenheit kaum offen thematisiert worden, auch knapp 50 Jahre nach dessen Tod nicht  : »Also, es gibt schon immer wieder ein bisschen Aufflackern davon. Es ist auf jeden Fall ein schambesetztes Thema, es wird extrem komisch damit umgegangen.«556 Richard Danzmayr berichtet, seiner Mutter wiederholt Fragen über deren Vater gestellt zu haben  : »Ja, sie hat schon auf Nachfragen gesagt, dass er ein Nazi war und dass er halt vorher beim Heer war. […] Aber recht darüber reden mag sie nicht. […] Ich glaube, es ist ihr extrem unangenehm.«557 Von sich aus habe die Mutter nichts über ihren Vater erzählt  : »Nein, gar nichts, also, da ist nichts gekommen.«558 Von den beiden Schwestern und dem Bruder seiner Mutter habe er ebenfalls kaum Informationen erhalten  : »Und alle Fragen sind irgendwie komisch beantwortet worden oder halt ganz wenig dazu gesagt worden, schon er war beim Heer und nachher auch bei der Polizei, ja auf Nachfrage auch Polizeichef, aber ich meine, muss man ja etwas mitgekriegt haben. Meine Tanten sind beide älter, mit meinem Onkel habe ich nie darüber geredet, aber die waren auch eher sehr ausweichend.«559 Dass innerhalb der Familie so wenig darüber gesprochen worden war, führt Richard Danzmayr darauf zurück, dass dieses Thema seiner Mutter und deren Geschwistern unangenehm gewesen sein könnte  : »Einerseits glaube ich schon auch, weil man es totschweigen will. Über unangenehme Familiengeschichten wird sowieso nirgends gerne geredet, und die Familie ist auch nicht sehr offen. Aber ich denke mir schon, dass Kinder von Nazis sein vielleicht nicht das Angenehmste

554 Interview mit Richard Danzmayr, S. 3. 555 Ebd., S. 7. 556 Ebd., S. 1. 557 Ebd., S. 1-7. 558 Ebd., S. 1. 559 Ebd., S. 2.

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war.«560 Danzmayr ortet bei seiner Mutter nicht nur Scham  : »Also manchmal, dieses mit Polizeichef oder hoch, das hat sie schon, also einerseits etwas Schambesetztes, aber schon so auch ein gewisser, Stolz ist es nicht, glaube ich, aber so in die Richtung schon, irgendwie mit Ansehen oder so verbunden, so ist es mir vorgekommen damals. Es hat keiner gesagt, er war stolz auf ihn oder dass er da so ein Obernazi war, aber das war schon irgendwie komisch. Also auch nicht klar verteufelt oder so, sondern schon irgendwie komisch.«561 Danzmayr sprach in der Folge mit einem befreundeten Historiker und Archivleiter, »aber das ist dann ein bisschen im Sand verlaufen. […] Ich meine, es ist jetzt auch nicht das Allerwichtigste für mich, aber es wäre halt schon schön gewesen irgendwie, da eine klare Geschichte zu haben.«562 Seine ältere Schwester habe sich »da nicht so interessiert, aber die Susi, die mittlere Schwester, hat da schon auch öfter einmal nachgefragt und so, aber es ist relativ wenig dabei herausgekommen. In einem Archiv war sie sicher auch nicht.«563 Erst im Lauf der Jahre erfuhr Richard Danzmayr, dass sein Großvater mütterlicherseits ein hochrangiger Nationalsozialist gewesen war. Dies zu wissen sei nicht angenehm für ihn gewesen  : »Ja, einerseits schon unangenehm. Natürlich habe ich mich nicht sehr schuldig gefühlt, aber es ist irgendwie so eine komische Situation, wenn man gerade von diesem ganzen Grauen und diesen unglaublich wahnsinnigen Ideen, die mir schon auch wirklich als junger Schüler völlig fremd waren, und ich war da auch nie in irgendeiner rechten Ecke daheim, sondern eher immer links orientiert. Ich habe mir gedacht, das ist schon schräg. Und ich habe es richtig schade gefunden, mit dem nicht mehr reden zu können. Das hätte mich schon sehr interessiert. Also es war schon bei unseren Familienfesten immer auch von uns, von meiner Schwester und von mir vor allem, auch wichtig, noch mit Leuten zu reden, die das irgendwie erlebt haben oder die so ein bisschen etwas erzählen können zumindest. Wobei da nicht so viel gekommen ist. Und das wäre schon spannend gewesen für mich, aber, ja, das hat einen grauslichen Beigeschmack und einen komischen.«564 Auf das Leben und Denken des Enkelsohns, der Psychologie studiert hat, habe das Wissen um die nationalsozialistische Vergangenheit des Großvaters keinen großen Einfluss gehabt  : »In Wahrheit relativ wenig. Also ich denke mir, was schon so ein Thema ist, aber das weiß man von Ausbildungen und so, dass ich denke, es ist wichtig, über viele Sachen offen zu reden und umzugehen damit. Was ich sehr spannend gefunden habe, ist diese einseitige Sichtweise, und natürlich jetzt, wo man mehr In560 Interview mit Richard Danzmayr, S. 5 ff. 561 Ebd., S. 7 f. 562 Ebd., S. 5. 563 Ebd. 564 Ebd.

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formationszugang hat, den auch nutzen zu können.«565 Für das Schweigen in seiner Herkunftsfamilie ortet Danzmayr auch gesellschaftliche Ursachen  : »Es ist ja sowieso auch der Umgang in Österreich damit ein ziemlich verlogener, totgeschwiegener, auch mit den ganzen Restitutionen, es ist ja eh ein völliger Wahnsinn in Wahrheit. Ich glaube, dass da in Deutschland deutlich besser umgegangen worden ist. […] Das Thema ist insgesamt so arg, dass es totgeschwiegen wird.«566

3.7 Martin Wähler  : »Zwei Versionen einer Geschichte« 567 Der 1992 geborene deutsche Journalist und Politiker der Partei »Die Linke«, Martin Wähler, veröffentlichte 2018 in der Wochenzeitung »Die Zeit« einen Artikel über die Nachforschungen, die er über seinen Urgroßonkel Kurt Eilers angestellt hatte  : »Die NS-Geschichte meines Urgroßonkels wurde in meiner Familie jahrelang verschwiegen.«568 In der Familienchronik, die Eilers’ Mutter verfasst hatte, war Wähler auf den von der SS verwendeten Wahlspruch »Meine Ehre heißt Treue« gestoßen. Damit war in dieser Chronik ein Bericht über den Tod von Kurt Eilers’ Vater überschrieben. Martin Wähler hatte eigenen Angaben zufolge von seiner Mutter und anderen Familienmitgliedern bis zu diesem Zeitpunkt lediglich zu hören bekommen, dass der Urgroßonkel Mitglied der NSDAP gewesen sei und am Krieg teilgenommen habe  : »Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges sah Kurt die Sinnlosigkeit des Krieges ein und begab sich von vorderster Front über Wiese, Stock und Stein zurück nach Varel ins Friesland. Davor war er zwar in der NSDAP, aber so sei es damals eben gewesen. Das ist die Geschichte, wie sie in meiner Familie kursiert und von vielen Verwandten erzählt wird.«569 In Wählers Herkunftsfamilie sei darüber hinaus berichtet worden, dass sein Urgroßonkel über die Zeit des Nationalsozialismus und die Geschehnisse, in die dieser während des Zweiten Weltkriegs involviert gewesen war, »nie wirklich gesprochen«570 hätte. Erste Hinweise fanden sich in der Familienchronik  : »In den Aufzeichnungen werden seine Beziehungen zu friesischen NSDAP-Funktionären beschrieben. Dort steht auch, er sei schon 1930 in die Partei von Adolf Hitler eingetreten. Drei Jahre später, bei der Machtergreifung der Nazis, war Kurt 23 […]. Was ich in der Familienchronik las, klingt für mich nach einem überzeugten Nazi.

565 Interview mit Richard Danzmayr, S. 8. 566 Ebd., S. 13. 567 Wähler, Mein Onkel Kurt, der Nazi. 568 Ebd. 569 Ebd. 570 Ebd.

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Jahrelang trug ich diesen Verdacht mit mir herum. […] Weil mich die Geschichte des Mitläufers nicht überzeugte, ließ ich mir im Landesarchiv Niedersachsen in Oldenburg die Entnazifizierungsakte von Kurt geben.«571 Im Lauf der Archivrecherchen fand Martin Wähler gemäß seinen Angaben he­ raus, dass Kurt Eilers als Jugendlicher dem paramilitärischen Verband »Stahlhelm« sowie im Alter von 20 Jahren der NSDAP beigetreten war, 1935 in der »Gauschulungsburg« Weidtmansches Schlösschen im Koblenzer Stadtteil Metternich seine weltanschaulich-politische Ausrichtung geschärft und 1939 im niedersächsischen Oldenburg eine Ausbildung zum Artilleristen absolviert hatte  : »Ich entschied mich, weiter zu recherchieren und schaute mir neben der Familienchronik noch einmal seine Entnazifizierungsakte an. Laut Chronik war Kurt ein gefragter Funktionär der NSDAP-Kreisleitung in Friesland. Er kümmerte sich um technische Abläufe, war Schulungsredner für ›weltanschauliche Fragen‹. 1939 heiratete er, mit dabei waren 50 wichtige ›Parteigenossen‹. 1940 feierte er Silvester mit NSDAP-Kadern und vielen Offizieren der Luftwaffe. Im selben Jahr wurde er außerdem noch Ortsgruppenleiter der NSDAP in Varel. Von nun an trat er bei öffentlichen Terminen auf und hielt Reden. Er war auch dafür zuständig, den Behörden Juden und weitere ›Staatsfeinde‹ zu melden.«572 Für Wähler sei es im Zuge der Nachforschungen immer offensichtlicher geworden, dass sein Urgroßonkel ein »Nazileben«573 geführt hatte  : »1940 wurde Ostfriesland als ›judenfrei‹ erklärt, 1942 die letzten Juden aus Varel deportiert. Ein Arbeitslager für polnische, französische und später sowjetische Kriegsgefangene in der Nähe von Varel wurde ebenfalls 1942 abgebaut. Aus diesem setzte Kurt Gefangene zum Straßenbau ein. Hier kamen 23 Menschen zu Tode. Davon wurden zwölf erschossen. […] Dass Kurt als Ortsgruppenleiter und Kreisamtsleiter für Technik der NSDAP von all dem nichts gewusst haben will, ist mehr als unwahrscheinlich. Juristisch mag die Beweislage dünn sein, die Geschehnisse sind eh lange verjährt. Menschlich ist es für mich aber eindeutig  : Kurt beteiligte sich aktiv an der Beseitigung der jüdischen Gemeinde in Varel.«574 Kurt Eilers zählte auch zu jener Gruppe von Personen, die sich nach Kriegsende für die Brandstiftung an der Synagoge von Varel im Landkreis Friesland verantworten mussten. Das Gebäude war in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 während des vom NS-Regime gesteuerten Novemberpogroms zerstört worden  : »1948 begann der Prozess zum Synagogenbrand. Kurt gehörte zu den 18 Verdächtigen. In den Akten gibt er an, hierzu nichts zu wissen. Doch schon damals, kurz nach Kriegsende, wird 571 Wähler, Mein Onkel Kurt, der Nazi. 572 Ebd. 573 Ebd. 574 Ebd.

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Kurts angebliches Unwissen von der Polizei als Deckungsversuch gedeutet.«575 Während der Recherchen tauchte ein Vermerk jenes Kriminalbeamten auf, der für die Ermittlungen zuständig gewesen war  : »Dass der zur Sache gehörte Kurt Eilers nicht wissen will, von wem seinerzeit in der Pogromnacht die Verhaftung der jüdischen Bevölkerung vorgenommen wurde, ist meines Erachtens als völlig unglaubwürdig hinzunehmen. Offenbar will er seine alten Parteigenossen nicht preisgeben.«576 Auch die Angaben in dem Fragebogen, den Kurt Eilers auf Anordnung der britischen Besatzungsmacht abgeben musste, hätten keinerlei Hinweise auf eine Beteiligung an der Verfolgung, Ausbeutung und Verschleppung der jüdischen Bevölkerung in der Stadt Varel enthalten  : »Von all dem wollte er 1948 beim Ausfüllen seines Entnazifizierungsbogens nichts wissen. Er sei lediglich als kommissarischer Ortsgruppenleiter eingesetzt worden, habe nur technische Anfragen bearbeitet, heißt es dort. Außerdem behauptete er, dass es vor 1942 keinen antisemitischen Terror in Varel gab. Dem damaligen Schwurgericht beteuerte er, dass in seiner Ortsgruppe keine Fremdarbeiter beschäftigt waren. Er verriet nicht, dass er sie laut Familienchronik tatsächlich als Arbeiter auf einer Straßenbaustelle außerhalb von Varel einsetzte. Kurt wusch sich rein. Nur wegen seiner lückenhaften Angaben wurde er später lediglich als Mitläufer eingestuft und konnte so in den Fünfzigern seine Karriere fortsetzen.«577 Zu einer Verurteilung kam es nicht, wie die Nachforschungen ergaben  : »Vor den eingesetzten Schwurgerichten war es oft leicht, sich als Unschuldiger darzustellen. Das beweisen nicht nur die vielen ehemaligen Nazifunktionäre, die in den Fünfzigern wieder Karriere machten, das beweist auch mein Urgroßonkel Kurt. Nach dem Krieg arbeitete er weiter in guter Stellung als Kulturbaumeister.«578 Das Bild von Kurt Eilers, das Martin Wähler durch die Beschäftigung mit dessen nationalsozialistischer Vergangenheit erhielt, unterschied sich von dem, das davor innerhalb der Familie vermittelt worden war, auch wenn nicht alle Fragen beantwortet werden konnten  : »Ich stelle mir meinen Urgroßonkel vor, wie er als langer blonder Kerl in Uniform Menschen abführt. Vielleicht war er nicht so leichtfertig, sich in aller Öffentlichkeit als Täter zu zeigen. Vielleicht gehörte er eher zu den Schreibtischtätern, zog die Strippen, kümmerte sich um technische Fragen, besorgte das Benzin, bestimmte, wohin die Gefangenen kommen. Wie er es tat, bleibt letztlich unwichtig. Fest steht für mich, dass er sich mitschuldig gemacht hat am größten Verbrechen der Menschheit.«579 575 Wähler, Mein Onkel Kurt, der Nazi. 576 Ebd. 577 Ebd. 578 Ebd. 579 Ebd.

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In seinem Zeitungsartikel beschreibt Wähler auch, wie er sich gedanklich mit der Diskrepanz zwischen der bekannten Version der Familiengeschichte und jener, über die geschwiegen worden war, beschäftigt hatte  : »Lange wusste ich nicht, wie ich mit den Informationen aus der Entnazifizierungsakte und aus der Familienchronik umgehen soll. Ich hatte Zweifel, da ich nicht sicher war, ob ich den Dokumenten oder meiner Familie glauben soll.«580 Er besuchte seine in Varel lebenden Verwandten, um ihnen die Rechercheergebnisse mitzuteilen und noch weitere Details über das Leben sowie die Karriere seines Urgroßonkels während der nationalsozialistischen Diktatur herauszufinden. Bei diesem Besuch habe er sich jedoch nicht dazu überwinden können, »über den wahren Kurt zu sprechen. Mir war es schlicht selbst zu unangenehm, über Kurt in aller Klarheit zu berichten. Und ich war mir nicht mehr sicher, ob sich für meinen Onkel oder für meine Tante etwas ändern würde, wenn ich ihr Bild von Kurt änderte.«581 Martin Wähler habe in der Folge den Entschluss gefasst, die Geschichte seines Urgroßonkels Kurt Eilers aufzuschreiben und zu veröffentlichen  : »Dieser Text ist keine Anklage meiner Familie. Er ist eine Beschreibung eines Beispiels. Es ist nach wie vor wichtig, unsere Vergangenheit kritisch zu thematisieren, auch wenn das im Privaten viel schwerer sein kann als anderswo, wie ich mittlerweile selbst weiß.«582 Innerhalb seiner Herkunftsfamilie würden seither zwei Versionen der Geschichte existieren  : »Die eine besagt, Kurt war nur ein Mitläufer. Die andere sagt, Kurt war ein Täter. Die erste Version wurde in meiner Familie ersponnen und weitererzählt, jahrzehntelang. Die zweite von mir herausgefunden.«583

3.8 M2  : »Da hat es mir einen Stich gegeben« 584 Mitte der 1980er-Jahre erhielt der im ersten Quartal 1953 in Linz geborene M2,585 der im zweiten Quartal 2021 verstorben ist, von einer der Exfrauen seines Vaters ein Kuvert, das Fotos, die in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre aufgenommen worden waren, sowie verschiedene Dokumente enthielt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er lediglich eine Aufnahme aus dem Jahr 1952 gekannt, auf der sein Vater abgebildet ist. Als M2 ein Kleinkind war, hatten sich seine Eltern scheiden lassen. In den darauffolgenden Jahren war der Vater nach Wien übersiedelt. Der Kontakt zwischen ihnen sei daraufhin abgerissen. Zur Überraschung von M2 trägt sein Vater, der 1925 zur Welt 580 Wähler, Mein Onkel Kurt, der Nazi. 581 Ebd. 582 Ebd. 583 Ebd. 584 Interview mit M2, Transkript S. 15. 585 M2 und seine Tochter W5 machten eine Anonymisierung der Daten, die vom Verfasser vorgenommen wurde, zur Voraussetzung, ein Interview zu geben.

