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German Pages 528 [593] Year 2015
Ulrich Kittstein
Eduard Mörike Jenseits der Idylle
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Lambert Schneider Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.lambertschneider.de ISBN 978-3-650-40075-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-650-40076-5 eBook (epub): 978-3-650-40078-9
Inhalt 1. Einleitung: Mörike-Bilder 9 2. Kindheitsheimat und Familienbande Ludwigsburg 16 – Die Familie Mörike 21 3. Urach, Tübingen und Orplid: Bildungswege
und Freundschaftsbünde
Akademische Studien 30 – Lektüren 35 – Jugendfreunde 47 – „Du bist Orplid, mein Land!“ 53
4. Der Kampf um die „Oeconomia interior“:
Konturen eines schwierigen Charakters
Eine Krankengeschichte 60 – Im Verborgenen: Rückzugsstrategien und Grenzziehungen 67 – „Freundeslieb’ und Treu’“ 79 – Vom Reiz des Nervenkitzels 89
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens Proteus Mörike 94 – Unauffällige Meisterschaft 102 – Zur Publikationsgeschichte der Gedichte 108 6. Die frühen Gedichte Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung 115 – Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik 135 7. Seelische Abgründe und die Ursprünge
der Kunst: M aler Nolten
Ein schwieriger Roman 166 – Frauenbilder 174 – Künstlerschicksale 185 – Verwischte Spuren: die unvollendete Zweitfassung 204
8. Mörike und die Religion Die Nöte eines Kirchendieners 211 – „Luftbild oder Leben“: Luise Rau 220 – Eine „fortdauernde Neigung zum Christenthum“ 228 – Christliches im poetischen Werk 237
Inhalt
9. Von der Anmut des müssigen Spiels:
Poetik und Ästhetik
Vergnügen und Spiel 247 – Leichter Tanz: Schönheit, Anmut, Maß 260 – Die Kunst der Muße 270 – Aus der Werkstatt des Dichters 281
10. Die Erzählungen der dreissiger Jahre 288 Gesprächstherapie und Geschlechterrollen: Lucie Gelmeroth 290 – Geselliges Erzählspiel: Der Schatz 298 – Ein „moralisches Mährchen“: Der Bauer und sein Sohn 305 11. Komik, Satire und Parodie Groteske Phantasiegeschöpfe 309 – Formen des Komischen in Mörikes Gedichten 318 12. Mörike und das Theater Dramatischer Ehrgeiz 330 – Mörike als Librettist: Die Regenbrüder 340 13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen An den Grenzen der sichtbaren Welt 345 – Geisterstudien 353 14. Politik und Zeitgeschichte Verfassungsstaat und Repression: das Königreich Württemberg 360 – Zwischen Revolution und Reichsgründung 376 15. Eine „reine und gesunde Nahrung“:
Mörike und die Antike
Die Wendung zu antiken Formen in der Lyrik 387 – Idyllendichtung 401 – Übersetzungen 418
16. Ökonomie und Finanzen, Verlage und Verleger In dürftigen Umständen 430 – Der literarische Markt 436 17. Von Mergentheim nach Stuttgart Margarethe Speeth 446 – Stuttgart auf dem Weg in die Moderne 453 – Leben in der Hauptstadt 458 – Künstlerfreunde 466 – 6 –
Inhalt
18. Das späte Erzählwerk 473 Ein Bild der Unschuld: Die Hand der Jezerte 474 – Märchenhafte Reifungsgeschichten: Das Stuttgarter Hutzelmännlein 478 – Genie und Geselligkeit: Mozart auf der Reise nach Prag 492 19. Späte Lyrik Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge 515 – Vergänglichkeitsgedanken: die großen Gedichte der Spätzeit 536 20. Schluss 551
Anmerkungen 556 Zeittafel 573 Auswahlbibliographie 576 Register 581
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1. Einleitung: Mörike-Bilder G
ottfried Keller vermutete in ihm den „Sohn des Horaz und einer feinen Schwäbin“, während Freunde wie Rudolf Lohbauer und Hermann Kurz keinen Geringeren als Goethe seinen geistigen Vater nannten; Friedrich Nietzsche dagegen deklarierte seine Werke als „ganz schwach und undichterisch“, und für Georg Lukács war er nur einer jener „niedliche[n] Zwerge“, die die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung gegen den großen, aber unbequemen Heinrich Heine aufzuwerten suchte1: Seit jeher fand Eduard Mörike sowohl enthusiastische Bewunderer als auch entschiedene Kritiker. Solche Zuspitzungen – vor allem die negativen – bildeten jedoch Ausnahmen, denn im Ganzen verlief die Rezep tionsgeschichte dieses Dichters in ruhigen Bahnen. Während eine Handvoll seiner Gedichte über Vertonungen oder die Aufnahme in Anthologien und Lesebücher Berühmtheit erlangte, blieb die Zahl der Kenner seines Gesamtwerks stets überschaubar. Gleichwohl hatte er immer eine treue Lesergemeinde und zog zudem eine mäßige, aber kontinuierliche Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft auf sich, ohne dabei jemals große Kontroversen auszulösen oder zum Lieblingsgegenstand aktueller akademischer Theorieansätze zu werden. Seine Person und sein Schaffen sind, wie Siegbert Salomon Prawer in einem Überblick über den Gang der Mörike-Rezeption gezeigt hat, „in keiner Weise ideologisch auszubeuten“2, was den Dichter nicht nur sympathisch macht, sondern seinen Werken auch einen gewissen Schutz vor manch zweifelhaften Formen der Aneignung bietet. Mörike war nie in Mode, weder beim breiten Publikum noch in der germanistischen Forschung, aber er ist eben deshalb auch nie aus der Mode gekommen. Die unspektakuläre Resonanz auf seine Werke passt gut zu einem Poeten, der Lärm und Pathos verabscheute und ein ungewöhnlich unauffälliges Dasein führte. Die wichtigsten Stationen seines Lebens – 9 –
1. Einleitung: Mörike-Bilder
können in wenigen Sätzen rekapituliert werden.3 1804 im württembergischen Ludwigsburg geboren, schlug Mörike, der seinen Vater früh verlor, auf Wunsch der Familie die Laufbahn eines protestantischen Geistlichen ein. Mit vierzehn Jahren kam er auf das Niedere theologische Seminar in Urach, mit achtzehn dann zum weiterführenden Studium ans Tübinger Stift. In dieser Zeit schloss er Freundschaften, die lebenslang dauern sollten, erlebte aber auch die aufwühlende Liebesbeziehung zu der geheimnisvollen Fahrenden Maria Meyer, die – im Grunde als einzige Episode in seiner Biographie – bis heute Rätsel aufgibt. Nach bestandenem Examen musste er als Vikar lange auf eine feste Anstellung im Kirchendienst warten. Zwischendurch nahm er einen ausgedehnten Urlaub, doch ein halbherziger Versuch, sich nach alternativen Karrierewegen umzutun, scheiterte, und auch die 1829 geschlossene Verlobung mit der Pfarrerstochter Luise Rau wurde nach vier Jahren wieder gelöst. 1834 übertrug man ihm endlich die ländliche Pfarrei Cleversulzbach bei Heilbronn, aber er brachte keine Begeisterung für das geistliche Amt auf und setzte sich, auch von gesundheitlichen Problemen geplagt, bereits 1843 zur Ruhe, um fortan zurückgezogen und in einfachsten Umständen als Pensionär zu leben. In Mergentheim, das für längere Zeit sein Wohnsitz wurde, lernte er die Katholikin Margarethe Speeth kennen, die er 1851 heiratete. Mit ihr und seiner ledigen Schwester Klara zog er in die Residenzstadt Stuttgart, wo er am Katharinenstift, einer Mädchenschule, wöchentlich einige Stunden Literaturunterricht erteilte. 1855 und 1857 vergrößerten die Töchter Fanny und Marie die Familie. Die letzte Phase von Mörikes Leben wurde von Krankheiten und häuslichen Querelen überschattet; 1875 starb er in Stuttgart. Große Reisen unternahm er nie, selten überschritt er auch nur die Grenzen seiner württembergischen Heimat. Direktes politisches Engagement war ihm ebenso fremd wie der Drang nach Ruhm und öffentlicher Geltung, und sogar seine geselligen und freundschaftlichen Beziehungen mussten sich auf ein gewisses Maß, das er als zuträglich empfand, beschränken. Ebenso bescheiden wie seine ganze äußere Existenz war, nach quantitativen Gesichtspunkten beurteilt, der literarische Ertrag dieses siebzigjährigen Dichterlebens: Er umfasst einen Roman und ein halbes Dutzend Erzählungen, einige Hundert Gedichte, ein kleines Versepos, ein dramatisches Festspiel und ein unvollendetes Opernlibretto; außerdem brachte Mörike drei Bändchen mit Übersetzungen griechischer und römischer Lyrik heraus. Schon zu seinen Lebzeiten etablierte sich das vorherrschende Muster der Rezeption, das seither das populäre Bild von Mörike bestimmt – er – 10 –
1. Einleitung: Mörike-Bilder
galt und gilt hauptsächlich als stimmungsvoller Dichter der abgeschiedenen Idylle und der innigen Naturseligkeit, ausgezeichnet durch volkstümliche Einfachheit und einen versöhnlichen Humor. Dabei unterscheiden sich Anhänger und Kritiker in ihren inhaltlichen Akzentsetzungen oft kaum voneinander, aber was den einen tröstliche Geborgenheit und Zuflucht in den Wirrnissen der modernen Welt verheißt, verwerfen die anderen als eskapistischen Rückzug in eine fragwürdige Innerlichkeit. Literarhistorisch ordnet man Mörike für gewöhnlich dem Biedermeier zu, das seinerseits lange mit dem Klischee provinzieller Beschränktheit und kleinbürgerlichen Behagens belastet war; auch gilt er häufig als Teil einer ‚Schwäbischen Schule‘, die mit Dichtern wie Ludwig Uhland und Justinus Kerner eine biedere Spätform der deutschen Romantik ausgebildet habe. Diese verharmlosende Sichtweise dominierte etwa im frühen 20. Jahrhundert, als Mörike zunehmend Aufmerksamkeit auf sich zog, Werkausgaben rascheren Absatz fanden und mehrere umfangreiche Würdigungen seines Schaffens publiziert wurden, und sie prägte ebenso die MörikeRenaissance, die nach 1945 als begreifliche Reaktion auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und das aggressive Pathos des NS-Regimes einsetzte – zumindest in der Bundesrepublik, da im Osten, wie das eingangs angeführte Zitat von Lukács zeigt, ideologische Vorbehalte jeder Auseinandersetzung mit diesem Autor enge Schranken setzten. Indes wurden im Laufe der Zeit immer wieder Stimmen laut, die die gängige Auffassung von Mörikes Person und Werk als einseitig und verfälschend zurückwiesen. Schon Hermann Hesse machte auf die tragischen Abgründe in der Existenz des schwäbischen Poeten aufmerksam, die ihren Niederschlag auch in seinen Schriften gefunden haben, und nannte das verklärte Bild vom kindlich verträumten Cleversulzbacher Dorfpfarrer „eine hübsche, gründlich erlogene Fabel“.4 Forscher wie Hermann Pongs sprachen sogar von Mörikes ‚Dämonie‘5, während Walter Höllerer in dem virtuosen Sprach- und Formkünstler einen Vorläufer der modernen Lyrik erblickte.6 Vor allem aber setzte sich allmählich eine neue Bewertung der Biedermeierzeit in ihrer Gesamtheit durch, die auch einem differenzierteren Mörike-Bild zugute kam. Friedrich Sengle gelangte in seiner monumentalen Studie zu einem wertneutralen Epochenbegriff, der es ihm ermöglichte, viele biedermeierliche Eigenarten Mörikes präzise zu benennen, ohne ihn damit abzuwerten: Auch die Hinwendung zum Volkstümlichen, die Liebe zur Heimat, die Pietät gegenüber dem angestammten Herrscherhaus, die ehrfürchtige Beschäftigung mit den Tag- und Jahreszeiten, überhaupt mit den Phäno-
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1. Einleitung: Mörike-Bilder
menen der „Natur“ (unbeschadet der Führung Gottes), die Erneuerung der Idylle und des Märchens, der Kult des Heiteren, der kleinen Formen, der „Kleinigkeiten“, wie Mörike im Stil des 18. Jahrhunderts zu sagen pflegt, die Entdämonisierung des Mythischen und selbst des „Schicksals“ (Liebe, Leiden, Tod), der Freundschaftskult, das starke Hervortreten der Gelegenheitslyrik, die bewußte Verschönerung des Lebens mit Hilfe aller Künste, der Sinn für einen organisch überformten Klassizismus („Klassizität“), für ein verbürgertes und versittlichtes Rokoko, der Sinn für Scherz, ja für grotesken „Übermut“, sofern er nicht unmoralisch, blasphemisch oder gesellschaftskritisch ist, – alles dies ist biedermeierlich.7
Die Charakteristika des Dichters, die Sengle schlagwortartig anführt, werden uns allesamt noch näher beschäftigen. Sie müssen freilich um andere ergänzt werden, die deutlich erkennen lassen, dass sich die Literatur des Biedermeier gerade in Mörikes Fall keineswegs in naiver Idyllik erschöpfte. Hierbei ist an Tendenzen der jüngeren Forschung anzuknüpfen, die dem Poeten seit den achtziger und neunziger Jahren – mit einem vorläufig letzten Höhepunkt im Jubiläumsjahr 2004 – ein verstärktes Interesse entgegengebracht hat. Sie würdigte in zunehmendem Maße die ästhetische Komplexität und die psychologische Vielschichtigkeit seiner Schöpfungen und konnte dadurch nicht nur große Teile der Lyrik, sondern auch die Prosaschriften, besonders den Roman Maler Nolten, in ein ganz neues Licht rücken. Heute ist es möglich geworden, dem unvergleichlichen Rang von Mörikes Schaffen gerecht zu werden, ohne es dabei aus dem Zusammenhang seiner Zeit und ihrer sozialgeschichtlichen und literarhistorischen Verhältnisse herauszureißen. Ein solches Bild zu entwerfen, hat sich die vorliegende Monographie zum Ziel gesetzt. Das Buch soll die fortdauernde Faszination, die Mörikes Dichtungen ausstrahlen, begreiflich machen und zugleich weiter vertiefen, indem es diese Texte nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten interpretiert, sie aber auch im Horizont ihrer lebensgeschichtlichen, literarischen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen vorstellt. Es ist daher keine Biographie Mörikes, der es vorrangig darum ginge, seinen Lebenslauf nachzuzeichnen. Eine solche Arbeit hat in größerem Umfang erstmals Harry Maync vorgelegt, der noch auf mündliche Erzählungen von Personen aus Mörikes privatem Umfeld zurückgreifen konnte, und in jüngerer Zeit sind ihm zahlreiche weitere Autoren gefolgt.8 Die äußeren Fakten dieses Lebens dürften mittlerweile soweit erhellt sein, wie das nur irgend möglich ist, doch bleibt eine biographisch ausgerichtete Schilderung, die den literarischen Produkten allenfalls flüchtige Seitenblicke – 12 –
