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German Pages 312 Year 2014
Salvatore Pisani, Elisabeth Oy-Marra (Hg.) Ein Haus wie Ich
Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 14
Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Salvatore Pisani, Elisabeth Oy-Marra (Hg.)
Ein Haus wie Ich Die gebaute Autobiographie in der Moderne (unter Mitarbeit von Katharina Siebenmorgen)
Publikation gefördert durch den Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Inhalt
Vorwort .......................................................................................... 7
Einführung(en) in die Wohnhöhle Ich-Architektur. Das Haus als gelebte Vita und Alter Ego ................................... 9 SALVATORE PISANI In den eigenen vier Wänden ...................................................... 41 KURT W. FORSTER
„Wohnen im Haus der Sprache“ Über den Raum des Denkens. Ein paar Bemerkungen, ausgehend von Heideggers ›Hütte‹ und mit einem kleinen Holzweg zu Mies van der Rohes ›Villa Tugendhat‹ ................. 63 URSULA PIA JAUCH Ich im Textgefängnis. Überlegungen zu Franz Kafkas ›Der Bau‹ ................................ 85 KATHARINA SIEBENMORGEN
Life Building/Life Writing Goethes Einquartierungen. Zur autobiographischen Dimensionalität besetzter Räume ....................................................................... 103 MARTINA WAGNER-EGELHAAF Autobiographie und ästhetische Erfahrung. John Soanes Künstlerhaus in Lincoln’s Inn Fields .............. 129 CARSTEN RUHL
Der Palast des Landbriefträgers Ferdinand Cheval – ein Pantheon fürs universale Ich ..........................................157 GREGOR WEDEKIND Das Buch zum Haus. Publizierte Architektendomizile der Moderne .........................181 JÖRG STABENOW Die Villa als unzeitgemäße Reflexionsfigur des Selbst im faschistischen Italien ........................................203 SALVATORE PISANI
Entfestigungen/Befestigungen Vom Haus „wie Wir“ zum Haus „wie Ich“. Frank Owen Gehrys Haus in Santa Monica als Sinnbild für Derridas Kritik an Heidegger und für den Bruch mit der Tradition kollektiver Identität in der Architektur ........................................................219 MATTHIAS MÜLLER Das Haus als Körperteil und Obsession. Louise Bourgeois’ ›Femme Maison‹ und ›Spider Cell‹ ..........249 ELISABETH OY-MARRA Corps de songes/Corps de cauchemars? David Finchers Film ›Panic Room‹ ..........................................267 HENRY KEAZOR Festungen zum Wohnen. Einfamilienhäuser und Wohnungen der 1960er Jahre ........................................................................289 KLAUS JAN PHILIPP Abbildungsnachweis .................................................................309
Vorwort Die Rede vom „Haus wie Ich“ gilt einem Hybrid. Sie will die in der Moderne vorgenommene Trennung zwischen Subjekt und Objekt bzw. jene zwischen dem Ich und den eigenen vier Wänden hintergehen. Damit ist angedeutet, dass wir über eine Architekturgeschichte hinauszuschauen beabsichtigen, die nur ihre disziplinären Grenzen kennt. Es geht uns darum, ausgehend von der stabilsten Kulturtechnik des Menschen, der Architektur, das polyvalente und flexible Ineinander von gebautem und innerem Haus zu thematisieren. Der Mensch bewohnt mit dem Haus ein Kleid, das ihn einfasst und umhüllt. Das bedeutet Schutz, gewährt aber auch die Möglichkeit dem Selbst Ausdruck zu geben. Das berührt elementare Gegebenheiten unserer Kultur. Der Sammelband wird deshalb keine Geschichte des Wohnens und der Einrichtungsstile oder eine sozial- und typengeschichtliche Abhandlung über das Haus in der Moderne vorlegen. Diese sind Legion. Unser Anliegen ist ein anderes. Das Buch siedelt sich an einer Schnittstelle zwischen Architektur- und Subjektgeschichte an. Darum wurde besonders die Nähe bzw. Auseinandersetzung mit der Autobiographieforschung gesucht, die sich seit langem zentral der Selbstthematisierung und den Selbstinventarisierungsformen von Individuen widmet. Von ihr sollte für die Architekturgeschichte gelernt werden. Der vorliegende Sammelband ist das Resultat der gleichnamigen Tagung, die vom 27. bis 29. Oktober 2011 an der Universität Mainz am Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften stattgefunden hat. Die Herausgeber möchten dem Sprecher des Forschungsschwerpunktes Prof. Jörg Rogge für die Unterstützung des Projektes und die Aufnahme des Bandes in die vom Schwerpunkt betreute Reihe danken. Den Autorinnen und Autoren sei für Ihre Mitwirkung und die Einhaltung des relativ engen Zeitraumes für die Fertigstellung gedankt. Prof. Kurt W. Forster sei gedankt, den Band um seinen Beitrag bereichert zu haben. Für ihre Hilfe bei der Durchführung der Tagung sei ein 7
Vorwort
besonderer Dank Kristina Müller-Bongard sowie den wissenschaftlichen Mitarbeitern und Hilfskräften des Kunsthistorischen Institutes Mainz Dr. Christian Berger, Dr. Juliane von Fircks, Dr. Klaus Weber und Xenia Schramek ausgesprochen. Die Herausgeber
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Ich-Architektur Das Haus als gelebte Vita und Alter Ego SALVATORE PISANI Heißt es nicht in der augenblicklichen nervösen Angst den Bau sehr unterschätzen, wenn man ihn nur als eine Höhlung ansieht, in die man sich mit möglichster Sicherheit verkriechen will? (Kafka, Der Bau)
Es gehört zu den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, dass das Haus den Menschen gegen die Unbill der Welt (Naturgewalten, Feinde, ja böse Geister) schützt. Tür- und Fensteröffnungen stellen dabei naturgemäß Schwachstellen im Sicherheitssystem der Hausarchitektur dar, weshalb auf ihre Versiegelung und Verriegelung besonders geachtet wird. Und doch macht die Anekdote, die der Physiker Niels Bohr 1927 von seinem Nachbarn erzählt, der über dem Hauseingang ein Hufeisen anbringt, stutzen – und dies gleich in zweifacher Hinsicht. Denn auf die Frage hin, ob er abergläubisch sei, soll der Nachbar geantwortet haben: „Man sagt doch, daß es auch dann hilft, wenn man nicht daran glaubt“.1 Der Hausbewohner des 20. Jahrhunderts überantwortet sich also ganz anachronistisch einem archaischen Symbol, dessen magische Aura Bedrohung und Angst ‚draußen‘ halten soll.2 Die Sache erinnert daran, dass die Einrichtung eines schutzgewährenden Platzes den Anfangsgründen des Bauens angehört.3 Dürfte Angstprävention den Menschen in die Abgeschlossenheit der eigenen vier Wände gedrängt haben,4 so erlaubten diese ihm, sich nach innen zu wenden und damit zum – für alle sichtbaren – Solitarius zu werden. Denn das 9
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kann man aus der Anekdote von Bohrs Nachbarn lernen: Das Amulett (das Hufeisen) versiegelt das Heim, aber es zeichnet es auch aus. Innerlichkeit und Sichtbarkeit, welche die zwei Seiten einer Medaille sind, gehen über das reine Schutzbedürfnis des Menschen hinaus. Das Haus ist Hülle, aber auch Verhüllung.5 Es gewährt Schutz, aber es ermöglicht auch ein abgesondertes Selbstsein und verschafft dem Selbst Evidenz. Selbsteinkehr ist eine alteuropäische Kulturpraxis und Teil einer frühen Geschichte der Individuation.6 Es kann diese hier nur mit einem Blick auf Francesco Petrarca angedeutet werden. Aus seiner Feder stammt jener Mastertext, De vita solitaria (entstanden 1346-1356), der den räumlichen Rückzug des Individuums in die mentale Unbelangbarkeit beschrieben und sozial verortet hat.7 Petrarca bindet Selbstsein (sibi vivere/suus esse) an einen einsamen Ort (solitudo loci), der Abkehr und Abschluss gegen die Unruhe der Welt und Konzentration auf das Spirituelle bieten soll. Dem „inneren Rückzug“ (retraite spirituelle) ist die Klause reserviert, die Petrarca für sich selbst mit dem Namen von Vaucluse (bei Avignon) verknüpft hatte, wo er in den Bergen ein abgelegenes Wohnhaus besaß.8 Abschirmung und Distanzierung von den Alltagsgeschäften sollte Autarkie und Stärkung von Seelenruhe garantieren.9 Abgerücktheit impliziert die Umhüllung des Ich, die bei Petrarca bar eines Fassadenkörpers bzw. einer Zweitcodierung bleibt. D.h. seine Umhüllung kennt keine Differenz zwischen Intention und Ausdruck. Sie ist unmittelbar, unverstellt und also authentisch. Petrarca bedient sich für seinen Individuationsentwurf zweier Gegenfiguren, des homo solitarius und des homo occupatus. Während Ersterer seine Lebensrhythmen zu synchronisieren versteht (er schläft ruhig und erfüllt), kommt Letzterer nie ins Lot (er verbringt die Nächte voller Unruhe).10 Was sich wie ein modernes Vademecum zur „Work-Life-Balance“ liest, thematisiert ein neuzeitliches Souveränitätsprinzip, das der Solitarius aus seiner Selbstvergewisserung gewinnt.11 Anders gesagt: Er vermag der Welt deshalb selbstsicher zu begegnen, weil er – in Umkehrung zu einer bekannten Formel Freuds gesagt – Herr im eigenen Hause ist.12 Er rüstet sich von innen heraus für die Turbulenzen der Vita activa draußen. Selbsteinkehr ist keine Absage an die Welt, sondern – wörtlich genommen – Rückzug in ein inneres Haus; ein mentaler Akt also. In Bezug auf Vaucluse schreibt Petrarca nicht von Ungefähr „soli studio aptus“,13 zu deutsch: ist Denkgehäuse – und nicht Medium der Selbstbekundung.
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Im Laufe der Frühen Neuzeit hat die Selbstbekundung bekanntlich eine feste literarische Heimstatt in Tagebuch, Memoiren und Autobiographie gefunden.14 Da erstaunt es nicht weiter, dass ihre Geschichte als Geistes- und Sozialgeschichte geschrieben wurde, obgleich sie mit dem Haus als einem Ausdruckskörper genauso an eine materielle Hülle gebunden war und ist.15 Das gilt umso mehr für die Moderne, als das Selbst nicht nur in immer differenzierteren literarischen Beschreibungen hinterfragt und mit der Psychoanalyse schließlich anatomisiert wurde,16 sondern mit der (bürgerlichen) Wohnstube ein geeignetes Mittel der Selbstmanifestation und eine intime Stätte der Selbstbegegnung ausbildete. Haus und Wohnraum wurden im 19. Jahrhundert zum Reduit und Container privater Gefühle und Sinnhaftigkeit. Das reflektieren nicht zuletzt die synonym verwendeten Begriffe von Interieur und Innenleben.17 Selbstpreisgabe und Selbstvergegenwärtigung im Haus bewegen sich an einer Nahtstelle zwischen Schrift- und Objektkultur. Das Interieur ist einerseits beschreibbare Oberfläche, in der sich Befindlichkeiten und Selbsterzählungen einlagern lassen, wodurch sich das Feld der autobiographischen Schreibsysteme erweitert. Andererseits lässt seine Dinglichkeit es als organische Extension des Bewohners erscheinen. Letzterer Befund greift auf die Vorstellung eines sich im Interieur materialisierenden Ich zurück; ein Ich, das sich in die Dinglichkeit der Dinge ‚eingewohnt‘ hat.18 In diesem Sinne wird nachfolgend vom Interieur als physischer Entsprechung seines Bewohners die Rede sein, der deshalb auch in Abwesenheit anwesend ist.19 Walter Benjamin hat den Befund in ein Denkbild des Taktilen gehüllt: Das Haus trägt den „Abdruck seines Bewohners“.20 Das heißt nichts anderes, als dass das Ich sich der Architektur überträgt und sich ihr einkörpert.21 Es entspricht dabei durch und durch bürgerlicher Subjekt-Konzeption, das Haus als zweiten Körper zu begreifen, das dem Ich Schutz und Sesshaftigkeit gewährt.22 Haus und Interieur bilden im Zeitalter der Bürgerlichkeit Garanten von Einheit und Kohärenz des Selbst.23 Die innere Tektonik geriet in der folgenden Krise des Ich-Bewusstseins („Loss of the Self“), Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, ins Wanken.24 Die Verabschiedung der Vorstellung eines autonomen, kohärenten Selbst zugunsten seiner Aufspaltung und Erweiterung zu einem multiplen Ich zog eine Rekonzeptualisierung des Hauses und seiner Beziehungsfähigkeit zum Selbst nach sich. Die architektonische Moderne setzte – kontrastiv zur bürgerlichen Epoche – auf Porosität, Transparenz und Flexibilität des Wohnens und vernetzte den Hausbewohner (alias Benut-
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zer) zunehmend in außerhäusliche Texturen und Strukturen. Die Architektur reagierte nicht nur auf den flexiblen Menschen, sie formte ihn auch wesentlich mit – und stabilisierte letztlich seine in Bewegung geratene Lebensbahn. In der architektonischen Moderne sollte sich das Verhältnis von Haus und Bewohner zwar nicht auflösen, aber doch auffällig lockern und weiten, was noch die Postmoderne kennzeichnet.25 Heute ist eine Auslagerung primärer Funktionen des Hauses nach Draußen auffällig: Ich lebe in einem gläsernen, offenen Haus und es schützen mich (nicht-architekturale) Sicherheitssysteme, nämlich Videokameras und Wachdienste.26 Auch habe ich zuhause eine Couchecke, aber auch die Wartehalle im Hotel und Flughafen sowie Badeund Gartenareale bieten Loungelandschaften, welche das Denkbild der eigenen vier Wände qualitativ erweitern. Man nimmt das Heim gewissermaßen mit auf Reisen, mit in die Freizeit. Das schlägt sich in der Rede von der „Ausbürgerung des Wohnzimmers“ und der Privatisierung des öffentlichen Raumes nieder.27 Umgekehrt dringt auch das Exterieur ins Interieur, was den Status von Subjekt und Privacy unmittelbar berührt. Richard Hamiltons berühmte Collage von 1956 gibt Einblick in ein amerikanisches Wohnzimmer, das sich als Produkt des Wirtschaftsbooms und der damit aufkommenden Massenkultur zeigt (Abb. 1). Die Bewohner, ein halbnackter Bodybuilder mit Tennisschläger und ein barbusiges Pin-up-Girl unter der Trockenhaube, zeigen sich dem popkulturellen und warenästhetischen Design der Ausstattung nachmodelliert.28 Der Alienation der Privatsphäre entspricht die Alienation des Ich. Was hier auf die Spitze getrieben ist, liegt in Wirklichkeit in Mischungsverhältnissen vor. Das Verhältnis von Drinnen und Draußen kennzeichnet vielmehr eine modernetypische ‚Ja, aber-Bewegung‘: Ja, ich bewege mich in einer globalen Netzstruktur, aber ich ziehe mich zugleich in meinen Bau zurück. Die Architektur des Ich-Hauses ist nicht allein Darstellungsmedium (semiotisches System), sondern sie macht auch etwas mit dem Ich – sie hat eine (per-)formative Kraft.29 Sie besitzt das Potenzial, das Subjekt körperhaft und mental zu verändern, zu modellieren und zu formen. Dieses Potenzial wirkt nicht subaltern und im Verborgenen, es ist evident und es erzeugt Evidenz: Franz Lehnbachs opulentes Atelierwohnhaus (1887-1890) in München etwa formt seinen Bewohner notwendig anders als Le Corbusiers eremitenartig winziger Cabanon (1952) am Cap Saint Martin.30 Als Alter Ego vergrößert respektive verkleinert das Haus den Umriss seines Bewohners. Zentral ist dabei der Umstand, dass das Haus dem Selbst faktische Relevanz verleiht. Dies 12
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ist mit der Formel von der Extension des Ich auf die Dinge – und umgekehrt – gemeint. So wie sich das Ich in einem Kleidungsstück abdrückt und das Kleidungsstück vice versa das Ich formt, so tut auch das Haus etwas mit dem Ich. Es be-dingt dessen Subjektivität und Bewusstsein. Man könnte mit Bruno Latour auch sagen, das Haus ist zwar kein Akteur, aber doch ein Objekt mit agency, mit Handlungsmacht.31 Das Haus also ein Co-Autor unserer Biographie.32
Abb. 1: Richard Hamilton, Just what is it that makes today’s home so different, so appealing?, 1956. Tübingen, Kunsthalle Ich und Haus stehen in einer Relation, die nicht unilinear ist, sondern eine gegenseitige Interdependenz kennt. Das macht Ich-Architektur zu einem offenen Prozess. Es geht darum, wie sich einerseits das Selbst in den gegebenen Strukturmustern der Wohnarchitektur erzählt und inszeniert, andererseits wie sich diese Muster im Handeln und Verhalten des Ich erst hervorbringen und entfalten. Es entsteht ein Haus-Mensch-Gefüge. Die Architekturgeschichte hat sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass der Architekt zwar der maßgebliche 13
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Entwerfer, aber nicht der alleinige Gestalter eines Hauses ist – der Entwurfsprozess mit der Ausführung des Hauses noch lange nicht abgeschlossen ist. Auch ist das Hybrid von Ich und Haus kein Monstrum, das von außen in unseren Alltag einbricht, sondern eine Selbstverständlichkeit, die – wie das dem Selbstverständlichen eignet – in der Regel unbemerkt bleibt. Eine hingegen sichtbare Relation zwischen menschlichem Körper und Baukörper bietet die seit Vitruv bekannte und von Leonardo da Vinci bis Le Corbusier praktizierte Übertragung des menschlichen Proportionsmaßes auf die Architektur.33 Architektur wird anthropometrisiert. Das ist etwas anderes als die subjektive Relation zwischen Ich und Haus bzw. das subjektive Arrangement, in das Architektur gerät.34 Die Vereinigung von Subjekt und Haus, um die es hier geht, ist nicht-mimetischer Natur und sie ist nicht messbar wie im Anthropomorphismus. D.h. sie stellt sich nicht als das dar, was die moderne Wissenschaft einen positiven Fakt nennt. Die Sache präsentiert sich vielmehr in einer gewissen Uneindeutigkeit. Wo fängt das Haus an und wo hört das Ich auf? Wo ist die Schnittstelle zwischen menschlichem Körper und Baukörper? Wie kann eine materielle mit einer nicht-materiellen Entität eine Einheit bilden? Die Sache liest sich irrational, lässt die Moderne doch nur dichotome Begriffspaare gelten. Entweder ist alles schwarz oder weiß, Subjekt oder Objekt, Ich oder Haus. Ein Dazwischen ist der Vernunft nicht denkbar. Mensch-Ding-Beziehungen hat bereits die aufgeklärte Philosophie als unaufgeklärt von sich gewiesen. Und dennoch existieren – ungeachtet des Aufklärungs-Verdikts – die Hybriden in der Moderne weiter, ja, die Moderne produziert sie zuhauf selbst. Ich setze mich in ein Auto und fahre los, womit ich mit dem Auto eine temporäre Einheit eingehe. Auto wie Haus vergrößern meinen Umriss, verändern Befindlichkeiten und steigern meinen Handlungsradius. Deshalb die Formel: Ich bewohne das Haus und das Haus bewohnt auch mich. Aus der Vereinigung erwächst eine gegenseitige Interdependenz.35 Weil Ich-Architektur von polymorpher Gestalt ist und ihre Grenzen von Fall zu Fall unterschiedlich verlaufen, ist sie schwerlich zu vereindeutigen – was einer Architekturgeschichtsschreibung, die auf ihr Schubladensystem (Gattungsgeschichte, Typologie, Personengeschichte) beharrt, kaum behagen kann. Eine Konzeptualisierung des Hauses als Ich-Architektur kann die bewährten Verfahren der Architekturgeschichte integrieren, ohne sie abzulösen, und sich zugleich auf ein Kräftefeld jenseits der reinen Rezeptions- und Fortschrittsgeschichte einlassen, damit die eine oder andere Architektur mehr ist als das Produkt von X oder der Vorläufer von Y. Es gilt auch nicht, das Haus 14
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allein als ein neues biographisches Ich-Formular bzw. als weiterer Träger von (Zweit)Codierungen in Betracht zu nehmen. Die Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Haus als gebaute Autobiographie kann die affektiven wie dinglichen Dimensionen freilegen, die unser Verhältnis zu den eigenen vier Wänden bestimmen. Kurzum: Die Rede von Ich-Architektur zielt nicht auf einen ‚innovativ‘ verstandenen Methoden- und Theorie-Diskurs – und das in dem Glauben, dass ihre Betrachtung auch ohne Turn drive hat. Die Thematisierung von Ich-Architektur will sich einer hybriden Sache nähern, eben den verschiedenen Formen der Überlagerung, Verknüpfung und Vermischung von Ich und Haus. Um den Begriff in seiner relationalen Vielfalt nicht zu überdehnen und zu überfordern, werden im Folgenden einige diskursive Orientierungen und Grenzmarken angeboten. Dabei wird sich zeigen, dass das Reden vom Haus wie Ich nicht neu ist und als Konzept längst existierte, bevor es nun als Pointierung eines Befundes von den Wissenschaften entdeckt wird.36
P e r s o n e n w ie D in g e Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren. (Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge)
Haben die Jahrzehnte nach der Französischen Revolution der Öffentlichkeit ein modernes Erscheinungsbild verliehen, entwickelte sich gleichzeitig ein bis dahin nicht gekanntes intimes Verhältnis zu den eigenen vier Wänden. Das Private gewann gegenüber dem Öffentlichen an Trennschärfe. Eine sozialgeschichtliche Prämisse hierfür hat Otto Brunner in seiner Studie zum Ganzen Haus herausgearbeitet.37 So sei für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Zuge der Verstädterung und Verbürgerlichung die Trennung der Kernfamilie aus dem Verbund des „ganzen Hauses“ kennzeichnend, das in der Vormoderne Hausvater und Hausmutter, Kinder und Gesinde, ja Stallvieh und Kornfeld als (ökonomische) Einheit umfasste.38 Im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog sich – abgesehen von Arzt-, Handwerker- und Künstlerhäusern – die Ausbürgerung des Arbeitsbereiches aus dem Wohnhaus, was einem erhöhten Bedürfnis nach Isolation und Privatheit entsprach. Die Entmischung der Funktionen gehorcht zumal dem Rationalprinzip der Moderne. Die gemischte Behau15
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sung wich einer feinstrukturierten Raumaufteilung; die Lebensbereiche wurden funktional vereindeutigt. Das Haus wurde in Tag- und Nachtbereiche und in Ess-, Schlaf-, Kinder- und Wohnräume segmentiert und differenziert. Selbst der Anspruch auf den eigenen Wohnbereich innerhalb des Familienverbandes löste sich auf weiten Strecken ein. Kurz: Das Leben privatisierte. Im Zuge dieser Dissoziationsgeschichte differenzierten sich auch Möbel und Haushaltsgeräte in eine bis dahin unbekannte Vielfalt aus, die das Bild des Zuhauses ebenso wie den praktischen Lebensvollzug tiefgreifend veränderte, dabei freilich auch rationalisierte.39 Gleichwohl traten dem Differenzierungs- und Rationalitätszuwachs (kompensatorisch) neue Bindekräfte an die Seite. Nicht von Ungefähr hielt der Komfort im 19. Jahrhundert Einzug und machte aus dem Wohnen eine gehobene und erhebende Lebensform. Als behaglich eingerichteter Kokon gedieh das Haus zu einer neuartigen Wohlfühlwelt des Ich. Das Gesagte gilt zumindest für den bürgerlichen Haushalt, in dem sich seit circa 1800 ein auffällig emotionales Verhältnis zum eigenen Heim zu entwickeln begann. Ein einprägsames literarisches Zeugnis aus der Konstituierungsphase des Bürgertums stammt von Ernst Moritz Arndt, der die Heimstatt des Menschen als affektbestimmten Geborgenheitsraum beschreibt: Der Mensch „liebt das Bett, worin er manche Jahre geschlafen, den Stuhl, worauf er gesessen, den Baum, worunter er als Knabe gespielt hat“.40 So sächlich und apersonal die Dinge sind, sie erlangen im vertrauten Umgang einen Status, der sie zur Mitwelt des Menschen macht.41 Es entspricht diesem Verständnis, wenn Arndt weiter befindet, dass Räume mehr sind als bloße Aufbewahrungsorte für Menschen: „Der Mensch gewohnt sich heißt ursprünglich: der Mensch befestigt seine Gedanken und seine Liebe um seine Wohnung, er gewinnt etwas Festes und Sicheres lieb, er giebt das Unstäte und Unheimische auf“.42 Haus und Dinge überführen den Zustand der menschlichen Haltlosigkeit und des Driftens in eine fixe und kohärente Bahn. Sie sind langfristige Stabilisatoren der inneren und äußeren Biographie. Die Kompatibilität von Haus und Ich ist zentraler Bestandteil der Subjektkonstitution des Bürgerlichen Zeitalters.43 Ausstattungskultur und Möbeldesign konnten vom Biedermeier bis zum Fin de Siècle noch so viele Gesichter annehmen, was gleich blieb, war die Unverbrüchlichkeit von Bewohner und Haus, die sich als innere Signatur des bürgerlichen Wohnens verstand. Das Zimmerbild des bayerischen Legationssekretärs Alexander von Fahnenberg zeigt das Wohnzimmer seines Berliner Appartements als kleinbürgerliche Idylle (Abb. 2).44 Die akkurate Disposition von Möbeln und Objekten ist 16
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ausgestelltes Portfolio von charakterlichen Eigenschaften und einem klar konturierten Lebenszuschnitt; es ist aber auch narratives Netz, das Hausherr und Einrichtung miteinander verknüpft.45 Persönliche Mementos zieren den Trumeauspiegel der Fensterwand, darunter Karten mit „Ansichten v. München, und anderen Schwärmereien“, so die Rose einer angebeteten Dame.46 Die Intimität des ‚Bewohnten‘ und Gewohnten wird zu einer qualitativ neuen Hülle, mit der sich der Hausherr umgibt. Wenn er sich in das geräumige Fauteuil und in die Zeitungslektüre einhüllt, ist das nicht einfach Accessoire und Pose, es findet im Gravitationszentrum eines liebevoll arrangierten Dingensembles statt. Ich und Dinge geraten in eine unausweichliche Bezüglichkeit.
Abb. 2: Stephanie von Fahnenberg, Wohnzimmer von Alexander von Fahnenberg in Berlin, Wilhelmstraße 69. Aquarell. Ausschnitt. 1837/38. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum Die Einrichtungsindustrie des 19. Jahrhunderts hat hieraus ihre Geschäftsphilosophie gezimmert: „Tel le logis, tel le maître“, wie ein bekannter Einrichtungsratgeber warb. Man liest dort weiter: 17
Salvatore Pisani „Il faut qu’un appartement soit dans le caractère des gens qui l’habitent, qu’il porte leur marque. Point d’autre moyen d’être réellement chez soi. Différement, on vit ailleurs, comme à l’hôtel.“47
Musterbuchschreiber und Ausstattungsindustrie verkehren allerdings die Kausalitäten des Kompatibilitätsdiktums. Denn nicht (mehr) der Bewohner drückt der Stube seinen Stempel auf, vielmehr implementiert die Stube dem Bewohner eine (kataloggerechte) Rollenidentität.48 Den Trugschluss invisibilisiert die Kulturindustrie selbst, indem sie eine Angebotspalette unterbreitet, die jedermanns Bedürfnisse trifft. Es entspricht dem Werbeprinzip des Industriezeitalters, Möbel für Identitäten zu verkaufen und einen Schein von (nicht vorhandenem) Selbst zu erzeugen. Insofern lässt sich formulieren, dass, nachdem die Wirklichkeit des frühen 19. Jahrhunderts das Selbst in die Stube eingeführt hatte, es die Industrie zum Jahrhundertende wieder aus der Wohnlandschaft tilgte – womit die „Entprivatisierung des Privaten“ begann.49 Eine der bekanntesten Textstellen der deutschsprachigen Literatur hierzu stammt von Robert Musil, der im Mann ohne Eigenschaften seinen Protagonisten Ulrich eine Wohnung einrichten lässt. Es heißt dort, dass sich Ulrich „von der Verantwortung, sich ein Haus einrichten zu dürfen, gewaltig aufgerüttelt [fühlte], und die Drohung ‚Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist‘, die er wiederholt in Kunstzeitschriften gelesen hatte, schwebte über seinem Haupt. Nach eingehender Beschäftigung mit diesen Zeitschriften kam er zu der Entscheidung, daß er den Ausbau seiner Persönlichkeit doch lieber selbst in die Hand nehmen wolle, und begann seine zukünftigen Möbel eigenhändig zu entwerfen“.50
Dass sich Ulrich der Angelegenheit selbst annimmt, verhindert freilich nicht die Verwechslung von Interieur und Innenwelt. Denn es entspricht dem ideologischen Selbstverständnis der Moderne, dass ‚Individualität‘ jenen zugesprochen wird, die sich Codes der Individualität einzuverleiben verstehen,51 oder um es mit einem anderen Kritiker des Industriezeitalters, Rilke, zu sagen: „Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen“.52
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E in H a u s w ie Ic h In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslich sich ein. (Adorno, Minima Moralia)
Kleider können unterschiedliche Gestalt annehmen und bleiben doch, was sie sind: Medien der Verhüllung. (Selbst Text kann, wie das Adorno-Zitat zeigt, ‚einkleiden‘). An dieser Tatsache sehen gattungs- und stilgeschichtliche Ansätze naturgemäß vorbei. So würden etwa in einer gängigen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Gabriele D’Annunzios Villa am Gardasee (das Vittoriale degli Italiani) und Curzio Malapartes Villa auf Capri schwerlich in einem Kapitel abgehandelt werden. Die eine ist Erbe der Schwulstkultur des Fin de Siècle, die andere Produkt der architektonischen Moderne.53 Und doch eint beide ein Kulturmuster, das viel über das subjektive Tragwerk von HausArchitektur verrät. D’Annunzio nannte das Wohnhaus seiner Villenanlage „Prioria“, womit er klösterliche Abgeschiedenheit zur Anzeige brachte; Malaparte baute nach eigener Auskunft in der „wildesten“ und „einsamsten“ Gegend der Insel Capri, dem Cap Massullo. Was sich als Einsamkeitstopos liest, ist genauso Zeichen eines sozialen Schismas. Bei beiden Schriftstellern ging dem Entschluss, sich eine Villa zu bauen und dorthin zurückzuziehen, ein traumatisches Ereignis voraus. Bei D’Annunzio war es das Scheitern der eigenmächtigen militärischen Besetzung von Fiume (Rijeka) 1919/20, bei Malaparte das Exil als politischer Häftling auf der Insel Lipari 1933/34 durch Mussolini. Die (exzentrische) See- bzw. Meereslage erzählt von (selbstgewähltem) Exil und gesellschaftlicher Trennung. Die Villa wiederum markiert den Wunsch nach einem (umhüllenden) Haus, dessen das (entblößte) Ich für seine Re-Konstituierung und erneute Manifestation bedarf. Gabriele D’Annunzio, Vates der italienischen Literatur und Militärkommandant im Ersten Weltkrieg, hat in Gardone Riviera – wie er nicht ohne Verve in dritter Person formulierte – „die Reste seiner Schiffbrüche“ versammelt (Abb. 3).54 In Park und Parkgebäuden des weitläufigen Villenkomplexes sind jene Objekte stillgestellt, die von Triumph und Niederlage des SoldatenDichters erzählen. Ausrangiertes Kriegsgerät, Bombenhülsen, der Bug eines
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Abb. 3: Il Vittoriale degli Italiani. Die Villa Gabriele D’Annunzios am Gardasee, 1922-1938 Kreuzers, von Kugeln ‚verwundete‘ Kunstwerke, ein Torpedoboot, Flugzeugpropeller u.v.a.m. bringen die gebrochene Lebenskurve des militanten Geistesheros zur Anschauung und sind zugleich Palliative gegen Vergängnis und Selbstverlust. Indem die Reste das ‚Verlorene‘ festhalten, sind sie konservativ und sichernd, aber als integrierte Bestandteile der Alltagswelt zugleich lebendig und vitalisierend. Als Garanten einer Zukunftsgewissheit stellen sie sich gegen die Zerstreuung und das Zerfließen im Strom der Zeit. Die Selbstmagazinierung im Haus als Akt der Sicherung also. Die gewaltige Dingansammlung im Vittoriale ist das Äußerliche eines inneren Zustandes D’Annunzios, der sich nach den Wirrnissen von Fiume zu sammeln unternimmt. In paradoxer Weise kreuzen sich in D’Annunzio der aktionistische Intellektuelle der Avantgarde mit dem introspektiven Décadent des Fin de Siècle. Letzterem hat D’Annunzio in der opaken Innenwelt der Prioria Obdach ge20
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währt. Die Überfülle an hier gehorteten Ausstattungsstücken reicht von zeitgenössischen Kunstwerken, Gipsabgüssen von Renaissancewerken, Musikinstrumenten, orientalischen Luxusobjekten über Tapisserien, Prunkfolianten, Zimelien, Totenmasken, Nippes, Statuetten bis hin zu Glücksbringern, Amuletten und magischen Steinen.55 D’Annunzios Interieurwelt erweist sich dabei als freie Kopie von Joris-Karl Huysmans’ À rebours (1884), dem literarischen Hauptwerk der ästhetischen Décadence. Man könnte auch sagen, dass Text hier gleichsam Haus wird, dessen besondere Eigenschaft es nun ist, leiblich zu involvieren und zu vereinnahmen.56 Das Haus ordnet und stärkt das bewohnende Selbst, doch vermag das hier aufgebotene szenische Potenzial noch mehr. Es ist Vehikel einer Hybris. Sei es semiotische Codierung, sei es szenische Entfaltung, kein Autobiograph kommt umhin, seiner Inszenierung die Glaubwürdigkeit zu verleihen, nichts als die Wahrheit zu sagen.57 D’Annunzio begegnet diesem Kernproblem aller Selbstthematisierung mit einer ihm eigenen Neigung zum Paradox, und zwar mit der Überinszenierung im Modus der Authentizität. Er bekundet, dass alles, was er sagt, schreibt, gestaltet, berührt, Selbstentgrenzung ist, die nicht anders als selbstevident sein kann: „Nicht nur jedes von mir eingerichtete Haus [auf dem Grundstück des Vittoriale], nicht nur jedes von mir sorgfältig zusammengestellte Zimmer, sondern gar jeder Gegenstand, den ich zu verschiedenen Zeiten in meinem Leben ausgewählt und zusammengetragen habe, war für mich schon immer eine Form des Ausdrucks, eine geistige Offenbarung, wie eine meiner Dichtungen, wie eines meiner Dramen, eine beliebige unter meinen politischen und militärischen Taten, wie ein jedes meiner Bekenntnisse zu einem gerechten und unbeugsamen Glauben“.58
Die demonstrativ vorgetragene Hybris lässt fragen, ob hier Erzähl- und Inszenierungsmuster allein die sozio-kulturelle Position des transgressiven Avantgarde-Subjekts kennzeichnen, oder nicht auch ein parodistisches Manöver enthalten, durch welches der Dichter-Soldat sich der Schablone des modernen Selbstkults, indem er sich ihrer bedient, zugleich entzieht. Als D’Annunzio (aus ungeklärten Gründen) aus dem ersten Stockwerk seiner Villa fiel und dabei eine nur leichte Kopfverletzung erlitt, münzte er das Ereignis zum Flug des Erzengels Gabriel um.59 Die ‚unglaubliche‘ Überinszenierung wird zum Maß des Authentischen. 21
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In der Stanza delle Reliquie stehen neben einem Divan ein christlicher Altar nebst schmückender Monstranzen, die durch Projektilsplitter und Fahnenreste zu Reliquienbehältern des ‚Märtyrers‘ D’Annunzio umgerüstet werden (Abb. 4). Vor dem Altar liegt als Clou des Ganzen das zerborstene Steuer eines Motorboots des Engländers Sir Henry Segrave, der am 13. Juni 1930 beim
Abb 4: Die Stanza delle Reliquie im Wohnhaus von D’Annunzio am Gardasee, 1929 Versuch, auf dem See von Windermere den Geschwindigkeitsrekord zu brechen, den Tod fand. Zu dem Rennen ermutigt hatte ihn D’Annunzio, der das Steuer dann gleich einer Blutreliquie seiner Sammlung von religiösen Fetischen aller Weltreligionen integrierte.60 Wie beim Fenstersturz wird hier das Ereignis in einen überrealen, transzendierenden (Erzähl-)Rahmen integriert, mit dem allerdings (performativen) Unterschied, dass die Reliquie unmittelbar 22
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ergreift, involviert und überwältigt. Unter Ausnutzung idolatrischer Mechanismen sowie ihrer Zeichen und Gegenstände (Fetische) betreibt D’Annunzio seinen eigenen Personenkult. Nur: wer ein Lenkrad gleich einem religiösen Readymade in ein magisches Milieu integriert und verheiligt, bedient sich nicht nur einer Beschwörungsgeste, er konterkariert sie zugleich. Und in diesem Surplus bleibt D’Annunzio sich treu. D’Annunzio sollte seine Santa Fabbrica, wie er das Vittoriale apostrophierte, noch zu Lebzeiten dem italienischen Staat schenken, womit Haus und Hausstand in die (unantastbaren) Bestände der Nation übergingen.61 Das ist die Bestandssicherung in der Zeit durch eben jene Instanz, welche die Niederlage von Fiume zu verantworten hatte. „Ich besitze das, was ich geschenkt habe“, liest der Besucher am Eingangstor.62 Der Solitarius geht kraft seiner Villa eine Synthesis mit der Nation ein. Das Haus hüllt also schützend ein Ich ein, verhüllt aber zugleich seine Machtstrategie. Als sich der aus dem erzwungenen Exil (Lipari) entlassene Schriftsteller Malaparte in sein freiwillig gewähltes Villen-Exil (Capri) zurückzog, unterstellte er es dem Motiv, sich mit der Verkleinerung zu vergrößern. Das ist derselbe double bind, der D’Annunzio kennzeichnet: Ich ziehe mich zurück und stelle mich doch aus.63 Der Rückzugsdiskurs verdeckt das eigentliche Anliegen und dupliziert es doch zugleich. Diese Inszenierung zweiter Ordnung dient
Abb. 5: Rekonstruktion von Adalberto Liberas ursprünglichem Entwurf für die Villa Malaparte auf Capri, 1938.
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Abb. 6: Curzio Malaparte vor der Treppenrampe der Chiesa dell’Annunziata auf Lipari, 1933/34 der Glaubhaftigkeit des (primären) Aktes. Für die Authentifizierung des Hauses als Ich-Architektur sammelte D’Annunzio seine Reliquien, Malaparte zeichnete sich hingegen unmittelbar in den Villenentwurf ein. 1938 beauftragte er Adalberto Libera mit den Entwurfsarbeiten für die Villa (Abb. 5). Bald nach Baubeginn kam es allerdings zu einem Wechsel der Zuständigkeiten und zu einer entscheidenden Mitwirkung Malapartes an der Bauplanung.64 Aus dem Vorgang resultiert die Zutat der trapezförmigen Dachtreppe, die den Umriss des ursprünglich schachtelförmigen Baukörpers markant verändert. Entscheidender aber noch ist, dass die Treppe den Bau biographisiert.65 Denn die Anlage zitiert jene sich keilförmig verjüngende Treppe der Kirche der Santissima Annunziata auf Lipari, vor der sich Malaparte während seiner durch Mussolini verhängten Verbannung hatte photographieren lassen
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Abb. 7: Dachtreppe der Villa Malaparte auf Capri, 1938-1942 (Abb. 6-7). Die Photographie, welche unter Freunden zirkulierte, kombiniert Dichter und Verbannung ikonisch in eins.66 Malapartes Dachtreppe wird vor dem Hintergrund des Exilphotos zum Memento des biographischen Traumas namens Lipari.67 Im Vorwort von Malapartes autobiographischem Roman Kaputt von 1944 heißt es: „Ich darf daran erinnern, dass ich zu denjenigen gehöre, die ihren Einsatz für die geistige Freiheit und für die Sache der Freiheit mit der Gefangenschaft und Deportation nach Lipari bezahlt haben“.68 An der Rollenfigur des poète maudit, des von der Macht ausgegrenzten Freidenkers, modellierte Malaparte bereits auf Lipari, wo er sich in einem Brief an Armando Meoni als „scrittore messo fuori legge“ bezeichnet.69 Malaparte schreibt dieses Rollenbild nach seiner Begnadigung 1934 in Fughe in prigione (Fluchten im Ge-
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fängnis) (1936) noch weiter aus, bevor er es auf Capri schließlich in Form der Villa architektonisiert. In einem eineinhalbseitigen, 1940 datierten Essay Ritratto di pietra (Selbstporträt in Stein) unternahm Malaparte es, der Villa (die er hier „Casa come me“, ein „Haus wie Ich“ nannte) eine höhere Authentizität des Selbstausdrucks zu attestieren, als ihm das in der Literatur möglich gewesen sei: „Als ich eines Tages begann, ein Haus zu bauen, glaubte ich nicht, ein Bildnis meiner Selbst zu entwerfen. Und zwar das Beste von allen, das ich bislang literarisch nicht hatte entwerfen können. […] Aber ich kann nicht behaupten, dass meine Bücher jenes tiefgründige Bild von mir wiedergeben, nackt, schmucklos, das jeder Schriftsteller von sich selbst zu entwerfen beabsichtigt“.
Deshalb seine Entscheidung, dies im Medium der Architektur zu tun: „Es ist mir noch nie so erfolgreich gelungen darzulegen, wer ich bin, wie beim Bau meines Hauses“.70 Malapartes Worte lesen sich so – um es mit einer Wendung von Manfred Schneider zu sagen –, als ob im Textmedium die Archive der Literatur ungewollt immer schon mitschreiben.71 Die Architektur hingegen verbürge, so Malaparte, Aufrichtigkeit, weil sie ein noch unbeschriebenes Blatt sei. Auf dem Cap Massullo habe er zumal als erster gebaut, sich keines Architekten bedient und den nackten, rohen Stein der Insel verwendet („Non mattoni, non cemento, ma pietra, soltanto pietra, e di quella del luogo, di cui è fatta la roccia, il monte“).72 Malaparte verleiht der Architektur dabei etwas Uranfängliches, noch von den Formularen der Selbstthematisierung Unbelastetes. Als Art brut, eine noch rohe, ‚unvergiftete‘ Kunst (Kurt Schwitters) gedacht, kennt sie keine ‚Verweise‘, keine codierten Formen.73 Sie ist wahrhaftige Hülle. Malaparte, der die Mehrfachpublikation nicht scheute, hat den Essay Ritratto di pietra nie veröffentlicht. Er erschien 1987 postum in der Samstagsbeilage der Neapler Zeitung Il Mattino.74 Der Umstand bildet das gewichtigste Argument dafür, dass Malaparte der Illusion seiner Aussagen einsichtig geworden sein dürfte. Seit der Publikation von Ritratto di pietra bewegen sich die Interpretationen der Malaparte-Villa zwar in den Schreibschablonen des Dichters, werden Selbstaussagen und Werk in eins gesetzt, doch hat der Essay auch den Blick der Forschung verstärkt auf Ich-Architektur gelenkt.
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K e in H a u s w ie Ic h Die architektonische Moderne hat sich an Struktur, Gewebe und Epidermis des Wohnhauses (perforierend) abgearbeitet. Große Glasflächen haben die Hauswände geöffnet und transparent gemacht. Im Hausinneren wurden Wandflächen reduziert, der plan libre schuf offene Wohnstrukturen. Damit aber nicht genug wurden die Innenräume flexibel. An die Stelle starrer, vom Architekten einmal fixierter Raumaufteilungen traten Schiebewände. Die Raumnutzung ließ sich kurzfristig verändern, anpassen, neu definieren. Versenkbare Glaswände und Klappmöbel taten ein Übriges. Schiebevorrichtungen verwandelten das Interieur gleichsam in einen Rangierbahnhof, auf dem Funktionen, aber auch Befindlichkeiten verschoben werden können. Die Rigiditäten von Grundriss und Aufriss verflüssigen sich, die Strukturen sind in Bewegung geraten. Unruhe ist seit dem frühen 20. Jahrhundert zu einem neuen wesentlichen Kennzeichen des Hauses geworden. Man könnte im Dramatisierungsmodus der Untergangsdiagnostik formulieren, dass das Haus der architektonischen Moderne ins Driften geraten und sei-
Abb. 8: Le Corbusier, Doppelhaus der Weißenhofsiedlung in Stuttgart. Wohnetage‚ bei ‚Nacht‘, 1927
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Abb. 9: Le Corbusier, Doppelhaus der Weißenhofsiedlung in Stuttgart. Außenansicht, 1927 ner Mitte verlustig gegangen ist, weil es eben von einer wurzellosen (‚nervösen‘) Lebensform in Beschlag genommen wurde. Tatsächlich bedeutete die Modernisierung des Hauses aber auch Entrümpelung und Entmüllung. Die Überfülle der Dinge hatte dem Interieur seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Atemluft geraubt und drängte den Bewohner regelrecht aus den eigenen vier Wänden. Ausstattungsdichte und schwere Möblierung machten in den 1920er Jahren Luft und Licht Platz.75 Man entledigte sich der Last der Dinge, was Sigfried Giedion in ein einprägsames Schlagwort fasste: „Befreites Wohnen“.76 Entrümpelung, Öffnung und Flexibilisierung der Wohnarchitektur bringen notwendig die Mischehe von Haus und Ich ins Wanken. Das war Programm. Instruktiv hierfür ist der Blick auf einen Musterbau von Le Corbusier, das 1927 entworfene Doppelhaus für die Weißenhofsiedlung in Stuttgart (Abb. 8-9). Ein breites Bandfenster lässt großzügig Licht ins spartanisch eingerichtete Innere der Wohnetage, wo Schiebetüren und Klappmöbel den Großraum und zwei kleinere Nebenräume je nach Bedarf in einen Tag- bzw. Nachtbereich zu verwandeln erlauben. Transformabilität, kurzfristige Arran28
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gements nebst gläserner Transparenz durchlöchern das Prinzip der architektonischen firmitas. Das Haus gerät aus den Fugen. Eine deregulierte Architektur setzt einen deregulierten Bewohner voraus bzw. sie entwirft einen solchen. So sah es bereits die zeitgenössische Kritik: „Wenn der Wohntypus dem Menschentypus entsprechen soll, so kann man sich als Bewohner der Corbusier’schen Häuser eigentlich nur eine bestimmte Art von Intellektuellen denken, jene Sonderlinge, welche unbeschwert von ‚historischem‘ Ballast unsentimental, freizügig und heimatlos, von allen Bindungen sich lösend, solch ein Nomadenzelt aus Beton und Glas vielleicht bewohnen möchten“.77
Setzt die Kritik noch ein klassisches Subjekt der Innerlichkeit voraus, führt Le Corbusier, indem er Flexibilität und Unruhe der (kapitalistischen) Gesellschaft in die Wohnstube übersetzte, gerade dessen Revision durch.78 Die Figur des homo occupatus preisend, erweist er sich als die symmetrische Gegenfigur zu Petrarca: „Unser modernes Leben, die Welt unseres Tuns, mit Ausnahme der Stunde des Lindenblüten- oder Kamillentees, hat sich seine Dinge geschaffen: die Kleidung, den Füller, die Rasierklinge, die Schreibmaschine, das Telefon, die wundervollen Büromöbel, […] die ‚Innovation‘ Koffer, den Gillette-Rasierapparat und die englische Pfeife, den Melonenhut und die Limousine, den Ozeandampfer und das Flugzeug“.79
Chiffren der Bewegung und Flexibilität sind hier locker aneinandergereiht, zu denen auch das Haus zählte, das Le Corbusier als ebensolchen Gebrauchsgegenstand bzw. technisches Aggregat verstand, oder wie er im Anschluss meinte: Das Haus ist „eine Maschine zum Wohnen“ („une machine à habiter“).80 Eine erhöhte Zweckrationalität mag zwar eine verstärkte Trennung von Subjekt und Objekt bewirken, aber sie ist nicht allein für die Dissoziation von Haus und Ich verantwortlich. Mehr noch ist es die Offenheit und Flexibilität des Hauses, die Lebensführung und Biographie entsichern, entsichern sollen. Was dabei notwendig schwindet, sind die Potenziale des Hauses als subjektiver Erzählrahmen. Das Subjekt der Innerlichkeit verliert damit sein Zentrum, seine Hülle bzw. den geschlossenen Körper, um nun in einer Netzstruktur Obdach zu suchen. Auffällig ist, dass sich bei Le Corbusier das biographische 29
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Ordnungsgefüge auf sämtliche Dinge der Beweglichkeit und der praktischen Tätigkeit zerstreut. Das Haus steht gleichwertig neben Flugzeug und Koffer, die einer außerhäuslichen Prozessstruktur angehören, welche keinen eigenen ‚Ort‘ mehr bietet, an den das Ich entweicht, um abzuweichen. – Können wir da ganz sicher sein?
Anmerkungen 1 2
Heisenberg, 1969, S. 129f. Vgl. hierzu Böhme, 2006, S. 13f. Zum Eigenheim als Bollwerk gegen das ‚Draußen‘ vgl. hier den Beitrag von Jan Klaus Philipp. 3 Zu Urhüttenmythos und Angstprävention vgl. ERBEN, 2003/04, S. 32. 4 „Alle Sicherungen sind Angstprävention“, so BÖHME, 2009, S. 173f. 5 Zu einer Geschichte der Architektur und ihrer Verhüllungen (jenseits des Subjekt-Diskurses) vgl. HARATHER, 1995. 6 Zum Zusammenhang von Individualisierungs- und Autobiographiegeschichte vgl. ULBRICHT, 2001 und WAGNER-EGELHAAF, 2005, S. 132-145. 7 Zum Folgenden vgl. ENENKEL (Hg.), 1990, S. 420-428 und 489-496. 8 Hierzu CELLAURO, 2009 und der Beitrag von Kurt W. Forster im vorliegenden Band. 9 Vgl. ENENKEL (Hg.), 1990, S. 420-428. 10 Vgl. Ebd., S. 222-232. 11 Der Gedanke hat antike Wurzeln. Der Dichter Statius setzte in seinen Silvae Villa und Geistesart seines Gönners Pollius Felix, den er 90 n. Chr. bei Sorrent besuchte, in eins: „Wir, die gemeine Menge, immerzu geneigt, uns hinfäll’gen Gütern zu versklaven und Wünschen nachzujagen, werden vom Zufall (bald hier-, bald dorthin) verschlagen. Du aber schaust von der Zitadelle deines Geistes [der Villa] herab auf uns Umherirrende, und verlachst, woran die anderen Menschen gemeinhin sich freu’n“. Vgl. NEUMEISTER, 2005, S. 260-266, Zitat: S. 261. 12 „Die beiden Aufklärungen, daß das Triebleben der Sexualität in uns nicht voll zu bändigen ist, und daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt sind und nur durch eine unvollständige und unzuverlässige Wahrnehmung dem Ich zugänglich und ihm unterworfen werden, kommen der Behauptung gleich, daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“; FREUD, 1917, S. 7. 30
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13 Zit. nach: CELLAURO, 2009, S. 143. 14 Vgl. SCHNEIDER, 1986, S. 7-48 und WAGNER-EGELHAAF, 2005. 15 Bezeichnend hierfür das Referenzwerk von RECKWITZ, 2010, in dem die Subjektordnungen seit 1800 jenseits von Architektur und Objektkultur verhandelt werden. 16 Die Formulierung folgt Thomas Manns ironischer Rede von der „Seelenzergliederung“ im Zauberberg. 17 Vgl. CHAPEAUROUGE, 1960; FRITZ, 1990; BECKER, 1998 und SCHULZE, 1998. 18 Vgl. SELLE, 1999, S. 23f. und BÖHME, 2006, S. 98f. 19 Vgl. CHAPEAUROUGE, 1960. 20 BENJAMIN, 1982, Bd. 1, S. 292. 21 Zum Konzept von embodiment/Verkörperung: FISCHER-LICHTE, 2004, S. 129-160. 22 Vgl. SELLE, 1999, S. 22-29. 23 Es handelt sich um eine Subjektordnung, die Hand in Hand geht mit dem im deutschen Bildungsroman des 18. und 19. Jahrhunderts normativ ausformulierten Subjekt der Innerlichkeit; vgl. SELBMANN, 1994. 24 Zur Krise des Ich-Bewusstseins vgl. PFISTER, 1989, S. 258-266. 25 Vgl. SENNETT, 1994, S. 284-299. 26 ZINGANEL, 2010, S. 35. 27 Vgl. BRÜDERLIN, 2008, S. 27f. 28 ASENDORF, 1998 und TIETENBERG, 2008, S. 233f. 29 Vgl. BÖHME, 2006, S. 94-100. 30 Zur Lehnbach-Villa SCHNÖLLER, 1985, S. 202-208 und zum Cabanon MAAK, 2010, S. 39-42; zu Letzterem hier im Band auch der Beitrag von Kurt W. Forster, dort Abb. 10. 31 LATOUR, 2000, S. 211-264. 32 Hier gilt es freilich eine Abgrenzung zum Prinzip des Grotesken vorzunehmen, in der leibliche und nichtleibliche Welt sich verbinden und ein Drittes erschaffen. Das ist hier nicht der Fall. Das Haus als zweite Hülle dehnt die Kontur des Ich aus, bedeutet aber keine Öffnung, keine Neugeburt. Im Gegenteil betont das Haus den Fassadenkörper des Ich, indem es das Individuum verstärkt gegen die Welt abschließt. In diesem Sinne ist das Haus wie Ich gerade von nichtgrotesker Gestalt; es strafft die klassische Körperkontur und versiegelt sie. Zum grotesken Körperdiskurs vgl. BACHTIN, 1990. 31
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33 ZÖLLNER, 2004. 34 Das Ineinander beider Diskurse hingegen bei LAUFFER, 2011, S. 20-23. 35 Der Gedankengang der Passage schuldet sich den Arbeiten von LATOUR, 2008 und BÖHME, 2006. 36 In neuerer Zeit widmeten sich der Ich-Architektur STEINHAUSER, 1977; FORSTER, 1998; MCDONOUGH, 1999. In der Literaturgeschichte: NEUMANN, 2009. 37 BRUNNER, 1956. 38 Eine literaturgeschichtliche Studie zu den Folgen des aufgelösten „ganzen Hauses“ bei: GHANBARI, 2011. 39 Vgl. REINHARD, 2006, S. 504-509. 40 ARNDT, 1824, S. 25. 41 ASENDORF, 2002, S. 93-99. 42 ARNDT, 1824, S. 24. 43 BUDDE, 2009, S. 83-87. 44 Vgl. LUKATIS, 1995, und jüngst DAVIDSON, 2012/13. 45 Vgl. den Katalogeintrag von LUKATIS, 1995, S. 65. 46 Die Narration des Bildes wird durch ein beigegebenes Zimmerinventar unterstützt; ebd. 47 NOUSSANNE, 1896, S. 7f. 48 In diesem Sinne interpretiert noch Mario Praz Porträts des 19. Jahrhunderts, die in Interieurs situiert werden: „Il carattere dei mobili ci dà una indicazione del carattere di coloro che vi vivono in mezzo, e, viceversa, l’aspetto delle persone c’informa sulla natura dei mobili“, PRAZ, 1964, S. 320. – Praz beschreibt und publiziert im Übrigen sein eigenes römisches Haus in der Nachfolge von Edmond de Goncourts La maison d’un artiste, Paris 1881, in La casa della vita, Mailand 1979. 49 Vgl. ARENDT, 2006, S. 81-89. 50 MUSIL, 1995, S. 20. 51 „Individualismus und soziale Formung sind keine widerstreitenden Kräfte, sondern die beiden Seiten des modernen subiectum, das sich kulturelle Regeln einverleibt, um ‚individualistisch‘ zu werden“; RECKWITZ, 2010, S. 14. – Folgt man RICHTER, 2008, S. 219, ist der Prozess noch nicht abgeschlossen: „Private Einrichtungsgegenstände sind weniger das Ergebnis von persönlichen Kaufentscheidungen als Sedimente einer kollektiven Kulturhistorie“. 52 RILKE, 1996, S. 459. 32
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53 In der Regel findet der ‚konservative‘ Bau des Vittoriale in Geschichtsbüchern der architektonischen Moderne keinerlei Berücksichtigung. Bedenkt man, dass die Produktion konventioneller oder unzeitgemäßer Architektur ebenso wenig aus den Geschichtsbüchern ausgeschlossen werden kann wie künstlerische Leitbauten, stellt sich die Frage, ob Wissenschaft hier ihrem Objektivitätsgebot noch nachkommt. Vgl. nur FRAMPTON, 2010, der die Geschichte der modernen Architektur ‚klassisch‘ als Geschichte der Avantgarden schreibt („Tatsächlich begann das Niveau des italienischen Rationalismus zur Zeit der V. Triennale bereits zu sinken, was einerseits auf einen banalen Modernismus und andererseits auf einen reaktionären Historizismus zurückzuführen war“, S. 184). 54 Zitat nach: ANDREOLI, 2004, S. 9. 55 Zum Objektkult D’Annunzios vgl. MAZZA/BORTOLOTTI, 2010. 56 Über den Zusammenhang von Materialisierung und Inszenierung vgl. FISCHER-LICHTE, 1998, S. 86f. 57 Vgl. SCHNEIDER, 1986. 58 Aus der Schenkungsurkunde vom 22.12.1923; deutsches Zitat nach ANDREOLI, 2004, S. 22f. 59 D’Annunzio hat das ‚überwirkliche‘ Ereignis in einer lateinischen Inschrift (über dem Eingang der Prioria) kommemoriert: „Ego sum Gabriel […] volucer dimissus ab alto“; ebd., S. 17. 60 Ebd., S. 84-88. 61 STEINHAUSER, 1977. 62 Vgl. ANDREOLI, 2004, S. 22. 63 Zum ambivalenten Charakter von (autobiographischen) Künstlerhäusern zwischen Rückzug und Öffentlichkeit vgl. auch FORSTER, 1998. 64 Vgl. FERRARI, 2008, S. 19-30. 65 Die in der Fachliteratur kontrovers diskutierte Frage (PETTENA, 1999, S. 2959), wer der Entwerfer der Dachtreppe ist, wird unter falschen Prämissen verhandelt. Der Entwurf mag von einem Architekten stammen, doch macht die biographische Konnotation der Treppe Malaparte zum Autor. Er ist der Biograph, der dem Bau seine Subjektivität materiell einkörpert 66 Malapartes Korrespondenz, die er von Lipari aus unterhielt, belegt, dass er seine Lebensumstände auf der Insel Freunden und Verwandten nicht nur ausführlich beschrieb, sondern auch mit beigegebenen Photographien illustrierte. Freunde, die ihn auf der Insel besuchten, erhielten signierte Exil-Photos als Andenken; vgl. die Briefe vom 1.3.1934 an Bessand33
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Massenet und vom 18.6.1934 an seinen Bruder Sandro; abgedruckt in RONCHI SUCKERT, 1992, Bd. 3, S. 399 und 423. Vgl. TALAMONA, 1990, S. 33-36. „Mi si consenta di ricordare che io appartengo al numero di coloro, che hanno pagato con la prigione e con la deportazione nell’isola di Lipari la loro libertà di spirito e il loro contributo alla causa della libertà“; Malaparte, Kaputt, Mailand 1979, S. 22. – Faktisch war es nicht eine „Sache der Freiheit“, für die Malaparte verbannt wurde; die Verbannung schuldete sich vielmehr einem innerfaschistischen „règlement de comptes“. Denn Malaparte, der nie einen Zweifel daran ließ, faschistischer Parteiung zu sein, hatte sich durch eine Diffamierungsaktion gegen Italo Balbo, Luftfahrtminister und enger Vertrauter von Mussolini, erhofft, bei Letzterem den nötigen Kredit für seine Rückkehr nach Italien zu erwirken, das er aufgrund eines aufgeflogenen Abhörskandals bei der Zeitung La Stampa hatte verlassen müssen. Doch statt eines wohlwollenden Empfangs wurde Malaparte inhaftiert und nach Lipari verschleppt. Vgl. GUERRI, 1998, S. 28-49 und ARNDT, 2005, S. 33-44. Brief vom 18.1.1934 an Armando Meoni; abgedruckt in: RONCHI SUCKERT, 1992, Bd. 3, S. 389. „Il giorno che io mi son messo a costruire una casa, non credevo che avrei disegnato un ritratto di me stesso. Il migliore di quanti io non abbia disegnati finora in letteratura. […] Ma non posso dire che i miei libri diano di me un ritratto essenziale, nudo, senza ornamenti, quel ritratto che ogni scrittore idealmente si prefigge di sé. […] Non m’era mai avvenuto di mostrare quale io sono, come quando mi sono provato a costruire una casa“; zit. nach TALAMONA, 1990, S. 81. SCHNEIDER, 1986, S. 21-26. Zit. in TALAMONA, 1990, S. 81. Vgl. PFÜTZE, 2004, S. 188. ATTANASIO, 1990, S. 14. Als „große Aufräumarbeit“ bezeichnet von BRÜDERLIN, 2008, S. 23. – PRAZ, 1964, S. 381, sieht erste Anzeichen des Dingschwunds im Jugendstil: „La modernità di gusto di tale decorazione è soprattutto nell’assenza di quella farragine di ornamenti aggiunti (quadri, soprammobili, ninnoli, tappezzerie, ecc.) che caratterizzava l’arredamento ottocentesco: qui si mettono a nudo le linee strutturali di una stanza in modo tale da scoraggiare ulteriori accessioni“.
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76 Hierzu GIEDION, 1985. 77 So Edgar Wedepohl; zit. nach HUSE, 2006, S. 30. 78 Mit Richard Sennett formuliert, übertrug Le Corbusier den ‚neuen Kapitalismus‘ und seine flexiblen Arbeitsstrukturen in die Welt der (Wohn-) Architektur; vgl. SENNETT, 1998, S. 57-80. 79 Aus Vers une architecture; zit. nach HUSE, 2006, S. 30. 80 Ebd. Vgl. auch EBERHARD, 2011, S. 33-57.
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In den eigenen vier Wänden KURT W. FORSTER „Ich öffne das Fenster und sehe die Nacht über dem Meer von Capri, ich schließe das Fenster und die Nacht umfängt mein einsames Haus auf der Klippe, eine italienische Nacht über den Büchern und Bildern meiner Bibliothek.“ Curzio Malaparte1
Michel de Montaigne (1533-1592), ein radikaler Ich-Denker im Jahrhundert der erwachenden Individualität, erklärte sich 1580 in der Vorrede seiner Essais zum eigentlichen Gegenstand seiner Reflexionen: „je t’assure, lecteur que je m’y fusse très volontiers peint tout entier et tout nu.“2 Wer sich derart zur Darstellung bringt, ja entblößt, kann es füglich nur in eigener Instanz tun. Ein solches Selbstbildnis erhebt den Anspruch auf eine Wahrheit, in der sich Beobachter und Gegenstand spiegeln, sich gegenseitig und gemeinsam auf den Punkt bringen. Doch diese Wahrheit schwankt zwischen Anmaßung und Anmutung, sie entspricht weder dem Betrachter noch seinem Gegenstand, sondern erzeugt ein virtuelles Bild beider. Eine Betrachterin oder ein Leser sind allemal schon Faktoren in dieser labilen Gleichung von Subjekt und (Selbst)Bild, daher spricht sie Montaigne bei seinen Selbsterklärungen auch persönlich an. Zwar versichert er dem Leser, dass er sich in sein eigenes Buch überschreibe: „Ainsi lecteur, je suis moi-même la matière de mon livre“,3 aber seine Substanz tritt uns nicht vor Augen, sie erscheint vielmehr neben dem Autor und hinter dem Bild, das er von sich malt. Während er sein Selbstbild entwirft, verdunkelt sich sein Abbild. Er befrachtet es und bleibt ihm gegenüber befangen, denn er ist es ja, der auslässt, umdenkt, ablenkt und überredet, wie 41
Kurt W. Forster
wiederum nur ein Autor es zu tun vermag. Das Bild ist also weder ein Konterfei im Sinne des Wortes noch eine freie Erfindung, sondern es versetzt seinen Gegenstand in einen „energetischen Zustand“, der mit der lebendigen „matière du livre“ aufgeladen ist.4 Diese Materie entstammt dem Autor und überträgt sich an die Leserin oder Betrachterin. Dabei verwandelt sie sich noch einmal, indem sie – um bei der Analogie zum Quantenelektron zu bleiben – in den unerregten Zustand ihres Elements zurück- und damit auch flach fallen kann. Wir empfinden sie dann als bloß anekdotisch oder kurios, vielleicht sogar als abgeschmackt in der Selbstbespiegelung.5 Montaigne appelliert mit seiner (Selbst)Erklärung an einen längst verlorenen Naturzustand, gesteht aber auch ein, dass er ihn nur künstlich wiederherstellen könne. Er versucht dem Leser glaubhaft zu machen, dass er, lebte er noch wie die Wilden „sous la douce liberté des premières lois de la nature“, nicht gezögert hätte, seinen eigenen Körper zur farbigen Skulptur zu bilden.6 Indem er so Bildner seiner selbst und seines eigenen Abbilds in einem wäre, hätte sich die Selbstdarstellung erfüllt, ohne dass er sie dem Leser erklären müsste. Denn lebte er wirklich im Zustand jener Unschuld und „douce liberté“, bräuchte er auch kein Bild von sich und für andere zu machen. Aber weil er, wie die europäische Menschheit insgesamt, diese Unschuld längst verloren hat, hofft er wenigstens ehrlich zu sein beim Malen seines eigenen Bildes. Bei aller guten Absicht kann er seine wahre Natur nicht ohne einen Akt des Sich-selbstin-Schutz-nehmens zur Darstellung bringen. Weil es nun einmal ein Bild werden muss – mit allen trügerischen Eigenschaften und Geheimnissen, die Bildern eigen sind – scheut er vor seiner Künstlichkeit nicht zurück. Dabei hilft ihm nur die Kunst, und so ist denn Montaignes Versicherung, er stelle seine Wesenheit „naturelle e ordinaire, sans contention et artifice“ dar, eine zweifelhafte. Mehr noch, sein Selbstbildnis in Worten und Gedanken gerät ihm zum eigentlichen „Kunststück“, denn selbst wenn Kunst ihre eigenen Zweifel eingesteht, entblößt sie sich dennoch als Allüre. Kunst entsteht nur durch sich selbst, und nur der Autobiograph kann sich selbst zum Gegenstand machen. Der Turm, in dem Montaigne seine Bibliothek einrichtete, ist noch erhalten und macht den Eindruck einer kleinen Festung (Abb. 1). Auf seinem väterlichen Landsitz konnte er sich verschanzen und förmlich in Einsamkeit einnisten. Viele haben es vor ihm und seither gleichgetan. Das Studiolo ist Angelpunkt der Reflexion und des Schreibens, wie wir sie aus den Darstellungen eines Heiligen Hieronymus, Augustin, Boethius und anderer Gelehrter kennen. Die Schrift und ihre Vorlagen, das Kopieren und Übertragen, das Fertigen von 42
In den eigenen vier Wänden
Botschaften aus unsichtbaren Quellen reflektieren und vervielfachen jedes Wort und machen Texte zu jener vielschichtigen „matière“, die selten der Faszination entbehrt und die wir mit dem Ort ihrer Entstehung in Verbindung zu bringen suchen.