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gekommen war, auf mehreren der Aufnahmen eine Uniform oder Uniformteile  : »Meine Mutter hat immer gesagt, der Papa war nicht im Krieg, weil ich habe gefragt als Bub.«586 Auf den Kragenspiegeln der Uniform fanden sich Totenkopf-Symbole  : »Da hat es mir einen Stich gegeben, habe ich mir gedacht, das gibt es ja nicht, war der jetzt bei der SS oder was  ?«587 M2 begann daraufhin, Nachforschungen anzustellen  : »Das hat mich schon lang beschäftigt.«588 Ein Historiker lieferte Jahre später erste Hinweise auf eine mögliche Zugehörigkeit des Vaters von M2 zur Panzergrenadier-Division »Großdeutschland«. Diese war Teil der Deutschen Wehrmacht gewesen und nicht der SS  : »Für mich war es schon ein bisschen beruhigender, dass ich gewusst habe, er war nicht bei der Wahnsinnsschwadron dabei. Das war schon einmal eine Erleichterung.«589 W5, die im zweiten Quartal 1976 geborene Tochter von M2, war bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls davon ausgegangen, dass ihr Großvater väterlicherseits Mitglied der SS-Totenkopfverbände gewesen war. Diese hatten am Kragenspiegel ebenfalls ein Totenkopf-Symbol getragen. Warum die Mutter von M2, die 1998 starb, ihrem Sohn erzählt hatte, der Vater habe nicht am Zweiten Weltkrieg teilgenommen, konnte M2 nicht klären  : »Ich habe auch in der Sterbezeit, wie sie da bei uns gepflegt worden ist noch daheim, sehr viel geredet auch über ihn, was halt da noch so herausgekommen ist. Aber viel ist da nicht mehr gekommen. Da war sie auch schon wirklich sterbenskrank.«590 Bis auf die Aufzeichnungen, die in Berlin im deutschen Bundesarchiv aufbewahrt werden, waren kaum Quellen zu finden, die Auskunft über die Einsätze des Vaters von M2 während des Zweiten Weltkriegs geben. Aufgrund der Quellenlage konnte daher lediglich ein biografisches Fragment erstellt werden. 3.8.1 Zwischenkriegszeit und Teilnahme am Zweiten Weltkrieg Bei den Großeltern mütterlicherseits von M2 handelt es sich um einen im ersten Quartal 1890 im Mühlviertel geborenen »Zimmermann u. Häusler«591 und seine aus dem 18. Bezirk in Wien stammende Gattin, die im zweiten Quartal 1897 auf die Welt gekommen und in einer Ortschaft im Süden der Tschechoslowakischen Repu­blik »bedienstet«592 gewesen war. Die beiden heirateten im zweiten Quartal 1920 in einer römisch-katholischen Pfarrkirche in Linz. Die Großeltern väterlicherseits, ein im zweiten Quartal 1897 in Linz geborener Gendarm und dessen Ehefrau, die im vierten 586 Interview mit M2, S. 2. 587 Ebd., S. 15. 588 Ebd., S. 19. 589 Ebd., S. 19 f. 590 Ebd., S. 29. 591 Trauungsbuch Pfarre Linz, datiert 2. Quartal 1920. 592 Ebd.

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Quartal 1899 ebenfalls in Linz auf die Welt gekommen war, ließen sich im dritten Quartal 1920 in einer anderen Linzer Pfarrkirche trauen. Ein römisch-katholischer Katechet bekannte sich 1938 dazu, der leibliche Vater des Gendarmen zu sein.593 Die Mutter von M2 wurde im dritten Quartal 1924 in einer Gemeinde im Mühlviertel geboren, der Vater, der drei Schwestern hatte, im vierten Quartal 1925 in Linz. Dieser besuchte eine Linzer Volksschule und ein Gymnasium. Aufgrund der schlechten Schulnoten, die im Jahreszeugnis der vierten Klasse Gymnasium dokumentiert sind, kam es nicht zum Aufstieg in die fünfte Klasse. Lediglich in den Fächern »Turnen« und »Erdkunde« wurde seine Leistung mit »befriedigend« beurteilt. Auf der zweiten Seite des Zeugnisses findet sich ein Stempelaufdruck, mit dem die Beendigung des Schulverhältnisses vermerkt wurde  : »Der Schüler hat seinen Abgang von der Anstalt ordnungsgemäß gemeldet  ; gegen seine Aufnahme an einer anderen Anstalt ist nichts einzuwenden.«594 Ohne einen Abschluss gemacht zu haben, verließ der Vater von M2 die Schule  : »Er ist ins Gymnasium gegangen, das weiß ich, und hat […] es geschmissen, und wollte dann Förster werden und da haben sie ihn aber anscheinend nicht genommen, und dann hat er sich aus Protest zum Heer freiwillig gemeldet, das habe ich auch so mitbekommen irgendwie.«595 Auf der Rückseite eines Fotos, das den Vater von M2 in Zivilkleidung neben einem Uniformierten zeigt, wurde handschriftlich vermerkt  : »Ja schön war die Zeit damals als wir die 3 Wochen beisammen waren, ich glaube so eine schöne Zeit kommt lange nicht mehr. Dein bester Freund Fritzi«.596 Die Nachricht trägt das Datum vom 12. Juni 1942. Im vierten Quartal 1942 wurde der Vater von M2, der zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt war, vom Wehrbezirkskommando Ried im Innkreis zur Wehrmacht einberufen. Als Diensteintrittsdatum scheint ein Tag sechs Wochen vor seinem 17. Geburtstag auf. Im brandenburgischen Cottbus erhielt er eine Ausbildung zum »Kradschützen«597 beim Grenadierersatzregiment »Großdeutschland«. Bei diesem Regiment war der Vater von M2 zu Beginn des ersten Quartals 1943 als Mitglied der fünften Kompanie stationiert. Im Jänner und Februar 1942 befand er sich sechseinhalb Wochen lang wegen einer nicht näher bezeichneten Erkrankung im Reservelazarett 101 in Cottbus.598 Aus den Truppenmeldungen, die erhalten geblieben sind, geht hervor, dass der Vater von M2 Ende des ersten Quartals 1943 der vierten Kompanie des Feldersatz-

593 Bestätigung zum Nachweis der arischen Abstammung, datiert 4. Quartal 1938, Eigentum von M2. 594 Jahreszeugnis Schuljahr 1939/40, datiert 3. Quartal 1940, Eigentum von M2. 595 Interview mit M2, S. 6. 596 Foto Vater von M2 und Fritzi, datiert 12.6.1942, Eigentum von M2. 597 Auf Motorrädern mit Beiwagen eingesetzte Verbände. 598 Siehe Deutsche Dienststelle an Verfasser, datiert 15.2.2018, Eigentum des Verfassers.

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bataillons »Großdeutschland« angehörte. Dreieinhalb Wochen später, zu Beginn des zweiten Quartals 1943, war er der ersten Kompanie der schweren Panzeraufklärungsabteilung »Großdeutschland« zugehörig, die zu diesem Zeitpunkt in der Ukra­ ine eingesetzt war und an den Kampfhandlungen rund um die Großstadt Charkiw beteiligt war. Als Dienstgrad ist »Schütze« angeführt.599 Im zweiten Quartal 1944 wurde ihm »auf Grund seiner am 7.5.1944 erlittenen einmaligen Beschädigung das Verwundetenabzeichen in Schwarz verliehen«.600 Der Vater von M2 gehörte zu diesem Zeitpunkt der ersten Schwadron der Panzeraufklärungsabteilung »Großdeutschland« an. Sein Dienstgrad ist mit »Gefreiter« angegeben. Viereinhalb Wochen später wurde er mit dem »Panzerkampfabzeichen« in Bronze ausgezeichnet. Auf einem undatierten Foto, das den Vater von M2 in Uniform auf einem Sessel sitzend zeigt, sind sowohl auf dem linken als auch dem rechten Kragenspiegel Totenkopf-Symbole zu erkennen, wie sie in den Panzerverbänden der Wehrmacht Verwendung fanden  : »Kragenpatten schwarz mit Totenkopf aus Aluminium.«601 Über den Verbleib des Vaters von M2 während der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs finden sich in den zur Verfügung stehenden Quellen keine Angaben. Eine der Exfrauen seines Vaters, mit der M2 Mitte der 1980er-Jahre in Kontakt getreten war, habe ihm jedoch erzählt, dass dieser in russische Kriegsgefangenschaft geraten sei  : »Was ich nämlich von der […] weiß, und da habe ich natürlich keine Beweise dafür, aber sie sagt, er war in der Ukraine angeblich eingesetzt, also in Richtung Russenfront, und er ist gefangen genommen worden von den Russen und ist dann mit zwei Kollegen aus der Gefangenschaft abgerissen und hat sich von Russland oder von der Ukraine durchgeschlagen bis nach Deutschland.«602 Am 10. August 1945 wurde der Vater von M2 vom 259. US-Infanterieregiment, das zur 65. Infanteriedivision gehörte, aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Soldaten dieser Division hatten am 5. Mai 1945 die Stadt Linz besetzt. Als Zivilberuf scheint auf dem Entlassungsschein »Gendarmerieanwärter« auf, als Wohnanschrift eine Adresse im Bezirk Linz-Land. Auf dem Schein findet sich auch ein ärztliches Attest  : Darin werden eine »Bombensplitterverletzung des linken Oberschenkels«,603 eine »Versteifung des Endgliedes des linken Mittelfingers«604 und eine entzündliche 599 Siehe Deutsche Dienststelle an Verfasser, datiert 15.2.2018, Eigentum des Verfassers. 600 Besitzzeugnis Verwundetenabzeichen in Schwarz, datiert 2. Quartal 1944, Eigentum von M2. 601 Hettler, Uniformen der Deutschen Wehrmacht, S. 49  ; siehe Johann Althaus, Warum Hitlers Panzermänner Totenköpfe trugen wie die SS. In  : Die Welt vom 15.6.2018, URL  : https  ://www.welt.de/ geschichte/zweiter-weltkrieg/article177598118/Uniformen-Hitlers-Panzersoldaten-trugen-Toten koepfe-wie-die-SS.html (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 602 Interview mit M2, S. 4. 603 Certificate of Discharge, datiert 10.8.1945, Eigentum von M2. 604 Ebd.

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Erkrankung des Magen-Darm-Trakts sowie ein Muttermal am Rücken, Narben nach einer »Leistenbruchsoperation beiderseits«605 und Narben am linken Oberschenkel angeführt. Der Großvater väterlicherseits war gemäß den Angaben von M2 »Gendarmerie-Major oder -Oberst«606 gewesen. Der Vater von M2 verrichtete sieben Monate lang Dienst bei der Gendarmerie. Im ersten Quartal 1946 wurde er »auf eigene Bitte mit Wirkung vom […] 1946«607 wieder entlassen. Zuletzt war er als Anwärter einem Gendarmerieposten im oberösterreichischen Zentralraum zugeteilt gewesen. Fünf Monate später trat der Vater von M2 erneut in den Dienst der Gendarmerie, den er jedoch nach einem Jahr und acht Monaten ein weiteres Mal quittierte  : »Das Dienstverhältnis des provisorischen Gendarmen Abb. 29  : Der Vater von M2 in Uniform mit Totenkopf am Kragenspiegel. […] des Gendarmeriepostens […] wird über eigene Bitte mit Wirkung vom […] 1948 wieder gelöst.«608 Vor dieser zweiten Entlassung hatte er einem Posten im Süden Oberösterreichs angehört. Als weitere Berufe wurden in die Meldekartei Forstanwärter, Hilfsarbeiter, Maschinenwärter und Betriebsschlosser eingetragen.609 Im ersten Quartal 1946 heiratete der Vater von M2 seine erste Ehefrau zum ersten Mal. Nach der Scheidung wurden die beiden im vierten Quartal 1949 erneut getraut.610 Im zweiten Quartal 1950 trat der Vater von M2 aus der katholischen Kirche aus. In den Jahren nach Kriegsende begegneten sich die Mutter von M2, die eine Schwesternschule besucht hatte, und der Vater in einem Naherholungsgebiet von Linz, das im angrenzenden Mühlviertel liegt  : »Das muss Anfang der 50er-Jahre gewesen sein, dass sich die beim Skifahren auf der Koglerau oben kennengelernt haben. 605 Certificate of Discharge, datiert 10.8.1945, Eigentum von M2. 606 Interview mit M2, S. 3. 607 Entlassungsbescheinigung Landes-Gendarmerie-Kommando OÖ, datiert 1. Quartal 1946, Eigentum von M2. 608 Ebd. 609 Siehe Meldekartei, Archiv der Stadt Linz. 610 Siehe Taufbuch Vater von M2.

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Weil sie war in Linz, sie war am Bahnhof im Restaurant angestellt.«611 Im dritten Quartal 1952 heirateten die Eltern von M2 in einem Standesamt im oberösterreichischen Zentralraum (siehe Abb. 30). Zur Mutter finden sich auf der Heiratsurkunde die Angaben »Verkäuferin« und »römisch-katholisch«, zum Vater »Maschinist« und »ohne religiöses Bekenntnis«. Als Wohnort der Großeltern von M2 mütterlicherseits ist eine Gemeinde im Mühlviertel angeführt, als Wohnort der Großeltern väterlicherseits eine Adresse in Linz.612 Der Vater von M2 brachte einen Sohn aus der Beziehung mit seiner ersten Gattin in die Ehe ein. M2 wurde als einziges gemeinsames Kind seiner Eltern im ersten Quartal 1953 geboren. Die Abb. 30  : Das Hochzeitsfoto der Eltern von M2. Ehegemeinschaft zerbrach nach wenigen Jahren  : »Ich war zweieinhalb Jahre alt, wie die auseinandergegangen sind. Er hat in der Voest gearbeitet und ich kann mich erinnern, er war einmal oder maximal zweimal im Elternhaus der Mutter und hat mir das Voest-Packerl gebracht. Da hat es immer zu Weihnachten ein mordsgroßes Packerl für die Kinder gegeben.«613 Nach der Scheidung heiratete der Vater von M2 im ersten Quartal 1956 eine Freundin seiner zweitjüngsten Schwester, die als Schauspielerin arbeitete. Er wurde Vater eines dritten Kindes, einer Tochter, ließ sich erneut scheiden, heiratete ein fünftes Mal im ersten Quartal 1958, war in Linz zuletzt in der Wohnung seiner Mutter gemeldet und übersiedelte im dritten Quartal 1970 nach Wien in den 13. Bezirk.614 M2 lebte nach der Scheidung bis ins Volksschulalter in jener Region im Mühlviertel, aus der seine Mutter stammte. Ein einziges Mal kam es noch zu einem Treffen zwischen ihm und seinem Vater in Linz. M2 besuchte zu dieser Zeit die Handelsakademie  : »Einmal habe ich ihn noch gesehen, da war ich 19 Jahre alt, da war ich gerade in meiner Hippiezeit. […] Und meine Mutter […] ist dann hinuntergefahren 611 Interview mit M2, S. 2. 612 Heiratskurkunde Eltern von M2, datiert 3. Quartal 1952, Eigentum von M2. 613 Interview mit M2, S. 9. 614 Siehe Meldekartei, Archiv der Stadt Linz.