1. Einleitung: Mörike-Bilder
schenken kann, bei Mörike – wie bei jedem Dichter – zwangsläufig unbefriedigend. Andererseits ist hier aber auch keine reine Werkmonographie beabsichtigt, wie sie beispielsweise Gerhard Storz geschrieben hat.9 Es geht vielmehr um eine Rekonstruktion des komplexen Wechselverhältnisses von Charakter, Lebensgang und Dichtung, die den Facettenreichtum ihres Gegenstandes keiner strengen Systematik zum Opfer bringen muss: Die einzelnen Kapitel behandeln in lockerer, grob chronologischer Ordnung verschiedene Aspekte der Biographie Mörikes, seines zeitgenössischen Umfelds und seines Werkes, um so die Umrisse seiner ‚Dichterpersönlichkeit‘ in ihrem historischen Rahmen sichtbar zu machen und daraus Gewinn für das Verständnis der poetischen Schöpfungen zu ziehen. Wir werden also nach den Einflüssen fragen, die Mörikes Lebenswelt, seinen geistigen Horizont und sein Selbstverständnis als Autor geformt haben – nach Herkunft und regionaler Prägung zum Beispiel, nach Bildungs- und Berufswegen, nach persönlichen Beziehungen und der Literaturlandschaft der Zeit –, und wir werden versuchen, vor diesem Hintergrund anhand von Leitbegriffen wie Spiel und Geselligkeit, Anmut und Muße seine Poetik zu beschreiben und seine Werke in ihrer Eigenart zu erschließen. Während Mörike dabei in Zitaten aus Gedichten, Erzählungen und Briefen ausführlich zu Wort kommt, tritt die explizite Erörterung der einschlägigen wissenschaftlichen Forschung schon aus Platzgründen stark zurück. Ersatzweise sei auf das 2004 erschienene Mörike-Handbuch verwiesen, das der Forschungsdiskussion breiten Raum widmet.10 Auch können zumindest auf dem Gebiet der Lyrik nicht alle gewichtigen Werke Mörikes eingehend behandelt werden, doch bleibt zu hoffen, dass das hier Gebotene den Leser zu eigenen weiterführenden Erkundungen anregt. Er sollte sich dabei Theodor Fontane zum Vorbild nehmen, der lange nach Mörikes Tod in einer Auflistung unter dem Titel Was soll ich lesen? an fünfzehnter Stelle notierte: „Mörike, alles“.11 Dass eine literaturwissenschaftliche Studie der Person des Poeten nennenswerte Bedeutung zugesteht, ist keineswegs selbstverständlich. Die Debatten über den vermeintlichen ‚Tod des Autors‘ und seine mögliche Wiederauferstehung, die seit fast einem halben Jahrhundert im Gange sind, müssen hier nicht im Einzelnen aufgerollt werden, doch sei die Position, die diesem Buch zugrunde liegt, wenigstens kurz erläutert. Wer eine Monographie über einen Dichter und sein Gesamtwerk zu schreiben unternimmt, ergreift damit bereits Partei in den erwähnten literaturtheoretischen Kontroversen, weil allein die empirische Person des Autors die (relative) Einheit dieses Werkes verbürgen und dessen – 13 –
1. Einleitung: Mörike-Bilder
Untersuchung im Zusammenhang rechtfertigen kann. Mörikes Oeuvre wird hier nicht als zufällige Ansammlung von Einzeltexten betrachtet, sondern als eine ‚Textwelt‘, die bei aller Vielgestaltigkeit doch gewisse übergreifende Strukturen und Entwicklungsrichtungen, thematische Schwerpunkte und wiederkehrende Motive aufweist. Als Urheber dieser Textwelt nehmen wir ein historisch fassbares schöpferisches Subjekt an, dessen persönliche Begabungen, Schicksale und Lebensumstände sein Schaffen geprägt haben und deshalb – mit der gebotenen methodischen Vorsicht – bei der Werkanalyse zu berücksichtigen sind. Das bedeutet keineswegs, dieses Subjekt zum einzigen Bezugspunkt der Lektüre zu machen oder es gar zu einer Figur von gottgleicher Autonomie zu überhöhen. Die Einbeziehung der Person des realen Autors impliziert weder die Reduktion der Dichtungen auf den Status biographischer Dokumente noch die These, dass die Interpretation literarischer Texte vorrangig oder gar ausschließlich den Nachvollzug der bewussten Intentionen des Verfassers anzustreben habe. Die Kategorie ‚Autor‘ benötigen wir überdies, um literarische Werke mit weiter gefassten zeitgenössischen Kontexten verbinden und sie so in ihren geschichtlichen Horizont einbetten zu können, ohne dessen Berücksichtigung eine historisch reflektierte und plausible Zuschreibung von Textbedeutungen unmöglich wäre. Dabei bildet der individuelle Autor einen einmaligen Kreuzungspunkt im Geflecht gesellschaftlicher Einflüsse und kultureller Diskurse: Erst vor dem Hintergrund der politischen und sozialen Gegebenheiten, der eigentümlichen Gedankengebäude und weltanschaulichen Ideen, der literarischen Traditionen und ästhetischen Konventionen seiner Epoche gewinnt Mörikes Dichterpersönlichkeit ihre einzigartigen Konturen. Es ist für eine tiefere Auseinandersetzung mit seiner Poesie nicht gleichgültig, dass sie im 19. Jahrhundert in Württemberg von einem Mann geschaffen wurde, der einer Familie der Ehrbarkeit entstammte, eine humanistische Bildung genossen hatte, den Beruf eines Geistlichen ausübte, gewisse Auffassungen von der Würde und den Aufgaben der Dichtung vertrat, mit den Werken Klopstocks, Goethes und Hölderlins, aber auch Homers und Theokrits vertraut war, mit dem Geschmack eines bestimmten Publikums rechnen und sich mit den Erwartungen seiner Verleger auseinandersetzen musste – und so weiter. Wenn wir diese höchst unterschiedlichen, aber allesamt durch die Person des Autors vermittelten Dimensionen im Auge behalten, gelangen wir zu einem sehr viel reicheren und zudem historisch angemessenen Verständnis der literarischen Texte, das den ästhetischen und intellektuellen Genuss – 14 –
1. Einleitung: Mörike-Bilder
des Lesers noch beträchtlich zu erhöhen vermag. Die einzelnen Kapitel des Buches sollen den Beweis für diese Behauptung erbringen. Zitiert werden Mörikes Schriften, soweit möglich, nach der noch unvollständigen historisch-kritischen Ausgabe, die vor allem mit ihren mustergültig kommentierten Briefbänden eine schier unerschöpfliche Fundgrube für die Beschäftigung mit dem Dichter darstellt.12 Bei Zitaten aus dieser Ausgabe sind Band- und Seitenzahl direkt im laufenden Text angegeben, während sich alle anderen Quellenbelege in den Anmerkungen finden. Jene Gedichte Mörikes, die in der historisch-kritischen Ausgabe noch nicht vorliegen, werden unter dem Kürzel SW nach den beiden Bänden der Sämtlichen Werke im Verlag Artemis & Winkler zitiert. Die durch kursive Schrift kenntlich gemachten Hervorhebungen stammen durchweg aus den zitierten Texten selbst. Nicht wiedergegeben werden dagegen die Kapitälchen, mit denen die Briefbände der historisch-kritischen Ausgabe die Verwendung der lateinischen Schrift anzeigen, die Mörike in der Regel bei fremdsprachlichen Ausdrücken gebrauchte. Um dem Leser die Orientierung in der Chronologie von Mörikes Leben und Werk zu erleichtern, ist dem Band eine Zeittafel beigegeben. Das Literaturverzeichnis umfasst neben den wichtigsten Ausgaben nur eine streng begrenzte Auswahl von Forschungsbeiträgen, die sich auf Gesamtdarstellungen und allgemeine Interpretationen konzentriert, da eine vollständige Bibliographie ein eigenes Buch erfordert hätte. Wer sich eingehender mit der speziellen Sekundärliteratur zu einzelnen Werken und bestimmten Themenkreisen befassen möchte, sollte die bibliographischen Hinweise in dem bereits erwähnten Mörike-Handbuch konsultieren.
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2. Kindheitsheimat und Familienbande
Ludwigsburg
D
as kleine dramatische Intermezzo Der lezte König von Orplid, das Mörike in seinen Roman Maler Nolten eingebaut hat, spielt auf einer fiktiven Insel irgendwo im südlichen Pazifik. Orplids Ureinwohner sind einst dem Zorn der Götter zum Opfer gefallen, nur die gleichnamige Metropole steht noch, völlig menschenleer, „als ein traurig schönes Denkmal vergangener Hoheit“ da (3, S. 96), bis sie viele hundert Jahre später von einigen europäischen Schiff brüchigen wiederentdeckt wird. Einer dieser Neusiedler schildert rückblickend, wie sich die Ankömmlinge mit Schrecken und Verwunderung der Geisterstadt näherten: Nun es aber gegen Morgen dämmerte, kam sie beinahe noch ein ärger Grauen an; es kräheten keine Hähne, kein Wagen ließ sich hören, kein Bäcker schlug den Laden auf, es stieg kein Rauch aus dem Schornstein. Es brauchte dazumal Jemand das Gleichniß, der Himmel habe über der Stadt gelegen, wie eine graue Augenbraun über einem erstarrten und todten Auge. Endlich traten sie Alle durch die Wölbung der offenen Thore; man vernahm keinen Sterbenslaut als den des eigenen Fußtritts und den Regen, der von den Dächern niederstrollte, obgleich nunmehr die Sonne schon hell und goldig in den Straßen lag. Nichts regte sich auch im Innern der Häuser. (S. 100)
Die Märcheninsel Orplid wurde von Mörike und seinem Freund Ludwig Bauer in gemeinschaftlicher Fabulierfreude erfunden, während sie beide in Tübingen studierten. Doch scheinen in das im Roman entworfene Bild der verlassenen Stadt auch sehr konkrete Erfahrungen eingeflossen zu sein, die Mörike schon in frühester Jugend gemacht hatte, und zwar in Ludwigsburg, wo er am 8. September 1804 zur Welt kam und die ersten – 16 –
Ludwigsburg
dreizehn Jahre seines Lebens verbrachte. Ein „traurig schönes Denkmal vergangener Hoheit“ war dieser Ort damals nämlich ebenfalls. Ludwigsburg mit seinem riesigen Barockschloss, wenige Kilometer nördlich von Stuttgart gelegen, entstand im frühen 18. Jahrhundert als Gründung des württembergischen Herzogs Eberhard Ludwig. Im Gegensatz zu Stuttgart oder Tübingen, die sich aus mittelalterlichen Wurzeln entwickelt hatten, wurde es buchstäblich auf dem Reißbrett entworfen und im Stil des absolutistischen Zeitalters äußerst großzügig geplant, mit breiten Straßen in moderner rechtwinkliger Anordnung, prächtigen Alleen und weitläufigen Parkanlagen. Als neue Residenz Württembergs war die Stadt von Anfang an stark vom Hof, vom Militär und von der Beamtenschaft geprägt. Doch 1775 verlegte Herzog Karl Eugen – der Landesvater des jungen Schiller – den Regierungssitz endgültig nach Stuttgart, und obwohl Ludwigsburg fortan immerhin noch als zeitwei liger Sommeraufenthalt des Hofes diente, war seine Glanzzeit unwiderruflich vorüber. Justinus Kerner, der Arzt und Dichter, der gleichfalls aus Ludwigsburg stammte, allerdings achtzehn Jahre älter war als Mörike, berichtet in seinem Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, wie die Vaterstadt in den Sommermonaten auflebte: „in dieser Zeit füllten sich die weiten, menschenleeren Gassen, Linden- und Kastanienalleen Ludwigsburgs mit Hofleuten in seidenen Fräcken, Haarbeuteln und Degen und mit den herzoglichen Militärs in glänzenden Uniformen und Grenadierkappen, gegen welche die andern wenigen Bewohner in bescheidenen Zivilröcken verschwanden.“1 In der Rückschau kommen dem Erwachsenen die verschwenderischen Feste Karl Eugens mit ihren Feuerwerken, Maskenbällen und künstlichen Zaubergärten wie „bunte Träume“ vor. Kerner weiß aber ebenso anschaulich von der melancholischen Stimmung zu erzählen, in die Ludwigsburg verfiel, wenn der Hof abwesend war: Bevölkerung und Gewerbe waren ohnedies klein und desto auffallender die Menschenleere in den langen, weitgebauten Straßen. Ich erinnere mich noch mancher Sonntage, wo nachmittags der große Marktplatz vor unserm Hause so still war, daß man auf demselben fast die Perpendikel der benachbarten Turmuhr gehen hörte. In den Arkaden waren oft die einzige Bevölkerung die Hühner des Italieners Menoni und nur das Krähen derselben unterbrach die Stille, die oft ringsherum herrschte. […] Besondere Gefühle von Verlassenheit und Trauer wandelten einen in den vielen langen und menschenleeren Alleen der Stadt an. So hatten auch die großen verlassenen Räume des Schlosses und namentlich die Gegend des Corps de Logis etwas Unheimliches, Gespensterhaftes.2
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2. Kindheitsheimat und Familienbande