Abb. 1: Michel de Montaigne, Grundriss der Bibliothek (mit Angabe ihrer Deckenbalken), ca. 1580 (nach Fontaine Verwey, 1945) Ein Studiolo bezeichnet nicht nur den Raum des Denkens und Schreibens, sondern immer auch einen geographischen Ort. Ob er sich nur auf seine unmittelbare Umgebung oder auf ferne und imaginäre Horizonte bezieht, ist in jedem einzelnen Fall auszuloten. Von einem frei gewählten Ort aus mag eine Landschaft sich dem Betrachter als Augenweide, aber auch als ökonomisches und soziales Arbeitsfeld darbieten. So delektierte sich Francesco Petrarca (1304-1374) manchenorts an Naturschönheiten – zu deren literarischen Erfindern er zweifellos gezählt werden darf –, die ihm frisch und ursprünglich, um nicht zu sagen paradiesisch erschienen, derweil andere Landstriche von Freibeutern verwüstet und vom Krieg zerstört waren: „Hieltest Du’s für möglich“, schrieb er an Kardinal Giovanni Colonna, „dass der Hirte bewaffnet in diesen Wäldern umherstreift, nicht weil er sich vor Wölfen, sondern vor Wegelage43
Kurt W. Forster
rern fürchtet, der Bauer gerüstet und mit Lanze bewehrt seine Ochsen beim Pflügen antreibt?“7 Selbst die zauberhafte Miniatur, mit der Simone Martini in Avignon den Vergil seines Freundes Petrarca schmückte,8 zeigt, wie in unmittelbarer Nähe des Dichters schwer gearbeitet wird, Rebstöcke beschnitten und Schafe gemolken werden.9 Die Produktivität des Verstandes ruht auf der Grundlage des Landbaus und sein Werk bringt auch der Dichter nur mit Anstrengung hervor, indem er den Wildwuchs trimmt und die Milch der Worte aus sich herauspresst. Petrarca knüpft an Cicero an, wenn er die vita solitaria preist und behauptet, dass der geschäftige Redner bereue, nicht ein tüchtiger Landmann zu sein: „arator quam orator esse maluerit.“10
Abb. 2: Petrarcas Haus in der Vaucluse (Holzschnitt, aus: Simeoni, 1558) Die Suche nach einem sicheren und verschwiegenen Ort, einem locus amoenus, bricht seit der Antike nicht mehr ab und veranlasst eine Fülle literarischer Darstellungen, die nicht selten an den Kontrast von schöner Landschaft und menschlicher Zerstörung erinnern. Aber auch in der Natur selbst klaffen Wunsch und Wirklichkeit auseinander: einerseits beherbergt sie liebliche Orte, andererseits brechen Rohheit, Gefahr und Gewalt hervor. Petrarcas Haus in der Vaucluse, das er in den 1340er Jahren bewohnte und mit einem Garten berei44
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cherte, liefert dazu ein präzises Beispiel. Es ist aufs engste mit der Person des Dichters und zugleich mit einem anonymen Topos verbunden, der die Jahrhunderte überdauert hat. Petrarcas Haus zog schon zu seinen Lebzeiten andere Dichter an und veranlasste sie zur Nachahmung, bis ihm schließlich die Rolle einer säkularen Pilgerstätte zufiel. Der peripatetische Florentiner Gelehrte Gabriele Simeoni (1509-1575) bildete das verlassene Haus in seinen Epitaffi ab und bedauerte seinen „halb verfallenen Zustand, der den Schafen als Unterkunft diene,“ nachdem er das Verborgene und Einsame des Ortes als seine hervorragendsten Qualitäten gepriesen hatte (Abb. 2).11 Als Petrarca das Haus bewohnte, richtete er in einiger Distanz auch noch eine Wohnstätte für Helfer und Gärtner ein. Die Aussicht erfrischte den Geist und wog den Mangel an städtischen Attraktionen – Paläste, Theater und Loggien – durch eine ungewöhnliche Landschaft und nahe Berge auf.12 Den Gegensatz von schattigem Studiolo und steiniger Landschaft, die eben erst im Ausblick aus dem Haus und im Kontrast zu Petrarcas Einsamkeit als solche, nämlich als Theater der Naturkräfte, in Erscheinung trat, brachte der Dichter selber auf die lapidare Formel „nichts als Felsen und Schluchten, die nur Vögeln und wilden Tieren zugänglich sind.“13 Doch selbst die Einsamkeit wirkt, wie die fehlende Stadtkultur, weniger absolut, als es zunächst erscheinen mag, dient doch der Ort des Rückzugs zugleich als Anziehungspunkt für Freunde, die sich gelegentlich zu geselligen Treffen und Gesprächen einfinden. In Petrarcas Korrespondenz gibt der Aufenthaltsort stets Anlass zu Reflexionen über Land und Leute, über Lebensführung und den Lauf der Welt. Die inhärente Spannung, die sich einmal im Kontrast von Zivilisation und wilder Natur entlädt, setzt andererseits auch Einsamkeit und Geselligkeit in eine gemeinsame Klammer, ja der Dichter behauptet sogar, dass Einsamkeit ohne persönliche Kultur unerträglich wäre: „solitudo sine literis exilium est, carcer, eculeus.“14 Die Stadt, die er flieht, ist ihm zunächst als Umschlagplatz der Kultur unentbehrlich, die Einsamkeit, die er sucht, ohne Kultur eine Qual. Die unfreiwillige Einsamkeit bedeutet Exil und Kerker, die absichtlich gesuchte Ferne von Geschäft und Sorge dagegen lassen sie erstrebenswert erscheinen und die Zelle offen stehen. Diese Chiffrierungen haben alle antiken Vorbilder und verstärken daher die Bande, welche persönliche Erfahrungen mit dem Dilemma des menschlichen Lebens überhaupt verknüpfen. Sie liefern das Gerüst, auf dem jeder Baumeister seines eigenen Lebens arbeitet und lenken den Blick auf zahlreiche andere Orte, wo über Jahrhunderte hinweg ähnliche Häuser errichtet worden sind. Meist von Individuen, die wie Petrarca ihren Aufenthalt als 45
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vorübergehend empfanden, den Ort jedoch in jeder Hinsicht in Besitz nahmen und als Bindeglied in die Stationen ihrer Biographie einfügten. Ihren oft prekären Lebensumständen entsprach tendenziell die Grenzlage ihrer Häuser, die als Orte der Erinnerung in die Kulturgeographie der Nachkommenden eingegangen sind. Häuser, die als Eremitage und zugleich als Foyer einer gediegenen Geselligkeit dienen, sind zahlreich und oft höchst individuell ausgebildet. Statt sie an typologischen Kategorien zu messen, verspricht die Betrachtung individueller Bauten mehr als Gemeinplätze, auch wenn der Anteil, den ihre Bewohner an der baulichen Ausführung beanspruchen können, meist schwer zu bestimmen bleibt. Als Objekte ihrer Selbstdarstellung und damit als Gehäuse ihrer Individualität erweisen sie sich jedoch als aufschlussreich. Sieben Jahrhunderte nach Petrarca errichtete sich der Journalist und Tausendsassa Curzio Malaparte (1898-1957) auf Capri ein Haus, das einen seltenen Bezugspunkt in seine konvulsive Biographie setzt (Abb. 3-4). Umbrüche, abrupte Orts- und Identitätswechsel lieferten Malaparte das Rohmaterial für seine schriftstellerischen Ambitionen, die darauf zielten, die eigene Lebensführung unmittelbar literarisch umzusetzen und emblematisch als Zeitgeschichte darzustellen, in welcher er selbst stets als historische Figur auftritt.15 Der Roman La pelle schildert die oft horrenden Geschehnisse der alliierten Landung und der Einnahme von Neapel, in dessen Golf die Insel Capri einen singulären Beobachtungsposten bildet. Mit der Wahl des Untertitels „storia e racconto“ deutete Malaparte zurückhaltend auf den Montagecharakter, der „Geschichte und Geschichten“ miteinander verschweißt, ohne selbstverständlich auf persönliche Anwesenheit bei den weltbewegenden Geschehnissen zu verzichten. Ganz im Gegenteil bauschte er seine Rolle als Verbindungsoffizier bei den anglo-amerikanischen Alliierten zu einer Art nationalem Symbol auf, das nicht wenig zum Erfolg des Romans beitrug.16 Ähnlich wie seine Schriften ging auch sein Haus aus einer (Doppel)Spiegelung hervor und setzte einen Rahmen über eben diese Geschichten. Nach mehreren Jahren Exil auf der Insel Lipari nützte Malaparte auf Schleichwegen die Spannungen im Kabinett Mussolinis aus, um sich das Baurecht in einem einzigartigen Naturschutzgebiet der Insel Capri zu verschaffen und damit seiner Nemesis Mussolini eine Nase zu drehen. Sein inzwischen weltberühmt gewordenes Haus entstand zwischen 1938 und 1942, Stück für Stück aus Malapartes Erinnerungen an seine Irrfahrten montiert. Nach seinem Tode fochten
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Abb. 3: Casa Malaparte auf Capri, Lage auf dem Felssporn, vollendet 1942
Abb. 4: Casa Malaparte auf Capri, Blick aus dem Fenster im großen Aufenthaltsraum
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Verwandte das Testament an, so dass der Besitz erst auf Umwegen in den Hafen einer Stiftung gelangte, die es in jüngster Zeit restauriert und wieder zugänglich gemacht hat.17 „Das Haus erhebt sich am wildesten und einsamsten Ort“, betonte Malaparte in wörtlicher Übereinstimmung mit Petrarca in der Vaucluse, aber sein Jahrhundert und sein Temperament gehen mit einem dritten Superlativ durch, wenn er den Bauplatz als „den dramatischsten der Insel“ herausstreicht.18 „Dramatisch“ ist, was sich an Zuschauer richtet, und Malaparte wäre nicht der geborene Narziss, behielte er bei aller Selbstauslieferung nicht stets sich selbst und sein Publikum im Auge. Die Kluft, die Petrarca zwischen wilder Natur und Zivilisation in der Vaucluse, zwischen unendlichen Gefahren und planvoller Lebensführung durchlebte, kennzeichnet auch die Biographie Malapartes, ja sie hat sogar ihre Schauplätze in den gleichen Ländern. Es reicht aus, sich ein Leben von Rastlosigkeit und geradezu unheimlichen Zufällen (jeder Art und öfter widersprüchlichen Ausgangs) vor Augen zu führen, um zu erahnen, was beim Bau seines Hauses auf Capri für Malaparte auf dem Spiel stand. So, wie die Erinnerung ihre Gegenstände zerfetzt, so verfuhr Malaparte mit entscheidenden Momenten seiner eigenen Karriere. Manche seiner Erzählungen haben, wie sein Haus, ihn selbst zum Gegenstand. Zu Recht sprach er von seinem Haus als „casa come me“ – ein Haus wie (m)ich – und kniff ihm und sich selbst damit grammatisch in die Wange. Errichtet auf einem Felssporn, den Petrarca als ein Reservat wilder Tiere beschrieben hätte, umfasste das Gebäude modellhaft die symbolische Geographie seines Besitzers, in welcher Herkunft und Berufstätigkeit, Exil und Rehabilitation, private Wunschvorstellungen und mythische Konnotationen sich auf Schritt und Tritt miteinander verbinden, ja überschlagen. Wenn bei Petrarca Einsamkeit und Gesellschaft, Wüstenei und Kultur noch klar zu unterscheiden waren, verweigern sie bei Malaparte jede eindeutige Trennung. Er situierte sich vielmehr haarscharf im Moment ihres Umschlags, ihrer Perversion, etwa indem das Haus zugleich unzugänglich und einladend erscheint, der endlich errungene Ort sich zum Sinnbild des Schiffbruchs verkehrt, die eindeutige Zuordnung der einzelnen Komponenten einem Ratespiel gleicht. Und das auf so penetrante Art, dass auch nach dem Tod des Autors der Eindruck des Umschlagens beinahe zwanghaft eine gewisse Dämonie des Ortes beschwört.19 Wie ein Refugium, das man idealerweise nur über eine Kletterpartie erreichen kann, bildet die Casa Malaparte einen jener Höhepunkte, deren wahre Natur sich nur dann enthüllt, wenn man sich seine Eroberung zum Ziel setzt. Selbstredend handelt es sich dabei bereits um Fiktion und man bewegte sich nicht 48
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auf dem fliegenden Teppich ihres Autors, hätte er nicht selbst dem Denkbaren bereits vorgegriffen. In seinem Roman La pelle flocht Malaparte eine ganz unwahrscheinliche Begegnung ein, als ihn eines schönen Tages im Jahr 1942 Feldmarschall Rommel mit seinem Besuch überrascht habe: „Bevor er wieder ging, fragte er mich, ob ich das Haus schon so vorgefunden oder selber so entworfen und gebaut hätte. Auch wenn es nicht der Wahrheit entsprach, sagte ich, dass ich es schon so vorgefunden hätte. Mit einer Handbewegung wies ich ihn auf die steile Klippe der Matromania, auf die drei gigantischen Felsinseln der Faraglioni, die Halbinsel Sorrent, die Insel der Sirenen, die blaue Küste von Amalfi und die leuchtende Ferne von Pesto hin und sagte: ‚Ich habe die Landschaft entworfen.‘ ‚Ach so!‘ rief General Rommel, drückte mir die Hand und verließ mich.“20
Selbst als Fiktion bekräftigt die Anekdote, dass erst das Haus die Landschaft als solche hervorgebracht hat, eine Landschaft, die wie die Zimmer des Hauses, durch die Malaparte seinen Besucher zuerst geführt hatte, ebenso zum Gebäude gehört wie bei Petrarca in der Vaucluse (Abb. 4). Für beide versammelt das Gebäude mehrere Orte an einem Platz: es steht mit der Natur auf Messers Schneide, es knüpft Zusammenhänge zwischen Ferne und Nähe – Petrarca zwischen Italien und Frankreich, Malaparte und Rommel zwischen den Fronten – und markiert eine Stelle naturphilosophischer Spekulationen. Der Ort nimmt biographische, mehr noch welthistorische Zusammenhänge an und lässt den Besucher aus der vertrauten Welt plötzlich in einer Einsamkeit auftauchen, die unweigerlich Schicksalsfragen stellt. Bei Petrarca und Malaparte bildete die Landschaft ein unverzichtbares Komplement zur Innerlichkeit des Denkens, bei Montaigne dagegen verschwindet sie aus dem Blick: die Bibliothek wird zum Zentrum seines Haushalts, „d’où tout d’une main je commande à mon mesnage“. Allein in seinem privaten Refugium, holt er „einmal dieses, einmal jenes Buch hervor, zusammenhanglos und unabsichtlich“. Erst dieses zwanglose Handeln, „sans ordre et sans dessein, à pieces descousues“, erlaubt es ihm, sich ganz seinen Überlegungen, seinen Einfällen, ja selbst dem Müßiggang hinzugeben. Ob er diktiert oder träumt, hin- und hergeht oder einnickt, das Studiolo bleibt stets ein- und derselbe fixe Ort. Die Welt und ihre Geschicke rücken derweil in die Ferne und überlassen Montaigne dem Wechsel der Stimmungen und Gedanken, welche sich in den Inschriften auf seiner Zimmerdecke bereits vorgezeichnet fin49
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den.21 Auch sie kippen hin und her zwischen griechischer Weisheit und römischem Sarkasmus, zwischen biblischen Mahnungen und literarischen Divagationen: Montaigne steckte mit den Inschriften einen mentalen Kompass ab, ähnlich dem Rundhorizont seiner Bibliothek. Die Regung der Gedanken und das Rühren des Körpers verknüpfen sich innig miteinander, die Dynamik des Denkens verschränkt sich mit den Jahres- und Tageszeiten, selbst der Kamin für die Wintertage und der Schlafraum im unteren Stockwerk stehen in engster Verbindung mit dem Lebensrhythmus des Bewohners; selbst der Abort, der von der Wendeltreppe aus zugänglich ist, erhöht die Autosuffizienz des Ortes. So bietet der runde Innenraum den Büchern Platz und breitet sie auf fünf übereinander gestaffelten Regalen vor seinen Augen aus, unterbrochen lediglich von drei Fenstern, dem Kamin und einer Tür. Hier, im Zentrum seiner Büchertonne,22 ist er ganz bei sich selbst: „c’est là mon siège“, den er einzig sich vorbehält und selbst Frau und Tochter verbietet. War diese Turmstube einst eine Rumpelkammer, so ist sie für Montaigne, nachdem er sich im 38. Lebensjahr von seinen Rechtsgeschäften zurückgezogen hatte, seine eigentliche Heimstätte geworden. Die Inschriften auf den Deckenbalken halten zwei Ereignisse fest und verknüpfen sie miteinander: Montaignes Entschluss, sich ganz seinen Studien zu widmen, und die Erinnerung an seinen besten Freund, Etienne de La Boétie, dem er viele seiner Bücher und eine unersetzliche Freundschaft verdankte. Montaignes Studiolo verknüpft also zwei Motive: es markiert das unfreiwillige Ende einer Freundschaft und die freie Entscheidung, das eigene Leben zu ändern. Der Kompass, innerhalb dessen sich diese gegenläufigen Momente zum stationären Kreis schließen, liegt innerhalb eines ererbten Gemäuers, das er entrümpelt und zur Burg seines eigenen Selbst ausgebaut hat. Die Texte, mit denen er sein Handeln entwirft, begleitet und bekräftigt, sind auf den bis heute erhaltenen Balken angebracht, denen das Gehäuse seinen Fortbestand verdankt. Für sich selbst hätte er sie wohl kaum aufzeichnen müssen und anderen war der Zutritt zu diesem Sanctum versagt, dennoch stellte er sie als Zeugen seiner eigenen Vorlieben und Einsichten sich selbst vor Augen. Denkbar, dass er sie wie fiktive Gesprächspartner als Gäste in seiner Einsamkeit wünschte. Mit ihren Themen und Wiederholungen verzahnen sich die Inschriften zu einer Konstruktion aus vielerlei Quellen – teils in eigener Übersetzung, die nicht unerheblich von anderen Übertragungen abweicht – und fügen sich dem Zimmermannswerk ein. Solange der Bau hält, solange hallen auch die Stimmen nach, die für und mit Montaigne sprechen sollen. Die Bibliothek bildete also 50
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einen kardanischen Punkt im Weltgetümmel, der jeden Stoß und alle äußeren Bewegungen ausgleicht. Erst Gedanken eichen ein Gehäuse zum Ort des Denkens. Vielerorts sind die halbleeren Kammern von Denkern und Künstlern mit rekonstruierten oder ergänzten Gegenständen und Instrumenten als Stätten des Andenkens an Ideen und Erfindungen eingerichtet: in diesem Zimmer dachte Nietzsche angeblich an die ewige Wiederkehr, an diesem Schreibtisch ging Einstein ein Licht auf, in diesem Laboratorium hinterließ eine rätselhafte Strahlung ihre Spuren auf einer lichtempfindlichen Platte, auf dieser Staffelei legte ein Maler die Umrisse einer neuen Bildform nieder. Wer Ähnliches verfolgt oder wer sich absichtlich in ein bestimmtes Denken und Empfinden einweihen will, kann die Orte, wo der Geistesblitz eingeschlagen hat oder das Erz zum Klingen kam, in Augenschein nehmen. Das Haus des Architekten John Soane (1753-1837) am Londoner Platz von Lincoln’s Inn Fields ist ein solches Gebilde.23 Sein Stifter nötigte der Nation die Pflicht auf, es für alle Zeiten zu bewahren und zukünftigen Architekten zugänglich zu machen, damit sie dort ihren Verstand wetzen und ihre Kenntnisse vertiefen könnten.24 Soane hatte gehofft, dass seine beiden Söhne in seine Fußstapfen treten und aufgrund des väterlichen Erfolges brillante Karrieren machen würden, aber er wurde bitter enttäuscht und vermachte schließlich als Witwer sein Haus und seine immensen Sammlungen der Nation. Sein Lebtag trug er alles, was einem Architekten bei der Ausübung seines Berufes und bei der Ausbildung seines Geistes dienlich sein könnte, zusammen und fügte es in andauernd wechselnde Zusammenhänge, die den verwirrten Karl Friedrich Schinkel bei seinem Besuch als höchst „abenteuerliches“ Sammelsurium beeindruckten.25 Während Schinkel anlässlich seines Londoner Besuchs 1826 von dem kommerziell erfolgreichen John Nash lediglich festhielt, dass er „wie ein Fürst“ an der eigens von ihm entworfenen neuen Regent Street residiere, fesselte ihn Soanes Haus als ein Panoptikum der Architektur, als skurrile Sammlung von tausenderlei Dingen, die – eben auf „abenteuerliche“ Weise – eine gigantische Montage architektonischen Wissens darbot. Unerfindlich verschachtelt, hinterleuchtet und verspiegelt hatte Soane zahllose Originale, Abgüsse und Nachbildungen zu einer Art Fossilienbank zusammengeklittert, so dass er sich in seinen späten Jahren genötigt sah, sein Privatmuseum – inzwischen erstreckte es sich über drei aneinander anstoßende Reihenhäuser – gleich zweimal in einer illustrierten Publikation „als Ort der Vereinigung der Künste“ („Union of architecture, sculpture & painting“) zu erläutern.26 Gleichzeitig bewohnte er tagtäglich diesen Tempel der Künste, brachte 51
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sogar Lehrlinge dort unter und benützte die Sammlungen für die Ausarbeitung zahlreicher Bauprojekte, derweil sein Freund und dienstfertiger Gehilfe Joseph Gandy gebaute und fiktive Projekte in Bildern inventarisierte. Soane stand nicht nur auf gutem Fuße mit fernen und nahen Epochen der Geschichte, er wünschte sein eigenes Werk in den Dimensionen zukünftiger Zeiten als Ruinen einer fernen Zukunft bereits zu Lebzeiten dargestellt zu sehen, als wäre er nicht nur der Archivar seiner eigenen Phantasie, sondern auch der Archäologe seiner Zukunft. Das Soane Museum selbst umklammert Extreme und lässt auch den heutigen Besucher den Druck der Zeit empfinden, die dauernd zerstört und immer wieder Neues hervorpresst: vom alten Ägypten bis Napoleon, von Paestum bis Pompeji, von China bis Canaletto erstreckt sich das Panorama der Zivilisation, aus dem Soane die immer schmäler werdende Substanz seiner eigenen Architektur destillierte. Auch er war in der Tat „die Substanz seiner Sammlungen“, wie Montaigne die „matière de son livre“ war, auch wenn sie ihn immer wieder zu Abschweifungen und Umwegen motivierte, um dem befremdlichen Gedanken des eigenen Todes und des Untergehens seiner Söhne – also der nackten Zukunftslosigkeit seiner selbst – nicht ins Auge blicken zu müssen. Vladimir Nabokov (1899-1977) hat einiges über solche Widersprüche in der eigenen Biographie zu sagen. Weil er ein fabelhafter Erzähler ist, tritt allmählich die Tätigkeit des Erinnerns selbst in den Vordergrund und lässt das Erzählen zu einem seltsamen inneren Rauschen werden, das wie beim Abspielen alter Schellackplatten zugleich hör- und überhörbar ist. Wie das geisterhafte Rauschen der Erinnerung zu deren ureigener Tätigkeit gehört, so ist das Erzählte stets in einer Geographie der Jugendzeit angesiedelt, auch wenn das Land dem Autor unwiederbringlich entschwunden ist. Die Kindheitsepisoden, die Nabokov in Speak, Memory erzählt, stechen daher auch in ihrem jeweiligen Maßstab von denjenigen aus späterer Zeit ab, etwa wenn er den Besuch des russischen Generals Kuropatkin in seinem Elternhaus schildert, als der Befehlshaber dem kleinen Jungen mit Streichhölzern auf dem Divan den Wellengang auf See erklärt. Beim Eintreten seines Vaters erhebt sich der General respektvoll und bewirkt, dass die Streichhölzer, die eben noch gebrochene Wellenlinien bildeten, wie von einer Böe durcheinandergewirbelt werden. Doch Streichhölzer sollten noch eine viel dramatischere Bedeutung entfachen, als der General später auf der Flucht vor den Bolschewiken, als Bauer vermummt, Nabokovs Vater zufälligerweise auf einer Brücke begegnete und ihn unerkannt um Feuer bat. Erst war es nur die Andeutung eines Meeressturms, jetzt flammt 52
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das Streichholz auf und lässt die beiden Verfolgten sich gegenseitig erkennen: ein gefährliches ‚Spielzeug‘ beleuchtet schlagartig die Stürme und die Vergänglichkeit des Lebens.27
Abb. 5: Vladimir Nabokov in seinem Schreibzimmer in Ithaca (NY), 1950er Jahre
Abb. 6: Vladimir Nabokov im Garten des Grand Hotel in Montreux (Schweiz), ca. 1970
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Von Nabokov existieren zwei Photographien, die sein Leben im Exil und seine Zweisprachigkeit in je anderem Maßstab zeigen: Einmal sitzt er als Literaturprofessor an der Cornell University in einem gemieteten Haus am Schreibtisch, sinnierend vor einem kolossalen Wörterbuch; ein andermal schreibt er, sportlich gekleidet, an einem Gartentisch vor dem Grand Hotel in Montreux – seiner letzten Bleibe (Abb. 5-6). Jetzt ist er gleichsam Dauergast der englischen Sprache, nicht nur ihr Untermieter. Mit Absicht versuchen die Aufnahmen den Schriftsteller an einen präzisen Ort zu bannen, verraten aber nur, dass er sich schon ganz woanders heimisch gemacht hat. Dieses Katz- und Mausspiel zwischen Fixpunkt und Bewegung, zwischen Einwohnen und Abreisen, zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit wertet diese beiden Photographien als Bildzeugen eines einzelnen Lebens zu einem Passepartout der Exilliteratur auf. Wer es dagegen mit einem einfacheren Dasein halten möchte, der mag sich an eine Aufnahme Heideggers erinnern, auf der er sich als Wald- und Wiesenbewohner gibt, wenn auch der Liegestuhl, auf dem er sich räkelt, entfernt an eine Kreuzfahrt denken ließe. Am fatalen Hang vor der Todtnauberger Hütte siedelt es sich aber nicht so sicher und der Wellenschlag des Jahrhunderts bringt das kleine Schiffchen womöglich in Seenot: es schaukelt auf dem Plumeau von Heideggers Bett, überbringt aber keine „Invitation au voyage“, sondern steuert einen Hafen im Dunkeln an (Abb. 7).
Abb. 7: Martin Heidegger im Schlafraum seiner Hütte auf Todtnauberg (Schwarzwald), 1968
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Abb. 8: Eileen Gray (und Jean Badovici), E-1027 in Roquebrune, 1928
Abb. 9: Aufenthaltszimmer im Haus E-1027 mit Wandinschriften und Ausstattung von Eileen Gray, handgefärbte Photographie, ca. 1930
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Das Leben als Fahrt zwischen Glück und Gefahr braucht Halteplätze, und wer suchte sie nicht gerne dort auf, wo Rast und Ruhe winken? So elementar ist das Bedürfnis, dass man es gerne auch stellvertretend befriedigt, Unterkunft bereitstellt und zur Erholung einlädt. Gemeinsam dachten Eileen Gray (18781976) und Jean Badovici 1924 ein Ferienhaus an der felsigen Küste Südfrankreichs zu bauen (Abb. 8-9).28 Gray suchte nach einem unzugänglichen Platz, der, abgeschirmt von den modischen Badeorten, nur Eingeweihten zugänglich sein sollte. Bei Roquebrune wurde sie fündig und entwarf ein schmales Haus, dessen Reling beinahe wie die Attrappe eines Dampfers hart zwischen Fels und rückseitiger Eisenbahntrasse aufragt. Man erreicht es über eine schmale Treppe und genießt die Sicht aufs gleißende Meer aus dem langen Zimmer, das zu beiden Seiten in eng geschachtelte Nebenräume mündet. Eingespannt zwischen allem Notwendigen, aber ganz aufs Meer hin geöffnet, winkt dem Besucher nicht nur eine weitere Ferne, sondern in klarer Typographie auch eine „Invitation au voyage“. Nach einem halben Tag Bahnfahrt von Paris empfängt das Gedicht Baudelaires den Reisenden beim Eintritt in das Haus mit seiner Aufforderung und mit jenem ort- und zeitlosen Versprechen auf ein „làbas“, ein Nirgendwo, an dem alles nur „luxe, calme et volupté“ zu sein verspricht. Nein, diese Worte stehen nicht auf der Wand, denn dort fielen sie als Reklame flach, sie hallen aber zweifellos im Kopf aller, die Baudelaires Gedicht kennen, nach, ebenso wie seine Zeilenformen sich mit den geometrischen Umrissen von Teppich, Tisch und Divan vereinen. Zwar getrennt, aber dennoch in Einklang miteinander, verzahnen sich alle Teile des Gebäudes und bieten die Lösung ihres eigenen Rätsels an. Das Haus ist eine verschachtelte Anlage, in der nicht nur jede Schublade, jeder Einbauschrank, ja Stauraum über den Decken, den Gegenständen des Alltags in geheimen Fächern Platz bietet, sondern sie wie abgezählte Buchstaben eines Kreuzworträtsels in sich zusammenfügt. Was neben der Baudelaire’schen Aufforderung noch auf der Rückwand des Wohnzimmers zu lesen ist, gehört ebenfalls zum Reisen, führt aber in unerwartete Gefilde: eine Karte der Karibik ist in Umrissen angedeutet und zwei weitere Umstände sind erwähnt. Einmal „Beaux temps“, also eine günstige Wetterlage, und „vas-y-totor“, eine Ermutigung an Eileen Grays Automobil, die gemeinsam so etwas wie „Meeresstille und Glückliche Fahrt“ versprechen. Das Haus von Gray und Badovici sitzt auf einer Klippe wie vielleicht nur noch dasjenige Malapartes, aber es ist dennoch bequemer zu erreichen, so bequem, dass Le Corbusier (1887-1965) seine gastliche Nähe suchte und in un56
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mittelbarer Nachbarschaft später ein eigenes Cabanon erbaute (Abb. 10). Nicht ohne vorher den ungeschlachten Eindringling zu spielen und die Wände von Grays Haus mit überbordenden Wandbildern zu bepinseln. Er ‚verwüstete‘ das Haus mit erotischen Wunschbildern und imaginierte ein sexuelles Neolithikum, dem Eileen sich durch Verachtung entzog.29 Es prallten ganz unvereinbare Vorstellungen von wilder Natur aufeinander. Ein Haus, das seine Form von
Abb. 10: Le Corbusier (mit Hund) vor seinem Cabanon in Roquebrune, 1950er Jahre Einsamkeit insofern mit Petrarca teilt, als auch Eileen Gray die solitudo sine literis, also eine Abwendung von der Kultur, für unerträglich hielt und sich nach dem Kriege an einen noch ferneren Fluchtpunkt zurückzog, derweil Le Corbusier sein Cabanon mit ungeschälten Tannenbrettern einschlug und sich mit Vorliebe als beinahe mittelalterlichen Wilden Mann gab. Dass auch das nur raue Schale war und der Kern mit ausgeklügelter Geometrie alles Erforderliche in wenige Kubikmeter einpackte, erinnert seinerseits daran, dass der moderne Städter der ungeschlachten Natur mit seinen üblichen Waffen begegnet, damit er sich umso entschlossener als Primitiver empfinden kann, der geheime Einsichten aus der Vorzeit in die Zukunft hinüberrettet. Man muss gar nicht erst auf den entsprechend pathetischen Tod Le Corbusiers beim Schwimmen im Meer warten, um ihn als Revenant eines hellenistischen Naturverständnisses zu erkennen, der die Pole von Zivilisation und Einsamkeit in einer Dialektik der kosmischen Kräfte selbst überwinden möchte. Er blieb öffentliche Figur auch in einer bewusst konstruierten Einsamkeit, paysan in Paris und Hieronymus in seiner Zelle. Eileen Gray provoziert weniger mit funktionalen An57
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klängen an Verkehrsmittel – wie sie Le Corbusier stets willkommen waren – und Maschinen als mit der Verwandlung des Gebäudes in ein paquebot, auf dem die Ansprüche und Grenzen einer Ozeanreise respektiert werden müssen. Ihr Haus hat Stauraum und eine Reling, sein Zweck ist das Reisen in (halb)imaginäre Welten, seine Atmosphäre diejenige einer geteilten Einsamkeit und einer gemeinsamen Flucht aus der Herkunft. Auch Malaparte nahm Kurs auf eine Ferne, die ihn stets an seine eigenen Bürden und an die Unmöglichkeit des Entkommens erinnerte. Der Autor der Fluchten ins Gefängnis,30 dessen Exil ihm unerklärlich blieb und dessen dreiste Freiheit ihm letztlich schal erschien, kenterte auf Capri und blickte über die baumbekrönten Kalkfelsen wie auf chinesische Tuschbilder: nur Vögel und wilde Tiere bewohnten diese Natur, die ihm trotz der Nähe für alle Zeiten verschlossen blieb.
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MALAPARTE, 1961, zit. nach TALAMONA, Casa Malaparte, 1999, S. 63: „Apro la finestra, ed è la notte di Capri sul mare, chiudo la finestra, ed è la notte di Capri nella mia casa solitaria a picco sul mare, la notte italiana sui libri e sui quadri della mia biblioteca […].“ (Übersetzung KF). Grundlegend in diesem Zusammenhang sind die Überlegungen Louis Marin, vgl. MARIN, 1999, passim, bes. S. 127. MONTAIGNE, 2007, S. 27. Man darf hier an Aby Warburg und seine Auffassung der „energetischen Inversion“ in der Sprache menschlicher Gesten erinnern, vgl. BREDEKAMP u.a. (Hg.), 1991 und besonders WARBURG, 1988. Eine Reihe bedenkenswerter Argumente zur Problematik biographischer Wahrheit finden sich versammelt in KLEIN (Hg.), 2002 und FETZ/ SCHWEIGER (Hg.), 2006. MARIN, 1999, S. 113-125 („C’est moi que je peins…“: De la figurabilité du moi chez Montaigne). Familiari II, 12, 5-6, zit. nach PETRARCA, 1933, Bd. 1, S. 19f. Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Ms S.P. 10/27. TOSCO, 2011, S. 104f. Tosco destilliert aus Petrarcas Briefen und seinen poetisch-philosophischen Werken die komplexen Vorstellungen über Aufenthalt und Unterkunft in Stadt und Land, die Landschaft und ihre ökono-
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mische Umwandlung, aber auch Überlegungen des Dichters zu den klassischen topoi eines auserwählten Ortes und der vita, die dort möglich ist. PETRARCA, 1977, S. 20. SIMEONI, 1558, S. 30: „Vedesi dalla qualità di questo luogo cosi nascoso & solitario […] hebbi da un’altro lato cosi gran dispiacere di veder mezza rouinata & abitata dalle pecore la casa di Petrarca.“ Canzoniere X, 5-6: „Qui non palazzi, non theatro o loggia, ma ‘n lor vece un abete, un faggio, un pino, tra l’erba verde e il bel monte vicino.“, zit. nach PETRARCA, 2005, Bd. 1, S. 44f. Mit „loggia“ wird der öffentliche Raum gemeint sein, in dem die Bürger sich frei bewegen, wo Kommerz und die Sozialisierung der Jugend freie Bahn finden, vgl. BURROGHS, 2008, bes. S. 180. Familiari XIII, 8, 13-15: die eine Seite liegt im Schatten Apollos, die andere über der Quelle der Sorgue, „di là da esso non sono che rupi e precipizi inaccessibili, se non alle fiere.“, zit. nach PETRARCA, 1933, Bd. 3, S. 84. PETRARCA, 1977, S. 46. PARDINI, 1998. MALAPARTE, 1949, S. 250; der Anspruch des Autors auf eine zentrale zeitgeschichtliche Rolle gipfelt in der Aussage: „Für General Cork war ich weder Leutnant Curzio Malaparte, der italienische Verbindungsoffizier, noch der Autor von Kaputt: ich war Europa.“ Wie berauscht von dieser Vorstellung doppelt Malaparte gleich nach: „Ich war Europa für ihn, das ganze Europa mit seinen Kathedralen, Statuen, Bildern, Gedichten, mit seiner Musik, seinen Museen, Bibliotheken, seinen gewonnenen und verlorenen Schlachten, seiner unsterblichen Glorie, seinen Weinen, Speisen, seinen Frauen, Heroen, Hunden und Pferden, ich war das gebildete, verfeinerte, witzige, unterhaltsame, beunruhigende und unverständliche Europa.“ (Übersetzung KF). Die Geschichte der Casa Malaparte ist eingehend dokumentiert in TALAMONA, 1999, S. 20-27, 74-77. Siehe Vgl. auch PETTENA, 1999. Die Casa Malaparte befindet sich heute im Besitz der Fondazione Giorgio Ronchi. „Ritratto di pietra“, in: TALAMONA, 1999, S. 81: „[La Casa] sorge nella parte più selvaggia; più solitaria; più drammatica dell’isola.“ Ich denke selbstverständlich an Jean-Luc Godards Film Le mépris, in welchem die Figur des alten Fritz Lang, einer der großen Mythomanen des Films, einen anspielungsreichen Auftritt hat und zugleich Abschied 59
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nimmt. Siehe die messerscharfen Beobachtungen von O. Karl Werckmeister; WERCKMEISTER, 1999. MALAPARTE, 1949, S. 254, (Übersetzung KF). FONTAINE VERWEY (Hg.), 1945; MONTAIGNE, 2007, S. 1892-1896: „Sentences peintes et autres inscriptions de la Bibliothèque de Montaigne“. Auf einem Holzschnitt von Jost Amman aus Aigentliche abbildung deß gantzen gewerbe der Kauffmanscaft […], Augsburg 1585 ist das Einschlagen von Büchern und Geschäftspapieren in Ballen und in Fässer dargestellt. Vgl. auch VOET, 2008. FORSTER, 2010. Vgl. auch hier im Band den Beitrag von Carsten Ruhl. DARLEY, 1999, S. 242-245. SCHINKEL, 1986, S. 172: Schinkel verwandte das Wort „abentheuerlich“ gleich zweimal in seinem kurzen Tagebucheintrag und betonte damit das Zufällige und Zusammengestückte von Soanes Sammlungen, gemäß der Definition des Wortes in SULZER, 1771, sub voce. DARLEY, 1999, S. 306f. Soane war von der Qualität der ersten privaten Publikation von 1827, die er John Britton anvertraut hatte, enttäuscht und ließ ihr 1835 eine zweite folgen. NABOKOV, 2000, S. 11f. In London 1969 von Weidenfeld & Nicolson unter dem Titel Conclusive Evidence herausgegeben, geht Speak, Memory in Teilen auf eine französische, vom Autor nach der Emigration in die USA überarbeitete Fassung zurück und durchlief mehrere Metamorphosen, wie sie für eine Autobiographie durchaus üblich sind. ADAM/GRAY, 1987, S. 190-237; vgl. die eingehende Rekonstruktion des ursprünglichen Zustands in GRAY, 1996, S. 92-117. ADAM/GRAY, 1987, S. 310f. MALAPARTE, 1938.
L it e r a t u r ADAM, PETER/GRAY, EILEEN, Architect/Designer, New York 1987. BREDEKAMP, HORST u.a. (Hg.), Aby Warburg, Akten des internationalen Symposiums Hamburg 1990, Weinheim 1991. BURROGHS, CHARLES, From Daedalus’s Cave to Florence Cathedral, in: Leon Battista Alberti. Humanist – Architekt – Kunsttheoretiker, hg. von JOACHIM POESCHKE/CANDIDA SYNDIKUS, Münster 2008, S. 170-184. 60
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DARLEY, GILLIAN, John Soane, An Accidental Romantic, New Haven/London 1999. FETZ, BERNHARD/SCHWEIGER, HANNES (Hg.), Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit, Wien 2006. FONTAINE VERWEY, HERMAN DE LA (Hg.), Les inscriptions dans la bibliothèque de Montaigne, Amsterdam 1945. FORSTER, KURT W., Sir John Soane’s Museum, London. Melancholie des Sammelns, in: Mekkas der Moderne. Pilgerstätten der Wissenschaft, hg. von HILMAR SCHMUNDT u.a., Köln u.a. 2010, S. 288-293. GODARD, JEAN-LUC, Le mépris. Französisch-italienische Koproduktion, basierend auf dem Roman Il disprezzo von Alberto Moravia, Drehbuch und Regie Jean-Luc Godard. 1963. GRAY, EILEEN, Eine Architektur für alle Sinne, hg. von CAROLINE CONSTANT/ WILFRIED WANG, Tübingen, 1996, S. 92-117. KLEIN, CHRISTIAN (Hg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart/Weimar 2002. MALAPARTE, CURZIO, Fughe in prigione, Florenz 1938. DERS., La pelle, Rom/Mailand 1949. DERS., Benedetti italiani, Florenz 1961. MARIN, LOUIS, L’écriture de soi (Ignace de Loyola, Montaigne, Stendhal, Roland Barthes), hg. von PIERRE-ANTOINE FABRE, Paris 1999. MONTAIGNE, MICHEL DE, Les Essais, hg. von JEAN BALSAMO u.a., Paris 2007. NABOKOV, VLADIMIR, Speak, Memory, London 2000. PARDINI, GIUSEPPE, Curzio Malaparte. Biografia politica, Mailand 1998. PETRARCA, FRANCESCO, Le familiari. Edizione critica, 4 Bde, hg. von VITTORIO ROSSI, 4 Bde., Florenz 1933. DERS., De vita solitaria, hg. von GUIDO MARTELLOTTI, Turin 1977. DERS., Canzoniere, hg. von ROSANNA BETTARINI, 2 Bde., Turin 2005. PETTENA, GIANNI, Casa Malaparte, Capri/Florenz 1999. SCHINKEL, KARL FRIEDRICH, Reise nach England, Schottland und Paris im Jahre 1826, hg. von GOTTFRIED RIEMANN, Berlin (DDR) 1986. SIMEONI, GABRIELE, Illustratione de gli epitaffi e medaglie antiche, Lyon 1558. SULZER, JOHANN GEORG, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Leipzig 1771. TALAMONA, MARIDA, Casa Malaparte, Mailand 1999. TOSCO, CARLO, Petrarca. Paesaggi, città, architettura, Macerata 2011. 61
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Über den Raum des Denkens Ein paar Bemerkungen, ausgehend von Heideggers ›Hütte‹ und mit einem kleinen Holzweg zu Mies van der Rohes ›Villa Tugendhat‹ URSULA PIA JAUCH K le in e V o r b e m e r k u n g 1772 ist – ohne Druckort und Verlagsangabe – eine kleine Schrift erschienen, die den etwas umständlichen französischen Titel trug: Regrets sur ma vieille robe de chambre, ou: Avis à ceux qui ont plus de goût que de fortune (Abb. 1). Die kleine Schrift stammt vom damals noch nicht ins Deutsche übersetzten Denis Diderot (es wird erst Goethe sein, der 1799 einen ersten Text von Diderot ins Deutsche überträgt). Der barocke französische Titel von 1772 figuriert heute im deutschen Sprachraum in einer etwas weniger eleganten Version, nämlich: Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern, oder: Eine Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben. Man könnte nun, als stiller Beobachter der Ereignisse an der deutsch-französischen Front, umständlich bedauern, dass aus den seelenwarmen französischen regrets solide deutsche Gründe geworden sind, und aus einem freundlichen französischen avis eine eher polizeistaatliche deutsche Warnung. Solches Klagen wäre gewiss eine hübsche und shandyeske Quisquilie, die freilich nichts daran änderte, dass es in den folgenden Passagen nicht um die ewigen Scharmützel diesseits und jenseits des Rheins gehen soll, sondern – viel weiter und sozusagen den natio-
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nalstaatlichen Querelen enthoben – um das Wohnen und Denken des Menschen und darüber, inwiefern der physische Raum des menschlichen Seins gleichsam als intelligibler Raum (also als daseinsmäßige Vorbedingung) des menschlichen Denkens verstanden werden kann.
Abb. 1: Denis Diderot: Regrets sur ma vieille robe de chambre, Paris 1772, Titelblatt
W o h n u n g , G e w ö h n u n g , G e w o h n h e it Im Nachruf auf seinen alten Hausrock beschreibt Denis Diderot, was einem passieren kann, wenn man, ohne es zu wollen, ein prachtvolles Ding geschenkt erhält, das plötzlich alles, womit man bisher still und vergnügt in seinem Zimmer zusammenlebte, in Aufruhr und Unfrieden versetzt. Von Madame de Puisieux hat Diderot einen neuen Hausrock erhalten; ein kostbares Stück zivilisatorischer Hülle, das den alten Philosophenkörper umhüllt wie eine falsche 64
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neue Haut und die Schreibstube, ja das ganze bisherige Dasein des Philosophen verändert; schäbig, lächerlich und unbewohnbar macht. Auch die Gewohnheit ist eine Wohnung; man lebt mit sich und seinen kleinen Hausmoden. Zwischen dem im Deutschen etwas verächtlich klingenden Wort des „Gewöhnlichen“, der guten alten „Gewohnheit“ und einer Wohnung im baumeisterlichen Sinn liegt durchaus ein Bedeutungsband, das die Verwandtschaft von Ding, Raum und Mensch mehr als nur andeutet. Gewöhnlich saß Diderot in seinem gewohnten alten und fleckigen Hausrock und bewohnte sein Zimmer mit der schäbigen Tapete, dem verschlissenen Rohrsessel und den verstaubten Vorhängen. Die Daseinsumgebung passte zum Sein; Diderot ist kein Hochglanzdenker, sowenig wie sein Sessel ein Thron ist. Und nun also kommt ein Brokatstück in die Denkerstube, und alles ist dahin und das Dasein im philosophischen Sinn allerdings gefährdet. Das ist es, was Diderot in seinen Regrets sur ma vieille robe de chambre ausdrückt: eine Klage über den Verlust des GeWohnten (und des Be-Wohnten), über das Auseinander-Brechen von Denken und Form, von Körper und Verpackung, von Dasein und Raum. „Warum habe ich ihn nicht behalten? Er passte zu mir, ich passte zu ihm. Er schmiegte sich jeder Wendung meines Körpers an; er hat mich nie gestört; er stand mir so gut, dass ich mich ausnahm wie von Künstlerhand gemalt. Der neue, steif und förmlich, macht mich zur Schneiderpuppe. Kein Bedürfnis, dem der alte nicht entgegengekommen wäre; denn fast nie hat die Armut etwas dagegen, sich nützlich zu zeigen. Lag Staub auf einem Buch, schon bot sich einer seiner Zipfel an, ihn abzuwischen. War mir die Tinte eingetrocknet und wollte nicht mehr aus der Feder fließen, so lieh er mir einen Ärmel: lange schwarze Schlieren waren Zeugen der häufigen Dienste, die er mir geleistet hat. An diesen Tintenspuren war der Mann der Literatur, der arbeitende Mensch zu erkennen. Und heute? Ich sehe aus wie ein reicher Tagedieb, man sieht mir nicht mehr an, wer ich bin.“1
So klagt Diderot. Die scharlachrote Protz-Hülle hat ihren Träger zum Popanz gemacht; die Form triumphiert über den Geist, Diogenes sitzt nicht mehr im Fass, sondern im Palast – und alles ist dahin. Was Diderot hier erzählt, ist gleichsam die invertierte Fassung, die Gegengeschichte zu Gottfried Kellers Novelle Kleider machen Leute, in welcher, wir erinnern uns, der arme Schneidergeselle Wenzel Strapinski wegen seines schönen Mantels für einen polnischen Grafen gehalten wird. Während bei Keller aber ein armer Mensch – der 65
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Schneidergeselle – durch seinen gräflichen Aufstieg die gesellschaftlichen Vorurteile entlarvt, ist bei Diderot der Gang des Arguments tiefsinniger, philosophischer, ontologischer: Bin ich der, der ich bin? Inwiefern ist der Raum, in dem ich mich bewege, meine Seins-Umgebung; inwiefern sind die Höhle, die ich mir geschaffen habe, der Bau, in den ich mich zurückziehe, nicht zugleich auch die Haut meines Daseins? Kann man zwischen einem Ding im Raum und dem Raum selbst unterscheiden? Ist nicht der Raum, in dem sich der Körper eines Menschen aufhält, die materiale Fortsetzung der leiblichen Existenz des Menschen? Und falls diese Überlegungen etwas zu kompliziert, zu abstrakt und zu „deutsch“ waren, dann sei hier das elegantere französische Argument Diderots präsentiert (wenn auch in deutscher Übersetzung). Wir lesen, etwas später, in der Klage über den Verlust des alten Hausrocks: „Mein alter Hausrock und der ganze Plunder, mit dem ich mich eingerichtet hatte – wie gut passte eins zum andern! Ein Stuhl aus Rohr, ein Tisch aus Holz, eine Bergamo-Tapete, halb Hanf halb Seide, ein fichtenes Brett, auf dem ein paar Bücher standen, einige verräucherte Stiche ohne Rahmen, einfach auf die alte Wandtapete genagelt; unter den Kupferstichen drei oder vier Gipsabgüsse; das alles passte in seiner Kargheit aufs allerschönste zu meinem alten Hausrock. Jetzt ist alles aus den Fugen. Die Übereinstimmung ist dahin, und mit ihr das richtige Maß, die Schönheit.“
Seitdem der scharlachrote Gebieter seinen Stil in seiner Wohnung durchgesetzt hat, habe er, Diderot, „mitansehen müssen, wie die Bergamo-Tapete, die so lange die Wände bedeckt hatte, einem Behang aus Damast wich. Zwei ganz passable Stiche, der Mannaregen in der Wüste von Poussin und Esther vor Ahasver vom selben Künstler, wurden ohne Gnade vertrieben […]. Der Rohrstuhl wurde einem Maroquinsessel zuliebe ins Vorzimmer verbannt. […] Ein großer Spiegel beherrscht neuerdings meinen Kamin […] die leere Wand zwischen der Schreibtischplatte und dem Gewitter von Vernet […] hat eine Uhr eingenommen, und was für eine Uhr! Eine Pendule von Geoffrin, deren Vergoldung nun mit dem Schimmer der Bronze wetteifert. […] Von meiner früheren, simplen Einrichtung ist mir nur noch ein Flickenteppich geblieben. Dieser armselige Vorleger verträgt sich 66
Über den Raum des Denkens kaum mit meinem Luxus, das ist mir klar. Aber ich habe mir geschworen und schwör’s mir heute noch – denn Denis, der Philosoph, wird nie ein Meisterstück aus der Gobelin-Weberei von Chaillot mit Füßen treten –, dass ich diesem alten Stück die Treue halten werde, so wie der Bauer, der sich aus seiner Hütte ins Königsschloss versetzt sieht, seine Holzpantoffeln anbehält.“2
Was Diderot hier beschreibt – nämlich der eigenartige Hang des Menschen, sich „zu verbessern“ – eine Formulierung übrigens, über die ein Philosoph allein schon abendfüllend reden könnte (man denke nur an Theodor Gottlieb von Hippels Bürgerliche Verbesserung der Weiber von 1793) –, wird heute in den Wirtschaftswissenschaften als „Diderot-Effekt“ kräftig und gewinnbringend appliziert, denn das Bessere ist der Feind des Guten, und 320 PS sind alleweil besser als 120 PS, so wie die schönere Frau der Feind der schönen ist und die noch jüngere die Feindin der jungen, was irgendwann bei Baby-Ehen enden wird, worüber sich nicht nur der Philosoph, sondern auch der Bauer in seiner Hütte mitsamt seinen Holzpantoffeln wundern wird.
P h ilo s o p h e n - S t u b e a ls D a s e y n s - H ü t t e Oder etwas anders und in der Tat: Diderots Hinweis auf Hütte, Bauer und Holzpantoffel aus dem Jahr 1772 lässt sich nahtlos zum deutschen paysan philosophe Martin Heidegger und seiner Wohn-, Hütten- und Seyns-Philosophie weiterführen, genauerhin zu jenem Vortrag mit dem Titel Wohnen Bauen Denken, den Heidegger 1951 bei den Darmstädter Gesprächen des Deutschen Werkbundes gehalten hat. Es ist nachgerade Diderots Einsicht, dass das Gehäuse, das den Denker umgibt – oder überhaupt den Menschen, denn das Denken ist ein anthropologisches fundamentum inconcussum –, dem Denken selbst in keiner Weise äußerlich ist. Wo Diderot selbstkritisch formulierte, es habe sich wegen des pompösen Hausrockes „die bescheidene Dachstube des Aufklärers in das auftrumpfende Kabinett eines Steuerpächters verwandelt“,3 da findet sich bei Heidegger ein der Sache nach (und trotz ganz anderer Sprachmelodie) erstaunlich ähnliches Argument, freilich nach langem und raunendem Sprach-Mäandrieren. Und dieses Argument lautet: „Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben.“4 Oder anders (und in meiner füll-o-sophischen Extrapolation): Existieren, Sein, Denken, Wohnen und folglich auch das Bauen, Einrich67
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ten und Gestalten der menschlichen Daseinshülle hängen unmittelbar miteinander zusammen. Noch kürzer und heideggersch alltagsverständlicher: Wohnen und Denken sind mit einer existenzialen Nabelschnur verbunden. Ob man nun Diderots Philosophen-Dachstube nimmt oder Heideggers Schwarzwälder Hütte: Der Denk-Raum ist immer ein auch physisch, material gebildeter Raum, in dem das Denken – etwas heideggersch formuliert – wohnt. Die materiale Gestaltung des Raumes oder der Umgebung, in der der denkende Körper sich bewegt, Gedanken prüft und verwirft: dieser Raum ist dem Denken überhaupt nicht äußerlich, will heißen: nicht neben-sächlich. Die deutsche Sprache gibt uns mit ihrer verlockenden und zuweilen auf Irrwege – oder sollte man sagen: Holzwege? – führenden Eigenschaft der Substantivierung die Möglichkeit, von „dem Denken“ zu reden, als ob es reines „Denken“ isoliert, abstrakt und gleichsam als Substrat getrennt vom denkenden Menschen gäbe. Das Nämliche gilt im Grunde für alle der Philosophie immanenten Termini: sei es der „Raum“, das „Sein“, das „Denken“. Alle zentralen Begriffe der Philosophie sind – ob wir jetzt den Sprachphilosophen Plato, Fritz Mauthner oder Ludwig Wittgenstein folgen – four-, five- oder auch eight-letterwords. Sie sind Logomachien, wortabergläubische und wortkämpferische Modalitäten, deren Wirkung auf dem anrührend naiven Glauben beruht, dass jenen „Dingen“, die sich mit soundso vielen Buchstaben in Worte fassen lassen (und auch das Wort „Gott“ ist ein four-letter-word), auch eine Art Existenz zukommt. Den Nachweis vom Sein des „Seins“ oder des „Raumes“ könnte man mit ähnlich filigranen Beweisen führen, mit denen einst die Theologen über Jahrhunderte diesen oder jenen subtilen Gottesbeweis geführt haben. Ein kluger Skeptiker hat einmal gesagt, dass, wer Gott mit den Mitteln der kalten Vernunft nachgewiesen hat, kaum je noch an ihn glauben könne. Oder etwas anders und vielleicht nachvollziehbarer: Obwohl ich der Ansicht bin, dass weder das „Denken“ als Entität jenseits des denkenden Menschen noch der „Raum“ als rein physikalisch-naturwissenschaftliche Größe jenseits eines den Raum fühlenden Körpers existieren, bin ich trotzdem, als Sprachverwenderin, darauf angewiesen, mit Worten wie „Denken“ oder „Raum“ oder „Sein“ umzugehen. Die Sprache zwingt mich zu ihrer Logik; ich muss mich, als Sprachverwenderin, ihr unterwerfen. Gegenüber den tiefsinnigen Bedeutungszwängen der Sprache sind wir allesamt Sklaven, gerade auch dann, wenn wir über das Verhältnis von Raum und Denken nach-denken wollen. 68
Über den Raum des Denkens
H ü t(t)en m it H e id eg g e r Man gestatte mir deshalb, dass ich etwas ganz anderes machen will, als abstrakt über diese merkwürdigen Bedeutungskristalle „Raum“ und „Denken“ nachzudenken. Ich schlage vor, dass wir mit Heidegger auf den Todtnauberg, in seine Hütte, gehen und uns dort – in dieser speziellen Daseinsumgebung einer dem Denken zweckdienlichen „Hütte“, wie sie sich Heidegger 1918 hat bauen lassen – dass wir uns also in der „Hütte“ einige ganz konkrete Überlegungen über das Echo des Raumes im Denken machen. Der „schlaue Fuchs“ Heidegger (so nannte ihn Hannah Arendt, die wohl wusste, weshalb sie den Messkirchner Weltdenker einen Fuchs in seinem Bedeutungs-Bau nannte) gibt uns nämlich oft ganz konkrete Hinweise der Bezogenheit seines Denkens auf den Raum, in dem es sich entwickelt hat. So finden wir etwa ganz zu Schluss von Heideggers Vortrag Denken Bauen Wohnen eine Passage, die folgendermaßen lautet: „Nur wenn wir das Wohnen vermögen, können wir bauen. Denken wir für eine Weile an einen Schwarzwaldhof, den vor zwei Jahrhunderten noch bäuerliches Wohnen baute. [Man beachte: das „Wohnen“ baut; Anm. UPJ] Hier hat die Inständigkeit des Vermögens, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen einfältig in die Dinge einzulassen, das Haus gerichtet. Es hat den Hof an die windgeschützte Berglehne gegen Mittag zwischen die Matten in die Nähe der Quelle gestellt. Es hat ihm das weit ausladende Schindeldach gegeben, das in geeigneter Schräge die Schneelasten trägt und tief herabreichend die Stuben gegen die Stürme der langen Winternächte schützt. Es hat den Herrgottswinkel hinter dem gemeinsamen Tisch nicht vergessen, es hat die geheiligten Plätze für Kindbett und Totenbaum, so heißt dort der Sarg, in die Stuben eingeräumt und so den verschiedenen Lebensaltern unter einem Dach das Gepräge ihres Ganges durch die Zeit vorgezeichnet.“5
Heideggers Ausführungen aus den frühen 1950er Jahren haben ein bedächtiges Nach-Hinten-Gewandt-Sein; hin und zurück zum Schutz der Kindheit, zum lang und schützend bis fast zum Boden gezogenen typischen Dach des Schwarzwälder Bauernhofes, dessen Anblick schon per se Geborgenheit vermittelt. Kommt hinzu der sogenannte „Herrgottswinkel“, eine Ecke, ein räumlich klar identifizierbarer Ort, meist in der guten Stube oder der Küche, wo sich im katholischen Bauernhaus Gott gleichsam physisch niederlässt, als ob 69
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Gott taktil wäre, ein Bett hätte und eben: wohnen würde. Alles, was Heidegger hier, 1951, beschreibt, sind sozusagen Existenzialien des wohnenden Seins. Es gibt kein Sein, das nicht im Raum existiert. Und der von außen kommende Beobachter stellt fest, dass der Lauf der Seins-Geschichte und nachgerade der deutschen Seins-, Heils- und vor allem auch Un-Heils-Geschichte zwischen 1939 und 1945 (über die sich Heidegger immer ausschweigen wird) den Messkirchner Philosophen 1951 erst recht Schutz in einem sich rückwärts, nach räumlicher Geborgenheit im Überkommenen, lang schon Existierenden und bodennah Geerdeten suchen lässt. Es ist noch kaum Vergangenheit, dass das Bodennahe und das Völkische so eng verschwistert waren. Und doch ist es gerade Heidegger, der in den 1950er Jahren den nämlichen Sound wieder aufnimmt. Man muss kein Zyniker sein zu formulieren, dass neben dem Herrgottswinkel auch einmal der Führerwinkel Platz hatte und dass man dem Führer „Heil“ zurief, ist so weit weg nicht vom „Heil“ anderer Herren, denen man bis anhin gehuldigt hat – so wie sich jeder Ismus, der Katholizismus, der schwarze oder der rote Sozialismus, über den alten Weg des Glaubens in den Seelen- und Stubenwinkeln hat einnisten können.
S e in is t W o h n e n Sein ist immer Wohnen, denn der Körper hat einen Aufenthaltsraum, ohne den das zutiefst mit dem Leib und seiner Erfahrung verbundene Denken gar nicht existieren könnte. Heidegger – und darin ist er beileibe nicht der erste; die sogenannten „Materialisten“ (der Antike und wieder des 17. und des 18. Jahrhunderts) haben das durchaus schon getan6 – repetiert, indem er das Verb „wohnen“ etymologisch auf das Verb „sein“ zurückführt, nur die alte und ursprüngliche Erfahrung des Menschen, dass er nie abstrakt, nie ohne Körper, nie ohne Sinne, nie ohne Raum-Sinn atmet und lebt. „Sein“ heißt mit seinem Leib zusammen sein, in einer Leibes-Umgebung zu „wohnen“, (s)einen Raum sinnlich wahrnehmen. Oder konkreter: Wenn Heidegger 1951 in Bauen Wohnen Denken von der techné, der Technik und dem „Tektonischen der Architektur“7 spricht und sich zurückwendet zum Herrgottswinkel und zum behäbigen Bauerndach, das Geborgenheit spendet und Obdach für Generationen, so sollte man vielleicht nicht ganz vergessen, dass der Herrgottswinkel-Philosoph so spricht in einem Nachkriegseuropa (und auch in einem Nachkriegsdeutschland), in dem unend70
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lich viele Menschen als Kriegs- und Faschismusopfer heimatlos und vertrieben sind und also nicht nur räumlich obdachlos, sondern wohl vor allem auch seelisch. Vergessen wir nicht, dass Heidegger den Aufsatz Bauen Wohnen Denken just in jener Hütte auf dem Todtnauberg geschrieben hat, in dem die wesentlichen Elemente seines Philosophierens und auch seines Irrens, also wesentliche Passagen von Sein und Zeit wie auch die von ihm schweigend ausgesessene Rektoratsrede von 1933 entstanden sind. Wohnen ist – mit Heidegger skeptisch gegen Heidegger gesprochen – in der Tat „der Grundzug des Seins, demgemäß die Sterblichen sind“, und „das Denken selbst [gehört] in demselben Sinn wie das Bauen, nur auf eine andere Weise, in das Wohnen“.8
Von Not und Wohnungsnot 1951 Bevor ich auf Heideggers Hütte eingehe als einen ganz besonderen Ort des räumlichen Seins (und demgemäß auch als einen ganz besonderen deutschen Wohn-, Raum- und Denkweg), möchte ich kurz noch auf den Schluss von Heideggers kleiner Schrift Bauen Wohnen Denken kommen. Vergessen wir nicht: Die Schrift ist entstanden aus einem Referat, das Heidegger für den Deutschen Werkbund auf der Mathildenhöhe in Darmstadt gehalten hat. Oder anders: Entstanden ist diese Schrift 1951, als Deutschland unter alliierter Verwaltung stand und die tiefen Narben des Krieges, der Zerstörung, des Ausradierens von ganzen Städten, verbunden mit der seelischen und räumlichen Heimatlosigkeit von Abermillionen von Menschen eine alltägliche daseinsmäßige Elendsmelodie waren. Auf der allerletzten Seite des heideggerschen Textes von 1951 lesen wir: „Wir versuchen, dem Wesen des Wohnens nachzudenken. Der nächste Schritt auf diesem Wege wäre die Frage: wie steht es mit dem Wohnen in unserer bedenklichen Zeit? Man spricht allenthalben und mit Grund von der Wohnungsnot. Man redet nicht nur, man legt Hand an. Man versucht, die Not durch Beschaffung von Wohnungen, durch die Förderung des Wohnungsbaues, durch die Planung des ganzen Bauwesens zu beheben. So hart und bitter, so hemmend und bedrohlich der Mangel an Wohnungen bleibt, die eigentliche Not des Wohnens [und das setzt Heidegger kursiv, Anm. UPJ] besteht nicht im Fehlen von Wohnungen. Die eigentliche Wohnungsnot ist auch älter als die Weltkriege und die Zerstörungen, älter auch denn das Ansteigen der Bevölkerungszahl auf der 71
Ursula Pia Jauch Erde und die Lage des Industrie-Arbeiters. Die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, dass die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, dass sie das Wohnen erst lernen müssen. Wie, wenn die Heimatlosigkeit des Menschen darin bestünde, dass der Mensch die eigentliche Wohnungsnot noch gar nicht als die Not bedenkt?“9
Das ist, man gestatte mir diese Bemerkung, geschrieben aus der sicheren Daseins-, Denk- und Wohnhöhle des nach 1945 zwar mit Lehrverbot belegten, aber mit seiner Emeritierung 1951 wieder in seine vollumfänglichen Rentenrechte und Ansprüche zurückversetzten Professors Heidegger, der sich auf dem Todtnauberg und in seiner Freiburger Villa durchaus wohl im Dasein eingerichtet hatte, doch etwas zynisch. Abertausende von Kriegsopfern, Vertriebenen und Obdachlosen werden von einem, der einst, 1933, raunend und salbungsvoll die „Größe und Herrlichkeit dieses [= des faschistischen] Aufbruchs“ gefeiert hatte, darauf hingewiesen, dass die eigentliche Wohnungsnot „der Sterblichen“ eine philosophische Daseinsnot sei. Einrichten kann man sich ja später. Das ist, man verzeihe mir die Passung, eine ähnlich fatale Philosophen-Überheblichkeit wie jener verhängnisvolle und doch so oft zitierte Satz Theodor W. Adornos, wonach es kein „Leben im falschen“10 gebe, wo doch eigentlich nur gemeint war: es gebe kein richtiges Leben in den falschen Möbeln. Ob man sich nun mit den falschen Möbeln eingerichtet hat oder unter einer philosophischen Wohnungsnot leide: Es bleibt wohl für die deutsche Nachkriegs-Hochschulphilosophie festzuhalten, dass sowohl Adorno wie Heidegger keine Not am daseins- und denk-förderlichen Wohnraum hatten. Monika Plessner schilderte einst – in dem kleinen Band Argonauten auf Long Island – einen Augustabend bei Adornos, 1952, im zerbombten Frankfurt; Gretel mit Bauhaushaarschnitt trägt Tafelspitz auf und Brühkartoffeln, Senf und Meerrettich, der Hausherr schenkt Wein ein, einen Rheingauer aus den Restbeständen der Wiesengrundschen Weinhandlung, zum Nachtisch erscheint eine große Schwarzwäldertorte, derweil der verstimmte Adorno (und verstimmt, weil ein Gast, Gershom Scholem, ihn, Adorno, auf den Tod Benjamins anspricht [sapienti sat]) den Flügel mit Selbstkomponiertem traktiert. Auch da wird – durchaus heideggersch und „eigentlich“ gewendet – gewohnt und gelebt, will heißen: Es wird im Frankfurter Dasein das Leben der etwas höheren Sterblichen räumlich inszeniert. Von Adornos Schwarzwäldertorte
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(die freilich fast alleine von Scholem vertilgt worden sei) lässt sich ein schöner shandyesker Sprung wieder zurück zu unserem Schwarzwälder Bauernhof und der Frage des adäquaten philosophischen Wohnens machen.
Wohnend von 1951 zurück zu 1931 Oder anders: Heidegger erzählt 1951 in Bauen Wohnen Denken nichts wirklich Neues. Er denkt noch immer so, wie er in Sein und Zeit, vor dem großen Zivilisationsbruch (ein Wort von Hannah Arendt) gedacht hat. Die Rückwärtswendung, zurück zur Scholle, zum tiefen Schwarzwälder Dach, zum Heil- und Herrgottswinkel, zur Bäuerin und auch zu Sein und Zeit ist Heideggers Notbehelf aus der Not des Wohnens. Ich schlage meine 1931er Ausgabe von Sein und Zeit auf, und finde unter den §§ 22 bis 24 den denkerischen Rohdiamanten über das nabelschnürliche Daseins-Verhängnis zwischen Raum, Sein und Denken. § 23 handelt von der „Räumlichkeit des In-der-Welt-Seins“; § 24 ist überschrieben mit: „Die Räumlichkeit des Daseins und der Raum“. Da also finden sich die Ursprünge der heideggerschen Denk-Raum-Philosophie. Was 1951 folgt, ist ein von der Kriegs-Wohnungsnot gezeugter, aber nach Rückwärts, in die 1920er Jahre, schielender Nachguss. Gehen wir demnach zurück, zur Genese von Sein und Zeit, also in die Jahre um 1923. Wie wir mittlerweile wissen – die Kärrnerarbeit der Denk-Detektive hat kaum einen Winkel der Vita Heideggers nicht beleuchtet – ist Heideggers Jahrhundertwerk nicht als Jahrhundertwerk entstanden, sondern als unter großem Zeitdruck produzierte sogenannte „Qualifikationsschrift“. Genauer: Heidegger, der seit etlichen Jahren nichts publiziert hatte, erhielt zwar 1923 eine außerordentliche Professur in Marburg, aber sein eigentliches Karriereziel, die Nachfolge Husserls (dessen Assistent Heidegger seit 1916 war) auf dessen Freiburger Lehrstuhl war ohne ein größeres Werk nicht zu erreichen. Heidegger ist also seit 1923 ziemlich unter Druck. 1927 erscheint dann Sein und Zeit mit einer Widmung an Edmund Husserl und unter dem Hinweis „Erste Hälfte“. 1928 erhält Heidegger Husserls Freiburger Lehrstuhl, eine „zweite Hälfte“ von Sein und Zeit wird nie geschrieben, ab 1941, ab der fünften Auflage, wird Heidegger auch die Widmung an seinen jüdischen Lehrer und Förderer unterdrücken. Ab 1951 fällt der Hinweis „Erster Teil“ auch noch weg.
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E in ig e s N a c h - D e n k - L ic h ( t ) e Sein und Zeit ist also nicht nur ein Fragment, sondern ein Werk, das mit einigem Ehrgeiz, unter einem klaren karrieremäßigen Seins-Druck im Zeitraum einer agitierten deutschen Geschichte verfasst worden ist. Man könnte nun einiges Nach-Denk-Lich(t)e über das eigenwillige Verhältnis von Sein, Charakter, Zeit und Biographie gerade der sogenannt großen Philosophen anfügen, aber unterlassen wir das; auch hier gilt die Losung sapienti sat. Wenden wir uns lieber in den Südschwarzwald, wo die Heideggers 1922 – nachdem die außerordentliche Professur in Marburg ein erstes sicheres Familien-Einkommen in Aussicht stellte – ein preiswertes Grundstück in jener ländlichen, explizit provinziellen Umgebung kauften, worauf dann die berühmte „Hütte“ zu stehen kam. Viel ist mittlerweile über diese „Hütte“ in Todtnauberg geschrieben worden; 2010 hat der amerikanische Architektur-Philosoph Adam Sharr ihr eine lesenswerte Monographie mit aufschlussreichem Bildmaterial gewidmet, darunter auch das Bild (Abb. 2), als dessen Legende man durchaus setzen könnte: Der Mensch mag zwar der Hüter des „Seyns“ sein, aber ebenso behü(t)tet die Hütte einen Menschen namens Heidegger. Und diese Hütte hat eine Physis und einen Ort: Todtnauberg.
Abb. 2: Heideggers Hütte in Todtnauberg
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Nicht nur die §§ 22 bis 24 von Sein und Zeit sind in der Hütte auf dem Todtnauberg entstanden. Das Denken selbst reflektiert – sofern wir Heideggers Thesen ernst nehmen – diesen Todtnauberger Hütten-Raum auf reziproke Weise. Wie also sieht dieser Raum, diese Daseinshöhle, diese Gebärmutter aus, in der Sein und Zeit konzipiert – also leiblich empfangen – und im Denken geboren worden ist? Analog zur Redeweise vom Sein des Seienden ließe sich ja auch das Denken des Gedankens als ein Geborenwerden des Gedankens jenseits des in Subjekt und Objekt geschiedenen Daseinsstranges denken; etwas einfacher: Die sokratische Maieutik – also die Geburtshelferei bei den Kopfgeburten – gilt gerade auch für Sein und Zeit, und es ist unter anderem die Hütte (oder die sorgende Elfriede oder die Abgeschiedenheit oder die Geborgenheit) jene große Hebamme, die den heideggerschen Denkembryo hat wachsen und zur Welt kommen lassen. Gehüttet und behütet also – in der Hütte behütet – schreibt Heidegger in rauschenden Sturmnächten berauschende Sätze nieder; eine Schwarzwälder Bergmelodie, die im Hüttenraum, im Kerzenschein – bis 1931 gab es keine Elektrizität auf der Hütte – und im räumlichen Rauschen des Waldes entsteht; Denkwege und Holzwege, gelegt durch den Raum des Denkbaren und gedrechselt schließlich in jene hütten-sprachphilosophischen Sätze, die ein Echoraum ihres hüttenden Geburtsortes sind. Der Schluss-Gedanke des § 24, der das Raum-Kapitel abschließt, ist wie ein Geraune, das sich zwischen „philosophisch“ hochtrabendem Wortgeklingel und dem spezifischen heideggerschen Wort-Holzweg, geboren in der hüttenden Enge, umherschlängelt: „Die bis heute fortbestehende Verlegenheit bezüglich der Interpretation des Seins des Raumes gründet nicht so sehr in einer unzureichenden Kenntnis des Sachgehaltes des Raumes selbst, als in dem Mangel an einer grundsätzlichen Durchsichtigkeit der Möglichkeit von Sein überhaupt und deren ontologisch begrifflicher Interpretation. Das Entscheidende für das Verständnis des ontologischen Raumproblems liegt darin, die Frage nach dem Sein des Raumes aus der Enge der zufällig verfügbaren und über dies meist rohen Seinsbegriffe zu befreien und die Problematik des Seins des Raumes im Hinblick auf das Phänomen selbst und die verschiedenen phänomenalen Räumlichkeiten in die Richtung der Aufklärung der Möglichkeit von Sein überhaupt zu bringen.“
Man muss den Satz – der ein reiner Holzweg ist; also ein Weg, der sich im Unterholz eines Sprachdickichts ausweglos und ohne Sinn verliert – gar nicht zwei, drei Mal lesen, um zu sehen, dass sich Heidegger gerade hier selbst hinter
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Abb. 3: Heidegger im Arbeitszimmer seiner Todtnauberger Hütte
Abb. 4: Elfriede und Martin Heidegger in der Küche der Todtnauberger Hütte 76
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jenen überkommenen Hohlformen einer geblähten philosophischen Begriffssprache versteckt, von der er die Philosophie vermeintlich zu befreien vorgab. Da war Kant 1781 schon überaus viel weiter, insofern Kant immerhin das fundamentale Problem des Nach-Denkens über das Denken als Paradoxon hinstellte. Heidegger kommt nicht einmal umhin zu formulieren, dass die Schwierigkeit eines Begriffes vom Raum gerade darin liegt, dass der Raum als solcher nicht vom begreifenden Sein abgespaltet werden kann. Kürzer: Wie kann ich über den Raum nachdenken, wenn ich selbst „als Seiendes“ Raum bin? Das Einzige übrigens, was Heidegger 1931 allerdings geleistet hat, ist eine Art Trick, eine veränderte Redeweise: Statt vom „Begriff“ des Seins, des Raums etc. redet er vom „Sein des Seins“, vom „Sein des Raums“. Was aber Sein als solches ist – jenseits des Begriffes, das ist nicht beschreibbar, denn dieses stiften die Dichter. Ein Raumverhältnis aber ist sehr bezeichnend für Heideggers Hüttenphilosophie: die Enge. Alles ist nah und eng „zu-handen“, sozusagen auf kleinstem Raum vor-handen. In der heideggerschen Seins-Philosophie wird alles, was in die Weite geht und in die Welt – das Radio, das Telefon etc. – mit einer Skepsis beäugt, die keine philosophische oder gar kosmopolitische Weitsicht ist, sondern die bäurische Angst vor der Welt, die zu groß, zu betrügerisch, zu unbekannt werden könnte. Der paysan philosophe Heidegger verlässt im Denken den engen Raum seiner Hütte nicht (Abb. 3-4). Eine Wohnung in einer städtischen Siedlung – etwa in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, die just 1927, gleichzeitig mit der Erstausgabe von Sein und Zeit, vom Werkbund und unter der Leitung von Mies van der Rohe errichtet worden ist, wäre für den philosophischen Hüttenbauer Heidegger eine Folter gewesen (und man wundert sich schon ein bisschen, weshalb ausgerechnet der Werkbund 1951 gerade den rückwärtsgewandten Hütten- und Höhlenbewohner Heidegger, ein veritabler deutscher Neo-Rousseau, für einen grundlegenden Vortrag über das Verhältnis von Wohnen und Sein in der Moderne angefragt hat).
F u n d a m e n ta l- W id e r s ta n d g e g e n d ie M o d e r n e Heideggers Hütte ist – wie Heideggers Philosophie – ein existenzialer Fundamental-Widerstand gegen die Moderne, gegen Technisches, gegen Urbanität. Da ist keine Öffnung, sondern das sind Abgeschlossenheit, Schutz, Kleinräumigkeit, Provinzialismus, Primitivität. Man lebt ohne Strom und überhaupt 77
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ohne elektrische Aufklärung; Plumpsklo und Kindbett sind Wand an Wand, das Weib fügt sich in die Kochnische ein wie Gott in den Herrgottswinkel.
Abb. 5: Grundriss der Hütte in Todtnauberg Die Hütte liegt im Niemandsland, der Blick ins Land ist „heil“, phänomenal, menschenleer (vgl. Abb. 2). Die Hütte ist von keinem Architekten entworfen worden, denn der schlaue Philosophenbauer weiß genau, was er braucht (Abb. 5): Windfang, Kachelofen, Waschtisch, Arbeitstisch, Herd, Bett, Schopf. Auch das urtümliche Plumpsklo darf man als Referenz an die bäuri78
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sche Daseinsphänomenologie verstehen; weshalb etwas „modern“ wegspülen, was daseinsmäßige Restsummen wieder in den um-wesenden Raum zurückfallen lässt. Wohl ist im Essbereich ein kleines Symposion möglich (unter Männern, versteht sich11), aber am Herd schließlich west dann doch Elfriede. Es ist für den späten Betrachter doch irgendwie erstaunlich, wie Heideggers HüttenKochwinkel (Abb. 4) in seiner räumlichen Enge jener fatal minimalen „Frankfurter Norm-Küche“ des vermeintlich so fortschrittlichen Bauhauses gleicht, in der ein weibliches Wesen – denn der kochende Mensch ist sowohl bei Heidegger wie auch bei den vermeintlich „modernen“ Bauhäuslern eben doch meist ein weiblicher – auf kleinstem Raum – 1,8 m auf maximal 3,4 m – sein rationalisiertes Dasein zu verbringen und von einem Symposion nun gewiss nie zu träumen hatte. Wenn es einen Raum gibt, der zeigt, wie sehr das Nachdenken über den Raum gerade der Bauhäusler fatal und fundamentalontologisch gescheitert ist, dann ist es die rationale, minimale und hygienische „moderne“ Küche, die Abertausende von Frauen in eine minimalisierte Daseins-Rolle bei immer größer werdender Daseins-Verzweiflung hineinzementiert hat.