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zu ihm und hat ihm gesagt was der Bub alles macht, […] und auf das hinauf ist er mit ihr dann heraufgefahren. […] Er hat sich nicht lange aufgehalten bei mir daheim. Er hat gesagt  : ›Ich habe meinen Zug um 12, gehen wir zu Fuß hinein, da haben wir Zeit zum Plaudern.‹ […] Es war ein gutes Gespräch. Er hat mich auch eingeladen, er hat gesagt  : ›Komm hinunter nach Wien, du bist jederzeit herzlich willkommen.‹ […] Mich haben andere Sachen mehr interessiert, ich weiß nicht, wieso ich das verabsäumt habe, heute tut es mir leid.«615 Im vierten Quartal 1999 starb der Vater von M2 im Alter von 74 Jahren in Wien. 3.8.2 Durchbrechen des Schweigens In den 1970er-Jahren machte M2 zunächst eine Lehre als Buchhändler und arbeitete anschließend in der Behindertenbetreuung. Nachdem er selbst Vater einer Tochter und eines Sohns geworden war, versuchte er, mit seinem in Wien lebenden Vater Kontakt aufzunehmen  : »Ich habe meinen Vater gesucht, jahrelang. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Ich habe auch Briefe geschrieben, ich habe alles zurückbekommen. Und die Kinder wollten immer wissen  : ›Da gibt es doch einen Opa in Wien, den wollen wir besuchen.‹ Und es ist alles im Sande verlaufen.«616 M2 kontaktierte daraufhin seine Halbschwester und deren Mutter, die in Linz lebten. Mitte der 1980er-Jahre bekam M2 von dieser Exfrau seines Vaters die Fotos und Dokumente überreicht, die er in einer Dose verwahrte  : »Ich habe ja von meiner Mutter nur ein Hochzeitsbild von meinem Vater gehabt, sonst waren von ihm keine Fotos da. Und durch die […], durch die Nachfolgerin meiner Mutter, habe ich dann haufenweise Bilder bekommen. […] Und da sehe ich auf einmal den Totenkopf da oben auf dem Revers. […] Da hat es mich gebeutelt.«617 M2 begann, Nachforschungen anzustellen  : »Ich habe dann natürlich zum Suchen angefangen. […] Das hat mich schon lang beschäftigt.«618 Die Mutter seiner Halbschwester berichtete ihm, dass der Vater in der Nachkriegszeit therapeutische Hilfe in Anspruch genommen habe  : »Die hat das mir erzählt, dass er in Psychotherapie war nach dem Krieg. Er hat dann irgendwann, ich weiß nicht, in den 50er-Jahren angefangen, Psychotherapie zu machen.«619 Mehrere Mitglieder der Herkunftsfamilie seiner aus dem Mühlviertel stammenden Mutter, die sieben Geschwister hatte, waren nationalsozialistisch eingestellt gewesen, erinnerte sich M2  : »Ich habe mit meiner Familie von der Mutterseite extreme 615 Interview mit M2, S. 10. 616 Ebd., S. 1. 617 Ebd., S. 19. 618 Ebd. 619 Ebd. S. 25.

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Schwierigkeiten gehabt, weil ich immer gegen den Hitler geredet habe und gesagt habe, das waren ja lauter Wahnsinnige.«620 Die Mutter arbeitete nach der Scheidung gemeinsam mit ihrer jüngsten Schwester in der von anderen Familienmitgliedern betriebenen Gastwirtschaft mit. Warum sie behauptet hatte, dass der Vater nicht am Zweiten Weltkrieg teilgenommen habe, konnte sich M2 nicht erklären  : »Wieso hätte sie das leugnen sollen, wenn die anderen alle dabei waren, und die haben kein Geheimnis daraus gemacht. Der Schorsch zum Beispiel von der Tante […] hat doch auf den Tisch gehaut, dass er bei der SS war.«621 Nach dem Tod seiner Mutter im Juli 1998 erkundigte sich M2 mehrmals bei dieser Tante über seinen Vater  : »Das ist die einzige Informantin, die ich momentan habe, die durch ihr hohes Alter jetzt ein bisschen aufmacht. […] Sie sagt  : ›Ich habe mit dem […] nicht so viel‹, oder sie verschweigen es einfach, ich habe keine Ahnung.«622 Über die Geschichte seiner Eltern sei generell nicht viel gesprochen worden  : »Die haben ja überhaupt allgemein nicht viel geredet über ihre Geschichten.«623 Auch W5, die 1976 geborene Tochter von M2, kann sich nicht daran erinnern, dass ihre Verwandten aus der Generation der Großeltern jemals darüber gesprochen hätten, was ihr Großvater väterlicherseits während des Zweiten Weltkriegs gemacht hat  : »Da ist so viel verschwiegen worden. […] Das ist totgeschwiegen worden.«624

3.9 Dietmar Weixler  : »Für mich war das ein großes Erschrecken« 625 Während seines Medizin-Studiums in Wien stieß der am 1. Jänner 1962 in Salzburg geborene Dietmar Weixler 1986 in einer studentischen Zeitschrift, die ihm mit der Post zugestellt worden war, auf einen Artikel über seinen am 31. März 1943 verstorbenen Urgroßvater Heinrich Reichel. Der aus Wels in Oberösterreich stammende Vater seiner Großmutter väterlicherseits hatte von 1914 bis 1942 als Professor für Hygiene an den Universitäten Wien und Graz gearbeitet. Bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts sei Reichel kaum Gegenstand historischer Forschung gewesen, wie die Historikerin Gudrun Exner 2004 feststellte  : »Als Mediziner und Forscher auf dem Gebiet der Hygiene ist er bis heute anerkannt.«626 In dieser Funktion hatte er »viele Abhandlungen über Arbeitshygiene, über gesundes Wohnen und über 620 Interview mit M2, S. 16. 621 Ebd., S. 8. 622 Ebd., S. 17. 623 Ebd., S. 26. 624 Interview mit W5, Transkript S. 5. 625 Interview mit Dietmar Weixler, Transkript S. 1. 626 Gudrun Exner, Eugenik in Österreich bis 1938. Heinrich Reichel, Olga Olberg und die Wiener Ge-

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Siedlungsfragen«627 veröffentlicht und war »dem Alkohol, dem Geburtenrückgang und der Ehescheu«628 entgegengetreten. Innerhalb der Großfamilie, die der Vater von neun Kindern begründet hatte, galt Heinrich Reichel als »Idealfigur«,629 erinnert sich Weixler  : »Er war die Referenz für wie man leben soll im weitesten Sinn, wie man wohnen soll, wie man sich ernähren soll, wie viele Kinder man haben soll, wie man mit Suchtmitteln umgeht und den ganzen Lebenskontext.«630 In der Zeitschrift aus dem Jahr 1986, in der »die nationalsozialistische Vergangenheit der Universität Wien«631 thematisiert wurde, war auch ein Foto des am 15. Oktober 1876 geborenen Hygienikers abgebildet  : »Und dann ist da so ein Text dort gestanden, sinngemäß wie  : ›Dr. Heinrich Reichel hat sich in der Nazizeit auch besonders hervorgetan.‹ […] Und das war für mich völlig unstimmig zu dem, was in der Familie über diesen Menschen gesagt worden ist. […] Für mich war das ein großes Erschrecken zunächst einmal […], Irritation, aber auch eine Wut darüber, dass so ein Teil vorenthalten worden ist.«632 Als »der bedeutendste Rassenhygieniker Österreichs in der Zwischenkriegszeit«633 und Gründungsmitglied der »Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene)«,634 die sich im Oktober 1924 »im völkisch/ deutsch-nationalen Umkreis«635 konstituiert hatte, habe Reichel dazu beigetragen, »die NS-Bevölkerungspolitik in die Tat umzusetzen«,636 wie Exner argumentiert. Zwei weitere der »über 80«637 Urenkel von Heinrich Reichel, der österreichische Künstler Friedemann Derschmidt und dessen Cousin Eckhart Derschmidt, starteten im Oktober 2010 ein »Aufarbeitungsexperiment«,638 an dem sich auch Weixler beteiligte. Sie richteten eine Internetplattform für die rund 350639 Mitglieder der »bekannsellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene). In  : Mackensen (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im »Dritten Reich«, S. 337. 627 Siehe Notiz. In  : Salzburger Zeitung vom 11.4.1943, S. 4. 628 Ebd. 629 Interview mit Dietmar Weixler, S. 3. 630 Ebd., S. 1. 631 Ebd. 632 Ebd. 633 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 337. 634 Siehe Wolfgang Neugebauer, Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege und die Universität Wien. In  : Gabriel/Ders. (Hg.), Vorreiter der Vernichtung  ?, S. 55. 635 Monika Löscher, Zur Rezeption eugenischen/rassenhygienischen Gedankengutes in Österreich bis 1934 unter besonderer Berücksichtigung Wiens, Dipl. Arb., Universität Wien 1999, S. 105. 636 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 341. 637 Friedemann Derschmidt, Der Reichel komplex – Intro. In  : Ders. (Hg.), Sag Du es Deinem Kinde  !, S. 10. 638 Klaus Schönberger, »and don’t give any information to the jews«. Reichel ziemlich komplex. In  : Derschmidt (Hg.), Sag Du es Deinem Kinde  ! S. 144. 639 Siehe Derschmidt, Der Reichel komplex – Intro, S. 11.

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ten oberösterreichischen Großfamilie«640 ein. Die Verwandtschaft wurde dazu aufgefordert, der Frage nachzugehen, ob »der Eugeniker Dr. Heinrich Reichel zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein ganz persönliches Vererbungsexperiment gestartet«641 hatte. Friedemann und Eckhart Derschmidt luden auf dem Blog zur Evaluierung dieses »genetischen Versuches«642 ein  : »Über die Jahre und nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie fand ich heraus, dass in der Großfamilie ein sehr komplexes Gespinst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generationen der Großeltern und Urgroßeltern gewoben worden war.«643 2015 stellte Friedemann Derschmidt das innerfamiliäre Experiment in einem Sammelband644 vor. Dietmar Weixler, Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin im Waldviertel in Niederösterreich, steuerte eines der umfangreichsten Kapitel645 bei. 3.9.1 Leben und Ansichten Reichels Heinrich Reichel gilt als einer der »zentralen Protagonisten der Rassenhygiene in der Zwischenkriegszeit in Wien und Graz«.646 Eine detailreiche Biografie zu verfassen, würde den Umfang dieser Forschungsarbeit sprengen.647 Als drittes Kind von Anton Reichel, »Doctor iuris, kk Notariatssubstitut«,648 und dessen Ehefrau Caroline wurde er am 15. Oktober 1876 im Haus Vorstadt 125 in Wels geboren. Seine Mutter stammte aus der Medizinerfamilie Rabl. Zwei Tage nach der Geburt empfing Reichel in der römisch-katholischen Vorstadtpfarrkirche das Sakrament der Taufe. Sein Großvater mütterlicherseits, der Arzt Carl Rabl, fungierte als Taufpate. Der 1874 geborene und 1944 verstorbene Grafiker Carl Anton Reichel war ein Bruder Heinrich Reichels. Sein Vater, der als Notar in Grieskirchen649 tätig war, verstarb 1884. Caroline Reichels Bruder Carl Rabl, Anatom in Prag, übernahm daraufhin die Vormundschaft 640 Derschmidt, Der Reichel komplex – Intro, S. 10. 641 Ebd., S. 11. 642 Ebd. 643 Ebd., S. 10. 644 Derschmidt (Hg.), Sag Du es Deinem Kinde  ! 645 Weixler, Arzt sein als Urenkel des Rassenhygienikers Heinrich Reichel. In  : Derschmidt (Hg.), Sag Du es Deinem Kinde  ! S. 60–87. 646 Thomas Mayer, »… daß die eigentliche österreichische Rassenhygiene in der Hauptsache das Werk Reichels ist«. Der (Rassen-)Hygieniker Heinrich Reichel (1876–1943) und seine Bedeutung für die eugenische Bewegung in Österreich. In  : Gabriel/Neugebauer (Hg.), Vorreiter der Vernichtung  ?, S. 65. 647 Für biografische Details siehe Mayer, »… daß die eigentliche österreichische Rassenhygiene …«, S. 65–98. 648 Taufbuch Vorstadtpfarre Wels 1876, URL  : https  ://data.matricula-online.eu/de/oesterreich/oberoes terreich/wels-st-josef-vorstadt/106%252F1876/?pg=14 (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 649 Siehe Notiz. In  : Salzburger Zeitung vom 11.4.1943, S. 4.

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für Heinrich Reichel. Dieser besuchte in Salzburg und Linz das Gymnasium und nahm im Wintersemester 1895 in Wien ein Medizinstudium auf, das ihn auch für jeweils ein Semester nach Prag und Heidelberg führte. Mit seiner Promotion am 12. Juni 1901650 schloss Reichel das Studium ab. Er engagierte sich ab Beginn des 20. Jahrhunderts gegen den Alkoholismus und leistete 1902 als Hilfsarzt Spitalsdienst im damaligen Kaiser-Franz-Josef-Spital in Wien.651 Ab Herbst 1903 arbeitete Heinrich Reichel am Institut für Hygiene der Universität Wien. Ein Studienaufenthalt führte ihn in den Jahren 1903 und 1904 nach Straßburg. 1905 wurde er Universitätsassistent, 1910 nach seiner HaAbb. 31  : Heinrich Reichel als junger Mediziner im Labor. bilitation Privatdozent. Spätestens bei der internationalen Hygieneausstellung 1911 in Dresden kam er erstmals mit der eugenischen Bewegung in Kontakt.652 Am 4. November 1913 hielt Reichel an der Universität Wien seinen ersten Vortrag über Rassenhygiene.653 Am 25. Jänner 1914 wurde er vom österreichischen Kaiser Franz Joseph zum unbesoldeten außerordentlichen Professor für Hygiene an der Universität Wien654 ernannt. Heinrich Reichel nahm am Ersten Weltkrieg teil, wurde »auf Kriegsdauer«655 als »k. u. k. Stabsarzt«656 eingesetzt und wirkte »als Hygieniker mit dem Aufgabenbereich der Seuchenbekämpfung am östlichen Kriegsschauplatz«657 in Galizien. 1917 wurde ihm das »Eiserne Kreuz 2. Klasse« verliehen, 1918 die »Allerhöchste 650 Siehe Scheiblechner, »… politisch ist er einwandfrei , S. 211. 651 Siehe Österreichische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (Bd. 9), Wien 1988, S. 29. 652 Siehe Mayer, »… daß die eigentliche österreichische Rassenhygiene …«, S. 69. 653 Siehe ebd., S. 71. 654 Siehe Notizen. In  : Wiener klinische Wochenschrift 27 (1914) 5, S. 194. 655 Militärärztliche Auszeichnungen und Ernennungen. In  : Wiener klinische Wochenschrift 30 (1914) 28, S. 1.251. 656 Heinrich Reichel, Die Männerstadt. Ein Beitrag zum Großstadt- und Familienproblem. In  : Wiener klinische Wochenschrift 31 (1918) 15. 657 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 338.

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belobende Anerkennung […] für vorzügliche und aufopferungsvolle Dienstleistung vor dem Feinde«.658 In einer 1918, im letzten Kriegsjahr, verfassten neunseitigen Schrift warnt Reichel vor den Auswirkungen der Landflucht auf die »Volksvermehrung«,659 sieht »die durch Blutaustausch verknüpfte Einheit auf einander angewiesener Men­ schen«660 auf einem Scheideweg und preist die auf dem Land lebende Familie als »Auf­zuchtsorganisation«661 an. Diese verspreche im Unterschied zu der in der Stadt lebenden Familie einen »quantitativ ausreichenden Ertrag an menschlichem Nach­ wuchs«.662 Während Heinrich Reichel beruflich in Wien und später in Graz tätig war, lebten seine Ehefrau Cäcilie, die er am 25. Februar 1906 geheiratet hatte, und die neun Kinder in Oberösterreich  : »Professor Reichel bewirtschaftete mit seiner Familie den Jägerhof bei Wels.«663 Zu Beginn der 1920er-Jahre forderte Dietmar Weixlers Urgroßvater von der Politik »zielbewußte ernste Maßregeln«664 ein, »um eine ausreichende und vollwertige Aufzucht«665 des »Volksnachwuchses«666 zu sichern. »Neben seiner wissenschaftlichen Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Hygiene und Bakteriologie wandte er in der Zwischenkriegszeit sein Interesse immer mehr den Fragen der Rassenhygiene und angrenzenden Wissensgebieten wie soziale Hygiene, Rassenbiologie, Familienforschung u. a. zu. […] Reichel war fest in der eugenischen Bewegung verwurzelt, hatte Verbindungen innerhalb Österreichs, aber auch nach Deutschland und international. Mit dem bekannten deutschen Rassenhygieniker Alfred Ploetz verband ihn eine Freundschaft. […] Von ebenso intensiven personellen Beziehungen zu Nazigrößen oder zu politischen Einrichtungen der Nationalsozialisten ab 1933 ist dagegen nichts bekannt.«667 Als taugliche Mittel zur »Ausschaltung Fortpflanzungsunwürdiger«668 sah Heinrich Reichel die »auf gewisse extreme Fälle, wie  : psychische Abnormitäten mit Neigung zu Sexualdelikten, Verbrechernaturen, Perverse«669 anwendbare Zwangssterilisierung, die »Zwangsasylierung« und die Einflussnahme auf die »Gattenwahl« an. 658 Militärärztliche Auszeichnungen und Ernennungen. In  : Wiener klinische Wochenschrift 34 (1918) 10, S. 436. 659 Reichel, Die Männerstadt, S. 1. 660 Ebd. 661 Ebd., S. 7. 662 Ebd., S. 9. 663 Notiz. In  : Salzburger Zeitung vom 11.4.1943, S. 4. 664 Heinrich Reichel, Zur Frage des gesundheitlichen Ehekonsenses. In  : Wiener klinische Wochenschrift 35 (1922) 12, S. 274. 665 Ebd. 666 Ebd. 667 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 338. 668 Reichel, Zur Frage des gesundheitlichen Ehekonsenses, S. 274. 669 Ebd.