Der Zeitgenosse Carl Theodor Griesinger nannte Ludwigsburg sogar kurzweg die „Todtenresidenz Württembergs“: „nirgends sind die Straßen breiter und die Häuser entvölkerter.“3 Man darf annehmen, dass diese Umgebung seiner Kindheit einigen Einfluss auf Mörikes Imagination des verödeten Orplid ausgeübt hat, wo das kleine Häuflein europäischer Siedler, eng zusammengedrängt, ganz am Rande der riesigen alten Königsstadt haust. Übrigens hatte schon Kerner ein Beispiel dafür gegeben, wie man ihre gemeinsame Heimat in die Welt der poetischen Fiktion hinüberspielen konnte, denn der Ort Grasburg in seinen romantisch-phantastischen Reiseschatten ist unverkennbar ein verfremdetes Abbild Ludwigsburgs: Durch die schönen Gänge von Linden- und Kastanienbäumen führte uns der Weg in die Stadt Grasburg ein. Totenstille herrschte, die nur von dem Gesumse der Bienen um die Blüten der Bäume unterbrochen wurde. Lange, weite Straßen eröffneten sich, sie wurden durch niedliche, gelbgefärbte Häuser gebildet. […] An den Häusern sproßte hohes Gras auf, Schmetterlinge, Goldvögel und Maienkäfer durchflogen die sonnenhellen Straßen und setzten sich bald auf die Dächer der Häuser, bald auf dies Stadtgras, welches wunderlich anzusehen war.4
Die schmerzlich-süße Wehmut, die sich an Vergänglichkeit und Verfall knüpft und aus der Einsicht in den Abstand zwischen Einst und Jetzt erwächst, gehört zu den auffallendsten Konstanten in Mörikes seelischem Leben, und sie dürfte eine ihrer Wurzeln in der eigentümlichen Atmosphäre Ludwigsburgs gehabt haben, die er in den Kinderjahren gleichsam in sich aufsog. Bestätigt wird diese Vermutung durch ein Leitmotiv in seinen Schriften, das mit solchen Empfindungen eng verbunden ist und ebenfalls in die Ludwigsburger Zeit zurückweist. In der Emichsburg, einer künstlichen Ruine im dortigen Schlosspark, war eine Äolsharfe installiert, wie sie dem Geschmack der Empfindsamkeit und später der Romantik entsprach, und dieses Instrument muss mit seinen geisterhaften Klängen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Mörike gemacht haben. In einem Brief vom Mai 1831, in dem er seiner Verlobten Luise Rau von einer Fahrt nach Ludwigsburg berichtet, liest man: „Wir durchstrichen die melankolischen Gänge der königl. Anlage; in der Emichsburg hört ich die Windharfen flüstern wie sonst, die süßen Töne schmolzen alles Vergangene in mir auf “ (11, S. 201). Die „Klage der Äoleusharfe“ (10, S. 247) erwähnte der Dichter auch sonst gerne, wenn ihn Wehmut überkam, und – 18 –
Ludwigsburg
für gewöhnlich glitten seine Gedanken dann zur Emichsburg zurück.5 Das Gedicht An eine Äolsharfe, das dieses Motiv in den Mittelpunkt rückt, wird uns an anderer Stelle noch beschäftigen, und auch die Eingangsverse von Ach nur einmal noch im Leben! assoziieren die Windharfe mit Melancholie und Vergänglichkeit. Mörike blieb Ludwigsburg zeitlebens innig verbunden. Noch im vorgerückten Alter zelebrierte er jede Reise, die ihn dorthin führte, pietätvoll wie eine „Wallfahrt“ (17, S. 223, und 18, S. 104), und in dem eben zitierten Brief an Luise Rau erzählt er: „es war beschlossen daß die wenigen Stunden rein nur den heiligsten Erinnerungen, d. h. der Stadt selbst und ihren alten Plätzchen sollten gewidmet [sein] – nichts wollte man sehen was an das neuere Zeitalter mahnte und auf alle Besuche wurde verzichtet“ (11, S. 200). In Mörikes poetischem Werk zeugt nicht allein das Orplid-Spiel in Maler Nolten von dieser Nostalgie. In der Novelle Lucie Gelmeroth spiegelt die Haltung des fiktiven Ich-Erzählers, der nach langer Abwesenheit erstmals wieder seine „Geburtsstadt“ betritt, offenkundig die seines Schöpfers wider: „ich theilte daher in der Stille die Stunden des übrigen Tags für mich ein. Ich wollte nach Tische die nöthigsten Besuche schnell abthun, dann aber möglichst unbeschrien und einsam die alten Pfade der Kindheit beschleichen“ (6.1, S. 13). Jahrzehnte später erläuterte Mörike seinem Altersfreund Moriz von Schwind, dass er für eine Episode aus der Jugend dieses Erzählers den sogenannten „Salon“ als Schauplatz gewählt habe, „eine Art von Park mit alten dunkelschattigen Kastanienalleen bei meiner guten Vaterstadt Ludwigsburg“ (19.1, S. 39). Mörike scheint in seiner „guten Vaterstadt“ tatsächlich eine ausgesprochen glückliche Zeit verlebt zu haben. Aber in den einschlägigen Selbstzeugnissen, die natürlich aus späteren Jahren stammen, leuchtet das Licht der Kindheit stets durch den Schleier einer wehmütigen Trauer um das unwiederbringlich Verlorene. Noch einmal der Brief an Luise von 1831: „Es war das heiterste Wetter, wir durchzogen die Straßen, die Alleen, ich betrat – als ein Fremder mit wunderlichem Schauder das Haus meiner Eltern – o! wie viel Schönes ist da im Hof und Garten umgestaltet! Als ich einen Stumpf der herrlichen Maulbeerbäume, die mit den Zweigen sonst das Dach erreichten, so kläglich aus der Erde blicken sah brannte mein Inneres von Schmerz“ (11, S. 200f.). Gern dachte Mörike auch an die schon mehrfach erwähnten Ludwigsburger Kastanienalleen zurück, die so wundervolle Spielplätze abgaben. 1845 schrieb er folgendes Gedicht, das er zusammen mit einer Handvoll Kastanien aus dem Schlossgarten von Mergentheim seiner jüngeren Schwester Klara überreichte: – 19 –
2. Kindheitsheimat und Familienbande
Mir ein liebes SchauGerichte Sind die unschmackhaften Früchte, Zeigen mir die Pracht-Gehänge Heimatlicher Schattengänge, Da wir in den Knabenzeiten Sie auf lange Schnüre reihten, Um den ganzen Leib sie hiengen Und als wilde Menschen giengen, Oder sie auch wohl im scharfen Krieg uns an die Köpfe warfen. – Trüg ich, ach, nur eine Weile Noch am Schädel solche Beule, Aber mit der ganzen Wonne Jener Ludwigsburger Sonne! (14, S. 277)
Die von strahlendem Licht erfüllte Kindheit ist hier die Zeit vor all jenen Entfremdungen und Entzweiungen, die der Eintritt in die Welt der Erwachsenen und der gesellschaftlichen Ordnung unweigerlich mit sich bringt, und damit der einzige Lebensabschnitt, in dem der Mensch, noch ganz im Einklang mit sich selbst, uneingeschränkte „Wonne“ genießen kann. Diese Auffassung hat ihre Vorläufer in der Kindheitsutopie der Romantik. Deren Dichter fanden im Kind den paradiesischen Urzustand der Menschheit wieder, der mit dem Sündenfall der Bewusstwerdung sein Ende gefunden hatte, und integrierten das verklärte Ideal der Kindheit damit in ein geschichtsphilosophisches Verlaufsschema. „Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter“, lautet die einprägsame Formulierung in einem Fragment aus der Blüthenstaub-Sammlung des Novalis.6 Solche weit ausgreifenden Spekulationen waren Mörikes Sache nicht. Für ihn bedeutete die glückliche Kindheit zuallererst eine ganz persönliche, individuelle Erfahrung, die er im Gedicht noch einmal sehnsüchtig heraufbeschwor, wobei die humoristische Einfärbung der Verse freilich weder steifes Pathos noch übertriebene nostalgische Schwärmerei aufkommen lässt. Was Mörike aber mit der Romantik verbindet, ist der Umstand, dass Kindheit immer als vergangene, als ein verlorenes Paradies in den Blick kommt. Die vom Atem der Vergänglichkeit angehauchte Stimmung milder Wehmut hat in Mörikes Biographie also einen doppelten Ursprung. War schon Ludwigsburg selbst von der melancholischen Atmosphäre vergangener Schönheit und verblassten Glanzes erfüllt, so trat für den Dichter später noch der unüberbrückbare Abstand zu den seligen Jahren der eigenen – 20 –
Die Familie Mörike
Kindheit und Jugend hinzu, die, wie er einmal in einem Brief schrieb, stets „im warmen Sonnenschein“ vor seinem inneren Auge lagen (11, S. 88).
Die Familie Mörike Mörikes Vorfahren väterlicherseits kamen aus Norddeutschland, genauer gesagt aus der Mark Brandenburg. Mindestens zweimal stieß der Dichter bei der Beschäftigung mit seiner Familiengeschichte in amtlichen Dokumenten auf einen gewissen Bartholomäus Möricke, der im späten 17. Jahrhundert aus dem fernen Havelberg nach Neuenstadt am Kocher – früher auch Neuenstadt an der Linde genannt – übergesiedelt war und durch seine Heirat mit der verwitweten Augusta Maria Vischer zum Stamm vater der württembergischen Möri(c)kes wurde.7 Bartholomäus etablierte sich in Neuenstadt als Hof- und Stadtapotheker und rief damit eine Tradition ins Leben: Noch zu Eduard Mörikes Zeiten war die Neuenstädter Apotheke im Besitz seines entfernten Verwandten Karl Abraham Möricke. Während der Jahre, die Mörike im nahegelegenen Cleversulzbach verbrachte, stattete er dem wohlhabenden Vetter und seiner Frau Marie, deren Gesangstalent er sehr zu schätzen wusste, hin und wieder einen Besuch ab. Bei einer solchen Gelegenheit inspizierte er auf dem Kirchhof von Neuenstadt „alte u. moderne Grabsteine der Mörikeschen Familie“ (13, S. 218) – und entdeckte auf einem Grab eine Pflanze, die ihn zu dem Gedicht Auf eine Christblume anregte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Familie Mörike in Württemberg bereits weit verzweigt. Die Ludwigsburger Linie hatte der Großvater des Dichters begründet, Johann Gottlieb Möricke, seines Zeichens Arzt und ein Enkel jenes Bartholomäus aus Havelberg. Sein Sohn, Karl Friedrich Mörike (1763–1817), war eigentlich für die geistliche Laufbahn bestimmt und absolvierte daher einen ähnlichen Ausbildungsweg, wie ihn Eduard später beschritt. Noch während des Vikariats entschied er sich aber doch für die Medizin und ließ sich nach abgeschlossenem Studium ebenfalls als Arzt in Ludwigsburg nieder. Neben seiner Berufstätigkeit betrieb er ehrgeizige wissenschaftliche Studien, deren Krönung ein umfangreiches philosophisch-medizinisches Werk in lateinischer Sprache bilden sollte, das schließlich als Fragment liegen blieb.8 1793 heiratete er Charlotte Dorothea Beyer (1771–1841), die einer schwäbischen Pfarrersfamilie entstammte. Als studierter Mediziner und Oberamtsarzt war Karl Friedrich Mörike in Ludwigsburg eine angesehene Persönlichkeit. Die Mörikes zählten zu – 21 –
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der sogenannten Ehrbarkeit, jener exklusiven Schicht bürgerlicher Honoratioren, die in Württemberg, wo es an landsässigem Adel fehlte, seit jeher eine wichtige Rolle gespielt, die Magistrate in den Städten besetzt und die meisten höheren Beamten des Staates gestellt hatte. Ihr politischer Arm war seit dem 16. Jahrhundert die „Landschaft“ gewesen, die Ständevertretung, deren spannungsreiches Verhältnis zu den regierenden Herzögen bis in die napoleonische Epoche hinein die württembergische Geschichte prägte. Als Eduard Mörike geboren wurde, vollzogen sich allerdings gerade jene Umbrüche, die die Ehrbarkeit ihrer politischen Funktionen und Machtmittel beraubten – in dem Kapitel, das sich mit der politischen Einstellung des Dichters befasst, wird darüber mehr zu sagen sein. Gleichwohl behielt sie ihre hohe Bedeutung für das gesellschaftliche und kulturelle Leben Württembergs. Die gemeinsame lutherische Konfession, verbindliche Wertvorstellungen und der relativ einheitliche weltanschauliche Horizont sorgten für eine gewisse Homogenität der Ehrbarkeit, die auch durch die teilweise erheblichen Unterschiede in den Vermögensverhältnissen der einzelnen Familien kaum beeinträchtigt wurde, zumal diese Honoratioren in der Regel einen recht bescheidenen Lebensstil von eher kleinbürgerlichem Zuschnitt pflegten. Überdies bestanden zwischen ihnen vielfältige verwandtschaftliche Beziehungen, die der Ehrbarkeit den Charakter eines komplexen Netzwerks verliehen und, wie man sich leicht denken kann, eine ausgeprägte Vetternwirtschaft begünstigten. In die oberste Spitze der Ehrbarkeit, die im ausgehenden 18. Jahrhundert noch die Schlüsselpositionen im Geheimen Rat des Herzogs und im Engeren Ausschuss der Landschaft innegehabt hatte, stieg die Familie Mörike zwar nicht auf, doch gab es durchaus Verbindungen zu dieser Sphäre. So war Eberhard Friedrich von Georgii, der verschiedene hohe Verwaltungsämter im Staat bekleidete und zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der württembergischen Politik zählte, in erster Ehe mit einer älteren Schwester von Mörikes Vater verheiratet gewesen. Für den Neffen sollte dieser einflussreiche Mann später ein wichtiger Förderer und zugleich eine väterliche Autoritätsfigur werden. Einige Einblicke in das Leben im Elternhaus des Jungen gewährt das erste poetische Werk, das wir von ihm kennen, das Gedicht Ein Wort der Liebe den besten Eltern von Eduard Mörike an seinem eilften Geburtstage, das er für den 8. September 1815 anfertigte. Die elf achtzeiligen Strophen, die bereits von einem recht souveränen Umgang mit Metrum und Reim zeugen, orientieren sich inhaltlich weitgehend an den stereotypen Motiven, die man in solchen Gelegenheitsversen erwarten kann, doch sind die – 22 –
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Strophen 3 und 4 gerade in ihrer Konventionalität aufschlussreich für die Rollenverteilung innerhalb der Familie: Ach! der Leidenden so viele, Die der Krankheit Last gedrückt, Hat mit warmem Mitgefühle, Ihre Hülfe schnell erquickt. Vater! der Sie durch Ihr Leben Mir des Fleißes Beispiel geben, Möcht ich immer mich bestreben, Menschenfreund! wie Sie zu sein! Mutter! Ihrer zarten Liebe, Ihres Beispiels hoher Kraft Dank ich alle edlen Triebe, Jede gute Eigenschaft. Sie, die Ernst mit Milde paaren, Nicht die größte Mühe sparen, Meine Sitten zu bewahren, Seien durch mich selbst belohnt.9