Von Heideggers Daseins-Enge zur D a s e in s - O f f e n h e it in B r ü n n Man gestatte mir (nachdem ich meinen Argumentationsraum luxuriös auf Holzwegen beschritten habe, die über Diderot und Heidegger zum größten Tabu der Gegenwart geführt haben, nämlich zur Frage, inwiefern nicht gerade das Bauhaus und die Moderne mit ihren engen, menschenfernen IndustrieVorstellungen über das Verhältnis von Raum und Sein grundsätzlich am Sein des Menschen vorbei geplant haben) nun doch noch den in Aussicht gestellten Schlenker zum Haus Tugendhat gleichsam als Inversion einzuführen. Heideggers Hütte ist architektonisch ein no name. Kein Architekt, weder ein unbekannter noch ein berühmter, hat die Hütte entworfen. Der Bauplan (vgl. Abb. 5) ist erst nachträglich, nachdem die Hütte berühmt wurde, nachentworfen worden. Heideggers Hütte ist ein daseinsmäßiger Gebrauchsraum; ihre Zelebrität erhielt sie von den eigentümlichen Daseinsverwerfungen ihres Bewohners, wie auch (was ich zu zeigen versucht habe) als gebaute Gebärmutter eines so und nicht anders gearteten Denkens. Ganz anders dagegen die Villa Tugendhat in Brünn. 79
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Abb. 6: Mies van der Rohe, Villa Tugendhat, Brünn. Ansicht des Essbereichs, um 1930 Das einzige, was Heideggers Hütte und die Villa Tugendhat allenfalls verbindet, wäre ihre Entstehungszeit, also jene 1920er Jahre, die für den Aufbruch des „neuen“ Bauens so wesentlich sind. Ansonsten Differenz und Alterität: Ein noch nicht berühmter Architekt, Mies van der Rohe, wird mit dieser seiner 1929/30 in Brünn erbauten „Kronjuwele“ in die Architekturgeschichte eingehen. Da die Daten und Umstände mittlerweile bis ins kleinste Detail bekannt sind, kann ich direkt zu meiner These kommen, die da lautet: Mies van der Rohes Villa Tugendhat ist gleichsam eine Art Hütte auf dem Holzweg. Ähnlich wie Heideggers Hütte ist sie in einen Hang eingelagert, die Panoramasicht ist überwältigend, statt auf Wald und sich weitende Täler geht der Blick freilich auf die Brünner Altstadt. Das Eingepasst-Sein in die Landschaft gehört zu den Stilelementen der Villa, aber Mies van der Rohe meinte keineswegs eine villa rustica (nicht einmal das ist übrigens Heideggers Hütte mit ihrem betonten Verzicht auf jeglichen Luxus und Komfort), sondern: Die Villa Tugendhat ist eine villa urbana; also ein betont auf Luxus, Komfort und Repräsentation setzendes Bauwerk, das zugleich ein Kunstwerk und eine Raumvision sein will. Diese architektonische Botschaft, dieses ästhetische Statement – nämlich 80
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als Bau mehr sein zu wollen als „nur“ eine behütende Daseinshöhle für Schutz suchende Menschen – ist das Hauptmerkmal der Villa Tugendhat. Sie exprimiert räumliche und – darin angelegte – geistige Größe, Urbanität, Weltoffenheit, Luxus, edle Materialien, edle Thesen, geadeltes Sein, Form und Funktion im Dienst einer großen – oder zumindest größeren – „Vision“. Das Visionäre zeigt sich emblematisch an den riesigen Fensterfronten, die die Welt, als wäre sie gläsern, ins Innere hineinholen. Wo der Bewohner der Todtnauberger Hütte behütet ist vor dem Außen und nur aus kleinsten Fenstern das notwendige Tageslicht hinein lässt, da ist in Brünn alles offen, licht, groß und transparent; statt eines schützenden langen Schwarzwälder Schindeldachs Flachdächer, offene Innenhöfe und Transparenzen bis hin zu jener berühmten Onyxwand (Abb. 6), die den Gesellschaftsraum licht durchbricht und ihr Wand-Sein sozusagen transzendiert.
Surrealer Denk-Faden Von dieser Onyxwand – sie steht für die urbane Daseins-Offenheit wie kaum ein anderes Bauelement dieser Zeit – führt nun allerdings kein Weg (und auch kein Feldweg) zu Heideggers kleinräumigem Schutz- und Trutz-Gehütte. Dennoch lässt sich zwischen Villa und Hütte ein eigentümlicher Denk-Faden spinnen: Ernst Tugendhat, jener Philosoph, der ab 1966 die amerikanische „analytische“ Philosophie in Freiburg zu verbreiten begann, ist 1930 in Brünn geboren und bis 1938 just in dieser nach seinen Eltern benannten Villa Tugendhat aufgewachsen. Die Daseinsschicksale der Villa Tugendhat und der Heideggerschen Hütte widerspiegeln mit jenem Surrealismus, den nur das konkrete Sein entwerfen kann, die Chiasmen der Zeit: Während 1939 die weltoffene Villa Tugendhat von der Gestapo annektiert, von den Nazis und dann von der Roten Armee bespielt wird, sitzt Heidegger auch 1938, 1939 und so fort im Schutz seines Schwarzwälder Hütten- und Herrgottswinkels und verbirgt sich vor jenem Weltgeist, dem er auch einmal enthusiastisch aufhelfen wollte. Ernst Tugendhat hingegen wird ab 1945 von jenem Hütten-Werk in Bann geschlagen, das dem engen Schwarzwälder Denk-Raum ein Denk-Mal gesetzt hat; also von Sein und Zeit. Tugendhat wird, nachdem er in den USA Philologie studiert hat, wieder zurück nach Freiburg kommen und bei Heidegger Philosophie studieren. Ob diese Heideggerei ein Feld- oder ein Holzweg Tugendhats war, wollen wir hier nicht fragen. 81
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Bezeichnend jedoch ist, dass auch Tugendhat eine enorme und allerdings faktische Kehre vollzogen hat; weg von der Phänomenologie, weg von Heidegger, hin zur „analytischen“, vom konkreten Sein abgewandten Philosophie. Ab 1966 wird Ernst Tugendhat seine Heidelberger Professur zur ersten Festung des „analytischen“ Denkens in Deutschland ausbauen. Ob die „analytische“ Philosophie, dieses logifizierte und durchaus menschenfreie algorithmische Denken, das sich nun jahrzehntelang nicht nur im angloamerikanischen, sondern auch im deutschen Sprachbereich mit seiner alleszermalmenden Dogmatik breitgemacht hat, nicht doch auch ein Holzweg war, beginnen sich heute, im frühen 21. Jahrhundert, auch etliche einstige Analytiker zu fragen. Jedenfalls: Allerorten beginnt das Pendel wieder umzuschlagen, die Widersprüche des Menschseins und der Zauber einer phänomenalen Existenz mit ihren Bitternissen, Poemen und Paradoxien erhalten wieder Denk-Raum.
K le in e C o d a 2007 hatte ich Gelegenheit, Ernst Tugendhat zu fragen, wie es denn gewesen sei, in einem Haus wie der Villa Tugendhat immerhin einige wesentliche Kindheitsjahre lang aufgewachsen zu sein. In meinem Hinterkopf schwebte die – ich gebe es zu, naive – Vorstellung, ein einmaliger Raum müsse doch auch das in ihm sich gebärende Sein irgendwie affizieren. Tugendhats kurze, unterkühlte Antwort: „Spielt keine Rolle. Ich kann überall denken.“ Und doch schien mir da, dass der Analytiker und der Phänomenologe Tugendhat etwas mit sich im Unreinen waren. Vielleicht gibt es auch in der Philosophie so etwas wie ein Renegatentum. Jeder hat einen Denk-Weg gemacht, aber nicht jeder mag sich eingestehen, dass dem Gehenden Holzweg und Sackgasse begegnen. Ob also von Heideggers Hütte ein Feldweg oder nur ein Holzweg zur Villa Tugendhat oder ob von der Villa Tugendhat ein Weg zur Hütte gesucht werden musste; oder anders, ob das phänomenologische und das analytische Denken doch irgendwo verschwistert sind als Widerschein einer Zeit, eines Raums und eines Subjekts mit seiner eigenen biographischen Geschichte – das dürfen wir doch, in einer versöhnlichen Fermate, vermuten. Keiner denkt allein, ohne Raum, ohne Leib, ohne Denk-Biographie. Diderot hat den alten Flickenteppich nicht aus seinem luxurierten Daseinsraum hinausspediert. Das scheint mir eine zutiefst menschliche Geste. Wir kommen alle aus irgendwelchen Räumen und 82
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gehen in andere weiter, in der Hoffnung, dass sie ein menschliches Format haben; weder zu klein und timide, aber auch nicht zu groß und prahlerisch.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6
DIDEROT, 1992, S. 3. Ebd., S. 5f. und 7f. Ebd., S. 8. HEIDEGGER, 1954, S. 35. Ebd. Erst Schopenhauer und nach ihm Nietzsche werden im deutschen Sprachraum wieder verstehen, dass es durchaus einen beseelten „Materialismus“ gegeben hat und gibt. 7 HEIDEGGER, 1954, S. 34. 8 Ebd., S. 35. 9 Ebd., S. 36. 10 Vgl. Minima moralia, I, 18. 11 „Frauliche“ Damen – etwa die junge Hannah Arendt – erhielten in frühen Jahren gelegentlich eine Einzeleinladung.
L it e r a t u r DIDEROT, DENNIS, Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern. Aus dem Französischen von Hans Magnus Enzensberger, Berlin 1992. HEIDEGGER, MARTIN, Bauen Wohnen Denken, in: Vorträge und Aufsätze, Teil 1, Pfullingen 1954, S. 19-36.
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Ich im Textgefängnis Überlegungen zu Franz Kafkas ›Der Bau‹ KATHARINA SIEBENMORGEN „Das Schreiben versagt sich mir. Daher Plan der selbstbiographischen Untersuchungen. Nicht Biographie, sondern Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile. Daraus will ich mich dann aufbauen so wie einer, dessen Haus unsicher ist, daneben ein sicheres aufbauen will, womöglich aus dem Material des alten. Schlimm ist es allerdings wenn mitten im Bau seine Kraft aufhört und er jetzt statt eines zwar unsichern aber doch vollständigen Hauses, ein halbzerstörtes und ein halbfertiges hat, also nichts. Was folgt ist Irrsinn, also etwa ein Kosakentanz zwischen den zwei Häusern, wobei der Kosak mit den Stiefelabsätzen die Erde solange scharrt und auswirft, bis sich unter ihm sein Grab bildet.“ (Franz Kafka, Hungerkünstlerheft, 1921)1
Wir treten also in ein Haus der Sprache, in die Schrift und ins Schreiben als einem (gefährdeten) Wohnen daselbst.2 Zum Textfragment eines Autors, Franz Kafka, dem die Literatur zur Heimstatt werden sollte.3 Zu seiner Erzählung Der Bau, die explizit „ich“ sagt und damit einen „Baumeister“ auszeichnet und die in mehrfachen Sinne „gebaut“ ist: Mit Wortmaterial (dessen An-, Ab-, Auf- und Umbau) evoziert sie ein Eigenheim (den „Bau“) als Schauplatz, Motiv und Thema, schließlich als Symbol, insofern das Bauprojekt ein Selbst-, Welt- und Lebensentwurf ist, einerseits, und ein literarischer Entwurf andererseits, der am Modell der Architektur Möglichkeiten eines selbstversichernden Schreibens prüft: ut architectura poesis oder eine Poetik des Hauses (wie Ich). 85
Katharina Siebenmorgen
Drei Bemerkungen zur Verortung der folgenden Überlegungen will ich vorausschicken. Sie mögen die Intuitionen aufzeigen, die mich vom Thema der Tagung zu Kafka geführt haben. (1) Auf dem Weg begegnet sind mir auch Musil und Benjamin etwa. Musil, der seinem Mann ohne Eigenschaften ein unentschlossenes Verhältnis (natürlich auch) zur Häuslichkeit zuschreibt. Denn Ulrich bewohnt ein Haus mit einem „etwas verwackelten Sinn“,4 und dass ein verwackelter Sinn keinen festen Grund abgibt, weiß er allemal. Perspektivische Zurichtungen erst vollbringen die Lebensleistung, dass „unbewusst etwas entstehe, worin man sich Herr im Hause fühlt“. Diese genau erkennt Ulrich als jene „Leistung“, die er „nicht in wünschenswerter Weise vollbringe“.5 Allerdings wo er die Leistung erkennt, anerkennt er sie doch nicht. Jedenfalls nicht, bis Agathe in sein Leben (und sein Haus) tritt.6 In Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert wiederum frappiert, dass Orte zwar eine Identität stiften, diese aber „unfassbar“ bleibt, also – in Anlehnung an Manfred Schneiders Formulierung und im Hinblick auf das persönliche Schicksal Benjamins – nicht für einen „Steckbrief“ taugt.7 Aber zu denken wäre auch an André Breton, der sein programmatisches Nadja ein „livre à porte battante“ nennt, ein „Buch, wo die Tür klappt“,8 und ein Plädoyer für das Leben liefert, im „Glashaus“, wo ihm „früher oder später vor Augen treten wird, wie mit Diamant graviert, wer ich bin.“9 Nadja gehört zu den paradigmatischen (anti)autobiographischen Selbstthematisierungen im 20. Jahrhundert, ebenso wie Benjamins Berliner Kindheit. Aber auch Musils Der Mann ohne Eigenschaften stellt die Identitätsfrage, die Frage nach dem Ich und der Welt, neu. Ihnen allen eignet, dass sie auf die Frage „Wer bin ich?“ nicht mit einer Lebensgeschichte im herkömmlichen Sinne antworten. Wenn sie „ich“ sagen, dann nicht, wie es die autobiographische Doxa ausmacht, um erinnernd-erzählend auf eine Einheit des Leben (in der Entwicklung) abzuheben. „Wir sind nicht mehr episch“, heißt es bei Musil. Oder: „Es steckt im Lauf der Weltgeschichte ein gewisser Sinn des SichVerlaufens.“10 Die offensichtliche Hinwendung zur Erfahrungsdimension des Hauses,11 zum Wohnen und Einrichten (als Einräumen), setzt symptomatisch also da an bzw. ein, wo Zeitgewissheit – und mit ihr das Privileg der Geschichte – verloren geht. Das 20. Jahrhundert musste darüber „räumlich“ werden.12 (2) Eine zweite Vorbemerkung betrifft die Frage nach einer Zuständigkeit in Sachen Identität. Die Literatur entfernt sich von diesem „größte[n] Territorium der Menschenkenntnis“ in dem Maße, wie das Gebiet von der Psycho86
Ich im Textgefängnis
analyse und der Kriminalistik vereinnahmt wird.13 Das Misstrauen gegen die Vorstellung eines kontinuierlichen, zurechnungsfähigen „Selbst“ geht einher mit einer eloquenten Bejahung des Potenzials von Schreibakt und Schrift. Selbstreferenzialität kommt den autobiographischen Texten dieser Generation zu. Das Schreiben verweist auf sich selbst zurück; es bringt das autonome Subjekt zum Verschwinden, um es als medial gezeugtes auferstehen zu lassen – ein „flacher“ Bewohner des Schreibraums, der seinem Sprachleib frönt.14 (3) Schließlich basiert die sprach- und zugleich subjektkritische Gleichung von Text und Gefängnis, die ich in meinem Titel aufgreife, auf dem aporetischen Gegensatz zwischen selbstbezüglicher Kunst und Leben, den die literarische Moderne propagiert: „Wer schreibt, lebt nicht. (Es lebe die Kunst.)“. Man kann nun diesen Lebensentzug als Gefängnismetapher aufblasen und – geschichtsunvergessen – auf die lange Tradition selbstbeobachtenden Schreibens als Bekenntnis, auf den „Biographiegenerator“ (Alois Hahn) der Anklage oder das auch von Nietzsche noch weitergereichte Erbe eines Dichtens als Gerichtstag verweisen.15 Man kann aber auch Kafka lesen.16 Kafkas Schreiben begleiten unübersehbar Bilder und Argumente aus der Architektur.17 Der Versuch, erlebtes Leben, um es mitteilbar zu machen, in die Parameter architektonischer Topographien (Innen/Außen; Inklusion/Exklusion; privat/öffentlich) und architektonischer Ordnung (utilitas, firmitas/stabilitas, venustas) zu übersetzen, zieht sich durch die Romanfragmente und Erzählungen, durch die Tagebücher, Notizen und Briefe. Die Protagonisten verirren sich in komplexen Architekturen, die ihr Handeln und Verhalten bestimmen, ohne ihnen doch Orientierung zu bieten. Sie geraten in Situationen von aggressiver räumlicher Belastung – man denke an „die muffigen verwohnten Zimmer“ (Benjamin),18 die Mietskasernen, niedrigen Decken, verschrobenen Dachböden und Verschläge, die endlosen Korridore, das „Schloss“ und die Türen, an denen vergeblich um Einlass ersucht wird. Schließlich begegnet uns Kafka als ein verhinderter Verlobter, dem das Wohnen-Müssen im (vor)bestimmten kleinbürgerlichen Wohn- und Lebensmodell ein Gräuel ist, dem schwere Möbel Beklemmungsgefühle auslösen und der seinen asketischen Ort zum Schreiben und den Schreibtisch gegen Übergriffe gleichsam verbissen verteidigt.19 Man hält Kafkas Texte für verriegelt, hermetisch, klaustrophobisch. Sie zeigen sicherlich kein gläsernes Ich. Und wenn es laut Gerhard Neumann zwei „Szenarien“ gibt, „einerseits Architektur, durch welche Gemeinschaft erfahren und zugleich organisiert wird; andererseits Archi87
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tektur, durch die das Subjekt in seiner Eigentümlichkeit konstruiert werden soll“,20 dann steht Der Bau für die zweite, eine asoziale Variante. Zugleich lassen sich aus der Erzählung Argumente entwickeln, die das allgemeine Glücksversprechen, das aus der Verbindung von Bauplan und Lebenskunst (und zwar in beide Richtungen) resultiert, auf die Probe stellen. Das zu zeigen, werde ich dem „Gang“ der Erzählung hier und da an ausgewählte Stellen folgen. Auf Textgestalt und Plot bezogen an Anfang, Mitte und Ende, auf den „Bau“ bezogen an der Pforte, in der guten Stube und an der Hintertür, wo es bekanntlich (rätselhaft) heißt: „Aber alles blieb unverändert.“21 „Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen. Von außen ist eigentlich nur ein großes Loch sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit nirgends hin, schon nach ein paar Schritten stößt man auf natürliches festes Gestein. Ich will mich nicht dessen rühmen, diese List mit Absicht ausgeführt zu haben, es war vielmehr der Rest eines der vielen vergeblichen Bauversuche, aber schließlich schien es mir vorteilhaft, dieses eine Loch unverschüttet zu lassen. Freilich manche List ist so fein, daß sie sich selbst umbringt, das weiß ich besser als irgendwer sonst und es ist gewiß auch kühn, durch dieses Loch überhaupt auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, daß hier etwas Nachforschenswertes vorhanden ist. Doch verkennt mich, wer glaubt, daß ich feige bin und etwa nur aus Feigheit meinen Bau anlege. Wohl tausend Schritte von diesem Loch entfernt liegt, von einer abhebbaren Moosschicht verdeckt, der eigentliche Zugang zum Bau, er ist so gesichert, wie eben überhaupt auf der Welt etwas gesichert werden kann, gewiß, es kann jemand auf das Moos treten oder hineinstoßen, dann liegt mein Bau frei da und wer Lust hat – allerdings sind, wohlgemerkt, auch gewisse nicht allzuhäufige Fähigkeiten dazu nötig –, kann eindringen und für immer alles zerstören. Das weiß ich wohl und mein Leben hat selbst jetzt auf seinem Höhepunkt kaum eine völlig ruhige Stunde, dort an jener Stelle im dunkeln Moos bin ich sterblich und in meinen Träumen schnuppert dort oft eine lüsterne Schnauze unaufhörlich herum.“ (BE S. 359f.)
„Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen.“ Mit diesem Satz beginnt ein ausgedehnter Monolog, der in den Mund eines nicht näher identifizierten Höhlentiers gelegt ist. Im Zentrum steht der Besitzraum dieser Persona, die sich unterirdisch – in der Erde, unter Tage, in der Dunkelheit – heimisch gemacht hat. Dieser erste Satz im resultativen Perfekt – „habe eingerichtet“ – und im preisenden Präsens – „scheint wohlgelungen“ – eröffnet eine Welt, die 88
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aus einer tätigen Vergangenheit in eine kontemplative Gegenwart hineinspielen möchte. Zwei Perspektiven, die eine historisch, die andere aktuell, spielen in diesem kunstvollen Anfang von einem Ende her ineinander und weisen die Erzählstimme (das Bau-Ich) als den einzigen Experten mit der nötigen Kompetenz aus, eine Beziehung zum Bau zu unterhalten, von ihm zu zeugen und die Bedingungen dieser seiner Lebensäußerung in der Ganzheit und den Teilen auszulegen.22 Der Monolog beginnt also mit der Erwägung einer Lebensleistung – die als Ganzes Anerkennung heischt –, mit der die Kreatur den Ruhestand beschließen will. Von außen sichtbar ist nur ein großes Loch, das allerdings nirgends hinführt. Man stößt hier bald „auf natürliches festes Gestein“, d.h. Erfassbares, und also nicht (Bau)Kunst. Und doch ist der Bau auf dieses Evidente, das zu nichts führt, direkt bezogen. Denn der tatsächliche Einstieg befindet sich in – abgemessener – Entfernung hiervon. Er liegt – im Gegensatz – nicht frei, sondern unter einer Moosdecke getarnt, die über ihre Funktion, den Tiefbau für die Introspektion zugänglich zu machen, hinwegtäuscht. Die Moosdecke muss abgehoben werden, soll es aber nicht. Diese in der Eröffnung entworfene Struktur, die die Frage nach dem Einstieg in den Text mit jener nach dem unwahrscheinlichen Einstieg in den Bau beantwortet, bedingt den Rest. Man kann schon hier An-Sätze hinsichtlich der Beziehung zum Bau und der spezifischen Bewegungen, die dem Text erlaubt sein werden, vermuten. Der Einstieg setzt nämlich eine Enttäuschung voraus – die Moosdecke, die keine ist, aber mehr noch: Der „wohlgelungene“ Bau (venustas) beginnt als Fehlstart. Und weitere Fehlversuche liegen verschüttet in der Vergangenheit. Schon von diesem Anfang her zeigt sich die Erzählstimme gewahr, dass ihrer Konstruktion das Unvollkommene (zur List sublimiert) eingebaut ist. An der Schwelle zwischen Innen und Außen, Vergangenheit und gegenwärtigem Moment der Rückschau bringt der Bau die Oppositionen zwischen Transparenz und Verhüllung, eigentlich und uneigentlich, offen und geschlossen, Schutz und Gefahr als unkontrollierbare ins Spiel. Eine weitere Opposition ist impliziert, die für den Text insgesamt entscheidend wird: Der Bau als Versteck (utilitas) ist strategisch entworfen auf einen Gegner hin, von dem Anerkennung nur insofern zu erwarten ist, als er sich als Rivale selbst des Baus bemächtigen wollen würde.23 Die Absicherung nach außen ist das Eine. Wie sieht es im Inneren des Schutzbaus aus? Es handelt sich um ein autarkes Gefüge aus Tunneln und Plätzen, in das ein verwirrendes Labyrinth einführt, eine weitere List, deren 89
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Sinn sich dem Bautier rückblickend nicht mehr erschließt. In der Mitte fast liegt der Hauptplatz. Dieser Burgplatz ist der eigentliche Stolz des Hausbesitzers, weist er doch den Bau insgesamt als mustergültiges Befestigungswerk aus, welches das Ich von der Sorge um sich selbst entlasten und seine Fluchtbewegung für Momente stillstellen kann. Während alles andere vielleicht mehr eine Arbeit angestrengtesten Verstandes als des Körpers ist, ist dieser Burgplatz das Ergebnis allerschwerster Arbeit meines Körpers in allen seinen Teilen. […] Die Arbeit am Burgplatz erschwerte sich auch unnötig (unnötig will sagen, daß der Bau von der Leerarbeit keinen eigentlichen Nutzen hatte) dadurch, daß gerade an der Stelle, wo der Ort planmäßig sein sollte, die Erde recht locker und sandig war, die Erde mußte dort geradezu festgehämmert werden, um den großen schöngewölbten und gerundeten Platz zu bilden. Für eine solche Arbeit aber habe ich nur die Stirn. Mit der Stirn also bin ich tausend- und tausendmal tage- und nächtelang gegen die Erde angerannt, war glücklich, wenn ich sie mir blutig schlug, denn dies war ein Beweis der beginnenden Festigkeit der Wand, und habe mir auf diese Weise, wie man mir zugestehen wird, meinen Burgplatz wohl verdient. (BE S. 361f.)
Stellt der Bau in seiner irreführenden Anlage ein generalstabsmäßig kalkuliertes Lebenswerk dar, ist der Haupt-Platz als sein Herzstück – anders als der Name assoziiert – keine Kopfarbeit im verstandesmäßigen baumeisterlichen Sinne. In dieser beziehungsreichen Passage öffnet sich der Bautext (als Textbau) auf den körperlich materiellen Akt des Bauens als Arbeit. Die Bautätigkeit – mit dem Stirnhammer als Werkzeug – lässt sich dem Schreiben/der Schrift als Selbstverletzung assoziieren, insofern das Gelingen mit dem eigenen Blut besiegelt werden muss. Nicht dem Kalkül ist die Stirn hier zugeordnet, sondern einer aktiven Konfrontation mit der Widerständigkeit des Materials, die körperlichen Tribut fordert. Beruhigung resultiert aus „Festigkeit“ (firmitas), aus der Bezwingung des ungünstigen Materials durch diese Umgangs-Form („Wand“) für die Leere. Denn diese Arbeit führt ja zu Nichts. Sie ist eine „Mehrarbeit“24 ohne eigentlichen Nutzen – schön gewölbt, groß und rund. Was die Kreatur – mit dem Paradigma der (Blut)Zeugenschaft – hier aufruft, lässt sich beim Lesen nicht anders visualisieren denn als heroischpathetische Gebärde. Wo der Bau das Selbstverteidigungswerk des Tieres gegen einen imaginierten Feind darstellt, lässt die Implementierung dieser mit dem Stirnhammer erzeugten Aushöhlung – Ironie der Geschichte! – an eine 90
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verdichtende Umkreisung der „haus“gemachten, hohlen, Kategorien Sicherheit, Eigentum/Besitz und Selbstsein denken. Ironie ist denn auch, dass die „wohlverdiente“ Leere geradewegs den Wunsch nach Erfüllung (im buchstäblichen Sinne der Befüllung mit Inhalt) antreibt, denn auf diesem Hauptplatz versammelt das Tier immense Vorräte, die es von der Jagd auf Nahrung mitbringt – ausreichend, um „ein halbes Jahr“ den Bau nicht verlassen zu müssen, um sich an der schieren Menge gierig zu berauschen und sich „bis zur vollständigen Selbstbetäubung mit dem Besten zu füllen“ (BE S. 362).25 Auf solche Akte der glücklichen Selbstberauschung folgt regelmäßig die Ernüchterung, auf die wiederum die Revision des Bauplanes folgt, die – zur Strafe – an den unsicheren Anfang und nach Draußen vor den Bau zurückführt; in die wache Konfrontation mit dem Selbst, das im Bau sich verdoppelt hat und nunmehr für den Doppelgänger lebt. Nur so, in der distanzierten Reflexion, wenn das Ich nicht mehr daheim („zu Hause“) ist, kann es indes seine volle Bedeutung als Daheim („Zuhause“) erwägen.26 „Ich suche mir ein gutes Versteck und belauere den Eingang meines Hauses – diesmal von außen – tage- und nächtelang. Mag man es töricht nennen, es macht mir eine unsagbare Freude und es beruhigt mich. Mir ist dann, als stehe ich nicht vor meinem Haus, sondern vor mir selbst, während ich schlafe, und hätte das Glück, gleichzeitig tief zu schlafen und dabei mich scharf bewachen zu können. […] Und ich finde, daß es merkwürdigerweise nicht so schlimm mit mir steht, wie ich oft glaubte und wie ich wahrscheinlich wieder glauben werde, wenn ich in mein Haus hinabsteige. In dieser Hinsicht, wohl auch in anderer, aber in dieser besonders, sind diese Ausflüge wahrhaftig unentbehrlich.“ (BE S. 367)
Bedeutet der Weg nach Draußen die Entbindung aus der geschlossenen Form, den Geburtsakt aus dem gleichsam verlebendigten Bergungsraum der Höhle ins offene Leben, ist der umgekehrte Weg mit der Undenkbarkeit nun nicht mehr des Anfangs, sondern des Endes assoziiert. Sie gestaltet sich weit schwieriger – es ist der Bau ja selbst, der sich gegen Eindringlinge, und sei es seinen Erbauer, abschließt –, und ihr Gelingen wird begleitet von einem Gefühl euphorischer Hochstimmung, weil das Tier vom Bau sich angenommen, verwirklicht und bestätigt glaubt. Die Angleichung an den Bau geht so weit, dass es seine Konstruktion nicht nur gleichsam hymnisch als Alter Ego apo-
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strophiert, sondern mehr noch, in einer Umkehrung von Subjekt und Objekt, sich ihr vorbehaltlos unterwirft. „Euretwegen, ihr Gänge und Plätze und deine Fragen vor allem, Burgplatz, bin ich ja gekommen, habe mein Leben für nichts geachtet, nachdem ich lange Zeit die Dummheit hatte, seinetwegen zu zittern und die Rückkehr zu euch zu verzögern. Was kümmert mich die Gefahr jetzt, da ich bei euch bin. Ihr gehört zu mir, ich zu euch, verbunden sind wir, was kann uns geschehen. Mag sich oben auch das Volk schon drängen und die Schnauze bereit sein, die das Moos durchstoßen wird. Und mit seiner Stummheit und Leere begrüßt nun auch mich der Bau und bekräftigt, was ich sage.“ (BE S. 374)
Die unheimliche Erwartung einer solchermaßen besiegelten Bergung unterstellt die Beziehung des Ichs zu seiner Burg der stummen Ewigkeit des Todes. Der Bau soll das Ich umfangen, „wie kein Nest seinen Vogel umfängt. Und alles, alles still und leer.“ (BE S. 372):27 „Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille. […] Schön ist es für das nahende Alter, einen solchen Bau zu haben, sich unter Dach gebracht zu haben, wenn der Herbst beginnt. Alle hundert Meter habe ich die Gänge zu kleinen runden Plätzen erweitert, dort kann ich mich bequem zusammenrollen, mich an mir wärmen und ruhen. Dort schlafe ich den süßen Schlaf des Friedens, des beruhigten Verlangens, des erreichten Zieles des Hausbesitzes.“ (BE S. 361)
Absolute Stille und tiefer Schlaf sind der Lohn des Hausbesitzers, Belohnung für die erheblichen Mühen, die das Bestellen des Hauses mit sich gebracht hat.28 Das Tier bezeichnet sich auch andernorts als „ein alter Baumeister“ (BE S. 386), der am Ende seiner Kräfte von der Sorge um den Bau entlastet sein möchte. Aufmerksam für die Fehlerhaftigkeit des Baus bilanziert es seine unreifen Lehrlings- und Mannesjahre, als die Kraft noch unerschöpflich war, fehlende Erfahrung und Einsicht aber unbefriedigende und längst nicht mehr nachvollziehbare Bauentscheidungen zeitigten, welche die Vollkommenheit des Baus gefährden, aber nicht korrigiert oder ungeschehen gemacht werden können: „Zugeben aber will ich, dass darin ein Fehler des Baus liegt, wie überhaupt dort immer ein Fehler ist, wo man von irgend etwas nur ein Exemplar besitzt.“ (BE S. 363).
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Es ist die Sensibilität für das Provisorische des Bauwerks, die immer wieder zur Wachsamkeit ruft, Aufmerksamkeit beansprucht und den Schlaf stört. Die Stille, wo sie sich einstellt, ist also bestenfalls Beruhigung, und die Ruhe ist trügerisch. Das Bautier sieht sich in der Position des Hausbesitzers, der gegen Feinde nicht ausreichend bewehrt sein könnte: „Ich lebe im Innersten meines Hauses in Frieden und inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwoher an mich heran.“ (BE S. 360). Notgedrungen stellt es sich auf einen Kampf ein; gegen einen „wüste(n) Lump, der wohnen will, ohne zu bauen.“ (BE S. 369). Aber es ist dies immer mehr ein Feind, der nicht von Außen eindringt, sondern der immer schon im Bau mitanwesend ist, so dass auch im Inneren der Andere als Feind lauert, die Dialektik von Schutz und Gefahr als eine der Abgrenzung eines Innen nach Außen im Inneren gespiegelt und verkehrt wird. Diese Spannung artikuliert sich im Rhythmus von Stille und deren Unterbrechung. Die Ruhestörung manifestiert sich sukzessive als hörbares Geräusch, das von der Kreatur als eine Verifizierung des malevolenten Anderen erkannt wird.29 „Was ist denn? Ein leichtes Zischen, in langen Pausen nur hörbar, ein Nichts, an das man sich, ich will nicht sagen, gewöhnen könnte; nein, gewöhnen könnte man sich daran nicht, das man aber, ohne vorläufig geradezu etwas dagegen zu unternehmen, eine Zeitlang beobachten könnte, das heißt, alle paar Stunden gelegentlich hinhorchen und das Ergebnis geduldig registrieren, aber nicht, wie ich, das Ohr die Wände entlang schleifen und fast bei jedem Hörbarwerden des Geräusches die Erde aufreißen, nicht um eigentlich etwas zu finden, sondern um etwas der inneren Unruhe Entsprechendes zu tun.“ (BE S. 379)
Am Anfang kann die sicher gewusste Existenz eines Gegners die Ruhe noch nicht dauerhaft beeinträchtigen. Der Feind existiert, ist aber ins legendäre Reich der Sage verschoben. Seine Eigenheit verlangt nicht nach einer Definition. Schließlich aber artikuliert sich das Geräusch als ein Zischen, das überall manifest ist, keine Ortung zulässt und kein Zentrum hat, zu dem das Ich sich hingraben könnte. Das befremdliche Geräusch macht die Illusion der Einstimmigkeit zwischen Bau und Ich, sôma und sêma zunichte. Es verschiebt den harmonischen Einklang zur Dissonanz. Nicht nur hatte das Tier seinen Lebensplan bereits vertagt, um schließlich für den von ihm geschaffenen Bau da zu sein, es muss nun annehmen, gar nicht im eigenen Haus zu leben und einem fremden Bauplan unterworfen zu sein, dessen Urheber, sein Territorium 93
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unaufhaltsam erweiternd, immer engere Kreise um das Tier zieht. Die Erzählstimme kann sich ihres Resonanzraums nicht mehr versichern; das stolze Bauwerk stürzt zu „Erdhaufen“ zusammen. „In meinen Erdhaufen kann ich natürlich von allem träumen, auch von Verständigung, obwohl ich genau weiß, daß es etwas derartiges nicht gibt, und daß wir in dem Augenblick, wenn wir einander sehen, ja wenn wir einander nur in der Nähe ahnen, gleich besinnungslos, keiner früher, keiner später, mit einem neuen anderen Hunger, auch wenn wir sonst völlig satt sind, Krallen und Zähne gegeneinander auftun werden.“ (BE S. 387)
Auf diesen dramatischen Schlusskampf (und nicht mehr auf ein friedliches Einschlafen) ist das Tier nun eingerichtet, der Text wird aber – so die Lesart von Max Brod – von einer anderen Stimme erfüllt, die (aus der vergangenen Zukunft zurückkommend) bilanziert, dass die „heroische“ Existenz des Ich keinen Unterschied gemacht hat: „Aber alles blieb unverändert.“ (BE S. 388).30 Die Anknüpfung an die oben gestellte Frage nach der Beziehung von Bau- und Lebenskunst soll mit einer kleinen Abschweifung zu Roland Barthes beginnen. Barthes hat im Rahmen seiner letzten Vorlesung am Collège de France zum Thema „La préparation du roman“, „Vorbereitung auf den Roman“, auf jenen Ausweg aus der Aporie zwischen Literatur und Leben verwiesen, der darin bestehe, sein Leben zum Werk zu machen: „faire de sa vie une œuvre, son Œuvre.“31 Die Idee einer Vita nova in und durch die Literatur beruft sich auf Proust „tel le Virgile de Dante“32 und kulminiert in der Vorstellung von einer Transformation des Lebens im Schreiben.33 Das Schreiben des Lebens ist aber immer auch eine Thanatographie, die das Ich von seinem Tode her denkt, es zum Neutrum hin entleert (Maurice Blanchot) bzw. aus der Präsenz verabschiedet (Jacques Derrida). Das „Haus wie Ich“ wäre somit das Grab, das sich das Höhlentier in Kafkas Bau selbst gegraben, aber auch das Grabmal, das es sich gesetzt hat, um der eigenen Nichtigkeit dennoch die Stirn zu bieten und den Ort seiner Wiederauferstehung zu bezeichnen. Es wäre die aberwitzige Konsequenz aus der disseminatorischen Logik: Die Leere, die wir hinterlassen, ist groß genug, uns zu ersetzen: „Alles blieb unverändert“. Es gibt genug Anhaltspunkte in Kafkas Text, welche die Assoziation einer letzten Erfüllung autobiographischen Schreibens – als aufschiebendes Künden 94
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vom Anderen als dem eigenen Tod – stützen, angefangen bei der semantischen Verkettung des Bautextes mit der Tätigkeit des (Ein-)Grabens. Aber es lohnt sich, auch noch einen anderen Aspekt wieder ans „Tageslicht“ zu holen, der mit der Entscheidung Kafkas zusammenhängt, in seinem Erzählfragment ausdrücklich „ich“ zu sagen und die autobiographische Erzählsituation zu persiflieren. Die Einrichtung im eigenen Haus, so ließe sich fragen, wäre sie eine Alternative zur Einrichtung in der eigenen Lebensgeschichte? Der Bau war ja der großen Lebensanstrengung eines Baumeisters geschuldet, Selbstgewissheit und stille Zufriedenheit im Einssein von Ich und Werk herzustellen. Indes lässt Kafka das Thema des rechten oder falschen Lebens/Sterbens in eine irrsinnige Paranoia münden. Der auf Vollkommenheit zielende Bauplan erweist sich als Falle, am Ende hat das Bautier weder „gut“ gebaut noch „gut“ gelebt.
Anmerkungen 1 2
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KAFKA, KKA N2, S. 373; vermutete Datierung „in das Frühjahr 1921“: KKA N2 App., S. 112. Weil Heideggers Brief über den Humanismus (1949) (GA, Bd. 9) merkliche Beachtung gefunden hat, ist das Haus der Sprache („die Sprache als das Haus des Seins“) von Heidegger besetzt. Vgl. auch ders., …dichterisch wohnet der Mensch (GA, Bd. 7, S. 189-208) und Bauen Wohnen Denken (GA, Bd. 7, S. 144-164). Kafka als einen möglichen Nachbarn Hölderlins hat Heidegger nicht gekannt. Zahlreiche Belege in WINTER, 2009, bes. S. 47-60 das Kapitel „Schutz“. „[…] ein Jagd- oder Liebesschlösschen vergangener Zeiten. Genau gesagt, seine Traggewölbe waren aus dem siebzehnten Jahrhundert, der Park und der Oberstock trugen das Ansehen des achtzehnten Jahrhunderts, die Fassade war im neunzehnten Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden“, MUSIL, 1995, S. 12 (Erstes Buch, 1. Teil, Kap. 2: Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften). C. G. Jung hat ein Haus, in dem sich Schicht um Schicht die Zeiten überlagern, als Vergleichsbild für die Struktur der menschlichen Seele genommen. Bachelard knüpft hier sein Projekt einer Topophilie an, die das Haus zum Instrument einer Analyse der Psyche macht, vgl. BACHELARD, 1957/2011, S. 18f. MUSIL, 1995, S. 649 (Erstes Buch, 2. Teil, Kap. 122: Heimweg).
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Vgl. ebd., Zweites Buch, 3. Teil, Kap. 24: Agathe ist wirklich da, bes. S. 893-895. SCHNEIDER, 1986, S. 117. Vgl. auch HOLDENRIED, 2000, S. 229. Übersetzung von Walter Benjamin, BENJAMIN, 1929/2007, S. 148. „Pour moi, je continuerai à habiter ma maison de verre, où l’on peut voir à toute heure qui vient me rendre visite, où tout ce qui est suspendu aux plafonds et aux murs tient comme par enchantement, où je repose la nuit sur un lit de verre aux draps de verre, où qui je suis m’apparaîtra tôt ou tard gravé au diamant.“, BRETON 2010, S. 18f. (Deutsche Übersetzung Bernd Schwibs). Vgl. MUSIL 1995, S. 650. Symptomatisch BACHELARD, 1957. GUMBRECHT, 2010; FOUCAULT, 1992. Wo aber das Verhältnis von Zeit und Erkenntnis kollabiert (Gumbrecht), bleibt der Raum doch eine Reflexionsfigur der Zeit. Das gilt auch für die zweite „moderne“ Antwort auf den Erkenntnisschwund der Zeit: den Bezug auf die „Vorgeschichte“, das „Archaische“, den „entgegenwärtigten“ Mythos. SCHNEIDER, 1986, S. 15f. Ebd., S. 14.: „Die Person des Autobiographen bleibt zwar Gegenstand der Schrift als eine fiktive kulturelle Einheit; dafür treibt der Text sich innerhalb seiner eigenen Domäne auf jene höhere Ebene, wo er die autobiographische Aktivität, das Schreiben selbst zum Ersatz für das unerreichbare Objekt – Körper und Erfahrung des schreibenden Subjekts – präsentiert. […] Der autobiographische Text […] macht sich selbst zum Ereignis.“ Vgl. HOLDENRIED, 2000, S. 227f. Allerdings: „Indem die Erzählung das ‚Ich‘ aufs Spiel setzt, kommt sie umgekehrt dem Leben nahe.“, so THOMÄ, 2007, S. 246. Vgl. HAHN/KAPP (Hg.), 1987. Zu Alois Hahns Konzept der „Biographiegeneratoren“ als institutionellen Mechanismus der Selbstthematisierung vgl. insbesondere HAHN, 1995, bes. S. 137. Der Titel von Kafkas Erzählung, dem in seiner saloppen, aus der Soldatensprache übernommenen Wortbedeutung auch die Assoziation der Haftanstalt eingeschrieben ist (vgl. Duden), stammt von Max Brod. Vgl. THIEL, 2011 und NEUMANN, 2009. BENJAMIN, 1981, S. 10. Vgl. KOLB, 2001, S. 62f. NEUMANN, 2009, S. 454.
Ich im Textgefängnis
21 Ich beziehe mich in meinen Ausführungen sowohl auf die historischkritische Fassung (KKA N2, Schriftträger 26, S. 576-632) als auch die Lesart von Brod (BE S. 359-388). Nachweise im laufenden Text mit entsprechendem Kürzel. Für eine kritische Sicht der Rolle von Max Brod als Herausgeber aus dem Nachlass DIETZ, 1979, bes. S. 11f.; vgl. aber auch REUß, 1995, S. 17. Wahrscheinlich „innerhalb der Zeit von Ende November bis Weihnachten 1923“ entstanden, „[lässt] das Bild der Handschrift […] ein zügiges, stetiges Vorwärtskommen der Arbeit erkennen“: KKA N2 App., S. 146. Eine zusammenfassende Einführung in das Erzählfragment mit einschlägiger Forschungsliteratur bietet jüngst LISKA, 2010. Meine Lektüre nimmt, was die Kafka-Philologie betrifft, Anleihen vor allem bei NEUMANN, 2009 und SUSSMAN, 1977. 22 Vgl. SOLDO, 1984, S. 165. Bezogen auf die im Textverlauf explizite Gleichsetzung von „Bau“ und „Bau-Ich“, entwirft sich hier die für die autobiographische Verstehenssituation typische Ausformulierung des hermeneutischen Zirkels, nämlich die Einheit von „Subjekt“ und „Objekt“ der Auslegung. Die in der Eröffnungssequenz verbürgte Identität des „Ich“ (das Bautier) als Autor, Erzähler und Protagonist etabliert gewissermaßen einen „autobiographischen Pakt“ (Philippe Lejeune) mit dem (fraglichen) Adressaten. 23 Vgl. SUSSMAN, 1977, S. 150f. Was – in leichter Abweichung von Sussman – die Lesart des „malevolenten Anderen“ als „Rivalen“ und mit ihr die Frage der Anerkennung betrifft, vgl. die Theorie des triangulären Begehrens („désir mimétique“) von René Girard, zuerst in GIRARD, 1961. Mit Harold Bloom gelesen, beanspruchte das Bautier gleichsam vorauseilend für sich die Rolle des Vorbildes, das sich bzw. sein „Werk“ gegen die aneignende Zerstörung durch Überbietung absichern will, die von der Nachwelt droht, BLOOM, 1995 und 1997. 24 KKA N2, S. 581. 25 „There is an ample rhetoric of ownership in the text to suggest that the creature presides over the burrow like the petit-bourgeois shopkeeper over a small business, economy on a limited but controllable scale.“, SUSSMAN, 1979, S. 155f. 26 Vgl. STEVENSON, 2004, S. 5 und EMRICH, 1960, S. 175. 27 RÖSCH, 1991, S. 50 spricht von „einer fast mystischen Einheit von Ich und Bau“, was die hier nicht berücksichtigte Verknüpfung des „Baus“ mit dem
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Inklusorium, des Rückzugs aus der Gemeinschaft mit dem Anachoretentum eröffnen würde. Ebd., S. 51 assoziiert Rösch hier „ein utopisches Bild vom gelungenen Tod“, das auf das Thema des richtigen und falschen Sterbens führt. Ein kurzer Verweis in eine andere Richtung nur: Man denke an den „Höhlentiefschlaf“, den Blumenberg aus der „Vollkommenheit von Bergung und Behagen“ herleitet und als Möglichkeitsbedingung der Phantasie bestimmt, weil er den Menschen zum „träumenden Tier“ macht, BLUMENBERG, 1989, bes. 25-29. Man beachte den Wechsel, der aus dem Zischen „in einer verräterischen Formulierung“ den Zischer macht, RÖSCH, 1991, S. 53. Anders, nämlich der Handschrift entsprechend, die am Ende einer Seite ohne auffindbare Fortsetzung abbricht, lautet die textkritische Fassung: „aber alles blieb unverändert, das“ (KKA N2, S. 632). Ein solcher Abbruch – wäre er beabsichtigt –, der mit der Konvention des gesetzten Schlusspunktes bricht, würde mit Musils Geständnis gegenüber einem Freund ernstmachen, sein Roman möge am liebsten mitten im Satz mit einem Komma enden. Indem Max Brod – und auch er hat ja eine Textlizenz (wenn auch bekanntlich nicht für Kafkas Nachlass) – das Bau-Fragment verlegt, also im buchstäblichen Sinne von einem privaten an einen öffentlichen Ort gebracht hat, ist eine plausible Erzählung entstanden, die ein bisschen eben auch von ihm selbst stammt – eine Möglichkeit, die Baustelle zu schließen, die Kafkas Textfragment entwirft. BARTHES, 2003, „Séance du 19 janvier 1980: La Vie comme Œuvre“, S. 276-296, hier S. 275. COMPAGNON, 2002, S. 206. Über Barthes’ Projekt erhellend: COMPAGNON, 2002 und 2005.
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Goethes Einquartierungen Zur autobiographischen Dimensionalität besetzter Räume MARTINA WAGNER-EGELHAAF Da das wissenschaftliche Paradigma der ‚Biographie‘ hermeneutisch im Historismus des 19. Jahrhunderts fundiert ist, hat die Autobiographieforschung in der Vergangenheit eher zeitliche als räumliche Untersuchungsperspektiven verfolgt. Die konstitutive Verbindung der Autobiographie mit der Dimension der Zeit liegt insofern auf der Hand, als sich das autobiographische Ich über den Akt der Erinnerung in die Vergangenheit zurückversetzt und damit eine zeitliche Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit zu überwinden ist.1 Eine in der Autobiographieforschung grundlegende, obwohl immer wieder problematisierte Definition der Autobiographie geht auf den französischen Autobiographietheoretiker Philippe Lejeune zurück, der die Autobiographie bestimmt hat als „[r]ückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“2 Der Autobiograph/die Autobiographin blickt also zurück in der Zeit, um eine Geschichte, d.h. eine Entwicklung zu erzählen, die den Zeitpunkt des Erzählens wieder einholt bzw. sich an ihn annähert. Dass dies im Ansatz ein hermeneutisches Unterfangen ist, wird unmissverständlich in einer Kapitelüberschrift von Christa Wolfs Kindheitsmuster deutlich, die eine Verstehensfrage stellt, nämlich: „Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?“3 Im Zuge des ‚topographical‘ bzw. des ‚spatial turn‘, die in den letzten Jahren eine quer durch die traditionellen Geistes- und Sozialwissenschaften zu verfolgende wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf die räumliche Dimension kultureller Phänomene mit sich gebracht haben,4 fragt nun auch die Autobio103
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graphieforschung nach der Rolle von Räumen und Orten für die Konstitution des autobiographischen Ichs und in der Folge des autobiographischen Genres als solchem.5 Spätestens seit Kant gelten Raum und Zeit als die grundlegenden Anschauungsformen des Menschen, d.h. sie sind jeder Wahrnehmung und Begriffsbildung vorgeschaltet. In der Kritik der reinen Vernunft schreibt der Königsberger Philosoph, dass der Mensch mit dem inneren Sinn, also wenn er in sich hineinblickt, zeitlich denkt, aber sich mit dem äußeren Sinn die Gegenstände der Welt als im Raum befindlich vorstellt.6 Präferierte die Hermeneutik die Zeit als wissenschaftliche Kategorie, hat räumlich zu denken, in Anordnungen und Konstellationen, wissenschaftsgeschichtlich der Strukturalismus gelehrt, der sich indessen mit der Frage konfrontiert sieht, ob die Strukturen, die der Strukturalist erkennt, im Objekt anzutreffen sind oder im Kopf des Strukturalisten.7 Wie auch immer: Es scheint in der Autobiographie um beides gehen zu müssen, um Zeit und Raum, Außen und Innen, Subjekt und Objekt, und zwar in ihrer wechselseitigen Verschränkung, die für die Autobiographieforscherin im Text und nur dort zu verorten und zu untersuchen ist. Allerdings befindet sich die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung längst in einer Phase nach der Hermeneutik, nach dem Strukturalismus und auch nach dem Poststrukturalismus, der, beispielsweise in Jacques Derridas différance-Begriff, Zeitlichkeit und Räumlichkeit zusammenzudenken versucht hat mit dem Ergebnis und dem Postulat einer unendlichen Differenzialität der Zeichenprozesse.8 Die Literaturwissenschaft hat heute die Lizenz, auf die verschiedenen Register zugreifen zu können, ohne sie absolut setzen oder gegeneinander ausspielen zu müssen, nach Maßgabe dessen, was ihr Erkenntnisinteresse an sehr konkreten literarischen Texten leitet. Autobiographie vom Raum her zu denken ermöglicht gegenüber der zeitorientierten geschichtlichen Perspektive eine andere Dimensionalität des autobiographischen Ichs. Da Raum und Zeit kategorial aufeinander bezogen sind, affiziert die räumliche Perspektive jedoch immer auch die Zeitwahrnehmung, die gleichsam spatialisiert wird.9 Indessen tut man gut daran, aus methodischen Gründen zwischen ‚Raum‘ und ‚Ort‘ zu unterscheiden.10 Der ‚Ort‘ ist stets ein bestimmter Ort, der bezeichnet werden kann, gewissermaßen ein Punkt auf der Landkarte. Deswegen ist der Ort eine Kategorie, die sich systematisch eher dem ‚topographical turn‘ zuordnet, geht es hier doch um die Repräsentation (vgl. gr. ‚γραφειν‘ ‚schreiben, malen, ritzen‘) von Orten (vgl. gr. ‚τοπος‘ ‚Ort, Stelle, Gegend, Platz, Raum‘). Der ‚Raum‘, eine Kategorie des ‚spatial turn‘ (von lat. ‚spatium‘ 104
Goethes Einquartierungen
‚Strecke‘, ‚Raum‘, ‚Zeitraum‘, ‚Frist‘), ist eine Ausdehnung, eine Dimensionalität, man könnte auch sagen eine Erfahrung, in der sich ein wahrnehmendes Subjekt als positioniert erfährt.11 Ein Ort, so könnte man sagen, ist ein Punkt im Raum, aber jeder Ort eröffnet seinerseits die unterschiedlichsten Räume. Die rhetorische Tradition, die den analytischen Blick auf die konkrete sprachliche Verfasstheit von mündlichen und schriftlichen Redeäußerungen richtet, liefert zwei Zugänge zur Räumlichkeit des Gedächtnisses, das als Vermögen jeglichem Akt der Erinnerung und damit in konstitutiver Weise der Autobiographie zugrunde liegt. Da ist zum einen die Memorialehre, die dem Redner empfiehlt, im vierten Produktionsstadium seiner Rede in den Räumen, den ‚loci‘, einer imaginären Architektur bestimmte Bilder, ‚imagines‘, abzulegen und sie beim Halten der Rede wieder einzusammeln.12 In diesem Sinne spricht der Kirchenvater Augustinus, dessen Confessiones (um 400) einen Markstein in der Geschichte der Autobiographie darstellen, von den „Gefilden und weiten Hallen des Gedächtnisses“ oder auch von „der weiten Behausung [s]eines Gedächtnisses“.13 Zum anderen ist die Topik zu nennen, deren zentrale Kategorie, der ‚τοπος‘, ebenfalls räumlich gedacht ist. Aristoteles stellt einen direkten Bezug der mnemotechnischen Orte zu den Orten der topischen inventio her.14 Der rhetorische Ansatz ist für die literaturwissenschaftliche Analyse deshalb besonders fruchtbar, weil er die Sprachlichkeit dessen, was er beschreibt, profiliert und die Räumlichkeit des Texts auf diese Weise immer schon mit der Räumlichkeit des Referenzobjekts verschränkt. Insofern als die Topik mit ihren ‚Gemeinplätzen‘ auf dem kulturellen Archiv des sensus communis basiert, konnte Stefan Goldmann eine autobiographische Topik herausarbeiten, die jeden autobiographischen Text, so Goldmann, in der Erzählung seiner scheinbar individuellen Lebensgeschichte kulturell vorgeprägte Orte abschreiten lässt.15 Ein solcher individueller und zugleich kultureller Ort ist in der Topologie der abendländischen Autobiographie zweifellos das Elternhaus, der erste (begrenzte) Lebensraum des Menschen, über den ihm die Welt vermittelt wird und von dem er gewissermaßen seinen ‚Ausgang‘ nimmt.16 Goethe, dessen unter dem Titel Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811-1833) veröffentlichte Autobiographie eine Schlüsselrolle in der germanistischen Autobiographieforschung innehat, weil sie eine prototypische Ausprägung des hermeneutischen bildungs- und entwicklungsgeschichtlichen Autobiographiemodells darstellt, beginnt das erste Kapitel seiner Lebensgeschichte gleichsam mit einem Paukenschlag, der Ort und Zeit punktartig zusammenführt: 105
Martina Wagner-Egelhaaf „Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.“17
Mit dem Hinweis auf die Sternenkonstellation zum Zeitpunkt seiner Geburt zitiert Goethe einen traditionellen lebensgeschichtlichen Topos, der das Schicksal des Menschen in den Sternen geschrieben sieht und den er in Geronimo Cardanos De propria vita (1643) vorgeprägt fand.18 Im Anschluss daran eröffnet der autobiographische Erzähler seinen Leserinnen und Lesern den Raum bzw. die Räume des Frankfurter Elternhauses. Bezeichnenderweise verbindet er die „Hausführung“ mit einem Hinweis auf das Funktionieren der Erinnerung, wie es auch schon von Augustinus19 beschrieben ist: „Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühsten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen. Ohne also hierüber eine genaue Untersuchung anzustellen, welche ohnehin zu nichts führen kann, bin ich mir bewußt, daß wir in einem alten Hause wohnten, welches eigentlich aus zwei durchbrochnen Häusern bestand. Eine turmartige Treppe führte zu unzusammenhangenden Zimmern, und die Ungleichheit der Stockwerke war durch Stufen ausgeglichen. Für uns Kinder, eine jüngere Schwester und mich, war der untere weitläuftige Hausflur der liebste Raum, welcher neben der Türe ein großes hölzernes Gitterwerk hatte, wodurch man unmittelbar mit der Straße und der freien Luft in Verbindung kam. Einen solchen Vogelbauer, mit dem viele Häuser versehen waren, nannte man ein Geräms.“ (DW S. 15f.)
Es schließt sich die berühmte, von Freud interpretierte Szene an, in der der kleine Goethe Geschirr aus dem Geräms auf die Straße wirft.20 Auf sie kann hier nicht näher eingegangen werden, signifikant für die ‚anschauende Erinnerung‘ ist aber die Vorstellung des alten Hauses, das in der Vertikale den Eindruck des Verwinkelten und Unregelmäßigen hervorruft, in der Horizontale 106
Goethes Einquartierungen
Raum und Weitläufigkeit und dazu Kontakt mit der Außenwelt und damit eine Außen-Innen-Korrespondenz zu denken gibt.21 Im Anschluss an den Hausflur befindet sich ein großes Zimmer, in dem die Großmutter väterlicherseits lebt und das die Kinder in ihre Spiele einbeziehen (vgl. DW S. 17). Auf der Hinterseite des Hauses, so beschreibt Goethe weiter, eröffnet sich vom oberen Stock ein Blick „über eine beinah unabsehbare Fläche von Nachbarsgärten“, allerdings verfügt das an einer Straßenecke gelegene Haus der Familie Goethe am Hirschgraben nicht über einen Garten, ist vielmehr „durch eine ziemlich hohe Mauer [des] Hofes von diesen so nah gelegenen Paradiesen ausgeschlossen“ (DW S. 18). Diese architekturale Anlage, der Blick aus dem Haus in die unzugänglichen Gärten der Nachbarn, wird Goethe im Rückblick zur Matrix einer Selbstdeutung: „Im zweiten Stock befand sich ein Zimmer, welches man das Gartenzimmer nannte, weil man sich daselbst durch wenige Gewächse vor dem Fenster den Mangel eines Gartens zu ersetzen gesucht hatte. Dort war, wie ich heranwuchs, mein liebster, zwar nicht trauriger, aber doch sehnsüchtiger Aufenthalt. Über jene Gärten hinaus, über Stadtmauern und Wälle sah man in eine schöne fruchtbare Ebene; es ist die, welche sich nach Höchst hinzieht. Dort lernte ich Sommerszeit gewöhnlich meine Lektionen, wartete die Gewitter ab, und konnte mich an der untergehenden Sonne, gegen welche die Fenster gerade gerichtet waren, nicht satt genug sehen. Da ich aber zu gleicher Zeit die Nachbarn in ihren Gärten wandeln und ihre Blumen besorgen, die Kinder spielen, die Gesellschaften sich ergetzen sah, die Kegelkugeln rollen und die Kegel fallen hörte; so erregte dies frühzeitig in mir ein Gefühl der Einsamkeit und einer daraus entspringenden Sehnsucht, das dem von der Natur in mich gelegten Ernsten und Ahnungsvollen entsprechend, seinen Einfluß gar bald und in der Folge noch deutlicher zeigte.“ (DW S. 18)
Das ‚Ausgeschlossensein aus dem Paradies‘ stellt eine markante autobiographietheoretische Signatur dar, insofern als der Mensch erst durch den Verlust des Paradieses auf die irdische Lebensbahn geworfen und damit sterblich wird. Und es ist der Tod, der dem Leben erst seinen Sinn verleiht und auf diese Weise die autobiographische Rückbesinnung motiviert. Diese grundlegende Figur des menschlichen Daseins wird von Goethe in der zitierten Stelle zur individuellen Lebensszene gestaltet. Erzeugt der Gartenblick eine melancholischromantische Stimmung, vermag das Haus bemerkenswerterweise aber auch 107
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Abb. 1: Puppentheater. Frankfurt a. M., Goethe-Haus das dramatische Register zu bedienen, das seit der Poetik des Aristoteles ‚λεος‘ und ‚φόβος‘, ‚Jammer‘ und ‚Schauder‘ als wesentliche Wirkmechanismen der Tragödie ansetzt.22 Bei Goethe heißt es: „Die alte, winkelhafte, an vielen Stellen düstere Beschaffenheit des Hauses war übrigens geeignet, Schauer und Furcht in kindlichen Gemütern zu erwecken“ (DW S. 18). Nur wenige Abschnitte später erfährt man, dass die Großmutter, „in deren geräumigem Wohnzimmer“ die Kinder „hinlänglich Platz zu [ihren] Spielen fanden“ den Kindern „ein Puppenspiel vorstellen ließ“, eine „kleine Bühne“, die „in dem alten Hause eine neue Welt erschuf. Dieses unerwartete Schauspiel zog die jungen Gemüter mit Gewalt an sich; besonders auf den Knaben machte es einen sehr starken Eindruck, der in eine große langandauernde Wirkung nachklang.“ (DW S. 20) (Abb. 1)
Hier, in einem abgegrenzten Raum innerhalb eines abgegrenzten Raums, der „in dem alten Hause eine neue Welt erschuf“, übt sich also schon der spätere Dramatiker und misst die dramatischen Spielräume aus. Auch Goethes Italien-
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Goethes Einquartierungen
Abb. 2: Treppenhaus. Frankfurt a. M., Goethe-Haus reise und die klassische Kunsterfahrung sind im Elternhaus bereits vorgebaut und letztere prägt, so stellt der Autobiograph es dar, den Geist des jungen Johann Wolfgang. Da heißt es: „Innerhalb des Hauses zog meinen Blick am meisten eine Reihe römischer Prospekte auf sich, mit welchen der Vater einen Vorsaal ausgeschmückt hatte, gestochen von einigen geschickten Vorgängern des Piranese, die sich auf Architektur und Perspektive wohl verstanden, und deren Nadel sehr deutlich und schätzbar ist. Hier sah ich täglich die Piazza del Popolo, das Coliseo, den Petersplatz, die Peterskirche von außen und innen, die Engelsburg und so manches andere. Diese Gestalten drückten sich tief bei mir ein […].“ (DW S. 19) (Abb. 2)
In der Enge des Hauses eröffnen sich also die weiten römischen Prospekte als Deutungsperspektive der Goethe’schen Autobiographie, deren Fortsetzung ja gerade die 1816, 1817 und 1829 veröffentlichte Italienische Reise bildet. Goethe berichtet des Weiteren, wie der Vater nach dem Tod der Großmutter be-
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gann, das Haus umzubauen, allerdings, um eine bestimmte Bauvorschrift zu umgehen, bei, heute würde man sagen „laufendem Betrieb“. Für die Kinder bedeutet dies eine gänzlich neue Raumerfahrung: „Die Zimmer, in denen man sie oft enge genug gehalten und mit wenig erfreulichem Lernen und Arbeiten geängstigt, die Gänge, auf denen sie gespielt, die Wände, für deren Reinlichkeit und Erhaltung man sonst so sehr gesorgt, alles das vor der Hacke des Maurers, vor dem Beile des Zimmermanns fallen zu sehen, und zwar von unten herauf, und indessen oben auf unterstützten Balken, gleichsam in der Luft zu schweben, und dabei immer noch zu einer gewissen Lektion, zu einer bestimmten Arbeit angehalten zu werden – dieses alles brachte eine Verwirrung in den jungen Köpfen hervor, die sich so leicht nicht wieder ins Gleiche setzen ließ. Doch wurde die Unbequemlichkeit von der Jugend weniger empfunden, weil ihr etwas mehr Spielraum als bisher, und manche Gelegenheit, sich auf Balken zu schaukeln und auf Brettern zu schwingen, gelassen ward.“ (DW S. 21f.)
Für den jungen Goethe öffnet sich mit diesem Umbau des Elternhauses der Blick nach draußen. Der begrenzte Kosmos des elterlichen Hauses erweitert sich und entsprechend fährt die Autobiographie mit der Schilderung der äußeren Umgebung und des Stadtraums fort, den das selbständiger werdende autobiographische Ich zunehmend erkundet. Allerdings spielt das Elternhaus in Goethes Lebensbeschreibung an späterer Stelle nochmals eine bedeutsame Rolle: Im dritten Buch von Dichtung und Wahrheit schildert der autobiographische Erzähler sehr ausführlich, wie die Familie Goethe im Zuge des Siebenjährigen Kriegs, der die Franzosen nach Frankfurt brachte, französische Einquartierung hinnehmen muss. Ins Haus kommt der französische Königsleutnant Graf Thorane, ein rücksichtsvoller, zivilisierter, kunstsinniger, höflicher und äußerst tüchtiger Militär, dessen Aufgabe darin bestand, Zivilstreitigkeiten zwischen Soldaten und Bürgern zu schlichten. Er bleibt zwei Jahre im Haus und ist so rücksichtsvoll, dass er noch nicht einmal seine Landkarten an die Wände nagelt, um die neuen Goethe’schen Tapeten zu schonen. Die Familie muss dem Grafen und seinen Leuten ihre „wohlaufgeputzten und meist verschlossenen Staatszimmer einräumen“ (DW S. 94) (Abb. 3) und sich selbst in andere Räume des Hauses zurückziehen. Der Graf bemüht sich um ein gutes, ja freundschaftliches Auskommen mit dem Hausherrn und seiner Familie, trifft aber auf den geballten Groll von Goe110
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Abb. 3: Peking-Zimmer. Frankfurt a. M., Goethe-Haus thes Vater, während es ihm durchaus gelingt, die Mutter und die Kinder für sich einzunehmen. Die Anwesenheit des Fremden in seinem Haus ist Goethes Vater ein unüberwindliches Ärgernis; Mutter und Kindern jedoch ist klar, dass alles viel schlimmer hätte kommen können, d.h. dass weniger zivilisierte und rücksichtsvolle Soldaten im Goethe’schen Haus hätten einquartiert werden können. Die Mutter lernt eifrig französisch, die Kinder profitieren von den feinen Desserts der französischen Tafel und der junge Goethe findet die Begegnungen mit den Frankfurter Künstlern, die der Graf ins Haus holt, um sich von ihnen Tapeten für das Schloss seines Bruders in der Provence malen zu lassen, mehr als anregend. Dass Graf Thorane Frankfurter Künstler für die Tapeten seines Bruders anstellt, spricht nicht nur für sein Kunstinteresse, sondern auch dafür, dass er den Wert, den ein wohlausgestattetes Haus für seine Besitzer und Bewohner hat, zu schätzen weiß und sich auch deswegen so rücksichtsvoll im Hause der Familie Goethe verhält. Dies stimmt Johann Caspar Goethe allerdings keineswegs gewogener, er beharrt vielmehr darauf, dass er der Herr des Hauses ist und in seinem Haus der französische Graf nichts verloren hat. Eines Tages kommt es zu einem Eklat, bezeichnenderweise auf der Treppe des Hauses (Abb. 2), auf die Goethe in Dichtung und Wahrheit mehrfach zu sprechen kommt (vgl. DW S. 15/95). Der Treppe, die Goethes Vater besonders re111
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präsentativ hatte gestalten lassen – sie enthält sogar das Monogramm des Hausherrn und seiner Frau23 –, kommt im Haus eine zentrale Bedeutung zu, verbindet sie doch die Räume des Hauses miteinander und stellt auf diese Weise die nicht vorhandene Einheit des verwinkelten Hauses her. Nach dem Sieg der Franzosen über die Hannover’sche Armee unter Herzog Ferdinand von Braunschweig bei Bergen (zwischen Frankfurt und Hanau) am 13. April 1759 ereignet sich Folgendes im Hause Goethe: „Die Treppe lief frei durchs ganze Haus an allen Vorsälen vorbei. Der Vater mußte, indem er herabstieg, unmittelbar an des Grafen Zimmer vorübergehn. Sein Vorsaal stand so voller Leute, daß der Graf sich entschloß, um mehrers auf Einmal abzutun, herauszutreten; und dies geschah leider in dem Augenblick als der Vater herabkam. Der Graf ging ihm heiter entgegen, begrüßte ihn und sagte ‚Ihr werdet uns und Euch Glück wünschen, daß diese gefährliche Sache so glücklich abgelaufen ist.‘ – ‚Keineswegs!‘ versetzte mein Vater, mit Ingrimm; ‚ich wollte sie hätten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich hätte mitfahren sollen.‘“ (DW S. 112)
Die Konstellation ist sprechend: Vater Goethe schreitet die herrschaftliche Treppe in seinem Haus herab – im Code des Absolutismus eine Geste der Herablassung seitens eines Souveräns, wenn er Gäste begrüßt – und dann trifft er auf den ungeladenen und missliebigen ‚Gast‘, der aus seinem (Johann Caspar Goethes) repräsentativen, aber zweckentfremdeten Wohnzimmer tritt und unmissverständlich zu verstehen gibt, wer der wahre Souverän im Haus ist. Ob der unbotmäßigen Antwort des depotenzierten Hausherrn verliert nun auch der sonst so beherrschte Thorane die Geduld, wird seinerseits wütend und, um klar und deutlich zu zeigen, bei wem die Herrschaftsgewalt liegt, veranlasst er, dass der störrische Johann Caspar Goethe auf die Wache abgeführt wird. In seinem eigenen Haus festgenommen und abgeführt zu werden, ist freilich für einen ‚Hausherrn‘ mehr als ehrenrührig. Allerdings lässt der Graf mit sich verhandeln: einem befreundeten Dolmetsch gelingt es, ihn nach vielem Zureden dazu zu bringen, sich zu überwinden und Vater Goethe wieder auf freien Fuß zu setzen – der indessen feindselig wie zuvor bleibt und alles daran setzt, den französischen Eindringling aus seinem Hause zu entfernen, was ihm nach annähernd zwei Jahren schließlich auch gelingt. Damit ist die ‚wahre Hausherrschaft‘ wieder hergestellt – Johann Caspar ist wieder, frei nach Freud, „Herr in seinem eigenen Haus“.24 112
Goethes Einquartierungen
Bemerkenswerterweise sind die Sympathien des jungen Goethe in dieser Konstellation auf Seiten des französischen Grafen. Klaus-Detlef Müller hat sogar davon gesprochen, dass der Königsleutnant Thorane für den jungen Goethe „in dem Maße zur positiven Vaterfigur wird, wie der Rat Goethe sich unvernünftig in seiner Hypochondrie verrennt.“25 Das Elternhaus stellt also gleichsam die theatrale Szene einer retrospektiven Selbstwahrnehmung und -deutung des autobiographischen Ichs dar, das einer starren Außen/Innen- und entsprechend einer Fremd/Eigen-Dichotomie entwächst und die identifikatorische Wahrnehmung des starken Charakters an dessen civilité und die Fähigkeit des Verhandelns und der Selbstüberwindung knüpft. Dabei ist es die architekturale Anlage, die dem Setting über die Markierung und Abgrenzung von Räumen einen interpretatorischen Rahmen verleiht. Der Frankfurter Einquartierungsszene lässt sich der Eintrag vom 4. Oktober (1792) aus Goethes Kriegstagebuch Campagne in Frankreich 1792 zur Seite stellen. Campagne in Frankreich und Belagerung von Mainz bilden den fünften Teil der zweiten Abteilung von Goethes Aus meinem Leben untertitelter Autobiographie. Sie wurden 1822 bei Cotta in Stuttgart und Tübingen gedruckt. Eher gegen seinen Willen muss Goethe, der sich in Weimar häuslich niedergelassen und eine Familie gegründet hatte, Herzog Carl August auf dem österreichisch-preußischen Feldzug gegen das revolutionäre Frankreich begleiten. Goethe reist mit einem Auszug des von Johann Wilhelm Abraham Jäger herausgegebenen topographischen Grand Atlas d’Allemagne en LXXXI feuilles von 1789 im Gepäck.26 Zwischen die Kriegserfahrung selbst und den Text der Campagne ist gleichsam ein abstrahierendes graphisches Medium geschaltet, das im Kriegskontext dem pragmatischen Zweck der Orientierung auf unbekanntem Terrain dient, retrospektiv aber zum autobiographischen Erinnerungsmedium wird: „In Maynz hatte mich Herr v. Stein mit dem Jägerischen Atlas versorgt, welcher den gegenwärtigen, hoffentlich auch den nächstkünftigen Kriegsschauplatz in mehreren Blättern darstellte: Ich nahm das eine hervor, das achtundvierzigste, in dessen Bezirk ich bei Longwy hereingetreten war, und da unter des Herzogs Leuten sich gerade ein Boßler befand, so ward es zerschnitten und aufgezogen und dient mir noch zur Wiedererinnerung jener für die Welt und mich so bedeutenden Tage.“ (C S. 403; vgl. C S. 410)
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Am 4. Oktober befindet man sich bereits auf dem Rückzug nach der Kanonade von Valmy, deren wenig rühmlichen Ausgang Goethe in autobiographischer Selbstgewissheit bekanntlich mit den Worten zusammenfasste: „von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“ (C S. 436). Ort („hier“) und Zeit („heute“) werden in einer souveränen Geste der Welt- und Selbstdeutung zur „Epoche“, ja gar zur „neue[n] Epoche der Weltgeschichte“.27 Erst nach einigem Zögern akzeptierte Goethe die Campagne in Frankreich als eine zum Druck zu befördernde „Epoche meines Lebens“ und damit als Teil seiner Autobiographie.28 Der Eintrag vom 4. Oktober beginnt mit einer Szene, in der sich die besiegten deutschen Truppen in Sivry-les-Buzancy, einem kleinen Ort in den Ardennen, mit Gemüse in französischen Gärten versorgen: „Wir schlugen unser Lager unmittelbar bei Sivry, in dessen Umgegend wir noch nicht alles verzehrt fanden. Der Soldat stürzte in die ersten Gärten und verdarb was andere hätten genießen können. Ich ermunterte unseren Koch und seine Leute zu einer strategischen Fouragierung, wir zogen ums ganze Dorf und fanden noch völlig unangetastete Gärten und eine reiche, unbestrittene Ernte. Hier war von Kohl und Zwiebeln, von Wurzeln und andern guten Vegetabilien die Fülle; wir nahmen deshalb nicht mehr als wir brauchten, mit Bescheidenheit und Schonung. Der Garten war nicht groß, aber sauber gehalten, und ehe wir zu dem Zaun wieder hinauskrochen, stellt’ ich Betrachtungen an wie es zugehe, daß in einem Hausgarten doch keine Spur von einer Türe ins anstoßende Gebäude zu erkennen sei.“ (C S. 458)
Das deutsche Kommando beschließt in der Gegend zu rasten und die Offiziere werden für eine Nacht in Sivry einquartiert. Nun liegt gewissermaßen die spiegelverkehrte Situation zur französischen Einquartierung im Frankfurter Elternhaus vor: Dort hatte man den französischen Königsleutnant im Haus und nun ist Goethe selbst ein hochrangig Einquartierter in einem französischen Haus (allerdings nur für eine Nacht, während, wie dargestellt, der französische Generalgouverneur annähernd zwei Jahre lang in Goethes Elternhaus einquartiert war). Einquartierung hat, selbst wenn sie einvernehmlich erfolgt, immer mit Gewalt und Macht zu tun. Die Einquartierten besetzen einen Raum, den andere, meist dem politischen Gegner Zugehörige,29 als den eigenen betrachten. Zwischen den Parteien besteht indessen ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis, man muss sich doch aus jeweiligem Eigeninteresse miteinan114
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der arrangieren. Insofern ist mit der Situation der Einquartierung die Notwendigkeit der Selbstrelativierung bzw. der sich selbst relativierenden Wahrnehmung verbunden, die in der oben zitierten Stelle in Goethes Vermerk des schonenden Umgangs mit den fremden vegetabilen Ressourcen zum Ausdruck kommt. Goethe beschreibt den französischen Haushalt mit gleichsam ethnologischem Interesse (so wie Thorane im Hause Goethe die Tapeten und das gesamte Frankfurter Hauswesen beobachtet haben mag…): „Man trat nicht unmittelbar von der Straße in das Haus, sondern fand sich erst in einem kleinen, offenen, viereckten Raum, wie die Türe selbst das Quadrat angab; von da gelangte man, durch die eigentliche Haustüre, in ein geräumiges, hohes, dem Familienleben bestimmtes Zimmer; es war mit Ziegelsteinen gepflastert, links, an der langen Wand, ein Feuerherd, unmittelbar an Mauer und Erde […]. Indessen wir uns freundlich mit den guten Menschen besprachen, bemerkt’ ich erst wie architektonisch klug Anrichte, Gossenstein, Topf- und Tellerbretter angebracht seien. Diese nahmen sämtlich den länglichen Raum ein, den jenes Viereck des offenen Vorhauses inwendig zur Seite ließ. Nett und alles der Ordnung gemäß war das Geräte zusammengestellt […].“ (C S. 459)
Es ist offensichtlich, wie wohlgefällig Goethes Blick auf der häuslichen Ordnung ruht, die es, zumal in den ungeordneten Kriegszeiten, erlaubt, die Räumlichkeit und den Zweck der sich in ihr befindlichen Einrichtungsgegenstände auf einen Blick zu erfassen. Und tatsächlich erweist sich das Haus als eine reflexive Ordnungsstruktur im weitergehenden Sinne. Wie einst der Generalgouverneur Thorane im Goethe’schen Elternhaus und die Fouragierer im französischen Hausgarten achten Goethe und die Seinen penibel darauf, die Ordnung des Hauses so wenig wie möglich zu stören und dem Hausherrn und seiner Familie respektvoll zu begegnen. Ja, man hilft ihnen sogar, sich gegen die einfachen, sich weniger geordnet verhaltenden deutschen Soldaten zu schützen (vgl. C S. 461). Und als die deutschen ‚Gäste‘ beispielsweise im Nachbarhaus ein gemästetes Schwein requirieren und ihnen die Hausleute, deren Sympathien eher bei den deutschen Offizieren als bei ihren Nachbarn zu liegen scheinen, bei der Schlachtung des Schweins behilflich sind, wird einmal mehr deutlich, dass über die Grenzmarkierungen des Hauses Verhältnisse zwischen Innen und Außen, Deutschen und Franzosen, Fremden und Eigenen, Höherund Niedriggestellten reguliert werden, die eindeutige, d.h. binäre Konfronta115
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tionen außer Kraft setzen. In dem Maße, in dem Goethe die Franzosen als sozial und politisch differenziert zeichnet, werden über die Ordnungsfigur des Hauses Außen- und Binnendifferenzierungen einer reflexiven autobiographischen Selbstverortung ins Werk gesetzt, die den auf klarer und unversöhnlicher Grenzziehung beharrenden väterlichen Eigen- und Starrsinn längst hinter sich gelassen hat. Von besonderer Signifikanz ist indessen der Schlussabschnitt der Einquartierungsszene, die kompositorisch auf den Eingang des Eintrags vom 4. Oktober zurückverweist. Goethe blickt sich nochmals in dem Haus um, in dem er zu Gast war: „Als ich mich in dem innern Zimmer umsah fand ich zuletzt eine Türe verriegelt, die ihrer Stellung nach in einen Garten gehen mußte. Durch ein kleines Fenster an der Seite konnt’ ich bemerken daß ich nicht irre geschlossen hatte; der Garten lag etwas höher als das Haus, und ich erkannt’ ihn ganz deutlich für denselben wo wir uns früh mit Küchenwaren versehen hatten. Die Türe war verrammelt und von außen so geschickt verschüttet und bedeckt, daß ich nun wohl begriff, warum ich sie heute früh vergebens gesucht hatte. Und so stand es in den Sternen geschrieben, daß wir, ohngeachtet aller Vorsicht, doch in das Haus gelangen sollten.“ (C S. 464)
Nicht nur betont der astrologische Hinweis wie bereits am Anfang von Dichtung und Wahrheit30 die autobiographische Bedeutsamkeit der Szene, auch nimmt die Absperrung zwischen Haus und Garten, die der französische Hausherr wohl vorgenommen hatte, um das Haus vor den deutschen Eindringlingen zu schützen, die Konfiguration des Elternhauses auf, wo der junge Goethe nur aus dem zweiten Stock in die ihm verschlossenen Gärten der Nachbarn blicken kann. Während man üblicherweise vom Haus in den zugehörigen Garten treten und in dieses zurückkehren kann, zeichnet die deutlich markierte Grenze von Haus und Garten sowohl in Dichtung und Wahrheit als auch in der Campagne in Frankreich eine reflexive Konfiguration, die an der Schwelle, an der versteckten und verrammelten Tür oder am Fenster, innehalten lässt. Das Ich ist an diesen Grenzmarkierungen auf sich selbst zurückgeworfen und kann, indem es sich diesseits und jenseits denkt (am Vortag war es im Garten, jetzt ist es im zugehörigen Haus), die getrennten Räume und damit auch die Episoden seines Lebens in Verbindung bringen.31 Im Akt der autobiographischen Reflexion wird retrospektiv aufeinander bezogen, was im Erleben nicht oder noch nicht 116
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zusammenkommt. Bemerkenswerterweise handelt es sich beide Male um verschlossene „Paradiese“: Die Nachbargärten, die dem Kind Goethe in Dichtung und Wahrheit nicht zugänglich sind, erscheinen diesem als paradiesisch, ebenso wie die üppigen Gärten in Sivry-les-Buzancy, in denen Goethe trotz der Kriegslage Kohl, Zwiebeln und Karotten in Hülle und Fülle einheimsen kann, kontrafaktisch Paradiescharakter haben – insbesondere im Rückblick, als der Autobiograph nur noch hinaus- und zurückschauen kann, wo er war und nicht mehr hingelangt. In der Topik der Autobiographie erscheint das Paradies als jener verlorene Ort (und Raum – ein raumloser Raum jenseits aller Räumlichkeit), welcher die räumliche Figuration des auf den Lebensweg geworfenen Menschen motiviert. Das Elternhaus ist nur ein ambivalentes Substitut, das seinerseits im autobiographischen Rückblick als Kindheitsparadies erscheint, andererseits aber immer schon von jenen sozialen Privationen und Machtauftritten geprägt ist, die letztlich zur Vertreibung des autobiographischen Subjekts aus demselben führen.32 Die autobiographische Valenz verschlossener Paradiesgärten und nicht mehr zugänglicher Elternhäuser wird Goethe auf dem Rückzug in Trier am 29. Oktober 1792 bewusst. Speyer ist bereits von den Franzosen besetzt, die Übergabe von Mainz wird vorbereitet. „Nichts fand man wahrscheinlicher und natürlicher als daß auch schon Coblenz von den Franken besetzt sei, und wie sollten wir unsern Rückweg antreten! Frankfurt gab man in Gedanken gleichfalls auf; Hanau und Aschaffenburg an einer, Cassel an der andern Seite sah man bedroht und was nicht alles zu fürchten! […] Mitten in diesem Unheil und Tumulte fand mich ein verspäteter Brief meiner Mutter, ein Blatt das an jugendlich-ruhige städtisch-häusliche Verhältnisse gar wundersam erinnerte. Mein Oheim Schöff Textor war gestorben, dessen nahe Verwandtschaft mich von der ehrenhaft wirksamen Stelle eines Frankfurter Ratsherrn bei seinen Lebzeiten ausschloß, worauf man, herkömmlich löblicher Sitte gemäß, meiner sogleich gedachte, der ich unter den Frankfurter Graduierten ziemlich weit vorgerückt war.“ (C S. 493f.)