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Als Grundlage für diese »Gattenwahl« propagierte er ein amtsärztliches Gesundheitszeugnis, das vor der Eheschließung einzuholen sei. Ab 1923 war Reichel für das Volksgesundheitsamt des Bundesministeriums für soziale Verwaltung tätig. 1924 wurde er vom Ministerium als ordentliches Mitglied des Landessanitätsrats der Bundeshauptstadt Wien wiederernannt.670 Diesem Gremium gehörte er seit März 1921 an. Ab 1925 leitete Heinrich Reichel die sozialmedizinische Abteilung des Hygiene-Instituts der Universität Wien.671 Weixlers Urgroßvater ersetzte »die in Österreich etablierte Sozialhygiene durch die Rassenhygiene, deren Beitrag zur ideologischen Vorbereitung rassenhygienischer Praxis unter der NSDiktatur nicht vernachlässigt werden kann.«672 Von 9. Dezember 1924 bis 1. Februar 1942 war er in der Lindengasse 44 im siebten Bezirk in Wien als Haupt-Wohnpartei polizeilich gemeldet, davor als Untermieter in derselben Wohnung, danach in der Hilmgasse 6 in Graz.673 Seine am 11. Juni 1908 geborene Tochter Hertha wurde ebenfalls auf dem Meldezettel eingetragen. Darauf findet sich auch der Vermerk, dass die Gattin separat registriert war.674 Ab Mai 1933 arbeitete Reichel in Graz als ordentlicher Professor für Hygiene und ab Juni 1934 auch als leitender Spitalshygieniker.675 Heinrich Reichel war auch eines der 137 Gründungsmitglieder sowie zweiter Vorsitzender der eugenischen Vereinigung »Wiener Gesellschaft für Rassenpflege (Rassenhygiene)«. Diese bestand ab Herbst 1924, pflegte »enge Kontakte zur NSDAP«676 und schloss sich 1935 klandestin als »Ortsgruppe Wien« der »Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene« an.677 Der 1927 gegründeten »Österreichischen Gesellschaft für Volksgesundheit« gehörte Reichel ebenfalls an, »deren kontinuierlichste Mitglieder und Autoren ihres Publikationsorgans – der Anatomieordinarius und Wohlfahrtspolitiker Julius Tandler, der Hygieneordinarius und Rassenhygieniker Heinrich Reichel und der Polizeipräsident Johannes Schober – auch die Zusammenhänge von Medizin und Politik ausarbeiteten.«678 Ab 1928 vertrat er Österreich im internationalen Verband eugenischer Organisationen.679 Reichel war mit einflussreichen Persönlichkeiten bekannt  : »Durch seine Kontakte zu bevölkerungspolitisch interessierten Politikern wie dem österreichischen Bundes670 Siehe Notizen. In  : Wiener klinische Wochenschrift 37 (1924) 13, S. 274. 671 Siehe Wolf, Eugenische Vernunft, S. 52. 672 Ebd., S. 139. 673 Siehe WStLA, historische Meldeunterlagen. 674 Siehe ebd. 675 Siehe Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, S. 29. 676 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 353. 677 Siehe ebd., S. 351  ; Neugebauer, Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege, S. 63. 678 Wolf, Eugenische Vernunft, S. 55. 679 Siehe Flamm, Die Geschichte der Staatsarzneikunde, S. 72.

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präsidenten Michael Hainisch […] sowie durch seine Aktivitäten in der Öffentlichkeit – die Abhaltung von Vorträgen und Kursen zum Thema Rassenhygiene sowie die Mitgliedschaft in rassenhygienischen Vereinigungen – gelang es ihm, Überzeugungsarbeit für eugenisches Gedankengut, unter anderem auch für die Umgestaltung gesellschaftlicher Einrichtungen im Sinne der Eugenik, zu leisten. Reichels eugenische Ansichten – die auf falschen Grundvoraussetzungen beruhten – waren differenziert und vor wissenschaftlichem Hintergrund ausgearbeitet, was sie umso überzeugender erscheinen ließ.«680 1932 erfolgte der Eintrag in die Liste der Sachverständigen für »Menschliche Erbbiologie«.681 Vor allem in den 1930er-Jahren verbreitete Heinrich Reichel seine eugenischen Ansichten auch vor einem Publikum, das über Fachkreise weit hinausging  : »Er hielt an der Universität Vorlesungen auch zum Thema Rassenhygiene für Juristen, Turnlehrer und Amtsärzte, und entfaltete eine rege Vortragstätigkeit in den verschiedenen wissenschaftlichen Gesellschaften. 1933 hielt er auch – in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Gesellschaft für Volksaufartung und Erbkunde und nach Billigung der zuständigen Unterrichtsbehörden – einen Vortrag über die Grundzüge der Bewahrung des Erbgutes und der richtigen Gattenwahl vor dem gesamten Jahrgang der Wiener Mittelschulabgänger beiderlei Geschlechts. […] Im Jahr 1930 wurden acht Vorträge zum Thema ›Grundlagen der Vererbungswissenschaft und Eugenik‹ in der Radio-Verkehrs-AG in der ›Stunde für Volksgesundheit‹ gesendet. […] Im Dritten Reich wurde er schließlich Sachverständiger von ›erbbiologischen Abstammungsgutachten‹ für das Reichssippenamt, die im Fall einer strittigen Vaterschaft erstellt wurden.«682 Seine Aufsätze über Eugenik und »Rassenpflege« erschienen in der »Wiener klinischen Wochenschrift«. Gudrun Exner stellt fest, dass Heinrich Reichel über ein »wissenschaftlich durchdachtes eugenisches Konzept«683 verfügt habe, das er in seinen Publikationen »im Detail«684 variierte  : »Reichel war von der immer bestehenden Gefahr einer möglichen Entartung des menschlichen Erbgutes überzeugt. Er hatte dabei die gesamte Menschheit im Auge. Im Zentrum von Reichels Aufmerksamkeit stand aber doch immer der Europäer, der Nordeuropäer, das deutsche Volk oder die österreichische Einwohnerschaft. Als schädliche Einflüsse auf das Erbgut nannte Reichel meist schädliche Umwelteinflüsse (Arbeitsgifte wie Blei, Genussgifte wie Alkohol, Infektionskrankheiten wie die Syphilis) oder genetische Faktoren wie

680 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 337 f. 681 Siehe Maria Teschler-Nicola, Der diagnostische Blick. Zur Geschichte der erbbiologischen und rassenkundlichen Gutachtertätigkeit in Österreich vor 1938. In  : Zeitgeschichte 30 (2003) 3, S. 141. 682 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 344. 683 Ebd., S. 339. 684 Ebd.

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Inzucht, übermäßige Rassenkreuzung, ungenügende Fortpflanzung der ›Erbgesunden‹ und zu starke Vermehrung der ›erblich Minderwertigen‹.«685 1936 wurde Heinrich Reichel für ein Studienjahr zum Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Graz gewählt. »Rassenfragen« hätten Reichel weniger interessiert  : »Hier nahm er den Standpunkt ein, dass ›Reinrassigkeit‹ auch beim Menschen im allgemeinen nicht so wünschenswert sei, wie man glauben könnte, und dass ein gewisses Maß an Rassenkreuzung ein Volk nur tüchtiger machen würde. Eine völlige Durchmischung von zwei Völkern – wie etwa den Nordeuropäern und den Juden – lehnte er allerdings ab. […] Er trat meist nicht für radikale Lösungen ein, lehnte noch im Jahr 1934 die Euthanasie und die Ausgrenzung von ›Halbjuden‹ ab und vertrat den Standpunkt, ein Arzt müsse im Zweifelsfall die Interessen des Einzelindividuums vor jenen der Allgemeinheit berücksichtigen. Er begrüßte aber die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, weil er hoffte, dass nun eine Bevölkerungspolitik auf eugenischer Grundlage möglich sei.«686 Die »Rassenhygiene« sah Dietmar Weixlers Urgroßvater nach der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland als »eine, wenn nicht die geistige Grundlage«687 der »deutschen Revolution«.688 Reichel, der zu diesem Zeitpunkt bereits ordentlicher Professor in Graz war, formulierte am 14. März 1934 in einem Vortrag, den er bei der Sitzung des oberösterreichischen Ärztevereins in Linz hielt, sieben Forderungen  : »1. Nichtmischung, 2. Bewahrung vor Keimschäden, 3. Ausmerzung, 4. Anreicherung und 5. Bevölkerungspolitik. […] 6. Belehrung und 7. Forschung.«689 Er sprach von einer wachsenden »Berührung der Völker in den letzten Jahr­ zehnten«.690 Diese bewirke »für die weißen Kulturvölker einen Grad der Mischung […], der schon da und dort den erbgegebenen Artcharakter dieser Völker bedroht«.691 Wie schon 1922 forderte Heinrich Reichel erneut, »Fortpflanzungshindernisse für die Träger unerwünschter Erbanlagen«692 zu errichten  : »Das können Verbotsmaßregeln für ihre Verehelichung oder überhaupt für ihre Geschlechtsvermischung sein oder auch Verwahrungsmaßregeln, die sogenannte Asylierung, ferner Vorbeugungsmethoden gegen die Zeugung beim Geschlechtsverkehr oder endlich operative Me-

685 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 339. 686 Ebd., S. 339 f. 687 Heinrich Reichel, Welches sind heute die dringlichsten Forderungen der Rassenhygiene  ?, in  : Wiener klinische Wochenschrift 47 (1934) 23, S. 705. 688 Ebd., S. 705. 689 Ebd. 690 Ebd. 691 Ebd., S. 706. 692 Ebd., S. 707.

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thoden der Unfruchtbarmachung  : die Sterilisierung und die Kastration.«693 Diese »heute schon als wünschenswert zu bezeichnenden operativen Maßregeln«694 sollten »nur von Fall zu Fall auf Grund eines gerichtlichen Verfahrens mit sachverständiger Beratung«695 erlaubt sein, wie er einschränkte. Die »Tötung der Träger unerwünschter Anlagen«,696 die wenige Jahre später in die vom NS-Regime betriebene systematische »Vernichtung lebensunwerten Lebens« mündete, erörterte Heinrich Reichel vor den oberösterreichischen Ärzten ebenfalls. Deren Unzulässigkeit würde »eigentlich auf der Hand«697 liegen, »weil nur die äußerste Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben als Grundlage aller Sittlichkeit denkbar ist.«698 Sowohl die Zulassung der Abtreibung als auch die Tötung Schwerstkranker sei »gerade vom Standpunkte des Arztes, dem ihre Durchführung zufiele, und der Rassenhygiene ganz von der Hand zu weisen. […] Die Erlaubnis zu solchem Vorgehen müßte überdies vielem Mißbrauch Tür und Tor öffnen und dem Ansehen des Arztes, der sich zum Henker hergibt, heillos schaden.«699 Am 7. Juni 1935 hielt Heinrich Reichel in Graz beim Verein der Ärzte in der Steiermark einen Vortrag über die Methoden der Fruchtbarkeitsbeschränkung. Er stellte fest, »daß Menschentötung niemals ein Weg der Eugenik sein kann. […] Es kann keinen erlaubten Mord und – wenigstens für den Arzt – keine ihm zu Recht anbefohlene Henkersaufgabe geben  ! […] Eugenische Gründe vermögen niemals eine Rechtfertigung zur Tötung einer Frucht abzugeben.«700 Die Indikation für eine Zwangssterilisierung hingegen müsse, wie Reichel darlegte, zwar »aufs Aeußerste beschränkt werden, doch bleibt es Berufspflicht des Arztes, sie – und nicht nur aus individual-medizinischen Gründen, sondern auch, ja hauptsächlich aus eugenischen – in Erwägung zu ziehen und sein Berufsrecht, sie nötigenfalls zu stellen.«701 1939 wurde Reichel als korrespondierendes Mitglied in die Akademie der Wissenschaften in Wien aufgenommen. Deren Leitung war nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich von Parteigängern der NSDAP übernommen worden. Diese förderten ideologisch motivierte Forschungsprojekte.702 Als »ambivalent« bezeichnet der Historiker Thomas Mayer Reichels Rolle während der na693 Reichel, Welches sind heute die dringlichsten Forderungen der Rassenhygiene?, S. 707. 694 Ebd. 695 Ebd. 696 Ebd., S. 741. 697 Ebd. 698 Ebd. 699 Ebd., S. 742. 700 Ders., Die Methoden der Fruchtbarkeitsbeschränkung vom ärztlichen, ethischen und bevölkerungspolitischen Standpunkt. In  : Wiener klinische Wochenschrift 48 (1935), S. 1.083 f. 701 Ebd., S. 1.087. 702 Siehe Feichtinger u. a., Die Akademie der Wissenschaften in Wien 1938 bis 1945.

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tionalsozialistischen Diktatur  : »Zunächst einmal war er nie Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen und hatte auch keine Beitrittsansuchen gestellt. […] Beruflich bedeutete der Anschluss für Reichel keine Veränderung.«703 Am 2. Oktober 1939 erfolgte die Einberufung zur Wehrmacht als Hygieniker in beratender Funktion, am 31. August 1941 die Entlassung wegen einer »Geisteskrankheit«,704 die als »manisch-depressives Irresein«705 beschrieben wird. Am 1. März 1942 wurde Dietmar Weixlers Urgroßvater als Universitätsprofessor emeritiert. Am 31. März 1943 starb er »nach langer, schwerer Krankheit«706 im Alter von 66 Jahren im Allgemeinen Krankenhaus707 in Wien. In dem sieben Zeilen umfassenden Nachruf in der in Linz herausgegebenen »Oberdonau-Zeitung« wurde ein Bezug zu einem seiner Söhne hergestellt. Dieser war im Alter von 32 Jahren »im Osten den Heldentod«708 gestorben  : »Dr. Reichel stammt aus Wels und ist der Vater des kürzlich mit dem Ritterkreuz ausgezeichneten SS-Sturmbannführers Erwin Reichel.«709 Die Beerdigung fand am 6. April 1943 in Wels statt.710 Thomas Mayer weist Heinrich Reichel die Funktion eines Vorreiters der nationalsozialistischen Eugenik zu  : »Nach 1936 und vor allem nach 1938 dürfte Reichels realer Einfluss drastisch zurückgegangen sein  : Es war nun eine andere Generation rassenhygienisch tätig, die er zum Teil ausgebildet hatte.«711 Gudrun Exner kam zu dem Schluss, dass Reichel als Hygieniker ein Wissenschafter von Format gewesen sei. Als Eugeniker könne er nicht »mit einem Verbrecher gegen die Menschlichkeit wie einem Mengele in einen Topf geworfen werden. […] Trotzdem kann heute kein Zweifel mehr daran bestehen, dass auch Reichel – nach allem, was wir aus seiner Publikationstätigkeit wissen, in gutem Glauben – seinen Anteil dazu beitrug, die NSBevölkerungspolitik in die Tat umzusetzen.«712 Der Palliativmediziner Dietmar Weixler, der knapp 19 Jahre nach dem Tod Heinrich Reichels geboren wurde, hält dessen medizinische Argumentation auf dem Gebiet der »Rassenhygiene« für »enorm bescheiden. Da gibt es ein paar Quellen, auf die er sich beruft, die heute noch Gültigkeit haben, und das Größte war Spekulation, war Ideologie, die in Medizinsprache verwandelt worden ist.«713 In Weixlers Vorstellung 703 Mayer, »… daß die eigentliche österreichische Rassenhygiene …«, S. 93. 704 Ebd., S. 96. 705 Ebd. 706 Notizen. In  : Wiener Medizinische Wochenschrift 93 (1943) 20/21, S. III. 707 Siehe Sterbeanzeige. In  : Linzer Tages-Post vom 10.4.1943, S. 8. 708 Siehe Notiz. In  : Salzburger Zeitung vom 11.4.1943, S. 4. 709 Nachruf. In  : Oberdonau-Zeitung vom 2.4.1943, S. 4. 710 Siehe Sterbeanzeige. In  : Linzer Tages-Post vom 10.4.1943, S. 8. 711 Mayer, »… daß die eigentliche österreichische Rassenhygiene …«, S. 98. 712 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 341. 713 Interview mit Dietmar Weixler, S. 12.