Der Vater wird in seinem ärztlichen Beruf und als unermüdlicher „Menschenfreund“ vorgestellt, der für den Sohn ein Muster an Fleiß und Pflichterfüllung verkörpert. Er ist gewissermaßen eine öffentliche Person, ihm obliegt die tätige Bewährung im Leben. Anders die Mutter, der das Gedicht „zarte Liebe“ und die Sorge um die „Sitten“ des Kindes zuordnet, also die Aufgabe der Erziehung und der sittlichen Bildung, die im Binnenbereich von Haus und Familie angesiedelt ist. Hier erkennt man unschwer die typischen komplementären Geschlechterrollen in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wieder, und es ist nicht daran zu zweifeln, dass sie das familiäre Leben und die Alltagspraxis tatsächlich in hohem Maße geprägt haben. Obwohl die bürgerlich-patriarchalische Welt an der ideologischen Überhöhung der väterlichen Autorität festhielt, lag die Erziehung des Nachwuchses also vorwiegend in der Hand der Mutter, die für die Kinder die entscheidende Bezugsperson gewesen sein muss. Das bestätigen auch noch die einschlägigen Passagen in dem offiziellen Lebenslauf, den Mörike 1834 aus Anlass seiner Investitur in Cleversulzbach verfasste und der in der Kirche verlesen wurde: Die Verhältnisse meiner Eltern waren für die erste Entwicklung der Kinder günstig genug; allein es konnte der Vater bei einem äußerst geschäftvollen Amte, das ihn den Tag über meist außer dem Hause festhielt, bei der rastlosen
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Thätigkeit womit er selbst daheim nur seiner Wissenschaft lebte, an unserer Erziehung nur den allgemeinsten Anteil nehmen. Wenn er auf uns wirkte, so geschah es zufällig durch einzelne Winke oder gewißermaßen stillschweigend durch den so liebevollen als ernsten Eindruck seiner ganzen Persönlichkeit; ausdrücklich, belehrend war seine Unterhaltung selten u. gegen die Jüngern, zu denen ich gehörte, fast niemals. Dagegen konnte uns im Sittlichen die Mutter auch statt alles Andern gelten. Durch ihre Zärtlichkeit, ihr reines Beispiel und durch ein Wort zur rechten Zeit gesprochen, übte sie ohne studirte Grundsätze u. ohne alles Geräusch eine unwiderstehliche sanfte Gewalt über die jungen Herzen aus. (7, S. 329)
Charlotte Mörike brachte insgesamt dreizehn Kinder zur Welt, eine für die damalige Zeit keineswegs ganz ungewöhnliche Zahl. Zur Normalität gehörte freilich auch, dass viele dieser Kinder schon bald nach der Geburt starben: Nicht weniger als sechs Geschwister Eduards ereilte dieses Schicksal. Übrig blieben Karl (1797–1848) und Luise (1798–1827), die älter waren als er, sowie August (1807–1824), Ludwig (1811–1886), Adolph (1813– 1875) und die Nachzüglerin Klara (1816–1903). Von ihnen und ihren Schicksalen wird im Folgenden noch die Rede sein. Eduards unbeschwerte Kindheit fand im Jahre 1815 ein plötzliches Ende, als Karl Friedrich Mörike, den ein Schlaganfall teilweise gelähmt hatte, seinen Beruf aufgeben musste. „Mit diesem Tage begann das Glück unseres Hauses in mehr als Einem Betrachte zu sinken“, konstatiert der Investiturlebenslauf lakonisch (7, S. 330). Die Zustände in der Familie gewannen nun eine ganz andere und äußerst beklemmende Gestalt; Mörike spricht von „Augenblicke[n] des herzzerreissenden Elends, die unauslöschlich in meiner Erinnerung stehen“, vom „Ernst des Lebens“ und von der „Hinfälligkeit alles Menschlichen“, die er „mit erschütternder Wahrheit“ empfunden habe (S. 331). Mag hier auch eine gewisse pathetische Stilisierung hineinspielen, die dem offiziösen Anlass dieser biographischen Skizze geschuldet ist, so gibt es doch keinen Grund, an der Stärke der Eindrücke zu zweifeln, die damals auf den Jungen wirkten. Am 22. September 1817 beendete der Tod die Leiden des Vaters. Die Familie, ihres Oberhauptes und Ernährers beraubt, sah sich nicht nur in materieller Hinsicht in einer bedrängten Lage. Den heranwachsenden Söhnen fehlte nun jener Mentor, der ihnen den Weg aus dem umhegten Raum des elterlichen Hauses in die Sphäre der Öffentlichkeit, der Ausbildung und des Berufs hätte weisen sollen, und dieser Umstand mag mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass die meisten von ihnen im bürgerlichen Leben auf unerfreuliche Weise Schiff bruch erlitten. Zunächst bewährte sich – 24 –
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jedoch das verwandtschaftliche Beziehungsnetz, das weit über den engen Kreis der Kernfamilie hinausreichte. Schon in der Todesanzeige ihres Gatten hatte Charlotte Mörike der Hoffnung Ausdruck verliehen, „Gönner, Freunde und Verwandte“ würden der Witwe und den sieben Halbwaisen künftig beistehen10, und in der Tat kümmerte sich der bereits erwähnte Onkel Georgii um den jungen Eduard, indem er ihn zu sich nach Stuttgart nahm, um seine Bildung und seine Karriere zu fördern. Im Oktober 1817 verließ Mörike Ludwigsburg und zog in die Residenzstadt. Zu einer Zeit, als die öffentlichen Wohlfahrts- und Fürsorgeeinrichtungen noch in den Anfängen steckten und der moderne Sozialstaat mit seinen vielfältigen Sicherungssystemen in weiter Ferne lag, waren ausgedehnte Verwandtschaftsnetzwerke, die wechselseitige Unterstützung garantierten, von lebenswichtiger Bedeutung, und gerade in der württembergischen Ehrbarkeit hatte die Familiensolidarität Tradition. Aber Mörike profitierte nicht nur von dieser Solidarität, er erfüllte später auch seinerseits gewissenhaft die Verpflichtungen, die sie ihm auferlegte. Es war keine bloße Phrase, wenn er 1843 in seinem Pensionsgesuch von den schweren „Opfern“ sprach, die er „als Sohn und als Bruder“ gebracht habe (14, S. 111). Die verwitwete Mutter nahm er zu sich, sobald er sich dazu imstande sah. Schon während seiner Zeit als Pfarrverweser in Ochsenwang teilte sie seine bescheidene Wohnung mit ihm, und 1834 zog sie mit in das geräumige Pfarrhaus von Cleversulzbach, wo sie dem Sohn bis zu ihrem Tod den Haushalt führte. Auf die „kindliche Pflicht“ gegen die Mutter, deren „sorgenvolle Lage“ er zu erleichtern wünsche, berief sich Mörike sogar in dem hochoffiziellen Brief an König Wilhelm I. von Württemberg, mit dem er sich 1830 – vergeblich – um die Pfarrei Erpfingen bewarb (11, S. 159), und der Dekan als sein unmittelbarer Vorgesetzter griff das Argument in seiner beigefügten Stellungnahme auf.11 Offenbar war es nicht unüblich, dass derartige Gesichtspunkte in solchen Fällen geltend gemacht und bei der Stellenvergabe, sozusagen als Ausgleich für das Fehlen institutionalisierter sozialer Absicherungen, auch nach Möglichkeit berücksichtigt wurden. Ähnlich lautende Passagen kehren in späteren Bewerbungsschreiben Mörikes wieder, unter anderem in dem, das ihm schließlich seine feste Pfarrstelle einbrachte.12 In Cleversulzbach fand auch die jüngste Schwester Klara Aufnahme, die unverheiratet blieb und fortan bis an sein Lebensende mit dem Dichter zusammenwohnte. Schwierig und belastend gestalteten sich für Mörike auf lange Sicht die Beziehungen zu seinen Brüdern.13 Der nächstjüngere, August, kam schon 1824 in der Ludwigsburger Apotheke, in der er als Gehilfe arbeitete, unter – 25 –
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etwas mysteriösen Umständen zu Tode, ein Vorfall, der auf Eduard traumatisch gewirkt haben muss.14 Dagegen berechtigte die Laufbahn des Ältesten anfangs zu großen Erwartungen, denn Karl Mörike, der in Tübingen Kameralistik studiert hatte, brachte es rasch zum respektablen Amtmann in Scheer an der Donau. Dort scheint er jedoch bald seine Dienstaufgaben vernachlässigt und seine Kanzlei in Unordnung gebracht zu haben. Um bei den bereits misstrauisch gewordenen vorgesetzten Behörden den Anschein gründlicher Pflichttreue zu erwecken, verfiel er 1830 unter dem Eindruck der Juli-Ereignisse in Frankreich auf den unseligen Gedanken, eigenhändig anonyme Plakate und Briefe mit revolutionären Parolen zu verfassen, die er anschließend ‚aufspürte‘ und meldete. Die ungeschickt angelegte Intrige flog auf und brachte ihm die Amtsenthebung und ein Jahr Festungshaft im Staatsgefängnis auf dem Hohenasperg ein. Eduard, der Karl seit frühester Kindheit besonders nahegestanden und sich ihm durch „Familien Äther“ und „Geistesübereinkunft“ verbunden gefühlt hatte (10, S. 211), schrieb voller Zorn: „Ich bin ganz aus allem Geleise gebracht. Stündlich durchkreuzen sich bange Gedanken in mir und oft ist Empörung u. Grimm gegen meinen Bruder mein einziges Gefühl – gegen den, für welchen ich sonst Blut u. Leben hätte lassen können“ (11, S. 183). In ein geregeltes Dasein fand Karl trotz verschiedener Bemühungen um einen beruflichen Neuanfang nie mehr zurück. Er ließ sich in seiner Verbitterung zu Erpressungen und Urkundenfälschungen hinreißen und verbüßte noch mehrere Haftstrafen, bis er 1848 an Lungentuberkulose starb. Für Eduard, der ihn in Ochsenwang und Cleversulzbach mehrfach vorübergehend bei sich aufgenommen und ihm, wenngleich mit zunehmendem Widerwillen, auch immer wieder finanziell unter die Arme gegriffen hatte, dürfte der Tod des unruhigen Bruders einer Erlösung gleichgekommen sein. Nicht viel besser bewährte sich Adolph Mörike, der das Schreinerhandwerk erlernte und als Instrumentenbauer tätig war. Er führte über Jahre hin ein unstetes Leben, dessen Stationen nur teilweise zu rekonstruieren sind, und wurde ebenfalls mehrfach straffällig. Peinlicherweise saß er sogar einige Monate lang gemeinsam mit Karl im Arbeitshaus ihrer Vaterstadt Ludwigsburg ein – was das für die Familie bedeutete, kann man sich ausmalen. Eduard, der selbst nicht mit Reichtümern gesegnet war, brachte auch für diesen Bruder beträchtliche Geldsummen auf, bis es ihm endlich doch zu bunt und sein Ton merklich rauer wurde. In einem Brief an den Freund Wilhelm Hartlaub schilderte er im Frühjahr 1838 das derzeitige „Familienunglück“: – 26 –
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Carl hat sich ohne unser mindestes Vorwissen neue Angriffe kriminelle Drohungen gegen den JustizMinister erlaubt ohne Zweifel um ihm irgend eine Hilfe, ein Amt oder dergl. abzuzwingen. Dafür ist er nunmehr auf 6. Monate ins Arbeitshaus verdammt. Adolf, der ganz verworfene Mensch hat anderweitig böses Zeug gemacht, hierauf gegen mein ausdrückliches Verbot sich hieher geschlagen u. da ich ihn auf keine Weise sehen wollte, mein Haus mit Zudringlichkeiten bestürmt, worüber meine Mutter u. ich fast krank geworden sind. (12, S. 191)
Indes brach der Kontakt nicht völlig ab. Noch 1862 verfasste Mörike für Adolph, der sich bei der Leipziger Firma Breitkopf & Härtel als Klavierbauer bewerben wollte, ein zurückhaltendes, aber wohlwollendes Empfehlungsschreiben.15 Sein Bruder bekam die Stelle und konnte seine Existenz allmählich in ruhigere Bahnen lenken. Dennoch nahm es mit ihm ein trauriges Ende: Nach dem Unfalltod seiner Frau verfiel er in geistige Umnachtung und beging im April 1875 Selbstmord. Ob Eduard, der bald darauf verstarb, noch davon hörte, wissen wir nicht. Auch Ludwig machte im Laufe seines Lebens allerlei sonderbare Sprünge und erlangte nie eine feste und dauerhafte berufliche Stellung. Er besuchte die Ackerbauschule in Hohenheim und arbeitete erst in der Schweiz, dann auf Schloss Pürkelgut bei Regensburg als Gutsverwalter; später gab er sich, überwiegend in München, mit dem Wollhandel ab und wurde schließlich Porzellanmaler. Dass er ebenfalls mehr als einmal finanzielle Unterstützung benötigte, muss kaum eigens erwähnt werden. So erwies sich der scheue, ewig kränkelnde und wenig lebenstüchtige Eduard, der noch vor dem vierzigsten Lebensjahr seine Pensionierung beantragte, ironischerweise als der solideste und gesellschaftlich erfolgreichste aller Mörike-Brüder. Keines der übrigen männlichen Familienmitglieder erfüllte auch nur ansatzweise die Hoffnungen, die die Verwandtschaft in sie gesetzt haben dürfte. Wenn Mörike den Brüdern beistand, soweit es seine schwachen Kräfte erlaubten, und ihre Wege mit Bangen verfolgte, war dies gewiss nicht nur der geschwisterlichen Liebe, sondern auch der berechtigten Angst um den Ruf der Familie geschuldet: Kriminelle Verwandte, von denen einer nicht einmal vor Drohungen gegen Regierungsmitglieder zurückschreckte, konnten dem Staatsdiener, der Mörike als Vikar und Pfarrer war, keineswegs gleichgültig sein. Wie sehr ihn die Umtriebe von Karl und Adolph, ganz abgesehen von den Kosten, die sie verursachten, auch seelisch belasteten, lassen seine Briefe, die sich überwiegend auf sparsame Andeutungen beschränken, meist nur erahnen. – 27 –