Goethes Mutter fragt also im Auftrag des Frankfurter Rats an, ob ihr Sohn, Johann Wolfgang, bereit wäre, sollte er gewählt werden, die Stelle eines Frankfurter Ratsherren anzutreten, d.h. nach Frankfurt und wohl auch ins Elternhaus 117
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zurückzukehren. Damit ist Goethe unversehens an einen entscheidenden Wendepunkt bzw. an den Punkt einer lebenswichtigen Entscheidung gelangt. Entsprechend betroffen reagiert er: „Vielleicht konnte eine solche Anfrage in keinem seltsamern Augenblicke anlangen als in dem gegenwärtigen; ich war betroffen, in mich selbst zurück gewiesen, tausend Bilder stiegen vor mir auf und ließen mich nicht zu Gedanken kommen. Wie aber ein Kranker oder Gefangener sich wohl im Augenblicke an einem erzählten Märchen zerstreut, so war auch ich in andere Sphären und Jahre versetzt.“ (C S. 494)
In der Erinnerung befindet sich das autobiographische Ich plötzlich wieder im paradiesischen Garten des Großvaters: „Ich befand mich in meines Großvaters Garten, wo die reich mit Pfirsichen gesegneten Spaliere des Enkels Appetit gar lüstern ansprachen und nur die angedrohte Verweisung aus diesem Paradiese, nur die Hoffnung die reifste rotbäckigste Frucht aus des wohltätigen Ahnherrn eigner Hand zu erhalten, solche Begierde bis zum endlichen Termin einigermaßen beschwichtigen konnte.“ (C S. 494f.)
Schon im retrospektiv erinnerten kindlichen Paradies droht also der Hinauswurf. Goethe vergegenwärtigt sich in dem für ihn biographisch entscheidenden Moment die Laufbahn des Großvaters und ruft sich – als mögliches Spiegelbild seines eigenen künftigen Lebens – das Bild des nun verstorbenen Oheims vor Augen: „Bei meiner letzten Durchreise durch Frankfurth hatte ich meinen Oheim im Besitz des Hauses, Hofes und Gartens gefunden, der als wackrer Sohn, dem Vater gleich, die höheren Stufen freistädtischer Verfassung erstieg. Hier im traulichen Familienkreis, in dem unveränderten alt bekannten Lokal, riefen sich jene Knaben-Erinnerungen lebhaft hervor und traten mir nun neukräftig vor die Augen.“ (C S. 495)
Goethe rekapituliert hier eine gestufte Erinnerung: In Anbetracht des mütterlichen Briefes erinnert er sich an seinen letzten Besuch in Frankfurt im Haus des Großvaters und Onkels. Letzterer wird als Hausherr, Besitzer von Haus, Hof 118
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und Garten, erinnert; das Haus selbst („in dem unveränderten alt bekannten Lokal“) wird zum Ort der Erinnerung, so jedenfalls erinnert sich der Trierer Goethe, an die paradiesische Knabenzeit im großväterlichen Garten. Die Karriere eines reichsstädtischen Bürgers verbindet sich in der jugendlichen Vorstellung, wie Goethe anfügt, mit dem „süße[n] Gedanke[n]“ „in der Brust eines jeden Republikaners“, „an irgend einem Regimente Teil zu nehmen“ (C S. 495). Dies vergegenwärtigt sich jener Goethe, der gerade im Dienst eines Fürsten gegen das republikanische Frankreich von einem verlorenen Feldzug zurückkehrt! Daher muss er sich diese Knabenträume rasch verbieten: „Diesen freundlichen Kinderträumen konnt’ ich mich jedoch nicht lange hingeben, nur allzuschnell aufgeschreckt besah ich mir die ahnungsvolle Lokalität die mich umfaßte, die traurigen Umgebungen die mich beengten und zugleich die Aussicht nach der Vaterstadt getrübt ja verfinstert. Mainz in französischen Händen, Frankfurt bedroht, wo nicht schon eingenommen, der Weg dort hin versperrt und innerhalb jener Mauern, Straßen, Plätze, Wohnungen, Jugendfreunde, Blutsverwandte vielleicht schon von demselben Unglück ergriffen daran ich Longwy und Verdun so grausam hatte leiden sehen; wer hätte gewagt sich in solchen Zustand zu stürzen!“ (C S. 495f.)
Die Heimat ist also (nicht zuletzt imaginär) besetzt, daher „der Weg dort hin versperrt“. Dass es sich möglicherweise um ein vorgeschobenes Argument handelt und Goethe einfach keine Lust hatte, nach Frankfurt zurückzukehren, legt die sich anschließende Ausführung nahe, in der Goethe (sich selbst gegenüber) zu bedenken gibt, dass er auch unter anderen politischen Umständen das Angebot hätte ausschlagen müssen: Seit zwölf Jahren genießt er die Gunst des Weimarer Herzogs, dem er, Goethe, dient und der ihm die „Gelegenheit“ gegeben hat, „[s]ich zu entwickeln“ (C S. 496). Goethe bringt hier den Grundgedanken seines autobiographischen Konzepts in Anschlag, wie er es in der Vorrede zu Dichtung und Wahrheit formuliert hat.33 Carl August hat ihm gewissermaßen seine (Auto)Biographie ermöglicht – und nicht nur das: Goethe hat inzwischen zu anderer Häuslichkeit in einem anderen Staatsgebäude gefunden: „[…] meine Dankbarkeit war ohne Grenzen so wie die Anhänglichkeit an die hohen Frauen Gemahlin und Mutter, an die heranwachsende Familie, an ein Land, dem ich doch auch manches geleistet hatte. Und mußte ich nicht zugleich 119
Martina Wagner-Egelhaaf jenes Zirkels neuerworbener höchstgebildeter Freunde gedenken, auch so manches andern häuslich Lieben und Guten was sich aus meinen treubeharrlichen Zuständen entwickelt hatte. Diese bei solcher Gelegenheit abermals erregten Bilder und Gefühle erheiterten mich auf einmal in dem betrübtesten Augenblick: denn man ist schon halb gerettet wenn man, aus traurigster Lage im fremden Land, einen hoffnungsvollen Blick in die gesicherte Heimat zu tun aufgeregt wird; so genießen wir diesseits auf Erden was uns jenseits der Sphären zugesagt ist.“ (C S. 496)
Der Gedanke an die besetzte Heimat hat die Gedanken von Frankfurt auf Weimar umgelenkt. Anstatt die Heimat im erinnernden Rückblick an die frühe Kindheit zu suchen, blickt Goethe aus der bedrängten Gegenwart nach vorne auf die Wahlheimat des Weimarer Fürstentums. Überhöht wird dieser Gedanke durch ein gleichsam heilsgeschichtliches, gleichwohl kaum christlich indiziertes Diesseits/Jenseits-Schema, das mit der Sphären-Metapher die autobiographische Topik der Himmelskörper-Konstellationen einzuholen scheint. Allerdings scheint sich Goethe selbst nicht ganz zu glauben und äußert den Verdacht, dass sich „diese Beweggründe zunächst auf [s]ein Gefühl, auf persönliches Behagen, individuellen Vorteil zu beziehen schienen“ (C S. 496). Daher schiebt er weitere Argumente nach: Seine langjährige Tätigkeit (im Fürstendienst) hat ihn für die „städtischen Bedürfnisse[] und Zwecke“ (C S. 497) ungeeignet gemacht. Ja, die Frankfurter Verfassung sieht vor, dass „eigentlich nur Bürger in den Rat aufgenommen werden sollten“, und er selbst ist den Frankfurter Zuständen „so entfremdet“, dass er sich nurmehr „völlig als einen Auswärtigen“ (C S. 497) betrachten kann. Die angestellten Lektüren zeigen, dass der Auftritt und die Selbstwahrnehmung des autobiographischen Ichs räumlicher Strukturen und architekturaler Ordnungen bedarf, die seine Spiel- und Denkräume abstecken. Gerade die Häuser in Goethes autobiographischen Texten34 sind reflexive Konfigurationen und immer auch Bühnen politischer und sozialer Wechselbeziehungen, in denen sich das autobiographische Ich einerseits verorten und deren Grenzmarkierungen es andererseits hinter sich lassen kann. In diesem Sinn ist mit „Goethes Einquartierungen“ eine über den Kriegs- und Besatzungskontext hinausgehende Bedeutung autobiographischer Selbstdimensionierung gemeint, sind die autobiographischen Erfahrungsräume doch immer ‚besetzt‘ – nicht zuletzt durch das autobiographische Ich und seine Rationalisierungsversuche.
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Vgl. DILTHEY, 1981, S. 238: „Wenn wir auf die Vergangenheit zurückblicken, verhalten wir uns passiv; sie ist das Unabänderliche; vergebens rüttelt der durch sie bestimmte Mensch an ihr in Träumen, wie es anders könnte geworden sein. Verhalten wir uns zur Zukunft, dann finden wir uns aktiv, frei. Hier entspringt neben der Kategorie der Wirklichkeit, die uns an der Gegenwart aufgeht, die der Möglichkeit. Wir fühlen uns im Besitz unendlicher Möglichkeiten. So bestimmt dies Erlebnis der Zeit nach allen Richtungen den Gehalt unseres Lebens.“ Vgl. zum hermeneutischen Autobiographieverständnis WAGNER-EGELHAAF, 2005, S. 20-27. LEJEUNE, 1994, S. 14. WOLF, 1979, S. 176. Vgl. grundlegend WEIGEL, 2002; BÖHME (Hg.), 2005; DÜNNE/GÜNZEL (Hg.), 2006; BACHMANN-MEDICK, 2007. Vgl. BÄHR u.a. (Hg.), 2007 sowie das von der DFG von 2009 bis 2012 an der Universität Münster geförderte Projekt „Topographien der Autobiographie“; http://www.uni-muenster.de/Germanistik/Lehrende/wagneregelhaaf_m/abgeschlossene_projekte/autobiographie_topographien.html; 06.03.2013. Stephan Berghaus, Kerstin Wilhelms und Philipp Pabst sei an dieser Stelle herzlich für ihre engagierte Mitarbeit im Projekt gedankt. Während der ‚topographical turn‘ Figuration und Funktion von Orten in den Blick nimmt, geht es dem ‚spatial turn‘ um die dezidiert räumliche Dimension kultureller Erscheinungen. In der Forschungspraxis wird häufig kein Unterschied zwischen beiden Ansätzen gemacht, zwischen denen es in der Tat auch zahlreiche Überschneidungen gibt. Die hier vorgenommene Unterscheidung hat denn auch eher heuristischen Wert. Vgl. auch die folgenden Ausführungen zu ‚Ort‘ und ‚Raum‘, auf deren begrifflicher Differenzierung tatsächlich zu insistieren ist. Vgl. KANT, 1983, S. 71: „Vermittelst des äußeren Sinnes (einer Eigenschaft unsres Gemüts) stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor. Darinnen ist ihre Gestalt, Größe und Verhältnis gegen einander bestimmt, oder bestimmbar. Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschauet, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres innern Zustandes allein möglich ist, so, daß alles, was zu den innern Bestimmun121
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gen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird.“ Bähr, Burschel und Jancke verweisen zu Recht auf die räumliche Konstruktion des westlichen Subjekts und die grundlegende räumliche Verfasstheit seiner Betrachterposition (vgl. BÄHR/BURSCHEL/JANCKE, 2007, S. 8f.). Zur räumlichen Selbstkonstitution des Subjekts um 1800 vgl. BEHRENS, 2007 und BEHRENS/STEIGERWALD, 2010. 7 Vgl. GENETTE, 2008, S. 200. Dasselbe gilt freilich auch für die „Konzepte als Apperzeptionen“ der Hermeneutik. Für die literaturwissenschaftliche Raumanalyse bedeutet dies, dass der wahrgenommene Raum immer mit dem Raum der Darstellung, d.h. der Räumlichkeit des Textmediums, in Relation gebracht werden muss. 8 Vgl. DERRIDA, 1976, S. 13: „Différance als Temporisation, différance als Verräumlichung. Wie geht das zusammen?“ 9 Zur Raumperspektive in der Autobiographieforschung vgl. auch WAGNEREGELHAAF, 2010, S. 194-196 und DIES., 2012. 10 Dies ist in der sich aus unterschiedlichen Fachdisziplinen speisenden Forschung zum Raum nicht immer der Fall. Daher kommt es in Analysen wie in theoretischen Einlassungen häufig zu Ungenauigkeiten, Inkongruenzen und Widersprüchlichkeiten, die den Eindruck einer schwer zu operationalisierenden Heterogenität des Forschungsfelds ‚Raum‘ hervorrufen. So systematisch Bähr, Burschel und Jancke in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Bandes Räume des Selbst argumentieren, indem sie u.a. auf die Standortgebundenheit des Betrachtersubjekts sowie die Eurozentrik der Außen/Innen-Dichotomie bezüglich der Vorstellung des ‚Selbst‘ verweisen, am Ende bekennen sie sich – und dies ist für einen Sammelband auch wohl kaum anders handhabbar – doch zur „Konzeptvielfalt“ (BÄHR/BURSCHEL/JANCKE, 2007, S. 11), wie sie insgesamt die Raumdebatte kennzeichnet. Watson verweist auf die unterschiedliche Konnotierung der Begriffe ‚Raum‘ im Deutschen und ‚space‘ im Englischen und nimmt wichtige Begriffsklärungen vor: „[…] the connotations of Raum are quite different from those of the English word ‚room‘ that is its cognate, or of the more general term ‚space‘; Raum is more sweeping, philosophical, and metaphorical” (WATSON, 2007, S. 13). Auch Watson unterstreicht die räumliche Konstitution des autobiographischen Erzählers: „[…] the focus on both the location and the position of an autobiographical narrator has importantly reshaped thinking about autobiography. The concept of location emphasizes not just the geographic, but the natio122
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nal, ethnic or racial, and gendered, sexual, social and life-cycle coordinates at which a narrator situates her- or himself. […] The concept of position, by contrast, implies the ideological stances – multiple and heteroglossic rather than single and unified, despite the narrator’s values – adopted by a narrator toward both self and others. Both concepts are inescapably spatial in their stress on emplacement, the juncture from which an articulation issues” (ebd., S. 15f.). Vgl. Anm. 5. Vgl. QUINT. inst. 11, 2; vgl. WAGNER-EGELHAAF, 2010, S. 193. Vgl. AUGUSTINUS, 1982, S. 254. Vgl. HEBEKUS, 1995, S. 85. Vgl. GOLDMANN, 1994, S. 660-675. Aus phänomenologischer Perspektive betont Gaston Bachelard die existenzielle Rolle des Hauses für den Menschen (BACHELARD, 1960, S. 35-69 und S. 70-103). Zu Marie Luise Kaschnitz’ Erzählung Haus der Kindheit vgl. WAGNER-EGELHAAF, 2001. GOETHE, 1986, S. 15 (Nachweise im Folgenden im fortlaufenden Text unter der Sigle DW). Vgl. Müller in GOETHE, 1986, S. 1075 (Stellenkommentar zu Dichtung und Wahrheit, S. 1074-1298). Der Sternentopos findet sich noch im Titel des dritten Bandes von Emine Sevgi Özdamars autofiktionaler Trilogie Sonne auf halbem Weg (2006): Seltsame Sterne starren zur Erde (2003). Aus dem vormodernen Glauben, dass das Schicksal des Menschen in den Sternen vorbestimmt sei, ist ein wirkmächtiger autobiographischer Topos geworden, der die Repräsentation und Inblicknahme eines Lebens an eine momentane Konstellation bindet, aber dabei ihrer Veränderlichkeit und damit vielleicht auch der Flüchtigkeit des Lebens eingedenk bleibt. AUGUSTINUS, 1982, S. 35f.: Augustinus spricht davon, dass er sich an seine frühen Kindertage nicht mehr selbst erinnern kann, sondern sich nur auf die Erzählungen anderer beziehen kann. Zur Problematik der Erinnerung bei Augustinus vgl. ebd., S. 254 und 256; vgl. WAGNER-EGELHAAF, 2005, S. 116f. FREUD, 1969, S. 258 beschreibt die Episode als ‚Deckerinnerung‘ und das lustvolle Hinauswerfen des Geschirrs aus dem Haus als Wunsch, unliebsame Geschwister zu beseitigen, die als Konkurrenten in der mütterlichen Gunst empfunden werden.
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21 ‚Enge‘ und ‚Weite‘ stellen grundlegende Raumparameter der Selbsterfahrung in Goethes Italienischer Reise dar, die gleichfalls Teil seiner Autobiographie ist. Vgl. dazu WAGNER-EGELHAAF, 2013. 22 Vgl. ARISTOT. poet. 6 („Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“, ARISTOTELES, 1982, S. 19). 23 Vgl. die Beschreibung auf der Website des Frankfurter Goethe-Hauses: „Die aufwendige Treppenanlage, die fast ein Drittel des Gebäudes einnimmt, drückt den Willen des Hausherrn zur Repräsentation aus. […] Das schmiedeeiserne Geländer im ersten Stock trägt die Initialen von Goethes Eltern: JCG und CEG“ (http://www.goethehaus-frankfurt.de/goethehaus/ 1-etage/vorsaal; 30.04.2012). 24 FREUD, 1917, S. 7. 25 Müller in GOETHE, 1986, S. 1099 (Stellenkommentar, S. 1074-1298). 26 Vgl. GOETHE, 1994, S. 386/924 (Stellenkommentar, S. 923-1003) (Nachweise im Folgenden im fortlaufenden Text unter der Sigle C). 27 HONOLD, 2002, S. 37 spricht von Goethes „Selbsthistorisierung“. 28 GOETHE, 1994, S. 912 (Brief an Cotta vom 24. 6. 1822). Eine ‚Epoche‘ ist ein „[bedeutsamer] Zeitraum“ oder „-abschnitt“ (DUDEN‚ Bd. 5, 2001, S. 183), macht also die Zeit räumlich wahrnehmbar. Die Grundbedeutung des gr. ποχή bedeutetein „Anhalten“ (in der Zeit). Für die autobiographische Bedeutung des Sternentopos (siehe Anm. 18) mag es nicht belanglos sein, dass ‚Epoche‘ in der Astronomie den „Zeitpunkt des Standortes eines Gestirns“ (DUDEN, Bd. 7, 2001, S. 277) bezeichnet. 29 Die Situation im revolutionären Frankreich ist differenzierter. Die Einquartierung bei möglicherweise politisch Gleichgesinnten, d.h. Revolutionsgegnern, ist gleichwohl mit einer Fremdwahrnehmung verbunden. 30 Vgl. GOETHE, 1986, S. 15; siehe Anm. 28. 31 Diesen Hinweis verdanke ich Kerstin Wilhelms. 32 In diesem Zusammenhang verdiente Andreas Maiers autobiographischer Roman Das Haus eine einlässliche Untersuchung. Das Haus (2011) ist Teil zwei eines auf elf Bände angelegten autobiographischen Projekts mit dem Titel Ortsumgehung, dessen erster Band 2010 unter dem Titel Das 124
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Zimmer erschien. Die Lebensgeschichte ist dezidiert an Räumen orientiert, deren Kreise immer größer werden: Die Straße, Der Ort, Die Städte bilden weitere geplante Teile. Bislang ist so viel bekannt, dass Teil 10 Der Teufel und Teil 11 Der liebe Gott heißen sollen (vgl. http://www.dradio.de/dlf/ sendungen/buechermarkt/1326761/; 01.05.2012). Das elterliche Haus in Das Haus ist ein höchst ambivalenter paradiesischer Ort. Einerseits ist es Schutz- und Rückzugsraum eines ängstlichen Kindes, das sich vor der Außenwelt fürchtet, andererseits ist die bedrohliche Außenwelt längst im Inneren des Hauses ansässig, repräsentiert durch den Vater, der die gesellschaftlichen und menschlichen Machtstrukturen, die in der Welt draußen herrschen, längst und immer schon im Haus etabliert hat, so dass der Weg des kleinen Andreas letztlich auch zaghaft hinaus auf Die Straße führen muss. Gleichwohl bildet die architektonische Ordnung des Hauses ein Reflexionsmodell, in dem das autobiographische Ich sich seiner selbst bewusst werden kann: „Übrigens schien das Haus, kaum war ich allein, noch einmal um das Doppelte anzuwachsen, alle Räume erschienen mir plötzlich größer. Langsam lief ich die Treppe hinunter, immer wieder stehenbleibend und auf die Abwesenheit der Geräusche um mich herum lauschend. Die Atmosphäre eines jeden Raums nahm mich gefangen. […] Alles war für sich und konnte so bleiben, vielleicht in Ewigkeit. Ganz langsam streunte ich durch die Räume. Ich ging ins Wohnzimmer, ins Eßzimmer, in die Küche … aber warum ich da jeweils hinging, hätte ich nicht sagen können. Das Wohnzimmer war eigentlich eine Raumflucht aus zwei Zimmern, spärlich eingerichtet, die Decke wie im ganzen Haus nicht sonderlich hoch. […] Eine unbewegte Welt. Vielleicht, wäre es immer so weitergegangen und wäre nie wieder jemand ins Haus zurückgekommen, hätte ich auch verhungern können im Haus, und es wäre mir trotzdem irgendwie richtig und als ein mir zugehöriger Teil meines eigentlichen Lebens vorgekommen. Vielleicht hätte ich beim Verhungern nicht einmal Hunger gespürt, sondern hätte nur in den Räumen dagestanden und später gelegen und wäre schließlich einfach gestorben, und der Tod hätte sich dann von dem Leben vorher gar nicht weiter unterschieden, und ich hätte es eigentlich auch gar nicht gemerkt.“ (MAIER, 2011, S. 161-164). 33 Vgl. GOETHE, 1986, S. 13f.: „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, 125
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und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“ 34 Vgl. BERGHAUS, 2012.
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Goethes Einquartierungen
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Autobiographie und ästhetische Erfahrung John Soanes Künstlerhaus in Lincoln’s Inn Fields CARSTEN RUHL Im Jahr 1792 erwirbt der englische Architekt, Künstler, spätere Akademieprofessor und Sammler John Soane ein kleines Londoner Stadthaus. Es befindet sich in Lincoln’s Inn Fields, einem Platz unweit des British Museum und nördlich des geschäftigen Strand. Erst wenige Jahre zuvor war Soane, der als Sohn eines Maurers aus einfachsten Verhältnissen stammte, Schritt für Schritt zu einem der angesehensten Architekten seiner Generation aufgestiegen. Seine Ernennung zum Architekten der Bank of England im Oktober 1788 stellte einen ersten Höhepunkt seiner aussichtsreichen Karriere dar, die mit einem Studium an der Royal Academy hoffnungsvoll begann und mit der späteren Ernennung zum Professor ebendort ihren Höhepunkt erfuhr.1 Mit dem Erwerb des Londoner Domizils sollte der rasche soziale Aufstieg des Architekten seinen repräsentativen Ausdruck finden. Zu diesem Zweck ließ Soane das vorgefundene Haus abreißen und durch einen Neubau ersetzen (Abb. 1). Den baukünstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten des Architekten sowie seinem Geltungsbedürfnis als neues Mitglied der englischen Oberschicht waren allerdings vergleichsweise enge Grenzen gesetzt: Neben den Wohnräumen hatte das schmale Reihenhaus das Büro des Architekten sowie dessen stetig wachsende Bibliothek und Kunstsammlung in sich aufzunehmen. Schon nach wenigen Jahren wurde daher eine Erweiterung unumgänglich. Es begann ein Prozess, der schon bald zur Obsession wurde. Bis zu seinem Tod, das heißt in mehr als dreißig Jahren, widmete sich Soane geradezu besessen der Zerstörung, Umar129
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beitung und Erweiterung seines Hauses. Was sich dem Betrachter am Ende präsentierte, war ein raumkünstlerisches Lebenswerk, dessen Fortbestand für alle Zeiten sichergestellt werden sollte. Eigens zu diesem Zweck setzte Soane einen „Act of Parliament“ durch, der nach dem Tod des Architekten im Jahr 1837 tatsächlich in Kraft trat. In ihm verpflichtete sich der Staat, das Haus mitsamt seinem Interieur zum Wohle der Öffentlichkeit für alle Zeiten zu bewahren.2
Abb. 1: Lincoln’s Inn Fields 13, Südansicht Ausgehend von der Tradition des Künstlerhauses möchte ich im Folgenden den Versuch unternehmen, Soanes Haus als Produkt einer dialektischen Beziehung zwischen ästhetischer Erfahrung und autobiographischer Reflexion zu lesen. Dabei bin ich mir der Tatsache bewusst, dass die Verwendung des Autobiographie-Begriffes in der Interpretation eines Interieurs nicht ganz unproblematisch ist. Gemeinhin werden diesem Begriff literarische Lebenserinnerungen und nicht Werke der Kunst zugeordnet. Indessen gilt es zu berücksichtigen, dass sich die Literaturwissenschaft stets mit der Abgrenzung der Autobiographie von anderen Textgattungen wie dem Roman oder der Historiographie schwer tat. Dass viele der heute in der Literaturwissenschaft als Autobiographien bezeichneten Texte ursprünglich nicht als solche abgefasst wur130
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den, erschwert eine Bestimmung zusätzlich. Genau betrachtet erlangte der Terminus Autobiographie erst im späten 19. Jahrhundert eine klassifikatorische Funktion und erst im 20. Jahrhundert entstanden in England Werke, die bereits im Titel ihre Zugehörigkeit zur Autobiographie als Gattung signalisierten. Nicht ganz zu Unrecht wird daher in Theorien des Autobiographischen betont, dass dieser Terminus weniger eine objektiv bestimmbare Gattungsbezeichnung darstellt, als eine Rückprojektion gattungstheoretischer Reflexionen auf die Literaturgeschichte der letzten zweihundert Jahre; ein Umstand, der bereits in den 1980er Jahren zu der extremen Feststellung Anlass gab, das Autobiographische sei allein noch als Haltung des Lesers gegenüber einem Text, nicht aber als Qualität des Textes selbst zu charakterisieren.3 Zuweilen wird vor diesem Hintergrund von einem autobiographischen Raum gesprochen, der auf unbestimmte Weise zwischen der Faktualität historischer Ereignisse, der Fiktionalität ihrer biographischen Darstellung und deren Interpretation durch den Leser oszilliert.4 Paradoxerweise blieb jene räumliche Dimension des Autobiographischen bislang auf ihre textuelle Konstruktion beschränkt, was zumindest aus Sicht der Architektur- und Kunstgeschichte als unbefriedigende Eingrenzung des Phänomens betrachtet werden muss.5 Denn autobiographische Reflexionen finden ihren Ausdruck keineswegs allein in der Schrift. Bereits mit Blick auf das 18. Jahrhundert lässt sich jenseits literaturtheoretischer Diskurse konstatieren, dass die Selbstvergewisserung in der autobiographischen Reflexion zunächst einmal ein Phänomen der Zeit darstellt, welches sich kaum auf ein bestimmtes Medium beschränken lässt. Was die Architektur angeht, wird sogar ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Vollkommenheit baukünstlerischer und autobiographischer Kompositionen hergestellt. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts betrachtete der frühaufklärerische Philosoph Shaftesbury charakterliche Bildungsprozesse als eine „lebendige Architektur“ (living architecture), während der Schöpfer derselben, das bildende Subjekt, als „bemerkenswerter Architekt“ (notable architect) figurierte.6 In einer Schrift aus den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts mit dem Titel The Polite Philosopher, or, An Essay on that Art which Makes a Man Happy in Himself, and Agreeable to Others behauptet der Autor gar, menschliches Verhalten, eine gute Erziehung vorausgesetzt, sei wie eine harmonische, den Betrachter unmittelbar ansprechende Architektur.7 Aus jenem wirkungsästhetischen Zusammenhang erwuchs überhaupt erst die Notwendigkeit, das eigene Leben als ein Werk erscheinen zu lassen, dessen Vervollkommnung es durch die gekonnte retrospektive Inszenierung des Privaten im Öffentlichen unter 131
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Beweis zu stellen galt. Dies gilt im besonderen Maße für Soanes Haus in Lincoln’s Inn Fields, wie im Folgenden unter Berücksichtigung der hierfür relevanten kunstgeschichtlichen Kontexte gezeigt werden soll. In der kunsthistorischen Forschung wurde Lincoln’s Inn Fields zumeist in die Tradition des Künstlerhauses gestellt – ein Phänomen, dessen Anspruch bereits Mitte des 15. Jahrhunderts in groben Zügen umrissen war.8 Antonio Averlino nennt in seinem Trattato di Architettura (1460) das Haus eines Architekten, dessen Bildprogramm das neue soziale Anspruchsdenken des frühneuzeitlichen Hofkünstlers auf den Punkt bringt. In Analogie zum Herrscher widmet sich der Künstler der tugendhaften Aufgabe, die ungestaltete Materie Gesellschaft in die kultivierte Form des Staates zu überführen. Dessen wohl organisierte Schönheit, darauf hatte bereits Leon Battista Alberti hingewiesen, findet ihren Ausdruck in einer idealen Stadtanlage wie sie Filarete in seinem Traktat darstellte. Filaretes Analogie von schöpferischer und herrschaftlicher Gestaltungsmacht wurde in den nachfolgenden Künstlerhäusern des 16. Jahrhunderts zum zentralen Topos. In elaborierten Bildprogrammen kam hier einerseits die Loyalität gegenüber dem Mäzen zum Ausdruck. Andererseits präsentierte sich der Künstler in versteckten Hinweisen als ein vom Hof unabhängiger Schöpfer.9 In England entstand das Künstlerhaus sehr viel später und unter ganz anderen geistesgeschichtlichen Bedingungen. Der soziale Aufstieg des Künstlers und das Verständnis der Kunst als eine herausragende intellektuelle Tätigkeit sind untrennbar mit den Entwicklungen seit der Glorreichen Revolution (1688/89) verbunden und daher zumindest nicht ausschließlich als ein höfisches Phänomen zu betrachten. Die neue aristokratisch-bürgerliche Elite zog sich viel lieber auf ihre Landsitze vor den Toren Londons zurück, als das höfische Spiel der dissimulatio zu kultivieren. Dort inszenierte man sich nur allzu gern als Mitglied einer aufgeklärten Gesellschaft, deren ungetrübte Vernunft in arkadischen Landschaften ihren Ausdruck finden sollte.10 Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die prominentesten englischen Künstlerhäuser zunächst nicht in London, sondern auf dem Land entstanden, wie etwa das berühmte Beispiel Chiswick House zeigt (Abb. 2).11 Anfang des 18. Jahrhunderts ließ Richard Boyle, der dritte Earl of Burlington und einflussreicher Architekturdilettant, südwestlich von London eine klassizistische Idealvilla errichten, die sich in einem ganz sprichwörtlichen Sinne als das Produkt einer besonderen Sammelleidenschaft begreifen lässt. Denn der Entwurf zu dieser Villa stellt
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Abb. 2: Chiswick House im Wesentlichen ein Hybrid aus palladianischen Zeichnungen dar, die Burlington während einer Italienreise im Jahr 1719 erworben hatte. Gemeinsam mit den arkadischen Landschaften des Parks sollte sie den szenographischen Rahmen für die performative Selbststilisierung Burlingtons und seines Kreises bilden. Die Zurschaustellung der eigenen living architecture à la Shaftesbury verband sich darin mit der Attitüde des palladianischen Künstlers und wurde damit selbst wiederum zum Bildgegenstand.12 Als Soane nur wenige Jahre nach dem Erwerb seines Londoner Stadthauses einen Landsitz außerhalb der Stadt bezog, suchte er zweifellos an jene Tradition künstlerischen retirements anzuknüpfen (Abb. 3).13 Es entstand eine repräsentative, aufwendig gestaltete Villa, deren Fassade Soane selbstbewusst mit einem Triumphbogenmotiv aus Portland-Stone versah und deren Inneres neben einer Bibliothek auch eine Galerie beherbergte. Ruinen, eine Mönchsgruft im Kellergeschoss sowie zahlreiche motivische Verweise auf das eigene Werk vervollständigten die künstlerische Selbstinszenierung. Soane selbst verknüpfte mit dieser vergleichsweise aufwendigen Gestaltung große Ziele. Nicht weniger als eine neue Architektendynastie sollte von hier ihren Ausgang nehmen und die bescheidenen Verhältnisse, denen Soane selbst entstammte, endgültig vergessen machen.
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Abb. 3: Pitzhanger Manor Die ehrgeizigen Ziele Soanes erfüllten sich derweil noch nicht einmal ansatzweise, obwohl er die größten Anstrengungen unternahm, den aufgeklärten Idealen der englischen Bildungsaristokratie zu entsprechen. So legte er sich seinem neuen Selbstverständnis als man of taste entsprechend nicht nur eine neue Identität zu, sondern stellte über Jahre eine umfangreiche Privatbibliothek zusammen, die neben den wichtigsten architekturtheoretischen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts eben jene philosophischen Schriften enthielt, in denen die Grundlagen für das frühaufklärerische Ideal des life building formuliert wurden.14 Dies alles verhinderte indessen nicht, dass Soane nicht zuletzt wegen seines zuweilen schwierigen Ehrgeizes und rabiaten Umgangs mit vermeintlichen Konkurrenten zahlreiche Skandale und Zerwürfnisse provozierte.15 Noch in seinen späteren Memoiren kann er die damit verbundenen Kränkungen nicht verbergen. Zu den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gesellten sich darüber hinaus private Enttäuschungen, die mit den überaus großen Erwartungen zu tun hatten, die Soane in seinen Sohn setzte.16 Nach allen erdenklichen 134
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Mühen, „to create in his mind a taste for the Fine Arts“,17 hatte sich dieser offenbar mit dem steinigen Weg einer Architektenkarriere nicht anfreunden können. Derart gekränkt, so Soane in seinen Memoiren, habe er sich kurzerhand dazu entschlossen, die in seinem Landsitz versammelten Exponate in sein kleines Londoner Stadthaus zu schaffen. Der sich anschließende Ausbau des Hauses zur wirkmächtigen Selbstinszenierung Soanes dürfte sich allerdings nicht allein der Enttäuschung über den Eigensinn des Nachwuchses verdanken. Ebenso relevant für die erneute Hinwendung zur Stadt ist wohl der Umstand, dass die Projekte des Architekten eine stärkere Präsenz in London erforderlich machten. Darüber hinaus erhielt Soane etwa gleichzeitig die langersehnte Architekturprofessor an der Royal Academy, zu deren Erlangung Soane alle Mittel recht schienen.18 Beflügelt durch die neuen akademischen Würden und angetrieben von dem Ziel, deren Angemessenheit unter Beweis zu stellen, antizipierte Soane auch gleich seine zukünftige Bedeutung. Nach Jahrzehnten kontinuierlicher Erweiterungen und Veränderungen präsentierte sich dem Betrachter ein raumgreifender Akt der Selbstmusealisierung, der, dies zeigen die erheblichen Erweiterungen des Hauses, auch vor den angrenzenden Häusern nicht Halt machte (Abb. 4a-4d). Soane verstand sich damit nicht mehr nur als Architekt, Künstler oder Bewohner seines Hauses. Mit der Umwidmung in ein Museum nahm er sogleich die Attitüde eines Kurators an, der die historischen Artefakte zu einem Narrativ verdichtet, das in seiner Anordnung translozierter Monumente selbst den Anspruch eines Kunstwerks erhebt. Darin könnte ihm als unmittelbares Vorbild ein Museum in Paris gedient haben, das erst wenige Jahre zuvor aus der Französischen Revolution hervorgegangen war. Das 1793 gegründete Musée des Monuments Français verlagerte nach der Enteignung feudaler und geistlicher Güter zahlreiche historische Artefakte wie königliche Grabmäler, Skulpturen, Fassadenornamente, mittelalterliche Baufragmente, Gemälde und Reliefs und fügte sie im ehemaligen Kloster der Petits-Augustins zu einer chronologisch geordneten galleria progressiva der französischen Nationalgeschichte.19 Inszeniert wurde jenes Panorama von dem Künstler Alexandre Lenoir. Ganz im Sinne des zyklischen Entwicklungsmodells Winckelmanns – Aufstieg, Blüte und Verfall – sollte damit die eigene revolutionäre Gegenwart als Wiederkehr der „beaux jours d’Athènes“ suggeriert werden.20 Dies entsprach weitestgehend den seit 1792 unternommenen Bemühungen, die Symbole der absolutistischen Herrschaft in einen ornamentalen Ausdruck des republikanischen Gleichheitsprinzips zu verwandeln.21 Lenoirs historische Konstruktion, die Ar135
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chitekturen und Artefakte nicht mehr als Medium der Herrschaftsrepräsentation, sondern allein noch als Stationen einer heroischen Kulturgeschichte zu präsentieren, steht dementsprechend für ein völlig neues Verständnis des Monumentalen, was bereits in der zeitgenössischen Kritik durchaus erkannt wurde. So bemängelt etwa François René de Chateaubriand zu Beginn des 19. Jahrhunderts die museale De-Kontextualisierung der ausgestellten Monu-
Abb. 4a
Abb. 4b
Abb. 4c
Abb. 4d
Abb. 4a-d: Lincoln’s Inn Fields 1796/1810/1822/1837 136
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mente, weil „sie nur noch der Kunstgeschichte und nicht derjenigen der Sitten und Religion“ dienten.22 Die Absichten, die Soane mit seinem Museum verband, scheinen auf den ersten Blick vergleichbar. Lenoir ähnlich legt er großen Wert auf die räumliche Inszenierung seiner Exponate, die er ebenso in völliger Missachtung ihrer ursprünglichen Funktion miteinander kombiniert. Im Unterschied zu Lenoir war allerdings keineswegs die raumkünstlerische Konstruktion einer linear verlaufenden nationalen Kunstgeschichte beabsichtigt. Stattdessen überlagern sich die Exponate in Soanes Haus zu einer virtuosen Kombinatorik, die vor allem das raumgestalterische Genie ihres Sammlers demonstrieren soll. Dabei ist es nicht ganz unwichtig zu berücksichtigen, dass der Grundstock dieser Sammlung nicht aus Originalen, sondern aus Abgüssen und Kopien besteht, die primär in englischen Auktionshäusern erworben wurden. Die Motivation, die zum Erwerb des jeweiligen Sammlungsstückes führte, konnte durchaus unterschiedlich sein. Während sich Soane in Einzelfällen für das Objekt selbst interessierte, dienen etwa die zahlreichen Vasen hauptsächlich als Elemente eines zu vervollkommnenden Bildes. Wiederum andere Exponate sammelte Soane nur deshalb, weil sie an berühmte Persönlichkeiten erinnerten. So etwa zahlreiche Büsten und Porträts Napoleons, von dem er kurioserweise auch eine Pistole sowie eine Haarlocke besessen haben soll. Dabei werden die Dinge, einer Kunst- und Wunderkammer nicht unähnlich, über alle Gattungsgrenzen hinweg arrangiert sowie kunsthistorisch Bedeutendes mit Alltäglichem kombiniert. Die Authentizität der Objekte sowie deren historisch und räumlich korrekte Zuordnung ignoriert Soane ebenso wie die seit dem späten 18. Jahrhundert auf den „Durchblick“ ausgerichtete Enfilade des Kunstmuseums. Hinter der symmetrischen Schauseite der Fassade mit ihrem dreiachsigen Portikus und den mittelalterlichen Spolien verbirgt sich stattdessen eine schier undurchdringliche Struktur unterschiedlicher Raumformen und Raumgrößen, deren Anordnung hier wenigstens kurz skizziert werden soll (vgl. Abb. 4). Von einem sich trichterförmig zum Treppenhaus hin öffnenden Flur erschließt sich zunächst eine konventionelle Raumfolge aus Speisezimmer und Bibliothek, die im Norden durch einen winzigen Innenhof begrenzt wird. Jenseits dieser Grenze verliert sich der Raum trotz seiner beachtlichen Erweiterung im rückwärtigen Teil allerdings in einem Gewirr aus Wandnischen, Korridoren, Kolonnaden und Galerien. Der innere Zusammenhang dieser äußerst heterogenen Anordnung bleibt rätselhaft. Der Grundriss verweigert sich jeder Orientierung und vermittelt, zumindest im hinteren Gebäudeteil, einen fragmentarischen Eindruck, der an eine archäologische Ausgrabungsstätte denken 137
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lässt. Zur Verunklärung der räumlichen Orientierung trägt zusätzlich bei, dass die Trennung zwischen Ausstellungspräsentation und Wohnraum weitestgehend aufgehoben scheint. So lässt sich kaum mehr sagen, ob die Ausstellung Teil des Wohnhauses oder das Wohnhaus Teil der Ausstellung ist. Jede qualitative Unterscheidung zwischen Mobiliar und Exponat, zwischen Wohn- und Ausstellungsraum wird ad absurdum geführt. Nicht ohne Witz lässt Soane in diesem verwirrenden Kaleidoskop Tafeln anbringen, die dem vollständig desorientierten Besucher seines Hauses die Himmelsrichtungen anzeigen. Der da-
Abb. 5: Soanes Hund Fanny (Gemälde von James Ward, 1822) mit benannten Überlagerung verschiedener Funktionen ist bisher in der Forschung kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden. Stark vereinfachend werden Soanes irritierende Interieurs entweder als „Prototyp für jenen Kultraum“ interpretiert, „den das 19. Jahrhundert seit der Romantik im Künstleratelier sah“,23 oder, den Aussagen Soanes selbst folgend, als erste Verwirklichung eines Architekturmuseums und Akademie.24 Dies, obwohl die Sammlung Beispiele aller klassischen Kunstgattungen umfasst und darüber hinaus nicht zwischen zeitgenössischer und historischer Kunst unterscheidet, wie es bis dahin zumeist der Fall war.25 Im Gegenteil, neben den echten und unechten Expona138
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ten der Antike versammeln sich in dem Haus zahlreiche Kunstwerke, die von befreundeten Künstlern gestiftet oder erworben wurden. Darunter auch Werke, die den Hund des Eigentümers porträtieren, dessen Gebeine nach seinem Tod im sogenannten Monumental Court des Hauses neben einer architektonischen Stele beigesetzt wurden (Abb. 5).Vervollständigt werden die zahlreichen biographischen Bezüge durch Werke von Künstlern, die für Soanes ästhetische Prägung bedeutend waren.26 Dabei ist die Anordnung der Exponate im Raum keineswegs als einmal festgelegte statische Inszenierung zu verstehen. Im Ge-
Abb. 6: Decke des Frühstücksraums genteil, das Interieur spiegelt in seinen Entstehungsphasen bis zuletzt die persönlichen Krisen und Erfolge von Soanes Leben und deren Verarbeitung wider. So überlagern sich in dem Haus verschiedene biographische Schichten und Spuren und werden ihrerseits zum Material für immer neue Inszenierungen. So etwa an der Nordseite des sogenannten Breakfast Room, wo sich ein Gemälde findet, auf dem Soanes Grabmal für seine verstorbene Frau dargestellt ist und das sich im Zusammenspiel mit der Viktoriengestalt davor als Triumph über den Tod lesen ließe (Abb. 6). Dabei wiederholt sich die Lichtdramaturgie des Gemäldes in der indirekten Beleuchtung des Raumes durch 139
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das verdeckte Oberlicht hinter der segeltuchförmigen Gewölbekonstruktion. In der Anordnung der Dinge entsteht so ein dichtes Beziehungsgeflecht zwischen den biographisch motivierten Kunstwerken Soanes und den Objets Trouvés seiner Sammlung. Am Ende sind die typologischen Unterscheidungsmerkmale zwischen Architekturbüro, Künstlerhaus, Galerie, Wohnhaus, Akademie und Museum weitestgehend aufgehoben. Ganz allgemein ließe sich vielleicht noch von einem autobiographisch geprägten Raum sprechen, der dem aufgeklärten Bildungsideal entsprechend die noble Architektur seines Schöpfers vor Augen führt. So lautet zumindest die Interpretation in den zeitgenössischen Beobachtungen John Brittons, der 1827 unter dem Titel The Union of Architecture, Sculpture, and Painting eine ausführliche Beschreibung verfasste, die sich eher als Charakterisierung Soanes denn als Auseinandersetzung mit seinem Werk liest.27 Dabei steht es für den Autor außer Zweifel, dass die ungewöhnlichen Interieurs des Architekten das Produkt eines vollkommenen Gentlemans seien, dessen Urteilskraft durch die zuvor absolvierte Italienreise ihren letzten Schliff erhalten hatte.28 Soanes raumkünstlerische Inszenierung wird darin für derart gelungen erachtet, dass sie den zukünftigen Künstlern Englands die aufwendige Reise nach Italien gar erspare. Mit anderen Worten, das kleine Haus trat in der Vorstellung Brittons an die Stelle einer ganzen Kulturlandschaft, die der englischen Elite seit dem frühen 18. Jahrhundert zum Sehnsuchtsort geworden war und von deren malerischen Evokationen auch Soane nicht unbeeindruckt schien.29 So findet sich in seinem „Museum“ eine stattliche Gemäldesammlung, die in großen Teilen aus idealisierenden oder romantisch verklärenden Darstellungen italienischer Landschaften besteht, darunter Werke Piranesis, Canalettos und Turners. Dabei werden die teils in einer Art Schaulager aufbewahrten Bilder nun Dinge einer räumlichen Anordnung, die sich im Wesentlichen selbst als Landschaft begreift. Anders ist es wohl nicht zu erklären, dass Britton dem Kaleidoskop Soanes einen „superiour picturesque value“ bescheinigt.30 Damit verweist Britton auf eine ästhetische Kategorie, die weder dem Architekturdiskurs entstammte noch im engeren Sinne der Charakterisierung von Galerien diente. Vielmehr steht dieser Begriff für eine weitreichende Neudefinition der Landschaftsmalerei und ihrer Wirkung auf den Betrachter. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte der englische Landschaftsmaler William Gilpin das Pittoreske in Abgrenzung zu den etablierten Kategorien der Kunsttheorie als eine besondere ästhetische Wirkung von Landschaften in die Diskussion eingeführt und durch Beispiele illustriert.31 Erhabene Größe, 140
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sanft geschwungene Formen, Rauheit, die Auflösung der Konturen durch das atmosphärische Zusammenspiel der Elemente sowie das wirkungsvolle Spiel mit dem Licht sind die Hauptmerkmale, die Gilpin einer solchen Landschaftsdarstellung zuschreibt. Darin vermittelt sie zwischen dem Schönen und Erhabenen und den gegensätzlichen Gefühlen pleasure und delightful horror.32 Dabei resultieren derartige Empfindungen keineswegs allein aus den Qualitäten des betrachteten Gegenstands. Der Kunstkenner und Amateurarchäologe Richard Payne Knight stellte in seinem 1794 publizierten Analytical Inquiry into the Principles of Taste vielmehr die These auf, dass die Natur nur in denjenigen ihrer Teile als malerisch zu bezeichnen sei, die mit dem kunsthistorisch konditionierten Auge des Betrachters korrespondierten. Das Malerische könne seinen Ursprung daher auch nicht in der physiologischen Beschaffenheit des Auges haben. Das Auge sei vielmehr Medium eines sehr viel komplexeren Zusammenhangs. Mit Hilfe des Intellektes und der Imagination assoziiert es das Gesehene mit erinnerten Naturdarstellungen in Malerei und Poesie.33 Die für den Betrachter gemalten Landschaften treten also vor die reale Natur und rufen, bewusst oder unbewusst, Impressionen einer ikonographischen Bildtradition hervor. Die Betrachtung der Natur ist damit nicht mehr an das alte Ideal der imitatio naturae gebunden. Sie wird zu einem Akt der Erinnerung, in dem sich unübersehbar eine neue Distanz gegenüber Natur und Geschichte zeigt, tritt doch an die Stelle eines zeitlosen klassizistischen Heilsversprechens das Bewusstsein über dessen unwiederbringlichen Verlust im unaufhaltsamen Strom der Geschichte. Die daraus resultierende Erfahrung der Diskontinuität und Vergänglichkeit findet in der Ruinenbegeisterung des späten 18. Jahrhunderts ihren Ausdruck.34 Dass Gilpin in seinem Essay behauptete, man müsse die palladianische Architektur ruinieren, damit sie eine malerische Wirkung entfalten könne, ist daher nicht nur als Kritik an der Dogmatik der klassizistischen Ästhetik zu interpretieren.35 Mehr als dies ist es Ausdruck einer fortschreitenden „De-Architekturierung“ des aufgeklärten Idealismus und seines klassizistischen Strebens nach Vollkommenheit.36 An dessen Stelle tritt ein Relativismus, der die Formen historischer Stile ästhetisch freisetzt, um sie in romantisch entrückte Landschaften des Vergangenen überführen zu können. Dabei ist der Wunsch, einst selbst Teil jener verblassenden Erinnerungslandschaften zu sein, derart groß, dass Soane seinen komplizierten Gesamtentwurf für die Bank of England gleich als Ruine einer zukünftigen Vergangenheit darstellen ließ (Abb. 7).
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Abb. 7: Bank of England (Gemälde von Joseph Michael Gandy, 1830)
Abb. 8: Kuppelbereich, ostwärts (Gemälde von Joseph Michael Gandy, 1811) 142
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Die parallel zu den langwierigen Arbeiten an der Bank of England entstandene Gestaltung des Hauses in Lincoln’s Inn Fields ist von ähnlichen Wirkungsabsichten geprägt. Dabei betrachtet Soane nicht einzelne Exponate, sondern das ganze Haus als Teil jener verblassenden Welt heroischer Monumente, die im Sinne Payne Knights noch einmal kunsthistorisch pointiert wird. Gleich mit Beginn der Umbauarbeiten beauftragte Soane seinen Zeichner Joseph Michael Gandy damit, Gemälde anzufertigen, in denen die beabsichtigte Wirkung der Räume für den Betrachter zugespitzt wird (Abb. 8).37 Dabei erinnern die Bilder in ihrer Farbigkeit und Maltechnik an die zu dieser Zeit vieldiskutierte Malerei Turners, mit dem Soane und Gandy in engem Austausch standen. Turner wurde etwa zeitgleich mit Soane zum Professor für Perspektive an die Royal Academy berufen und arbeitete seit 1811 in seinen Vorlesungen an einer Ästhetik, die sich der Darstellung des Lichtes und seiner Reflexion in der Landschaftsmalerei widmete.38 Sie basiert im Wesentlichen auf der Annahme, dass sich die Welt nicht mehr aus Materie zusammensetzt, sondern aus reflektiertem Licht, in dem sich alle Farben miteinander vermischen und sich die Konturen der Gegenstände im Durcheinander der Elemente verlieren. Wo Turner indessen die neuen Erkenntnisse zur radikalen Neubestimmung der Landschaftsmalerei nutzt, zeigen die Auftragswerke Gandys einen vollständig introvertierten Raum. Dabei machten sich Soane und Gandy offensichtlich die bei Payne Knight formulierte Erkenntnis zunutze, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit im Wesentlichen durch die Bildprägungen des Gedächtnisses dominiert werde. Beide Sphären verbinden sich darin zu einem kaum noch voneinander zu trennenden Gesamtbild, dass die Rezeption der Interieurs in entscheidender Weise zu prägen vermag. Die damit verfolgte Absicht besteht darin, den vergleichsweise beengten Raum von Lincoln’s Inn Fields seinerseits als eine erhabene Landschaft aus Fragmenten und Ruinen erscheinen zu lassen. Dabei verschwimmen nun im diffusen Licht der Bilder die Unterschiede zwischen den zeitgenössischen Einrichtungsgegenständen des Hauses und den antiken Exponaten. Soane selbst, repräsentiert durch seine Entwürfe und vergegenwärtigt durch die zahlreichen Porträts (Abb. 9), wird gleichsam Teil eines historischen Raumes, dessen Sammlungsgeschichte vom Leben des Eigentümers und seinen freundschaftlichen Beziehungen erzählt. Dabei scheute Soane keinen Aufwand, um in seinen Interieurs den Eindruck einer mit dem bloßen Auge nicht zu ermessenden Landschaft zu erwecken, die als verblassender Sehnsuchtsort in diffuses, gelbliches Licht gehüllt ist. Kulminationspunkt dieser Welt entrückter Dinge ist ein vergleichsweise abseitig gelegener überkup143
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pelter Raum, der sich als fensterloses Haus im Haus über alle drei Geschosse des Gebäudes erstreckt. Man erreicht ihn über schmale Korridore, durch die der Betrachter unter dem Blick prominenter Architekten und Philosophen hindurchschreitet, bevor er in eine schmale, mit korinthischen Säulen ausgestattete Kolonnade gelangt. Von hieraus öffnet sich der Blick auf eine im 18. Jahrhundert geradezu obligatorische Skulptur, den sogenannten Apoll von Belvedere (Abb. 10). Wie man dem Inventar des Hauses entnehmen kann, handelt es sich bei dieser Kopie um einen Abguss, den bereits Burlington während seiner Italienreise im Jahr 1719 angefertigt hatte und der fast hundert Jahre später auf Umwegen in den Besitz Soanes übergegangen war.39 Die Bedeutung, die Soane der Skulptur beimaß, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Immerhin musste zu ihrer Aufstellung im Labyrinth des Hauses die hintere Hauswand eingerissen werden.
Abb. 9: Porträt Soanes im Speisezimmer (Gemälde von Thomas Lawrence) 144
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Abb. 10: Säulengang, westwärts Zudem ließ Soane die monumentale Skulptur gegenüber seinem Porträt auf der anderen Seite der Galerie aufstellen und betonte so, im Zusammenklang mit den rahmenden Säulen des Korridors, sein prinzipielles Einverständnis mit der klassizistischen Ästhetik, die ihn selbst während seines Studiums an der Royal Academy in entscheidender Weise geprägt hatte. Jenseits dieser Achse der Verbindlichkeit entfaltet sich indessen ein verwirrendes Spiel zahlloser Fragmente, in deren Inszenierung Soanes Büste selbst eingeschlossen ist (Abb. 11). Dies gilt insbesondere für den Sockel der Figur. Er stellt eine Art Hybrid aus unterschiedlichen Exponaten dar, die kaum etwas miteinander gemein haben. So findet sich auf der Rückseite des Sockels ein Mosaik aus dem 18. Jahrhundert, das einen Genius auf einem Triumphwagen zeigt. Auf der Vorderseite hingegen, an der Schwelle zur Galerie, wird die Büste von zwei antikischen Urnen flankiert sowie von einer mittelalterlichen Chimäre in Gestalt eines einfüßigen Löwen getragen, der seinerseits von zwei kleinen Figuren flankiert wird, die Michelangelo und Raffael darstellen sollen. Ringsherum gruppieren sich Ornamentfragmente unterschiedlicher Provenienz. Dabei sind insbesondere die Ausstellungsstücke in der Kuppelzone nicht einfach plan an die Wand montiert. Vielmehr wenden sie sich dem Betrachter auf der Galerie zu und ver145
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Abb. 11: Kuppelbereich, ostwärts stärken so den Eindruck, sich in einem Raum zu befinden, der allein durch die Beziehung zwischen den Dingen definiert wird. Belichtet wird die Szenerie durch einfallendes Licht von oben und gelblich eingefärbte Oberlichter hinter den Pendentifs, die die Reliefs an den Wänden in die Farben einer untergehenden Sonne zu tauchen scheinen. Inmitten dieser Szenerie hebt sich der weiße, im Zentrum des Lichtkegels stehende Marmor der Büste Soanes – das Inkarnat des von Britton apostrophierten Genies – kontrastreich von den bräunlichen Tönen der sie umgebenden Abgüsse ab. Darunter allerdings breitet sich schlundartig das Dunkel des Kellergeschosses aus, das Soane vielsagend als Sepulkralraum oder Krypta bezeichnet (Abb. 12). Darin befindet sich ein weiteres monumentales Exponat, dem Soane große Bedeutung beimaß. Es handelt sich um den 1817 von Giovanni Battista Belzoni entdeckten AlabasterSarkophag Sethos I. Das kostbare Stück war 1821 nach England verschifft worden und zunächst im British Museum untergebracht, bevor es dann in den 146
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Abb. 12: Krypta, westwärts Besitz Soanes überging.40 Der von Soane gewählte Aufstellungsort im Haus könnte prominenter nicht sein. Er befindet sich genau unterhalb der gläsernen Kuppel und bildet so mit der Figur des Apoll und Soanes Büste ein narratives Beziehungsgeflecht. Die Frage, wie sich das Bildprogramm des Kuppelraumes interpretieren lässt, ist indessen vergleichsweise leicht zu beantworten. Zweifelsohne betrachtete sich Soane als jenen „Heaven-Born Architect“, den er in seinen Memoirs beschrieben hatte und dessen Genie nun im Glanze Apolls, des Gottes des Lichts und des Führers der Musen, hell erstrahlte.41 Zugleich allerdings spielt er im Sinne der neuen Ästhetik lustvoll mit der nicht unbegründeten Angst, einst im Strudel der Vergänglichkeit in Vergessenheit zu geraten.42 Kompensiert wird diese Angst durch die Selbstvergewisserung der eigenen Bedeutung durch das nahezu vollständige Eintauchen in den Mikrokosmos von Soanes Haus. So ist es zu erklären, dass sich der Raum weitestgehend von der gegenwärtigen Realität außerhalb des Hauses abschirmt. Kaum, dass ein147
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mal ein Fenster den Blick nach Außen gewährt. Im Gegenteil, geschickt verbirgt Soane seine Lichtquellen, deren Strahlen sich zudem in über hundert Spiegeln brechen. Dabei nutzte Soane alle im frühen 19. Jahrhundert bekannten Glas- und Spiegelarten und verwendete sie auf vielfältige Weise: Katoptrische Nischen wechseln sich mit planen Spiegelbändern auf Pfeilern und Säulen ab und erzeugen die Illusion eines Labyrinths, dessen einfach, zweifach oder gar dreifach reflektierten Räume eine autobiographische Landschaft entstehen lassen, die sich zudem in den konvexen Spiegeln panoramatisch ausdehnt (Abb. 13).43 Unweigerlich denkt man hier an Jan van Eycks Hochzeits-
Abb. 13: Detail im Frühstückszimmer bild des Giovanni Arnolfini aus dem Jahr 1434. Vergleichbar mit dem berühmten Bild hat der Spiegel auch bei Soane die Funktion, den Betrachter mit ins Bild zu holen und die Grenze zwischen Betrachterraum und Bildraum auf148
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zulösen. Der Spiegel stellt so eine Art drittes Auge dar, das den Kreis mit dem Betrachter schließt und einen autobiographischen Raum konstruiert, der immer schon Reflexion ist. Darüber hinaus kann der konvexe Spiegel als ein Medium des Sammelns begriffen werden, auf dessen makelloser Oberfläche sich die Dinge Soanes mit den Exponaten des Hauses, das Autobiographische mit dem Historischen, zu einer malerischen Bildlandschaft verbinden. Aus dieser Perspektive betrachtet, fungiert der Spiegel als ein Apparat, der auf magische Weise das zukünftige Bild der eigenen Gegenwart als Vergangenheit heraufbeschwört. Zweifellos inszenierte sich Soane damit bereits zu Lebzeiten als Teil einer kommenden und doch utopischen Geschichte, deren Fluchtpunkte die biographischen Verflechtungen, ästhetischen Prägungen und persönlichen Krisen und Hoffnungen ihres Schöpfers sind. Foucault beschrieb diese paradoxe Wirkung des Spiegels in seinem Essay Von anderen Räumen (1967) wie folgt: „Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich nun wieder dort, wo ich bin.“44 Damit unterscheidet sich Soane allerdings nicht allein vom klassischen Typus des Künstlerhauses. Darüber hinaus visualisiert er mit seinem ästhetischen Erfahrungsraum die Mechanismen autobiographischen Reflektierens, die sich deutlich von seinen in den letzten Lebensjahren abgefassten Memoiren unterscheiden. Wo das Haus die Dinge zu einem persönlichen und fragmentarischen Erinnerungsort versammelt, in dem sich die Hoffnungen und Enttäuschungen seines Besitzers widerspiegeln, verfolgt Soane mit seinen Memoiren eine gegenteilige Strategie. Darin stellt er sich als arriviertes Mitglied der englischen Oberschicht dar, das sich angeblich schon im Alter von 15 Jahren zum Architekten berufen fühlte.45 Soane sieht sich damit als Teil einer Tradition, die bis Andrea Palladio zurückreicht. Dabei bezieht er sich im Unterschied zu den Palladianern des 18. Jahrhunderts allerdings nicht auf die Architektur des Vorbildes. Es ist das palladianische life building, die retrospektive Selbststilisierung zum Genie, an die Soane anknüpft. Entsprechend zitiert er auf dem Frontispiz seiner Memoiren jene Stelle in Palladios Quattro Libri, in der sich der Architekt als Naturbegabung beschreibt und den tatsächlich mühevollen Weg vom Steinmetz bis zum gefragtesten Baumeister der venezianischen Oberschicht verschweigt.46 Was sich also im Medium der Schrift als vollendetes Lebenskunstwerk darstellt, entpuppt sich in den Räumen des Hauses als bruch149
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stückhafte Erinnerung, die ähnlich wie die darin präsentierten Fragmente keine lineare Erzählstruktur herzustellen vermag. Gerade darin erweist sich aber die ungebrochene Aktualität von Soanes kleinem Londoner Haus für die räumlichliterarische Reflexion autobiographischen Erzählens. In Orhan Pamuks letztem Roman Museum der Unschuld wurde Lincoln’s Inn Fields unlängst zum Sehnsuchtsort des Autobiographischen.47 Mit dessen literarischer und architektonischer Umsetzung verbindet sich die Erkenntnis, dass „wahrhafte Museen“ Orte sind, „an denen sich die Zeit in Raum verwandelt.“48 Deutlicher lässt sich wohl die Analogie von life writing und life building nicht zum Ausdruck bringen.
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Zur Biographie Soanes und den historischen Kontexten existieren zahlreiche Darstellungen: RICHARDSON/STEVENS (Hg.), 1999; DARLEY, 1999; STROUD, 1984. Der genaue Wortlaut des Act lautet wie folgt: „An Act for settling and preserving Sir John Soane’s Museum, Library, and Works of Art, in Lincoln’s Inn Fields in the country of Middlesex, for the Benefit of the Public, and for establishing a sufficient Endowment for the due Maintenance of the same.“ Zit. nach SIR JOHN SOANE’S MUSEUM (Hg.), 2001, S. 125. An dieser Stelle werden auch die genauen Umstände geschildert, die zur Verabschiedung des Act geführt haben. Zu den Schwierigkeiten einer allgemeingültigen Bestimmung der Autobiographie als literarische Form sowie zu der Rolle, die der Leser dabei spielt, vgl. ABBOTT, 1988. Vgl. hierzu etwa die Kurzbeschreibung des literaturwissenschaftlichen Projektes Topographien der Autobiographie: WESTFÄLISCHE WILHELMSUNIVERSITÄT MÜNSTER, 2012. Vgl. für den folgenden ersten, allerdings weitestgehend oberflächlichen Versuch einer Auseinandersetzung mit autobiographischen Strategien in der Kunst: WOITHE, 2008, S. 22f. SHAFTESBURY, 1987, S. 322 und S. 336. „[…] behaviour is like Architecture, the Symmetry of the whole pleases us so much, that we examine not into its Parts […].“ FORRESTER, 1734, S. 22.