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war sein Urgroßvater ein autoritäres Familienoberhaupt  : »Ein Patriarch nach dem heutigen Verständnis, der auch seine Ideologie, von der er angesprochen worden ist, selbst gelebt hat, indem er diese vielen Kinder in die Welt gesetzt hat und dann auch hier am Land in Oberösterreich einen Bauernhof erworben hat und da das gute Leben am Land tatsächlich wenigstens für seine Familie ermöglicht hat. Ich glaube, dass er sehr unerbittlich war in seiner Argumentation. Ich glaube, er war sehr gebildet. Ich kann ihn mir nicht vorstellen als liebevollen Familienvater, das Bild bekomme ich nicht hin, eher als strengen, der sein damals männliches Leben führen muss und mehr oder weniger die Frauen in die Pflicht zwingt, das ganze familiäre Umfeld zu erhalten, besessen von seinen Ideen. Also das ist eigentlich nicht ein Mensch, dem ich in die Nähe kommen wollte. Also irgendwie graust mir vor dem.«714 3.9.2 Durchbrechen des Schweigens In der Herkunftsfamilie von Dietmar Weixler sei »insgesamt selten«715 über Heinrich Reichel gesprochen worden  : »Ich weiß nur, dass seine Töchter, der hatte ja viele Kinder, […] ich glaube neun, und die Töchter, die haben ihn verherrlicht in einer Weise und idealisiert, und die haben halt auch immer wieder seine Lebensweisheiten von sich gegeben. […] Wie das gute Leben geht, das war irgendwie so das Hauptthema auch in dieser Familie, auch was die kulturellen Manifestationen betrifft, aber was mehr mitgeteilt worden ist, sind so Werte, also auch im Ausdruck, wie ein Familienfest sich abspielt, was da getan wird, das hat sich immer mitgeteilt. Wobei das ja nicht mein Alltag war, sondern das waren immer Ausnahmeerscheinungen, wenn diese sogenannte große Familie zusammengekommen ist.«716 Kaum erinnere er sich an Gespräche über das »Familienoberhaupt«,717 die in seiner Kindheit und Jugend innerhalb der Familie stattgefunden haben könnten  : »Und wenn, dann nur irgendwelche großartigen Berichte, was er publiziert hat und mit wem er zusammengetroffen ist und dass er einfach ein toller großer Mensch und Wissenschaftler war, das war irgendwie immer die Idealfigur in der Familie. Aber dieses Rassenhygienethema, niemals ist das angesprochen worden, niemals.«718 1986, als Dietmar Weixler durch die Postwurfsendung erstmals von der Betätigung seines Urgroßvaters als »Rassenhygieniker« erfahren hatte, habe er sich gerade in einer Umbruchsphase befunden  : »Ich hatte das Medizinstudium unterbrochen, um mich auf die Suche nach mir selbst zu machen, was vornehmlich durch Lektüre der 714 Interview mit Dietmar Weixler, S. 12. 715 Ebd., S. 1. 716 Ebd. 717 Ebd., S. 11. 718 Ebd., S. 3.

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Werke Sigmund Freuds geschehen sollte. Aus heutiger Sicht ist es stimmig, dass ich die Tatsache, dass mein Urgroßvater ›Rassenhygieniker‹ gewesen sein soll, nach kurzfristiger Kenntnisnahme wieder in den Hinterzimmern des Bewusstseins deponierte.«719 Später habe er mit seinen Eltern und anderen Verwandten darüber gesprochen und versucht, mehr über Reichel herauszufinden  : »So richtig tiefgreifend ist das dann in diesem Blog, den der Friedemann Derschmidt gemacht hat, thematisiert worden. Und zuvor ansatzweise, also mit meinem Bruder, wahrscheinlich auch mit meinem Vater. […] Ich habe dann bei uns in dem medizinischen Recherchemedium, im PupMed, habe ich einmal geschaut, welche Publikationen gibt es da von ihm, habe dann im Haus der Ärzte angerufen, weil das sind ja alles Printmedien, die mussten die dann händisch heraussuchen und haben mir die kopiert und zugeschickt, habe das nachgelesen. Ich habe dann auch viele, viele Bücher so darum herum gelesen, […] die die medizinische Seite des Nationalsozialismus zum Beispiel betrachtet haben, also diese ›Aktion T4‹, die Geschichte. Dann über Hartheim, da gibt es ja auch eine Autorin720, die ist auch mehr oder weniger zufällig draufgekommen, dass ein Vorfahr oder ein Verwandter dort als einer der wichtigsten in der Vernichtung von diesen Menschen tätig war.«721 Weixler habe auch »nach dieser Emotion, die hinter solchen Entdeckungen steckt«,722 gesucht. Innerhalb der Großfamilie seien vor Beginn des »Aufarbeitungsexperiments« in Zusammenhang mit der NS-Zeit »vorwiegend Heldentaten berichtet worden«,723 etwa über Söhne Heinrich Reichels, wie den 1943 im deutschen Angriffskrieg in der Sowjetunion gestorbenen »SS-Sturmbannführer« Erwin Reichel. Das innerfamiliäre Schweigen über die Bedeutung, die sein Urgroßvater, »Österreichs aktivster Eugeniker vor 1938«,724 für die Entwicklung der nationalsozialistischen »Rassenhygiene« hatte, sieht Dietmar Weixler einerseits in einem Gefühl von Schuld, andererseits in Scham begründet  : »Ich glaube, dass das zwei Dimensionen sind, die in dieser Familie niemals gelebt wurden oder niemals ihren Ausdruck gefunden haben. Und das ist natürlich unangenehm, an solche Dinge zu denken. Ich weiß nicht, welche Mechanismen dahinter sind, einfach das zum Nichtthema zu machen, um sich vor diesen negativen Bildern zu schützen.«725 Nach dem Abschluss seines Medizinstudiums absolvierte Weixler die Ausbildung zum Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin. Er spezialisierte sich auf Palliativmedizin und übernahm den Vorsitz der von der Österreichischen Palliativge719 Weixler, Arzt sein als Urenkel des Rassenhygienikers Heinrich Reichel, S. 63. 720 Mireille Horsinga-Renno, siehe Kapitel 3.4. 721 Interview mit Dietmar Weixler, S. 4. 722 Ebd. 723 Ebd., S. 6. 724 Exner, Eugenik in Österreich bis 1938, S. 337. 725 Interview mit Dietmar Weixler, S. 5.

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sellschaft eingerichteten Arbeitsgruppe »Ethik in Palliative Care«  : »Ich habe sechs Jahre Vorlesungen gehalten an der MedUni Wien und dann auch versucht, darüber zu erzählen, warum ich in der Palliativmedizin tätig bin. Da habe ich zwei Geschichten erzählt, eine von meiner Großmutter mütterlicherseits, die hat mit dieser Familie nichts zu tun, und von dem Dr. Heinrich Reichel. Und wenn ich das erzählt habe, und das war manchmal im selben Hörsaal, wo er gesprochen hat, dann hat man gemerkt, die erstarren und die sind jetzt von dieser Vergangenheit unmittelbar berührt. Das habe ich auch als positive Rückmeldung interpretiert, dass das bei den jungen Menschen, bei den Studenten, auch als etwas aufgefasst wird, was die Menschen wirklich zur Achtsamkeit zwingt, in die Vorsicht und in die Aufmerksamkeit. Das ist natürlich schon irgendwie erschreckend, wenn man sich selbst dann als Gegenentwurf, wie ich das in dem Buch geschrieben habe, erlebt. Das könnte man auch auffassen als eine unfreie Entwicklung, aber es ist so.«726 Für seine Berufswahl sei es »sehr bestimmend«727 gewesen, dass sein Urgroßvater und andere Vorfahren Mediziner gewesen waren. Am »Aufarbeitungsexperiment« nahm Dietmar Weixler als Vertreter jener »kleinen Gruppe«728 innerhalb der Großfamilie, die sich für eine schonungslose Aufklärung eingesetzt habe, aktiv teil  : »Dieses Projekt war für mich irgendwie eine Klärung auch der Beziehungen, weil es tatsächlich auch noch Menschen gibt, die das alte Bild bewahren wollen. […] Jetzt ist irgendwie ziemlich geklärt, wo da jemand mit seinem Denken steht, und das ist auch für mich sehr wohltuend gewesen, weil ich habe einfach, und mein Vater zum Beispiel auch, Kontakte zu gewissen Menschen vollständig abgebrochen.«729 In den ersten Jahren, nachdem die Internetplattform eingerichtet worden war, seien viele E-Mails und Briefe hin- und hergegangen. Weixler beteiligte sich seinen Aussagen zufolge zunächst »ziemlich stark«730 an den Diskussionen, die zum Teil in »wilden Streitereien«731 mündeten  : »Einerseits hat es mich eine Zeit lang sehr intensiv interessiert, und ich wollte es dann aber auch mit diesem Buchbeitrag abgeschlossen wissen. Das habe ich dann auch äußerlich so gestaltet. Ich habe die ganzen Materialien, die ich dazu gesammelt habe, irgendwo im hintersten Winkel des Hauses versteckt, das habe ich als meinen Nazi-Krempel bezeichnet, und wann immer irgendwelche Verwandten irgendwelche schwarz-weiß-Fotos aus diesen Zeiten zuschicken, die kommen da in diese Schublade hinein oder in den Kasten. Ich bin

726 Interview mit Dietmar Weixler, S. 6. 727 Ebd., S. 11. 728 Ebd., S. 8. 729 Ebd., S. 3. 730 Ebd., S. 8. 731 Ebd.

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dann auch wieder sehr froh gewesen, das hinter mir zu lassen. Obwohl  : das Thema, manchmal ist es täglich da. […] Für mich ist es fast täglich, dass ich eingeholt werde von dieser Geschichte. […] Meine Frau ist schon angewidert, dass das so dicht ist oder war, die kann auch schon verschiedene Namen nicht mehr hören. […] In der engeren Familie hat es irgendwann das Bedürfnis gegeben, jetzt muss wieder einmal eine Ruhe sein. […] Und im Beruf, wenn man dieses Thema bringt, da gibt es schon auch so ein Schweigen, das einem entgegenkommt.«732 Durch das Wissen, das Dietmar Weixler seit der Zustellung der studentischen Zeitschrift 1986 über seinen Urgroßvater erlangt hat, habe sich sein Bild von diesem Vorfahr geändert. Heute sehe er ihn als einen Menschen, der in eine Idee vernarrt war und sich verrannt hat  : »Das Vorher-Bild war die Annahme des Bildes, das seine Töchter mitgeteilt haben, dass der ein unerhört gescheiter, weitblickender, familienzentrierter, wissenschaftlich arbeitender Mensch war. Und das Nachher-Bild, es ist schwierig, weil allein die Vorstellung, dass der neun Kinder hat, die da in Oberösterreich leben, und selbst in Wien und Graz berufstätig ist, diese Vorstellung schaffe ich kaum mehr zu integrieren. Der muss wahnsinnig viel ausgelagert haben, was man heute von einem Vater erwartet. Und ich sehe ihn schon heute, obwohl das in den ganzen Publikationen, die es über ihn gibt, nicht eindeutig hervorgeht, als einen Wegbereiter der Vernichtungspläne der Nationalsozialisten, weil er das einfach mit einer pseudowissenschaftlichen Argumentation aus seiner Rolle als Hygieniker und Ordinarius der Universität Graz in diese Richtung diskutiert hat, dass es Menschen gibt, die man aus eugenischen Gründen ausschließen soll.«733 Kinder in Gespräche einzubeziehen und daran teilnehmen zu lassen, sei »unerhört wichtig«,734 wie Dietmar Weixler betont. Der Titel des von Friedemann Derschmidt herausgegebenen Bands laute ja nicht zuletzt aus diesem Grund »Sag Du es Deinem Kinde  !«  : »Belastender als Reden ist Schweigen.«735 Den in der Palliativmedizin gängigen Ansatz, mit der Überbringung schlechter Nachrichten nicht zuzuwarten, überträgt Dietmar Weixler auch auf den Umgang mit der eigenen Familiengeschichte  : »Die Initiative soll also von jenen ausgehen, die in Kenntnis der Inhalte sind und die in der hierarchisch mächtigeren Position stehen. Niemand anderer als ich muss es meinen Kindern sagen.«736 Die Historikerin Margit Reiter, die ebenfalls einen Beitrag für den Band »Sag Du es Deinem Kinde  !« beisteuerte, sieht hingegen auch die Kinder gefordert  : »Die meisten Söhne und Töchter haben es verabsäumt, näher nachzufragen und die diver732 Interview mit Dietmar Weixler, S. 5. 733 Ebd., S. 7. 734 Ebd., S. 9. 735 Weixler, Arzt sein als Urenkel des Rassenhygienikers Heinrich Reichel, S. 84. 736 Ebd.

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sen Familienlegenden kritisch zu hinterfragen. Diese Scheu zu fragen, hat verschiedene Ursachen  ; eine davon liegt in der Beschaffenheit des Familiengedächtnisses begründet  : Geschichten über die NS-Zeit sind oft vage, bruchstückhaft und unvollständig, es fehlen meist konkrete Orts- und Zeitangaben und sie entsprechen nicht immer einer äußeren Logik und auch nicht immer der Wahrheit. Es handelt sich um ein Puzzle, das zusammengefügt werden muss, wobei entscheidend ist, welche Bruchstücke die Nachkommen aufgreifen und in welche Gesamterzählung sie diese schließlich einfügen.«737 Dietmar Weixler machte sich auch Gedanken darüber, warum in seiner Herkunftsfamilie über Teile der Familiengeschichte geschwiegen worden war  : »Ich habe den Gedanken immer von der anderen Seite her begriffen, was der Wert des Verschweigens ist, also die Vorstellung, die anderen zu schützen und zu bewahren vor irgendwelchen dunklen Seiten. Ich glaube, es ist einfach auch eine Frage des fairen Umgangs miteinander, wenn man Menschen, die einem nahe stehen, den Zugang ermöglicht zu dieser Vergangenheit, die man nicht direkt selbst erlebt hat, aber die es eben in einer Familie gibt. Und insofern ist es einfach fair, wenn man diese Hintergründe auch offenlegt und das in einer vernünftigen Weise auch versucht, zu begreifen. Ich glaube, das braucht es für ein ganzes Bild.«738

3.10 Sacha Batthyany  : »Das Schweigen hat bis heute gehalten« 739 Durch einen Zeitungsartikel740 erfuhr der 1973 geborene Schweizer Journalist Sacha Batthyany im Oktober 2007 eigenen Angaben zufolge zum ersten Mal davon, dass seine Großtante Margit Thyssen-Batthyány in der Nacht von 24. auf 25. März 1945 auf ihrem Schloss in Rechnitz im Burgenland gemeinsam mit SSMitgliedern und lokalen Funktionären des NS-Regimes ein »Gefolgschaftsfest«741 gefeiert hatte. In einer nahe gelegenen Scheune, dem Kreuzstadel, verübten Teilnehmer der Feier in derselben Nacht ein Massaker an ungarischen Juden. Diese waren verschleppt worden, um als Zwangsarbeiter beim Bau des »Südostwalls«742 eingesetzt zu werden. »Ich rief meinen Vater an und fragte ihn, ob er davon ge737 Reiter, Framework, S. 20 f. 738 Interview mit Dietmar Weixler, S. 12. 739 Batthyany, Und was hat das mit mir zu tun  ?, S. 23. 740 David R. L. Litchfield, Die Gastgeberin der Hölle. In  : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.10. 2007, S. 37. 741 Eleonore Lappin, Das Massaker von Rechnitz im zeitgeschichtlichen Kontext. In  : Burgenländisches Landesarchiv (Hg.), Das Drama Südostwall am Beispiel Rechnitz, S. 18. 742 In Bauabschnitt VI, in dem sich Rechnitz befand, wurde ab Oktober 1944 gearbeitet. Die ersten jüdischen Zwangsarbeiter aus Ungarn wurden im Jänner 1945 in den Ort gebracht und in mehrere Lager