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Ganz anders sah es mit den engsten weiblichen Angehörigen aus. War der Binnenraum der Familie damals aufgrund der spezifischen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern ohnehin für gewöhnlich von den Frauen dominiert, so muss der frühe Tod des Vaters diese Prägung in Mörikes Fall noch verstärkt haben. Im Grunde blieb die Ursprungsfamilie für den Dichter zeitlebens eine schützende und bergende Sphäre, über die Mutter und Schwestern wachten. Seit den Tagen in Ochsenwang, als Charlotte Mörike zu ihm zog, lebte er fast ununterbrochen in weiblicher Obhut: mit der Mutter, mit der Mutter und der Schwester Klara, mit Klara allein oder mit ihr und seiner Ehefrau Margarethe. Dabei verharrte er immer bis zu einem gewissen Grade in der Rolle des unmündigen, umsorgten Jungen. Als ein „verwöhntes Kind“, dem man seinen Willen tun müsse, charakterisierte die ältere Schwester Luise den bald zwanzigjährigen Bruder in ihrem Tagebuch16, und er selbst bekannte noch im vorgerückten Alter, dass er „ohne weibliche Hilfe kaum existiren“ könne (16, S. 54). Wenn äußere Nöte oder seelische Konflikte seine Widerstandskraft zu überfordern drohten, war es die Familie, bei der Mörike Geborgenheit suchte und fand. Nie zeigte sich das deutlicher als in dem fatalen Sommer 1824, als er, zutiefst verstört durch seine verworrene Affäre mit Maria Meyer, überstürzt aus Tübingen abreiste und sich zu seiner Mutter und seinen Schwestern nach Stuttgart flüchtete. Was ihm gerade Luise in solchen Situationen bedeutete, verrät das Gedicht Nachklang. An L., dessen erste Strophe hier zitiert sei: Wenn ich dich, du schöne Schwester sehe, Und betrachte deinen Ernst so gerne, In den Augen diese klaren Sterne, Ist’s, als wollte weichen all mein Wehe.17
Wie aus den weiteren Versen zu erschließen ist, stellte Mörike die „reine Seele“ der engelsgleichen Schwester als rettende und erlösende Macht den quälenden erotischen Verstrickungen gegenüber. Später widmete er auch der Mutter zwei Gedichte, die im antiken Versmaß des Distichons abgefasst sind und in die Sammlung seiner Lyrik aufgenommen wurden: An meine Mutter und An Dieselbe. Trost, Frieden und Liebe strahlen hier von der Muttergestalt aus – und zwar im Kontrast zu einer „Welt“ (1.1, S. 169), die dem Sprecher offenbar ein ums andere Mal bittere Enttäuschungen bereitet. Der Schlussvers von An meine Mutter stellt zudem erneut eine Verbindung zu religiösen Vorstellungen her. Allerdings bildete die intime Familiensphäre für Mörike nicht nur einen Ort der Fürsorge und der wohltuenden emotionalen Zuwendung. – 28 –
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Von früh an sah er sich dort auch mit bestimmten Erwartungen konfrontiert, die sowohl moralische als auch ganz praktische Fragen betrafen und einen erheblichen Druck auf ihn ausübten. So war Luise, die mit noch nicht einmal dreißig Jahren an Tuberkulose sterben sollte, eine sehr fromme Frau mit strengen sittlichen Grundsätzen und scheint die Freundschafts- und Liebesbeziehungen ihres Bruders aufmerksam, sorgenvoll und auch ein wenig eifersüchtig überwacht zu haben. Mehrfach drängte sie ihn, sich von Menschen zurückzuziehen, deren Verhalten sie missbilligte und deren Lebenswandel ihr verdächtig vorkam. Das galt neben Maria Meyer etwa für Rudolf Lohbauer, den Mörike bereits aus gemeinsamen Ludwigsburger Kindertagen kannte und der sich in Tübingen wieder um seine Freundschaft bewarb. Mörike wagte zwar ein zaghaftes Wort zu seinen Gunsten, unterwarf sich aber doch rückhaltlos dem Urteil der Schwester, die ihn schon früher vor Lohbauers leidenschaftlichem Ungestüm gewarnt hatte: Rudolf macht alle Anstalten mich diesen Winter für seinen Umgang zu gewinnen. Wahrhaftig, es wird mir schwer, die alte Liebe zu ihm aus meinem Herzen zu reissen, zumal da sich sein äußeres u. inneres Leben zur Reinigkeit hinsehnt. – Aber Dein nächstes Wort soll mich in diesem leidenvollen Kampf entscheiden, soll mich ein für alle mal entweder von ihm scheiden oder gib mir einen Mittelweg! (10, S. 113)
Luise fuhr daraufhin selbst nach Tübingen, um nach dem Rechten zu sehen, und bewog den Bruder dazu, Lohbauers Annäherung strikt abzuweisen.18 Die Familie war es überdies, die Mörikes beruflichen Werdegang festlegte. Bereits frühzeitig wurde besprochen und geklärt, welche Richtung er einschlagen sollte: „Mein Vater wünschte nicht, daß einer sr Söhne seinen Beruf ergreife u. man war, besonders auf den Wunsch eines verehrten Oheims, schon ziemlich übereingekommen mich dem geistlichen Stande zu widmen“ (7, S. 330). Und auch nach dem Tod Karl Friedrich Mörikes achteten neben der Mutter noch einige männliche Autoritätspersonen darauf, dass der Heranwachsende nicht von dem vorgegebenen Pfad abwich. Außer Georgii, dem im Investiturlebenslauf erwähnten „verehrten Oheim“, hatte dabei vor allem Christoph Friedrich Ludwig Neuffer, der Ehemann einer Schwester von Charlotte Mörike, der erst in Benningen bei Ludwigsburg und später in Bernhausen auf den Fildern Pfarrer war, ein gewichtiges Wort mitzusprechen.
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3. Urach, Tübingen und Orplid: Bildungswege und Freundschaftsbünde
Akademische Studien
M
it der Entscheidung, den jungen Eduard für eine Laufbahn als Geistlicher zu bestimmen, traf die Familie keine originelle, aber eine vernünftige Wahl. Längst war die württembergische Ehrbarkeit mit den evangelischen Pfarrern und ihren Familien zu einer verhältnismäßig einheitlichen Führungsschicht verschmolzen, und die Karriere im Kirchendienst stellte einen gängigen Weg für die Sprösslinge der bürger lichen Honoratioren dar. Sie bot handgreifliche Vorteile, verhieß sie doch eine angesehene gesellschaftliche Position und ein lebenslanges sicheres Auskommen. Überdies wurde die Ausbildung durch staatliche Stipendien finanziert. Ihr genau festgelegter Ablauf ging auf die „Große Kirchenordnung“ zurück, die Herzog Christoph im 16. Jahrhundert erlassen hatte, als man in Württemberg nach der Durchsetzung der Reformation für den dringend benötigten geistlichen Nachwuchs Sorge tragen musste. Die erste Hürde für angehende Theologen bildete das sogenannte Landexamen. Wer sich in dieser strengen Prüfung bewährte, ging anschließend auf ein Niederes theologisches Seminar und bezog dann zum eigentlichen Studium das Höhere evangelisch-theologische Seminar an der Landesuniversität Tübingen – kurz: das Tübinger Stift. Dem Examen folgte normalerweise eine Phase als Vikar, der an unterschiedlichen Orten befristet als Helfer oder Stellvertreter eines Pfarrers eingesetzt wurde, bevor schließlich die eigene Pfarrstelle winkte. Mörike besuchte zunächst die Lateinschule in Ludwigsburg, deren Name bereits verrät, was es dort hauptsächlich zu lernen gab: Nach wie vor – 30 –
Akademische Studien
galt die lateinische Sprache als Grundlage jeder höheren Bildung. Nach dem Tod des Vaters wechselte der Junge im Herbst 1817 auf das Gymnasium illustre in Stuttgart, wo er sich unter Georgiis Fittichen noch ein Jahr lang auf das Landexamen vorbereitete. Seine Leistungen waren freilich bestenfalls mittelmäßig, und daran sollte sich auch in der Folgezeit nichts ändern. Vor allem an Fleiß ließ er es oftmals fehlen: „arbeitet nicht gern wenn er nicht muß“, lautete später das lapidare Urteil eines Professors am Niederen theologischen Seminar.1 So wäre der Vierzehnjährige eigentlich schon am Nadelöhr des Landexamens gescheitert, bei dem es lediglich für einen mageren 64. Platz unter 81 Prüflingen reichte. Gnadenhalber wurde er dennoch zum weiteren Ausbildungsweg zugelassen, wobei seine familiäre Situation, aber auch das Ansehen des Onkels den Ausschlag gegeben haben dürften. Mörikes Investiturlebenslauf übergeht dieses peinliche Detail begreiflicherweise und erwähnt nur beiläufig die „bestandene lezte Schulprüfung“ (7, S. 332). Das Gefüge der Niederen theologischen Seminare war damals gerade erst reformiert und umstrukturiert worden. Fortan gab es mit Blaubeuren, Maulbronn, Schöntal und der neugeschaffenen Lehranstalt in Urach auf der Schwäbischen Alb nur noch vier derartige Einrichtungen im Lande. Mörike gehörte im November 1818 mit rund vierzig weiteren Jungen zum ersten Jahrgang – der ersten „Promotion“ –, der in Urach einzog. Das Seminar war wie ein Internat organisiert, doch der Unterrichtsstoff glich dem eines humanistischen Gymnasiums: Den Schwerpunkt bildeten die alten Sprachen und die Dichter, Denker, Redner und Historiker des klassischen Altertums; daneben legte man besonderen Wert auf Geschichte und Philosophie. Den neuhumanistischen Geist, der in den Theologischen Seminaren Württembergs herrschte, verdeutlicht ein Passus aus den Statuten der Uracher Schule: Das Princip des Humanismus, das bisher in den Seminarien dem Unterricht zum Grunde gelegt wurde, soll es auch ferner werden. Studium der Meisterwerke der alten Claßiker sey daher die Hauptbeschäftigung. Nur die vorzüglichsten dieser Claßiker werden so behandelt, daß Sprach- und Sachkunde in möglichster Vereinigung getrieben, die Lehrlinge zu gründlichen Philologen gebildet, aber auch zugleich an diesen Meisterwerken der Geschichte, der Poesie der Redekunst und der Philosophie ihre Geisteskräfte allseitig entwickelt, geübt, geschärft, und diese als praktische Belehrungsmittel über Geschichte, Poesie, Rhetorik, Aesthetik und Philosophie, und als Hauptmittel einer umfaßenden Bildung des Geistes und des Gemüths benüzt werden.2
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3. Urach, Tübingen und Orplid: Bildungswege und Freundschaftsbünde
Am Höheren Seminar in Tübingen, wo Mörike von 1822 bis 1826 studierte, sah es anfangs ganz ähnlich aus, denn auch dort hatte er sich in den ersten Semestern vorwiegend mit Philologie und Philosophie zu befassen, bevor endlich die Theologie in den Vordergrund rückte. Mit dem Griechischen und Lateinischen wurde er nach und nach vertraut, obwohl er im Unterricht nie brillieren konnte. Das Hebräische aber bereitete ihm immer große Pein und verfolgte ihn sogar im Schlaf, wenn man dem Jahre später entstandenen humoristischen Gedicht Scherz (1.1, S. 360) Glauben schenken darf. In diesen Versen erscheint dem Sprecher im Traum sein „alter hebräischer Lehrer“ in Gestalt eines hebräischen Schriftzeichens, von dem der Schulversager nicht einmal zu sagen weiß, ob es nun ein „Kamez“ oder ein „Komez Chatuf “ ist. Als das „grammatikalische Scheusal“ ihm ans Leben will, ruft der Bedrohte in höchster Not den Kompromotionalen Dettinger, der sich im Hebräischen besonders auszeichnete, als Schutzpatron an und vermag sich so im letzten Augenblick zu retten … Moderne Fremdsprachen kamen im Unterricht allenfalls am Rande vor. Mörike bekannte später seine „mangelhafte Kenntniß des Französischen“ und seine „gänzliche Fremdheit im Englischen“ (16, S. 20), das im Curriculum überhaupt keinen Platz fand. So musste er für die lyrische Nachdichtung Ritterliche Werbung auf eine wörtliche Übersetzung der englischen Vorlage ins Deutsche zurückgreifen3 und bedauerte einmal, dass ihm der „Urtext“ von Shakespeares Gedichten „unzugänglich“ sei (18, S. 213). Dagegen machte er 1830 im Hinblick auf eine mit Johannes Mährlen geplante, aber nie ausgeführte Reise nach Venedig auf eigene Faust „Anstalten […] ein wenig Italiänisch zu lernen“ (11, S. 151). Ganz fruchtlos können diese Bemühungen nicht geblieben sein, denn er war später zumindest imstande, einen italienischen Brief einigermaßen zu verstehen.4 Zu den Sprachkenntnissen, die Schule und Studium vermittelten, trat die intensive Beschäftigung mit Rhetorik und Poetik. Der reflektierte, kunstvolle Umgang mit dem gesprochenen und geschriebenen Wort bildete, wiederum ganz in humanistischer Tradition, einen gewichtigen Bestandteil des Unterrichts, und da die Schüler in Urach zu Übungs zwecken selbst lateinische und deutsche Verse anfertigen mussten, lernten sie auch, konventionelle Gedichtformen praktisch zu handhaben. Davon zeugen einige lyrische Werke Mörikes aus den Jahren am Niederen Seminar, die in den Bereich der Kasualpoesie gehören, also für den feierlichen Vortrag bei öffentlichen Anlässen bestimmt waren und sich an den entsprechenden Regeln orientieren. Überliefert sind mit Württembergs Trauer seit dem 9ten Januar 18195 und Auf Erlenmayers Tod, 2. Juni 1820 zwei Texte, – 32 –
Akademische Studien