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Zur neuen sozialen Stellung des Künstlers in der Frühen Neuzeit als Voraussetzung für den Typus des Künstlerhauses vgl. das immer noch grundlegende Werk: WARNKE, 1996, bes. S. 159f. Zum Typus des Künstlerhauses selbst und seiner historischen Entwicklung: SCHWARZ (Hg.), 1989; HÜTTINGER (Hg.), 1985. Schwarz verweist in diesem Zusammenhang etwa auf Giulio Romanos Casa Pippi in Mantua (1538-1544). SCHWARZ (Hg.), 1989, S. 18f. Zum englischen Landsitz des 18. Jahrhunderts immer noch grundlegend: BUTTLAR, 1982. Zu Burlington und seinem Landsitz vgl. BARNARD/CLARK (Hg.), 1995; CARRÉ, 1993; ARNOLD (Hg.), 1994; RUHL, 2003, S. 253f. Als Beispiel sei an dieser Stelle nur auf die zeitgenössischen Darstellungen des Gartens bei Jacques Rigaud hingewiesen. Vgl. hierzu HARRIS, 1985, S. 160. Zu den Parallelen zwischen Soanes Landsitz und seinem Londoner Wohnhaus vgl. FEINBERG, 1984. Im Jahr 1783 hängt der Architekt seinem Familiennamen Soan ein „e“ an. Watkin sieht dies im Zusammenhang mit einer intellektuellen Neuerfindung Soanes, die von einem hektischen und pausenlosen Studium kanonischer Werke geprägt gewesen sei. WATKIN, 1996, S. 9. Ebd., S. 67f. SOANE, 1835, S. 63f. Ebd., S. 66. WATKIN, 1996, S. 71. Vgl. REGAZZONI, 2007, S. 1-4. LENOIR, 1820, S. 47-49, zit. nach HARTEN, 1989, S. 176. Vgl. hierzu KOSCHORKE u.a., 2007, S. 267-280. CHATEAUBRIAND, 1802; zit. nach PLATO, 2004. SCHWARZ (Hg.), 1989, S. 68. WATKIN, 1996, S. 82. RUHL, 2011. Darunter befinden sich etwa Werke Sir Joshua Reynolds, Joseph Mallord William Turners, William Hogarths, Sir Francis Chantreys, Joseph Michael Gandys u.a. BRITTON, 1827. „Whatever has been effected by those, and by other architects, is very inconsiderable, when compared with the acquirements and labours of the 151
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Gentleman whose museum and collection are briefly noticed […] in the ensuing pages. With that enthusiasm, which belongs only to real genius, he visited Rome in his youthful days, and having measured and drawn many of its ancient buildings, returned home with his mind enlarged, and his portfolio well stored.“ Ebd., S. iii-ix. „For insulated parts, for details, for the component members of classical edifices, we need no longer be subjected to the risks, the expenses, and fatigues of long and laborious journeys. Capitals, bases, columns, entablatures, and ornaments, of almost every kind, are now accessible at our own homes, in that focus of art and science – London.“ Ebd., S. 47. Ebd., S. 21. GILPIN, 1794. Nach Gilpin verbindet das Malerische auf diese Weise die Wirkungen des Erhabenen und des Schönen miteinander. Ebd., S. 42f. „These are the picturesque parts; that is, those which nature has formed in the style and manner appropriate to painting; and the eye, that has been accustomed to see these happily displayed and embellished by art, will relish them more in nature […]. The spectator, having his mind enriched with the embellishments of the painter and the poet, applies them, by the spontaneous association of ideas, to the natural objects presented to his eye, which thus acquire ideal and imaginary beauties; that is beauties, which are not felt by the organic sense of vision; but by the intellect and imagination through that sense.“ PAYNE KNIGHT, 1794, S. 150f. Vgl. hierzu STEINHAUSER, 2000. „A Piece of Palladian architecture may be elegant in the last degree. […] But if we introduce it in a picture, it immediately becomes a formal object, and ceases to please. Should we wish to give it picturesque beauty, we must use the mallet, instead of the chissel. […] In short, from a smooth building we must turn it into a rough ruin.“ GILPIN, 1794, S. 7. BÖHME, 1989. Zu den Architekturbildern Michael Gandys sind eine Reihe Aufsätze erschienen, vgl. etwa LUKACHER, 1994 und 1983; SUMMERSON, 1963. WAGNER, 2011, S. 48f. SIR JOHN SOANE’S MUSEUM (Hg.), 2001, S. 57. SUMMERSON, 1990, S. 139f. SOANE, 1835, S. 7.
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42 So provozierten Soanes Polemiken beinahe die Suspension als Professor der Akademie und damit einen nicht unerheblichen Verlust an Reputation. WATKIN, 1996, S. 90f. 43 Zur Lichtregie von Soanes Haus und zu seinem Einsatz von Spiegeln vgl. FURJÁN, 1998. 44 FOUCAULT, 1967/2006, S. 321. 45 SOANE, 1835, S. 11. 46 „Von einer natürlichen Begabung angeregt, widmete ich mich seit meinen frühesten Jahren dem Studium der Architektur.“ PALLADIO, 1570/1993, S. 17. 47 „In London versäumte ich nie, das Sir John-Soane-Museum zu besuchen, in dem die Bilder hervorragend zur Geltung gebracht wurden und dennoch ein wundervolles Durcheinander herrschte, und einmal saß ich dort stundenlang still für mich in einem Eckchen, lauschte auf das Rauschen der Stadt und stellte mir vor, dass ich eines Tages Füsuns Sachen auch so ausstellen und Füsun mir dann von ihrer Wolke herab zulächeln würde.“ PAMUK, 2008, S. 538. 48 Ebd., S. 547.
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Der Palast des Landbriefträgers Ferdinand Cheval – ein Pantheon fürs universale Ich GREGOR WEDEKIND
Eine der zahlreichen Inschriften, die jenes äußerst merkwürdige und hybride Bauwerk zieren, welches Palais idéal genannt wird, weisen es als die Arbeit eines einzigen Mannes aus – „Travail d’un seul homme“.1 Es ist das stolze Bekenntnis des Erbauers, sein Werk ganz alleine und ohne fremde Hilfe errichtet zu haben. In Anbetracht der beträchtlichen Größe des Gebäudes, der Vielfalt seiner Bauglieder und des Reichtums seiner architektonischen, skulpturalen sowie ornamentalen Details unterstreicht die Inschrift die außergewöhnliche, schier unfassliche Arbeitskraft und schöpferische Potenz dessen, der hier als Bauherr, Architekt und Maurer in Personalunion auftritt, und macht es zu einem Monument für seine Person. Ferdinand Chevals größte Genugtuung waren jene Besucher, die nicht glauben wollten, dass ein einzelner Mann mit seinen eigenen Händen dieses Bauwerk errichtet haben sollte.2 Eben dies, die ungeteilte, alleinige Autorschaft, lässt es für den Erbauer stehen, auf den es zurückverweist. Die Errichtung seines Palastes diente dazu, dass Cheval sich selbst bewundern konnte, wie er zugleich die Bewunderung von anderen damit auf sich lenkte. Als Ferdinand Cheval 1912 die Arbeit an seinem Palast abschloss, war er ein alter Mann. 76 Jahre zuvor, 1836, war er in Charmes-sur-l’Herbasse, einem kleinen Weiler 12 km südlich von Hauterives, als Sohn einfacher Bauern geboren worden.3 Ein Besuch der Elementarschule und eine Bäckerlehre in Valence mussten als Ausbildung genügen. Mit 22 Jahren heiratete er ein aus Hauterives stammendes Mädchen, mit dem er in den sechziger Jahren zwei Söhne hatte, von denen einer jedoch bald nach der Geburt wieder verstarb. Cheval ließ sich mit seiner Familie in Hauterives nieder, wo sie im Haus der 157
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Schwiegermutter lebten. Registriert als Landwirt, arbeitete er zeitweise als Tagelöhner. Zeitzeugen berichten, dass Cheval in dieser Phase seines Lebens antriebsschwach war, zerstreut und abwesend wirkte und seiner willenlosen Passivität auf langen Spaziergängen freien Lauf ließ. Um ein solches Naturell nicht zum wirtschaftlichen Fiasko für die Familie werden zu lassen, schlugen ihm seine Angehörigen vor, den Beruf eines Postboten zu ergreifen, um als gleichsam bezahlter Spaziergänger etwas zum Familieneinkommen beizutragen. 1867 trat er nach Ablegung des Amtseides in den Postdienst ein. Er wird Landbriefträger in Ronans und an verschiedenen anderen Stationen. Nach dem Tod seiner Ehefrau 1873 gibt er den verbliebenen Sohn an seine Schwägerin ab. Im Juni 1878 bekommt er die Poststelle in Hauterives. Sein täglicher Dienst besteht in der Route nach Tersanne, 32 km über Land zu Fuß, mit 450 F Jahresgehalt. Im selben Jahr heiratet er eine Schneiderwitwe. Zusammen mit deren Ersparnissen und den Erlösen aus dem Verkauf einiger weniger Morgen Land aus dem väterlichen Erbe kauft Cheval in Hauterives ein kleines Grundstück, auf dem er ein Haus bauen möchte, und erwirbt gleichzeitig am Ufer der Galaure als Garten jene wenigen Hektar Ackerland, die dann der Bauplatz seines Palais werden sollten. Im Jahr darauf wird nicht nur seine Tochter Alice geboren. Vor allem stolpert er an seinem 43. Geburtstag, am 19. April 1879, auf seinem Postgang über einen Stein, dem er als „Stein des Anstoßes“ die Rolle zuweist, den Entschluss zur Ausführung seiner Träume ausgelöst zu haben.4 Bei dem Stein handelt es sich um ein Stück Molasse, ein Sedimentgestein, auch Nagelfluh genannt, in dem Gesteinsbrocken durch ein Bindemittel wie Kalk, Sand oder Ton zusammengehalten werden und das feinkörnige Sandstein- und Mergeleinlagerungen aufweist. Die Faszination, die dessen merkwürdige Formen auf ihn ausübten, so dass er ihn einsteckte, um ihn zu Hause bewundern zu können, beschrieb Cheval in einem autobiographischen Bericht: „Seine Form ist so absonderlich, dass kein Mensch sie nachbilden könnte. Sie zeigt alle möglichen Arten von Tieren und Fratzen.“5 Und fährt fort: „Ich habe mir gesagt: da die Natur bildhauern möchte, werde ich mich dem Maurerhandwerk und der Baukunst verschreiben.“6 Es ist also zunächst die Bewunderung für die Steine und Fossilien mit ihren phantastischen Potenzen, die Cheval veranlassen, Architekt zu werden. Er möchte diesen Wundern der Natur eine Fassung geben, stellt sich in ihren Dienst. Den im selben Jahr gefällten Entschluss, ein Palais zu bauen, begründete er zugleich mit einem Jahre zurückliegenden Traum: „In einem 158
Der Palast des Landbriefträgers Ferdinand Cheval
Abb. 1: Mittelpartie zwischen zwei Turmgruppen Traum hatte ich mir einen Palast, ein Schloss oder Grotten gebaut – ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll, aber alles war so schön, so malerisch, dass ich mich noch nach zehn Jahren daran erinnern konnte und es niemals vergessen habe.“7 Seinen Arbeitsweg benutzte er seitdem, um bizarr geformte Steine, Muscheln, Kiesel, Fossilien etc. aufzusammeln und in seiner Posttasche nach Hause zu tragen. Als die eingesammelten Mengen immer mehr wurden, baute er sich ein Rückengestell aus Korb, auf dem er bis zu 40 kg Steine tragen konnte, schließlich benutzte er eine Schubkarre. Wenn die Steine zu groß waren, gruppierte er sie auf einem Haufen, zu dem er nach der Arbeit abends zurückkehrte, um sie zu holen, nachts und in seiner Freizeit baute er. 33 Jahre lang. Seine geliebte Tochter Alice stirbt 1895 mit fünfzehn Jahren, im selben Jahr bittet er um seine Versetzung in den Ruhestand. Mit Hilfe eines Maurers erbaut er am Rande seines Gartengrundstückes die nach seiner Tochter benannte Villa Alicius, worin er mit seiner Ehefrau einzieht. 1896 schließlich findet sein Monument im Bulletin de la Société d’Archéologie et de Statistique de la Drôme erstmals als sehenswerte Kuriosität Erwähnung. Obwohl der Postbote „niemals eine Ausbildung als Architekt erhalten habe“, heißt es dort, „lasse er ein sehr erstaunliches Werk zurück“.8 1902 zollt der Pariser Ministe159
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rialbeamte und Dichter Theodor Deckert dem Werk Chevals in Form eines Gedichtes Anerkennung.9 Émile Roux-Parassac – der „barde alpine“ – tituliert 1904 schließlich seine lyrische Hommage an Ferdinand Cheval mit „Ton idéal. Ton palais“, was Cheval übernimmt und was ihn zu der endgültigen Namensgebung des Monuments als „Palais idéal“ führt.10 1905 schließt Cheval die Westfassade mit Terrasse ab. Immer mehr Besucher stellen sich ein, denen Cheval gegen kleines Entgelt Führungen anbietet. Ein Gästebuch liegt aus und erste Berichte erscheinen nun auch in englischen und deutschen Zeitungen.11 1907 kommen pro Tag bereits bis zu 50 deutsche und englische Touristen vorbei. Die Familie stellt ein Dienstmädchen ein, das auch die regelmäßigen Führungen übernimmt. Nachdem Cheval 1912 die Fertigstellung seines Palais erklärt hat, übergibt er dessen Verwaltung einem befreundeten Buchdrucker, der die Geschäftsführung für die Familie übernimmt. Entstanden ist der Palais idéal also in 33 Jahren, zwischen 1879 und 1912, auf dem Cheval gehörenden Grundstück am Rande des Städtchen Hauterives im Norden der Drôme. Es handelt sich um ein auf rechteckigem Grundriss errichtetes steinernes Monument, das sich 26 m in die Länge, ca. 14 m in die Breite und bis zu 12 m in die Höhe erstreckt. Im Norden und Süden erheben sich zwei Turmgruppen, zwischen denen sich die niedriger angeordnete Mittelpartie des Baukörpers einfügt (Abb. 1). In seinem Innern befindet sich eine 20 m lange und 2 m hohe Galerie. 4 m über dem Boden und parallel zur Galerie befindet sich eine Terrasse von 23 m Länge und 4 m Breite, mit vier Treppenaufgängen. Von der Terrasse führen zwei weitere Treppen nach oben. Die im Norden gelegene erschließt den „Turm der Barbarei“, die im Süden einen Turm, der von einer kleinen Figur bekrönt wird, die „le Génie“ vorstellt, dessen hochgehaltene Fackel die Welt erleuchtet. Seine Materialien sind die von Cheval aufgesammelten Fundstücke aus der umgebenden Landschaft, die voller Ablagerungen eines urzeitlichen Meeres ist, die viele Fossilien aufweist, versteinerte Muscheln und Schnecken, aber auch Tuffstein und Flusskiesel. Zement und Kalk zur Herstellung von Mörtel sowie Drahtgitter für seine „Spannbetonkonstruktionen“ kaufte er zu.12 Cheval gibt an, etwa 3.500 Sack Zement verbaut und täglich 25-30 kg Steine herbeigetragen zu haben.13 Die lange Entstehungszeit ist dem Monument anzusehen, stilistische Brüche und unterschiedliche Bauteile sind augenscheinlich. Der von Jean-Pierre Jouve gezeichnete Plan der Ostfassade verdeutlicht die verschiedenen Bauetappen:14 So hat Cheval sein Werk mit der Anlage einer Kaskade und des zu160
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Abb. 2: Vorbau zum „Temple de la Nature“ („Monument égyptien“) gehörigen Bassins begonnen, das er als „La Source de Vie“ bezeichnete. Dem folgte die „Grotte de Saint-Amédée“, dann eine zweite Kaskade, „La Source de la Sagesse“. Zwischen 1882 und 1884 hob Cheval eine 3 m tiefe Grabkammer aus, „le tombeau égyptien“ genannt, in der sich zwei Steinsärge befinden, deren Deckel Cheval nach Art der Sarazenen gefertigt haben will. 15 Nach weiteren Fundamentierungen folgte die Errichtung des „Monument égyptien“, später auch „Temple de la Nature“ geheißen. Dessen Eingangsbereich ist ein portikusähnlicher Bau vorangestellt. Die vier den Architrav tragenden, bauchig schwellenden, balusterartigen Säulen sind über und über mit Kieselsteinen verziert (Abb. 2). Darüber befindet sich eine tympanonartige Rundbogenkonstruktion, die als die Grotte der Jungfrau Maria ausgebildet ist, auf der sich wiederum von zwei Engeln flankiert ein Kalvarienberg mit den drei Kreuzen von Christus und den Schächern findet. Links und rechts sind noch die vier Evangelisten dargestellt. Der Abschluss des mehrfach gestuften Gebälks ist der bereits erwähnte auf einer Urne sitzende Genius. Inschriften vervollständigen das Ensemble. 161
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Abb. 3: Eingang Südfassade
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In den neunziger Jahren arbeitete Cheval schließlich im Süden weiter, wo er einen „Temple hindou“ errichtete, der später zur Grotte der drei Giganten wird. Der Eingang wird bewacht von einem Bär, einer Boaschlange, Krokodil, Löwe und Elefant. An der Fassade finden sich die drei Riesen, die durch Inschriften als „César“, „Vercingétorix“ und „Archimède“ ausgewiesen sind und 1899 fertiggestellt waren (Abb. 3). In die Nischen zwischen ihnen sind zwei Mumien eingestellt. Durch Inschriften sind sie zugleich als „Inés“, Göttin der Freiheit, und als „Velléda“, „archi-druidesse“, also Erz- bzw. Oberdruidin, identifiziert. Darunter begann Cheval ein Druidengrab auszuheben, das er aber aus Mangel an geeigneten Steinen später aufgab. Links daneben führt ein Eingang zu den Labyrinthen im Innern und der Galerie. Der Haupteingang zu der Galerie liegt auf der Westseite im Norden. Überschrieben ist er mit „Galeries des Sculptures au Temps Primitif“. Ein mittlerer Zugang zu dieser trägt die Inschrift „Où le songe devient réalité“ – „wo der Traum Wirklichkeit wird“. Den Eingang im Süden überschrieb Cheval mit „Entrée d’un Palais imaginaire“. Im Innern der Galerie befinden sich Reliefs, die menschliche Wesen, verschiedene Tierarten – Bären, Vögel, Elefanten, Kamele, eine Straußenfamilie, Hähne – und Pflanzen zeigen. Die westliche Außenfassade wird geprägt durch eine Blendarkade (Abb. 4). Dreiviertelsäulen mit dorisch nachempfundenen Kapitellen sind dem eigentlichen Gebäudekern mit seinen tragenden Pfeilern vorgestellt. Die in den Bögen entstehenden Nischen sind mit Miniaturbauwerken bestückt – dem „Temple hindou“, dem „Chalet suisse“, der „Maison blanche“ und der „Maison carré d’Alger“ sowie dem „Château de Moyen Age“. Während über dem nördlichen Galerieeingang die Balustrade in verzierter Form weitergeführt wird, ist das Gebälk des südlichen Eingangs mit einer Spitzbogenarchitektur gekrönt, auf deren Spitze ein Halbmond zu sehen ist. Als orientalisch wird das Bauglied auch durch die Inschrift „Mosquée“ identifiziert. Die Nordfassade wird durch einen mit Tuffsteinen und Flusskieseln erbauten Treppenaufgang geprägt, der zu einem überdachten Altan führt (Abb. 5). Seine Säulen ähneln denen des ägyptischen Monuments auf der Ostfassade. Eine Inschrift, eine mit Rundbogen gefasste Öffnung, Türme, auch ein bekrönender Phönix setzen weitere Akzente. Die gesamte Fassade ist üppig verziert, teils mit schlangenkopfähnlichen Gebilden, teils mit krakenähnlichen Schmuckelementen. In den unteren Nischen befinden sich die „Grotte du péli-
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Abb. 4: Westfassade Abb. 5: Nordfassade
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can“, die „Grotte du cerf“, die „Grotte de la biche“ sowie die „Grotte aux pierres“. Zwischen den Dekorationselementen der Fassade tauchen weitere menschliche Gestalten oder Köpfe auf, darunter die von Eva und Adam, flankiert von Apfelbaum und Schlange. Die Südfassade schließlich weist zwischen paarweise angeordneten Pilastern einen wimpergartigen Giebel auf, unter dem sich ein mit Zement überzogener hohler Eichenstamm aufrichtet und sich dabei an das hinter ihm nach oben führende Treppengelände anlehnt. Rechts davon findet sich eine Art Grottengang, der „Musée antidiluvien“ – das vorsintflutliche Museum, eine Sammlung von Feuersteinen, behauenen und durch die Natur bizarr geformten Steinen sowie fossilen Fundstücken. Oberhalb der balustradenbegrenzten Terrassenebene erheben sich aus zwei verzierten Kübeln zwei riesige steinerne Aloepflanzen gen Himmel. Auf ihren Sockeln findet sich die Inschrift „La Reine des Grotte [sic]“ (Abb. 6). Als ein autobiographisches Projekt ist der Bau des Palais idéal in mehrfacher Hinsicht ausgezeichnet. Insbesondere die an dem Bau befindlichen Inschriften mit Daten, Namensnennungen und verschiedenen Devisen machen dies deutlich. So finden sich Inschriften wie „L’auteur homme du peuple“, „Le rêve d’un paysan“ oder „Un Génie bien faisant m’a tiré du néant“ sowie „D’un songe j’ai sorti la reine du Monde“.16 Die auf den sieben Säulenkapitellen ruhenden Quader der Westfassade sind mit den Buchstaben C, H, E, V, A, L bestückt, so dass sich daraus der Name des Landbriefträgers ergibt. Auch findet sich hier sein Geburtsjahr 1836, an anderer Stelle das Gründungsjahr des Bauwerkes 1879 sowie weitere Datierungen einzelner Bauabschnitte. Ebenso ist der Stolperstein des Gründungsmythos, der den Impuls auslöste, seinen Traum zu bauen, in das Bauwerk integriert (Abb. 7). Zwar ist er auf der oberen Terrasse durchaus auch als eben jene wunderliche Grille der Natur ausgestellt, der einen architektonischen Rahmen zu geben Chevals Vorhaben begründete. Mehr noch aber figuriert er hier als mythischer Kern von Chevals Werk, der deswegen einen besonderen Ehrenplatz erhält und somit in seiner selbstbezüglichen Funktion lesbar wird. Eine Selbstbezüglichkeit, die auch in einer Nische seitlich der „Grotte des geánts“ zum Ausdruck kommt, in der Cheval seinem Werkzeug, und insbesondere seiner Schubkarre als der treuen „Weggefährtin seiner Mühen“ ebenfalls einen Ehrenplatz einräumt.17 Immer wieder thematisiert der Briefträger in Inschriften und seinen autobiographischen Aufzeichnungen seine soziale Herkunft als Sohn eines Bauern, seinen geringen Bil-
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Abb 6: Südfassade dungsstand und seine Klassenzugehörigkeit zum Volk. Damit einher geht die Apologie schichtspezifischer Tugenden, die ebenfalls mittels Inschriften aufgerufen werden und die sich ganz wesentlich auf Ausdauer und Willenskraft beziehen. Der Palais idéal kann geradezu als Monument zur Verherrlichung eines Individuums verstanden werden, das seine Größe dadurch erlangt, dass es exemplarisch die Tugenden seines Standes der Bauern und Arbeiter verkörpert: die von Fleiß, Kraft, Anspruchslosigkeit und Disziplin. In einem autobiographischen Bericht von 1911 führt Cheval aus: „Ich bin ein Bauernsohn und der Sohn meiner Werke; aber ich bin Bauer geblieben und ich hege den tiefen Wunsch, aller Welt zu zeigen, was ein starker Wille und fortgesetztes Arbeiten vermögen.“18 Auf die Frage, wie ihm die Idee zu dem Palast kam, antwortete Cheval 1907 in einem Interview: „Alle meine Ideen kommen mir im Traum und wenn ich arbeite, sind meine Träume mir in meinem Geist präsent.“19 Diese Eigendeutung des Bauwerks lässt alles Dargestellte wie die manifesten Inhalte des Traums des Baumeisters erscheinen, also als Gestalt gewordene Symbole – ob verständlich oder unverständlich –, die nach dem Erwachen im Gedächtnis haften blieben. Ganz in diesem Sinne hat André Breton das Bauwerk für den Surrealismus reklamiert und Cheval als den „unbestrittenen Meis166
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Abb. 7: „Stein des Anstoßes“ ter der mediumistischen Architektur und Skulptur“ tituliert.20 Diese surrealistische Inanspruchnahme zielt auf die Elemente des Phantastischen, des Sexuellen und des Unterbewussten, die dem Palais idéal eingeschrieben sind. Im Anschluss an Breton hat insbesondere Peter Weiss in einem sprachmächtigen Essay auf die erotischen Implikationen von Chevals Formen hingewiesen, all jene vaginalen Grotten und Nischen, die Reihen von Brüsten, von phallischen Stalagmiten, Filialen und Minaretten.21 In diesem Licht wird der Palast zu einem monströsen Symbol orgiastischer Kopulation, die künstlerische Sublimation eines frustrierten männlichen Begehrens. Wie Roger Cardinal dargelegt hat, unterliegt eine solche Sicht jedoch der Gefahr einer freudianischen Engführung, die vielen anderen Aspekten des Baus nicht gerecht wird.22 Und er erinnert an Chevals eigene Idee, dass die Natur so etwas wie sein Kollaborateur sei und man das Werk als eine Art von Hymne auf die uferlose Fruchtbarkeit natürlicher Funktionen ansehen kann, die etwas Nicht-Zivilisiertes, Regressives, Ur-Anfängliches zelebriert. Der surrealistischen Eingemeindung widerspricht schon Chevals existenzielle Ernsthaftigkeit, die ihm keinen Zugang zu einem aus der souveränen Distanz der Reflexion abgeleiteten künstlerischen Verfahren ermöglichte. Vielmehr war er allein auf die Legitimation durch die Natur als formende Kraft 167
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angewiesen, die als natura naturans für das Werk des autodidaktischen Architekten Vorbildcharakter hatte. Seine eigene Person gehörte als menschliches Lebewesen dabei sowohl der natürlichen als auch der sozialen Umwelt an. Während sein Tun gesellschaftlich betrachtet nutzlos war, da es keinen rationalen Zwecken folgte und ihm aufgrund fehlender Ausbildung jegliche gesellschaftlich sanktionierte Lizenz zur Teilhabe an der Gestaltung der architektonischen oder bildhauerischen Umwelt abging, ermächtigte ihn der Blick auf die Natur, seine eigenen Phantasien und Traumgebilde, die wie von selbst in ihm aufstiegen, nicht einfach als solche abzutun und im Sinne der normalen Wahrnehmung als Spinnereien zu klassifizieren, sondern diese zuzulassen, als wertvoll zu erachten und in die Gestaltung eines konkreten Werkes zu überführen. In seinem autobiographischen Text reflektiert Cheval mit aller Klarheit darauf, dass es ihn selbst lange Jahre gekostet hat, die von der eigenen Person internalisierte Perspektive der Abwertung der eigenen, naturhaften Imagination zugunsten vernünftiger Gedanken und Werke zu überwinden: „Ich selbst hielt mich für verrückt, für von Sinnen. Ich war kein Maurer, ich hatte noch nie eine Kelle in der Hand; ebenso wenig war ich ein Bildhauer, ich wusste kaum, was ein Meißel war; von der Architektur ganz zu schweigen, ich habe sie nie studiert. Ich sprach zu keinem davon, aus Furcht mich lächerlich zu machen. Auch kam ich mir selbst lächerlich genug vor.“23 Der privaten Schicht des Bauwerks als einem Archiv der eigenen Symbolproduktion und der naturkundlichen Schicht als Archiv verschiedenster Naturgebilde treten jene Figuren zur Seite, deren Herkunft ganz anderer Art ist und die sich eher wie ein Musterkatalog oder eine Sammlung gewisser Versatzstücke lesen, die Cheval aus der ihm zugänglichen Kultur in gezielten Bildungsakten auswählte. In verschiedenen Beiträgen über den Palais ist nachgewiesen worden, dass es insbesondere populäre illustrierte Zeitschriften wie der Magasin pittoresque waren, die ihm als eine wichtige Quelle für seine Bildfindungen dienten.24 So geht der Genius auf dem Nordturm auf eine darin abgedruckte Vorlage zurück, aber auch die Druidenpriesterinnen, Vercingetorix oder Sokrates finden sich dort als Themen bzw. Motive. Genauso wie ihm eine Umzeichnung des Giebelfeldes des Pantheon in Paris mit seiner berühmten Dedikation „Aux Grands hommes – La patrie reconnaissante“ Anregung wurde, diese zu variieren.25 Die Inschrift an der Südfassade des Palais idéal lautet „Aux Grands hommes, l’Humanité Reconnaissante“,26 womit sie eine für die universalistische Ambition Chevals bezeichnende Ausdehnung auf die alle Zeiten und Kulturen umfassende Menschheit erfährt. Den aufklärerischen Kult 168
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der großen Männer, der sich im 19. Jahrhundert zu einer regelrechten „Statuomanie“ ausweitete, integrierte er so ebenfalls in seinen Bau.27 Seine Helden sind im wortwörtlichen Sinne zu Riesen geworden und erstrecken sich nun auf der Höhe der gesamten Fassade. Zugleich werden die drei dargestellten Großen – Caesar, Vercingetorix und Archimedes – als Wächter für „das Epos der Armen, die durch die Ackerfurchen gekrümmt sind“,28 eingesetzt, womit einmal mehr Cheval sein Bauwerk als ein Monument für den Stand der Bauern und einfachen Leute kennzeichnete, denen er sich selbst zurechnete. An anderer Stelle weist eine Inschrift dann auch dementsprechend das Bauwerk als das „Pantheon eines gemeinen Helden“ aus.29 Aber auch die Westfassade bietet so etwas wie eine Ausstellung des angeeigneten Wissens, wobei die mangelnde Akkuratheit in seiner Version exotischer Architekturstile beträchtlich ist. Offensichtlich entwickelte Cheval die Idee einer methodischen Darbietung wiedererkennbarer Gegenstände etwa in Form geologischer Exemplare und Reihen von Skulpturen, also die Idee eines Museums.30 Damit deckt der Palast Geologie, Botanik, Zoologie und Kultur ab und stellt so etwas wie eine naive Summe der Wunder der Welt dar. Eine Parade halbverdauter Informationen über die Welt, die nur deswegen nicht einfach ein Werk der Kultur – der pittoresken oder exotischen Kultur – ist, weil ihm doch eine rohe Fremdheit eigen ist. In der Erscheinung dieser Architektur überwiegt nicht das universale Museum naiv aufgenommener Fakten, sondern die imaginäre Rekonstruktion der Welt. Das Aufrufen aktueller Wissensbestände tritt hinter ein monströses System imaginierter Erinnerungen zurück. Dabei hat diese Architektur auf den ersten Blick keinerlei praktische Funktion. Unbewohnbar wie sie ist, stellt sie keine Seinshülle dar, jedenfalls ist sie keine Wohnung als Futteral des Menschen. Und trotzdem ist diese Architektur dann doch ein Gehäuse des Selbst, insofern Chevals Palast wohl als ein Mausoleum konzipiert worden ist oder zumindest im Laufe des Bauprozesses diese Bestimmung erhalten hat. Die Anlage der Grabkammer ist dafür Indiz.31 Vor allem aber haben wir von einem Streit Kenntnis, den der Bauherr mit dem Pfarrer von Hauterives nach Abschluss der Arbeiten an seinem Palais hatte. Dieser verweigerte sich einer Anfrage Chevals, der seine zweite Frau Philomène nach deren Tod 1914 in der für das Ehepaar vorbereiteten Grabkammer des Palais bestatten wollte.32 Damit waren auch die für seine eigene Beerdigung langgehegten Pläne über den Haufen geworfen. Cheval kaufte daraufhin umgehend ein Erbbegräbnis auf dem Friedhof von Hauterives und fing im Alter von 78 Jahren an, dort ein Mausoleum zu bauen, welchem er den Namen 169
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Le Tombeau du silence et du repos sans fin gab (Abb. 8).33 Seine Errichtung dauerte weitere acht Jahre. 1922, zwei Jahre vor seinem Tod, war er damit fertig. Dieser kleine Ersatzpalast erfüllte dann tatsächlich jene Aufgabe, die eigentlich dem Palais idéal zugedacht gewesen war, nämlich Aufnahmeort für den sterblichen Leib und die unsterbliche Seele seines Erbauers (und seiner Gattin) zu sein und damit auch Ort der immerwährenden memoria.
Abb. 8: Mausoleum Bei der Frage nach den ideengeschichtlichen Voraussetzungen eines solchen Werks und des in ihm verkörperten Selbstbewusstseins stößt man unweigerlich auf Jean-Jacques Rousseau, dessen Confessions von der Autobiographieforschung als die „letzte Stufe zur endgültigen Demokratisierung“ autobiographischen Schreibens bezeichnet werden.34 Analog dazu könnte man hier von einer Demokratisierung des autobiographischen Bauens reden. Und wie in der Ausweitung des autobiographischen Schreibens auf Angehörige der Unterschicht 170
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stößt man hier auf eine Ausweitung des autobiographischen Bauens auf Angehörige des Kleinbürgertums. Rousseau hatte in seinen Confessions geltend gemacht, dass es keines gesellschaftlichen Privilegs oder religiöser Rechtfertigung mehr bedürfe, um über sich selbst zu schreiben und die eigene, unverwechselbare Individualität anhand der inneren Geschichte eines Menschen aufzuzeichnen. Für diese brüchige und vielgestaltige Selbstdarstellung des Ichs beansprucht Rousseau universale Geltung,35 die ein Jahrhundert später auch Cheval, sein Vetter im Geiste, anstrebt. Indem Cheval die Welt aus seinem Geiste entwirft, entwirft er sich zugleich manifest als deren Schöpfer mit. Die Formen entspringen der imaginären Kraft seines Ichs, von der sie zugleich ein beredtes Zeugnis ablegen. Das Rousseau’sche Paradigma, in der Überwindung aller Gattungsbeschränkungen und Schreibtraditionen die eigene Person und ihr Gefühl als alleinigen Maßstab des Schreibens zu setzen, ist hier im Bereich der Architektur auch für den Palais idéal in Anschlag zu bringen. Mit Rousseaus autobiographischem Werk ist die Stufe der Gattung Autobiographie erreicht, die sich allein dem Maßstab absoluter Aufrichtigkeit verdankt. Die Aufrichtigkeit eines Mannes sowie seine redliche Unbefangenheit und Kraft, sich zu zeigen, wie er ist, das sind Aussagen, die Cheval überall am Palais in Hauterives affichierte. Mit Rousseau berührt man aber zugleich einen anderen für Cheval bedeutsamen Kontext, der sowohl ideengeschichtlicher als auch architekturhistorischer Art ist. Die Rede ist von den englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts. Insbesondere der Landschaftsgarten von Ermenonville war von seinem Erbauer, dem Marquis de Girardin, im Geist der Rousseau’schen Lehre entworfen worden, in dem der Philosoph zudem höchstselbst in einer Einöde ein Gartenhaus zugewiesen bekam und wo er als Gast des Marquis die letzten Tage seines Lebens verbrachte. Nach seinem Tod 1778 wurde Rousseau in Ermenonville begraben. Sein Grab befand sich auf einer kleinen Insel, die mit Pappeln bepflanzt war, in deren Mitte der weiße Sarkophag mit der Inschrift „Ici repose l’homme de la Nature et de la Vérité“ aufgestellt war.36 Weitere bedeutende Elemente des Parks von Ermenonville waren die Arkadischen Gefilde mit der Hütte von Philemon und Baucis, vier Seen, eine Kaskade, eine Najadengrotte und ein Tempel der Philosophie. An einem Seeufer gelegen und eine Nachahmung des Sibyllentempels von Tivoli, wird der Tempel ästhetisch als Ruine, konzeptionell jedoch als unvollendet dargestellt. Sechs Säulen, die schon aufrecht stehen, sind inschriftlich berühmten Männern – Newton, Descartes, Voltaire, Penn, Montesquieu und Rousseau – gewidmet, die dem 171
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Freimaurer Girardin als Vorbild galten. Weitere, vor dem Tempel liegende nicht errichtete Säulen, noch ohne Namen, verlängerten das Projekt in die Zukunft. Nicht nur ist damit der Kult der Großen Männer im Garten aufgerufen, wie er auch von Chevals Gartenpalast betrieben wird, auch dessen charakteristisches Merkmal der Beschriftung der Architektur mit philosophischen Sinnsprüchen und moralisierenden Belehrungen findet sich in der Tradition des Landschaftsgarten wieder, von der Ermenonville nur ein Beispiel von vielen ist. Rousseau seinerseits hatte bereits 1761 in seinem Briefroman Julie ou la Nouvelle Héloise seine eigene „Gartenrevolution“ entwickelt, die zum einen darin bestand, den Garten mit der Seele und Denkweise der Person zu identifizieren, die ihn angelegt hat, und zum andern das Motiv des Gartens als Paradies zu deuten.37 Der Garten soll der Errichtung eines inneren Elysiums gleichkommen, das die innerseelische und zwischenmenschliche Harmonie vorwegnehmen soll. Zugleich ist der Landschaftsgarten mit seinen bedeutungsvollen Architekturen ein Ort des Vergänglichkeitskultes mit Trauerurnen, Gedenkvasen und Gräbern. Wenn der Pfarrer von Hauterives Cheval das Begräbnis in seinem Mausoleum verweigert, fällt er damit gleichsam hinter den bereits vor 1800 erreichten Stand zurück, der das „reale“ Grab im Garten, außerhalb der kirchlich geweihten Friedhofserde, als eine Folge der subjektiven Verobjektivierung des Religiösen als Natur möglich gemacht hatte.38 Das Gartenparadies integriert damit aber zugleich Vergänglichkeit und Tod in eine Naturauffassung, die die Natur als Ganzes betrachtet, in dem die einzelnen Zeiten, menschlichen Schicksale und Orte verschmelzen, so wie die Gebäude verschiedener Stile und Epochen harmonisch zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Und nicht zuletzt wiederum mit Rousseau ist ein weiteres Motiv verbunden, das sich mit der Ich-Architektur des Postboten Cheval verbindet: das der Rêverie. Auf seinen langen Botengängen durch unwegsames Gelände hatte Cheval nach eigenem Bekunden sich exzessiven Tagträumen, eben Rêverien als exklusivem Zustand der Selbsteinkehr im Rousseau’schen Sinne hingegeben. Auch Cheval war wie Rousseau ein geübter Promeneur Solitaire, und die Errichtung seiner Palastanlage ist auf eine solche träumende Selbsteinkehr zurückzuführen und stellt letztlich nichts anderes als eine gebaute Rêverie dar. Passivität, Entspannung und Genuss, die der Rêverie eigen sind, lassen die Gedanken sich frei und ungezügelt bewegen und sie aus dieser Richtungslosigkeit ihr schöpferisches Potenzial beziehen. Der Genuss dieses Zustandes ist der von Selbstliebe und Weltflucht auf der einen Seite und von Selbstverges172
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senheit auf der anderen, die in einer Verschmelzung mit der Welt mündet. Ausgerichtet sind beide Bewegungen aber auf die Selbsterkenntnis als höchstes Ziel des philosophischen Lebens und auf die Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge.39
Abb. 9: Ferdinand Cheval vor seinem Palais Idéal Das war auch das Anliegen des autodidaktischen Philosophen oder soll man besser sagen Postillon-Philosophen Cheval, der mit seinen gebauten Traumbekenntnissen seine provinzielle kleinbürgerliche Existenz transzendierte und mit der Aktivierung seines natürlichen Potenzials an Körperkraft, Willensleistung und Imagination zum Baumeister und Schöpfer wurde. Den Wunsch, die eigene Existenz mit der ihr zugehörigen Universalität auszustatten, realisierte er in Form einer einsamen Obsession, der er sein ganzes Leben unterordnete. Cheval wollte seine Existenz in ihrer philosophischen Wahrheit erweisen. Als Architekt parallel zur Natur Schöpfer zu sein, bedeutet, der Natur – die jeder Mensch als solche in sich trägt – Genüge zu tun und zugleich die Natur als Kollaborateur in der Ausfaltung der eigenen postbotenhaften, hauteriverischen Möglichkeiten zu nutzen. Dabei ist die Entfaltung der eigenen Originalität im architektonischen Ich eine, die ihre latenten Trauminhalte in Form einer anarchischen libidinösen Schicht nur ausbreiten kann, wenn sie sicherstellt, dass 173
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diese Selbsterkundung letztlich der Instanz der Polizei des Herzens in die Hände spielt, wie dies für die Gattung autobiographischer Texte Manfred Schneider eindrucksvoll untersucht hat.40 Entsprechend findet Chevals Entäußerung des eigenen Selbst als Unterwerfung unter die Autorität des eigenen Über-Ichs und der des Staates, des Glaubens und der ländlichen Gesellschaft statt. Sich selbst und seinen Nachbarn versichert der Postbote im architektonischen Medium des Selbstbekenntnisses mit moralischen Botschaften, die eine Apologie seiner Bäurischkeit und ihrer Tugenden wie Fleiß, Bedürfnislosigkeit, Kraft, Ausdauer und Willensstärke darstellen und die durchaus auch als Sturheit zu übersetzen sind, seine Gehorsamkeit. Mit autoritär verkniffenem Mund posiert der alte Cheval auf den überlieferten Photographien auch dann noch am liebsten in der Uniform des Amtsträgers vor seinem Monument, als er längst den Postdienst verlassen hatte (Abb. 9). Und die einzigartige anarchische Tat seines Bauwerks versichert, dass auf Erden und im Himmel alles so eingerichtet bleibt, wie es immer schon war: „Dieu et la Loi“, heißt es am ägyptischen Tempel in Hauterives, und mit „Dieu, Patrie, Travail“ endet der autobiographische Bericht Chevals.
Anmerkungen 1
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Die Inschrift befindet sich auf der Nordfassade. Vgl. das Inventar aller Inschriften in JOUVE u.a., 1994, S. 283-289, hier S. 285. Entsprechend lautet in dem Brief, den Cheval im Herbst 1897 an den Archivar des Departements, André Lacroix, richtete, um ihm Auskünfte über die Arbeit an dem Monument zu geben, der letzte Satz: „Le tout a été construit par la main d’un seul homme.“ Der Brief ist erstmals abgedruckt in PRÉVOST u.a., 1980, S. 23. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen wird dieses Staunen von Cheval rhetorisch instrumentiert. So heißt es in dem Brief, den Cheval am 15. März 1905 dem Pariser Journalisten E. Lepage zukommen ließ und der die Grundlage für einen Artikel über ihn wurde, den die Pariser Tageszeitung Le Matin am 16. August 1905 veröffentlichte: „Les visiteurs qui viennent un peu de tous pays et dont le nombre va en augmentant chaque année, ont peine à croire ce que leurs yeux voient, il leur faut le témoignage des habitants du pays pour croire qu’un seul homme ait pu avoir le courage et la volonté pour conduire un tel chef-d’œuvre ils s’en vont tous
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émerveillé en disant, c’est incroyable, c’est impossible, c’est merveilleux.“ CHEVAL, 1905a, S. 298. In einer zweiten Fassung dieses autobiographischen Berichts Chevals, den die Zeitschrift La Vie illustrée am 10. November 1905 veröffentlichte, heißt es ganz ähnlich: „Aujourd’hui que le monument est debout, je suis heureux d’entendre les cris d’étonnement des visiteurs, de plus en plus nombreux, les éloges des enthousiastes et les critiques des connaisseurs: c’est la récompense après le travail.“ Vgl. CHEVAL, 1905b, S. 296. In einem Heft, dem sog. Cahier n° 3, in dem Cheval im Dezember 1911 die endgültige Version seiner „Histoire du Palais Idéal édifié à Hauterives – Drôme“ niederschrieb, führt er aus: „Lorsqu’on est en présence de cet immense travail […] on ne peut s’imaginer qu’un seul homme fit tout cela sans le secours de personne.“ CHEVAL, 1911, S. 291. Eine deutsche Übersetzung der entsprechenden Quellen findet sich auszugsweise bei JAKOVSKY, 1963, S. 23-40. Die monographische Literatur zu Cheval und seinem Palais idéal ist relativ umfangreich, aber oft unkritisch und von lyrischer Emphase durchsetzt. Zusätzlich zu der bereits genannten, grundlegenden Monographie von Jean-Pierre Jouve, Claude Prévost und Clovis Prévost (JOUVE u.a., 1994), die in der ersten Auflage 1981 in Paris erschien, seien in chronologischer Reihenfolge genannt: JEAN, 1937 (als Neuauflage 1952); EHRMANN, 1962; BORNE, 1969 (als Neuauflage 1993); VERILLON, 1970; FRIEDMAN, 1977; BONCOMPAIN, 1988; FENOLI, 1990; CHAZAUD, 1991 und 1998; GÜNZEL, 1998; RASLE (Hg.), 2007; MARCHAND, 2008; DIDIER, 2010; DENIZEAU, 2011. Als „pierre d’achoppement“ bezeichnet Cheval den Stein erstmals in dem Bericht vom November 1905. Vgl. CHEVAL, 1905b, S. 296. CHEVAL, 1905a, S. 298: „[…] elle [la pierre] représente une sculpture aussi bizarre qu’il est impossible à l’homme de l’imiter, elle représente toute espèce d’animaux, toute espèce de caricatures.“ Ebd.: „Je me suis dit puisque la nature veut faire la sculpture, moi je ferai la maçonnerie et l’architecture.“ Ebd.: „J’avais bâti dans un rêve un palais, un château ou des Grottes, je ne peux pas bien vous l’exprimer; mais c’était si joli, si pittoresque que 10 ans après il avait resté dans ma mémoire, que je n’avais jamais pu me l’arracher.“ LACROIX, 1896, S. 156: „[…] n’ayant jamais reçu de leçon d’architecture [il] laissera après lui une œuvre fort curieuse.“ 175
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9 Vgl. die Faksimilereproduktion bei JOUVE u.a., 1994, S. 274. 10 Während Cheval seinen Bericht für La Vie illustrée im November 1905 noch als „auteur du Palais imaginaire d’Hauterives“ unterzeichnet, wird das Bauwerk im Titel des entsprechenden Artikels bereits als „Palais Idéal“ bezeichnet. Vgl. CHEVAL, 1905b. In der Version des autobiographischen Berichts von 1911 nimmt Cheval die Gedichte von Deckert, Roux und anderen auf. Den Titel des Gedichtes von Roux verkürzt er um den Bestandteil „Ton idéal“. Und er fügt ein eigenes Gedicht bei, dessen letzte Verse lauten: „Je fis ce Palais sans égal/Décoré par l’Europe entière/Du nom de Palais idéal“. Vgl. CHEVAL, 1911, S. 294. 11 Daily Telegraph, 17. August 1905; „Built by a postman. The Palais Idéal of Hauterives“, in: The Daily Graphic, Nr. 4973, 23. November 1905; Geo. A. Best, „A Postman’s Palace“, in: The Strand Magazine, Nr. 184, April 1906, S. 473-475; Die Woche, Jg. 10, Juni 1908, S. 44. 12 Laut JAKOVSKY, 1963, S. 25 erfand Cheval „sozusagen ein Verfahren, das den Eisenbeton vorwegnimmt, denn er goss sein Gemisch aus Kalk und Zement auf Eisenarmierungen“. 13 Vgl. CHEVAL, 1905a, S. 299 und CHEVAL, 1905b, S. 296. 14 Vgl. PRÉVOST u.a. (Hg.), 1980, S. 6f. bzw. JOUVE u.a., 1994, S. 62f. 15 Vgl. CHEVAL, 1905a, S. 299. 16 Zit. nach JOUVE u.a., 1994, S. 283-289. 17 Ebd., S. 284: „Je suis la fidèle compagne/Du travailleur intelligent/qui chaque jour dans sa campagne/cherchait son petit contingent“; „Ma compagne de peine“. 18 CHEVAL, 1911, S. 291: „Fils de paysan et fils de mes œuvres je suis resté paysan avec le ferme désir de mettre en évidence le pouvoir d’une volonté énergique et d’un travail soutenu.“ 19 Vgl. ANONYMUS, 1907, S. 800: „Toutes mes idées me viennent en rêve, et, quand je travaille, j’ai toujours mes rêves présents à l’esprit.“ 20 Breton besuchte 1931 in Begleitung von Valentine Hugo den Palais und feierte dessen Baumeister anschließend in seinem Poem Facteur Cheval, das 1932 in Le Revolver à cheveux blancs erschien. Vgl. BRETON, 1932. Ende 1933 apostrophiert Breton in dem Text Le Message automatique Cheval als „le maître incontesté de l’architecture et de la sculpture médianimiques“. Vgl. BRETON, 1933.
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21 Vgl. WEISS, 1968. Siehe auch THOMSEN, 1996, S. 63 sowie BORNE, 1993, S. 85: „[…] l’impression demeure que peu de détails dans l’ensemble sont sans signification du point de vue sexuel […].“ 22 CARDINAL, 1972, S. 152. 23 CHEVAL, 1905a, S. 298: „Je me traitais aussi moi-même de fou, d’insensé; je n’étais pas maçon, je n’avais jamais touché une truelle; sculpteur je ne connaissais pas le ciseau; pour de l’architecture je n’en parle pas je ne l’ai jamais étudiée. Je ne le [le rêve] disais à personne par crainte d’être tourné en ridicule et je me trouvais aussi ridicule moi-même.“ Michel Thevoz nimmt an, dass Cheval allein deshalb nicht in einer psychiatrischen Anstalt interniert worden sei, weil er in dem abgelegenen Hauterives von jener relativen Toleranz profitieren konnte, „to be found in country districts, where solitude and space are not rationed and where, consequently, manifestations of originality are felt to be less disturbing and less contagious.“ THÉVOZ, 1974, S. 149. Dem korrespondiert Chevals retrospektive Beschreibung der sozialen Akzeptanz seines Tuns: „C’est alors que les langues se délièrent dans le pays et les environs, l’opinion fut vite faite: ‚C’est un pauvre fou qui remplit son jardin de pierres.‘ En effet on était bien porté à croire que cela résultait d’une imagination malade. L’on riait, l’on me blâmait, l’on me critiquait, mais comme ce genre d’aliénation n’était ni contagieux, ni dangereux on ne cru pas utile d’aller chercher quelques docteurs aliénistes et je pus alors me livrer à ma passion en toute liberté […].“ CHEVAL, 1911, S. 292. 24 Zu Chevals Aufgaben gehörte es, den Magasin Pittoresque an manchen Bewohner seiner Provinz auszutragen, offenbar bezog er ihn aber auch selbst. Als weitere Bildquellen Chevals werden in der Sekundärliteratur regelmäßig die „gravures de Gustave Doré“ und „ses lectures […] de l’Illustration et des albums des Expositions universelles“ angeführt. Vgl. dazu zuletzt RASLE, 2007, S. 9. 25 Vgl. die Abbildung der Umzeichnung bei FRIEDMANN, 1977, Abb. 63. 26 Vgl. JOUVE u.a., 1994, S. 283. 27 Vgl. GAEHTGENS/WEDEKIND (Hg.), 2009. 28 Der zweite Teil der Inschrift lautet: „Sous la garde des Trois Géants, j’ai placé l’Epopée des Humbles courbés sous le Sillon.“ Vgl. JOUVE u.a., 1994, S. 283.
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29 „Le Panthéon d’un héros obscur.“ Ebd., S. 287. 30 Auf der Ostfassade ist inschriftlich explizit von einem „Musée Anti Diluvien“ die Rede. Ebd., S. 283. 31 In seinem autobiographischen Bericht schreibt Cheval: „À droite où l’on voit 4 colonnes c’est un tombeau que j’ai creusé (moi-même) sous terre il y a un caveau à 3 mètres de profondeur avec 2 cercueils en pierre et leur couvercle une double porte en fer et en pierre à la manière des Sarrazins. […] Mon tombeau mesure 10 mètres 50 de hauteur 5 mètres de longueur et 4 de largeur.“ CHEVAL, 1911, S. 293. 32 Vgl. FRIEDMANN ,1977, S. 51. 33 Vgl. BOURG, 1990. 34 HOLDENRIED, 2000, S. 153. 35 Ebd., S. 149. 36 Zu Rousseaus Grab in Ermenonville vgl. BUTTLAR, 1989, S. 118f. sowie zuletzt HOIMANN, 2009. 37 Vgl. TABARASI, 2007, S. 225. 38 Vgl. HERZOG, 1989, S. 81ff. sowie BUTTLAR, 1995. 39 Zur Rêverie als ästhetischem Modus der Erkenntnis vgl. THOMAS, 2012, S. 369ff. 40 Vgl. SCHNEIDER, 1986.
L it e r a t u r ANONYMUS, Excentriques confrères de nos artistes: Architecture de facteur rural – Autant en emporte le vent, in: Lectures pour tous 9 (1907), S. 797800. BONCOMPAIN, CLAUDE, Le Facteur Cheval, piéton de Hauterives, Valence 1988. BORNE, ALAIN, Le facteur Cheval, Forcalquier 1969 (als Neuauflage Aubenas 1993). BOURG, LIONEL, Tombeau de Joseph-Ferdinand Cheval, facteur à Hauterives, Montpellier 1990. BRETON, ANDRÉ, Facteur Cheval, in: Le Revolver à cheveux blancs (1932), Œuvres complètes, hg. von MARGUERITE BONNET, Bd. 2, Paris 1992, S. 47-100, hier S. 89f. [= Breton 1932].
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DERS., Le Message automatique, in: Point du Jour (1933), Œuvres complètes, hg. von MARGUERITE BONNET, Bd. 2, Paris 1992, S. 263-392, hier S. 383 [= Breton 1933]. BUTTLAR, ADRIAN VON, Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989. DERS., Das Grab im Garten. Zur naturreligiösen Deutung eines arkadischen Gartenmotivs, in: ‚Landschaft‘ und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, hg. von HEINKE WUNDERLICH, Heidelberg 1995, S. 79-119. CARDINAL, ROGER, Outsider Art, London 1972. CHAZAUD, PIERRE, Du facteur Cheval à l’art moderne, Valence 1991. DERS., Le Facteur Cheval. Un rêve de pierre, Veurey 1998. CHEVAL, FERDINAND: Brief an E. Lepage, 15. März 1905, in: JOUVE u.a., 1994, S. 298f. [= CHEVAL 1905a]. DERS., Le Palais Idéal d’Hauterives et son architecte (La Vie illustrée, Nr. 369, 10. November 1905, S. 70f.), in: JOUVE u.a., 1994, S. 296f. [= CHEVAL 1905b]. DERS., Histoire du Palais Idéal édifié à Hauterives – Drôme, in: JOUVE u.a., 1994, S. 291 [= CHEVAL 1911]. DENIZEAU, GÉRARD, Palais Idéal du Facteur Cheval. Le Palais Idéal – Le Tombeau – Les Écrits, Paris 2011. DIDIER, CLAUDE, Lecture ésotérique et symbolique du Palais idéal du facteur Cheval, Crest 2010. EHRMANN, GILLES, Le facteur Ferdinand Cheval à Hauterives, in: DERS., Les Inspirés et leurs demeures, Paris 1962, S. LV-LXII. FENOLI, MARC, Le Palais du facteur Cheval, Grenoble 1990. FRIEDMAN, MICHEL, Les secrets du Facteur Cheval, Paris 1977. GAEHTGENS, THOMAS W./WEDEKIND, GREGOR (Hg.), Le culte des Grands hommes 1750-1850, Paris 2009. GÜNZEL, PETRA, Ferdinand Cheval und sein Palais Idéal. Ein Grenzgänger und seine Vision, 2 Bde., Magisterarbeit, Universität Gesamthochschule Kassel 1998. HERZOG, GÜNTER, Hubert Robert und das Bild im Garten, Worms 1989. HOIMANN, SIBYLLE, Le culte des grands hommes dans les jardins paysagers. Le tombeau de Jean-Jacques Rousseau sur l’île des Peupliers à Ermenonville, in: GAEHTGENS/WEDEKIND (Hg.), 2009, S. 173-193. HOLDENRIED, MICHAELA, Autobiographie, Stuttgart 2000.
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JAKOVSKY, ANATOLE, Dämonen und Wunder. Eine Darstellung der naiven Plastik, Köln 1963. JEAN, ANDRÉ, Le Palais idéal du facteur Cheval à Hauterives, Balence 1937 [und Grenoble 1952]. JOUVE, JEAN-PIERRE u.a., Le Palais Idéal du Facteur Cheval. Quand le songe devient réalité, 2. Aufl., Hédouville 1994. LACROIX, ANDRÉ, Le Tramway de la Galaure: Hauterives (Station XII), in: Bulletin de la Société d’Archéologie et de Statistique de la Drôme 30 (1896), S. 153-162. MARCHAND, VALÈRE-MARIE, Le Sable des chemins. Sur le pas du facteur Cheval, Paris 2008. PRÉVOST, CLOVIS u.a. (Hg.), Le Facteur Cheval. Images pour un Palais imaginaire, Ausstellungskatalog Paris, Fondation Nationale des Arts Graphiques et Plastiques, Paris 1980. RASLE, JOSETTE (Hg.), Avec le Facteur Cheval, Ausstellungskatalog Paris, Musée de la Poste, Paris 2007. DIES., Avec le Facteur Cheval. Un rêve c’est sérieux, un rêve c’est précieux, in: DIES. (Hg.), 2007, S. 9-24. SCHNEIDER, MANFRED, Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986. TABARASI, ANA-STANCA, Der Landschaftsgarten als Lebensmodell, Würzburg 2007. THÉVOZ, MICHEL, L’Art brut, Genf 1974. THOMAS, KERSTIN, Corot und die Ästhetik der Rêverie, in: Camille Corot. Natur und Traum, hg. von DORIT SCHÄFER/MARGRET STUFFMANN, Ausstellungskatalog Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, Heidelberg 2012, S. 363373. THOMSEN, CHRISTIAN W., Bauen für die Sinne. Gefühl, Erotik und Sexualität in der Architektur, München/New York 1996. VERILLON, MAURICE, Le Palais idéal du Facteur Cheval, in: Gazette des Beaux-Arts 76 (1970), S. 159-184. WEISS, PETER: Der große Traum des Briefträgers Cheval, in: DERS., Rapporte, Frankfurt a. M. 1968, S. 36-50.
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Das Buch zum Haus Publizierte Architektendomizile der Moderne JÖRG STABENOW Das prominenteste Medium autobiographischer Reflexion ist das Buch. Wenn wir Häuser als ‚gebaute Autobiographien‘ betrachten, dann setzen wir sie gewissermaßen zu Büchern in Beziehung. Nun gibt es aber auch Häuser, die tatsächlich ein Äquivalent in Buchform gefunden haben, das heißt Bauten, die von ihren Urhebern in eigenständigen Publikationen dargestellt wurden. Das gedruckte Werk wird in solchen Fällen zum Komplement des real existierenden Bauwerks; neben dem materiellen Baugebilde steht seine mediale Reproduktion im Buch.1 Das Tagungsthema soll im Folgenden den Anlass geben, über die Bücher nachzudenken, die Architekten im 20. Jahrhundert ihren selbstgebauten und selbstbewohnten Häusern gewidmet haben. Dabei richtet sich das Interesse einerseits auf das Wie der medialen Vermittlung und andererseits auf die Darstellungsabsichten, die darin zum Ausdruck kommen – einschließlich der Frage nach den ‚autobiographischen‘ Konnotationen dieser Bücher.2
V o m Z e its c h r ifte n b e itr a g z u r M o n o g r a p h ie Dass Architekten ihre eigenen Häuser veröffentlichen, ist schon um 1900 keine erklärungsbedürftige Ausnahme, sondern allgemeine Regel. Zumindest von den erfolgreichen Architekten wird es erwartet, dass sie ihr Haus erstens selbst entwerfen und es zweitens auch publizieren. Auffällig und erklärungsbedürftig ist es eher, wenn sie darauf verzichten, wie z.B. Ludwig Mies van der Rohe, der es trotz verschiedener Anläufe nie zu einem selbstgebauten Domizil ge181
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bracht hat, oder Theodor Fischer, der gerade seine eigenen Häuser nicht publizierte.3 Hinsichtlich der Publikationsform nehmen diejenigen Architekten, die ohnehin ihre Bauten und Entwürfe gesammelt herausgaben und dabei konsequenterweise auch ihre eigenen Häuser berücksichtigten, eine Sonderstellung ein. Zu ihnen zählt etwa Otto Wagner, der Altmeister der Wiener Moderne, der eine ganze Serie selbstentworfener Häuser und Wohnungen realisierte und sie in den vier Bänden seiner Publikation Einige Scizzen, Projecte und ausgeführte Bauwerke sukzessive dokumentierte.4 Nach demselben Prinzip verfuhr Le Corbusier, der im zweiten Band seiner Gesamtausgabe Œuvre complète eben auch seine Wohnung in der Rue Nungesser-et-Coli 24 mit einschloss.5 Allerdings bringt es diese besonders ambitionierte Publikationsform mit sich, dass das Architektendomizil in der Gesamtheit der Entwürfe aufgeht und dabei sein spezifisches Profil zumindest teilweise verliert. Die allgemein übliche Form, das eigene Domizil einem größeren Publikum bekannt zu machen, ist die Zeitschriftenpublikation. Dafür standen nicht nur reine Architekturzeitschriften zur Verfügung wie die ab 1867 erscheinende Deutsche Bauzeitung, sondern außerdem eine Gattung von Periodika, die verstärkt die Inneneinrichtung zum Thema machten und sich damit an einen breiteren Leserkreis wandten, so etwa die 1897 gegründete Deutsche Kunst und Dekoration. In diesem Blatt veröffentlichte Hermann Muthesius, einer der führenden Architekturreformer der Jahrhundertwende, 1909 sein seit kurzem fertiggestelltes Wohnhaus unter dem Titel Mein Haus in Nikolassee.6 Der Beitrag umfasst 21 Seiten und enthält einen Lageplan, Grundrisse und zahlreiche halbseitige Photographien, die das Haus in seinem Garten und mit seiner ebenfalls von Muthesius entworfenen Innenausstattung ausführlich vorstellen. Es ist eine opulente Präsentation, die sich aber in ihrem Duktus nicht grundsätzlich von den Veröffentlichungen anderer zeitgenössischer Architektenhäuser unterscheidet. Ein spezifischer Akzent liegt allerdings im besitzanzeigenden Fürwort des Titels. Der Autor spricht hier in der ersten Person; die Identifikation mit dem Haus wird dadurch betont.7 Man kann darin sehr wohl eine autobiographische Zuspitzung erkennen, allerdings nicht in dem Sinne, dass Muthesius sein Haus als ein maßgeschneidertes Unikat verstünde. Der Berliner Architekt baut sich kein ‚Haus wie Ich‘, sondern er möchte seinem Leser zurufen: ‚Baue auch Du Dir ein Haus wie ich‘. Das Haus des Architekten dient der Exemplifizierung von Methoden und Prinzipien, die Muthesius generell zur Nachahmung empfiehlt. Und die Tatsache, dass er selbst hier wohnt, verleiht seiner Empfehlung größere Eindringlichkeit und Plausibilität. 182
Das Buch zum Haus
Gegenüber der Veröffentlichung in einer Zeitschrift stellt die Publikation in Buchform eine entschieden anspruchsvollere und dementsprechend auch seltenere Lösung dar. Im Kontext einer Architekturzeitschrift erscheint das Architektenhaus gleichberechtigt mit Beiträgen und Projekten anderer Autoren und Entwerfer, es ist also eingebunden in einen heterogenen Diskurs, der die unterschiedlichsten Themen aufgreift. Im eigenen Buch gewinnt dagegen die Darstellung des Hauses thematische Autonomie. Dadurch verändert sich der Gestus der Präsentation. Was in einer Zeitschrift beiläufig mitgeteilt werden kann, wird im Buch zum Gegenstand einer bedeutungsschweren Erklärung.
E r s c h e in u n g s fo r m e n d e s A u to b io g r a p h is c h e n Es überrascht deshalb nicht, dass es insgesamt nur relativ wenige Architekten waren, die ihren Häusern selbständige Druckpublikationen gewidmet haben. Ich kenne für das 20. Jahrhundert gerade einmal zehn solcher Bücher, wobei sich weitere Beispiele vermutlich finden ließen.8 Aus dieser kleinen und durchaus heterogenen Gruppe von Architektenhaus-Monographien sollen hier zunächst die beiden ersten und die letzte kurz vorgestellt werden, bevor eine Kerngruppe von drei um 1930 publizierten Büchern näher in den Blick gefasst wird. Das erste Architektenhaus-Buch des neuen Jahrhunderts stammt von dem heute weitgehend vergessenen Münchner Architekten Emanuel von Seidl – einem Bruder des bekannteren Gabriel –, der vor allem Villen und Landhäuser für die bayerischen Eliten entwarf. Den großzügigen Landsitz, den er 1902 in Murnau auf eigene Rechnung realisierte, veröffentlichte er 1910 unter dem Titel Mein Landhaus.9 Ähnlich wie Muthesius spricht also auch Seidl in der ersten Person. Sein Buch ist im Wesentlichen ein Bildband. Gleich die zweite Abbildung ist eine Porträtphotographie des Hausherrn, und Tafel 35 zeigt Seidl lesend am Kamin seines Wohnzimmers (Abb. 1). Ein kurzer, persönlich gefärbter Text beschließt die Bildfolge. Der autobiographische Zug, der sich im Titel ankündigt, charakterisiert somit hier – anders als bei Muthesius – die gesamte Präsentation des Hauses. Seidl verbindet seine Person mit dem Landhaus zu einer ‚Marke‘, die einen Wohn- und Lebensstil verkörpert. Als Adressaten hat er dabei wahrscheinlich den Kreis seiner tatsächlichen und potenziellen Bauherren im Auge, die zur Teilhabe an dieser Wohnform ermuntert werden sollen.
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Abb. 1: Seidl, 1910, Tf. 35
Abb. 2: Seidl, 1919, S. 105
Nach seiner Heirat mit Maria Luberich im Jahr 1916 baute Seidl sein Anwesen aus und dokumentierte den neuen Zustand in einer zweiten Publikation, die 1919 erschien und auch sein Stadthaus berücksichtigte.10 Wiederum eröffnet er die Folge der Abbildungen durch eine Porträtaufnahme. Im Inneren des Landhauses tritt Seidl diesmal nicht selbst in Erscheinung. Dafür zeigen Innenansichten des ‚Damen-Schlafzimmers‘ und des ‚Damen-Zimmers‘ die Frau des Architekten (Abb. 2).11 Ihr Wirkungsbereich bleibt allerdings auf ihre eigenen Räume und den Wirtschaftstrakt beschränkt – das Haus als Ganzes repräsentiert weiterhin den Hausherrn Seidl.12 Betrachtet man die zwei Bücher des Architekten als Einheit, dann fügen sie sich zu einer narrativen Sequenz, die auch eine zeitliche Dimension mit einschließt. Noch deutlicher sind die autobiographischen Züge beim letzten Architektenhaus-Buch des 20. Jahrhunderts, den Aphorismen zum Häuserbauen, die 1999 der Kölner Architekt Oswald Mathias Ungers veröffentlicht hat.13 Es handelt sich um ein schmales Bändchen mit nicht mehr als 70 Seiten, auf denen Ungers die drei Wohnhäuser, die er im Laufe von 35 Jahren für sich selbst gebaut hat, Revue passieren lässt.14 Photographien, Modellaufnahmen, Grundrisse und Entwurfsskizzen begleiten drei kurze Texte, die Ungers seinen Domizilen widmet. Dabei unternimmt er keine detaillierte Vorstellung der Häu-
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Das Buch zum Haus
Abb. 3: Ungers, 1999, S. 30f. ser, sondern schildert lediglich skizzenhaft ihre Bedeutung für seine Arbeit und die jeweils bestimmenden Entwurfsgedanken. Jedes der Häuser des Architekten steht für einen Moment oder eine Phase seines Lebens und seiner Berufsausübung (Abb. 3). Erst in der Zusammenschau fügen sich diese architektonischen Momentaufnahmen zu einer Erzählung, die das Ganze seiner Vita umspannt. Das Medium einer solchen Zusammenschau ist das Buch, in dem der Architekt und Hausherr seine Domizile zu einem selbst formulierten Lebensbericht vereinigt. Die Häuser werden hier tatsächlich zu Bausteinen oder Kapiteln einer Autobiographie.
Auftritt der Normalfamilie: Bruno Taut Im letzten Architektenhaus-Buch des 20. Jahrhunderts kommt es also zu einer scharfen Pointierung der autobiographischen Züge, aber das ist keineswegs ein typisches Phänomen. Den Kern des kleinen Bestands monographischer Druckwerke bildet eine Gruppe besonders gewichtiger Publikationen, in denen drei Hauptvertreter des Neuen Bauens zwischen 1927 und 1932 ihre Häuser bekannt machten. In diesen drei Büchern, auf die jetzt näher eingegangen wer185
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Abb. 4: Taut, 1927, S. 24f.
Abb. 5: Taut, 1927, S. 50f.
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Das Buch zum Haus
den soll, spielen ebenso wie in den darin dokumentierten Häusern autobiographische Aspekte allenfalls eine Nebenrolle. Im Vordergrund steht dagegen eine didaktische oder programmatische Absicht, jedenfalls der Wunsch, mit dem eigenen Wohnbau vorbildlich zu wirken. Der erste Architekt der Moderne, der seinem Haus ein eigenes Buch widmete, ist Bruno Taut.15 Das Haus Taut entstand 1925/26 und steht südlich von Berlin in dem kleinen Ort Dahlewitz. Es besitzt die überraschende Grundrissform eines Viertelkreises, wobei sich die Rundung der Straße zuwendet und die Spitze dem Garten (Abb. 4). In der ungewöhnlichen Planfigur klingen Erinnerungen an neoklassizistische und expressionistische Formvorstellungen nach. Das Raumprogramm umfasst auf zwei Etagen ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer und vier unterschiedlich große Schlafzimmer; ein Seitenflügel nimmt eine Reihe von Wirtschaftsräumen auf. Gemessen an zeitgenössischen bürgerlichen Standards handelt es sich um ein mittleres Anspruchsniveau: Das Haus besitzt eine Garage, jedoch keine feste Unterbringung für Hausangestellte. Unter den progressiven Architekten seiner Zeit war Bruno Taut der Spezialist für den Massenwohnbau. Bereits 1924 hatte er zu diesem Arbeitsfeld ein Buch veröffentlicht, dem er den Titel gab Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin.16 An dieses Buch knüpfte er an mit der 1927 erschienenen Publikation seines eigenen Domizils unter dem Titel Ein Wohnhaus.17 Tauts Absicht ist erklärtermaßen eine exemplarische, jedoch nicht in der Weise, dass er für das Haus in seiner spezifischen Form Modellcharakter beansprucht. Vielmehr dient ihm die eigene Wohnpraxis als Fallbeispiel für eine Erörterung seiner Entwurfs- und Wohnkonzepte. Dabei geht er mit geradezu pedantischer Präzision vor. Alle Aspekte der Planung und alle Elemente des Gebäudes mit seiner Ausstattung werden Schritt für Schritt in dreizehn Kapiteln vorgestellt. Keine Entwurfslösung und keine technische Einzelheit bleiben unerklärt. Es gibt sogar ein Register, das es erlaubt, den Band als Handbuch zu benutzen. Den didaktischen Gebrauchswert der Publikation unterstützt die reiche Bildausstattung. Text, graphische Illustrationen und photographische Aufnahmen besitzen etwa gleiches Gewicht und sind eng miteinander verzahnt. Für die Wirksamkeit des visuellen Arrangements sorgt das Layout des Graphikers Johannes Molzahn, der mit kräftigen horizontalen und vertikalen Balken, einer plakativen Groteskschrift und einer kontrastreichen Gruppierung arbeitet. Die zahlreichen Grundrisse, Ansichten und isometrischen Darstellungen, die die Vorstellung des Hauses anschaulich machen, zeichnete der Architekt Paul 187
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Schmidt offensichtlich nach präzisen Vorgaben des Hausherrn. Für die eigens angefertigte Photostrecke engagierte Taut den versierten Architekturphotographen Arthur Köster.18 Die komplexe Seitenfolge des Buches begleitet den Leser bei einer Führung durch das Haus, die eigentlich eine Vor-Führung ist, bei der es auch und vor allem um Funktionsabläufe, also um den praktischen Vollzug des Wohnens geht. In zahlreichen Photographien des Bands lässt Taut Mitglieder seiner Familie auftreten, die die verschiedenen Aspekte der Nutzung demonstrieren. Ist das nun ebenfalls ein autobiographischer Akzent, vergleichbar etwa der Selbstdarstellung Seidls in den vier Wänden seines Landhauses? Es fällt auf, dass Taut selbst sich nicht photographieren lässt – oder allenfalls so schemenhaft, dass er nicht zweifelsfrei zu identifizieren ist. Und darin liegt vermutlich eine Absicht, die eine solche autobiographische Lesart gerade ausschließen möchte. Das Haus Taut wird eben nicht als ‚Mein Landhaus‘, sondern als ‚Ein Wohnhaus‘ eingeführt, das heißt nicht das Persönliche, sondern das Allgemeingültige soll akzentuiert werden. In diesem Sinne lässt der Hausherr seine Familie als mittelständische Normalfamilie auftreten. Die Präsenz von Frau und Kindern, Hausangestellten und Gästen soll verdeutlichen, dass das ungewöhnliche Haus tatsächlich dem Wohnen dient, und zwar dem Wohnen als bürgerlicher Normalfall. Zu dieser Normalität gehört auch die Akzeptanz traditioneller Geschlechterrollen. Der am gemeinsamen Esstisch zentral ins Bild gesetzten Hausfrau weist Taut die Hauptverantwortung für die familiäre Wohnwelt zu (Abb. 5).19
B e w o h n e r in B e w e g u n g : W a lte r G r o p iu s Im Verhältnis zu der Publikation Tauts kann man das Buch, in dem Walter Gropius sein Wohnhaus veröffentlicht, nur mit Einschränkung als Architektenhaus-Buch bezeichnen – so wie auch das Haus selbst nur mit Einschränkung als Architektenhaus zu verstehen ist. Gropius errichtete sein Haus 1925/26 in Verbindung mit dem Neubau der Dessauer Bauhausgebäude als Direktorenwohnhaus. 1930 – also zwei Jahre nach dem Ende seiner Arbeit am Bauhaus – gab er in der Reihe der ‚Bauhausbücher‘ den Band Bauhausbauten Dessau heraus, in dem er sämtliche in der Stadt unter seiner Leitung ausgeführten Bauten zusammenfasste: die Bauhausgebäude selbst, die kleine Wohnsiedlung aus Direktorenwohnhaus und Meisterhäusern, die Arbeitersiedlung 188
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Törten und das Arbeitsamt.20 Gropius hält hier also Rückschau über seine Arbeit in Dessau und ist zugleich bestrebt, das Bauhaus als Bauwerk und Institution mit seinem Namen zu verbinden. Das Wohnhaus wird in dem Buch als Teil einer größeren Bautengruppe und damit im Zusammenhang seines tatsächlichen Entstehungskontexts vorgeführt. Innerhalb dieses Rahmens erhält es jedoch besonderes Gewicht: Von den 220 Seiten des Buches sind immerhin 45 Seiten für das Direktorenwohnhaus reserviert, das in den Bildunterschriften ausdrücklich als ‚Einzelhaus Gropius‘ vorgestellt wird. Der Direktor präsentiert somit seine ehemalige Dienstwohnung als Architektenhaus (Abb. 6).21
Abb. 6: Gropius, 1930, S. 94f. Der flach gedeckte Bau besitzt ein Souterrain und zwei Wohngeschosse. Die drei Ebenen sind so gegeneinander versetzt, dass eine kubisch artikulierte Gesamtgestalt entsteht. Mit vorgelagerter Garage, integrierter Hausmeisterwohnung, einem Mädchenzimmer und Dachterrasse vertritt das Gebäude einen etwas höheren sozialen Standard als das Haus Taut. Das Wohnhaus des Bauhausdirektors stellt sich dar als bürgerliche Villa in avantgardistischen Bauformen. 189
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Die Vorstellung des Hauses im Buch legt den Schwerpunkt auf die photographische Wiedergabe. Die Texte beschränken sich auf eine knappe technische Einführung, ausführliche Bildunterschriften und locker eingestreute Wortbeiträge, die nach Art von Aphorismen einzelne Entwurfsaspekte beleuchten oder grundsätzliche Positionen des Autors reflektieren – zum Beispiel folgendermaßen: „die baugestalt ist nicht um ihrer selbst willen da, sie entspringt allein aus dem wesen des baus, aus seiner funktion, die er erfüllen soll“.22 Hier werden unumstößliche Wahrheiten verkündet; darin besteht ein deutlicher Unterschied zum diskursiven Stil des Autors Bruno Taut, der stärker auf Überzeugung des Lesers angelegt ist. Das Seitenlayout ist weniger anspruchsvoll, dafür einfacher und ruhiger als bei Taut. Die meisten Seiten nehmen nur eine Abbildung auf; die Mehrzahl der Abbildungen sind Querformate. Nicht weniger als sieben Aufnahmen zeigen das Gebäude in seiner kubischen Außenform, wobei Gropius neben Aufnahmen der Photographin Lucia Moholy auch Bilder seiner Frau Ise verwendet, obwohl dadurch gewisse Redundanzen entstehen. Der Hauptteil der Bildstrecke gilt jedoch dem Innenleben des Hauses. Einige Räume – Wohn- und Esszimmer, die Veranda sowie Küche, Bad und Waschküche – werden in Gesamtansichten gezeigt. Vor allem aber rücken zahlreiche Elemente der wandfesten und mobilen Ausstattung in den Blick: Doppelschreibtisch und Tee-Ecke im Wohnzimmer (Abb. 7), ein Nachttisch und der begehbare Wandschrank im Schlafzimmer. Verantwortlich für die Einrichtung des Hauses waren die Bauhauswerkstätten, und viele Einzelstücke entwarf der Leiter der Möbelwerkstatt Marcel Breuer. Die Führung durch das Direktorenhaus ist also auch eine Leistungsschau der Institution Bauhaus, deren Gestaltungskompetenz sich auf alle Wohn- und Lebensbereiche erstreckte. Dabei sollen die Ausstattungsstücke nicht als statische Objekte, sondern als Bestandteile einer lebendigen Nutzung wahrgenommen werden. Diesem Zweck dient ein weiteres Element der Buchgestaltung. Gropius hatte einen Film über sein Wohnhaus drehen lassen, aus dem er insgesamt dreizehn Bildsequenzen in das Buch übernahm. Die montierten Filmstreifen, die aus jeweils drei übereinandergestellten Aufnahmen bestehen, demonstrieren die praktische Handhabung der Geräte und beweglichen Installationen. Protagonisten des Films sind Ise Gropius, deren Schwester und eine Freundin.23 Die Bildsequenzen haben dieselbe Funktion wie der Auftritt der Familienmitglieder im Buch von Bruno Taut: Sie veranschaulichen den engen Zusammenhang zwischen Wohnarchitektur und Lebensvollzug – mit dem Unterschied, dass
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Gropius diesen Aspekt auf die Meta-Ebene der scheinbar bewegten Bilder verlegt. In autobiographischer Hinsicht lässt sich also der Hausherr Gropius von seiner Frau vertreten – zum einen durch die Einbeziehung ihrer photographischen Sicht auf das Haus, zum anderen durch ihre Mitwirkung an dem Film. Stärker als bei Bruno Taut erscheint in Gropius’ Filmstreifen die Rolle der Hausfrau als eine dienende. Ihre Handlungsmöglichkeiten erschöpfen sich weitgehend im Bedienen der technischen Vorrichtungen, die das Haus bereitstellt. Die dienende Präsenz der Frauen bringt die Autorität des abwesenden Hausherrn, der diese Vorrichtungen konzipiert hat, umso wirksamer zur Geltung.24
Abb. 7: Gropius, 1930, S. 104f. Autobiographische Bezüge ergeben sich zudem aus der Einordnung des Hauses in den Verband der Bauhausbauten. Das Haus Gropius wird dadurch gleichsam zum Repräsentanten des Gründungsdirektors unter den Bauten der Institution. Im Rückblick aus dem Jahr 1930, als längst ein Nachfolger in dem Haus Wohnsitz genommen hat, reklamiert Gropius eine historische Position als ‚Erfinder‘ der Schule und ihrer Corporate Identity.