Sacha Batthyany  : »Das Schweigen hat bis heute gehalten«

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wusst habe. […] ›Margit hatte ein paar Affären mit Nazis, das hat man sich in der Familie erzählt.‹ – ›In der Zeitung steht, sie habe ein Fest organisiert und als Höhepunkt, als Nachspeise, 180 Juden in einen Stall gelockt und Waffen verteilt. Alle waren stockbesoffen. Alle durften mal ran. Auch Margit. […]‹ – ›Das ist Quatsch. Es gab ein Verbrechen, aber dass Margit damit etwas zu tun hatte, halte ich für unwahrscheinlich. […].‹«743 Der Artikel war elf Tage davor auch in Großbritannien in der umfangreicheren englischsprachigen Originalfassung veröffentlicht worden.744 In Deutschland entwickelte sich in der Folge eine Kontroverse über die Qualität der verwendeten Quellen und die Schlussfolgerungen des Autors.745 Der britische »Populärhistoriker«746 und Journalist David R. L. Litchfield beschreibt in dem Text, wie er im Zuge der Recherchen zu seinem 2006 erschienenen Buch über die Geschichte der Unternehmerfamilie Thyssen747 auf dieses »Geheimnis«748 gestoßen und nach Rechnitz gereist war  : »Dort erfuhr ich, dass Margit in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs auf dem Schloss ein Fest für SS-Offiziere, Gestapo-Führer und einheimische Kollaborateure gegeben hatte, auf dem zur Unterhaltung der Gäste zweihundert Juden ermordet wurden. In den folgenden zweiundsechzig Jahren gelang es der Familie Thyssen, mit dieser Gräueltat nie in Verbindung gebracht zu werden und das Ausmaß ihrer NSVergangenheit zu verschleiern.«749 Sacha Batthyanys Vorfahren waren ungarische Aristokraten gewesen. Gemäß seiner Darstellung begann der Journalist nach der Lektüre des Artikels, Nachforschungen über das in Rechnitz verübte Gewaltverbrechen und die Rolle, die seine Großtante dabei gespielt hatte, anzustellen  : »Ich suchte in Archiven, schrieb Briefe, las Akten zum Rechnitz-Prozess, trieb Margits schweizerische Staatsschutzdossiers auf und fragte mich, wer in unserer Familie etwas über das Verbrechen wusste und warum niemand darüber sprach. Wie oft hatte ich erlebt, dass sich meine Großeltern über längst verstorbene Tanten unterhielten, über die Marotten irgendwelcher Onkel, über den früheren Glanz Ungarns, als die Menschen noch Manieren hatten und aufgeteilt. Das größte befand sich im Keller des Schlosses. Siehe Lappin, Das Massaker von Rechnitz, S. 16. 743 Batthyany, Und was hat das mit mir zu tun  ?, S. 13 f. 744 Litchfield, The killer countess. The dark past of Baron Heinrich Thyssen’s daughter. In  : The Independent vom 7.10.2007, URL  : https  ://www.independent.co.uk/news/people/profiles/the-killer-­countessthe-dark-past-of-baron-heinrich-thyssens-daughter-395976.html (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 745 Siehe exemplarisch Volker Ullrich, Der Mord von Rechnitz. In  : Die Zeit vom 25.10.2007, S. 57. 746 Annette Brüggemann, »Die Erzherzogin sollte sprechen«. In  : taz vom 7.11.2007, URL  : https  ://taz. de/Historiker-Litchfield-zum-Rechnitz-Massaker/!5192067/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 747 Litchfield, The Thyssen Art Macabre. 748 Ders., Die Gastgeberin der Hölle. 749 Ebd.

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guten Geschmack. Warum fiel nie ein Wort über Rechnitz  ? Warum wurde dieses Grab nicht erwähnt  ? Ich dachte, vielleicht würde ich einen Hinweis finden, wo die 180 Leichen vergraben sind. Möglicherweise spricht ja jemand mit dir, dachte ich, weil du zur Familie gehörst.«750 Margit Thyssen-Batthyány war das zweitälteste der vier Kinder von Heinrich Thyssen, einem der Erben des deutschen Industriellen August Thyssen, und Margareta von Bornemisza. Bis zur Eroberung von Rechnitz durch sowjetische Soldaten Ende März 1945 war sie in ihrem Schloss geblieben. Sacha Batthyany beschäftigte sich auch mit der Flucht seiner Großtante in die Schweiz und dem anschließenden Erwerb der schweizerischen Staatsbürgerschaft  : »Merkwürdig an diesem zwölfjährigen Einbürgerungsverfahren sind zwei Dinge  : Das Massaker in Rechnitz wird von den Beamten mit keinem einzigen Wort erwähnt, weder in einer direkten Befragung noch in einer Aktennotiz, obwohl die schweizerische Bundespolizei von Rechnitz wusste. Eigenartig ist auch, dass Margit sich in dieser Angelegenheit – anders als im Leben – stets in Ivans Hintergrund aufhielt. Die Gattin im Schatten ihres Mannes. Hatte sie denn etwas zu verschweigen  ?«751 Die Partnerin von David R. L. Litchfield und Co-Autorin des Buchs »The Thyssen Art Macabre«, Caroline D. Schmitz, zog nach dem Erscheinen von »Und was hat das mit mir zu tun  ?« in Zweifel, dass Batthyany erst durch den Zeitungsartikel auf das in Rechnitz verübte Massaker aufmerksam geworden wäre  : »Alles sei ›ein Geheimnis‹ gewesen, bis er eines Tages angefangen habe, Dinge zu untersuchen, von denen er vordem überhaupt gar nichts gewusst habe […]. Dies von einem Journalisten, dessen Familie zum Teil durch die von der Schweiz aus gesteuerten Kriegsprofite der Thyssens finanziert wurde, der ein Mitglied einer der einflussreichsten europäischen (ursprünglich österreichisch-ungarischen) Dynastien ist, unter anderem in Madrid studiert hat, viele Jahre für große internationale Tageszeitungen gearbeitet hat (z. B. für die Neue Zürcher Zeitung), und der einen Großteil seiner Jugend nicht in Zürich, sondern in Salzburg verbracht hat […].«752 Sacha Batthyany beschreibt in seinem Buch auch, wie sich das Verhältnis zu seiner Herkunftsfamilie durch die Nachforschungen verändert hat  : »Es war ein Massaker an 180 Juden, das mich meiner Familie näherbrachte.«753 Weitere Telefonate mit seinem Vater, der in Budapest lebte, werden in Form von Gedächtnisprotokollen 750 Batthyany, Und was hat das mit mir zu tun  ?, S. 27. 751 Ebd., S. 65. 752 Caroline D. Schmitz, Die Unerlässlichkeit der »Impertinenz« oder Eine Erläuterung an eine Berliner Buch-Bloggerin über Sacha Batthyany und die Thyssen-Bornemiszas, datiert 20.6.2016, URL  : http  :// www.davidrllitchfield.com/2016/06/die-unerlasslichkeit-der-impertinenz-oder-eine-erlauterung-aneine-berliner-buch-bloggerin-uber-sacha-batthyany-und-die-thyssen-bornemiszas-von-caroline-dschmitz/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 753 Batthyany, Und was hat das mit mir zu tun  ?, S. 18.

Sacha Batthyany  : »Das Schweigen hat bis heute gehalten«

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wiedergegeben  : »Ich rief meinen Vater an. ›Du wusstest‹, sagte ich zu ihm, ›dass Tante Margit in jener Nacht dort war, und du wusstest auch von dem Massaker.‹ – ›Ja.‹ – ›Aber du hast dir nie überlegt, dass sie möglicherweise darin verwickelt war  ?‹ – ›Ist das ein Verhör  ?‹ – ›Ich frage nur.‹ – ›Ich habe nie gedacht, dass es zwischen dem Fest und dem Massaker eine Verbindung geben könnte, wie das seit Neuestem in den Zeitungen behauptet wird. […]‹ – ›Wieso hast du mit Margit nie über den Krieg gesprochen  ?‹ – ›Was hätte ich fragen sollen  ? Du, Tante Margit, willst du noch einen Schluck Wein  ? Und übrigens, Tante Margit, hast du Juden erschossen  ?‹ – ›Ja.‹ – ›Sei nicht naiv. Es waren Höflichkeitsbesuche. Wir haben übers Wetter gesprochen, und sie hat über Familienmitglieder hergezogen.‹ […]«754 Gemäß Batthyanys Schilderungen teilte sein Vater zwar nicht die Ansicht vieler anderer Familienmitglieder, dass »diese Sucherei«755 nichts bringen würde. Dieser habe jedoch Zweifel geäußert, dass innerhalb der Großfamilie Informationen über das Massaker vorhanden seien. Batthyany berichtet von Anrufen und Drohungen, die er als Folge seiner Nachforschungen von Verwandten erhalten habe, und von seiner Empörung über die innerfamiliär weit verbreitete Ansicht, dass »alte Geister«756 nicht geweckt werden sollten. Damit habe er auch seinen Vater am Telefon konfrontiert  : »[…] ›Darum geht es ja. Niemand weiß was, weil niemand je gefragt hat. Ist das nicht merkwürdig  ? Ihr alle wusstet von diesem Massaker, und ihr wusstet, dass Tante Margit dort war. Aber ihr wart zu höflich zu fragen. Ihr wolltet es euch nicht mit ihr verscherzen. […] Es ist das Geld, stimmt’s  ?‹ – ›Was  ?‹ – ›Das Geld hat euch stumm gemacht. Tante Margit hat bezahlt, und deshalb hatte sie die Macht. Sie entschied, worüber man spricht – und worüber eben nicht. Tante Margit hatte euch alle in der Hand.‹ […].«757 Die Suche nach den »Kriegsgeheimnissen«758 der Familie nahm sieben Jahre in Anspruch. 2010 erschien erstmals ein Text des Journalisten, in dem dieser das Fest, dessen am 15. September 1989 verstorbene Gastgeberin und das Massaker thematisiert.759 In seinem 2016 erschienenen autobiografischen Buch »Und was hat das mit mir zu tun  ?« beschreibt Sacha Batthyany auch, wie Mitglieder seiner Herkunftsfamilie und andere Verwandte sowie Bewohnerinnen und Bewohner von Rechnitz auf die Recherchen, die er zu diesem Massaker und der Beteiligung seiner Großtante anstellte, reagiert hatten  : »Niemand sprach. Das Schweigen hat bis heute gehalten. In den siebzig Jahren seit dem Verbrechen ist der Ort zu einem Symbol für Österreichs 754 Batthyany, Und was hat das mit mir zu tun  ?, S. 21 f. 755 Ebd., S. 73. 756 Ebd. 757 Ebd. 758 Ebd., S. 9. 759 Ders., Das Grauen von Rechnitz. In  : Süddeutsche Zeitung Magazin vom 23.4.2010, URL  : https  ://szmagazin.sueddeutsche.de/geschichte/das-grauen-von-rechnitz-80365 (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit geworden. Wer Rechnitz sagt, der meint Verdrängen.«760

760 Batthyany, Und was hat das mit mir zu tun  ?, S. 23.

4. Gründe und Folgen des Schweigens

Das Wissen um ein Familiengeheimnis, das jahrzehntelang verschwiegen worden war und dann gelüftet wird, kann die Nachkommen psychisch belasten. Jennifer Teege fand im Alter von 38 Jahren heraus, dass sie die Enkeltochter des 1946 in Krakau wegen Massenmord hingerichteten ehemaligen SS-Hauptsturmführers Amon Göth war  : »Alles, was mein Leben bis dahin ausgemacht hat, stelle ich nun in Frage […]. War mein ganzes Leben eine Lüge  ?«1 Die als evangelische Christin aufgewachsene W1 war 33 Jahre alt, als ihr Vater 1995 starb. Durch Nachforschungen erfuhr sie nach dessen Tod, dass dieser während des Zweiten Weltkriegs als jüdisches U-Boot in Wien überlebt hatte  : »Ich habe fünf Jahre recherchiert, nonstop. Ich habe ja keine Ruhe gehabt. Ich war angetrieben den ganzen Tag, habe nächtelang gesucht im Internet […]. Und dann musst du einmal mit der Situation zurechtkommen.«2 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß auch Therapeutinnen und Therapeuten mit Personen arbeiten oder gearbeitet haben, die geschwiegen hatten beziehungsweise über die geschwiegen worden war, sowie mit deren Nachkommen. Daher wurden auch Interviews mit Experten geführt. Das innerfamiliäre Schweigen über die Zeit des Nationalsozialismus äußert sich vor allem in spezialisierten Institutionen, wie dem Zentrum ESRA in Wien, in vielfältiger Weise. Die seit 1994 bestehende Einrichtung ist auf »die Arbeit mit Überlebenden der NS-Verfolgung und deren Nachkommen«3 spezialisiert, legt ihren Schwerpunkt auf Langzeit-Traumatisierungen und fungiert als »Anlaufstelle für in Wien lebende Jüdinnen und Juden in allen psychosozialen Fragen«.4 Aber auch Therapeutinnen und Therapeuten in freier Praxis waren und sind damit konfrontiert. Als Motive für das Schweigen nennen sowohl der Psychiater Klaus Mihacek, bis 2020 ärztlicher Leiter von ESRA, als auch Wolfgang Hofer, der seit 19895 als Psychotherapeut in der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz arbeitet, einerseits die Angst vor einer Retraumatisierung, andererseits die fehlende Unterstützung für traumatisierte Personen in der Nachkriegszeit. Vertreterinnen und Vertreter der Zweiten Generation, die Kinder von Opfern auf der einen Seite sowie die Nachfahren von Tätern und Täterinnen beziehungsweise Mitläufern und Mitläuferinnen auf der anderen Seite, hätten sich oft auch nicht getraut, nachzufragen. Im Unterschied 1 Teege/Sellmair, Amon, S. 16 ff. 2 Interview mit W1, S. 4. 3 URL  : https  ://www.esra.at/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021). 4 Ebd. 5 URL  : https  ://www.hoferpsychotherapie.at/psychotherapeuten-linz/ (letzter Zugriff  : 21.10.2021).

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Gründe und Folgen des Schweigens

zu Mihaceks Expertise, die auf der Betreuung von Verfolgten des NS-Regimes6 basiert, beruht Hofers Expertentum nicht auf einem explizit ausgewiesenen Schwerpunkt mit Bezug zur NS-Zeit, aber auf jahrzehntelanger therapeutischer Beschäftigung auch mit Opfer- und Täterfamilien. Überlebende der Shoah, die schwerste Traumatisierungen erlitten hatten, schwiegen auch, um sich selbst vor der »Wucht der Vergangenheit«7 und ihre Nachfahren »vor den Erzählungen«8 zu schützen. Der Typ des Traumas spielt entsprechend den Kenntnissen von Klaus Mihacek ebenfalls eine Rolle  : von Akuttraumata, die relativ einfach zu behandeln seien, bis hin zu langfristigen »Typ-2-Traumata«.9 Auch die Resilienz oder psychische Widerstandskraft sowie die Qualität der Beziehung zwischen Eltern und Kindern habe eine große Bedeutung  : »Das ist der Beziehungsaspekt, der da hineinkommt  : Wie gut ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern  ?«10 Verschiedene Gruppen von Opfern wie Frauen, die vergewaltigt worden waren, oder Überlebende der städtischen »Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund« in Wien schwiegen, »weil sie sich so geschämt haben«.11 Als Gründe für das Schweigen von Tätern und Täterinnen sowie Mitläufern und Mitläuferinnen wurden Scham und Schuldgefühle, aber auch mangelndes Unrechtsbewusstsein gegenüber den Opfern angeführt  : »Wenn man Schuld auf sich geladen hat, wenn man Menschen umgebracht hat, also wenn man wirklich weiß, ich habe so und so viele Leute ins Jenseits befördert, dann macht das natürlich einmal enorme psychische Belastung aus.«12 Ein Teil der Kriegsteilnehmer habe an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. In der Nachkriegszeit sei diese nicht in dem Ausmaß beachtet und therapiert worden wie nach späteren Kriegen, etwa dem Vietnam- oder dem Irakkrieg  : »Heute versucht man die Menschen wirklich zu behandeln. Das heißt, es wird mit ihnen geredet und man versucht, das traumatische Geschehen in irgendeiner Weise aufzulösen. Das wurde diesen Menschen überhaupt nicht angeboten, sondern die wurden einfach sich selbst überlassen.«13 Nachfahren hätten sich oftmals nicht getraut, »dieses Schweigen zu lüften, das ist auf jeden Fall auffällig.«14 Die Folgen des Schweigens in den Opferfamilien zu verallgemeinern, sei schwierig, stellt der Psychiater Klaus Mihacek fest  : »Natürlich ist es sehr individuell. […]  6 Nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, politisch Verfolgte und andere Gruppen. Siehe Interview mit Klaus Mihacek, Transkript S. 1.  7 Ebd.  8 Ebd.  9 Ebd., S. 10. 10 Ebd., S. 9. 11 Ebd., S. 5. 12 Siehe Interview mit Wolfgang Hofer, Transkript S. 6. 13 Ebd., S. 3. 14 Siehe ebd., S. 2.