die der bis in die Antike zurückreichenden Gattung des Epicediums, des formvollendeten Trauergedichts, angehören – der erste beklagt den frühen Tod der Königin Katharina von Württemberg, der zweite gilt einem Mitschüler –, sowie Die Liebe zum Vaterlande. Auf den 31. Dezember 1819, ein nicht minder schulgerechtes Festgedicht zum Jahresausklang mit mancherlei zeitgeschichtlichen Anspielungen. Schon allein das Wissen um Mörikes Bildungsweg in Ludwigsburg, Stuttgart, Urach und Tübingen sollte vor dem verbreiteten Klischee vom naiv-provinziellen Liederdichter warnen. Mörike war ein poeta doctus, auch da, wo er für seine Lyrik keine antikisierenden Versformen wählte, sondern sich etwa des vermeintlich schlichten Volksliedtons bediente. Seine Dichtung entsprang nicht bloß dem Gefühl und der Intuition, sie ruhte ebenso sehr auf dem Fundament einer gediegenen philologischen und rhetorischen Bildung. Zumindest im Rückblick hat er den Wert seiner humanistischen Studien auch dankbar anerkannt, wie sich beispielsweise aus dem Brief ersehen lässt, den er 1848 an Karl Ludwig Roth schrieb, seinen „geliebtesten Lehrer“ aus der Gymnasialzeit, der ihm damals in seinem Hause „einigeMal lateinische PrivatLektion ertheilt“ hatte (15, S. 279f.). Roth wird übrigens als einziger unter den Stuttgarter Lehrern auch im Investiturlebenslauf namentlich und „mit besonderer Achtung u. Anhänglichkeit“ genannt (7, S. 332). Der im engeren Sinne theologische Anteil der Ausbildung scheint Mörike dagegen wenig interessiert zu haben. Davon wird später zu reden sein, wenn es um seine Haltung zur christlichen Religion und zu seinem geistlichen Beruf geht. Indem sie die Pfarrer für die lutherische Landeskirche und die welt lichen Beamten für den Staat heranbildeten, prägten das Stift und die Tübinger Universität über Jahrhunderte hin das württembergische Geistesleben. Die weitaus meisten Männer, die in Schwaben als Dichter und Denker hervortraten – Frauen hatten keinen Zugang zu solchen Bildungschancen! –, waren Absolventen dieser Institutionen, die allenfalls im späten 18. Jahrhundert mit der von Herzog Karl Eugen begründeten, aber bereits 1794 wieder aufgelösten Hohen Karlsschule zeitweilig eine ernstzunehmende Konkurrenz bekamen. Es war auch keineswegs ausgemacht, dass ein junger Mann, der das Stift hinter sich gebracht hatte, anschließend tatsächlich in den Dienst der Kirche trat, denn daneben standen ihm, sofern er die Kosten seiner Ausbildung erstattete, noch ganz andere Karrieren offen, beispielsweise in einem Lehrberuf oder als Verleger, Redakteur oder freier Autor. Von Mörikes engsten Freunden blieb einzig Wilhelm Hartlaub dem geistlichen Amt auf Dauer treu, während Wilhelm Waiblinger, Johannes – 33 –
3. Urach, Tübingen und Orplid: Bildungswege und Freundschaftsbünde
Mährlen und Friedrich Theodor Vischer der Theologie alsbald den Rücken kehrten und Ludwig Bauer seine Pfarrstelle nach einigen Jahren wieder verließ. Die Universität und das Stift sorgten jedenfalls für eine auffallend einheitliche geistige Prägung der gebildeten bürgerlichen Kreise in Württemberg, die den gesellschaftlichen Verkehr und die Kommunikation sehr erleichterte. Als das soziale Milieu, in dem Mörike sich zeitlebens bewegte, stellten diese Kreise auch das Publikum, das er bei der Abfassung seiner Werke mehr oder weniger bewusst vor Augen gehabt haben dürfte. Er schrieb demnach (noch) nicht für jene schichtenübergreifende, weitgehend anonyme Leserschaft, die sich in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts herausbildete, sondern für Adressaten, die humanistisch gebildet waren, sich mit größter Selbstverständlichkeit in der Welt der Antike und der klassischen Dichtung bewegten und manche subtilen Anspielungen sofort verstanden, die wir heute oft erst mit Hilfe von Kommentaren oder Nachschlagewerken mühsam rekonstruieren müssen. Mörikes ‚impliziter Leser‘ – jener virtuelle Rezipient, der seinen Werken gleichsam eingeschrieben ist und der sich für ihn in kultivierten und enthusiastischen Freunden wie Hartlaub geradezu verkörpert haben mag – beherrscht daher auch die griechische und die lateinische Sprache: Wenn der Dichter ein Zitat aus der Bibel oder aus der klassischen Literatur als Motto für ein Gedicht wählte, wie er es etwa bei Göttliche Reminiscenz oder An eine Äolsharfe tat, gab er es im Urtext wieder. Die weitgehende Homogenität des anvisierten Publikums bildete zudem die Voraussetzung für jene gesellige Intimität eines vertraulichen Geplauders, die zahlreiche Texte vor allem aus Mörikes späteren Jahren zu schaffen suchen. Übrigens waren literarische Ambitionen unter den Gebildeten, die das Versemachen ja schon in der Schule geübt hatten, eher die Regel als die Ausnahme. Viele von Mörikes Freunden und Bekannten betätigten sich hauptberuflich oder doch zumindest nebenher als Schriftsteller, einige veröffentlichten eigene Gedichtbände. Boten die Seminare und das Stift den Studenten einerseits eine exzellente Bildung und solide berufliche Chancen, so konfrontierten sie sie andererseits mit einer rigiden disziplinarischen Ordnung. Die Niederen theologischen Seminare nannte man nicht nur deshalb „Klosterschulen“, weil sie in der Reformationszeit in den Gebäuden der aufgehobenen katholischen Männerklöster eingerichtet worden waren; auch die Lebensweise in diesen Internaten hatte etwas Mönchisches an sich. Mörike und seine Mitschüler mussten sich an eine strikte Reglementierung ihres Tagesablaufs und an zahlreiche Vorschriften gewöhnen, die sich sogar auf die Kleidung erstreckten. Wollte man außerhalb der Ferien, der – 34 –
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„Vacanzen“, Urlaub bewilligt bekommen, so war ein Schreiben der Eltern vorzulegen, das den Antrag begründete. Zudem wurde jedem Einzelnen stets ein Platz in der Rangliste der Promotion zugewiesen, der seinem derzeitigen Leistungsstand entsprach – Mörikes Name fand sich regelmäßig im untersten Viertel dieser „Location“. Das ganze höhere Bildungssystem beruhte also auf einer Verbindung von Fürsorge oder Förderung und Disziplinierung, und manche sensiblen Naturen müssen diese Zustände als quälend empfunden haben; noch Hermann Hesse, der 1891/92 das Seminar in Maulbronn besuchte, schildert in seiner Erzählung Unterm Rad einen solchen Fall. Die Regel war das zwar sicherlich nicht, und von Mörike sind keine Klagen über die Bedingungen überliefert, unter denen er seine akademische Laufbahn absolvierte. Eines aber verwehrte die Kombination aus Internatsdasein und humanistischem Bildungsstreben den Zöglingen auf jeden Fall, nämlich lebenspraktische Erfahrung. Wer Seminar und Stift durchlief, verbrachte ungefähr die Zeit vom 14. bis zum 22. Lebensjahr unter strenger Aufsicht in einem eigenen Kosmos. Mörike spricht im Investiturlebenslauf von der „abgeschlossenen u. einförmigen Lage“, in der sich die Schüler in Urach befunden hätten (7, S. 333), und im Grunde darf man diese Wendung auch auf die Tübinger Jahre beziehen, wenngleich die Studenten hier schon die Erlaubnis erlangen konnten, eine Stadtwohnung außerhalb des Stifts zu beziehen, wovon Mörike zeitweilig Gebrauch machte. Unter solchen Umständen entwickelte sich bei den ‚Stiftlern‘ ein eigentümlicher kollektiver Habitus, in dem sich tiefe Gelehrsamkeit und große Aufgeschlossenheit für Literatur und Wissenschaft mit einer gewissen Weltfremdheit und einer auffallenden Unbeholfenheit in praktischen Dingen verbanden. Weitgehend rätselhaft blieb den Schülern und Studenten insbesondere das weibliche Geschlecht, das aus der Männerwelt der Seminare und des Stifts verbannt war. Oder genauer gesagt: sie dürften es in erster Linie aus Büchern, aus Dichtungen gekannt haben. Berücksichtigt man dies, werden einige Erlebnisse Mörikes während der Tübinger Zeit, auf die wir später zu sprechen kommen müssen, mitsamt ihren aufwühlenden Folgen verständlicher.
Lektüren Die Jahre seiner akademischen Studien machten Mörike nicht nur mit Literatur und Kultur der Antike vertraut, sie waren auch für seine Bekanntschaft mit der älteren und neueren deutschsprachigen Dichtung – 35 –
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von entscheidender Bedeutung. Hierbei ist weniger an den offiziellen Unterricht als vielmehr an selbständige Lektüre zu denken, die häufig durch Freunde und Kommilitonen angeregt und in deren Kreis diskutiert wurde. So avancierte der ungemein belesene Wilhelm Waiblinger für den Uracher Schüler Mörike und einige seiner Kompromotionalen zu einer Autorität bei der Auswahl ihres Lesestoffs, wie schon der erste Brief bezeugt, den Mörike ihm schrieb und der vom Oktober 1821 stammt: „Sie rekommandieren uns den Jean Paul – leider hatt ich noch nicht viel Gelegenheit, diesen originellen Schriftsteller näher kennen zu lernen, außer aus Sentenzensammlungen – Almanachen u. dergl. – ferner empfehlen Sie uns die Wanderjahre, auch sie hab ich troz meines Bemühen’s noch nicht bekommen“ (10, S. 21). Einige Monate später schwärmte Mörike dem Freund unter anderem von Shakespeare vor – er nennt Hamlet, Lear und Macbeth – und begeisterte sich für The Vicar of Wakefield von Oliver Goldsmith, der in einer Übersetzung in Urach zirkulierte, sowie für Johann Martin Millers empfindsamen Klosterroman Siegwart.6 Auch andere Briefe Mörikes lassen erkennen, was für eine eminente Rolle das Lesen und das Gespräch über Literatur im Leben der jungen Leute spielten, denen sich die Welt jenseits von Klosterschule und Stift fast nur über das gedruckte Wort erschloss. Den intensiven mündlichen Austausch in seinem Freundeskreis können wir freilich nicht mehr im Einzelnen rekonstruieren. Im Folgenden soll jedoch zumindest der allgemeine literarische Horizont des Heranwachsenden und des jungen Mannes umrissen werden (mit manchen unvermeidlichen Vorgriffen auf spätere Jahre), ohne dass damit etwa eine erschöpfende Aufzählung alles dessen beabsichtigt wäre, was Mörike gelesen hat oder gelesen haben könnte. An erster Stelle ist zweifellos Goethe zu nennen, dessen Name in der Korrespondenz mit Waiblinger schon im November 1821 fällt, als die Freunde gerade zum Du übergegangen waren: „Daß Du Göthen als unsern Größ’sten anerkannt, weiß ich; daß ich manches von ihm geleßen, vermuthest Du villeicht; in dem Fall aber, hoff ich zweyfeltest Du nicht daran, daß ich Deinem Urtheil wahrhaft beytreten werde“ (10, S. 23). Dabei war Mörike sehr darauf aus, durch die Lektüre von Goethes Werken auch dem Menschen, der sie geschrieben hatte, näher zu kommen und gleichsam ein intimes persönliches Verhältnis zu ihm aufzubauen – eine für die zeitgenössische Goethe-Rezeption durchaus typische Haltung. Die autobiographischen Schriften kamen diesem Wunsch natürlich am ehesten entgegen: – 36 –
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Die beyden ersten Baende v. Dichtung und Wahrheit hab ich nunmehr gelesen. Sie hatten eine wunderbar anmuthige Wirkung für mich; Es thut einem wohl, den Grossen, so menschlich zu sehn, man meynt keine Ursache zur Schüchternheit vor ihm zu haben, fühlt sich ihm naeher gebracht, wenn man hier liest, wie er so umgänglich und menschlich war, – an jedem aus seiner Umgebung findet er etwas Gutes. (10, S. 25)
Die Begeisterung für Person und Werk Goethes blieb eine Konstante in Mörikes Leben. 1828 feierte er in Antike Poesie (1.1, S. 187) „Iphigeniens Dichter“ als einzigen legitimen Erben der Kunst des Altertums, der seine Inspiration unmittelbar aus der Musenquelle am griechischen Helikon schöpft, und drei Jahre später rühmte er seiner Verlobten Wilhelm Meisters Lehrjahre: „Das Buch ist in der That unerschöpflich und was künstliche Composition betrifft unendlich lehrreich“; er stellte es sogar auf eine Stufe mit Homer, dem Maß aller Dinge (11, S. 239). Auch Publikationen über Goethe las er mit großem Interesse, und noch die „Damen-Vorlesungen“, die er später in Stuttgart veranstaltete, legten auf diesen Autor besonderes Gewicht. Eine herausragende Bedeutung gewann für ihn Goethes Briefwechsel mit Schiller. Er erhielt das Buch 1829 von Mährlen, der damals bei Cotta, dem Verleger der Weimarer Klassik, als Korrektor arbeitete, und war auf der Stelle davon gefesselt: Das tolle Büchlein klebte aber in meinen Händen fest – seine Blätter flogen eilig wie besessen von der Rechten zur Linken, ich stand bald mitten in heiliger klassischer Atmosphäre, las endlich sachte und sachter, ja ich hielt den Athem an, die ruhige tiefe Fläche nicht zu stören, in deren Abgrund ich nun senkrecht meinen Blick hinunterließ, als dürfte ich die Seele der Kunst anschauen. […] Mein Kopf war aufs äußerste angespannt – meine Gedanken liefen gleichsam auf den Zehenspitzen, ich lag wie über mich selbst hinausgerückt und fühlte mich neben aller Feyerlichkeit doch unaussprechlich vergnügt. Statt mich niederzuschlagen hatte der Geist dieser beiden Männer eher die andere Wirkung auf mich. Gar manche Idee – das darf ich Dir wohl gestehen – erkannte ich als mein selbst erworbenes Eigenthum wieder, und ich schauderte oft vor Freuden über seiner Begrüßung. (11, S. 30)
Kaum anderthalb Jahre später ließ Mörike Mährlen wissen, dass er die „Schiller u. Goethe Correspondenz“ soeben bereits „zum fünftenmal“ durchgehe (S. 152). 1845 las er den Briefwechsel „wieder mit unsäglicher Befriedigung“ (14, S. 286), und in den fünfziger Jahren empfahl er ihn einem jungen Verwandten als die beste Quelle für „Studien über deutsche – 37 –