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Die Thematisierung der eigenen Person bleibt gleichwohl ein Nebengedanke. Der zentrale Impuls der Publikation besteht darin, das Haus und seine Ausstattung als Instrumente einer zeitgemäßen Lebensgestaltung im Sinne der Bauhauslehre ins Bild zu setzen. Mit dem Buch von Bruno Taut teilt Gropius das Bestreben, Kunst und Zweckerfüllung als Einheit erscheinen zu lassen. In zweierlei Hinsicht unterscheidet er sich jedoch von Taut: zum einen durch die häufige Fokussierung aufwendig gestalteter Einzelobjekte, die katalogartig aus ihrem räumlichen Kontext isoliert werden, zum anderen durch die gezielte Ansprache eines Publikums, dessen Wohnbedürfnisse über ein mittelständisches Durchschnittsniveau hinausgehen. Der Aufruf zur Nachahmung, den Gropius mit der Publikation seines Hauses zumindest implizit formuliert, richtet sich an eine bürgerliche Elite.
In s z e n ie r te A b w e s e n h e it: E r ic h M e n d e ls o h n Ein noch einmal deutlich höheres soziales Anspruchsniveau ist in dem Haus verwirklicht, das der Berliner Architekt Erich Mendelsohn 1928-30 für sich errichtete, und dieser Anspruch spiegelt sich in der 1932 erschienenen monographischen Publikation des Hauses mit dem stolzen Titel Neues Haus – neue Welt (Abb. 8).25 Mendelsohns Wohnhaus steht im äußersten Berliner Westen unweit des Stößensees auf einem schmalen Grundstück, das zum Seeufer steil abfällt.26 Der quer gelagerte Riegel nimmt im Sockelgeschoss Wohnräume für zwei Dienstmädchen und Chauffeur sowie zahlreiche Wirtschafts- und Versorgungsräume auf, im Erdgeschoss eine Eingangshalle, ein großes Wohn- und Musikzimmer und ein Esszimmer, im Obergeschoss ein Studio, ein Gästezimmer sowie Räume für Mendelsohns Frau und Tochter. Der flach gedeckte, hell verputzte Baukörper wird durch kubische Vorbauten und bandartig disponierte Fenster rhythmisch akzentuiert (Abb. 9). Der ästhetischen Ökonomie der Formbildung korrespondiert der Reichtum der Ausstattung, der sich in der Wahl erlesener Materialien ebenso manifestiert wie im hohen technischen Komfort des Hauses. Die Verbindung von formaler Strenge und opulenter Ausstattung charakterisiert auch die Publikation des Hauses. Überraschend ist zunächst das annähernd quadratische Format, das die Bücher von Taut und Gropius nicht nur in der Höhe, sondern vor allem in der Breite übertrifft. Überaus großzügig ist die Distribution der Abbildungen, die – wie auch Grundrisse und Detailpläne – 192
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jeweils eine ganze Seite einnehmen. Dem Bildteil sind ein Essay des Malers Amédée Ozenfant und ein kürzerer Text des Reichskunstwarts Erwin Redslob vorangestellt. Der Architekt selbst ergreift lediglich in den ausführlichen Bildunterschriften das Wort, die den visuellen Befund kommentieren und ergänzen. Mendelsohns Photograph ist derselbe Arthur Köster, der bereits die Aufnahmen für Bruno Tauts Architektenhaus-Buch angefertigt hatte.27 Aber die für Mendelsohn aufgenommene Bildstrecke unterscheidet sich deutlich von den Photographien im Buch Tauts, und das liegt nicht nur am Format der Reproduktionen. Kösters Photos für Mendelsohn erscheinen komponierter, arrangierter und ikonischer, und man kann vermuten, dass sich darin auch die Regie des Architekten spiegelt.
Abb. 8: Mendelsohn, 1932, o.S. Das Buch verlässt sich demnach noch stärker als die Publikation der Bauhausbauten auf die Argumentation der Bilder. Es will zunächst einmal vor allem genussvoll durchblättert werden und ist darin am ehesten einer illustrierten Zeitschrift vergleichbar. Mendelsohn möchte den Leser nicht von einer archi193
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tektonischen Doktrin überzeugen, sondern ihn für ein ästhetisches Modell begeistern.
Abb. 9: Mendelsohn, 1932, o.S. Dazu nimmt er ihn mit auf einen Rundgang, der neben den vielfältigen InnenAußen-Bezügen vor allem die erlesene Einrichtung des Hauses in den Blick rückt. Den Großteil des Mobiliars hat der Architekt selbst entworfen, wobei die Vielfalt der Varianten eine individuelle Charakterisierung der Räume ermöglicht. Mit derselben Sorgfalt wurden Vasen, Geschirr, Textilien ausgewählt. Die Hauptakzente setzt Mendelsohn durch eigens angefertigte oder passgenau eingefügte Kunstwerke, darunter ein Bild Lyonel Feiningers, ein großformatiges Relief von Ewald Mataré und zwei malerische Arbeiten von Amédée Ozenfant. Einem dieser Werke ist in dem Buch sogar eine Einzelaufnahme gewidmet. Ein weiteres wichtiges Element bildet der dezente, aber allgegenwärtige Blumenschmuck, der farblich auf die übrige Einrichtung abgestimmt ist, wie eine der Bildunterschriften betont. Hier wird besonders deutlich, in welchem Maße die photographische Präsentation kontrolliert und inszeniert ist. 194
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Der Rundgang führt durch ein Interieur, das als Gesamtkunstwerk wahrgenommen werden will. In der von Mendelsohn geschaffenen Wohnwelt ist nichts dem Zufall überlassen, alle Elemente sind aufeinander abgestimmt, und die dabei leitende Ratio ist eine künstlerische. Es geht also um die Demonstration eines künstlerischen Anspruchs, wobei das Künstlerische als von den praktischen Aufgaben der Architektur unabhängig gedacht wird. Die technischen Installationen, die das Wohnen in dem Haus angenehm machen, verbirgt Mendelsohn im Keller, in Wandschränken oder hinter Verkleidungen. Emblematisch dafür ist der Versenkmechanismus der großen Fenster des Erdgeschosses, den die Publikation auf zwei Seiten dokumentiert. „Mechanik = innere Organe. Funktionieren, ohne sichtbar zu sein“, so nennt Mendelsohn dieses Gestaltungsprinzip in einer seiner Bildunterschriften. In letzter Konsequenz ist es eine anti-funktionalistische Position, die er damit einnimmt. Die programmatische Zuspitzung dieser Position überlässt er dem einleitenden Textbeitrag des Malers Ozenfant. Das hohe Maß an Ästhetisierung, das die Publikation Mendelsohns charakterisiert, ist somit nicht nur Mittel visueller Kommunikation, sondern es ist selbst ein Teil der zu übermittelnden Botschaft. Gegenläufig zum Hauptstrom der zeitgenössischen Moderne – und damit auch zu den Positionen von Taut und Gropius – besteht der Architekt Mendelsohn auf dem Primat der Kunst vor der praktischen Zweckerfüllung. Im Titel seines Buchs beschwört er die Zukunftsvision einer ‚neuen Welt‘. Sein Haus baut er als künstlerische Vorwegnahme einer solchen Vision, nicht als konkretes Modell einer künftigen Wohnarchitektur. Direkte autobiographische Aussagen fehlen in Mendelsohns Architektenhaus-Buch. An indirekten Selbstäußerungen mangelt es jedoch nicht. Ozenfants Einführung ist überschrieben ‚Für Erich Mendelsohn‘ (Abb. 8). Der Text empfiehlt sich damit gewissermaßen als Eintrag in das Gästebuch des Hausherrn. Ozenfant spricht in der ersten Person von seiner eigenen Wohnerfahrung als Gast im Haus Mendelsohn und in der dritten Person von Mendelsohn selbst als dem Architekten seines Hauses. Ohne Zweifel ist der Text das Ergebnis eines intensiven Austauschs und einer engen Übereinstimmung der künstlerischen Positionen zwischen dem Maler und dem Architekten, und man kann davon ausgehen, dass Mendelsohn den polemisch argumentierenden Ozenfant hier für sich sprechen lässt. Anders als bei Taut und Gropius treten im Fall Mendelsohns die Bewohner des Hauses nicht persönlich in Erscheinung. Dennoch wirkt das Haus nicht 195
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unbelebt. Dafür sorgen Blumen, gedeckte Tische und sorgsam arrangierte Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Die Wohnbereiche der Tochter und der Dame des Hauses werden durch wenige persönliche Objekte zurückhaltend individualisiert. Ein offen gezeigter Instrumentenschrank vertritt den künstlerischen Beruf Louise Mendelsohns, die Cellistin war. Kösters Aufnahme des Arbeitszimmers lässt eindringlich die unsichtbare Präsenz des Hausherrn spüren. Die photographische Inszenierung zeigt den Schreibtisch des Architekten so, als habe dieser gerade erst den Raum verlassen (Abb. 10). Im Hinblick auf die Geschlechterrollen lässt sich in der gleichberechtigten Abwesenheit beider Ehegatten ein Ansatz zu größerer Ausgewogenheit erkennen. Insgesamt kann man sagen, dass Mendelsohn trotz des völligen Verzichts auf Personenaufnahmen mit seinem Haus auch sich und seine Familie ins Bild setzt. Während in den Büchern von Taut und Gropius die Bewohner die Funktionstüchtigkeit des Hauses demonstrieren, scheint hier das Haus seine abwesenden Bewohner zu vergegenwärtigen.
Abb. 10: Mendelsohn, 1932, o.S.
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D e r A r c h ite k t a ls B a u h e r r u n d s e in a u to b io g r a p h is c h e s Ic h Die eigenen Häuser von Architekten im 20. Jahrhundert lassen sich nur selten im vollen Wortsinn als ‚gebaute Autobiographien‘ identifizieren. Aber sie umschließen mitunter differenzierte autobiographische Subtexte. An erster Stelle sind Architektenhäuser Instrumente eines Redens über Architektur. Doch in die mit dem Bau des eigenen Hauses formulierten architekturspezifischen Diskurse sind häufig auch Selbstaussagen des entwerfenden Bauherrn eingewoben. Wenn der Architekt mit dem eigenen Hausbau etwas mitteilen möchte, dann liegt es nahe, dieses Haus zu publizieren und damit die Mitteilung an ein breiteres Publikum zu richten. Gegenüber der gängigen Publikationsform in einer Zeitschrift bietet das separate Buch die Möglichkeit, nicht nur die architekturbezogene Aussage, sondern auch das autobiographische Bedeutungspotenzial zu pointieren. Wie gezeigt, sind es nicht allzu viele Architekten, die sich dieser Mühe unterzogen haben, und man kann annehmen, dass das Mitteilungsbedürfnis bei ihnen ein besonders großes war. Zudem sind die relativ wenigen Architektenhaus-Bücher ungleichmäßig über das Jahrhundert verteilt und lassen sich kaum zu einer entwicklungsgeschichtlichen Reihe fügen. Allenfalls die drei Bücher, die hier in Nahsicht betrachtet wurden, bilden eine zusammenhängende Gruppe. Diese Bücher vertreten beispielhaft das Bemühen um Vorbildwirkung, das das Wohnen der Architekten im 20. Jahrhundert insgesamt charakterisiert. Dabei unterscheidet sich die Art und Weise, wie die Autoren jeweils vorbildlich zu wirken versuchen. Im Buch Bruno Tauts dominiert ein pädagogischer Impuls, der auf die Überzeugungskraft des im Bild veranschaulichten Wortes setzt. Walter Gropius präsentiert das Dessauer Direktorenwohnhaus als reproduzierbares Wohn-Modell im Sinne der Bauhaus-Doktrin. Erich Mendelsohn markiert mit der Publikation seines Wohnhauses einen programmatischen Standpunkt, der den künstlerischen Anspruch der Architektur über den Ausdruck funktionaler Bedingungen stellt. Aber die Autoren der Architektenhaus-Bücher sprechen nicht allein über Architektur; sie sprechen auch über sich selbst. Nur in einem Fall, bei Oswald Mathias Ungers, geschieht das in einer Weise, die es erlaubt, das Buch als vollgültige Autobiographie aufzufassen. Zur Autobiographie wird das Buch zum einen dadurch, dass wir es hier tatsächlich mit einer Wohngeschichte zu 197
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tun haben, die aus mehreren Etappen besteht, und zum anderen dadurch, dass diese Wohngeschichte im Rückblick erzählt wird. Auch Walter Gropius publiziert sein Dessauer Haus im Rückblick auf eine abgeschlossene Periode seines Werdegangs, was sich jedoch dem uninformierten Leser nicht erschließt. Die übrigen Architektenhaus-Bücher präsentieren dagegen Wohnsituationen, die als aktuell gelten können; das Kriterium der retrospektiven Erzählung ist somit nicht erfüllt. Das autobiographische Ich kommt dennoch zu Wort. Das kann durch das besitzanzeigende Fürwort im Titel geschehen oder generell durch die Verwendung der ersten Person wie bei Emanuel von Seidl, der sich zudem auch photographisch abbilden lässt. Die anderen Autoren vermeiden die Ich-Form ebenso wie den persönlichen Auftritt im Bild. Ein solches Maß an Personalisierung hätte die Allgemeingültigkeit der primären Mitteilungsabsicht – also der im engeren Sinne architektonischen Botschaft – in Frage gestellt. Die Autoren Taut und Gropius lassen sich jedoch in ihren publizierten Interieurs durch ihre Familie bzw. ihre Gattin vertreten – dieses reduzierte Quantum an persönlicher Charakterisierung ist offenbar erwünscht. Einen anderen Weg wählt Erich Mendelsohn, der konsequenter als seine Kollegen Personendarstellungen aus seinem Buch verbannt. Trotz dieses größeren Bemühens um Diskretion erscheinen gerade in den Räumen seines Hauses die Bewohner besonders präsent. Auch in Abwesenheit des Hausherrn tritt hier das Persönliche deutlich in den Vordergrund. Mendelsohns Buch ist ein programmatisches Statement, und zugleich ist es die Home Story eines Architekten, der seine private Wohnwelt den Blicken einer anonymen Öffentlichkeit präsentiert.
Anmerkungen 1
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Zu den Phänomenen publizierter Architektur vgl. LENIAUD/BOUVIER, 2002; DOGRAMACI/FÖRSTER, 2010; zur „Buchgattung der Hausmonographie“ bes. NOELL, 2009 und 2010. Der Beitrag greift zurück auf Ergebnisse aus STABENOW, 2000, die hier als Grundlage einer übergreifenden Betrachtung dienen. Ebd., S. 42 und 231. WAGNER, 1890, Bl. 35-39 („Villa des Herrn W. in Hütteldorf bei Wien“) und 49-52 („Wohnhaus des Herrn W. III. Rennweg“); 1897, Bl. 5-7
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(„Wohnung des Herrn W. III. Rennweg 3“) und 34 („Wohnung des Herrn W.“); 1906, Bl. 67-68 („Projekt eines Wohnhauses für Herrn und Frau W. im XIII. Bezirk Wien“); 1922, Bl. 34-37 („Villa im XIII. Bezirk Hüttelbergstrasse 28“). BOESIGER, 1935, S. 144-153. MUTHESIUS, 1908/09. Die erste Person im Titel verwendet auch LOOS, 1903. SEIDL, 1910; DERS., 1919; SCHULTZE-NAUMBURG, 1927; TAUT, 1927; GROPIUS, 1930; MENDELSOHN, 1932; NEUTRA, 1977; JENCKS, 1985; [DOMENIG], 1988; UNGERS, 1999. Natürlich hängt die Zahl davon ab, welche Kriterien man zugrunde legt. Zu den Grenzfällen gehören das Buch von Gropius, das neben dem Haus des Architekten weitere Projekte behandelt (vgl. unten), und die postum erschienene Veröffentlichung von Neutra, die grundsätzliche Aspekte der Wohnarchitektur anhand seines 1963 abgebrannten und bis 1966 wiederaufgebauten Hauses erörtert. Bei der Publikation von Günther Domenig handelt es sich um den Katalog einer Ausstellung, die sein damals noch in Bau befindliches ‚Steinhaus‘ ins Zentrum stellte. SEIDL, 1910. Zu dem Buch vgl. NOELL, 2009, S. 21-23. Über das Haus ausführlich REUTER, 2001, S. 197-202. SEIDL, 1919. Ebd., S. 95 und 105. Zur Rollenverteilung in seinem Landhaus bemerkt Seidl: „[…] denn die Architektur gehört zu mir – wie meine liebe Frau. Damit diese aber nicht zu kurz kommt, habe ich einen großen Wirtschaftstrakt projektiert mit allem Raffinement der Neuzeit – ein Küchenatelier für ‚sie‘“. Ebd., S. 29. UNGERS, 1999. Die Buchpublikation geht zurück auf den Zeitschriftenbeitrag DERS., 1996. Zu Ungers’ eigenen Häusern vgl. STABENOW, 2000, S. 189-204; KIEREN, 2006. Eine grundlegende Auseinandersetzung mit Haus und Buch bietet JAEGER, 1995. Zum Buch vgl. auch NOELL, 2009, S. 30-32; zum Haus BRENNE, 1999; STABENOW, 2000, S. 177-180. TAUT, 1924. DERS., 1927. Zu Kösters Photographien für Tauts Buch vgl. STÖNEBERG, 2009, S. 264f.
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19 TAUT, 1927, S. 51f. Zum Festhalten Tauts an einer traditionellen Rollenverteilung im Haushalt ZÖLLER-STOCK, 1993, S. 82. 20 GROPIUS, 1930. Dem Direktorenwohnhaus sind die S. 89-133 gewidmet. 21 Zu dem Haus vgl. KRAFT, 1997, S. 18-38 und 64-68; STABENOW, 2000, S. 133-157; THÖNER, 2002, S. 24-31. Im Kontext der Meisterhäuser behandeln das Direktorenhaus LUPFER/SIGEL, 2000. 22 GROPIUS, 1930, S. 92. 23 Angaben nach THÖNER, 2002, S. 26. Zu dem Film vgl. auch KEIM, 1997, S. 148; LUPFER/SIGEL, 2000, S. 27. 24 Zur Funktion der weiblichen Akteure in der Rolleninszenierung des männlichen Autors vgl. die prägnante Analyse von KEIM, 1997. 25 MENDELSOHN, 1932. Zu dem Buch vgl. NOELL, 2009, S. 33f. 26 Selbständige Untersuchungen des Hauses Mendelsohn: HEINZEGREENBERG, 1998; STABENOW, 2000, S. 159-183. 27 Über Kösters Beitrag zu dem Buch Mendelsohns FÖRSTER, 2008, S. 182201; STÖNEBERG, 2009, S. 265f.
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Die Villa als unzeitgemäße Reflexionsfigur des Selbst im faschistischen Italien SALVATORE PISANI
Gio Ponti kündigte 1942 im August-Editorial seiner Architekturzeitschrift Domus eine Artikelserie an, die sich dem Thema La casa e l’ideale widmen würde.1 In den Beiträgen sollten Architekten ihr Projekt einer privaten Idealbehausung vorstellen und von pragmatischen Zwängen und Anforderungen befreit einen Dialog mit sich selbst führen dürfen; einen Dialog, der seinen Kern in einer entblößenden Selbstreflexion haben sollte. Für den gewährten (publizistischen) Freiraum wurde als Gegengabe der intime Einblick in sonst verschlossene Vorstellungswelten des Architekten erwartet. Mit anderen Worten: eine öffentliche Architekten-Konfession. Ponti versprach den Lesern „visite segrete“, die unmittelbar ins Innerste der Architekten-Herzen führten („Le relazioni di questi architetti devono esser lette non soltanto come una guida alle loro piante immaginarie ma per cogliere anche quegli accenti di confessione umana che più volte vi traspaiono, improvvise e candide confessioni“).2 Es erscheinen bis Mai 1943 dreizehn Beiträge von wenigen Seiten Umfang, in denen Entwurfspläne und kurze Erörterungen das jeweilige Projekt vorstellen. Das Gros der Beiträger hat sein Traumhaus, die casa-sogno, als Villa am Meer oder im Gebirge imaginiert.3 Damit scheint einerseits ganz selbstverständlich eine säkulare Bautradition des Mittelmeerraumes aufgegriffen. Andererseits fallen die Bemühungen um eine Neudimensionierung der Villa als Bauaufgabe nicht zufällig in die Zeit der Etablierung der MussoliniDiktatur. Das Thema nahm zwischen 1922 und 1943 in italienischen Architektur-Zeitschriften einen breiten Raum ein, maßgeblich lanciert von Gio Ponti. Ponti war nicht nur Herausgeber einer der einflussreichsten Architekturzeit203
Salvatore Pisani
schriften des faschistischen Italien, er war auch einer seiner wirkmächtigsten Architekten. In Domus publizierte er Typen-Entwürfe, die den Wandel der Villa zum Ferien- und Wochenendhaus eingeleitet und geprägt haben. Diese neue Architektur für jedermann genügte dem faschistischen Selbstverständnis als einer breiten Bewegung von unten. Denn ein Regime, das auf Hingabe an die Partei und den Duce setzte, musste der Villa als einem symbolischen Ort von Einsamkeit und Freiheit eher misstrauisch als wohlwollend gegenüberstehen. Trotz aller Vorbehalte war die Villa als eine der ältesten und unwandelbarsten Institutionen der Mittelmeerwelt jedoch zu tief in den Kulturhaushalt der Nation eingewachsen, als dass sie vollständig hätte entwurzelt werden können.4 Vielmehr vollzog sie einen Transformationsprozess, der die Grenzen des Individuellen entlang der Leitlinien von Faschismus und moderner arbeitsteiliger Industriegesellschaft ausrichtete. Ein 1939 veröffentlichtes Entwurfsmodell Pontis ist in eine mediterranheimatliche Kulisse mit Olivenhain, Küstenhang und zugehörigem Bootszugang eingebettet (Abb. 1-2).5 Wie es besonders einprägsam die Innenansicht verdeutlicht, ist das Haus als ein Ort des dolce far niente ganz auf Freizeit und Erholung ausgerichtet, zudem eingekleidet in die Schlichtheit klassisch mediterraner Prägung. Mit Blick auf die Villa humanistischen Zuschnitts ist das ein Unterschied ums Ganze. Denn der normalisierte Freizeitgedanke des Ferienhauses verdrängt das, was die Villa zu ermöglichen und zu sichern behauptete, nämlich Selbstsein und Innerlichkeit. In Pontis ‚individuellen‘ Entwürfen deutet zwar nichts auf Missachtung des Persönlichen, gar auf Unterdrückung des freien, selbständig denkenden Menschen. Und dennoch geht es um Kollektivierung, Uniformierung und damit die Aufhebung der elitären, weil solitären Denkfigur Villa. Ein sprechendes Zeichen hierfür ist nicht zuletzt die neue typologische Präferenz der Fischerhüttenarchitektur. Mit der Fischer- (oder auch wahlweise der Bauern-)Hütte ließen sich zumal weitergehende Begründungsmuster entwickeln. Zum einen konservierte die Fischerhütte unverdorben von der Stilarchitektur der Jahrhunderte ursprüngliche Einfachheit und Funktionalität südlichen Lebens. Damit schien es gegeben, in der maritimen Hausarchitektur die Keimzelle der ornamentlosen Weißen Moderne auszumachen.6 Die Fischerhütte wurde sozusagen zur Urhütte der architektonischen Avantgarde Italiens. Zum anderen bedeutete sie den Verfechtern eine Rückkehr zu italischen Wurzeln.
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Die Villa als unzeitgemäße Reflexionsfigur
Abb. 1: Gio Ponti, Entwurfsmodell für eine Villa als Ferienhaus an der italienischen Meeresküste. Aus: Domus, Juni 1939, Nr. 138, S. 40
Abb. 2: Gio Ponti, Innenansicht der Villa als Ferienhaus. Aus: Domus, Juni 1939, Nr. 138, S. 40
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Die nationalpolitische Signatur stilisierte die Fischerhütte zum Container einer genuinen, unverdorbenen Latinität; eine Ideologisierung, wie sie Aussagen von Carlo Enrico Rava deutlich machen, einem Gründungsmitglied des Gruppo 7, der Stammzelle des italienischen Razionalismo. In einem programmatischen Artikel verklärte er 1934 die maritime Hüttenarchitektur zum Träger eines „spirito mediterraneo“, eines Kennzeichens der italienischen Rasse („spirito fondamentale della nostra razza“).7 Dieser „architettura spontanea“ eigen sei „un concetto di mare e di cielo, di azzurro e di sole, di spazio e di avventura“, ihr Charakter sei „nettamente latino“. Die Fischerhütte bedeutete also zugleich die Urhütte der Italianità. Mit der Synthese von Latinität und Modernität dissoziierte sich eine Grundeigenschaft der Villa, die sich bislang als Reduit des autonomen Ich verstand. Eingerahmt von suggestiven Vokabularen wird Ich-Architektur zur Wir-Architektur. Wenn Gio Ponti mit seiner Ausschreibung La casa e l’ideale die Zunftgenossen also dazu aufforderte, ihre Vorstellung vom „Haus wie Ich“ zur öffentlichen Inspektion freizugeben, dann handelte er – ohne es vielleicht selbst zu ahnen – gleichsam als subtiler Agent der Macht. Vor dem diskursiven Hintergrund von Villa, Italianità und Weißer Moderne konnten sich die Beiträger ja in eine verdächtige Position bringen, wenn sie den Bezug auf die Villa als traditionellen Erfüllungsort des Selbst suchten. Jedes ‚offene‘ Bekenntnis hatte sich in diesem von politischen und ästhetischen Doktrinen verminten Feld zu verorten und erweist sich keineswegs als spontan und unverstellt, wie Ponti suggerierte, als er mit seiner Aufforderung zu Transparenz und Aufrichtigkeit zwei Kernbegriffe der Moderne in Anschlag brachte.8 Im Folgenden soll aus der Artikelserie das Projekt eines Architekten herausgegriffen werden, der die Inkompatibilität von Villenideal und Faschismus ins Licht rückt und dabei doch verschattet. Denn auffällig ist der Gestus des Autors, den idealen Hausentwurf im Zuge der Beschreibung zu verwerfen. Vom Entwerfen zum Verwerfen scheint es nur ein kurzer Schritt und dennoch weitet der Architekt das sich dazwischen ausspannende Feld zu einem beachtlichen Denkraum aus, in dem er seinen inneren Zwiespalt mit den lebensweltlichen Außenbedingungen aussticht. Der zu betrachtende Artikel steht jedoch weder im Zeichen der Anbiederung noch der Kritik an den Machtverhältnissen. Er ist vielmehr das eigentümliche Dokument eines Menschen, der über die Dinge seiner Zeit strauchelt und darauf verfällt, sich in einem paradoxen Raum opaker Transparenz niederzulassen, der den tiefer liegenden Mechanismus von Enthüllung und Verhüllung, der das Haus wie Ich umgibt, indiziert. 206
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Abb. 3: Federico Latini, Umbauprojekt für eine Villa am Posillip. Aus: Domus, Bd. 21, März 1943, Nr. 183, S. 113 Der betreffende Beitrag ist 1943 in der Aprilausgabe von Domus erschienen und trägt den Titel Casa ideale per un architetto e per un fantasma.9 Sein Autor ist Federico Latini, eine heute lebens- und werkgeschichtlich kaum fassbare Architektengestalt des frühen 20. Jahrhunderts. Außer einem unmittelbar zuvor in der März-Ausgabe von Domus publizierten Umbauprojekt für eine Villa an der neapolitanischen Küste ist kein weiteres Werk bekannt (Abb. 3).10 In seinem Entwurf situiert Latini die casa ideale an einen 25 m hohen, ins Meer vorspringenden nackten Felsen, dem er die Eigenschaft einsam („deserto“) zuschreibt (Abb. 4). Der Steilfelsen soll an einem ihm vertrauten Küstenabschnitt in Süditalien liegen. Latini gibt vor, den Felsen oft bestiegen und gezeichnet und sich dabei angeeignet zu haben. Er wird als Ort der Vertrautheit beschrieben, der zur Prämisse für ein unverhülltes und unverstelltes Dasein wird. Architektonisch fällt die Verteilung des Gebäudes über zwei Höhenniveaus auf (Abb. 5). Auf der unteren Ebene ist ein eingeschossiger Trakt mit Wohnund Servicebereichen untergebracht, während die schmalere Hochetage als Rückzug dient. Die Reserviertheit der auf zwei Pilotis aufgestelzten Hochetage wird zumal durch einen außen sichtbaren, runden Treppenturm signalisiert, der exklusiv unten und oben verbindet, aber auch als Scharnier der beiden im Grundriss gegeneinander verdrehten Etagen dient.11 Die Hochetage zeigt sich der Weißen Moderne verpflichtet. Einem ‚entgötterten Wolkenkuckucksheim‘ 207
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Abb. 4: Federico Latini, Meerseitige Ansicht der Casa sogno. Aus: Domus, Bd. 21, April 1943, Nr. 184, S. 151
Abb. 5: Federico Latini, Situierung am Felsen. Aus: Domus, Bd. 21, April 1943, Nr. 184, S. 150
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gleich gibt sie sich als Behausung des autonomen Ich,12 während das untere Etagengeschoss mit seiner dem Patio-Haus verpflichteten Typologie, d.h. dem im Mittelmeerraum verbreiteten flachen Familienhaus mit offenem Innenhof, dem Modell der domus, des traditionellen Wohnhauses, gehorcht und damit dem gesellig-gesellschaftlichen Ich dient.13 Wie es der Schnitt zeigt (Abb. 6), neigen sich die Pultdächer des Patio-Hauses nach innen, so dass das Compluvium des antik-römischen Atriumhauses zitiert ist, das im Faschismus – nicht zuletzt durch Gio Ponti – eine Reaktualisierung erfahren hatte.14 Die Grundfigur des Baus setzt sich also aus zwei in Funktion und Habitus deutlich getrennten Baueinheiten zusammen.
Abb. 6: Federico Latini, Die Casa sogno. Schnittansicht durch beide Geschosse. Aus: Domus, Bd. 21, April 1943, Nr. 184, S. 152 Die untere Wohnetage, die zwischen Küche und Treppenturm den Eingang in die Villa birgt, zeigt einen rechteckigen Innenhof, um den herum sich Vestibül, Gäste- und Servicebereiche sowie ein Ess- und Wohnzimmer (PranzoSoggiorno) gruppieren (Abb. 7). Letzteres ist als repräsentativer Bereich offener gehalten und großzügiger gestaltet. Schließlich ist statt eines Schlafzimmers ein Gästezimmer ausgewiesen, dessen besonderer symbolischer Gehalt vom Hausherrn in der Bildlegende hervorgehoben wird: „L’ospite è padrone della casa“.
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Abb. 7: Federico Latini, Die Casa sogno. Grundriss der unteren Etage. Aus: Domus, Bd. 21, April 1943, Nr. 184, S. 153 Die für den Hausherrn reservierte Hochetage nimmt hintereinander gereiht ein Arbeitskabinett, einen Ruheraum und ein schmales, in den Felsen integriertes Bad auf (Abb. 8). Das Arbeitskabinett (Abb. 9) ist – wie seit dem 19. Jahrhundert üblich – mit Fauteuil, Arbeitshocker, Bücherregalen, Kamin, einzelnen Bildwerken und für den Architekten zudem mit einem Zeichentisch ausge-
Abb. 8: Federico Latini, Die Casa sogno. Grundriss des Obergeschosses. Aus: Domus, Bd. 21, April 1943, Nr. 184, S. 153 210
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Abb. 9: Federico Latini, Die Casa sogno. Innenansicht des Arbeitskabinetts Aus: Domus, Bd. 21, April 1943, Nr. 184, S. 152 stattet.15 Das Arbeitskabinett signalisiert, dass Latini sich die Hochetage als Ort für stille Lektüre und Kreativität dachte, als Single-Klause. Unten mochte der Gast Herr im Hause sein, hier oben waren selbst Familie und Freunde ausgeschlossen. Der Bestimmung entspricht auch der neben dem Arbeitszimmer gelegene Ruheraum, der mit Stoffvorhängen abgedunkelt Latini zum Kokon gereicht. Beide Räume werden von einer breiten Fensterfront zusammengeschlossen, vor der ein Laufgang liegt. So knapp bemessen sich der Lauf zeigt, erinnert er doch an Wandelgänge (Latini spricht von einem „spazio per passegiare“), wie man sie in herrschaftlichen Villenanlagen der Antike und der Renaissance findet, wo sie dazu dienten, dem Meerespanorama während des Spazierens einen besonderen Rahmen zu geben.16 Mit Wandelgang und Meeresblick werden Gesten der mediterranen Villa als Herrschaftsarchitektur in Dienst genommen, die ihren repräsentativen Zug zwar nicht verleugnen, hier aber vor allem der räumlichen Singularisierung und sozialen Selbstisolierung des Bewohners Kontur und Steigerung verleihen.17 Der Solitarius inszeniert sich. 211
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Im Hinblick auf Latinis eineinhalbseitigen Textbeitrag erscheint es programmatisch, dass er auf eine Beschreibung der in den Ansichten und Grundrissen vorgestellten Architektur verzichtet. Stattdessen wird das in den Graphiken Gezeigte in eine Narration verwoben, die innere Lagen, Gefühle und Motive des Bewohners preisgibt oder – anders gewendet – in eine Auto(r)fiktion überführt. Zunächst wird die topographische Grenzsituation zwischen Land und Meer als Element der Ruhe und bewussten Distanznahme zur schnelllebigen Stadt, dem primären Tätigkeitsfeld des Architekten, gesetzt. Die Distanzierung wird als Rückzug aus einem stark vereinnahmenden Kommunikationsraum, der Geschäftswelt der Stadt eben, beschrieben. Allerdings bezeichne die Behausung am Felsen nicht die Höhle eines Eremiten, der sich der Kommunikation verweigert. Auto, Strom und fließend Wasser würden ihn, Latini, weiterhin und gewollt an die Zivilisation zurückbinden und die Villa in übergreifende gesellschaftliche Strukturen vernetzen. Das Haus am Meer sei kein Ort der Askese. Die Bindung an die Villa wird vielmehr affektiv bestimmt. Den Eintretenden würden, so Latini, Küchendüfte wie bei Fischern und Landleuten empfangen, was ihm das Gefühl gäbe, die Stadt, aus der er mit dem Auto angereist ist, hinter sich gelassen zu haben. Dem vertrauten Bootspächter und der Magd spendet er einen Willkommensgruß, den er als Akt eines Sich-Versöhnens mit der Menschheit versteht. Diskursiv werden hier Elemente einer Harmoniekultur humanistischer Prägung mit solchen einer zeitgenössischen Zivilisationskritik vermengt.18 Die Passage lässt sich als Evokation kulturell geprägter Codes lesen, die Erwartungen bedienen und kein offenes Bekenntnis, sondern Verhüllung sind. Erst während der folgenden Begehung der Hochetage lässt Latini die Narration vom Haus als Geborgenheitsraum in ein Selbstbekenntnis münden. Latini gesteht unter anderem seine verschlossene Natur und seine Sehnsucht nach dem Ungewissen ein („chiusa natura abruzzese“, „piacere del contatto diretto con gli elementi infidi“). Höhe- und Endpunkt der Raum- und Offenbarungsstruktur ist der hinterste Winkel seines Reduits, der Ruheraum der Hochetage, der auf einen großen Spiegel ausgerichtet ist. In diesem Spiegel erscheint ihm das Bild von F., seinem fantasma, mit dem er in ein langes und stilles Wechselverhältnis tritt. Hier im Angesicht von F. soll es zu feinsinnigen Reflexionen und Klärungen verborgener Konflikte und Verwerfungen kommen („I lunghi confronti silenziosi, i ragionamenti più sottili, i conflitti più reconditi avvengono con lui [F.] in quel breve spazio“). 212
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Spätestens hier wird deutlich, dass Latini ein Schreiber ist, der agil mit literarischen Motiven und Metaphern umzugehen weiß. Gleichwohl sind Motive und Metaphern nicht als bloße Bildungsreminiszenzen verwendet, denn sie werden sinnstiftend anverwandelt und eingesetzt. So ist auffällig, dass sich die Spiegel- und Doppelgängerszenerie anders als in der Romantik (bei Clemens Brentano und Annette von Droste-Hülshoff) nicht im Zeichen der zerstörerischen, vexatorischen Selbstspaltung vollzieht, die der Künstler beziehungsweise Dichter in narzisstischer Verfallenheit ans eigene Ich erleidet.19 Denn Latini erfährt vor dem Spiegel statt Zerrissenheit deren Aufhebung. Die Ich-Spaltung resultiert nicht aus einer Idiosynkrasie gegen einen Teil seines Selbst, vielmehr haben die gesellschaftlichen Verhältnisse sie bedingt. Es liegt damit keine Pathologie, konkret: Schizophrenie vor, sondern eine modern bedingte Aufspaltung in Rollenfiguren. In der Literaturgeschichte firmiert das Phänomen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort des dédoublement, der Selbstverdoppelung. Den Begriff hat der Essayist und Schriftsteller Paul Bourget aus der Taufe gehoben, der ihn im Gegensatz zur (erlittenen) IchSpaltung als eine Fähigkeit („faculté“) verstand, mit deren Hilfe das Ich sich zu verdoppeln vermag.20 Während das eine Ich in die unmittelbaren Lebenszusammenhänge verstrickt ist, tritt das andere als dessen Beobachter auf. Bei Bourget liest sich dies wie folgt: „J’entends le pouvoir et le besoin du dédoublement. Il y a toujours eu en moi comme deux personnes distinctes: une qui allait, venait, agissait, sentait, et une autre qui regardait la première aller, venir, agir, sentir, avec une impassible curiosité“.21 Wie Bourget deutet Latini seine Selbstbegegnung weniger psychologisch als soziologisch aus und trennt ein äußeres von einem inneren Ich.22 Latini betreibt, um es in der Terminologie der Soziologie zu sagen, seine Aufspaltung in ein explizites Ich (den Architekten) und ein implizites Ich (F.).23 Dieser gedoppelten Rollenfigur ist eigen, dass sie sich nach außen, dem Alltagsleben gegenüber, konformistisch gibt, nach innen hingegen authentisch ist. Diese Dissensfiktion vertieft Latini nicht weiter. Der Villenentwurf liest sich vielmehr als althergebrachtes Gefüge, das die Befreiung des Selbst aus kollektiven Bindungen und folgend Selbst-Reflexion und Selbst-Expression erlaubt. Die Villa hat hier ihre angestammte Aufgabe, ihre integrative Funktion und Kraft bewahrt, nämlich die Kluft von gesellschaftlicher Rolle und individuellem Selbstsein einzuebnen und zu harmonisieren. Vor dem Hintergrund der Evokation dieses Traditionsgefüges kommt Latinis Wende zum Textende überraschend und doch konsequent, denn sie gewährt Einblick in den Verklei213
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dungs- und Verhüllungsmechanismus von Architektur – den Latini an einer marginalen Stelle unmittelbar aufruft. (In einer Parenthese erzählt Latini von einem Klienten, dem er ein Haus gebaut hat und der sich in diesem bewegte, als handele es sich um ein fremdes Kleid: „lo vedo [den Auftraggeber] aggirarsi per quelle stanze come in un vestito non suo“).24 In der Volte heißt es, dass sein eigentlicher Handlungsraum doch die Stadt sei, wo große Aufgaben hohe Ambitionen wecken würden. In der Stadt sei der wahre Ort des Architekten, hier bilde er eine Funktionszelle innerhalb eines größeren, komplexen Organismus, hier bilde seine casa-studio mit Klimaanlage, Telefon und Sprechanlage einen lebensweltlichen Dreh- und Angelpunkt. Latini entwirft mit dieser normgerechten Architektenidentität das Gegenmodell zur Lebenswelt der casa-sogno.25 In dieser Kontrastbildung von rückwärtsgewandtem Villenideal und gegenwartsorientierter Bürowelt fixiert Latini so etwas wie eine ‚mittlere Modernität‘, die einem durchaus faschistischen Verständnis entspricht.26 Und dennoch bröckelt diese Mittelstellung bei Latini auseinander, weil er mit verschiedenen Auftrittsfigurationen operiert, die wiederum zu erkennen geben, dass die Moderne ein Transformationsraum ist, der keine Eindeutigkeiten mehr kennt. Die Villa ist autistischer Raum und IchHülle und kann dem modernen Menschen doch kein Einsamkeitsort mehr sein („L’architetto, professionista e uomo del nostro tempo, per forza di vita, non può essere un eremita, un troglodita“). In einem widerspruchsvollen Prozess misst Latini die Kluft zwischen dem Bedürfnis nach sozialer Selbstisolierung und der Forderung eines gesellschaftszugewandten Lebens aus. Im Zuge von Entwerfen und Verwerfen betreibt Latini zeigende Verhüllung. Und nichts anderes ist ein Ich-Haus.
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PONTI, 1942. Ebd. – Zur hier zitierten Sprache des Herzens als topische Bekenntnismetapher vgl. SCHNEIDER, 1986, S. 7-48. Gleichwohl mangelt es nicht an Entwürfen mit Sinn für das Außergewöhnliche, so Carlo Mollinos Projekt eines Wolkenkratzerheims in den Bergen oder Luigi Banfis Konzept einer Lastwagenkarawane; vgl. MOLLINO, 1943 und BANFI, 1942. Vgl. GAMBARDELLA, 1993.
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Zur Bedeutung Pontis für die italienische Wohnhausarchitektur vgl. MARCELLO, 2008. SCARANO/PIEMONTESE, 2003. Die folgenden Zitate stammen aus dem Beitrag von C. E. Rava, Prodromi di un nuovo romanticismo, in: Domus 7, 77 (Mai 1934), S. 35; zit. nach SCARANO/PIEMONTESE, 2003, S. 37. Zu den Schreibstrategien in Zeiten des ‚unfreien‘ Denkens vgl. JAUCH, 2007. Soweit nicht anders vermerkt, stammen die folgenden Zitate aus dem Artikel von LATINI, 1943. [S.M.], 1943. Die Posillip-Villa schließt aus, dass wir es mit einem Pseudonym zu tun haben. Ikonographisch keineswegs sekundär ist die Turmfigur, die auf Reduit und Rückzug verweist. Für die italienische Villenarchitektur des 20. Jahrhunderts nicht weiter erforscht, sei lediglich an die Torre di Materita auf Capri erinnert; eine sarazenische, turmbewehrte Festung, die der berühmte Modearzt Axel Munthe 1902 umbauen ließ und wo er Exil bezog; vgl. JANGFELDT, 2005, S. 95-105. Vgl. HUSE, 1976, S. 39. Zum Patio-Haus zwischen klassischer und popularer Tradition im italienischen Faschismus vgl. SABATINO, 2010, S. 50-56. Vgl. Gio Pontis Villa alla pompeiana von 1934; SCARANO/PIEMONTESE, 2003, S. 59f. Vgl. hierzu die Photoserie Nos architectes des späten 19. Jahrhunderts; abgedruckt in: JACQUES, 1986, S. 10-12. MIELSCH, 1987, S. 148. Einen Wandelgang mit Panoramablick über den Golf von Neapel besaßen etwa die römische Villa dell’Ambulatio in Baiae oder später wieder die Renaissance-Villa von Poggioreale vor den Stadttoren Neapels; vgl. PISANI, 2009, S. 203. Da es hier primär um die Ich-Thematik des Hauses geht, sei die architekturgeschichtliche Genese auf Hinweise beschränkt: Die Hochetage mit Pilotis, gekrümmter Fensterwand und weißer Epidermis zitiert unmittelbar die Architektur Le Corbusiers; zu denken ist etwa an den Galerietrakt der Villa La Roche (1923-1925) in Paris. Die Typologie des Rückzugsraums als Hochetage erinnert hingegen an die neuartigen Architekten-Domizile „über den Dächern von Paris“, wie sie erstmals Auguste Perret in der Rue Franklin 20bis realisierte und dann von Le Corbusier in seiner Atelier215
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wohnung an der Porte Molitor rezipiert wurden; vgl. STABENOW, 2000, S. 98-130. Die Topik begegnet ähnlich in weiteren Artikeln der Casa sogno-Serie. So bei Giulio De Luca: „Ogni uomo che abbia avuto almeno una volta nella sua vita la fortuna di vivere a contatto con la natura, fuori dalle inumane costruzioni cittadine, sente ogni giorno vivo il sacrificio et la violenza di essere costretto tra muraglie di pietra, su di un selciato di pietra e di asfalto, tra il rumore dei veicoli, il clamore della folla, la continua promiscuità ed il continuo contatto con gli altri.“ DE LUCA, 1942, S. 372. ‚Zivilisationskritische‘ Töne auch bei ALOISIO, 1942. GÖSSMANN, 1985. Hierzu ausführlich FISCHER, 2010, bes. S. 16f. und 36-41. Paul Bourget, Le Disciple, Paris 1994, S. 26; zit. nach FISCHER, 2010, S. 37. In der italienischen Literatur hielt die Denkfigur vom gespaltenen Ich unter dem unmittelbaren Einfluss von Bourget bei Luigi Pirandello Einzug, bei dem Latini sie kennengelernt haben könnte; SCHULZ-BUSCHHAUS, 1989, S. 56f. Die Beschreibung von explizitem und implizitem Ich kam in den 1930er Jahren in der Soziologie auf; vgl. MEAD, 1934; hier nach der deutschen Ausgabe MEAD, 1975, S. 216-229. Alois Hahn definiert nach G. H. Mead das explizite Selbst als „ein Ich, das seine Selbstheit ausdrücklich macht, sie als solche zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation macht“; HAHN, 1987, S. 10. Latinis Klammertext, der von seinem Architekten-Selbstverständnis als ‚Anzugsschneider‘ handelt, lautet vollständig: „(Un mio cliente volutamente assentista mi diede l’incarico di costruirgliene una [casa]. Tornò ad opera finita; fu contento, però lo vedo aggirarsi per quelle stanze come in un vestito non suo, diffidando dell’infisso e del rubinetto; arriva e parte con la famiglia come se si trattasse di un alberghetto preferito. Evidentemente una mia fatica inutile ed egli non ha avuto la gioia di servirsi dell’architetto per costruirsi una sua casa).“ CHÂTELET, 1998, S. 231-249. Vgl. PISANI, 1999 und LAZZARO, 2005.
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Vom Haus „wie Wir“ zum Haus „wie Ich“ Frank Owen Gehrys Haus in Santa Monica als Sinnbild für Derridas Kritik an Heidegger und für den Bruch mit der Tradition kollektiver Identität in der Architektur MATTHIAS MÜLLER „ E in H a u s w ie Ic h “ o d e r W e s h a lb H e id e g g e r u n d D e r r id a a m T ite l d e r T a g u n g G e fa lle n g e fu n d e n h ä tte n Martin Heidegger und Jacques Derrida hätte der Titel der Tagung und des vorliegenden Tagungsbandes vermutlich gefallen. Denn das Leitthema „Ein Haus wie Ich“ wirft unweigerlich die Frage auf nach dem genaueren Verhältnis zwischen dem Haus als Wohnstätte eines menschlichen Individuums und der Sicht dieses Individuums auf sich selbst und die Welt, in der sowohl das Haus als auch das Individuum gleichermaßen angesiedelt sind. Sowohl für Martin Heidegger als auch Jacques Derrida bedeutete das „Haus“ in diesem Kontext wesentlich mehr als eine wirkmächtige Metapher, wie sie besonders in der Philosophie seit Plato als Bild für jedwede aus dem Akt des Denkens erwachsene logisch-argumentative Konstruktion – eben ein „Gedankengebäude“ – verwendet wird. Die Metapher des „Hauses“ stand für sie vielmehr in einem spannungsvollen, zwischen imaginierendem Denkakt und materieller Existenz oszillierenden Verhältnis zum realen, gebauten Haus, dessen Bedeutung sich aus der Perspektive der Philosophie nicht zuletzt durch die Bereitstellung eines 219
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Ortes der „Präsenz“ ergibt, der sich in einem Gegensatz zu den außerhäuslichen Orten der „Repräsentation“ befindet. Das Haus symbolisierte und materialisierte dabei einen Vorgang, den Heidegger seit seinem Brief über den Humanismus (1947)1 als Ausdruck der menschlichen Existenz in einer durch die Geschichte geprägten Welt verstand, wo sich das alles bestimmende Sein, der Urgrund der Welt, im Verlauf der Epochen in unterschiedlicher Gestalt in Form von „Seiendem“ enthüllt.2 Die Enthüllung des Seins und seine Anschaubarkeit durch das „Seiende“ ist damit an Vorgänge und Tatsachen gebunden. Es ist ein handlungsorientierter, dynamischer Vorgang, dessen vordergründiger Realismus und Materialismus den Menschen in der Regel den Blick dafür verstellt, dass er in Wirklichkeit eine Emanation des Seins selbst vor sich hat, mit dem der Mensch in der Auffassung Heideggers unauflösbar durch sein aktiv handelndes Leben verbunden ist. Als vornehmsten Akt des Handelns begriff Heidegger aber das Denken, das damit zu einer Entäußerung des Seins wurde, dessen Vermittlung nach außen sich wiederum durch das Medium der Sprache vollzieht. Die Sprache ist gewissermaßen der materielle Speicher bzw. Aufbewahrungsort der Gedanken und damit des Seins, weshalb Heidegger die Sprache auch als das „Haus des Seins“ bezeichnet. Da sich der Mensch für die Äußerung seiner Gedanken der Sprache bedient, ist er über die Sprache zugleich selbst Bewohner dieses „Hauses des Seins“. Damit sind wir wieder zum Titel und Leitthema der Tagung zurückgekehrt: Die Formulierung „Ein Haus wie Ich“ hätte zwar unzweifelhaft Heideggers Stellungnahme herausgefordert, nicht aber seine Zustimmung gefunden. Denn während der Tagungstitel eher den Subjektivismus in der Beziehung zwischen dem Haus und einem Individuum anspricht, hat Heidegger in seiner Definition dezidiert auf die in der Metapher wie der gebauten Realität des Hauses enthaltene Unauflösbarkeit von menschlichem Subjekt und der Objektivität des weltbestimmenden Seins hingewiesen: Der Mensch kann – um im Bild Heideggers zu bleiben – nur deshalb Bewohner des „Hauses des Seins“ sein, da dieses Haus die menschliche Sprache bildet, die wiederum dem menschlichen Denken als Emanation des Seins Ausdruck verleiht. Somit würde im philosophischen Denken Heideggers aus dem „Haus wie Ich“ gewissermaßen ein „Haus wie Ich durch das Sein“, was unweigerlich die Frage nach den in einem solchen Haus waltenden Kräften und Eigendynamiken aufwirft. Diese Frage hat nun – wie der amerikanische Architekturtheoretiker Mark Wigley aufzeigen konnte3 – in besonderer Weise Jacques Derrida interessiert, zumal Derrida in dieser Hinsicht bei Heidegger ein gedankliches Defizit zu er220
Vom Haus „wie Wir“ zum Haus „wie Ich“
kennen meinte.4 Denn obwohl Heidegger spätestens seit seiner 1935 erschienen Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes5 zugestand, dass im „Haus des Seins“ und damit letztlich auch in jedem physisch existenten Haus durch die handlungsorientierte Entfaltung des Seins eigendynamische Kräfte walten, die durchaus auch gewalttätige Züge annehmen können, hat er diese Kräfte stets losgelöst vom Haus selbst denken wollen, womit für die im Haus wirksamen Kräfte stets die Bewohner – in Heideggers Bild das Sein und der Mensch – verantwortlich sind, nicht aber das Haus selbst (in Heideggers Bild die Sprache). Für Derrida hingegen besteht die Herausforderung einer konsequent zu Ende gedachten Metapher des Hauses wie auch des Hauses in seiner physischen Realität darin, das Haus selbst als handlungsbestimmenden Faktor und damit auch als Auslöser potenziell gewalttätiger Handlungen zu begreifen, um auf diese Weise schließlich das Haus auch als Ort von Abgründigkeiten zu erkennen.6 Diese Abgründigkeiten lassen die Geborgenheit bzw. Heimeligkeit des Hauses gewissermaßen als biedermeierliche Fassade erscheinen, womit für Derrida schließlich auch die von Heidegger ins Feld geführte Metapher des Hauses als Sitz des Seins und damit als Ort reiner Präsenz (aus dem erst die Sprache in die Welt der Repräsentationen hinausführt) nur von begrenzter Aussagekraft ist, da sie nicht die Gewalttätigkeit und Unheimlichkeit des Hauses berücksichtigt („vertraut, aber völlig fremd“7) und gedanklich „dekonstruiert“.8 Dieses durchaus bezwingende Eigenleben des Hauses führt in den Augen Derridas zu der Konsequenz, dass die Bewohner ihr Haus domestizieren müssen, um nicht von ihm beherrscht zu werden.9 Die Auseinandersetzung Derridas mit Heideggers Gebrauch der HausMetapher und seine Kritik an Heideggers fehlendem Mut, nicht nur den Hausbewohnern, sondern auch dem Haus selbst das Potenzial zur Ausübung von Macht und Gewalt zuzuschreiben und damit die Abgründigkeit und Unheimlichkeit einer vordergründig seriösen, Schutz gewährenden Architektur – sei es als Metapher oder in der Realität – aufzudecken, blieb in der Welt der gebauten Architektur nicht unbemerkt. Und so gehört es zu den besonderen Momenten der Kulturgeschichte, als der Schweizer Architekt Bernard Tschumi 1985 einen Brief an Jacques Derrida schreibt, in dem er ihn dazu einlädt, als Philosoph das gestalterische Konzept des damals von Tschumi geplanten Parc de la Villette bei Paris zu begleiten und den Versuch zu unternehmen, die von Derrida begründete Philosophie des Dekonstruktivismus in die gebaute Realität umzusetzen.10 Doch es sollte weniger der Parc de la Villette mit seinen sinnbildhaften Architekturen11 zum weltbekannten Symbol für die Materialisierung 221
Matthias Müller
dekonstruktivistischer Philosophie werden als vielmehr ein kleines Haus an der Küste Kaliforniens, das 1977 bis 1978 der amerikanische Architekt Frank Owen Gehry für sich und seine Familie errichtete (Abb. 1). Bis heute erregt dieses Haus die Phantasie und die Gemüter und ist Gegenstand anhaltender Diskussionen – mittlerweile auch in den Internetblogs. Wie zu zeigen sein wird, vermag dieses Haus tatsächlich Derridas Definition des Hauses als eines aktiven Subjekts im Sinne eines Seienden, in dem sich in der Ereignishaftigkeit zugleich das Sein, aber auch seine unheimlichen Abgründigkeiten enthüllen, zu verkörpern und dadurch einen spannenden Dialog zwischen zeitlich begrenzter individueller Subjektivität und überzeitlicher weltbestimmender Objektivität in Gang zu setzen. Allerdings sind Gehry und Derrida niemals zusammengetroffen und hat Gehry – anders als Bernard Tschumi – auch nie dem Philosophen ein Angebot zur Zusammenarbeit unterbreitet. Inwiefern vermag daher ein Vergleich des Gehry House mit dem philosophischen Konzept Derridas zu überzeugen? Werfen wir deshalb einen erneuten Blick auf das Gehry House und sein Architekturkonzept.
Abb. 1: Frank Owen Gehry: Gehry House, Santa Monica (Kalifornien), 1977/78, Ansicht von Nordosten, Blick auf die Eingangsfassade und die Ecksituation des Baugrundstücks
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Vom Haus „wie Wir“ zum Haus „wie Ich“
D a s G e h r y H o u s e in S a n t a M o n ic a z w is c h e n H a u s u n d N ic h t - H a u s
Abb. 2: Frank Owen Gehry: Gehry House, Santa Monica (Kalifornien), 1977/78, Ansicht von Osten, Eingangsfassade Als Frank Owen Gehry 1978 sein Wohnhaus im kalifornischen Santa Monica für fertiggestellt erklärte, schüttelten nicht nur seine Nachbarn fassungslos ihre Köpfe, sondern er erntete auch in der Fachwelt ungläubiges Staunen. Denn vor den Augen der Betrachter stand ein Gebilde, dessen Formen den tradierten Kategorien guter Architektur geradezu Hohn zu sprechen schienen.12 Wäre man sich nicht sicher gewesen, vor einem Werk Frank Owen Gehrys zu stehen, man hätte auch genauso gut annehmen können, auf die Hinterlassenschaften einer sozial randständigen Wohnkultur zu blicken, wie sie sich gerade auch im südlichen Kalifornien, im Grenzland zum sozial verwahrlosten Mexiko, seit vielen Jahren in stetig wachsender Zahl ausbreitet. Was ein entsprechend sensibilisierter Betrachter von der Straßenseite her (Abb. 2) auch heute noch erkennt, ist die Ästhetik einer Trash-Architektur, wie sie in den heruntergekommenen Vorortsiedlungen von Mexiko-Stadt oder auch den Favelas von Rio de Janeiro (Abb. 3) zu besichtigen ist und wo die bunte Mischung aus Wellblech, Maschendraht, rohem Holz und unverputzten Hohlblocksteinen eine ganz
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Abb. 3: Favela-Architektur in Rio de Janeiro (Brasilien)
Abb. 4: Frank Owen Gehry: Gehry House, Santa Monica (Kalifornien), 1977/78, Ansicht von Norden
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Vom Haus „wie Wir“ zum Haus „wie Ich“
Abb. 5: Frank Owen Gehry: Gehry House, Santa Monica (Kalifornien), 1977/78, Blick in die Küche
Abb. 6: Frank Owen Gehry: Gehry House, Santa Monica (Kalifornien), 1977/78, Blick ins Wohnzimmer
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eigene, den seit der Antike tradierten Maßstäben der venustas weitgehend enthobene Materialästhetik erzeugt. Hinter einer giftgrün gestrichenen, unverputzten Mauer erheben sich inmitten eines von rohem Erdboden und -hügeln bestimmten Vorgartens scheinbar zwei Wellblechhütten, deren verbindendes Element ein unterteilter Holzrahmen bildet, in dem rechts ein rohbelassenes Holzbrett und links eine weißgestrichene Haustür sitzen, zu der eine wenig vertrauenerweckende Treppe aus scheinbar achtlos übereinandergestapelten Beton- und Holzplatten führt. Oberhalb der beiden Wellblechhütten und des Holzrahmens befindet sich ein Käfig aus Metallrohren und Maschendrahtzaun, dessen Elemente sich zum Teil bedrohlich in den Himmel auftürmen und nicht nur die Zweifel an der Seriosität der Bewohner, sondern ebenso an der funktionierenden Statik des Hauses verstärken. Gehen die Betrachter um die Straßenecke herum und betrachten von dort das Haus (Abb. 4), müssen sie den Eindruck gewinnen, dass die mangelnde Statik bereits ein erstes Unglück verursacht hat und ein in die Wellblechwand hineingesetztes Glas-Holz-Element krachend ins Innere des Hauses gestürzt und dort in Schräglage stecken geblieben ist. Erst bei näherem Hinsehen erkennen die Betrachter, dass diese slumartige Konglomeratarchitektur die Vorbauten zu einem traditionellen, gutbürgerlichen amerikanischen Holzhaus aus den 1910er Jahren bildet, dessen adrett, bieder und harmlos wirkendes Walmdach zusammen mit dem Giebel, dem Zwerchhaus, den Sprossenfenstern und dem Ziegelschornstein durch den Maschendrahtzaunverhau des Käfigs und das schräggestellte Glas-HolzElement hindurch im Hintergrund auftaucht. Wenn die Betrachter das Glück oder Unglück haben, auch einen Blick hinter die Haustür, ins Innere dieses nach herkömmlichen Maßstäben so offensichtlich verschandelten und aus dem Lot geratenen Hauses zu werfen (Abb. 5-6), vermögen sie keineswegs Beruhigung für ihre strapazierten Augen zu finden, sondern müssen erleben, dass sich der Eindruck einer rohen, unkultivierten Bewohnerschaft bzw. von gewalttätigen Handlungen noch steigert. Aufgerissene oder provisorisch zugenagelte Wände und Decken, Raumteiler aus unverkleidetem Sperrholz, die die Struktur des alten Hauses mit seinen weißgestrichenen Kassettentüren und Sprossenfenstern brutal durchschneiden, Maschendrahtgitter auf den Balkonen, die die Aussicht verstellen, und Möbel aus Pappe, rohem Holz oder filzüberzogenen Industrieschaumkissen, die beim Niedersetzen nichts Gutes verheißen, lassen – je nach Perspektive – entweder erhebliche Zweifel an Bildung, Bonität und Zurechnungsfähigkeit der Bewohner aufkommen oder aber den Eindruck entstehen, als ob das alte Haus durch 226
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innere oder äußere Krafteinwirkung in seiner traditionsbewussten Solidität erschüttert wurde und damit Einblicke in ansonsten verborgen liegende abgründige Strukturen des Hauses gewährt werden. Dieses Gebilde dezidierter architektonischer Hässlichkeit und Zerrissenheit steht weder in den Vorortsiedlungen von Mexico-City noch von Rio de Janeiro, sondern befindet sich mitten in einem saturierten, gepflegten Villenvorort der kalifornischen Küstenstadt Santa Monica, wo sich bevorzugt Familien der gehobenen Mittelschicht in seriösen und gemütlichen Holzhäusern des Kolonialstils aus dem frühen 20. Jahrhundert niedergelassen haben. Auf sie muss der Anblick des Gehry House nach seiner angeblichen Fertigstellung schockierend und beleidigend zugleich gewirkt haben, weshalb es durchaus nicht nur anekdotische Qualität hat, wenn Gehry behauptet, seine Nachbarn hätten wenige Tage nach der Einweihung auf das Haus einen gezielten Schuss abgegeben!13 Selbst wenn die Geschichte ein von Gehry humorvoll eingesetztes dramaturgisches Stilmittel sein sollte, würde es den aus allen gängigen Ordnungsschemata herausfallenden provozierenden Charakter des Gehry House zutreffend beschreiben.14
„ E i n H a u s w ie I c h d u rc h d a s S e i n “ : D a s G e h ry H o u s e in d e r A u s e in a n d e r s e tz u n g m it d e r M o d e r n e u n d P o s tm o d e r n e Die Fachkritik hat in Gehrys Privathaus hingegen überwiegend einen originellen und polemischen Beitrag für einen Ausbruch der Architektur aus der babylonischen Gefangenschaft der internationalen „weißen“ Moderne gesehen und die Formensprache des Gehry House so auch zunächst als eigenwilliges Beispiel für eine sich formierende Postmoderne bewertet wissen wollen.15 Am Ende setzte sich dann die Auffassung durch, dass es sich beim Gehry House um die Materialisierung dekonstruktivistischen Gedankenguts handele, es gar eine Verbildlichung der Philosophie Jacques Derridas verkörpere, weshalb dem Haus schließlich der Status einer Inkunabel dekonstruktivistischer Architektur zugesprochen wurde.16 Doch inwiefern vermag eine solche Apostrophierung mehr zu sein als ein einprägsames Etikett für eine gestalterische Lösung, die zwar ein passendes Bild für ein bestimmtes philosophisches Denkmodell abzugeben vermag, nicht aber zwangsläufig auch diesem Denkmodell 227
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inhaltlich verpflichtet sein muss?17 Und selbst wenn wir die von Gehry erzeugte architektonische Gestalt seines Hauses als adäquate Umsetzung dekonstruktivistischer Philosophie erklären können, hätten wir noch nichts über die Art und Weise gesagt, wie Gehry das von Derrida in Abgrenzung zu Heidegger beobachtete besondere Verhältnis visualisiert, das zwischen dem Haus als Sitz eines absoluten, objektiven Seins und dem Haus als Sitz eines menschlichen Subjekts besteht und das sich in den friedlichen wie gewalttätigen Handlungsmomenten eines Seienden entäußert. Inwieweit ist das Gehry House daher – um nochmals das Tagungsthema im Sinne Heideggers und Derridas abzuwandeln – „Ein Haus wie Ich durch das Sein“? Mit meiner Antwort auf diese Frage möchte ich nicht nur zu verdeutlichen versuchen, in welcher Weise das Gehry House im ausgehenden 20. Jahrhundert architektur- und kulturgeschichtlich einen besonderen Beitrag dafür leistet, das Haus – metaphorisch wie real – in seiner doppelten Bedeutung als Präsenz und Repräsentanten überindividueller institutioneller und weltanschaulicher Vorstellungen sowie als Ort menschlicher Existenz zu verstehen, sondern darüber hinaus soll auch das in der Moderne von Le Corbusier und Mies van der Rohe neu definierte Verhältnis des Hauses zur Geschichte allgemein und zur Geschichtlichkeit von Architektur im besonderen kritisch überdacht werden.18 Für eine solche Fragestellung bietet sich das Gehry House nicht alleine wegen seiner spektakulären und provozierenden Architektur an, sondern vielmehr wegen des mit Hilfe dieser Architektur in Gang gesetzten spannungsvollen Dialogs zwischen einer formalistisch-typisierten und einer anarchisch-individuellen Struktur, die schließlich auch einen Dialog auf zwei verschiedenen historischen Zeitebenen, zwischen der Vergangenheit des Hauses und seiner früheren Bewohner auf der einen und der Gegenwart des Hauses und seiner neuen, aus der Familie Gehry bestehenden Bewohner auf der anderen Seite bewirkt. Selbst wenn wir die Selbstaussagen Gehrys nicht überbewerten sollten, so sind sie doch für unsere Fragestellung durchaus aufschlussreich. Denn aus den Äußerungen Gehrys können wir entnehmen, dass die Spannung zwischen dem „Ich“ und dem „Wir“, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen den alten und den neuen Bewohnern, zwischen dem Kernbau des alten Hauses und den postmoderndekonstruktivistischen Anbauten für den Architekten bei der Umgestaltung des alten, vorhandenen Hauses zum Gehry House eine Determinante seines gestalterischen Handelns gewesen ist.19 Nur durch die Beachtung und künstlerische Thematisierung dieser Spannung war es für Gehry überhaupt möglich, das ar228
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chitektonisch zwar hübsche, aber belanglose alte Haus aus den 1910er Jahren für sich und seine Familie zu erwerben und darin schließlich auch zu leben.20 Um die besondere architekturgeschichtliche Bedeutung des Gehry House für die Definition des Hauses in seinem Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Individuum und generationenübergreifender Gemeinschaft und schließlich zwischen persönlichem Bekenntnis und theoretisch-abstraktem Manifest ermessen zu können, müssen wir es architektur- und kulturgeschichtlich verorten. Dies gelingt am besten über einen Vergleich mit der Definition und gestalterischen Ausführung des Hauses durch die führenden Theoretiker und Architekten der internationalen, „klassischen“ Moderne und – noch weiter in die Vergangenheit zurückgehend – mit der Auffassung vom Haus, wie sie die Architekten und ihre Bauherren in der sogenannten Vormoderne – etwa der Frühen Neuzeit – vertraten.