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Dazu kommt, dass die direkt Betroffenen natürlich psychisch sehr belastet sind in unterschiedlichster Art und Weise. Das hängt natürlich auch von der Resilienz ab, die der Mensch mitbringt. Deshalb haben zum Beispiel Kinder, die überlebt haben, eine weniger starke Resilienz als Erwachsene. […] Das kann bis dahin gehen, dass die nicht mehr in der Lage sind, emotionale Empathie den eigenen Kindern weiterzugeben, weil sie so depressiv sind, weil sie sich so zurückgezogen haben oder weil sie auch so verdrängen und dann sehr leistungsorientiert sind und möglichst eine Familie aufbauen wollen, eine Zukunft haben wollen für die Kinder, et cetera.«15 Nachfahren von Opfern, die schwiegen, hätten in vielen Fällen gespürt oder gewusst, »dass in der Vergangenheit etwas Schreckliches gewesen sein muss. Das ist eine Atmosphäre, die spürt man. Das beginnt damit, dass Eltern nicht mehr so fröhlich sind, wie wenn sie das nicht erlebt hätten, dass viele sehr zurückgezogen leben, sehr depressiv immer wieder sind, also so eine Anhedonie. Und die Kinder entwickeln dann natürlich auch Fantasien, was den Eltern angetan worden ist.«16 Der 1947 geborene M1 hatte als Jugendlicher in der Wohnung seiner Eltern, zweier KZ-Überlebender, Dokumente entdeckt und gehört, wie seine Mutter über die Ermordung eines Mädchens durch einen SS-Mann sprach, aber die Eltern nie gefragt, was ihnen selbst wiederfahren war. In Täterfamilien, in denen geschwiegen worden war, hätten auch nachfolgende Generationen zum Teil geschwiegen  : »Das Schweigen über einen bestimmten wichtigen Aspekt in der Biografie der Eltern, Großeltern, führt zu Verdrängung auf der Ebene der nachfolgenden Generationen wiederum, dass die das auch tendenziell tun, also bagatellisieren Sachen, reflektieren Sachen nicht, blenden aus, idealisieren den Opa.«17 Wolfgang Hofer berichtet auch von einem Verlust der Lebensfreude  : »Viele sind dann sehr religiös geworden, was ich so beobachte, viele Alkoholiker, oder arbeiten rund um die Uhr, um gar nicht zum Nachdenken zu kommen. Was natürlich auch große Auswirkungen hat  : Wenn Sie sich vorstellen, Sie haben wen, der immer arbeitet, dann glauben Sie auch, Sie müssen immer arbeiten. Das hat dann Vorbildcharakter.«18 Übereinstimmend sprechen die Experten von positiven Auswirkungen, die das Wissen um den Grund der Traumatisierung für die Nachkommen und deren Identität hat. Die Generation der Enkelkinder habe in vielen Fällen nachgefragt und dadurch das Schweigen beendet. Die Übersiedlung in ein Pflegeheim kann der Auslöser für das Durchbrechen des Schweigens sein. Die Erfahrungen im Zentrum ESRA, das auch für die psychosoziale Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner des jüdischen Altenheims »Maimonides Zentrum« in Wien zuständig ist, würden dies 15 Interview mit Klaus Mihacek, S. 1 f. 16 Ebd., S. 8. 17 Interview mit Wolfgang Hofer, S. 2. 18 Ebd., S. 3.

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belegen  : »Das haben wir sehr wohl auch hier erlebt mit der ersten Generation, dass manche erst hier begonnen haben zu reden. Viele sprechen auch mit uns nicht, weil sie sagen, wenn sie das besprechen würden, würden sie zusammenbrechen.«19 Auch Anlässe wie runde Geburtstage können zu einem Aufbrechen des Schweigens führen  : »Ich habe auch erlebt, dass im Zuge von der Opa wird 80 oder so, wird Material gesammelt, und dann kommt dieser Ariernachweis zu Tage. […] Enkelkinder sind dann oft geschichtsbewusst und wollen wissen, was war, und stoßen auf eine Wand des Schweigens. Dann schicken Menschen das beim Dokumentationsarchiv, kann man ja einschicken, und da kommt dann oft heraus, wie die Geschichte war  : Mitgliedschaft bei der NSDAP, sehr frühe Mitgliedschaft bei der NSDAP, und das macht dann schon Schockwellen. Und die Schockwellen, also die Abwehr der alten Menschen, ist natürlich schon schlimm, die brechen dann teilweise zusammen.«20 Der »Pakt des Schweigens«21 zwischen der Eltern- und der Kindergeneration kann durchbrochen werden, wenn die Enkelgeneration beginnt, Fragen zu stellen  : »Und das ist oft wirklich schön zu sehen, dass Enkelkinder sich dann wirklich interessieren für die Biografie ihrer Großeltern und da auch Antworten kriegen, weil da haben die Großeltern keine Scheu mehr zu erzählen, was ihnen passiert ist, weil es auch schon weit weg ist. Und dann fragen natürlich auch diese Enkelkinder die eigenen Eltern  : ›Warum hast du uns nie etwas davon erzählt  ?‹ Und wenn dann in der Familie so ein innerfamiliärer Dialog zustande kommt, dann ist schon sehr, sehr viel erreicht. Und was es ja auch gibt  : Ähnlichkeiten mit Täterfamilien. Dort ist ja die Problematik ganz genau die gleiche. Was dort aber dazukommt, ist natürlich ein massives Schuldgefühl von der zweiten, dritten Generation.«22 Den innerfamiliären Dialog über die Ursachen des Schweigens bewerten beide Experten als positiv, da Betroffene das Erzählen als Befreiung erleben können. Allerdings sei damit auch vor allem auf Seiten der Täterfamilien »viel Unangenehmes«23 verbunden  : »Grundsätzlich ist das einmal sicher sehr, sehr gut, wenn man möglichst viel herausfindet. Nur die Frage ist, wie kann man einem Menschen, der vielleicht Schuld auf sich geladen hat, dann noch so begegnen, dass das diesen Menschen nicht zusätzlich noch in die Verzweiflung stürzt. […] Das ist sicher für Familien extrem schwierig.«24 Der Zeitpunkt, zu dem das Schweigen durchbrochen wird, sei bei Überlebenden der Shoah unter anderem von der Latenz- oder Verzögerungszeit abhängig, die »bis

19 Interview mit Klaus Mihacek, S. 1. 20 Interview mit Wolfgang Hofer, S. 4. 21 Interview mit Klaus Mihacek, S. 3. 22 Ebd. 23 Interview mit Wolfgang Hofer, S. 7. 24 Ebd., S. 8.

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zu 30, 40 Jahre«25 dauern kann  : »Ich darf niemanden dazu zwingen, zu erzählen. Und das hat sich wirklich als absolut richtig herausgestellt. Sobald ich zu sehr gedrängt habe, ›erzählen Sie einmal, was im KZ war‹, ist die Tür zugegangen. Das heißt, der Zeitfaktor ist ein wesentlicher, den Menschen Zeit zu geben, ob sie überhaupt erzählen wollen.«26 Ein Durchbrechen des Schweigens sei für die nachfolgenden Generationen der Opfer des nationalsozialistischen Regimes in vielen Fällen mit großer Erleichterung verbunden gewesen, »weil jeder sucht ja seine Identität  : Wo komme ich her  ? Ist für eine Persönlichkeitsentwicklung unbedingt wichtig. Wo gehöre ich hin  ?«27 Über diese Zeit zu sprechen sei 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so »tabubelastet«28 wie in den ersten Jahrzehnten. Als entscheidend für den Umstand, dass innerfamiliäres Schweigen schließlich durchbrochen wird, führten die Befragten auch äußere Anlässe an, wie die 1986 einsetzende Debatte um eine mögliche Beteiligung des von der Österreichischen Volkspartei nominierten Kandidaten für die Wahl zum Bundespräsidenten, Kurt Waldheim, an Kriegsverbrechen, die Klaus Mihacek als »wake-up call«29 bezeichnet, die Rede Franz Vranitzkys von der Sozialdemokratischen Partei Österreichs am 8. Juli 1991 vor dem Nationalrat,30 mit der erstmals ein österreichischer Bundeskanzler die »moralische Mitverantwortung«31 für die Taten österreichischer Staatsbürger und -bürgerinnen während der NS-Zeit thematisierte, oder die schrittweise Anerkennung der verschiedenen Gruppen von Opfern durch die Republik Österreich  : »Diese Entschädigungsansprüche und die offizielle Anerkennung als Opfer ist das Um und Auf für eine Verarbeitung dieses Traumas. Wenn das nicht passiert wäre vom österreichischen Staat, dann wäre auch jegliche Form von Therapie hier unmöglich gewesen. Das war wirklich das Wichtigste, was Österreich machen hat können, diesen Nationalfonds zu gründen und diese Entschädigungsansprüche zu machen und offiziell sich zur Verantwortung zu bekennen. Und da muss man wirklich sagen, das hat als Erster nur der Vranitzky gemacht, und das war ein richtiger Durchbruch.«32 Auch die beiden Wanderausstellungen »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehr­ macht 1941 bis 1944« und »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernich­ 25 Interview mit Klaus Mihacek, S. 9. 26 Ebd., S. 4. 27 Ebd., S. 6. 28 Ebd., S. 9. 29 Ebd., S. 6. 30 Siehe Brigitte Bailer, Widerstand, Opfermythos und die Folgen für die Überlebenden. In  : Karner/ Tschubarjan (Hg.), Die Moskauer Deklaration 1943, S. 172 f. 31 URL  : https  ://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XVIII/NRSITZ/NRSITZ_00035/imfname_142026. pdf, S. 15 (letzter Zugriff  : 13.6.2019). 32 Interview mit Klaus Mihacek, S. 4.

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Gründe und Folgen des Schweigens

tungskrieges 1941–1944« des Hamburger Instituts für Sozialforschung hätten zu einem Ende des Schweigens beigetragen. Sie waren zwischen 3. März 1995 und 28. März 2004 in verschiedenen Städten in Deutschland, Österreich und Luxemburg zu sehen. Dass es inzwischen im Unterschied zu den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg »wahnsinnig viel Literatur darüber«33 gibt, wird ebenso als bedeutsam angesehen wie etwa die Rolle von Hausärzten und -ärztinnen, die nachgefragt haben. Dadurch konnten diese zu den »wichtigsten Personen, die zumindest einen Zipfel der eigenen Leidensgeschichte mitgekriegt haben«,34 werden.

33 Interview mit Klaus Mihacek, S. 10. 34 Interview mit Wolfgang Hofer, S. 10.

5. Nachwort

12 Jahre und drei Monate lang, zwischen der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Jänner 1933 und der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945, war das NS-Regime an der Macht gewesen, ab dem 12. März 1938 auch in Österreich. Der Zweite Weltkrieg, der mit dem von Hitler befohlenen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begonnen hatte, forderte gemäß militärhistorischen Schätzungen über 65 Millionen Menschenleben  : »Als die Waffen schwiegen, endete ein globaler Systemkonflikt, der in Europa ebenso wie in Asien über weite Strecken Vernichtungscharakter besaß, und in dem von 1939 bis 1945 etwa 110 Millionen Soldaten unter Waffen standen. Mehr als 60 Millionen Menschen starben bei Kampfhandlungen regulärer Truppen im Land-, Luft- und Seekrieg, als Opfer des Genozids, im Partisanenkampf, durch Repressalien sowie durch Kriegsverbrechen und Vertreibung.«1 An die sechs Millionen Jüdinnen und Juden aus ganz Europa wurden in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, von den Mitgliedern der »Einsatzgruppen« oder anderen Handlangern der antisemitischen Rassenideologie ermordet  : »Für die Ermittlung und Berechnung der Dimension des nationalsozialistischen Völkermords stehen originale und unanfechtbare Quellen zur Verfügung, freilich bleiben die Schwierigkeiten trotzdem ganz beträchtlich. Denn ein wesentlicher Teil der Mordaktionen spielte sich im Dunkeln ab, getarnt durch die Sprachregelung ›Endlösung‹, getarnt durch abgelegene Orte […]. So wird es bei aller Akribie zwar nie möglich sein, eine absolute Zahl zu nennen, die darauf beruhen würde, daß alle Toten einzeln gezählt sind, aber es ist möglich, die Größenordnung jenseits aller Spekulation zu konstatieren […].«2 Den Fokus auf das innerfamiliäre Schweigen über die NS-Zeit zu richten und sowohl die Auswirkungen auf Seiten der Opfer als auch der Täter und Täterinnen zu analysieren, bedeutet keineswegs, die Verantwortung für die Verbrechen in irgendeiner Form zu relativieren  : »An den Fakten des Holocaust sind Zweifel nicht möglich […].«3 Die von Aleida Assmann in Zusammenhang mit nationalen Gedächtnissen diskutierten »Erinnerungs- und Thematisierungsregeln einer Gesellschaft«4 können jedoch zur Erklärung von Phänomenen herangezogen werden, die in den Familien 1 Schreiber, Der Zweite Weltkrieg, S. 119 f. 2 Wolfgang Benz, Die Dimension des Völkermords. Einleitung. In  : Ders. (Hg.), Dimension des Völkermords, S. 2. 3 Benz, Der Holocaust, S. 118. 4 Assmann, Die Rolle von Gedächtnisrahmen für die Dynamik von Erinnern und Vergessen, S. 35.

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Nachwort

auf allen Seiten auszumachen sind  : »Während Stolz, der Wunsch nach Anerkennung und ein positives Selbstbild die Auswahl des zu Erinnernden bestimmen, sind Gefühle wie Schuld und Scham verantwortlich für die Ausgrenzung und Verdrängung von Gedächtnisinhalten.«5 Die Fragen, die Assmann stellt, um dem Erinnern und Vergessen innerhalb von Nationen auf den Grund zu gehen, können auch für den Umgang in den Familien herangezogen werden  : »Worüber kann, soll, darf gesprochen werden und was wird übergangen und ins Schweigen verbannt  ? Welche Erinnerungen lässt man wieder aufleben, welche behält man für sich  ? Wofür gibt es Interesse, Aufmerksamkeit, Empathie, was bleibt ausgeschlossen und im Dunkeln  ?«6 Wie auch anhand der Fallbeispiele gezeigt werden kann, führten weder die gesellschaftlichen Veränderungen, die seit den 1960er-Jahren in Westdeutschland und dann auch in Österreich sowie der ehemaligen DDR, aber auch in Israel für einen anderen Umgang mit der NS-Geschichte gesorgt haben, noch die umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung und die damit einhergehende mediale Verbreitung neuer Erkenntnisse dazu, dass der Mantel des Schweigens gänzlich abgelegt worden wäre. Auch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird in den Familien geschwiegen  : »Die Macht von Verleugnung und Schweigen ist weiterhin groß.«7 Die Hintergründe und Motive des Schweigens lassen sich nur zum Teil festmachen. Ernst Stimmer nennt die Introvertiertheit seines Vaters als möglichen Beweggrund für dessen jahrzehntelanges Schweigen über die jüdischen Wurzeln der Familie, die Verschleppung nach Theresienstadt und die Ermordung der Großeltern. Klaus Stanjek vermutet, dass über die Lebensgeschichte seines Onkels Wilhelm Heckmann geschwiegen worden war, weil der Fähigkeit, zu vergessen, in seiner Herkunftsfamilie große Bedeutung beigemessen worden sei. Den Umstand, dass Heckmanns Homosexualität innerhalb der Familie tabuisiert worden war, führt Stanjek als weiteren Grund für das Schweigen an, ebenso die Mutmaßungen mehrerer Familienmitglieder, dass der Halbbruder seiner Mutter Kinder sexuell missbraucht haben könnte. Lars Reichardt vermutet, dass sein Stiefgroßvater durch das Schweigen über die Verschleppung nach Auschwitz dessen Ehefrau und deren Nachkommen schonen oder das Erlebte dadurch vergessen wollte. Herbert Kaar erzählt, dass in seiner Herkunftsfamilie die Lebensgeschichte des vom NS-Regime ermordeten Vaters generell nicht thematisiert worden sei und er selbst lange Zeit darüber geschwiegen habe. Die jüdischen Vorfahren und das Überleben seiner Eltern im Konzentrationslager waren gemäß den Angaben von M1 ein innerfamiliäres Tabuthema. Der KZ-Überlebende Roman Frister schildert, dass sein Sohn Avigdor zunächst kein Interesse an der Le5 Assmann, Die Rolle von Gedächtnisrahmen für die Dynamik von Erinnern und Vergessen, S. 35. 6 Ebd. 7 Müller-Hohagen, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen, S. 115.