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Literatur u. Göthe insbesondere“ (16, S. 102) und nannte ihn „ein Buch aller Bücher“ (S. 276). Mörikes Achtung vor der überragenden Autorität von „Vater Göthe“ (11, S. 131) hatte nichts Bedrückendes und Einengendes an sich. Er sah hier offenbar wirklich „keine Ursache zur Schüchternheit“ und pflegte, wie die oben zitierte erste Reaktion auf den Goethe-Schiller-Briefwechsel anschaulich zeigt, einen ganz vertraulichen, entspannten geistigen Umgang mit dem „alten DichterVater“ (S. 276). In der Situation eines Epigonen, der angesichts der Last der Tradition und des schon Geleisteten an der eigenen schöpferischen Kraft zweifelt, fühlte er sich jedenfalls nicht – Emil Staigers vielzitierte Einschätzung, Mörike habe als unsicherer „Spätling“ nur voller Sehnsucht und Wehmut auf die klassisch-romantische Epoche zurückblicken können7, erweist sich schon an diesem Punkt als fragwürdig. Die Werke seines schwäbischen Landsmannes Schiller las Mörike ebenfalls gerne, auch wenn die Zeugnisse dafür spärlicher sind. 1838 verfasste er als Auftragsarbeit für einen Festakt in Stuttgart die Cantate bei Enthüllung der Statue Schillers, aber er kam auch in unmittelbare Berührung mit biographischen Spuren des Dichters. Auf dem Friedhof von Cleversulzbach entdeckte er zu seiner großen Rührung das Grab von dessen Mutter Elisabetha Dorothea, die 1802 im Hause ihres Schwiegersohnes, eines Amtsvorgängers von Mörike, gestorben war. Mörike begnügte sich nicht damit, die Stätte in den Distichen Auf das Grab von Schillers Mutter zu feiern, sondern nahm sich ihrer auch auf ganz praktische Weise an, indem er einen festen Grabhügel aufwerfen und bepflanzen ließ und ein altes Steinkreuz eigenhändig mit den eingemeißelten Worten „Schillers Mutter“ versah, um sicherzustellen, dass der Ort nicht in Vergessenheit geriet. Der Freund Hermann Kurz erhielt im Juni 1837 einen ausführlichen Bericht von diesem Akt der „Heiligenpflege“, auf den Mörike nicht wenig stolz war (12, S. 107). Vier Jahre später wurde seine eigene Mutter unmittelbar neben der verehrten Grabstätte beigesetzt, um deren würdige Erhaltung er sich sogar noch in seiner späteren Stuttgarter Zeit als Mitglied des Schiller-Festkomitees von 1859 sorgte.8 Von Cleversulzbach aus korrespondierte er überdies mit einer Schwester Schillers und vermittelte für den Verleger Schweizerbart den Ankauf einiger Familienbriefe, die er dann als Beitrag zu einer größeren Werkausgabe publizierte. Seine in der Vorbemerkung zu dieser Edition geäußerte Hoffnung, Schiller werde dem Leser in den Briefen „als ächter Mensch, treuherzig, fromm, in schlichter Liebenswürdigkeit“ begegnen (7, S. 215), bezeugt einmal mehr, dass ihn – 38 –
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die Persönlichkeit eines Schriftstellers, sozusagen dessen menschliche und moralisch-sittliche Seite, ebenso sehr interessierte wie seine Werke. Klassizistische Bestrebungen waren in Deutschland um und nach 1800 nicht auf Weimar beschränkt. In Schwaben wurden sie von einigen Angehörigen der älteren Generation vertreten, darunter Karl Philipp Conz, der lange Jahre in Tübingen klassische Literatur lehrte, und der Lyriker und Epigrammatiker Johann Christoph Friedrich Haug. Ihre Werke waren Mörike sicherlich frühzeitig vertraut, und an die persönliche Bekanntschaft mit Haug, der im Hause Georgiis verkehrte, erinnerte er sich noch im hohen Alter.9 Um einiges wichtiger wurde für ihn jedoch die eigentümliche schwäbische Ausprägung der romantischen Dichtung, die ihre bedeutendsten Repräsentanten in Ludwig Uhland, Justinus Kerner und Gustav Schwab fand. Mit diesen Männern trat Mörike im Laufe der Jahre auch in ein mehr oder weniger enges persönliches Verhältnis, und vor allem dem Erstgenannten brachte er zeitlebens eine tiefe Verehrung entgegen. Ihre Zusammenfassung zu einer schwäbischen ‚Dichterschule‘ verdankt sich allerdings in erster Linie der polemischen Außensicht eines Heinrich Heine und sollte über die ausgeprägte Individualität der einzelnen Autoren nicht hinwegtäuschen. Seltener erwähnt Mörike die großen Poeten der Jenaer, Heidelberger und Berliner Romantik. Er kannte Schriften und Gedichte von Novalis, den er schon 1822 in einem Brief an Waiblinger zitierte10, schätzte zumindest in jungen Jahren die Werke Ludwig Tiecks, dem er mit einem ehrfurchtsvollen Begleitbrief ein Exemplar des Maler Nolten zukommen ließ11, und las in Tübingen mit seinen Freunden E.T.A. Hoffmanns Serapions-Brüder.12 Die „Grimm’schen Volksmährchen“ zählte er zu seinen „Lieblingsspeisen“ (14, S. 34); auch das Gedicht Wald-Idylle nimmt auf dieses „lieblichste“ aller Bücher Bezug (1.1, S. 159). Zu Joseph von Eichendorff gibt es dagegen lediglich eine einzige und nicht gerade überschwängliche Bemerkung: „Von Eichendorf kenn ich nur die Gedichte. So weit in ihnen phantastische Elemente enthalten sind und sofern ein Schluß hieraus auf s. etwaigen Arbeiten im Fach des Märchens gemacht werden darf, möchte man bezweifeln, ob diß sein Feld seyn kann, da er wenig Objektives u. Plastisches hat“ (14, S. 27). Intensiv beschäftigte sich Mörike spätestens in Tübingen mit Jean Paul, dessen Titan er seiner Schwester Luise dringend empfahl.13 Ein weiterer Dichter der Vätergeneration, bei dem wir ein wenig verweilen müssen, war Friedrich Hölderlin. Wieder mischte sich in diesem Fall Mörikes literarisches Interesse auf eine schwer zu durchschauende – 39 –
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Art mit der persönlichen Anziehungskraft des Poeten. In Tübingen las er nicht nur den Roman Hyperion14, sondern lernte durch Waiblingers Vermittlung auch den Autor selbst kennen, der damals schon seit vielen Jahren, geistig umnachtet, in der Obhut des Tischlermeisters Zimmer in dem berühmten Turm am Neckarufer hauste. Mörike und Ludwig Bauer ließen sich von Waiblingers schwärmerischer Begeisterung für den wahnsinnigen Dichter-Propheten anstecken, den sie gelegentlich zu Ausflügen in die Umgebung der Stadt mitnahmen. Zu dieser Zeit gelangte Mörike in den Besitz einiger Autographen, die er in Briefen und Schriften verschiedentlich erwähnt.15 Aber auch nach dem Abschied von Tübingen verschwand Hölderlin nicht aus seinem Gesichtskreis. Anfang 1843 kramte er bei einem Aufenthalt in Nürtingen hingebungsvoll in einem „großen Korb mit Manuscripten“ des Poeten, die ihm dessen Schwester zur Verfügung gestellt hatte (14, S. 84); später publizierte er in einigen kleinen Beiträgen handschriftliches Gedichtmaterial des inzwischen Verstorbenen16, und noch im Alter korrespondierte er unter anderem mit Robert Vischer und Christoph Theodor Schwab über philologische Fragen, die Hölderlins lyrische Werke betrafen.17 Doch obwohl er Hölderlin einmal einen „liebenswerthen, lange noch nicht genug erkannten Dichter“ nannte (7, S. 321), war ihm bei der Beschäftigung mit diesem Schriftsteller nie ganz wohl. Den Hyperion beurteilte er zwiespältig – „Am Ende sieht das Ganze doch nur wie ein rührendes Zerrbild aus, lauter einzelne unvergleichlich wahre u. schöne Lyrika, ängstlich auf eine Handlung übergetragen“ (11, S. 286) –, und beim Studium der Handschriften in Nürtingen war er froh, wenn ihm bisweilen eine Besucherin ein wenig Ablenkung verschaffte, denn „sonst könnte man vor solchen Trümmern beinahe den Kopf verlieren“ (14, S. 84). Bei aller Faszination, die von Hölderlin ausging, blieb Mörike doch stets auf eine heilsame Distanz bedacht, die wir künftig im Lichte seiner ängst lichen diätetischen Selbstschutzmaßnahmen noch besser verstehen werden. Und bezeichnenderweise hielt er gerade Heidelberg für das „schönste Hölderlinische Gedicht“ (15, S. 143), eine Ode also, die nicht mit dem Pathos einer idealisierten Antike oder mit gewichtigen philosophischen Gedanken beschwert ist, sondern sich als plastisches lyrisches Situationsbild lesen lässt und damit Mörikes eigenen ästhetischen Vorstellungen entgegenkam. Auch die Literatur des 18. Jahrhunderts war für Mörike wenigstens in Ausschnitten noch ganz gegenwärtig. Die geläufige Epocheneinteilung der Literaturgeschichte und der Glanz der poetischen Gipfelleistungen – 40 –
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um 1800 verstellen heute leicht den Blick dafür, wie lebendig die vorklassischen und vorromantischen Traditionen bis in die Biedermeierzeit hinein blieben. Die Autoren der Aufklärung spielen bei Mörike zwar keine große Rolle; mit Lessing beispielsweise scheint er sich erst näher befasst zu haben, als er am Stuttgarter Katharinenstift Lektionen in deutscher Literaturgeschichte erteilte.18 Dagegen werden wir vor allem in seiner Lyrik Belege für eine produktive Aufnahme jener gesellig-witzigen Dichtung entdecken, die für das Rokoko und die Anakreontik typisch war und deren spielerische Anmut Mörike als besonders reizvoll empfand. Auch einzelne Klopstock-Spuren sind nicht zu übersehen, so in dem Gedicht Im Freien aus der Tübinger Zeit, das den Ton Klopstock’scher Hymnen wie der berühmten Frühlingsfeyer aufnimmt. In späteren Jahren weckten Klopstocks pathetischer Überschwang und sein hochgestimmtes Selbstverständnis freilich Mörikes Skepsis, die er in humoristischer Einkleidung zum Ausdruck brachte: In dem Gedicht Waldplage von 1841 verwandelt sich ein Band mit Klopstocks Gedichten unter den Händen eines verbissenen Schnakenjägers in ein teuflisches Mordwerkzeug! Näher verwandt fühlte sich Mörike den Poeten des Göttinger Hains: „Diese Periode der deutschen Literatur, oder vielmehr diese besondere Gruppe darin, steht auch vor meiner Einbildung immer von einem eignen Sonnenschein umgeben, wobei es einem, nicht ohne die fühlbarsten Gegensätze der heutigen Zeit, ganz wahrhaft, menschlich und treuherzig ankommt“ (13, S. 243). Bereits in Urach erwärmte er sich für Ludwig Christoph Heinrich Hölty, den bedeutendsten Dichter unter den Hainbündlern: „Das sind gewiß seelige Augenblicke, wenn ich draußen an einem Lieblingsplaze den Hölty auf dem Schooß habe, seinem ächten, frommen Liede zuhöre, mit ihm weinen muß, u. bey dem Gedanke an Jenseits mir vorstelle, daß ich einmal mich dort, dem lieben, blassen Getrösteten zutraulich nahen darf u. ihm dankend ins freundliche Auge blicken“ (10, S. 23). Wie bei der Goethe-Lektüre richtete sich die Aufmerksamkeit des jungen Mörike also auch bei seinem empfindsam getönten Umgang mit Höltys Lyrik gleichsam durch die Werke hindurch unmittelbar auf deren Schöpfer. Er erklärte sogar ausdrücklich: „Was ihn besonders liebenswürdig macht, ist wohl auch seine Persönlichkeit, wie sie in der Biographie durch Voß trefflich geschildert ist“ (ebd.). Von seiner Vorliebe für diesen Poeten zeugt noch das 1836 entstandene Gedicht An eine Lieblingsbuche meines Gartens, in deren Stamm ich Hölty’s Namen schnitt. Des Weiteren ist hier der mittlerweile fast vergessene Lyriker Friedrich von Matthisson zu erwähnen, der gleichfalls – 41 –
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in der Tradition der Empfindsamkeit stand, sie aber mit klassizistischen Elementen verband. Er verbrachte seine Altersjahre überwiegend in Stuttgart und war damals in der württembergischen Literaturszene ein ebenso angesehener wie einflussreicher Mann, dessen Werke Mörike kannte, obwohl er seinen Namen nur selten und meist beiläufig erwähnt. Dass Mörike den Weimarer Klassikern großen Respekt zollte, mit der schwäbischen Romantik vertraut war und die empfindsame Lyrik eines Hölty schätzte, wird man nicht sonderlich überraschend finden. Anders sieht es vielleicht mit einem weiteren prominenten Namen auf seiner Lektüreliste aus, der den Abschluss unseres knappen Überblicks bilden soll: Georg Christoph Lichtenberg. Erste Hinweise auf die Schriften des Göttinger Professors, der durch seine satirische Menschenbeobachtung und seine Kunst des Aphorismus berühmt wurde, finden sich bereits in Briefen aus der Studienzeit19, und von da an begleitete der „über Alles werthe Lichtenberg“ Mörike durch sein ganzes Leben (11, S. 63) – noch 1874 las er ihn „mit neuer Lust“ (19.1, S. 819). Mörike war eben nicht nur der gefühlvolle Natur- und Liebeslyriker, der Sänger im Volkston, der Märchendichter und der feingeistige Kenner der Antike, sondern pflegte auch das Komische, das Wortspiel und einen mitunter grotesken Humor sowie ein reges Interesse an den Abgründen und Widersprüchen des menschlichen Seelenlebens. Wir werden mit diesen Seiten seiner Persönlichkeit und seines Schaffens, die ihn als einen Geistesverwandten Lichtenbergs erscheinen lassen, noch näher bekannt werden. Von eigenen Vorlieben und Anregungen aus seinem Freundeskreis geleitet, eignete sich Mörike also schon frühzeitig eine recht ausgebreitete Kenntnis der deutschsprachigen Literatur mit einigen deutlich erkennbaren Schwerpunkten an. Neben seiner Belesenheit auf dem Feld der Dichtung verdient aber auch das Gebiet der Philosophie unsere Aufmerksamkeit. War Mörike insbesondere mit den großen Entwürfen des deutschen Idealismus vertraut? Im Ruf eines philosophischen Kopfes stand er wahrlich nie, und Staigers lapidare Bemerkung, er habe „zu ernsthaftem Denken keine Lust und kein Geschick“ gehabt20, dürfte eine verbreitete Auffassung widerspiegeln. Eine sorgfältige Prüfung der Quellen ergibt indes ein differenzierteres Bild. Fraglos verspürte Mörike keine Neigung, dickleibige Wälzer, die abstrakt-gedankliche Systeme entwickelten, gründlich durchzuarbeiten. 1832 schrieb er seinem Freund Friedrich Theodor Vischer: „Ein rechtes, im Ernste dankenswerthes, Verdienst würdest Du Dir um meine philosoph. Wenigkeit erwerben, wolltest Du mir die HauptSätze des Hegelschen Systems zusammschreiben. Du sollst sehen, daß ich bei – 42 –