Abb. 7: Mies van der Rohe: Farnsworth House, Plano (Illinois), 1950/51 Für Mies van der Rohe und Le Corbusier, die beiden prägenden Gestalten und Überväter des Neuen Bauens, bedeutete das Haus die sinnlich-visuelle Markierung von Orten, die den Bewohnern durch die Proportionen, Maßverhältnisse, Material- und Farbästhetik, Körpermodulationen des Lichtes und die Wegeführung der Gebäude eine psychisch wie physisch nacherlebbare Vorstellung
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Abb. 8: Le Corbusier: Villa Savoye, Poissy bei Paris, 1928-1931 eines übergeordneten, global wirksamen geistig-intellektuellen Kosmos vermitteln sollten, in den jeder Mensch aufgrund seines kulturellen Wesens eingebunden ist.21 Beide Architekten suchten ihre Bezugspunkte dabei in den absoluten Maß- und Zahlenverhältnissen der Mathematik sowie in den ästhetischen Maßstäben der Antike, wobei das Zusammenspiel dieser beiden Sphären zu einer – wie es Le Corbusier formulierte – „sinnlichen Mathematik“ führen und diese wiederum auf den Menschen und sein kulturelles Bewusstsein zurückwirken sollte.22 Während Mies van der Rohe sich dabei – vermittelt durch den Theologen Romano Guardini – auf die kosmischen Ordnungsvorstellungen von Plato und Augustinus bezog und daraus Bauten wie das völlig verglaste Farnsworth House (Abb. 7) oder die Lake Shore Drive Appartment Houses schuf,23 orientierte sich Le Corbusier in durchaus erstaunlicher Weise an den esoterischen Vorstellungen von Theosophen wie Henry Provensal, der eine geistige Elite zum Aufbau einer neuen spirituellen Weltgemeinschaft schaffen wollte.24 Hierfür konzipierte Le Corbusier einerseits Einfamilienhäuser wie die Villa Savoye (Abb. 8) und andererseits einen Wohnanlagentypus wie die Unité d’Habitation. Wenn auch hier gewisse Unterschiede in der weltanschaulichen Orientierung zu Tage treten, so erweist sich doch als gemeinsames Anliegen von Mies und Le Corbusier, der modernen, von Technik und Ökonomie bestimmten Welt mit Hilfe einer neuen, mathematisch reduzierten 230
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und geklärten Architektur einen geistigen Ordnungsrahmen zu verschaffen, der anstelle historischer Formen die überzeitlichen Gesetze einer auf der kosmischen Harmonie gegründeten Ratio zur Anschauung bringt. Ein solches Makro- und Mikrokosmos umspannendes Konzept musste nicht nur auf die Darstellung und Reflexion konkreter Geschichte und historischer Prozesse verzichten, sondern selbstverständlich auch auf die Thematisierung des Individuums und seiner subjektiven Bedürfnisse und Erlebnisse. Die Frage nach einem „Haus wie Ich“ hätte sich daher in dieser Form für Mies van der Rohe und Le Corbusier niemals gestellt und hat sich in ihrer Nachfolge auch für die von ihnen geprägte Architektengeneration des International Style niemals zu einem Anliegen entwickelt. Umso erstaunter, ja irritierter zeigte sich ebendiese Architektengeneration, als zu Beginn der 1960er Jahre in den USA zwei damals noch junge Architekten die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Geschichte bzw. Tradition sowie zwischen weltanschaulichem Typus und individueller Erfahrung erneut und mit Vehemenz zu stellen wagten. Die Fragesteller waren Robert Venturi und Charles Moore, die mit zwei kleinen Einfamilienhäusern für sich bzw. ihre Mutter das Thema 1962 mit einem Ausrufezeichen auf die Tagesordnung der Architekturdebatten setzten. Wer das kleine Haus, das Charles Moore 1960 bis 1962 für sich selbst im kalifornischen Orinda errichtete (Abb. 9),25 oder das Haus Vanna Venturi („My Mother’s House“) (Abb. 10), das Robert Venturi im selben Zeitraum für seine Mutter in Chestnut Hill (Philadelphia) realisierte,26 mit der makellos reinen Ästhetik der weißen oder aus Glas und Stahl geformten stereometrischen Architektur des Farnsworth House oder der Villa Savoye vergleicht (vgl. Abb. 7-8), wird kaum einen größeren Gegensatz architektonischer Grundauffassungen erleben können. Hier die Idealtypen einer zur Weltanschauung geronnenen überzeitlichen und überindividuellen Wohnarchitektur, dort die eigenwilligen, individuellen und sich jeder Typologie widersetzenden Gehäuse für sehr individuelle Lebensentwürfe und Weltauffassungen. Während im Moore House nicht zuletzt zwei auf vier Stützen ruhende Baldachine (Abb. 11), die zum einen eine großdimensionierte Dusche und zum anderen den Wohnbereich mit Konzertflügel überfangen, auf die persönlichen Neigungen und Interessen des Hausherrn verweisen und dadurch im Hausinneren zwei für Moore wichtige Orte physischer und musischer Rekreation markieren, sind es bei Robert Venturis Haus für seine Mutter zum einen das beziehungs- und spannungsreiche Spiel der Fassadenelemente und zum anderen der Beziehungsreichtum ungewöhnlicher Raumlösungen im In231
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neren (Abb. 12), die das Haus zu einer Visitenkarte individueller Bewohnerpersönlichkeiten werden lassen. Dennoch findet keine Demonstration selbstbezüglicher Egomanie ohne Rückbindung an einen kulturgeschichtlichen Kontext statt. Denn beide Häuser spielen mit historischen Formzitaten und deren ursprünglicher Semantik und verweisen ihre Bewohner bzw. Betrachter so unweigerlich auf die geschichtliche Dimension von Architektur und schließlich auch auf die historische Funktion des Hauses als eines Repräsentanten gesellschaftlicher und institutioneller Privilegien oder Ansprüche, die über das Individuum hinausreichen. Allerdings wurden die Zitate historischer Architektur sowohl von Moore als auch von Venturi in assoziativ-freier Form, ohne Berücksichtigung der zugehörigen architektonischen Systematik, verwendet, so dass dem Betrachter stets der historische Abstand bewusst bleibt, der diese Häuser und auch das Leben ihrer Bewohner von der Vergangenheit historischer Architektur und ihres kulturellen Kontextes trennt. Es sind unverkennbar moderne Häuser, die Historizität als einen subjektiven, unverbindlichen Vorgang beschreiben, der Tradition als ein frei verfügbares kulturelles Gut definiert. Nur so konnte Charles Moore, der mit seinen Häusern bedeutungsvolle Orte („places“) für den modernen Menschen schaffen möchte,27 seine Dusche unter einen Baldachin stellen (vgl. Abb. 11), der nach seinen Aussagen die Erinnerung an Altarbaldachine und damit an kulturgeschichtlich herausragende Orte evozieren soll, ohne doch deren Funktion zu tradieren.28 Mit diesem Transformationsakt, der das architektonische Element eines religiösen Kultus in ein architektonisches Element moderner Wellnesskultur verwandelt, hat Moore dem Baldachin ganz im Sinne postmodernen Denkens zwar seine ursprüngliche Symbolkraft genommen, nicht aber seine identitätsstiftende Kraft einer historischen Erzählung. Bei Venturis Haus für seine Mutter wird die Fassade (vgl. Abb. 10) – ganz im Sinne von Venturis Verständnis eines Hauses als „dekoriertem Schuppen“29 – geradezu zu einer Kulissenarchitektur, die bedeutungsgeladenen Formen wie etwa einem in barocker Manier durchschnittenen Tempelgiebel oder einem über dem Eingang schwebenden Segmentbogen zu einem augenzwinkernden Auftritt verhilft. Dieser wird noch gesteigert, indem in das formal an sich strenge Korsett des giebelartigen Fassadenumrisses Fenster unterschiedlicher Größe und Gesimse eingefügt wurden, deren Anordnung gleichwohl von einer ausgeklügelten Massenverteilung zeugt, die unweigerlich an Bilder der russischen Konstruktivisten denken lässt. Dieses heitere, unverkrampfte Spiel mit
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Vom Haus „wie Wir“ zum Haus „wie Ich“
Abb. 9: Charles Moore: Haus des Architekten in Orinda (Kalifornien), 1960-1962, Außenansicht
Abb. 10: Robert Venturi: Haus für Vanna Venturi („My Mother’s House“) in Chestnut Hill (Philadelphia), 1960-1962, Eingangsfassade
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Abb. 11: Charles Moore: Haus des Architekten in Orinda (Kalifornien), 1960-1962, Inneres mit Dusche unter einer Baldachinarchitektur
Abb. 12: Robert Venturi: Haus für Vanna Venturi („My Mother’s House“) in Chestnut Hill (Philadelphia), 1960-1962, Wohndiele mit um den Kamin herumgeführter Treppe
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dem historischen Erbe der Architektur findet sich auch im Inneren des Hauses, wo nicht nur die Erhabenheit einer Treppe durch ihre unvermittelte Verschmälerung in Frage gestellt wird, sondern sich diese Treppe darüber hinaus als Bestandteil eines Kamins erweist und damit zur phantasievollen Hybridarchitektur mutiert (vgl. Abb. 12). Was auf den ersten Blick wie das vordergründige Spiel mit den Erwartungshaltungen und Sehgewohnheiten der Betrachter bzw. Bewohner wirkt, erweist sich bei näherem Hinsehen als sehr intelligente Auseinandersetzung Venturis mit einem bestimmten und durchaus weitverbreiteten Phänomen der historischen Architektur, das Venturi in seinem berühmt gewordenen Essay „Komplexität und Widerspruch“30 genannt hat: Während die Architekten und Theoretiker aller Zeiten immer schon die Beachtung von Normen und Theoremen gepredigt hätten, habe die gebaute Architektur zu allen Zeiten immer auch ein Leben jenseits von Norm und Theorie besessen. Denn die historischen Zeitläufte mit ihren Plan- und Nutzerwechseln, den sich wandelnden Stilmoden und den sich daraus ergebenden An- und Umbauten hätten selbst in einstmals perfekte Fassadenbilder die Merkmale sich widersprechender, individueller Geschmacks- und Nutzungsvorstellungen eingeschrieben. Als Beispiele hierfür nennt Venturi in seinem Essay den Palazzo Tarugi von Tommaso Bosconi (ca. 1550) in Montepulciano (Abb. 13) oder den Palazzo del Popolo in Ascoli Piceno (13.-16. Jh.) (Abb. 14).31 Damit wird deutlich, dass die architekturgeschichtliche Bedeutung der beiden von Moore und Venturi errichteten Wohnhäuser nicht nur in der Überwindung der reduzierten, normierten Ästhetik des International Style und ihrer Qualität als Inkunabeln einer Postmoderne zu suchen ist, sondern ihre besondere Stärke in der Neudefinition von Architektur als Repräsentant einer vom menschlichen Individuum bestimmten Form- und Vorstellungswelt liegt, die trotz aller Subjektivität dennoch nicht auf die Wirkmacht und Erzählkraft historischer Prozesse verzichten kann. Ich-Bezogenheit und Geschichtsgebundenheit haben in den Häusern von Moore und Venturi zu einer völlig neuen Synthese gefunden, die in dieser Form selbst in den von Venturi als Zeugen aufgerufenen historischen Bauten kein wirkliches Äquivalent besitzt, da selbst das vermeintlich Individuelle in der historischen Architektur immer noch einer übergeordneten, gesellschaftlich normierten Repräsentationsfunktion verpflichtet bleibt. Vor diesem Hintergrund bedeutet Moores und Venturis spielerischer, assoziativer Umgang mit den historischen Formen, ihre Entsystematisierung und Fragmentierung und schließlich ihre Ent- und Neusemantisierung
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Abb. 13: Palazzo Tarugi von Tommaso Bosconi (ca. 1550) in Montepulciano, Hauptfassade
Abb. 14: Palazzo del Popolo in Ascoli Piceno (13.-16. Jh.), Hauptfassade 236
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letztlich nichts anderes als die Entmachtung von Geschichte bzw. als die Infragestellung und Relativierung tradierter Formen und Bedeutungen von Repräsentation, was uns wieder zurück zu Heidegger und Derrida und zu Frank Owen Gehrys Haus in Santa Monica führt: Wenn wir nicht auch die Häuser von Moore und Venturi als dekonstruktivistisch bezeichnen wollen, was meines Erachtens nicht funktioniert, worin liegt dann das entscheidende Merkmal, das Gehrys Haus tatsächlich zu einem dekonstruktivistischen Haus und damit zu einem „Haus wie Ich durch das Sein“ werden lässt?
D ia lo g is c h e K o n fr o n ta tio n : D a s G e h r y H o u s e u n d sein historischer Kern Das entscheidende Merkmal, das weder Moores noch Venturis Wohnhaus besitzt und wodurch sich Gehrys Haus unterscheidet, ist das Vorhandensein eines authentischen historischen Kerns, von dem aus die neue, hinzugefügte Hausarchitektur ihren Ausgang nimmt und mit dem sie sich gestalterisch wie inhaltlich auseinandersetzen muss. Gehry ist dieses zeitlich wie formal oppositionelle Verhältnis zwischen dem alten Haus und seinen hinzugefügten modernen Anbauten sehr bewusst und wird zum Ausgangspunkt seiner gestalterischen Überlegungen: „I wanted to preserve the iconic quality of the existing house and I became obsessed with having it appear that the existing structure remained intact, captured inside the new structure and interacting with it. It was my idea that the old and new could read as distinct strong self-sufficient statements which could gain 32 from each other without compromising themselves.”
Das alte Haus ist daher nicht nur bauphysikalisch der Kern des neuen Hauses, sondern in lebenswirklicher wie metaphorischer Hinsicht sein geistigkulturelles Zentrum, da sich in seiner alten, überkommenen Gestalt gewissermaßen das Sein in einem historisch ausgeprägten Seienden manifestiert. Zu diesem historisch ausgeprägten Seienden gehört neben dem historischen Gebäude und seiner Architektur ganz wesentlich auch die mitzudenkende Existenz seiner vormaligen Bewohner, was sicherlich nicht den Glauben an die vielzitierten „Hausgeister“ beschwören soll, jedoch die Notwendigkeit zur
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Abb. 15: Gregor Schneiders „Haus u r“, Unterheydener Straße 12, Rheydt/Mönchengladbach
Abb. 16: Frank Owen Gehry: Gehry House, Santa Monica (Kalifornien), 1977/78, Treppenanlage der Eingangsseite
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Sensibilität für die im historischen Kernbau bewahrten materiellen wie geistigkulturellen Spuren und Relikte der einstigen Hausbewohner verdeutlicht. Anders als Moore und Venturi, die die Vergangenheit in Form von frei verfügbaren und völlig neu produzierten historischen Architekturelementen zu einer Spielwiese individueller Vorlieben und Assoziationen erklärten, musste sich Gehry mit den Manifestationen authentischer Geschichte und den Lebensentwürfen anderer Menschen auseinandersetzen, deren Existenz sich in dem alten, von Gehry erworbenen Haus aus den 1910er Jahren materialisiert hat. Dieser Umstand erzwang von Gehry, wiederum anders als bei Moore und Venturi, eine völlig andersartige Haltung gegenüber seinem künftigen Wohnhaus: Zu der Ich-Perspektive, aus der heraus das Haus zu einem Ort individueller Existenz gestaltet werden sollte, trat zusätzlich die Wir-Perspektive, die auch das historische Vorleben des Hauses und seiner Bewohner mitzuberücksichtigen hat. Dieser doppelten, Ich- wie Wir-bezogenen Perspektive versuchte Gehry nun durch sein auf den ersten Blick verstörendes Architekturkonzept gerecht zu werden, indem er das alte Haus nicht einfach unangetastet und damit in seiner tradierten äußeren Erscheinung intakt beließ, sondern seine alte Struktur analysierte und hinterfragte und wie ein Archäologe Schicht für Schicht aufdeckte, um am Ende in der Formgebung der hinzugefügten Ergänzungsbauten die im Haus waltenden Kräfteverhältnisse zu visualisieren. „Ich stellte mir vor“, so Gehry, „dass – sobald ich die Schachtel [d.i. das alte Haus, Anm. MM] zuschloss, Geister im Haus seien, die versuchen würden, herauszuschleichen.“33 Das Ergebnis dieser Befragung und Beobachtung des alten Hauses, die ja stets von einem individuellen, von der eigenen Biographie her gedachten Standpunkt aus geschehen musste und die im Übrigen bemerkenswerte Parallelen zu Gregor Schneiders späterem „Haus u r“ (Abb. 15) aufweist,34 sind die auf den ersten Blick chaotisch und unästhetisch wirkenden An- und Umbauten, die Durchbrüche durch die alten Wände und die harten Brüche in der Wahl der neuen Materialien – hier rohes Holz und unverputzte Steine, dort Wellblech und Maschendraht – wie sie als Baumaterialien auch für die ephemeren, nicht auf Dauer angelegten kalifornischen Strandhütten typisch sind. Das schönste und sinnfälligste Bild für dieses durchaus tastende Sich-Annähern an das alte Haus und seinen Umbau ist vielleicht die Außentreppe (Abb. 16), deren unregelmäßig gestapelte Stufenpodeste aus unterschiedlichen Materialien keinen schnellen Zugang, sondern nur einen bewussten, vorsichtigen Zutritt erlauben. Im Endergebnis hat Gehry das alte Haus und seine Geschichte durchaus respektiert, jedoch die darin sichtbar eingeschriebe239
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nen Vorstellungen einer kollektiven amerikanischen Identität durch seine dialogischen und durchaus rigiden Eingriffe und Ergänzungen radikal durchbrochen und in ihrer historischen Bedingtheit dekonstruiert, um sie zugleich mit seinen eigenen Vorstellungen einer modernen, von permanenten Veränderungen und Neuorientierungen bestimmten Lebens- und Wohnkultur zu konfrontieren. Dabei greift er – bewusst oder unbewusst – ein Prinzip auf, wie es bereits Jahrzehnte zuvor, in den 1920er Jahren, von Kurt Schwitters in seinem „Merzbau“ (Abb. 17) in seinem Hannoveraner Atelier verwirklicht worden war.35 Als ein aus Fundstücken ohne besonderen ästhetischen Wert errichtetes Gebilde, das in einem bestehenden Haus emporwächst, sich ausbreitet und dadurch das vorhandene architektonische Gehäuse allmählich, aber radikal verändert, sollte der „Merzbau“ einerseits in durchaus zerstörerischer Weise das Vorhandene hinterfragen und verwandeln und andererseits neue, durchaus konfrontative Beziehungen und Verhältnisse zum vorhandenen, tradierten Raum und seiner Architektur schaffen.36 „Merz“, so Schwitters, „bedeutet Beziehungen schaffen, am liebsten zwischen allen Dingen der Welt.“37
Abb. 17: Kurt Schwitters: „Merzbau“ in seinem Atelier in Hannover (1920er Jahre)
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Abb. 18: Die Wiener Hofburg in einer Ansicht des 18. Jahrhunderts. Gesamtanlage mit der alten staufischen Kastellburg (sog. Schweizerhof) und dem Leopoldinischen Trakt (Ausschnitt aus einer Ansicht Wiens von Joseph Daniel Huber, 1769-1772, Albertina, Wien) Durch das Prinzip des konfrontativen Dialogs unterscheidet sich Gehrys Konzept im Übrigen nicht nur von den Konzepten postmoderner Architekten wie Moore und Venturi, sondern ebenso von bestimmten Konzepten vormoderner, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Architektur, mit denen Gehrys Haus auf den ersten Blick frappierende Ähnlichkeiten besitzt. So ist die Bewahrung eines alten Hauses und seine gezielte Erweiterung oder Ummantelung durch Neubauten besonders in der Adelskultur seit Jahrhunderten gängige Praxis, die ich an einem einzigen, dafür aber sehr prominenten Beispiel verdeutlichen möchte: der Wiener Hofburg (Abb. 18). Dieser Wohn- und Regierungssitz des habsburgischen Kaiserhauses bildet ein geradezu verwirrendes und von zum Teil harten stilistischen Brüchen bestimmtes Konglomerat aus Gebäuden unterschiedlicher Epochen, die sich aber alle auf einen gemeinsamen Kern beziehen: die noch aus dem 13. Jahrhundert stammende Kastellburg mit dem sogenannten Schweizerhof.38 Ihren Erhalt verdankt sie einem für die europäische Adelskultur bis ins 19. Jahrhundert hinein charakteristischen Denken, demzufolge sich in dem Konglomerat aus alten und neuen Schlossgebäuden, die be241
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zeichnenderweise häufig mit den Namen ihrer Erbauer tituliert wurden, der Zusammenhalt und die Dignität einer Adelsfamilie über die Generationen hinweg mit allen ihren Rechten und Privilegien widerspiegelt und die architektonische und zeitliche Vielfalt der fürstlichen Häuser so als repräsentatives Sinnbild für die epochenübergreifende Existenz und Historie des Fürstenhauses als unauflösbarer dynastischer Personenverband aufgefasst wurde.39 Deshalb hat auch Kaiser Leopold I. den von den Architekten im 17. Jahrhundert gewünschten Abriss der mittelalterlichen Gebäude der Wiener Hofburg mit dem Argument zurückgewiesen, diese Teile der Hofburg seien „altväterisch“ und würden dem Andenken der Vorväter dienen.40 Damit wird aber auch der Unterschied zum Konzept des Gehry House offensichtlich, dessen Ummantelung des alten Hauses aus den 1910er Jahren durch moderne Neubauten zunächst prinzipiell mit der Wiener Hofburg vergleichbar erscheint. Denn während bei der Wiener Hofburg in dem integrativ wirkenden Konglomerat der Bauten die möglichst bruchlose Kontinuität einer die Generationen überdauernden Familie und die unveränderliche Identität einer traditionsgeleiteten, kollektiven Herrschaftskultur visualisiert und repräsentiert werden sollte, ist es beim Gehry House geradezu ein gegenteiliges Anliegen: Statt eine zeitliche und kulturelle Kontinuität zu behaupten, werden die zeitlichen und kulturellen Brüche herausgearbeitet, und an die Stelle einer generationenübergreifenden kollektiven Identität tritt als Bezugspunkt der Architektur nun das hinterfragende Individuum in einer pluralisierten Gesellschaft. In dieser Hinsicht entpuppt sich die vermeintliche Ähnlichkeit des Gehry House mit entsprechenden Bauphänomenen der Vormoderne in Wirklichkeit als deren radikale, dekonstruktivistische Infragestellung und gewinnt das Gehry House dadurch seinen Wert als eine Inkunabel für die gesellschaftliche Realität des ausgehenden 20. Jahrhunderts, da seine Architektur nicht länger die integrierende Kollektivität, sondern die konfrontative, individualistische Differenz zum Leitthema erhebt. Der Gewehrschuss eines Nachbarn, den dieser auf das Gehry House abgegeben haben soll, galt daher nicht nur dem vermeintlich verschandelten Erscheinungsbild eines gutbürgerlichen amerikanischen Südstaatenhauses der 1910er Jahre, sondern in letzter Konsequenz der radikalen Infragestellung einer kollektiven amerikanischen Identität, die in der vorgefundenen traditionellen Hausarchitektur bis zu ihrer Überformung durch Gehry zum Ausdruck kam.
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HEIDEGGER, 1947. Zur Deutung dieses Textes Heideggers vgl. in jüngerer Zeit STENGER, 2009 (u.a. als Antwort auf SLOTERDIJK, 1999). WIGLEY, 1994. Vgl. auch DERS., 1992. DERRIDA, 1988, S. 136f. HEIDEGGER, 1950; ESPINET/KEILING (Hg.), 2011. Vgl. z.B. DERRIDA, 1981, S. 167; DERS., 1984, S. 117; DERS., 1979, S. 121. DERRIDA, 1979, S. 121. Zu Derridas erstmaliger Definition des Begriffs der „Dekonstruktion“ vgl. DERRIDA, 1967. Vgl. hierzu Anm. 6. WIGLEY, 1994, S. 13. Vgl. hierzu auch ein Interview mit Bernard Tschumi: KÄHLER (Hg.), 1990, S. 132-139. Zum Gehry House vgl. zusammenfassend DAL CO/FORSTER (Hg.), 1998, S. 151-161. BLETTER, 1989, S. 32 (Interview mit Gehry am 17.10.1985). Zu dieser denkbaren Selbststilisierung gehört auch die von Gehry vorgenommene positive Wendung des angeblichen Vorfalls. Denn nachdem Gehry ein Polizeibeamter berichtet habe, dass dieser Schuss kein Einzelfall sei und auch auf andere Häuser in der Umgebung bereits geschossen wurde, wollte er das dramatische Ereignis nicht unbedingt länger als Kritik an seiner Architektur auffassen (ebd.). KLOTZ, 1984, S. 397-402; DERS. (Hg.), 1984, S. 48-50; FLAGGE/SCHNEIDER (Hg.), 2004, S. 232f.; ADAMSON/PAVITT (Hg.), 2011, S. 35. Besonders differenziert fällt die Bewertung durch Rosemarie Haag Bletter aus, die gleich zu Beginn ihres klug analysierenden Aufsatzes feststellt, dass Gehrys Architektur „nicht so einfach in die Moderne oder die PostModerne einzuordnen“ sei (BLETTER, 1989, S. 25). In einem Vergleich mit den gestalterischen Prinzipien der russischen Konstruktivisten oder von Künstlern wie Claes Oldenburg, mit dem Gehry teilweise zusammenarbeitete, und schließlich in der Feststellung von Ähnlichkeiten mit dem Prinzip des Merzbaus von Kurt Schwitters kommt Bletter zu der Einschätzung, dass man Gehry als „ersten synthetischen Konstruktivisten“ be243
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zeichnen müsse (ebd., S. 47). Einen Bezug zum französischen Dekonstruktivismus stellt Bletter jedoch in diesem Aufsatz nicht her. HEYER, 1993, S. 228-230; FLAGGE/SCHNEIDER (Hg.), 2004, S. 232f. Zum problematischen Verhältnis zwischen dekonstruktivistischer Philosophie und Architektur vgl. BÜRGER, 1990. Vgl. hierzu LE CORBUSIER, 1923, 1948 und 1955. Zu Mies van der Rohes architektonischem Konzept vgl. TEGETHOFF, 1981; MISLIN, 1985; NEUMEYER, 1986; MÜLLER, 2004. Vgl. hierzu BLETTER, 1989, S. 30-40 und 42f. In einem Kommentar zu seinem Haus in Santa Monica äußert Gehry hierzu: „Ich erinnere mich noch an den Anfang des Entwurfsprozesses für das Haus: Ich schaute mir das alte Haus an, das meine Frau für uns zum Wohnen gefunden hatte und worin wir wohnen sollten, und ich dachte, es sei ein nettes, kleines, lustiges Haus. Wir mussten es nur irgendwie verändern. Ich konnte so nicht darin leben. Das war Bertas Absicht gewesen. Mit meinem bisschen Geld beschloss ich, ein neues Haus um das alte herum zu bauen und zu versuchen, zwischen den zweien eine gewisse Spannung aufrechtzuerhalten, indem eines das andere definieren helfen und das Gefühl erwecken sollte, dass das alte Haus innerhalb des neuen weiterbestünde, von aussen wie innen“ (ebd., S. 35). Vgl. hierzu NEUMEYER, 1986, u.a. S. 262-265. Vgl. hierzu für Le Corbusier: LE CORBUSIER, 1923, S. 57; RIEHL, 1992, S. 143-174. Für Mies van der Rohe vgl. die Literatur in Anm. 18. Vgl. hierzu NEUMEYER, 1986, S. 247-294. Vgl. hierzu eines der Hauptwerke von Henry Provensal: PROVENSAL, 1904. Zu den Bezügen von Le Corbusiers weltanschaulichem und architektonischem Denken zu Provensal vgl. BLUM, 1988. KLOTZ, 1984, S. 180-183. Ebd., S. 150-152; FLAGGE/SCHNEIDER (Hg.), 2004, S. 240f. Charles Moore formuliert diesen Anspruch als „the importance of making places rather than manipulating formal configuration“, MOORE, 1976, S. XLVI. Vgl. auch MOORE u.a., 1974 sowie KLOTZ, 1984, S. 180-183 und STERN/GASTIL, 1986, S. 28. KLOTZ, 1984, S. 182f. Zum Begriff vgl. VENTURI u.a., 1972. VENTURI, 1966. Ebd., S. 62f. und S. 86f.
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GEHRY, 1997, S. 112. Gehry in einem Interview am 17.10.1985, zit. nach BLETTER, 1989, S. 42f. KITTELMANN (Hg.), 2001 und 2002. Zu diesem Prinzip vgl. u.a. auch BÜRGER, 1990, S. 85-89. Die von Schwitters für das „Merzprinzip“ behauptete und dem konzeptionellen Vorgehen Gehrys scheinbar widersprechende Planlosigkeit, die dazu führte, dass der Merzbau „wächst etwa nach dem Prinzip der Großstadt“ (SCHWITTERS, 1986, S. 260), können wir hier getrost vernachlässigen. Denn selbst wenn Schwitters beim Merzbau durch das Prinzip eines permanenten, niemals abgeschlossenen und ohne festen Plan verlaufenden Bauens die Grundbedingungen architektonischen Entwerfens konterkarierte, leiteten auch ihn künstlerische Grundüberlegungen, die sich in der konkreten Gestaltung des Merzbaus niederschlugen. Umgekehrt sollte die von Gehry für sein Haus in Santa Monica entwickelte Ästhetik der aus Treibgut zufällig zusammengefügten Materialien und der Eindruck des Chaotisch-Unfertigen ebenfalls den Prinzipien klassischer Architektur widersprechen. Auf einen möglichen Vergleich zwischen der Ästhetik des Merzbaus von Schwitters und der Architektur Gehrys verwies bereits Rosemarie Haag Bletter (BLETTER, 1989, S. 47) und erkennt als verbindendes Prinzip die De-Komposition und Rekonstruktion des Raumes. Aus dieser Perspektive betrachtet, bezeichnet sie Gehry schließlich als „ersten synthetischen Konstruktivisten“ (ebd.). Kurt Schwitters, zit. nach: DER HANG ZUM GESAMTKUNSTWERK, 1983, S. 326. WIENER HOFBURG. NEUE FORSCHUNGEN, 1997. Zum aktuellen Stand der Bau- und Funktionsgeschichte der Wiener Hofburg vgl. die fünfbändige Monographie: DIE WIENER HOFBURG, 2012ff. Vgl. hierzu MÜLLER, 2000 und 2005. Vgl. auch LORENZ, 1997 und 2008. SCHREIBER, 1993, S. 85.
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Das Haus als Körperteil und Obsession Louise Bourgeois’ ›Femme Maison‹ und ›Spider Cell‹ ELISABETH OY-MARRA
Die Präsenz des Hauses im Werk der 1911 in Paris geborenen und im Mai 2010 in New York verstorbenen Künstlerin Louise Bourgeois ist kaum zu übersehen. Seit ihren Gemälden aus den 1940er Jahren, die den Titel Femme Maison tragen, finden sich viele Spielarten des Hauses in ihrem Schaffen. Die vieldeutige enge Verschmelzung von Körper und Haus, welches auf diesen Gemälden wie ein Körperteil erscheint (Abb. 1-2), übertrug sie nicht nur in die Skulptur, sondern baute zu Beginn der 1990er Jahre ihr Elternhaus in Choisyle-Roy nach und präsentierte es – bedroht von dem Messer der Guillotine und hinter einem Maschendraht – unter dem Titel Zelle, Cell (Abb. 3). Seit den frühen 1990er Jahren wandte sie sich grundsätzlich der Konstruktion einzelner Räume des Hauses zu, die sie ganz unterschiedlich, zum Teil mit richtigen Möbeln, zum Teil mit bloßen Gegenständen wie bauchigen Glasvasen, Kleidern oder Fadenrollen, einrichtete (Abb. 5-6). Die Bedeutung des Hauses im Werk der Louise Bourgeois ist also nicht zu leugnen. Es würde auch wundern, wenn sie nicht bereits Gegenstand von Analysen geworden wäre. Einen Überblick bietet die Studie von Muriel Badet, die in ihrem Artikel von 2007 die Metamorphosen des Hauses im Werk der Künstlerin aufmerksam verfolgte.1 Darüber hinaus wird auch im Ausstellungskatalog des Centre Pompidou in Paris aus dem Jahr 2008 die Bedeutung des Hauses in ihrem Werk deutlich hervorgehoben.2 Auf einem der frühen Gemälde hat die Künstlerin ein Haus mit dem weiblichen Körper auf Engste verbunden und damit ein Sujet gefunden, das die traditionelle Bindung der Frauen an das Haus kaum prägnanter zeigen könnte 249
Elisabeth Oy-Marra
(Abb. 1). Die Femme Maison genannten Arbeiten von Louise Bourgeois aus den 1940er Jahren bringen eine ambivalente Konzentration der Frau auf das Haus zum Ausdruck. Zwar erscheint es hier eng mit dem weiblichen Körper verwachsen, doch handelt es sich dabei nicht um eine bloße Verkörperung, sondern eher um eine Behinderung des Körpers, vor allem des darin steckenden Subjekts, das das Haus vor allem anstelle des Kopfes wie ein Schneckenhaus mit sich herumträgt, sein nackter Unterkörper darin jedoch keinen Schutz finden kann. Das Haus erscheint stattdessen teils als Kopfersatz, teils als Panzer, weniger in seiner Funktion als Schutz und Rückzugsort denn vielmehr als Gefängnis gerade jenes Körperteils, des Kopfes, der für das Selbstverständnis des Subjektes so bedeutend ist.3 Andererseits wird das Haus selbst zu einem Körper, seine Fassade wird mit den weiblichen Geschlechtsmerkmalen gekennzeichnet, die auch als Gesicht der Fassade gesehen werden können, wodurch diese eine Physiognomie erhält (Abb. 2).
Abb. 1:
Abb. 2:
Fallen Woman (Femme Maison)
Femme Maison
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Das Haus als Körperteil und Obsession
Bevor ich im Folgenden die Beziehung von Haus und Subjekt im Werk von Louise Bourgeois vertiefen werde, seien ein paar methodische Vorbemerkungen gemacht: Es ist immer wieder betont worden, dass Louise Bourgeois mit ihren Werken ihre eigene Autobiographie verarbeitet hat. Dies, so könnte man meinen, eigne sich besonders für unsere Fragestellung, doch ist hier meiner Ansicht nach Vorsicht geboten. Die Insistenz, mit der die Künstlerin auf ihre persönlichen Erfahrungen festgelegt wird, hat dazu geführt, dass ihr Werk häufig als eine reine Erinnerungsarbeit ihrer persönlichen Traumata gedeutet wird. Dazu hat die Künstlerin zwar immer wieder selbst beigetragen: Von den Dreharbeiten des noch kurz vor ihrem Tod von Marion Cajori und Amei Wallach gedrehten Films Louise Bourgeois. The Spider, the Mistress and the Tangerine ist ein Statement der Künstlerin über ihr Schaffen überliefert, das genau diese enge Verbindung ihrer Gefühlswelt zu ihren Werken in den Mittelpunkt stellt. Von ihren Gefühlen sagt sie: „My emotions are impropriate to my size, so they bother me and I have to get rid of them. My emotions are my demons.“4 Auch an anderer Stelle hat sie konsequent von ihrer künstlerischen Arbeit als einer Materialisierung ihrer Gefühle gesprochen, allerdings auch darauf hingewiesen, dass es sich um ihre Verarbeitung durch Abstrahierung in der Form handelt.5 Insofern kann davon ausgegangen werden, dass gerade die vielfältige Thematisierung des Hauses im Schaffen der Künstlerin autobiographisch zu verstehen ist. Gleichwohl birgt diese Deutung die Gefahr, eine zweifelhafte Tradition der Auslegung des Werks von Künstlerinnen als direkten Ausdruck ihres Gefühlslebens unreflektiert fortzuschreiben. Schon Vasari behauptete in der Lebensbeschreibung der Properzia de’ Rossi aus Bologna in einem wirkmächtigen Passus seiner Viten, die Bildhauerin habe in dem Relief des Josephs mit der Frau des Potiphar ihr eigenes Begehren eines Angebeteten, der sie jedoch nicht beachtet habe, gestillt, weshalb das Relief so besonders gut gelungen sei.6 Berücksichtigt man jedoch, dass die Autobiographie immer auch ein Medium ist, mit dessen Hilfe sich eine Person überhaupt als Subjekt konstituiert,7 ist zu fragen, welchen Subjektbezug Bourgeois’ Arbeiten eigentlich nahelegen, ob also ihre autobiographischen Verweise im Dienst ihrer Selbstinszenierung durch das Haus stehen oder ob hier nicht von einem differenzierten Subjektverständnis auszugehen ist. Wie zu zeigen sein wird, inszeniert sich die Künstlerin durch ihre Auseinandersetzung mit dem Haus nicht im Sinne einer Selbststilisierung (self fashioning), sondern im Sinne einer Auseinandersetzung mit ihrer Kindheit und den diese bestimmenden Figuren des Vaters und der Mutter. Diese Prämissen vorausgeschickt wird es mir im Folgenden darauf 251
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ankommen, der Rolle des Raums für die Inszenierung autobiographischer Bezüge als auch der Schnittstelle zwischen diesen und verallgemeinerbaren, in den bildnerischen Traditionen stehenden Aspekten ihres Schaffens nachzugehen. Wie einleitend also bereits angemerkt, weisen die frühen Femmes Maisons (Abb. 1) auf ein eher problematisches Verhältnis zwischen der Frau und dem Haus hin, denn dieses mutiert einerseits zu einem Körperteil, andererseits profitiert es aber von deren Erotik, die auf das Haus übergegangen zu sein scheint. Nicht nur folgt der Sockel des Hauses mit seiner zentralen Treppe und Bogenöffnungen den Rundungen des weiblichen Körpers, auch sind die Brüste Bestandteil des Untergeschosses, in dessen Mitte eine Tür den leichten und unverstellten Zugang zu diesem Hauskörper (Abb. 2) andeutet. Zugleich bietet sich aber auch eine andere Lesart an. Die Geschlechtsmerkmale verleihen dem Haus nämlich ein Gesicht, wodurch seine Fassade anthropomorphe Züge erhält. Diese Vorstellung eines vermenschlichten, mit einer Physiognomie versehenen Hauses, die etwas über seinen Charakter aussagen kann, lässt sich bis ins 18. Jahrhundert nachweisen und zeugt davon, wie verankert eine anthropomorphe Fassadenbetrachtung in unserer visuellen Kultur ist.8 Dieses freundliche Haus wird getragen von dem Frauenkörper und ist mit ihm eine unauflösliche Verbindung eingegangen. Betrachtet man das Gemälde jedoch aus der Warte der Frau, so erscheint das Haus als ein Ersatz des Kopfes, der es seiner Trägerin nicht gestattet, eine direkte Beziehung zu ihrer Außenwelt aufzubauen. Ihr Kopf verschwindet ganz und gar hinter der Fassade des Hauses und verhindert jede direkte Kontaktaufnahme mit ihrem Gegenüber. Noch deutlicher ist dieser Aspekt auf dem Gemälde im Privatbesitz (Abb. 1), auf dem eine ähnlich behauste Frau einer Blume gegenübersteht, von deren Besitzer sie jedoch sogar eine rote Wand trennt. Somit handelt es sich bei dieser Femme Maison offenbar einerseits um eine Isolierung der Frau und andererseits zugleich um eine Erotisierung des Hauses. Wie im Titel schon nahegelegt, ist man geneigt, in dieser Verbindung von Frau und Haus eine Anspielung auf die „Hausfrau“ zu sehen, deren Gedanken und Gesichtskreis dem Haus wie in einem Gefängnis verschrieben sind. Erst relativ spät in den frühen 1990er Jahren bildet die Künstlerin das Haus ihrer Kindheit in Choisy-le-Roi (Abb. 3) modellhaft nach und stellt es jedoch hinter einen hohen Maschenzaun und unter eine Guillotine, wodurch sie sich ihrer Herkunft versichert, die sie nicht nur durch den Zaun ins Unerreichbare
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Abb. 3: Cell (Choisy)
Abb. 4: The Institute
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rückt, sondern das aus Marmor gehauene Modell des Hauses zugleich als ein extrem bedrohtes Objekt begreift.9 Zehn Jahre später wird sie dann ein weiteres Haus, das in ihrem Leben eine bedeutende Rolle gespielt hat, in einer ihrer Cells ausstellen. Diesmal handelt es sich jedoch um das Institute of Fine Arts in New York, das sie in Silber präzise nachgebildet und von Spiegeln umgeben als The Institute inszeniert hat (Abb. 4). Auch dieses Haus trägt autobiographische Züge, denn ihr Ehemann Robert Goldwater unterrichtete hier lange Jahre.10 Rein formal gesehen hat die Installation des Hauses von Choisy-Le-Roi viel mit den ebenfalls zu Beginn der 1990er Jahre entstandenen Cells gemeinsam, zu denen auch Choisy zählt. Die meisten anderen präsentieren jedoch nicht mehr autobiographisch besetzte Häuser im Miniaturformat. Stattdessen handelt es sich nun um mit unterschiedlichen Materialien gebaute und begrenzte Räume, die zum Teil abgeschlossen, zum Teil einseh- und sogar begehbar im Ausstellungsraum präsentiert werden und damit einen eigenen Raum im Raum einnehmen. Diese Cells wurden auf runden, rechteckigen oder polygonalen Grundrissen in einer Höhe, die über die einer Person hinausreicht, errichtet und unterscheiden sich voneinander durch ihre Ausstattung, die ihnen erst eine bestimmte Funktion oder Eigenheit verleiht. In vielen Fällen, wie insbesondere in den beiden Red Rooms von 1994, gehen die Räume nicht nur ineinander über, sondern es wird auch deutlich, dass es sich um Kernräume eines Hauses handelt, denn sie sind den Eltern (parents) (Abb. 5) und dem Kind (child) (Abb. 6) gewidmet und entsprechend eingerichtet.11 Während der elterliche Raum (Parents Room) als geschlossenes Polygonal ein mit einer roten Platte und roten Kissen bedecktes Bett beherbergt, ist die Einrichtung des Child Room abstrakter und zeichnet sich durch rote Plastiken ineinander liegender kleiner und großer Fadenrollen aus. Die Bedeutungsschichten des Elternschlafzimmers liegen offen zu Tage. Das Bett und die rote Farbe weisen den Raum als Ort der elterlichen Sexualität, der Zeugung, aus und machen ihn damit zum zentralen Raum des Hauses. Die rote Farbe ist dabei nicht allein die Farbe der Sexualität, sondern vor allem auch die Farbe des Blutes, die sich deshalb auch im Kinderzimmer wiederfindet. In der Deutung der Künstlerin ist der Ort des Elternschlafzimmers deshalb so zentral, weil hier Kinder gezeugt werden und in der Vereinigung von Mann und Frau die Keimzelle nicht nur der leiblichen, sondern eben auch der seelischen Verfasstheit des Kindes durch das Konfliktpotenzial der elterlichen Beziehung liegt. Dabei wird dieses Kon-
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Abb. 5: Red Room: Parents
Abb. 6: Red Room: Child
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fliktpotenzial durch den Pistolenkoffer auf dem Bett angedeutet. Die geradezu banale Zeichenhaftigkeit der roten Farbe und des Kissens mit der Aufschrift „Je t’aime“ zielt auf die mit Ehe und Familie verbundenen Träume und reflektiert zugleich auch deren ritualisierte Armut und Beengtheit. Der Red Room des Kindes löst dagegen keine so eindeutigen Assoziationen aus, muss aber ebenfalls als Keimzelle des Lebens angesehen werden. Interessant ist, dass neben den Handplastiken, die die Eingebundenheit des Kindes in die Hände der Mutter oder des Vaters darstellen,12 überall kleine und große rote Fadenrollen aufgestellt sind. Auch der Maschendraht, der dem Betrachter den Blick ermöglicht, ihn von dem Raum jedoch ebenso ausgrenzt, entpuppt sich so als ein mit einem eisernen Faden gewebter Vorhang. Doch ist aus dem Raum selbst kaum zu verstehen, was in einem Kinderzimmer Fadenrollen zu suchen haben. Sie provozieren Assoziationen mit der Nabelschnur oder auch mit dem Ariadnefaden, der aus dem Labyrinth hinausführen soll. Die rote Farbe der Fäden bringt dabei die Zeichenhaftigkeit der Farbe Rot als Farbe des Blutes mit der alten, auf den Mythos der Parzen zurückgehenden Bedeutung des Fadens als Lebensfaden zusammen. Das Kinderzimmer entpuppt sich damit als Ort, an dem das Leben gesponnen wird, die Fäden als Bestandteile eines Lebens, das von hier ausgehend gewebt wird. Viele andere Installationen, die teilweise auch als Einrichtungsgegenstände einer Zelle dienen, nehmen diese Thematik des Gewebes auf. Dies ist vor allem in den Installationen mit Kleidern der Fall, die – wie in dieser Zelle hier – an Bügeln aufgehängt inszeniert werden. Auch in der häufigen Verwendung des Maschendrahts als Begrenzung einer Zelle, die sie zu einem Käfig macht, wird das Spiel mit den Fäden und Geweben wiederaufgenommen, die hier jedoch nicht weich, sondern fest sind. Louise Bourgeois tritt dabei auch mit neuen Techniken der Produktion hervor und schafft gestrickte Puppen, die zum Teil in den Zellen ausgestellt werden.13 Für die Künstlerin erhalten die Zellen jedoch nicht allein eine Bedeutung durch die von ihr in der Zelle platzierten Objekte, sondern wollen diese vor einer musealen Präsentation in „schönen Räumen“ bewahren, sind also als Versuch anzusehen, Objekte und Raum miteinander zu verschmelzen, womit der so erschaffene Raum selbst zu einem Kunstraum beziehungsweise zu einer begehbaren Skulptur wird. Als solche entsprechen sie jedoch keiner linearen Ordnung, sondern eher einem Labyrinth.14 Die Zellen stellen daher eine räumliche Inszenierung der Objekte dar, die es erlaubt, ihnen einen Ort in einem komplexen Verweissystem aus gesellschaftlichen wie autobiographischen Assoziationen zu geben. Ohne die Objekte sind die Zellen neutral, mit ihnen 256
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können sie sowohl zu Schutzräumen als auch zu Gefängnissen werden. Die Künstlerin versteht diese Räume jedoch nicht als leere Räume wie den euklidischen Containerraum, sondern durchaus auch als biologische Zellen, wenn auch nicht formgebend im Sinne biomorpher Formen, sondern in der Bedeutung eines aktiven Potenzials der Clusterung.15 Jede einzelne Zelle besitzt einen kreisrunden oder eckigen Grundriss und schließt in sich alle hier aufbewahrten Gegenstände ein. Dabei verweisen diese Gegenstände immer auch auf das Subjekt als Bewohner des Hauses, das wie in den frühen Bildern als Körper und Gefängnis zugleich wahrgenommen wird. In dieser Rückbindung des Subjekts an das Haus, die ja bereits die frühen Femmes Maisons auszeichnet, werden die Zellen nicht nur zu Orten des Schmerzes und der Erinnerung, wie dies die Künstlerin behauptet hat, sondern zu Keimzellen des Subjekts und der menschlichen Gemeinschaft respektive Gesellschaft. Ein besonders wichtiger Aspekt dieser Zellen ist zudem das Spiel, das die Künstlerin zwischen Innen und Außen, Abgrenzung und Durchlässigkeit, Betrachten und BetrachtetWerden inszeniert. Trotz der vielen persönlichen Kommentare finden sich in den Zellen mit Ausnahme der beiden Häuser in Choisy und The Institute scheinbar keine persönlichen Verweise. Die autobiographische Besetzung der Cells als Räume eines Hauses ist daher weniger darauf ausgerichtet, ein persönliches Narrativ in Szene zu setzen. Vielmehr ranken sich autobiographische Erzählungen der Künstlerin um ihre skulpturalen Räume, die jedoch zugleich auch auf die Aktualisierung existenzieller Erfahrungen in den Betrachterinnen und Betrachtern zielen. Entscheidend für unsere Frage nach dem Verhältnis von Raum und Autobiographie ist hier vor allem, das Verhältnis von Zellen und Subjekt zu bestimmen. Stellt die Autobiographie zumeist einen Ermächtigungsgestus des Subjekts über die Erzählung seines Lebens dar, so repräsentieren die Zellen weder ein mit sich selbst identisches Subjekt noch dessen Maskierung, sondern inszenieren stattdessen kindlich-existenzielle Erfahrungen, die für das Subjekt von grundlegender Bedeutung waren. Diese werden durch Raumeigenschaften und Objekte im Raum erinnert. Mieke Bal hat in diesem Zusammenhang die Freud’sche Vorstellung eines geteilten Subjekts in die Diskussion miteingebracht, das nicht „Herr seines oder ihres Hauses“ ist. Obgleich die Zellen in einem primären Sinne schutzgebende Architekturen repräsentieren, sind sie zugleich auch das Haus des freudianischen Subjekts, das dieses nicht beherrscht, von ihm aber in einer sehr grundlegenden Weise bestimmt wird.16
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Gegen Ende der 1990er Jahre entwickelt Bourgeois dann mit Spider, der großen, auf langen spitzen Beinen stehenden Spinne, ihre erfolgreichste Skulptur, die im Zusammenhang mit ihren Zellen entstand. In einer Spider-Installation aus dem Jahr 1997 (Abb. 7) steht eine gigantische Spinne über einer Zelle aus Maschendraht, die sie zu bewachen scheint, so als habe sie sie gerade ausgebrütet. Ihr kleiner (Rest-)Körper, an dessen unterer Seite in einem Drahtkorb Eier sichtbar werden, ragt tief in den Käfig hinein und schließt ihn nach oben hin geradezu hermetisch ab. Die Zelle selbst ist mit einem im Zentrum aufgestellten, mit einem Webteppich bedeckten Sessel sowie Resten einer auf Rahmen gespannten Tapisserie möbliert. Auch am Zugang des Käfigs ist eine Tapisserie angebracht. Darüber hinaus stecken an verschiedenen Stellen ausgehöhlte Knochenstücke im Maschendraht. Im Inneren lassen sich umgedreht auf den umlaufenden verstärkenden Draht gestülpte Gläser sowie eine an einer Kette hängende Uhr und ein Parfumfläschchen der Marke Guerlain ausmachen. Anders aber als natürliche Spinnennetze fängt der Spider seine Beute nicht auf dem Netz, sondern beschützt den Inhalt des zu einem Käfig gewordenen Netzes. Dieser Käfig wird daher weniger als Gefängnis als vielmehr als behüteter Raum wahrgenommen. Auch im Bedeutungskosmos der Künstlerin ist die Spinne eindeutig positiv konnotiert. Statt die Gefahren, die von diesem Insekt ausgehen können, zu thematisieren, hat sie mehrfach die Schutzfunktion des Spinnennetzes unterstrichen und sich auch in anderen Medien mit diesem Tier auseinandergesetzt. Explizit hat sie das Tier als Metapher für ihre geliebte Mutter gedeutet.17 In der von mir beschriebenen Zelle geht nun die Spinne eine enge Verbindung mit dem darunter stehenden Käfig ein. Mieke Bal hat besonders dieses Objekt unter den Cells von Louise Bourgeois als ein „theoretical object“ in den Mittelpunkt einer Analyse über Beschreibung und Erzählung gestellt.18 Habe ich bisher die Zellen in erster Linie als Behälter betrachtet und ihre Gegenstände beschrieben, die sie wie Attribute zu definieren scheinen, möchte ich mich nun auf die besondere Art der Konstruktion dieser Räume und insbesondere der Spider-Zelle konzentrieren, die meiner Ansicht nach entscheidend für das uns vor Augen stehende Innenleben eines Hauses ist. Auffallend sind die Parallelen zwischen den Objekten, die von den Zellen geborgen werden, und dem Konstruktionsprinzip ihrer Hüllen. So wählte die Künstlerin für ihre Zelle Precious Liquids zum Beispiel einen großen Holzbottich als Behälter ihrer bauchigen Gefäße aus Glas, der in seinem Inneren auf die Bewahrung 258
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kostbarer Flüssigkeiten verweist und damit deutlich eine Analogie zum Körper nahelegt. Demgegenüber ist die vom Spider überwölbte Zelle, die zudem noch mit Stücken von Tapisserien ausgestattet ist, aus Maschendraht. Tatsächlich haben der Draht des Käfigs und die Fäden, aus denen die Tapisserien sind, nicht nur ihr Geflecht gemein, sondern auch den ihnen zugrundeliegenden Draht beziehungsweise Faden. Dieser ist letztlich aber das Produkt der Spinne, die ihre Netze aus sich selbst heraus produziert.
Abb. 7: Spider, 1997 Es fragt sich natürlich, wieso Louise Bourgeois diese Art von Gewebe so sehr hervorhebt. Eine Antwort darauf ist sicherlich, dass sie an einem aus Fäden bestehenden Gewebe die labyrinthähnliche, unauflösliche Verschränkung der Drähte und Fäden interessiert haben dürfte, die für ihr Thema, die Keimzellen des Lebens, insofern bildhaft ist, als eben dieses, sich in den Zellen entfaltende Leben nicht mit einem Schlag nach einem klaren Plan konstruiert werden kann, sondern einem langsamen Werden unterliegt. Die Künstlerin hat ihr Interesse am Spinnen und Weben aber vor allem immer wieder auf ihre Mutter zurückgeführt, denn diese war mit dem Herstellen von Tapisserien beschäftigt. Insofern kann man auch das Weben als Ausdruck oder Theatralisierung der Kindheitsmuster der Künstlerin verstehen, 259
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denn Louise Bourgeois hat immer wieder auf die Verarbeitung der Bedeutung ihres Vaters und ihrer Mutter hingewiesen, mit deren geschlechtsspezifischen, immer auch sehr persönlich konnotierten Eigenschaften sie sich fortwährend auseinandergesetzt hat.19 Nun war die Figur ihrer Mutter im Erleben ihrer Tochter nicht nur eine starke Frau, die in der Lage war, trotz widriger Umstände ihre Familie zusammenzuhalten. Sie war es auch, die Tapisserien reinigte und restaurierte, so dass die Tapisseriereste in dieser und vielen anderen Zellen ebenfalls einen doppelten Verweischarakter besitzen: Zum einen deuten sie auf den Ort dieser Produktion und damit auf das Elternhaus der Künstlerin hin und zum anderen auf die mütterliche Tätigkeit als Weberin und Stickerin beziehungsweise Flickerin. Louise Bourgeois repräsentiert in der Zelle mit dem Spider also nicht mehr wie zuvor ihr Elternhaus in Choisy-le-Roi, sondern „rekonstruiert“ das Flechtwerk ihrer Mutter, dessen Gewebe die Arbeit mit Nadel und Faden der Mutter reinszeniert und damit auch der übermächtigen Präsenz der Mutter eine räumlich-bildliche Präsenz verleiht. Durch die Konnotation des Spiders, der Fäden und des Maschendrahtes als mütterliche Elemente wird das Haus dieser Zelle zu einem von der Mutter geprägten, behüteten, aber auch vereinnahmten Ort. Nun lässt sich dieser Ort durch diese Reminiszenzen an die Mutter vor allem durch die Tapisseriereste, die die Arbeit der Mutter im Heute präsent halten, autobiographisch deuten.20 Als Reste barocker Stücke, die sich vom übrigen Interieur des Käfigs als Objekte absetzen und die die Zeit nicht ohne Schäden überstanden haben, verweisen sie aber auch in einem allgemeineren Sinne auf eine vergangene Zeit. Diese wird auch in der Uhr und den Knochenresten erfahrbar. In Spider beschränkt sich Louise Bourgeois jedoch nicht alleine auf ein Reenactment ihrer eigenen Kindheit, sondern reflektiert, wie ich meine, ebenso die Bedingungen ihres Schaffens und dessen Historizität. Dies betrifft nicht zuletzt auch das Gewebe, den Maschendraht, der in seiner Machart, wiewohl aus Draht bestehend, deutlich eine Nähe zu anderen, aus weichen Fäden bestehenden Geweben besitzt, die historisch gesehen zu den weiblich konnotierten künstlerischen Materialien und Techniken zu rechnen sind. Die Technik des Webens wie überhaupt die Gestaltung mit dem Faden und damit mit Stoffen steht zweifellos in einer weiblich-mythischen Tradition. So berichtet Giovan Pietro Bellori etwa über die Mutter des aus Antwerpen stammenden Anton van Dyck, sie habe Tapisserien, mit denen der Vater gehandelt habe, bestickt. Er adelt diese Tätigkeit, indem er behauptet, sie habe „mit der Nadel gemalt“.21 Es ist meiner Ansicht nach zudem nicht unwahrscheinlich, dass sich Louise 260
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Bourgeois bei der Erfindung der Figur der großen Spinne des alten Wettstreits bewusst war, den die stolze Weberin Arachne gegen die Göttin Minerva auszufechten hatte, weil die Göttin sich von der geschickten Frau herausgefordert sah, wie dies in Ovids Metamorphosen nachzulesen ist.22 Die stolze Jungfrau Arachne hatte Ovid zufolge Minerva den Rang im Weben streitig gemacht. Von der Göttin herausgefordert brachte sie in der Technik des Webens herrliche Bilder hervor, die den Neid Minervas erregten. Da sie Arachne nicht besiegen konnte, verwandelte sie die Künstlerin in eine Spinne mit kleinem Leib. Doch konnte auch diese Verwandlung, die der Jungfrau aus Makedonien ihre schöne Gestalt raubte, sie nicht von der Arbeit abhalten, denn, so fügt Ovid seiner Beschreibung dieser Verwandlung des Körpers in einen Restleib hinzu: „doch siehe! Sie lässt einen Faden ihm entquellen: die frühere Webkunst übt sie als Spinne.“23 Die in eine Spinne verwandelte Arachne wird also bereits von Ovid als gedemütigte Künstlerin beschrieben, die ähnlich dem Prometheus ihre Kunst gegen den Willen der Götter ausübte und die Stirn besessen hatte, in einem Wettstreit die Göttin Minerva zu überbieten, wofür sie schließlich mit der Verwandlung ihrer Gestalt zu bezahlen hatte. Spider inszeniert genau diese mythische Ahnin der Künstlerin, die zugleich ihre Mutter als auch sie selbst als Nachfahrin und Tochter der Arachne verkörpert. Spider Arachnes Werk ist die Zelle, wie auch die sich darin befindlichen Bilder. Die Erzählung Ovids ist bei Künstlern nicht unbeachtet geblieben. Besonders im 17. Jahrhundert war sie Gegenstand der Malerei. Sowohl Rubens als auch Velazquez haben den Wettstreit zwischen der jungfräulichen Weberin Arachne und der Göttin Minerva gemalt.24 Insbesondere Velazquez hat die Technik des Spinnens und Webens in seinem großformatigen Gemälde Las Hilanderas im Prado zum Thema gemacht. Während die Frauen im Vordergrund des Gemäldes den für das Gewebe benötigten Faden, der auch hier die Konnotation eines Lebensfadens besitzt,25 spinnen, sind im Hintergrund bereits fertige Tapisserien zu sehen. Die zentrale Tapisserie, vor der die beiden ungleichen Frauen stehen, zeigt Tizians Raub der Europa. Auch wenn Velazquez mit dieser Übermalung der Erzählung Ovids die Malerei selbst als Gewebe deutet,26 ging weder Rubens noch Velazquez so weit, die Verwandlung der Arachne in das hässliche Insekt darzustellen. Louise Bourgeois’ Rekurs auf diese Erzählung stellt im Unterschied zu diesen illustren Vorbildern gerade nicht den ungleichen Wettstreit und die aus diesem Anlass produzierten Bilder in den Vordergrund, sondern die trotz ihrer Bestrafung weiter produzierende, gedemütigte Künstlerin, die nunmehr aus ihrem Leib heraus den Faden presst, 261
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ein Vorgang, der nicht zuletzt dem der Geburt eines Kindes gleicht. Spider Arachne ist daher Mutter und Künstlerin zugleich, ihr Werk ist der von ihr geborene Faden, mit dem sie webend gestaltet. Nun lässt sich zwar feststellen, dass Louise Bourgeois das Thema des Hauses als Schutz und Aneignung, als Körperersatz und Erinnerungsort seit den Femmes Maisons der 1940er Jahren immer wieder aufgegriffen hat. In den Zellen, die sie seit den frühen 1990er Jahren baut, setzt sie Räume eines Hauses dreidimensional um und verleiht ihnen wechselnde Bedeutungen, ohne dabei aber allein auf eine Zeichensprache zu setzen. Diese Schutzräume oder bedrohlich abgesperrten Einheiten evozieren durchaus unterschiedliche emotionale Reaktionen. Obgleich sich alle Cells auf eine Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Mutter oder aber mit ihren Eltern zurückführen lassen, sperren sie sich als Gegenstand einer dezidiert autobiographischen Inszenierung ihrer eigenen Person. Vielmehr setzen sie ein im psychoanalytischen Sinne geteiltes Subjekt voraus, das in diesen Räumen der eigenen Prägung nachspürt. Inszeniert wird in Spider Cell die Erinnerung an die eigene Mutter, die selbst Tapisserien reparierte und daher als die eigentliche Künstlerin des Hauses angesehen werden muss. In der Auseinandersetzung mit dem Werk der Spinne und ihrer mythischen Vorgängerin Arachne stellt Louise Bourgeois ihr eigenes Schaffen jedoch nicht allein in die Tradition der Tätigkeit ihrer Mutter, sondern schließlich in die der bestraften Künstlerin, die ihrer Strafe zum Trotz einen Faden produziert und aus ihm ein dichtes Gewebe flicht.
Anmerkungen 1 2 3
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BADET, 2007. BERNADAC/STORSVE (Hg.), 2008. STORR u.a., 2003, S. 49-51. Hier werden die Femme Maison-Gemälde als Vorläufer der großen begehbaren Haustürme I Do, I Undo, I Redo (19992000) gesetzt, die sie für die Inauguration der Ausstellung in der Tate Modern baute. Vgl. auch BERNADAC/STORSVE (Hg.), 2008, S. 142-146. CAJORI/WALLACH, 2008. Vgl. auch Louise Bourgeois, 1991: „The subject of pain is the business I am in. To give meaning and shape to frustration and suffering. What happens to my body has to be given a formal abstract shape. So you might
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say, pain is a ransom of formalism.“, in: CRONE/SCHAESBERG, 2008, S. 81. Vgl. hierzu JACOBS, 1993, S. 122-132 und DIES., 1997. WAGNER-EGELHAAF, 2005. Vgl. hierzu das Traktat, auf das mich dankenswerterweise Henry Keazor aufmerksam gemacht hat: Untersuchungen über den Charakter der Gebäude; (ANONYMUS, 1788). Die Skulptur (1990-1993, Fondation d’art Ydessa Hendeles, Toronto) besteht aus einer Miniatur des Elternhauses, das die Eltern von 1912-1918 in der Avenue Villeneuve-Saint-Georges in Choisy-Le-Roi im Süden von Paris mieteten. Hier richteten sie eine Reparaturwerkstatt für Tapisserien ein. Louise Bourgeois hat es aus roséfarbenem Marmor nachgebildet und zeigt es in einem Käfig, über dem ein Fallbeil angebracht ist. Es trägt den Namen Cell (Choisy). Vgl. hierzu RINDER, 2008 und STORSVE, 2008. The Institute, 2002, Silber, Institute of Fine Arts, New York University. Diese Skulptur besteht aus einem aus Silber gefertigten Modell des Institutes of Fine Arts, in dem der Ehemann von Louise Bourgeois, Robert Goldwater, lehrte. Das Architekturmodell ist in einen aus Maschendraht bestehenden Kubus gestellt. Drei bewegliche Spiegel an den Seiten und an der Abdeckung spiegeln das Gebäude. Linda Nochlin hat das Abweisende und Geschlossene dieses Hauses hervorgehoben, das so isoliert erscheint, weil es in einem Reliquiar aus Draht präsentiert wird. Vgl. hierzu NOCHLIN, 2008, S. 166f. CRONE/SCHAESBERG, 2008, S. 99-104. Vgl. Cellules (Tu ferais mieux de grandir), hierzu BOURGEOIS, 2000, S. 239-241. Vgl. hierzu NOCHLIN, 2008, S. 160-166. „[Q]uand j’ai commencé à faire les Cellules, je voulais créér ma propre architecture et ne pas dépendre de l’espace du musée pour adapter son échelle à celui-ci. […] Lorsque j’ai montré les Cellules pour la première fois, elles fonctionnaient come un labyrinthe d’une cellule à l’autre.“, Entretien avec Suzanne Pagé et Béatrice Parent, Paris 1995, in: BOURGEOIS, 2000, S. 310-316, hier S. 312. Ebd., S. 311. Auf die Frage, ob die Zellen für Louise Bourgeois auch eine Beziehung zur Biologie haben, antwortet sie: „Oui bien sûr. Il y a aussi les cellules du sang, qui sont plutôt à l’opposé car elles tendent à se grouper d’abord, puis à se joindre.“ 263
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16 BAL, 2001, S. 37f. Bal bezieht sich hierbei jedoch nicht auf eine eigene Interpretation von Freud, sondern auf das psychoanalytische Lexikon von Laplanche und Pontalis, vgl. LAPLANCHE/PONTALIS, 1998. Louise Bourgeois hat sich einer Psychoanalyse nach dem Tod ihres Vaters unterzogen und kannte die einschlägige Literatur. Vgl. hierzu KUSPIT, 2008, S. 120, Anm. 135; zur Subjekttheorie vgl. auch RECKWITZ, 2006. 17 Vgl. hier vor allem Ode à ma mère, ein Gedicht mit neun Graphiken, in: BERNADAC/STORSVE (Hg.), 2008, S. 335-339. 18 BAL, 2001, bes. S. 9-30. 19 HERKENHOFF, 2008 deutet die Faszination für die Nadel psychoanalytisch als Versuch der Wiederherstellung. Hier auch ein Hinweis auf die ca. 2,77 m hohe Skulptur Needle, die eine hängende Nadel mit Faden darstellt. 20 Mieke Bal nennt die vorausgehende Erzählung „anteriority narrative“, die sich jedoch im Hier und Jetzt verkörpert, vgl. BAL, 2001, S. 51-60. 21 BELLORI, 1976, S. 1: „la madre si impiegava nel ricamo e dipingeva con l’ago, formando paesi e figure con opera di punto.“ 22 Metamorphosen 6, 1-147; OVIDIUS 1977, S. 180-185. 23 Ebd., S. 185 (Metamorphosen 6, 144f.). 24 Peter Paul Rubens, Wettstreit zwischen Minerva und Arachne, Ölskizze. Zum Gemälde, das für die Torre de la Parada in Madrid bestimmt war, vgl. HELD, 1980, Bd. 1, S. 258-260. Diego Velazquez, Spinnerinnen und der Teppich mit Minerva und Arachne, Öl auf Leinwand, 220 x 289 cm, Madrid, Museo del Prado. Vgl. auch die Illustration in DOLCE, 1568. Weitere Beispiele, die für die Bekanntheit und Beliebtheit des Sujets in der frühen Neuzeit sprechen in WARNKE, 2005, S. 146f., zur Forschungsgeschichte des Gemäldes von Velazquez ebd., S. 147-152. 25 Aufgrund der drei im Vordergrund an den Spinnrädern platzierten Frauen liegt die Assoziation an die Parzen nahe. 26 HELLWIG, 2006; KNOX, 2009; GEORGIEVSKA-SHINE, 2010.
L it e r a t u r ANONYMUS, Untersuchungen über den Charakter der Gebäude, über die Verbindung der Baukunst mit den schönen Künsten und über die Wirkungen, welche durch dieselben hervorgebracht werden sollen, Leipzig 1788. 264
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Corps de songes/Corps de cauchemars? David Finchers Film ›Panic Room‹ HENRY KEAZOR
Film und Architektur sind sozusagen Verbündete in einer Allianz, die seit Anbeginn des Films besteht, und auch wenn es hierbei notwendig ist, reale, für das Alltagsleben und die tägliche Benutzung gebaute Architektur von den für die Fiktion des Films errichteten, zumeist ephemeren Bauten zu unterscheiden, so gibt es doch auch immer wieder Fälle, in denen entweder Bezüge zwischen realer und Film-Architektur (etwa wenn Letztere auf Erstere inspirierend wirkt) oder schlichtweg Parallelen zu beobachten sind: So, wie die realen Bauten unser Leben umgeben und auch prägen, so leisten die für den Film errichteten Gebäude und Räume einen wesentlichen Beitrag zum filmischen Gesamtkontext. Der französische Architekt Robert Mallet-Stevens, der sowohl Film- wie auch reale Architekturen entwarf und baute,1 ging in einem 1925 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel Le cinéma et les arts sogar so weit, die Dekors mit den Schauspielern gleichzustellen. Die gezeigte Architektur diene nicht einfach nur der Dekoration („[…] ne sert pas seulement le décor cinématographique“), sondern sie spiele, wie die Darsteller, in dem Film mit: „elle joue“.2 Jedem von uns mögen an dieser Stelle Filme einfallen, bei denen die Architektur in der von Mallet-Stevens umrissenen Weise einen großen, geradezu darstellerischen Anteil hat – David Finchers 2002 gedrehter Film Panic Room stellt jedenfalls ein prägnantes Beispiel für einen solchen Fall dar, in dem der Schauplatz, ein Haus, regelrecht mitspielt, indem es das Leben der Figuren, ihre Handlungen und Schicksale, maßgeblich prägt und auch ein Stück weit reflektiert. Das von Arthur Max entworfene und von Dan Pemberton erbaute Set3 liefert nicht einfach nur den Hintergrund bzw. die Bühne für das Gesche267
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hen, sondern es hat vielmehr einen erheblichen Anteil an der beschworenen Atmosphäre, an der Dramaturgie – und, wie wir gleich sehen werden, noch an mehr. Schon der Plot des Films erweist sich in doppelter Weise der Architektur verpflichtet, denn die Handlung spielt nicht nur fast ausschließlich an einem einzigen Ort, eben einem Haus, sondern auch die Architektur des Films, die Art, wie er gebaut ist, erweist sich als äußerst geschickt konstruiert und ausgeführt.4 Meg Altman (gespielt von Jodie Foster), die frisch von dem berühmten Pharmazeuten Stephan Altman geschiedene, nun allein erziehende Mutter der elfjährigen Sarah (dargestellt von Kristen Stewart), zieht mit dieser von Greenwich, Connecticut, in ein großes Haus in der New Yorker Upper West Side. Gleich in der ersten Nacht dringen Einbrecher in das Haus ein, vor denen Meg sich gemeinsam mit Sarah im letzten Moment in einen „Panic Room“ retten kann, eine Art Bunkerraum inmitten des Hauses, der mit mehreren Zentimeter dicken Stahlbetonwänden, Überwachungsmonitoren, separater Belüftung und eigenem Telefonanschluss vor Verbrechern schützen soll. Kaum wähnt Meg sich dort sicher, erfährt sie jedoch, dass die Einbrecher es auf etwas abgesehen haben, das sich eben gerade in diesem „Panic Room“ befindet. Der Vorbewohner hat sein Vermögen dort versteckt, einer seiner Familienangehörigen, genannt Junior (gespielt von Jared Leto), hat davon erfahren und bricht nun zusammen mit einem Sicherheitstechniker (Forest Whitaker) und einem Bewaffneten (Dwight Yoakam) in das Haus ein, um den dort versteckten Schatz zu heben. Die ersten zwei Drittel des Films bestehen daher im Wesentlichen aus den Versuchen der Einbrecher, Meg aus dem „Panic Room“ herauszulocken und zu -zwingen sowie aus der daraus resultierenden Spannung. Denn obgleich Meg diesen Versuchen standhalten muss, würde sie den „Panic Room“ aus gleich zwei Gründen nur allzu gerne verlassen. Erstens leidet sie unter Platzangst und zweitens ist ihre Tochter Diabetikerin, die daher zunehmend dringender eine Injektion des im Schlafzimmer deponierten InsulinBestecks benötigt. Mutter und Tochter sind also zwar sicher, aber eingeschlossen, sie müssen daher verzweifelt versuchen, an den sie belauernden Einbrechern vorbei entweder mit um Hilfe ersuchenden Botschaften oder aber sogar körperlich ins Freie zu dringen. Die Einbrecher wiederum sind – paradoxerweise für ihr Metier – ausgeschlossen und hilflos bei dem Versuch, in den „Panic Room“ einzudringen.