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bensgeschichte des Vaters gezeigt habe. Die Veröffentlichung seiner Autobiografie sei daher erst mit jahrzehntelanger Verspätung erfolgt. W1 äußert die Vermutung, ihr Vater habe geschwiegen, weil dieser sich nicht zu den jüdischen Wurzeln der Familie bekannt habe. Harry Merl gibt an, dass seine jüdischen Eltern nicht über das gemeinsame Überleben in Wien gesprochen hätten und er selbst jahrzehntelang nichts davon wissen wollte. Margit Eidenberger begründet das Schweigen ihres Vaters damit, dass dieser sich mutmaßlich nicht mit der jüdischen Herkunft identifiziert habe. Ursula Aistleitner nimmt an, dass die Mitglieder der Herkunftsfamilie ihrer Mutter sie nicht mit Einzelheiten über die Geschichte ihres jüdischen Vaters belasten wollten. W4 führt das innerfamiliäre Schweigen über den Massenmord, an dem ihr Stiefgroßvater beteiligt gewesen war, auf Schuldgefühle ihrer Mutter zurück. Jennifer Teege berichtet von einem Gespräch mit ihrer Mutter. In dessen Verlauf habe diese angegeben, Teege hätte durch das Schweigen geschützt werden sollen. Claudia Brunner nennt verwandtschaftliche Loyalität als Grund für das Verschweigen der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, an denen ihr Großonkel beteiligt gewesen war. Richard Danzmayr gibt den Umgang Österreichs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als Motiv für das innerfamiliäre Schweigen über die Rolle, die sein Großvater mütterlicherseits während der NS-Diktatur eingenommen hatte, und den Erwerb arisierten Eigentums an. Dietmar Weixler vermutet, dass durch das Verschweigen der Betätigung seines Urgroßvaters als Rassenhygieniker die Nachkommen innerhalb der Großfamilie hätten geschützt werden sollen. Nach dem Durchbrechen des Schweigens reagierten die Nachfahren jener Personen, über die geschwiegen worden war oder die geschwiegen hatten, auf differente Art und Weise  : Klaus Stanjek und W1 stellten umfangreiche Nachforschungen an und beschäftigten sich jahrelang mit dem verschwiegenen Teil der Familiengeschichte. Stanjek gestaltete außerdem einen Dokumentarfilm über das Leben seines Onkels und publizierte Texte über dessen Geschichte. Herbert Kaar und Ernst Stimmer begannen ebenfalls zu recherchieren und besuchten die Orte, an die ihre Väter verschleppt worden waren. Kaar setzte sich auch literarisch mit dem Leben seines Vaters auseinander und veröffentlichte ein autobiografisches Buch. M1 unternahm eine Reise nach Riga, wo seine jüdische Großmutter mütterlicherseits ermordet worden war und seine Eltern als KZ-Häftlinge Zwangsarbeit verrichtet hatten. Lars Reichardt publizierte Zeitungsartikel und ein Buch, das ein Kapitel über die Verschleppung seines Stiefgroßvaters nach Auschwitz enthält. Ursula Aistleitner trug über einen Zeitraum von zehn Jahren die wenigen Informationen, die sich über das Leben ihres aus Rumänien stammenden Vaters finden ließen, zusammen. Die Lebensgeschichte von Harry Merl und dessen jüdischen Vorfahren wurde in mehreren Publikationen und in einer wissenschaftlichen Arbeit thematisiert, ebenso im Rahmen eines Theaterstücks, an dessen Entstehung Merl mitge-

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wirkt hatte. Margit Eidenberger gibt an, ins Nachdenken über ihre jüdischen Wurzeln gekommen zu sein und darüber mit ihrer Mutter, ihrem Ehemann und anderen Personen gesprochen, aber keine weiteren Nachforschungen angestellt zu haben. W4 und Dietmar Weixler beschäftigten sich jahrelang intensiv mit der Person, über deren Verstrickungen in die Ideologie und Verbrechen des NS-Regimes geschwiegen worden war. Jennifer Teege, Mireille Horsinga-Renno, Uwe von S ­ eltmann, Claudia Brunner und Sacha Batthyany veröffentlichten autobiografische Bücher. Darin thematisieren sie das Verschweigen und die Auswirkungen des Schweigens. Martin Wähler verfasste einen Zeitungsartikel, W5, die Tochter von M2, einen unveröffentlichten Text. Sie hatte ihren Großvater für einen ehemaligen Angehörigen der SS-Totenkopfverbände gehalten. Richard Danzmayr tauschte sich mit anderen Nachfahren von Tätern und Täterinnen aus. Im Fall von W1 und Margit Eidenberger war es jeweils der Tod des Vaters, der dazu geführt hatte, dass der Mantel des Schweigens gelüftet wurde, bei Klaus Stanjek eine Familienfeier. M1 erfuhr durch Dokumente und die Nachforschungen seiner Cousine W1 über die Verbrechen, die an seinen Vorfahren begangen worden waren. Im Nachlass seines Vaters fand Ernst Stimmer erste Hinweise auf die Ermordung seiner jüdischen Großeltern väterlicherseits. Lars Reichardt erhielt eigenen Angaben zufolge unerwartet einen Anruf. In der Folge erfuhr er von der Verschleppung seines Stiefgroßvaters ins Konzentrationslager Auschwitz. Ursula Aistleitner und Herbert Kaar hatten sich auf die Suche nach Informationen über ihre jeweiligen Väter begeben und waren dabei auf die verschwiegenen Teile der Familiengeschichten gestoßen. Im Fall von Harry Merl waren es die nachfolgenden Generationen, die Fragen gestellt hatten. Roman Frister durchbrach das Schweigen, indem er seine Lebensgeschichte und die Geschehnisse, in die er als KZ-Häftling involviert gewesen war, in Buchform veröffentlichte. Durch ein Foto erfuhr Jennifer Teege, wer ihr Großvater gewesen war. Im Fall von Dietmar Weixler war es ein Zeitungsbericht, durch den er Kenntnis davon erlangte, dass sein Urgroßvater in der Zwischenkriegszeit und nach dem »Anschluss« nicht nur in einflussreicher Stellung als Mediziner und Universitätsprofessor, sondern auch als Rassenhygieniker tätig gewesen war. Fotos, auf denen sein Vater in Uniform mit einem Totenkopf-Symbol auf dem Kragenspiegel abgebildet ist, lösten im Fall von M2 Nachforschungen aus. Durch Artikel in Zeitungen und Zeitschriften wurden Sacha Batthyany und Claudia Brunner ihren jeweiligen Angaben zufolge erstmals damit konfrontiert, dass Vorfahren in Verbrechen involviert gewesen waren. Die Beschäftigung mit Genealogie sowie geschichtliches Interesse waren bei W4 und Martin Wähler dafür verantwortlich, dass die verschwiegene NS-Vergangenheit ihrer Familienmitglieder bekannt wurde. Mireille Horsinga-Renno berichtet von einem Gespräch, in dessen Verlauf ihr Großonkel die Existenz von Gaskammern geleugnet und sich dadurch selbst verraten hatte. Sie stellte in der Folge Nachforschungen an.

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Für 12 der in den 21 Fallbeispielen dargestellten Familiengeschichten lassen sich konkrete Zeitpunkte oder Anlässe ausmachen, zu denen das Schweigen erstmals durchbrochen worden war  : Ernst Stimmer führt ein Gespräch mit seinem Vater im Jahr 1987 an, Klaus Stanjek die Geburtstagsfeier, die ebenfalls 1987 stattfand, Lars Reichardt den Anruf, den er 2011 erhalten hatte, W1 den Friedhofsbesuch kurz vor Weihnachten 1996, ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters, Margit Eidenberger die Aufarbeitung des Nachlasses ihres 2011 verstorbenen Vaters, und Horst Reitter den Herbst 2015. W4 nannte 2011 als jenes Jahr, in dem das Schweigen ein Ende gefunden hatte, Jennifer Teege 2008, Claudia Brunner 1985, Mireille Horsinga-Renno 1993, Dietmar Weixler 1986 und Sacha Batthyany 2007. Im Fall von Herbert Kaar kann das Jahr 1998, in dem er mit dem Historiker Michael John in Kontakt gekommen war, angeführt werden. Seine Nachforschungen hatten jedoch bereits in den 1980er-Jahren begonnen. Für M1 wurde die Begegnung mit seiner Cousine W1 in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre als relevanter Zeitraum gewählt. Roman Frister veröffentlichte 1993 seine Autobiografie. Harry Merl verfasste 1981 Aufzeichnungen. Ursula Aistleitner schickte 1991 den Brief an den vermeintlichen Bruder ihres Vaters ab. 2000 folgten weitere Schreiben an Stellen, von denen sie sich Auskünfte über die Lebensgeschichte ihres Vaters erhoffte. In seinem in Form von Tagebucheintragungen gestalteten Buchbeitrag beschreibt Uwe von Seltmann, dass er sich in den 1980er- und 1990er-Jahren mit der Biografie seines Großvaters auseinandergesetzt hatte. Richard Danzmayr berichtete von einem ersten Nachfragen während seiner Schulzeit ebenfalls in den 1980er- und 1990erJahren. Martin Wähler publizierte 2018 einen Artikel über seine Nachforschungen. M2 erinnerte sich daran, die Fotos, auf denen sein Vater in Uniform abgebildet ist, Mitte der 1980er-Jahre bekommen zu haben. Die Qualität des zwischenmenschlichen Verhältnisses, das zwischen Vorfahren und den nachkommenden Generationen besteht, wurde als ein möglicher Grund für innerfamiliäres Schweigen genannt, ebenso das gesellschaftliche Klima, das beispielsweise in Österreich bis in die 1980er- und 1990er-Jahre geherrscht und die jahrzehntelang verbreitete Selbstsicht vom »victim to Hitlerite aggression«8 gestützt hatte. Äußere Anlässe trugen ihren Teil zum Durchbrechen des Schweigens bei, wie die von Klaus Mihacek als »wake-up call«9 bezeichnete international geführte Debatte über Kurt Waldheims NS-Vergangenheit, die 1986 eingesetzt hatte, die Rede des österreichischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky vom 8. Juli 1991 über die »moralische Mitverantwortung«10 und die schrittweise Anerkennung verschie 8 URL  : http  ://www.ibiblio.org/pha/policy/1943/431000a.html (letzter Zugriff  : 21.10.2021).  9 Interview mit Klaus Mihacek, S. 6. 10 URL  : https  ://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XVIII/NRSITZ/NRSITZ_00035/imfname_142026. pdf, S. 15 (letzter Zugriff  : 13.6.2019).

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dener Opfergruppen durch die Republik Österreich, ebenso die zwischen 1995 und 2004 gezeigten Wander-Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht. Bei aller Problematik, die mit dem Versuch einhergeht, Verallgemeinerungen auf der Basis eines nicht-repräsentativen Samples vorzunehmen,11 kann davon ausgegangen werden, dass Verschweigen von Opferschaft auf der einen Seite und Täter- oder Mittäterschaft auf der anderen Seite eine Strategie des innerfamiliären Umgangs mit der NS-Geschichte war und wohl auch weiterhin ist. Bei einem Teil der Nachkommen jener Personen, die geschwiegen hatten oder über die geschwiegen worden war, führte diese Strategie auch Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dazu, dass deren Weltbild ins Wanken geriet, wie es W1 formuliert, oder der nicht mehr erfüllbare Wunsch nach einem Gespräch über die Gründe des Schweigens entsteht, wie am Beispiel von Margit Eidenberger ersichtlich ist. Der Psychiater Klaus Mihacek bezeichnet das Schweigen über die NS-Geschichte zwar als »ungesund«,12 enthält sich aber einer Beurteilung des Handelns jener Personen, die den Mantel des Schweigens ausgebreitet hatten  : »Ich glaube, das kann man moralisch nicht bewerten, weil das ist wirklich jedem seine Entscheidung, ob er das tut oder nicht. Also da würde ich nie mir ein Urteil anmaßen.«13

11 Siehe exemplarisch Franz-Josef Brüggemeier, Aneignung vergangener Wirklichkeit – Der Beitrag der Oral History. In  : Voges (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, S. 155. 12 Interview mit Klaus Mihacek, S. 9. 13 Ebd., S. 11.

Dank

Allen Interviewpartnerinnen und -partnern danke ich herzlich für ihre Bereitschaft, sich mit meinen Fragen auseinanderzusetzen, für ihre Offenheit und das Bereitstellen von Dokumenten. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive, die ich konsultiert und besucht habe, bin ich ebenfalls zu größtem Dank verpflichtet, besonders Franz Scharf vom Oberösterreichischen Landesarchiv, Ursula Schwarz vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Hubert Steiner vom Österreichischen Staatsarchiv. Bei der Autorin Heide Stockinger und dem Historiker Rudolf Leo bedanke ich mich für Ideen, Anregungen und Kontakte, die sie mir zur Verfügung gestellt haben. Von den Mitarbeiterinnen des Böhlau Verlags sind meine Anliegen stets mit großer Wertschätzung behandelt worden. Ich danke der Lektorin Ute Wielandt für ihre Genauigkeit, Projektmanagerin Julia Roßberg für ihre Zielstrebigkeit, Programmplanerin Sarah Stoffaneller für ihr umfassendes Engagement und Geschäftsführerin Waltraud Moritz für ihre Großzügigkeit. Prof. Robert Kriechbaumer von der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek in Salzburg bin ich in höchstem Maße dankbar für sein Vertrauen und seine Expertise, Prof. Michael John von der Johannes Kepler Universität Linz für seine Unterstützung und sein Fachwissen. Ohne das Verständnis und den Rückhalt meiner Frau und unserer beiden Kinder wäre die Arbeit an diesem Projekt nicht möglich gewesen. Johannes Reitter Lichtenberg, im Jänner 2022

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Abbildungsnachweis Abb. 1

Fotograf Wilhelm Otto, Nachlass Ernst Stimmer, Eigentum von Familie Stimmer Abb. 2 bis 6 Nachlass Ernst Stimmer, Eigentum von Familie Stimmer Abb. 7 Fotograf Carl Linke, Eigentum von Klaus Stanjek Abb. 8 Fotograf Hans Padberg, Eigentum von Klaus Stanjek Abb. 9 Eigentum von Klaus Stanjek Abb. 10, 12 und 13 Oberösterreichisches Landesarchiv Abb. 11 und 14 Eigentum von Familie Kaar Abb. 15 und 16 Eigentum von M1 Abb. 17 bis 19 Eigentum von Margit Eidenberger Abb. 20 Nachlass Misiu Lazarovitz, Eigentum von Ursula Aistleitner Abb. 21 bis 23 Eigentum von Susanne Edtbauer Abb. 24 und 25 Eigentum von W4 Abb. 26 und 27 Nachlass Franz Herb, Eigentum von Uta Danzmayr Abb. 28 Oberösterreichisches Landesarchiv Abb. 29 und 30 Nachlass M2, Eigentum von W5 Abb. 31 Eigentum von Friedemann Derschmidt