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David Finchers Film ›Panic Room‹
Ziemlich genau nach den ersten zwei Dritteln des Films kehrt sich diese Konstellation dann um. Als Meg für einen Moment den „Panic Room“ verlässt, um das inzwischen dringendst erforderliche Insulin-Besteck zu holen, nutzen die von ihr in einem anderen Bereich des Hauses gewähnten Einbrecher dies, um in den „Panic Room“ einzudringen und sich dort gemeinsam mit Sarah zu verschanzen. Nun sind sie mit ihr eingeschlossen und können in aller Ruhe die anvisierte Beute bergen, während Meg ausgeschlossen ist. Zugleich muss diese jedoch bereits für den Augenblick vorausplanen, in dem die Einbrecher mit Sarah als Geisel den „Panic Room“ verlassen werden, um zu fliehen, denn sie ahnt, dass die Diebe (und hier insbesondere der sich als zunehmend labil und gewalttätig erweisende, bewaffnete Raoul) sie als Zeugen nicht am Leben lassen werden. Der Plot des Films baut also auf einer Reihe von Ambivalenzen und Doppelstrukturen auf, die den ganzen Film und auch seine Personen durchziehen und prägen. Schon der Schauplatz, das Haus, ist quasi doppelt codiert: Das von ihr zu bewohnende Haus, so erfährt Meg bei einer Führung durch einen Makler zu Beginn des Films, sei eine ungewöhnliche Mischung aus einem „townhouse“ und einem „brownstone“, weshalb man es in der Makler-Agentur mit dem Hybrid-Begriff „townstone“ belegt habe (0:02:32).5 Ein „townhouse“ bezeichnete ursprünglich die Residenz eines Mitglieds der Oberschicht, z.B. des Adels in einer Haupt- oder größeren Stadt; den Gegenpart zum „townhouse“ stellte das „countryhouse“ dar, in dem man sich die meiste Zeit des Jahres aufhielt, während das „townhouse“ quasi die repräsentative Vertretung in der Stadt darstellte. Ursprünglich handelte es sich bei dem „townhouse“ um ein freistehendes Gebäude, aber in Nordamerika bürgerte sich die Bezeichnung auch als Name für Reihenhäuser ein,6 und mit eben dieser Ambivalenz des Begriffsverständnisses wird in Panic Room gespielt, denn das „townhouse“ wird hier offenbar als Assoziationsträger für bestimmte Qualitätsmerkmale der freistehenden Stadtresidenz aufgerufen wie z.B. ein repräsentatives Erscheinungsbild, große Räume etc. Dies wird an dem zweiten aufgerufenen Begriff „brownstone“ deutlich, der Gebäude bezeichnet, die mit einem braunen Sandstein verkleidet sind, wobei es sich hierbei in den USA oft tatsächlich um Reihenhäuser handelt.7 Das von Meg bezogene „townstone“ soll also als ein Hybrid verstanden werden, in dem sich der Typus des „brownstone“ (das Reihenhaus) mit den Vorzügen des „townhouse“ (der freistehenden Stadtresidenz) verbindet (wie z.B. dessen vielen, großen Räumen, was im Film auch explizit thematisiert wird, wenn der durch die Wohnung führende Agent Evan darauf 269
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hinweist: „this amount of living space is extremely uncommon in Manhattan“ (0:03:07). Insofern aber bietet sich das Gebäude auch als idealer Wohnort für Meg an, die wegen der Scheidung von ihrem Mann gerade aus Greenwich weg- in die New Yorker Upper West Side, also aus einem Vorort von Milliardären und Bankern, der architektonisch durch halbhohe, z.T. aus dem 19. Jahrhundert stammende Reihen- und Einfamilien-Häuser geprägt ist, hin in einen Stadtbezirk zieht, wo zwar der gehobene Mittelstand zu Hause ist, jedoch mehrstöckige, hohe Gebäude dominieren. Mit den Worten der Maklerin gesprochen: „You can’t move from Greenwich to the Upper West Side and expect to still have a house, and a yard, and a dog and cat“ (0:03:55), aber, wie sie mit Blick auf das gerade besichtigte Haus hinzufügt: „here it is“. Das Haus erweist sich also als perfekte Synthese: „It’s got everything you told me you wanted and more“ (0:03:59), erinnert die Maklerin Meg an ihre Wünsche. Dies bezieht sich zum einen auf den Umstand, dass Meg zwar räumliche Distanz zu ihrem offenbar untreuen Mann sucht („Daddy’s banging some fucking B model on the Upper East Side“, berichtet der Kopf der Einbrecherbande Junior an einer Stelle des Films seinen Kumpanen [0:20:55]), aber keinen kompletten Neuanfang möchte, indem sie am neuen Ort einen direkten Ersatz für das bisherige Haus in Greenwich sucht. Zugleich bezieht sich der Verweis auf Megs Wünsche sicherlich auch auf ihre Platzangst, die sie eher Geborgenheit in großen Räumen finden lässt (das Haus hat 1.280 qm – erst am Ende des Films, nach den in dem riesigen „townstone“ gemachten Erfahrungen, fragt Meg, während sie mit Sarah Wohnungsanzeigen studiert, dabei aber die Upper West Side nun als Gebiet ausschließt, kritisch: „Do we need all that space?“ [1:43:35]). Bezeichnenderweise wird Megs Platzangst erstmals bei der Begehung des „Panic Room“ offenkundig, der hierbei ebenfalls seine Ambivalenz offenbart. Einerseits gewährt der Raum Schutz, fungiert als Rückzugsort („It couldn’t be any safer“, sagt der Agent und charakterisiert ihn zugleich als „A castle keep in medieval times“ [0:06:23], während Tochter Sarah mit Blick auf die sie zuweilen zu invasiv bemutternde Meg sofort entscheidet: „My room, definitely my room“ [0:07:41]). Andererseits jedoch ist man in dem Raum eingeschlossen – lebendig begraben, wie dies im Film einmal implizit unter Verweis auf Edgar Allen Poe und seine gleichnamige Erzählung, an anderer Stelle dann auch explizit thematisiert wird.8 Bezeichnenderweise ist jedoch auch Megs Verhältnis zu dem „Panic Room“ von Anfang an ambivalent: Einerseits baut sie zu dem Raum sozusa270
David Finchers Film ›Panic Room‹
gen instinktiv sofort eine engere Beziehung auf – sie ist die erste, die den Raum eigenständig und ganz von alleine entdeckt, obgleich er sich hinter einem Spiegel verbirgt (vgl. das Eingeständnis des Agenten, dass keiner seiner Kollegen etwas von dem Raum auch nur geahnt habe [0:06:15]), und in gewisser Weise kommt der Raum auch ihrem Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit entgegen (bezeichnenderweise umarmen sich Mutter und Tochter, die sich sonst körperlich eher etwas voneinander distanziert halten, auch erstmals innig, als sie im „Panic Room“ sind – und erst am Schluss, nach den gemachten und durchlebten Erfahrungen sitzen die beiden dann eng beieinander auf einer Parkbank und suchen Wohnungen). Andererseits hat Meg aufgrund der Abgeschlossenheit des Raums Angst davor, lebendig darin begraben zu werden. Der Raum ist mithin ein Spiegel von Megs Empfinden, von ihrem Bedürfnis nach Abschottung, Kontrolle (man denke an die visuellen Kontrollen, mit denen das Innere des „Panic Room“ ausgestattet ist),9 Unabhängigkeit (nicht umsonst weist der Agent auf die Autarkie hin, die der Raum seinen Insassen für eine Weile gewährt [0:06:51-57/0:07:18]) und Schutz. Zugleich jedoch reflektiert der Raum auch ihre Angst vor der damit einhergehenden Isolation von der Welt (man denke an die Szene, wo Meg und Sarah, nachdem die Telefonleitungen von den Einbrechern zerstört wurden, mit Hilfe von Morsezeichen verzweifelt versuchen, auf sich aufmerksam zu machen bzw. stumm mit den Einbrechern kommunizieren müssen). Nicht umsonst spiegelt sich Megs Gesicht erst in einem der Überwachungsmonitore wieder, als sie auf die Erzählung Poes zu sprechen kommt (Abb. 1), und sodann in dem Spiegel, hinter dem sich der „Panic Room“ bezeichnenderweise verbirgt (Abb. 2). Und als Junior, der anfängliche Kopf der Einbrecherbande, den Spiegel später in ohnmächtiger Wut zerschlägt, zeigen die Fragmente das zersplitterte Bild seines Gesichts als böse Vorahnung seines künftigen Schicksals (Abb. 3): „That’s seven years bad luck“, deutet auch der brutale Raoul dieses zerstörte Ebenbild aus (0:28:02), und tatsächlich werden erst Junior und am Schluss dann Raoul selbst mit dessen Waffe erschossen werden. Aber auch das Haus als architektonischer Komplex selbst ist insofern ein Spiegel von Megs Wünschen und Ängsten, als es, wie sie, ebenfalls von Dichotomien geprägt ist. Da sind einerseits die riesigen, offenen und weitläufigen Treppenfluchten, die jedoch von einem darüberliegenden Dachauge beobachtet werden (Abb. 4),10 sowie die zahllosen, labyrinthischen Abfolgen großer Räume, die zwar Platz bieten,11 aber auch einer gewissen Desorientierung Vorschub leisten.12 Und mitten in diesem riesigen Komplex verbirgt sich 271
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andererseits ein zwar Schutz gewährender, aber ver-, aus- und wegschließender kleiner Schutzraum auf der anderen Seite: Kein Wunder, dass der Agent bei der Hausführung zu der Quintessenz gelangt, es handele sich bei dem Objekt um „a very emotional property“ (0:03:38).
Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 1-4 : Stills aus David Fincher: Panic Room, 2002 272
David Finchers Film ›Panic Room‹
Darauf, dass es in Finchers Film um ein durch solche Bezüge und Hinweise angedeutetes, durchdringendes In- und Miteinander von inneren, psychischen Räumen und physischen architektonischen Räumen geht,13 macht schon der Vorspann aufmerksam, der die Großstadtarchitektur von Manhattan als Hintergrundsfolie für die Titel des Films nutzt. Allerdings erscheinen deren Buchstaben nicht plan, d.h. (wie z.B. bei der Vorspannsequenz von Saul Bass aus Alfred Hitchcocks North by Northwest aus dem Jahre 1959, die sicherlich als Vorbild gedient hat [Abb. 5])14 als auf die Filmbilder aufprojizierte Lettern, sondern diese stehen vielmehr im Raum vor den Gebäudefassaden (Abb. 6) und erwecken im Zuschauer damit gleich von Anfang an eine Ambivalenz, denn die in der Luft schwebenden Buchstaben verunsichern die Wahrnehmung: Entweder zwingen sie uns dazu anzunehmen, dass ungewöhnlicherweise riesige Buchstaben die Stadtlandschaft durchschweben oder aber dass die zu sehenden Architekturen – ganz im Sinne der „Tilt-Shift-Technik“Photographie (Abb. 7) – als lediglich groß erscheinende Miniaturen aufzufassen sind.15 Dieses Auflösen der festen Grenzen zwischen Groß und Klein, dieses Wechselspiel zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen Räumen, welche die Architektur um uns bildet, und den Räumen in uns, die die Architektur abbildet, spiegelt, repräsentiert, freilegt, setzt sich dann im weiteren Verlauf des Films auf mehreren Ebenen fort. Die Kamera schwebt schwerelos durch Räume und durchgleitet dabei wie ein Insekt mühelos die schmalen Spalten zwischen Geländergitterstäben oder Kannenhenkeln, was den Betrachter insofern verunsichert, als ihm üblicherweise im Film suggeriert wird, dass das, was ihm gezeigt wird, von ihm selbst direkt gesehen wird. Im vorliegenden Fall würde dies jedoch bedeuten, dass der Betrachter geschrumpft ist und schließlich sogar in der Lage ist, in das Innere eines Schlüssellochs einzudringen (vgl. die Sequenzen, wo ein Einbrecher vergeblich versucht, eine Eingangstür aufzuschließen), so dicht an eine Wand heranzufahren, dass er darauf vibrierende Putzkörnchen scharf in den Blick nehmen oder dass er sogar Wände durchqueren und so z.B. in das Innere eines Gasschlauchs oder aber aus einer kleinen Ventilationsklappe nach außen fliegen kann. Oder es würde bedeuten, dass all diese Dinge riesengroß sind – was aber natürlich in diesem Fall ausgeschlossen und damit offenbar auch als Eindruck nicht intendiert ist. Die Frage stellt sich damit, mit wessen Augen wir hier eigentlich schauen. Fincher selbst sowie die zu dem Film vorliegende Literatur geben diesbezüglich unterschiedliche Antworten. So erklärt der Regisseur einmal, dass dem 273
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Abb. 5: Still der Vorspannsequenz von Alfred Hitchcock: North by Northwest, 1959
Abb. 6: Still der Vorspannsequenz von David Fincher: Panic Room, 2002
Abb. 7: Daniele Pesari, Tilt-Shift-Photographie von New York, 2008
Zuschauer auf diese Weise deutlich gemacht werde, dass die Kamera, da ohne Hilfsmittel wie z.B. einen sie bedienenden Techniker funktionierend, komplett unabhängig sei und sich folglich überall hinbewegen könne,16 etwas, das Mark Browning als Ausdruck eines „pact between director and audience“ liest, „that we will be placed in the best position to see everything“.17 An anderer Stelle interpretiert Fincher diesen scheinbar komfortablen „Pakt“ allerdings dahingehend weiter aus, dass dem Zuschauer – allerdings ohne dass dieser dies bewusst merke – die Botschaft vermittelt werden solle: „‚Eure Augen werden zwar Zeugen hiervon, aber ihr seid nicht dabei. Ihr seht alles, aber ihr könnt 274
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nicht selbst bestimmen, ihr werdet geführt.‘ Das, so hoffe ich, ruft ein Gefühl der Beklemmung hervor.“18 Verschiedene Autoren haben die Kamera auch als Sinnbild einer bereits vor den Einbrechern in das Haus eingedrungenen, geisterhaften Präsenz gedeutet, die wir auf ihren schwerelosen Streifzügen durch die Räume begleiten: „an alien presence already lurks within this living space“,19 deutet Browning dies, während James Swallow das Wesen als „a phantom spectator, a ghostly resident, able to watch but not to involve itself in any of the unfolding events“ auffasst. Sehr viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass wir hier in gewisser Weise mit den immateriellen Augen des Hauses selbst sehen und mithin in diesen Sequenzen mit dessen „Bewusstsein“ wahrnehmen. Dass dies durchaus nicht abwegig ist, kann daran ersehen werden, dass auch Meg und der „Panic Room“ auf der Wahrnehmungsebene miteinander verbunden sind, wie z.B. an der Art und Weise deutlich wird, in der Meg die Einbrecher dank eines Zusammenspiels von technischer und menschlicher Apperzeption bemerkt: Aus ihrem Schlaf aufgeschreckt durch das Warnsignal aus dem „Panic Room“ und danach offenbar nur noch leicht dösend, erwacht Meg schließlich vollständig und geht zur Toilette; als sie sich sodann wieder schlafen legen will, ist es das grelle Licht aus dem Schutzraum, das sie stört – und als sie es gerade löscht, entdeckt sie dort auf der Bildschirmbank die Eindringlinge. Auch der wiederholte Einsatz der Zeitlupe, bei dem Handlungen und Ereignisse nicht in Realzeit, sondern im Sinne einer gefühlten Zeit (als wie im Traum quälend zerdehnte Bewegungsabläufe) gezeigt werden, machen deutlich, dass es hier immer wieder nicht um „objektive“, sondern subjektive Wahrnehmungen von Zeit und Raum geht. Bereits in seinen früheren Arbeiten im Bereich des Musikvideos und für den Film hat Fincher auf solche Verfahren zurückgegriffen, um die Verschränkung von Innen- und Außenleben sinnfällig zu machen. In dem Videoclip zu Madonnas Bad Girl von 1993 z.B. verwandelt sich der Blick auf eine Straße in die Theke einer Bar (Abb. 8), um auf diese Weise anzudeuten, dass es weniger um die äußerlichen, gezeigten Vorgänge als vielmehr um das Befinden der von Madonna dargestellten Hauptperson und die Leere hinter der mondänen Fassade ihres Lebens geht.20 Insbesondere jedoch ist in diesem Zusammenhang auf die Titel- und Auftaktsequenz von Finchers sechs Jahre später gedrehtem Spielfilm Fight Club hinzuweisen, wo die rasanten Maßstabs275
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Abb. 8a
Abb. 8b
Abb. 8c
Abb. 8d Abb. 8a-d: Stills aus David Fincher: Musikvideo zu Madonna, Bad Girl, 1993 276
David Finchers Film ›Panic Room‹
wechsel (der Film eröffnet mit einer Sequenz, die auf der Ebene von simulierten Rasterelektronenmikrosokop-Aufnahmen eines menschlichen Gehirns beginnt und bei einer Totalen in einem weitläufigen Parkhaus endet) bereits andeuten, was der Zuschauer erst gegen Ende des Films erfährt: dass nämlich wesentliche Bestandteile der von dem Ich-Erzähler erlebten Handlung tatsächlich nur in seinem Kopf stattfinden. So weit geht Fincher in Panic Room zwar nicht, doch die ebenfalls in rasantem Flug gewaltige Distanzen überwindende und dabei anscheinend insektengroße Kamera deutet an, dass hier ebenfalls Innen und Außen, Mikro- und Makrokosmos stark ineinandergreifen. Und es sind eben diese Dialektiken des Innen und Außen, des Mikro- und des Makrokosmos, die auffällige Parallelen zu einem Text aufweisen, den der Philosoph Gaston Bachelard 1957 verfasste und als dessen visuelle Umsetzung und Fortspinnung Panic Room geradezu verstanden werden kann. Mit seinem Buch La Poétique de l’Espace unternahm Bachelard den Versuch, den Raum jenseits seiner rein mathematisch-geometrischen Erfassung auch als ge- und erlebtes, emotionales Medium, als Träger und Vermittler von Gefühlen, Erfahrungen, Stimmungen und Erfahrungen zu erkunden, zu charakterisieren und zu interpretieren.21 Aus dem ureigenen Bedürfnis des Menschen nach Schutz und Behausung leitet Bachelard dabei sein Erkenntnisinteresse ab, das nicht dem Raum an sich, sondern vielmehr dem Raum in Gestalt des Hauses gilt. Im Bild des Hauses, als einer Ausgestaltung des Raumes, zu dem der es bewohnende Mensch eine Beziehung aufbaut, das er formt und sich aneignet, sieht Bachelard ein Instrument der Analyse für die menschliche Seele („[…] la maison comme un instrument d’analyse pour l’âme humaine“).22 Es geht ihm mithin darum, anhand der mit dem Haus verbundenen Gefühlserfahrungen und späteren -erinnerungen (z.B. an das Haus der Kindheit) zu Aussagen über die verschiedenen Funktionen des Raums vorzudringen, die dieser für die menschliche Seele haben kann, um anhand dieser Funktionen zu Einsichten in bestimmte Grundphänomene der menschlichen Seele zu gelangen. Bachelard geht von der Annahme aus, dass hierbei der Raum als Ganzes – d.h. bis hinein in das kleinste Detail – für den Menschen wesentlich sein kann: „Car la maison est […] notre premier univers. Elle est vraiment un cosmos. Un cosmos dans toute l’acception du terme.“23 Definiert sieht er diese „WeltOrdnung“ durch eine Reihe von Dialektiken, die er in der Folge entwickelt und ausbuchstabiert; als eine der ersten Dialektiken bespricht er dabei die „dialectique du petit et du grand“: „[…] nous l’avons mise sous les signes de la Miniature et de l’Immensité“24 – mithin eben genau jene Pole, die sich in Panic 277
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Room auch immer wieder durchdringen, wenn das Kleinste durch die herannahende Kamera groß herangeholt wird, ein von ihr schwebend durcheiltes Zimmer plötzlich riesengroß erscheint oder riesige Buchstaben in Wolkenkratzerlandschaften schweben und diese damit miniaturisieren. Eine weitere Dialektik, die Bachelard dann in der Folge eröffnet, ist jene zwischen außen und innen, wenn er alles jenseits des Hauses als „circonstance où s’accumulent l’hostilité des hommes et l’hostilité de l’univers“25 bezeichnet und dies dem Haus gegenüberstellt, das die friedlichen Träume des dort Wohnenden garantiert.26 Er gesteht dabei ein, dass er sich in seinem Buch lediglich mit den positiven Aspekten des Raumes befassen möchte: „[…] les espaces d’hostilité sont à peine évoqués dans les pages qui suivent. Ces espaces de la haine et du combat ne peuvent être étudiés qu’en se référant à des matières ardentes […]“,27 und er umreißt diese grob unter Verweis auf jenes menschliche Verhalten, das den einem Raum zugemessenen Wert daran erzeigt, dass es den Raum gegen „forces adverses“ verteidigt.28 Finchers Panic Room nun zeigt eben genau diesen von Bachelard nur vage angedeuteten und letztendlich ausgeblendeten Kampf, seine Genese sowie seine Konsequenzen. Denn wo für Bachelard das idealtypische Haus „plus qu’un corps de logis, […] un corps de songes“29 ist, zeigt Fincher das Haus als „corps de cauchemars“, dessen bei Bachelard stets positiv besetzte Dialektiken nun auch bedrohliche Züge annehmen können: So ruft der Philosoph „la dialectique du dedans et du dehors, dialectique qui se répercute en une dialectique de l’ouvert et du fermé“30 auf – und eben diese Dialektiken finden in Panic Room insofern Anwendung, als die Bedrohung zwar von außen kommt und das Innere und Innerste des Hauses, der „Panic Room“ als die sozusagen kondensierte Form des Hauses, Schutz gewährt. Jedoch erweisen sich unter den Vorzeichen der damit verbundenen Dialektik von „ouvert“ und „fermé“ zugleich die Ambivalenzen des Schutzraums. Er schließt ein und zeigt somit, dass das dem Äußeren gegenübergestellte Innere nicht automatisch das Bessere ist. Auch in vielerlei weiterer Hinsicht nimmt sich Finchers Film wie eine experimentelle Deklination von Bachelards Schrift aus – dort ist auch die Rede von einer „immense maison cosmique“,31 was als Beschreibung für Megs neues Haus perfekt zutrifft. Die Vertikalität im Inneren eines Hauses und damit Treppen (Abb. 4 und 9) spielen in Bachelards Text ebenfalls eine große Rolle, was in Beziehung gesetzt werden kann zu den Räumen des „townstone“, die 278
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Abb. 9: Still aus David Fincher: Panic Room, 2002 um das hohe und riesige, zentrale (Zentralität: ein weiteres wichtiges Stichwort aus Bachelards Buch!) Treppenhaus herum arrangiert sind (Abb. 9). Schließlich präpariert der Philosoph – ganz im Sinne seiner „Mikro-/Makro“Dialektik – auch den „coffret“, also den Kasten oder das Kästchen, quasi als Kern des Hauses heraus, der auf die Notwendigkeit, Geheimnisse zu haben („besoin de secrets“)32 antwortet und ein Versteck, eine „cachette“, anbietet. Als eben eine solche „cachette“ ließe sich auch der „Panic Room“ im gleich doppelten Sinn verstehen: In ihm verstecken Meg und ihre Tochter sich, er erweist sich aber eben auch als „cachette“ des vielen Geldes, das der vorangegangene Besitzer des Hauses dort versteckt hat und auf das es die Einbrecher abgesehen haben. Vor allen Dingen ist es jedoch Bachelards Auffassung von der „maison comme un instrument d’analyse pour l’âme humaine“,33 die sich in Panic Room umgesetzt findet, denn anhand der gegensätzlichen Räume (hier der kleine, abgeschlossene und abgeschottete „Panic Room“, dort das sich nach außen öffnende, weitläufige und verzweigte Haus) wird zugleich ein Psychogramm von Meg gezeichnet, die zwar die Offenheit von Räumen vorzieht, sich hier nun aber in einer Situation vorfindet, in der sie die Abgeschlossenheit des „Panic Room“ verteidigen und gegen ihren instinktiven Drang zur Flucht nach außen, ins Offene ankämpfen muss. Zudem wird das Haus in Finchers Film natürlich auch zu einem „gendered space“. Es ist kein Zufall, dass hier drei Männer gegen zwei Frauen kämpfen. Schon zu Beginn des Films wird Meg zunächst lediglich über ihren Ex-Mann, einen offenbar wohlhabenden Pharmazeuten, definiert, obgleich sie ihre Universitätstätigkeit andeutet („Columbia“, fügt sie nicht ohne Stolz den Namen der Hochschule hinzu [0:05:05]), und auch die Maklerin verweist Meg zuvor 279
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auf den Reichtum des ehemaligen Gatten, wenn es darum geht, ob sie sich das Haus leisten kann („He can afford it“, gemahnt sie Meg [0:04:15]). Meg bewegt sich also in einem zunächst von Männern definierten Raum, die zudem glauben, sie und ihre Denkweise als Frau zu kennen und daher vorausberechnen zu können (vgl. z.B. die Überlegung von Junior, der überzeugt ist, Frauen und ihre Bedürfnisse zu kennen – „They want security“ [0:33:00] –, was er ausnutzen möchte, um Meg und Sarah aus dem „Panic Room“ zu locken).34 Insofern erweist sich Megs Auseinandersetzung mit den Einbrechern auch als eine Eroberung und Inbesitznahme des Raums. Um diese zu erreichen, muss sie lernen, die Männer zu kontrollieren, was ihr nicht nur im Fall ihres Ex-Manns (dem sie am Schluss des Films Anweisungen gibt), sondern auch bezüglich der Einbrecher gelingt. Allerdings muss sie dazu zunächst das Risiko eingehen, die direkte Kommunikation mit ihnen abzubrechen, wenn sie die hierfür notwendigen Mittel, die Kameras, zerstört. Nun unbeobachtet (und von den Einbrechern für ihre Idee beneidet) baut sie eine Art Labyrinth, das die Einbrecher beim Verlassen des „Panic Room“ dazu zwingt, einen bestimmten, von ihr kontrollierten Parcours zu gehen, der es ihr ermöglicht, sie schließlich zu überwältigen.35 In seinem Buch Le labyrinthe et le mégaron. L’architecture et ses deux natures unternimmt der französische Architekturtheoretiker Pierre André Louis den Versuch, anhand zweier elementarer Grundformen die beiden Haupttendenzen von Architektur zu beleuchten, um auf diese Weise auch die Konsequenzen aufzuzeigen, die es hat, wenn ein Architekt sich für die eine oder die ihr gerade entgegengesetzte Grundform entscheidet. Als solche präpariert Louis zum einen das „Mégaron“ heraus (streng genommen ein „Megaron Cella“), einen einfachen Raumtyp, der von den klaren, statischen und schlichten Begrenzungen eines Kubus definiert wird. Dem stellt Louis sodann das Labyrinth als komplexe, unübersichtliche, dynamische und offene Raumstruktur entgegen (Abb. 10). Diese in lockerer, methodischer Analogie zu Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen verwendeten „Architektonischen Grundkonzepte“ repräsentieren mithin quasi die idealtypischen Pole, zwischen denen die Architektur die Vielfalt ihrer Formen entfalten kann.36 David Finchers Film Panic Room kombiniert diese beiden Elemente nun, indem er mit dem „Panic Room“ ein Megaron innerhalb des Labyrinths des weitläufigen Hauses platziert37 und aus den daraus resultierenden und auf die Protagonisten ausgeübten Spannungen die dramaturgische Dynamik der Handlung gewinnt. 280
David Finchers Film ›Panic Room‹
Abb. 10: Graphische Gegenüberstellung von „Megaron“ und „Labyrinth“ aus: Louis, 2003, S. 37
Zugleich sagt dieser Gegensatz jedoch auch sehr viel über Meg, die beim Durchleben dieser beiden auf sie gleichermaßen Attraktion wie Abstoßung ausübenden Raumtypen einen Lernprozess durchmacht, der sie mit ihren Ängsten, jedoch auch mit ihren Stärken konfrontiert („Face your fears“ ist dann auch der bezeichnende Titel einer fiktiven Fernsehshow, der zu Beginn des Films im Kontext der Vorspannsequenz auf einem der Schirme des New Yorker Times Square erscheint [Abb. 6] und als ein Motto von Panic Room gelten kann [0:01:06]). Es ist insofern auch nur konsequent, dass der dramaturgische Parcours des Films sie, deren Name geradezu als Abkürzung des „Megarons“ verstanden werden könnte, erst in den mit Autonomie, Statik, Abgeschlossenheit und Erstarrung konnotierten „Panic Room“ und dann in das weitläufige Haus zurückführt, das sie nun als ein heteronomes, dynamisches, offenes und formbares Labyrinth zu nutzen weiß. Am Schluss des Films sitzen Meg und Sarah in dem offenen Raum des weitläufigen Parks, womit der Film zugleich eine Art von Kreisstruktur andeutet, denn der Park wurde schon zu Beginn als beschließendes (und den Namen des Regisseurs präsentierendes) Tableau der Titelsequenz gezeigt. Von dort, aus dem Offenen, führt der Film weiter in die Abgeschlossenheit des „townstone“ und des „Panic Room“. Nun, ganz zum Schluss, geht es wieder in das Offene, womit sich der Kreis schließt:38 Meg und Sarah, von denen der Blick sich dann verabschiedend langsam wegbewegt, sind dabei, sich die nächste Behausung zu suchen, in der Hoffnung, dass diese sich als „corps de songes“ und nicht wieder als „corps de cauchemars“ erweisen möge. 281
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Anmerkungen 1 2
3 4 5
6 7 8
9
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Zu Mallet-Stevens vgl. u.a. PINCHON, 1990, hier insbesondere das Kapitel „Cinema and Architecture“, S. 91-197. MALLET-STEVENS, 1925, S. 95. Vgl. dazu auch die Formulierung von SWALLOW, 2003, S. 158 („The unsung star of Panic Room was the ‚townstone‘ house itself“) sowie den Kommentar von Darsteller Forest Whitaker im Making of, der in Bezug auf den Schauplatz des Films, das Haus, sagt: „I think, in David’s (Fincher, der Regisseur, Anm. HK) hands, the house became alive as well.“ Panic Room, Special Edition 2003, DVD 2 (0:50:36). Vgl. dazu auch die diesbezüglichen Angaben im Making of (siehe Anm. 2) (0:00:20). Vgl. dazu auch LEGRAND, 2009, S. 64f. Dies ist möglicherweise auch eine Anspielung auf die 2002 gegründete Finanzfirma „Townstone Financial Inc.“, mit der angedeutet werden soll, wie teuer das Haus ist: „He can afford it“, beschwichtigt die Maklerin daher die daraus erwachsenden Bedenken Megs („It’s a fortune“) unter Verweis auf den Reichtum ihres Ex-Manns: 0:04:04). Vgl. z.B. WHITE/WILLENSKY, 1978, S. 596 sowie http://www.merriamwebster.com/dictionary/town%20house, 27.4.2012. Vgl. ebd., S. 593 sowie http://www.merriam-webster.com/dictionary/ brownstone, 27.4.2012. „Ever read any Poe“, fragt Meg die ahnungslose Maklerin, um ihr Unbehagen gegenüber dem „Panic Room“ zu erklären (0:07:05), und später, nachdem Meg und Sarah sich vor den Einbrechern in dem Schutzraum verbarrikadieren mussten, beschwichtigt die Tochter ihre Mutter mit den Worten „You know, people never get buried alive anymore“ (0:35:10). Das Gefühl des Eingeschlossenseins wird in diesem Moment noch dadurch verstärkt, dass die Einbrecher auch das Haus nach außen hin abschotten, so dass Meg und Sarah selbst im Fall der erfolgreichen Flucht aus dem „Panic Room“ das Haus nicht verlassen könnten – sie sind „locked in twice-over“, wie BROWNING, 2003, S. 46 dies formuliert. BROWNING, ebd. vergleicht die Monitorbank mit einem Panopticon, bei dem der Betrachter den ihn umgebenden Raum vollständig einsehen und somit überwachen kann. Man könnte den „Panic Room“ aufgrund der Bildschirme auch als eine „platonische Höhle“ auffassen, in der dem Be-
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trachter lediglich die Schatten- oder Abbilder der Realität zugänglich sind (tatsächlich zeigen die Monitore lediglich Schwarzweiß-Aufnahmen), damit die von BAUDRY 1975 gezogene (und dann in der Folge von Autoren wie TREDELL 2002 weitergeführte) Parallele zwischen Kino und platonischer Höhle aufgreifend. In der Tat liest auch SWALLOW, 2003, S. 173 den Film als „representation of the audience-author relationship“, da Meg Altman zu Beginn des Films – wie der Zuschauer – Dinge zunächst nur passiv verfolgen kann, die ihr auf einem Sichtschirm gezeigt werden; im Verlaufe des Films wird sie dann jedoch aktiver, indem sie sich die „Bühne“ (das Haus) erobert und ihre „Mitspieler“ (die Einbrecher) gemäß einem von ihr entwickelten Konzept wie ein Regisseur dirigiert. 10 Nicht zufällig ähnelt dieses Dachauge mit seinem spinnennetzartigen Fassungen an das Dachfenster in Alfred Hitchcocks Suspicion (1941), wo dieses architektonische Element in dem von Johnny Aysgarth (Cary Grant) ausgesuchten Haus immer wieder spinnennetzartige Schatten auf Eingangsbereich und Treppenhaus wirft, um auf diese Weise zu versinnbildlichen, dass seine Ehefrau Lina (Joan Fontaine) sich in einem gefährlichen Gewebe aus Lügen, Intrigen, Wahnvorstellungen und Ängsten verfangen wird und schließlich auch verfängt. Fincher hat immer wieder auf die Vorbildfunktion Hitchcocks für seine Filme hingewiesen – im konkreten Fall von Panic Room hat er u.a. auf Hitchcocks Rear Window (1954) hingewiesen. Vgl. zu den weiteren Parallelen zwischen Hitchcock- und Fincher-Filmen: BROWNING, 2003, S. 153-157 und SWALLOW, 2003, S. 168f. 11 Meg scheint das Haus daher von Anfang an zuzusagen – sie gibt später auch zu, dass sie Sarah nicht nach ihrer diesbezüglichen Meinung gefragt hat, weil sie Sorge hatte, ihrer Tochter würde das ihr selbst offenbar zusagende Haus nicht gefallen (0:10:06). Sarah fährt, offenbar auch um die von der Mutter durchaus auch geschätzte Weitläufigkeit der Räume zu betonen, etwas abschätzig darin auf ihrem Kickboard durch die Gegend, als befinde sie sich im Freien. 12 BROWNING, 2003, S. 148 verweist richtig darauf, dass „most viewers would struggle to produce a detailed map of the house, despite the fact that we spend nearly the entire film within its walls”, was sicherlich in Finchers Absicht lag, da somit die labyrinthische Abfolge der Räume des Hauses ebenso prägnant wird wie der Umstand, dass Meg diese im Laufe des Films kennen und für ihre Zwecke zu nutzen lernt.
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13 Vgl. dazu generell ARONA, 2011, S. 100: „Fincher […] evidenziando come le geometrie dello spazio esterno altro non siano […] la visualizzazione delle stanze del profondo, The Inner Space, l’inconscio o l’immaginario lasciato libero di vagare e di creare.” 14 Vgl. in diesem Sinne auch BROWNING, 2003, S. 156 sowie LEGRAND, 2009, S. 258. 15 Mit dem genauen Gegenteil dazu – kleine Texte hängen schwerelos im Inneren einer Wohnung – hatte Fincher bereits vier Jahre zuvor in einer Szene seines Films Fight Club (1999) experimentiert, wenn der Erzähler durch einen quasi begehbaren IKEA-Katalog wandert, dessen Beschreibungstexte, Produktnamen und Preise seine mit den entsprechenden Möbeln ausgestattete Wohnung durchschweben. Vgl. dazu KEAZOR/ WÜBBENA, 2011, S. 279. 16 BROWNING, 2003, S. 157. 17 Ebd. 18 RODEK, 2002. Vgl. in diesem Sinne auch die bei SWALLOW, 2003, S. 149 und 158 mitgeteilten Aussagen Finchers. 19 BROWNING, 2003, S. 51. Ebd., S. 149 und S. 157 liest der Autor den hinter dieser Sequenz deutlich bemerkbaren technischen Aufwand als einen Effekt, der in letzter Instanz auf sich selbst und „the presence of the director“ hinweisen solle. 20 Vgl. dazu auch KEAZOR/WÜBBENA, 2011, S. 281. 21 Diese Bestrebungen wurden dann u. a. durch Autoren wie Henri Lefebvre und Edward W. Soja fortgeführt – vgl. dazu LEFEBVRE, 1974 und SOJA, 1996. 22 BACHELARD, 1957, S. 19, (Hervorhebungen im Original). Vgl. ebd., S. 18: „Avec l’image de la maison, nous tenons un véritable principe d’intégration psychologique.“ 23 Ebd., S. 24. 24 Ebd., S. 20. 25 Ebd., S. 26. 26 Ebd.: „[…] la maison abrite la rêverie, la maison protège le rêveur, la maison nous permet de rêver en paix.“ 27 Ebd., S. 17. 28 Ebd.: „[…] à déterminer la valeur humaine des espaces de possession, des espaces défendus contre des forces adverses […].“ 29 Ebd., S. 33. 284
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Ebd., S. 20. Ebd., S. 61. Ebd., S. 65. Ebd., S. 19. Zu vergleichbaren Konstellationen („une femme plongée dans un univers d’hommes“) in anderen Fincher-Filmen vgl. LEGRAND, 2009, S. 131-134 und S. 218-222 sowie CAPUTO, 2011, S. 66f. 35 BROWNING, 2003, S. 45 zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz aus Alan Dean Fosters 1993 veröffentlichter Romanfassung von Finchers Film Alien 3 (1992), der dort von Ripley gesprochen wird, jedoch auch von Meg stammen könnte: „I owe the fact that I’m still alive to an understanding of spatial relationships.“ 36 Vgl. LOUIS, 2003. Zusätzlich ließe sich die Dramaturgie des Films mit Hilfe der beiden konkurrierenden Raumlogiken interpretieren, wie sie Michel de Certeau (CERTEAU, 1980, S. 60f.) entwickelt hat. Der französische Historiker unterscheidet dabei zwischen zwei Raumverhältnissen, die einmal dem Verhalten der „Strategie“ und einmal dem der „Taktik“ entsprechen: Die „Strategie“ charakterisiert de Certeau dabei (S. 60) als „une maîtrise des lieux par la vue. La partition de l’espace permet une pratique panoptique (Hervorhebung im Original, Anm. HK) à partir d’un lieu d’où le regard transforme les forces étrangères en objets qu’on peut observer et mesurer, contrôler donc et ‚inclure‘ dans sa vision.“ Dem entgegengesetzt wird die „Taktik“, „l’action calculée que détermine l’absence d’un propre. […] Aussi doit-elle jouer avec le terrain qui lui est imposé tel que l’organise la loi d’une force étrangère. Elle n’a pas le moyen de se tenir (Hervorhebung im Original, Anm. HK) en elle-même, à distance, dans une position de retrait, de prévision et de rassemblement de soi […]. Elle n’a donc pas la possibilité de se donner un projet global ni de totaliser l’adversaire dans un espace distinct, visible et objectivable. Elle fait du coup par coup. Elle profite des ‚occasions‘ et en dépend […] pour saisir au vol les possibilités qu’offre un instant. […] Elle y crée des surprises. […] Elle est ruse.“ Bei dieser Auffassung und Raumkonzeption entspräche der „Panic Room“ mit seiner panoptischen, an einem Ort (eben: dem Megaron) verfügbaren Kontrolle der „Strategie“, während das Labyrinth des Hauses und der von Meg gebaute Irrgarten der „Taktik“ mit ihrem schrittweisen Vorgehen,
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den vom Augenblick gebotenen und zu ergreifenden Möglichkeiten, vor allem aber der ihr de Certeau zufolge eigenen List entspräche. 37 BROWNING, 2003, S. 54 fasst den „Panic Room“ dann auch in Bezug auf das ihn umgebende Haus als „parasite within a body“ auf. 38 Vgl. auch Browning (ebd., S. 156), der auf eine Tageszeitenabfolge in der Vorspannsequenz hinweist, die SWALLOW, 2003, S. 164 zufolge von William Lebeda (dem Creative Director der für den Vorspann zuständigen Firma) sowie von dem Visual Effects Supervisor des Films, Kevin Haug, in seinem Kommentar zur Entstehung der Sequenz bestätigt wird: „The sense of going from dawn to midday or midmorning is a little subtle, but it is there, there is some color that adds to it and that’s a thing that the traffic picks up as we go.“ Panic Room, Special Edition 2003, DVD 3: Main Titles (0:06:56).
L it e r a t u r ARONA, DANILO, Stanze, case e panico. I due David nella casa degli Usher, in: The Fincher Network. Fenomenologia di David Fincher, hg. von ROBERTO DONATI/MARCELLO GAGLIANI CAPUTO, Mailand 2011, S. 99-104. BACHELARD, GASTON, La Poétique de l’Espace, Paris 1957. BAUDRY, JEAN-LOUIS, Le dispositif. Approches métapsychologiques de l’impression de réalité, in: Communications 23 (1975), S. 56-72. BROWNING, MARK, David Fincher. Films That Scar, Santa Barbara 2003. CAPUTO, MARCELLO GAGLIANI, Fincher e le donne, in: The Fincher Network. Fenomenologia di David Fincher, hg. von ROBERTO DONATI/MARCELLO GAGLIANI CAPUTO, Mailand 2011, S. 63-69. CERTEAU, MICHEL DE, L’invention du quotidien. 1. Arts de faire, Paris 1990. KEAZOR, HENRY/WÜBBENA, THORSTEN, Video thrills the Radio Star. Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen, 3. Aufl., Bielefeld 2011. LEFEBVRE, HENRI, La production de l’espace, Paris 1974. LEGRAND, DOMINIQUE, David Fincher, explorateur de nos angoisses, Paris 2009. LOUIS, PIERRE ANDRÉ, Le labyrinthe et le mégaron. L’architecture et ses deux natures, Sprimont 2003.
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MALLET-STEVENS, ROBERT, Le cinéma et les arts: L’architecture (im Inhaltsverzeichnis auch als „Architecture et cinéma“), in: Les cahiers du mois 16/17: Cinéma (1925), S. 95-98. PINCHON, JEAN-FRANÇOIS (Hg.), Rob. Mallet-Stevens. Architecture, Furniture, Interior Design, Cambridge (Mass.) 1990. RODEK, HANNS-GEORG, ‚Ich hoffe auf ein Gefühl der Beklemmung‘. Ein Gespräch mit dem Regisseur David Fincher über seinen neuen Film ‚Panic Room‘, in: Die Welt, 22.4.2002 (online auch unter http://www.welt.de/ print-welt/article385291/Ich-hoffe-auf-ein-Gefuehl-der-Beklemmung.html; 29.4.2012). SOJA, EDWARD W., Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-andImagined-Places, Cambridge (Mass.) 1996. SWALLOW, JAMES, Dark Eye. The Films of David Fincher, London 2003. TREDELL, NICOLAS (Hg.), Cinemas of the Mind, Cambridge (Mass.), 2002. WHITE, NORVAL/WILLENSKY, ELLIOT, The American Institute of Architects Guide to New York City, New York 1978. Andere Quellen: DVD: Panic Room, Special Edition mit 3 DVDs, Columbia Tristar Home Entertainment 2003. Online: http://www.merriam-webster.com/dictionary
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Festungen zum Wohnen Einfamilienhäuser und Wohnungen der 1960er Jahre KLAUS JAN PHILIPP
Ausgerechnet die Stuttgarter Staatsgalerie (1977-1984) von James Frazer Stirling nimmt Otto Karl Werckmeister in seinem Buch Zitadellenkultur (1989) als architektonisches Beispiel für die „schöne Kunst des Untergangs“ in der Kultur der 1980er Jahre. Freilich, die Staatsgalerie zeugt von „künstlerische[r] Originalität“ und man kann hier eine „burgartige[] Auftürmung von Wällen, Rampen, Quadern, Bögen, Treppentoren, Höfen und Rotunden“ erblicken.1 Und auch mag man in ihr den Wandel in der Funktionsbestimmung moderner Architektur „von der ästhetischen Artikulierung der Arbeitsgesellschaft zur kulturellen Monumentalisierung der Regierungen und Verwaltungen“ festmachen.2 Eine Zitadelle, eine Festung jedoch ist die Staatsgalerie allein schon wegen ihrer urbanistischen Einbindung, ihrer sich ondulierend öffnenden Fassaden und ihrer poppigen Farbigkeit nicht. Sucht man nach festungsartiger Architektur, so wird man nicht in den 1980er Jahren, sondern in den 1960er und 1970er Jahren fündig. Hier gibt es in Fülle jene „gemodelten und geknechteten Betonmonumente[] des neuen Brutalismus“, jene „brutalistische[n] Monumentalgebirge“ und Bauten mit „heroischen Formqualitäten“,3 deren Abgesang einsetzte, als Stirling 1977 die Staatsgalerie entwarf, indem er nicht mehr ein Bauwerk autonomer geometrischer Form plante, sondern sich „an den historischen, regionalen und topographischen Bedingungen des Ortes“ orientierte.4 Nicht in den späten 1970er Jahren, sondern in den 1950er und 1960er Jahren kann man jene Tendenz zum Bunker, zur Höhle, zum Schutzbau, zum Donjon des mittelalterlichen Festungsbaus als dem letzten Rückzugsort vor der drohenden Katastrophe alleror289
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ten finden. Sei es im Kirchenbau, wofür hier Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp (1950-1955) von Le Corbusier stehen mag, sei es im öffentlichen Verwaltungsbau mit dem Rathaus in Bensberg (1964-1969) von Gottfried Böhm, sei es in jeder anderen Bauaufgabe bis hin zum Atomkraftwerk, für das Philip C. Johnson im israelischen Rehovot 1961 die denkbar radikalste Form gefunden hat.5 Auch an festungsartigen Beispielen aus dem Wohnungsbau fehlt es nicht.6 Im Folgenden werden zunächst drei exemplarische festungsartige Einfamilienhäuser aus den 1960er Jahren untersucht und sodann der gleichzeitige Siedlungsbau als Korrektiv herangezogen. Zum Verständnis des Einfamilienhausbaus der 1960er Jahre, der am Beispiel des Hauses Werner Schürmann (1964) bei Dublin von Joachim Schürmann, des Wohn- und Atelierhauses des Architekten Beck-Erlang in Stuttgart (1964-1967) und des Hauses Domnick (1966/67) in Nürtingen von Paul Stohrer vorgestellt wird, soll ein Blick auf die Situation und Bewertung des Einfamilienhausbaus in der Nachkriegszeit und auf eine extreme Entwurfsposition geworfen werden.
F o r m b ild e n d e E in flü s s e Das Einfamilienhaus ist unter allen Bauaufgaben diejenige, bei der der Bauherr seine Vorstellungen gegenüber dem Architekten am stärksten geltend machen kann. Im Handbuch moderner Architektur von 1957 weist der Karlsruher Architekt und Hochschullehrer Otto Ernst Schweizer auf die besonderen Bedingungen und Problemstellungen des Einfamilienhausbaus im 20. Jahrhundert hin: „Gegenüber den modernen, zweckgebundenen Bauformen, die sich ohne geschichtliche Vorbilder entwickeln, kommen beim Eigenheim die formbildenden Einflüsse in viel weiterem Umfange zum Durchbruch. Bei dieser Form hat auch der einfache, fachlich ungebildete Mensch noch einen Einfluß. Wie bei keinem anderen Bauvorhaben spiegelt sich in den Formen der Eigenheime das geistige und kulturelle Niveau der jeweiligen Gesellschaftsschicht wider.“7
Diese Problemlage habe dazu geführt, dass die Ergebnisse des Einfamilienhausbaus in der Regel unbefriedigend sind und sich die Situation insbesondere
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in der Nachkriegszeit durch zunehmende Zersiedelung, Auflockerung und Dezentralisation noch weiter verschärft hat. Übrig blieb – so Schweizer – der „süßliche Kitsch“ des Eigenheims innerhalb einer grauenhaften städtebaulichen Entwicklung: „Seit hundert Jahren äußerlicher Formalismus, im ersten halben Jahrhundert städtebaulich noch streng und in der Ausdehnung übersehbar, heute, in der zweiten Hälfte, auch im Städtebau Auflösung und effekthascherische Spekulation. Kontinuierlich bleibt die konstruktive Gründlichkeit, die diese Mißbildungen leider nicht von selbst verderben läßt.“8
Dennoch besteht auch für Schweizer die Welt nicht nur aus negativen Beispielen; durch Aufgreifen der ostasiatischen Hausbautradition in den 1920er Jahren sei Architekten wie Walter Gropius, Ludwig Hilberseimer, Richard Neutra, Ludwig Mies van der Rohe, Marcel Breuer und Frank Lloyd Wright eine Erneuerung des Eigenheimbaus gelungen und eine neue Tradition begründet worden. Die Leichtigkeit, Flexibilität und Offenheit des japanischen Hauses war dabei das große und nicht hinterfragbare Vorbild. Die einzige Ausnahme sieht Schweizer in den damals aktuellsten Bauten Le Corbusiers: Die Maisons Jaoul (1951-1955) in Neuilly, die durch die „brutalistische“ Verbindung von Sichtbeton und Backstein das Gegenbild der transparenten japanisch inspirierten Häuser waren. Schweizer warnt die „verhältnismäßig große Zahl künstlerisch unsicherer Fachkräfte“ vor der Versuchung, es Le Corbusier um der Sensation willen gleichzutun.9 Gleichwohl muss Schweizer die Zwickmühle gespürt haben, in die ihn die wertende Betrachtung von Einfamilienhäusern zwangsläufig bringen musste, denn er konnte sich ja nicht nur auf die Gestaltungsprioritäten des Architekten beziehen, sondern musste die Formenwünsche der Bauherrschaft berücksichtigen: „Das Eigenheim ist für den Bauherrn nicht nur etwas Zweckbedingtes, sondern eine Stätte, die seine geistige und künstlerische Welt ansprechen soll.“10 Wie eine solche Welt idealiter aussehen und wie sie sich im Entwurf darstellen konnte, hat Oswald Mathias Ungers mit seinen Studierenden an der TH Berlin 1964/65 am Beispiel von Wohnhäusern durchgespielt. Ungers stellte Aufgaben, die innerhalb einer Woche von den Studierenden zu bearbeiten waren und extreme Forderungen enthielten. So etwa ein Wohnhaus (Abb. 1-2) mit einem üblichen Raumprogramm, aber der Auflage, dass „die nach außen
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Abb. 1: Peter Neitzke, Wohnhaus, Modellphotographie, 1965 Aus: Ungers, 1965, o.S.
Abb. 2: Peter Neitzke, Wohnhaus, Grundrisse, 1965 Aus: Ungers, 1965, o.S.
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gerichteten Umfassungswände des Hauses […] nicht durchbrochen werden [dürfen].“ Zudem sollte der Eingang als einzige Ausnahme von dieser Forderung 4,75 m über der Oberkante des Baugeländes liegen. Ungers provozierte mit solchen Aufgaben die Kreativität der Studierenden, die sich angesichts der unrealistischen Aufgabe nicht an konventionellen Lösungen orientieren konnten, sondern ganz auf sich gestellt waren. Die Ergebnisse der Wochenaufgabe vom 24. bis 30. Juni 1964 zeigen erwartungsgemäß bunkerartige Entwürfe: Die Häuser haben keine Fenster, die Haustür liegt wie bei einem Wehrturm in luftiger, vom Feind nicht einnehmbarer Höhe. Überraschend jedoch ist, dass es den Studierenden trotzdem gelang, das umfassende Raumprogramm zu erfüllen und zudem für eine annehmbare Belichtung und Belüftung der Räume zu sorgen.11
D re i E in fa m ilie n h ä u s e r Die Entwürfe von Ungers’ Studierenden belegen, dass es durchaus auf hohem gestalterischem Niveau möglich war, festungsartige Einfamilienhäuser zu entwerfen. Auch Ungers’ eigenes Wohnhaus (1958/59) in Köln-Müngersdorf trägt solche fortifikatorischen Züge, changiert jedoch zwischen Anpassung an die bestehende Bebauung und autonomer Exklusion.12 Radikal abgeschottet hingegen ist das Wohn- und Atelierhaus Werner Schürmann im Süden von Dublin, an den zur Stadt und zum Meer abfallenden Hängen der WicklowBerge mit Blick auf die Stadt und die Irische See. Der Architekt Joachim Schürmann entwarf 1964 das Haus für seinen Bruder (Abb. 3-5). Das im Œuvre Schürmanns wegen seiner totalen Abschottung gegenüber dem Außen isoliert stehende Haus war durch den Wunsch des Bauherrn begründet, möglichst ungestört und gegen die Unbilden des irischen Wetters geschützt zu sein.13 Der scharf geschnittene, fast quadratische Kubus aus braunroten Ziegeln öffnet sich nur an wenigen Stellen zur Landschaft. Im Innern liegen alle Zimmer um ein quadratisches Peristyl mit runden Holzstützen, die das Gebälk des nach innen geneigten Impluvialdaches tragen. Die Introvertiertheit des Hauses widerspricht seiner freien Lage in der großartigen Landschaft. Lediglich der skulptural geformte, neben dem Haus aufsteigende Schornstein aus schalungsrauem Sichtbeton verweist darauf, dass es sich um ein Haus zum Wohnen handelt. Auch ist der Schornstein der einzige Verweis auf die Profession des Bauherrn
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Abb. 3: Jochen Schürmann, Haus Werner Schürmann bei Dublin, Ansicht, 1964
Abb. 4: Jochen Schürmann, Haus Werner Schürmann bei Dublin, Innenhof, 1964
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Abb. 5: Jochen Schürmann, Haus Werner Schürmann bei Dublin, Grundriss und Schnitte, 1964 und seiner Frau, die beide Bildhauer waren; ansonsten sagt das Haus nichts über die Personen aus, es ist entindividualisiert und gehört somit in die Tradition der modernen Architektur seit den 1920er Jahren. Zugleich ist es dennoch eine Selbstentäußerung des Bauherrn, der seine Verweigerungsgeste gegenüber dem Außen als sein individuelles Recht behauptet. Wilfried Beck-Erlang hatte 1964 Gegenteiliges im Sinn, als er sich gegen den allgemeinen Trend der Zeit wandte und das Wohn- und Atelierhaus für sich und seine Familie nicht auf dem Land, sondern stadtnah zu bauen beschloss.14 Das Haus in Stuttgarter Halbhöhenlage liegt an einer lebhaft befahrenen Straße in Nachbarschaft von unspektakulären Ein- und Mehrfamilienhäusern der 1920er bis 1950er Jahre (Abb. 6-8). „Im Selbstversuch“ wollte er aufspüren, „wie in dieser Situation gewohnt werden kann.“ Für das Material Sichtbeton entschied er sich wegen dessen handwerklichen Qualitäten; es reizte ihn „das durch Zimmermannshand in Holzbrettern geformte Material Beton.“ Die Formfindung des skulptural auf dem bügeleisenförmigen Eckgrundstück liegenden Hauses begründet der Architekt städtebaulich durch seine ordnende Funktion und durch den notwendigen Lärmschutz:
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Abb. 6: Wilfried Beck-Erlang, Haus Beck-Erlang, Stuttgart, Straßenansicht, 1964
Abb. 7: Wilfried Beck-Erlang, Haus Beck-Erlang, Stuttgart, Ansicht vom Garten, 1964
Abb. 8: Wilfried Beck-Erlang, Haus Beck-Erlang, Stuttgart, Innenraum, 1964 296
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Abb. 9: Paul Stohrer, Haus Domnick, Nürtingen, Ansicht der Eingangsseite, 1967
Abb. 10: Paul Stohrer, Haus Domnick, Nürtingen, Ansicht der Gartenseite, 1967
Abb. 11: Paul Stohrer, Haus Domnick, Nürtingen, Innenraum, 1967 297
Klaus Jan Philipp „Dem Lärm darf dieses Haus massiv entgegentreten, ohne allerdings brutale Betonmasse zu zeigen. Sichtbeton – als Handwerk – soll die Gliederung des Baukörpers nach einem Fassadenrhythmus ausweisen, der zwar innere Funktionsabläufe als Stimulans benützt, diese jedoch übertragen abbildet in einem plastisch abgestimmten System von Öffnungen und Nischen, Flächenrelief und kubischer Ausformung. Ein ausgewogenes, ‚statisches‘ Gelagertsein an fallender Straße […] ist das architektonische Ergebnis.“
Dem „Sich-Abschirmen“ gegenüber der Straße sollte kein „Sich-Verschließen“ gegenüber dem Straßenraum folgen. Rückseitig öffnet sich das Gebäude zum Garten, einer Loggia und einer Sonnenterrasse im ersten Obergeschoss. Die notwendigen Sichtschutzwände wachsen im äußeren Erscheinungsbild mit den Wohnraumabgrenzungen zusammen. Im Innern ist das Haus durch SplitLevel-Geschosse lebendig gestaltet und dank großer Fensterflächen sehr gut durchlichtet. Dennoch, trotz aller verbalen Bemühungen, Offenheit und Transparenz zu behaupten, drängt sich der Wehrcharakter des Hauses in den Vordergrund. Es ist unstreitig eine Betonburg, mehr ein Bunker als ein Haus. Da Beck-Erlang in diesem Haus auch sein Büro betrieb, war es für ihn nicht nur ein „Selbstversuch“ des Wohnens in der Stadt, sondern es war auch Visitenkarte seines Büros. Hier geht es nicht mehr um das Recht des Individuums, sich von der Umwelt abzuschließen; hier wird aus dieser persönlichen Haltung Werbung für eine Haltung des Architekten, der sich auf dem Markt platziert. Ist Beck-Erlangs Wohn- und Atelierhaus in unmittelbarer Stadtnähe Ausdruck seiner kritischen Haltung zur Zersiedelung der Landschaft, so steht das Haus des Stuttgarter Psychiaters, Kunstsammlers, Filmemachers und Musikers Ottomar Domnick (1907-1989) bewusst in der Landschaft (Abb. 9-11). Und zwar in einem Landschaftsschutzgebiet in der Nähe der Stadt Nürtingen, was die Auflage zur Folge hatte, dass das Haus nicht höher sein dürfe als die das 34 a große Grundstück umgebende Hainbuchenhecke.15 Der Bauherr und sein Architekt, Paul Stohrer, hatten lange nach einem Grundstück gesucht, das beider Ansprüchen genügte. Stohrer war ein seinerzeit sehr gefragter Architekt für alle denkbaren Bauaufgaben, jedoch insbesondere für gehobenen Wohnungsbau. Viele seiner Villen für die mondäne Gesellschaft des Wirtschaftswunders wur-
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den in Zeitschriften wie Film und Frau publiziert. Gegenüber diesen Bauten ist das Haus Domnick (1966/67) eine Ausnahme. Der eingeschossige Bau aus rau geschaltem Sichtbeton stellt seine Konstruktion überdeutlich aus: Die massiven Betonunterzüge durchstoßen die gleichhohe Attika; beide zusammen lasten schwer auf den vertikal geschalten Mauern, die sparsam nur für Eingang, Fenster und Pergolen durchbrochen sind. Ein festungsartiger Charakter stellt sich dem Ankommenden dar; an drei Seiten ist der Bau fast ganz geschlossen, nur die Südseite öffnet sich verhalten zum Skulpturenpark und zur Landschaft. Aufgabe Stohrers war nicht nur ein Wohnhaus zu planen, das Haus sollte zugleich die große Sammlung moderner abstrakter Malerei Domnicks aufnehmen. Museum, Wohn- und Lebensraum sollten zu einer Einheit verschmolzen werden. Die Abschottung nach außen war dabei von Sicherheitsüberlegungen Domnicks geleitet. Im Innern ergibt sich ein völlig anderes Bild; Stohrer entwirft auf einem Raster von 7x7 Quadraten von 4,25 m Seitenlänge einen offenen, fließenden Grundriss, der bis auf die Funktionsräume ganz auf die Präsentation der Kunstsammlung abgestimmt ist. Auch im Innern dominieren einfache Materialien und eine schwarz-weiße Farbigkeit: dunkelgrau gestrichene konstruktive Rahmenelemente, weiße Backsteinwände, heller Boden aus Waschbeton, dunkelgrau gestrichene Decke mit Punktstrahlern für die Beleuchtung der Bilder. Tageslicht fällt kaum ins Haus, es gibt kein Oberlicht und kein Peristyl wie bei Werner Schürmanns Haus nahe Dublin. Stohrer hat das Haus unter das Leitmotiv gestellt, „[…] menschliche und in Beziehungen zu den Kunstwerken stehende Maßstäbe herzustellen“, und so „gibt es keine galerie- und museumsartigen Sammlungsräume, sondern eine ‚bewohnte‘ Gruppierung vielfach fensterloser Raumteile.“16 Zum Verständnis des Hauses trägt die Persönlichkeit Domnicks bei, die sich in seinen experimentellen Filmen Jonas (1957), Gino (1960 ), Ohne Datum (1962) und N.N. (1968/69), in denen immer wieder Architektur gleichsam handelnde Person ist, vielleicht am klarsten spiegelt. Es sind düstere, beklemmende in Schwarz-Weiß gedrehte Filme, fast ohne Handlung und mit Tendenz zu abstrakten Bildfolgen. Durch Stohrers Architektur materialisiert sich diese Haltung zu einem „Haus wie Ich“, zu einem gleichsam autobiographischen Haus, wie es nur für Ottomar Domnick, seine Kunstsammlung und seine Cello-Musik gebaut werden konnte.
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S ie d lu n g s b a u Im Bereich des Siedlungsbaus und des Massenwohnungsbaus waren in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland die notwendigsten Maßnahmen zur Deckung des in der Nachkriegszeit ungemein gestiegenen Bedarfs abgeschlossen.17 Die in den 1950er Jahren diskutierten Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft waren dabei nicht immer in dem Maße berücksichtigt worden, wie es die moderne Stadtplanung seit den 1920er Jahren bis zur Charta von Athen gefordert hatte. Ein neues Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im Massenwohnungsbau sah 1956 Sigfried Giedion in der Unité d’Habitation (1947-1952) in Marseille von Le Corbusier verwirklicht. Sie gilt ihm als ein Beispiel der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen individueller und kollektiver Sphäre, was durch die Verbindung von persönlichen, in sich geschlossenen Wohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen wie der Ladenstraße und dem Dachgarten mit Freilufttheater, Sporthalle und Kindergarten samt Planschbecken erreicht werde.18 Wenige Jahre später musste man jedoch erkennen, dass dieses Konzept nicht aufging; die Ladenstraße verwaiste und die Kritik verschärfte sich. Lewis Mumford vergleicht 1958 die Unité mit den New Yorker Slums und resümiert seine ohnehin scharfe Kritik mit den vernichtenden Worten: „Mit der ‚Unité‘ verrät Le Corbusier die menschlichen Belange um eines monumentalen Effektes willen. Das Ergebnis ist egozentrische Extravaganz, imposant wie eine ägyptische Pyramide, die einer Leiche Unsterblichkeit verleihen sollte, und – menschlich gesprochen – genau so trostlos.“19
Diese Kritik am modernen Wohnungs- und Städtebau perpetuierte sich in den kommenden Jahren und fand in der Mitte der 1960er Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt, als 1965 Alexander Mitscherlichs Pamphlet Die Unwirtlichkeit unserer Städte erschien.20 Im Jahr 1966 legten die jungen Architekten Ot Hoffmann und Christoph Repenthin ihr Buch über Neue urbane Wohnformen vor, das bereits gebaute Gartenhofhäuser, Teppichsiedlungen und Terrassenhäuser dokumentiert und neue Vorschläge unterbreitet.21 Ihre Kritik an der bestehenden Praxis ist eindeutig:
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Festungen zum Wohnen „Über den ganzen Erdball hat sich eine Krankheit verbreitet: geranienbetupfte Miethauskolonien in ‚Stillgestanden‘- oder ‚Rührt-Euch‘-Formation, mit 2 % Kunst und ‚Betreten des Rasens verboten!‘: leere Villenviertel, Zahnlückensiedlungen mit der unsichtbaren Beschriftung ‚Fehlentwicklung der Gartenbewegung‘“22 (Abb. 12).
Abb. 12: Glossierung des Geschosswohnungsbaus durch M. R[obert] Auzelle Aus: Hoffmann/Repenthin, 1966, S. 7 Überall sehen Sie nur „Kasernenstil“, den es zu bekämpfen gelte. Auch der in der unmittelbaren Nachkriegszeit strapazierte Begriff der „Nachbarschaft“ gilt den beiden Autoren nichts mehr, hatte doch die von den Westalliierten eingeführte „neighbourhood unity“ eigentlich nur das nationalsozialistische Konzept der „Ortsgruppe als Siedlungszelle“ abgelöst.23 Sie ersetzen „Nachbarschaft“ durch den „Dualismus Individuum – Gesellschaft.“24 Nicht mehr geht es Hoffmann und Repenthin um die Bildung eines neuen Menschen durch eine Neue Wohnung wie 1927 in der Werkbundsiedlung auf dem Stuttgarter Weißenhof, sondern sie akzeptieren den Menschen in seinen alltäglichen Gewohnheiten:
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Klaus Jan Philipp „Die Wohnhülle […] ist der Raum des Menschen, in dem er, wenn er will, ungestört agieren kann. Übertritt er die Schwelle seines Hauses, so tritt eine Wandlung seines Wesens, Aussehens und Tuns vom Geldverdiener/Verkehrsteilnehmer zum Privatmenschen/Familienvater ein. Sichtbare Zeichen: Pullover und Hausschuhe. Der Mensch verläßt aber auch die Masse, in der er kaum als Persönlichkeit handelte, und wird aktiver im Zusammenspiel mit nur wenigen, ihm nahestehenden Menschen. Bühne und Zuschauerraum, das ist das Wohnzimmer. Requisiten und Kulisse sind Ausstattung und Gartenhofausblick.“25
Das Gartenhofhaus und die aus mehreren solchen Häusern bestehende Teppichsiedlung ist eines der Modelle, die von Hoffmann und Repenthin vorgestellt wird. Sie sind sich dessen bewusst, dass gegenüber dem freistehenden Einfamilienhaus Abstriche in Hinsicht auf Individualität und Repräsentation hingenommen werden müssen: „[Die] Teppichbebauung ist nach innen gekehrt. Nach außen zeigt sie meist eine bescheidene, oft etwas zu abweisende Hülle. Sie ist vorwiegend vom Inneren her zu beurteilen, das heißt vom Wohnen, vom inneren Gefüge, und dann auch von der Art der gebildeten Struktur.“26
An dem von Hoffmann 1959 für ein Wohngebiet in Wiesbaden-Biebrich entworfenen Wohnhügel lässt sich idealtypisch die Umsetzung dieses Konzeptes anschaulich machen (Abb. 13-14): Es handelt sich um eine Gruppe aufgestelzter Gartenhofhäuser, die so konzipiert sind, dass sie mit dem PKW unterfahren werden können, damit das Wohngebiet autofrei bleiben kann. Der Zugang zu den mit 225 qm großzügig bemessenen Häusern erfolgt über Treppen, die vom Keller direkt ins Haus führen. Die zu Gruppen zusammengeschlossenen Häuser besitzen Wohnhöfe, die „ungestörte Privatsphäre“ gewährleisten. Zudem besteht die Möglichkeit, „verschiedene Lebensäußerungen innerhalb des Hofes und gegenüber dem Haus abzugrenzen“, denn „[g]anz ohne Zweifel liegt bei vergleichbarer Situation der Wohnwert eines Hofes über dem Wohnwert eines Hausgartens am freistehenden Einfamilienhaus.“27 Hoffmanns Planung für Wiesbaden-Biebrich wurde nicht ausgeführt, vergleichbare Beispiele von Teppichsiedlungen finden sich jedoch in zahllosen Vororten oft in Zusammenhang mit Wohnhochhäusern oder als Hangbebau-
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Abb. 13: Ot Hoffmann, Wohnhügel, Wettbewerbsbeitrag, Wiesbaden-Biebrich 1959, Modellansicht. Aus: Hoffmann/Repenthin, 1966, S. 124
Abb. 14: Ot Hoffmann, Wohnhügel, Wettbewerbsbeitrag, Wiesbaden-Biebrich 1959, Grundriss einer Wohneinheit. Aus: Hoffmann/Repenthin, 1966, S. 125
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Abb. 15: Bastionierte Mauer eines Gartenhofhauses, Großsiedlung Köln-Neubrück,1965 ungen wie die maßstabsetzende Siedlung Halen (1961) der Architekten des „Atelier 5“.28 Das Angebot, an der Gemeinschaft teilzuhaben, ohne ihr ausgesetzt zu sein, und die Möglichkeit des Rückzugs in den eigenen Bereich mit Wohnung und Gartenhof, Fernblick, guter Besonnung und Schutz vor Einblicken fand in den Boomjahren der 1960er und 1970er große Resonanz. Der demographische Wandel, das Fehlen junger Familien, hat jedoch manche dieser Siedlungen veröden lassen und zugleich das Bedürfnis nach Sicherheit verstärkt – manche Gartenhofmauer wurde mit Stacheldraht zur privaten Festung hochgerüstet (Abb. 15).
architecture parlante Sicherheit wird heute durch mannshohe Zäune, schusssicheres Glas, einbruchsichere Türen, Video-Überwachung, Alarmanlagen und Ausblendung des Hauses in Street View von Google Maps erzeugt – als Beispiel sei des ehemaligen Bundespräsidenten Wohnhaus in Großburgwedel genannt – und nur selten durch festungsartige Bauformen.29 Dennoch gibt es weiterhin WohnFestungen, ja ganze als panic room konzipierte Häuser.30 Diese wären in eine Reihe zu stellen mit den als Bauernhäuser getarnten Artilleriefestungen in der 304
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Schweiz oder den sich in die mittelalterliche Stadt einpassenden und völlig unauffälligen 15 Bunkern, die Hermann Göring im hessischen Bad Wildungen von 1938 an erbauen ließ.31 Die Blütezeit der Zitadellenkultur im Wohnungsbau aber bleiben die 1960er Jahre, als man mit Sichtbeton und Sichtbackstein, schweren, lastenden Formen, beklemmend engen Innenhöfen, trogförmigen Balkonbrüstungen, schwarzen Faserzement-Schindeln und höhlenartigen Eingängen eine klandestine Architektur kreierte, deren Bauherren und Bewohner sich angesichts angespannter Sicherheitslage und atomarer Bedrohung ein Sicherheit vermittelndes bergendes Zuhause schufen, das nicht als Camouflage konzipiert ist, sondern sich als architecture parlante einer Zeit permanenter Angstzustände erweist. Da sich vergleichbare formale Tendenzen ebenso in allen anderen Bauaufgaben dieser stilkritisch als Brutalismus konnotierten Zeit zeigen,32 handelt es sich hier um ein Phänomen der Architektur der Nachkriegszeit, die neben der „emotionale[n] Unterkühltheit“33 des International Style auch eine plastische Architektur hoher Emotionalität und Imaginationsfähigkeit hervorgebracht hat.34
Annmerkungen 1 2 3 4 5
WERCKMEISTER,1989, S. 63. Ebd., S. 65. Alle Zitate: KLOTZ, 1974, S. 896. KLOTZ, 1984, S. 423. Dieses und viele andere Beispiele abgebildet im populärwissenschaftlichen Buch der Reihe Holle Kunst der Welt: KULTERMANN, 1967. 6 Der Einfamilienhausbau nach 1945 ist bislang kaum untersucht; da überall sehr viel gebaut wurde, ist eine Gesamterfassung des Bestandes kaum möglich; Bauten sind durch Erwähnung in der Fachpresse, Architektenmonographien und Spezialliteratur zum Wohnungsbau erreichbar; eine lokale Studie liegt für Berlin vor: STEIGENBERGER, 2007. 7 SCHWEIZER/SELG, 1957, S. 225, (Hervorhebungen im Original). 8 Ebd., S. 236. 9 Ebd., S. 271. 10 Ebd., S. 242. 11 UNGERS, 1965; CEPL, 2012.
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12 UNGERS, 1960; zum Wohnhaus in Köln-Müngersdorf ebd., S. 213-215; dort heißt es (S. 213): „Die Lage des Grundstücks und die Dichte der anschließenden Bebauung verboten es, die Wohnräume nach draußen in Beziehung zu setzen. Die Planung konzentrierte sich daher auf die Ausschaltung des Außenraums zugunsten räumlicher Kompositionen im Innern.“ 13 GÖBEL/GATZ, 1969, S. 34; FLAGGE 1997, S. 48-51. 14 SCHOLZ/WERNER, 1963, S. 120-129; alle folgenden Zitate: S. 121. 15 Alle Angaben zum Haus Domnick: GRAMMEL, 2012, S.128-148. Farbabbildungen des aktuellen Zustandes: MARQUARDT, 2002. 16 STOHRER, 1967, zit. nach GRAMMEL, 2012, S. 143. 17 BEYME, 1999, S. 81-152. 18 GIEDION, 1956, mit weiteren Beispielen aus dem Städtebau. 19 MUMFORD, 1958, S. 32. 20 MITSCHERLICH, 1965. 21 HOFFMANN/REPENTHIN, 1966. 22 Ebd., S. 7. 23 DURTH, 1999, S. 35f. 24 HOFFMANN/REPENTHIN, 1966, S. 20. 25 Ebd., S. 20. 26 Ebd., S. 29. 27 Ebd., S. 39. 28 Beispiele finden sich in: HARLANDER, 2001, S. 315-421. 29 Beispiele in: JONAK, 2008. 30 Bspw. die vom Architekten Robert Konieczny 2009 als vollständig schließbarer schwarzer Kubus geplante Villa in einem Warschauer Vorort; PIATEK, 2010. 31 KLEINICKE, 2009. 32 BANHAM, 1966. 33 JOEDICKE, 1964, S. 422. 34 PHILIPP, 2013.
L it e r a t u r BANHAM, REYNER, Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik, Stuttgart/Bern 1966.
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BEYME, KLAUS VOM, Wohnen und Politik, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, hg. von INGEBORG FLAGGE, Stuttgart 1999, S. 81-152. CEPL, JASPER, Oswald Mathias Ungers und seine Schule, in: Architekturschulen. Programm, Programmatik, Propaganda, hg. von KLAUS JAN PHILIPP/ KERSTIN RENZ, Tübingen 2012. DURTH, WERNER, Vom Überleben. Zwischen Totalem Krieg und Währungsreform, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, hg. von INGEBORG FLAGGE, Stuttgart 1999, S. 17-79. FLAGGE, INGEBORG (Hg.), Schürmann. Entwürfe und Bauten, Tübingen 1997. GIEDION, SIGFRIED, Neun Punkte über: Monumentalität – Ein menschliches Bedürfnis, in: DERS., Architektur und Gemeinschaft. Tagebuch einer Entwicklung, Reinbek 1956, S. 96-106. GÖBEL, KLAUS/GATZ, KONRAD, Ziegelkonstruktion im Hochbau, München 1969. GRAMMEL, URSULA, Paul Stohrer. Architekt in der Zeit des Wirtschaftswunders, Stuttgart/London 2012. HARLANDER, TILMANN (Hg.), Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland, Stuttgart 2001. HOFFMANN, OT/REPENTHIN, CHRISTOPH, Neue urbane Wohnformen. Gartenhofhäuser, Teppichsiedlungen, Terrassenhäuser, Berlin 1966. JOEDICKE, JÜRGEN, New Brutalism – Brutalismus in der Architektur, in: Bauen + Wohnen 19, 11 (1964), S. 421-423. JONAK, ULF, Arche_tektur. Getarnte Häuser oder Vom auffälligen Leben im Geheimen, Wien 2008. KLEINICKE, SWANTJE, Göring und die 15 Bunker. Das Hauptquartier der Luftwaffe in Bad Wildungen, Marburg 2009. KLOTZ, HEINRICH, Die röhrenden Hirsche der Architektur, in: Bauwelt 65, 26 (1974), S. 896-907. DERS., Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 1960-1980, Braunschweig/Wiesbaden 1984. KULTERMANN, UDO, Architektur der Gegenwart, Baden-Baden 1967. MARQUARDT, CHRISTIAN, …in die Jahre gekommen. Die Sammlung Domnick in Nürtingen, in: db Deutsche Bauzeitung 136, 9 (2002), S. 96-100. MITSCHERLICH, ALEXANDER, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a. M. 1965.
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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Alina Bothe, Dominik Schuh (Hg.) Geschlecht in der Geschichte Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie September 2014, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2567-7
Jutta Ernst, Florian Freitag (Hg.) Transkulturelle Dynamiken Aktanten – Prozesse – Theorien Juli 2014, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2563-9
Ute Frietsch, Jörg Rogge (Hg.) Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens Ein Handwörterbuch 2013, 520 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2248-5
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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8
Ursula Kramer (Hg.) Theater mit Musik 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen Mai 2014, ca. 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2432-8
Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven 2010, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1
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Erika Meyer-Dietrich (Hg.) Laut und Leise Der Gebrauch von Stimme und Klang in historischen Kulturen 2011, 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1881-5
Tom Müller, Matthias Vollet (Hg.) Die Modernitäten des Nikolaus von Kues Debatten und Rezeptionen 2013, 518 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2167-9
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Volker R. Remmert, Ute Schneider Eine Disziplin und ihre Verleger Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871-1949
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2010, 344 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1517-3
Andreas Frings, Andreas Linsenmann, Sascha Weber (Hg.) Vergangenheiten auf der Spur Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften 2012, 282 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2150-1
Achim Landwehr (Hg.) Frühe Neue Zeiten Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution 2012, 412 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2164-8
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