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solchen Communikationen viel lernbegieriger bin als wenn ich ein langes u. breites Buch vor mir liegen habe“ (11, S. 283f.). Mit einem zeitgenössischen Antipoden Hegels verfuhr er noch dreißig Jahre später ähnlich: „Ich lese gegenwärtig (Nachts im Bett) Arth. Schopenhauers Leben mit einer kurzen Darstellung seiner Lehre. Beides höchst merkwürdig“ – wobei das Prädikat „merkwürdig“ im älteren Wortsinne so viel wie ‚bemerkenswert‘ bedeutet (17, S. 181). Ein Interesse an Philosophie war bei Mörike also durchaus vorhanden, nur zog er es vor, solch anspruchsvolle Kost in möglichst leicht verdaulicher Form zu sich zu nehmen. Die großen kunstphilosophischen Arbeiten des Hegelianers Vischer müssen ihn schon wegen seiner engen Bekanntschaft mit dem Verfasser, aber auch aufgrund ihres Gegenstandes angezogen haben. 1837 pries er die Schrift Über das Erhabene und Komische überschwänglich, wobei er besonders „die Tiefe u. Feinheit“ ihrer Psychologie rühmte (12, S. 146), und 1851 versuchte er sich sogar an der umfangreichen Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Diesen trockenen Stoff fand er jedoch recht ungenießbar, wie er Vischer dezent andeutete: „Indessen will ich fleißig in Deinem Buche seyn, nach dem ich mehrmals das größte Verlangen verspürte. Ein Theil, der erste, war einmal zwei Tage lang in meinen Händen; ich suchte daran herum wie der Hund mit der Schnauze an einer festen Kugel, wo keine Ecke ist um so in der Geschwindigkeit was loszukriegen“ (16, S. 13). Einige Monate später bekannte er dann, zu einem „ordentliche[n] Studium Deiner 2 Bände Ästhetik noch nicht“ gekommen zu sein und lediglich einige Auszüge gelesen zu haben (S. 37). Seine Lobesworte für das monumentale Werk fielen denn auch recht pauschal aus. Aufgeschlossenheit für philosophische Fragen bewahrte sich Mörike bis ins Alter. 1859 war er beispielsweise mit Spinoza beschäftigt21, und 1868 schrieb er Moriz von Schwind, dass er sich gerade eifrig mit „Geschichte und Philosophie“ abgebe, wobei er hinzufügte: „So etwas ist mir, wenn auch blos als Geistesübung und Erfrischung von Zeit zu Zeit Bedürfnis“ (19.1, S. 33). Wenn es für ihn aber einen wirklichen Leitstern am Himmel der philosophischen Denker gab, so war dies Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Wieder mögen dabei persönliche, biographische Beziehungen eine Rolle gespielt haben. Schelling, Sprössling einer alten schwäbischen Pfarrersfamilie und Absolvent des Tübinger Stifts, hatte 1810 in Stuttgart im Hause Georgiis Privatvorlesungen gehalten, und sein jüngerer Bruder, ein studierter Mediziner, fungierte zeitweilig als Hausarzt der Familie Mörike – solche überraschenden Verbindungen erhellen schlaglichtartig, wie überschaubar der Kreis der württembergischen Ehrbarkeit war. 1826 – 43 –
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lernte Mörike in Nürtingen zu seiner Freude zwei Söhne Schellings kennen, den er bei dieser Gelegenheit einen „großen Philosophen“ nannte; bezeichnenderweise wünschte er sich sehr, einen Brief von der Hand ihres Vaters lesen zu können, was sich aber leider nicht machen ließ (10, S. 125). Noch das Gedicht Auf die Nürtinger Schule von 1860 preist Schelling als „Genius“ (1.1, S. 312), und zwei Jahre darauf äußerte sich Mörike nach einem erneuten Studium seiner Werke enthusiastisch über den „frischen belebenden Eindruck des Schellingischen Geistes“ (17, S. 195). 1870/71 genoss er schließlich die Lektüre einer Edition von Schellings Briefen.22 Wie weit er Schellings Lehren schon in jungen Jahren aus eigener Lektüre kannte, ist schwer festzustellen. In Tübingen könnte Adolf Karl August Eschenmayer, der dort über Medizin und Philosophie dozierte und im Investiturlebenslauf unter Mörikes Lehrern genannt wird, als Vermittler gewirkt haben, und darüber hinaus ist stets die Möglichkeit zu bedenken, dass Mörike aus Gesprächen mit Freunden und Kommilitonen Kenntnisse bezog, deren Spuren kaum mehr nachweisbar sind. 1831 war Schelling jedenfalls Gegenstand einer Unterhaltung mit Mährlen, die Mörike im Rückblick folgendermaßen charakterisierte: „Unsere Gedanken, indem sie dem Schellingschen Urgrund beykommen wollen, sind gleich zweien Bohrern, die von entgegengesezten Seiten ein Bret durchbohren und im Dunkeln zusammentreffen. Sie ziehen sich hernach langsam zurück und erzählen einander bei Tag was für Ungeheuer ihnen unterwegs begegnet“ (11, S. 285). Unter dem „Urgrund“ hat man hier jenes mit Gott identische unvordenkliche Sein zu verstehen, aus dem nach Schelling die Welt hervorgegangen ist, um sich dann im universalhistorischen Prozess zu immer komplexeren und bewussteren Formen zu entwickeln. Die Briefpassage bezeugt nicht nur Mörikes prinzipielle Vertrautheit mit solchen Überlegungen, sondern taucht die angestrengten Bemühungen des spekulativen Denkens, den Ursprung aller Dinge zu erfassen, durch ihren verblüffenden Vergleich auch in ein merklich ironisches Licht. Die Einsicht, dass Mörike sich mit Schellings Philosophie auseinandersetzte, hilft bei dem Verständnis eines lyrischen Werkes aus der Tübinger Zeit, das gewiss zu seinen rätselhaftesten zählt. Nach Mörikes eigenen Angaben wurde das Gedicht Die Elemente 1824 geschrieben23; die älteste überlieferte Version findet sich in einer Handschrift von 1828. Zehn Jahre später nahm der Verfasser für die erste Ausgabe seiner gesammelten Gedichte gewichtige Änderungen an dem Text vor, und 1841 überarbeitete er die Strophen abermals. Ihr Protagonist ist in sämtlichen Fassungen ein Riese, „der Elemente Meister“ (1.1, S. 213), der offenbar als allegorische – 44 –
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Gestalt die Kräfte der Natur verkörpert, dabei aber selbst unter ihrem zerstörerischen Wirken leidet. Trost findet er allein in den Verheißungen einiger engelsgleicher himmlischer Gestalten, die ihm für die Zukunft eine Versöhnung und Läuterung der Natursphäre versprechen. Man kann diesen Text als eine eigenwillige poetische Umsetzung der naturphilosophischen Thesen Schellings auffassen. Bei seinen späteren Eingriffen hat Mörike freilich auch Bezüge zu christlichen Erlösungs hoffnungen hergestellt und das anonyme Schicksal, das über dem Riesen waltet, mehr im Sinne einer göttlichen Vorsehung aufgefasst. In der Sammlung versah er das Gedicht mit einem griechischen Motto aus dem Römerbrief des Paulus (Röm 8,19) – in Luthers Übersetzung: „Denn das endliche harren der creatur wartet auff die offenbarung der kinder Gottes“24 –, und 1841 baute er mit der Wendung vom „Wort von Anfang“ (1.1, S. 215) noch eine Anspielung auf den berühmten Eingangsvers des Johannes-Evangeliums ein. Damit vollzog er im Grunde aber nur die Bewegung von Schellings Spätphilosophie nach, die, etwa in der Lehre von den Weltaltern, gleichfalls christliche Vorstellungen in ihre pantheistisch gefärbte Konzeption integrierte, wobei sie nicht zuletzt auf das Gedankengut des schwäbischen Pietismus zurückgriff. Für Schelling sind in Gott, dem „Urgrund“, von jeher Reales und Ideales, Stoff und Geist miteinander verbunden. Die Geschichte der Welt ist dann nichts anderes als die unaufhörliche Bearbeitung und liebende Beseelung des dunklen, materiellen Prinzips durch die ideale, geistige Kraft, die ihren Widerpart auf dem Wege vom Anorganischen über die Pflanzen und die Tiere bis hin zum Menschen einer fortschreitenden Läuterung unterwirft. Der Sündenfall hat diese Kontinuität und damit den Gang der Schöpfung jedoch auf fatale Weise unterbrochen und mit der Menschheit zugleich auch das ganze Reich der Natur, der Materie, von der höheren Geisterwelt losgerissen, weshalb es seither, dem blinden Streit der Elemente preisgegeben, in Schmerz und Trauer verharrt. Gottes Streben geht aber dahin, „die ausgestoßene und ausgeschlossene Natur nicht in dieser Verstoßung zu lassen, sie geistig wieder ins Göttliche zu verklären und das ganze Universum zu Einem großen Werk der Liebe zu verschmelzen“; damit wird dereinst „die höhere Potenz des eigentlich ewigen und absoluten Lebens“ verwirklicht sein.25 In seinen Notizen für die Stuttgarter Privatvorlesungen bezieht sich Schelling in diesem Zusammenhang ebenfalls ausdrücklich auf Paulus: „Die Natur ist ohne Schuld unterworfen dem jetzigen Zustand (Pauli Stelle), sie sehnet sich nach der Verbindung“.26 Tatsächlich behält auch der Römerbrief die künftige Erlösung nicht dem Menschen allein vor, sondern – 45 –
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dehnt sie auf die ganze Schöpfung (bei Luther: die „creatur“) aus: „Denn auch die creatur frey werden wird von dem dienst des vergenglichen wesens / zu der herrlichen freiheit der kinder Gottes“ (Röm 8,21). Dazu vergleiche man nun die Schlussstrophen von Mörikes Gedicht mit den eschatologischen Verheißungen der himmlischen Genien: Einst wird es kommen, daß auf Erden Sich höhere Geschlechter freun, Und heitre Angesichter werden Des Ewigschönen Spiegel sein, Wo aller Engelsweisheit Fülle Der Menschengeist in sich gewahrt, In neuer Sprachen Kinderhülle Sich alles Wesen offenbart.
Und auch die Elemente mögen, Die gottversöhnten, jede Kraft In Frieden auf und nieder regen, Die nimmermehr Entsetzen schafft; Dann, wie aus Nacht und Duft gewoben, Vergeht dein Leben unter dir, Mit lichtem Blick steigst du nach Oben, Denn in der Klarheit wandeln wir. (1.1, S. 215)
In Die Elemente versuchte Mörike, sich auf seine Weise Schellings spekulative Ideen zu eigen zu machen, wobei ihm deren Nähe zu den vertrauten Lehren des Neuen Testaments den Zugang erleichtert haben mag. Eine solche zur Allegorie tendierende bildhafte Einkleidung abstrakter philosophisch-theologischer Vorstellungen bildet allerdings eine Ausnahme in seinem Werk, das der Gedankenlyrik sonst sehr fern steht. Seine Texte deshalb für gedankenleer zu halten, wäre jedoch voreilig: Die Elemente der Reflexion bleiben dort zwar in der Regel implizit, können aber gleichwohl äußerst komplex sein. Im Vorgriff auf Späteres sei hier nur darauf verwiesen, dass es Mörike gelungen ist, mit einem einzigen Vers, nämlich mit der Schlusszeile des Gedichts Auf eine Lampe, die eine Lehre über das Wesen des Schönen formuliert, ganze Generationen von Auslegern ins Grübeln zu bringen – eine beachtliche Leistung für einen Mann, der angeblich „zu ernsthaftem Denken keine Lust und kein Geschick“ hatte! Wir werden bei der Beschäftigung mit Mörike immer wieder bestätigt finden, dass Dichtung ebenso gedankenreich sein kann wie der philosophische Diskurs, auch wenn sich – 46 –
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ihr spezifisches Denken nicht in begrifflichen Abstraktionen vollzieht, sondern unmittelbar in ihre ästhetische Gestalt eingelassen ist.
Jugendfreunde Die Atmosphäre in Urach und am Tübinger Stift dürfte sich nicht allzu sehr von der unterschieden haben, die noch heute in streng geführten internatsähnlichen Einrichtungen herrscht, und dasselbe galt vermutlich für die Art und Weise, wie die Heranwachsenden mit ihrer Situation umgingen. Gefühlsüberschwang, Phantasie und Begeisterungsfähigkeit der jungen Leute, die vom zumeist recht trockenen Stoff ihrer Studien schwerlich voll befriedigt werden konnten, suchten sich andere Wege und Ziele. Politische Schwärmerei zählte dazu: Trotz der staatlichen Repressionen in der Ära der Restauration war in Tübingen die Burschenschaft aktiv, die von einem freien und geeinten deutschen Nationalstaat träumte, und der verbreitete Enthusiasmus für den Aufstand der Griechen gegen die türkische Herrschaft erfasste in den zwanziger Jahren auch die Studenten – einige Stiftler machten sich sogar auf den Weg nach Griechenland, um am Kampf teilzunehmen. Dichtung, in die man sich vertiefen und mit der man sich identifizieren konnte, stellte ein lockendes Refugium der Einbildungskraft dar und bot die Möglichkeit, wenigstens im Gedankenflug die engen Grenzen des nüchternen Alltags zu überwinden. Vor allem aber ist hier von den Freundschaftsbündnissen zu sprechen, die in Mörikes Schul- und Studienzeit eine beherrschende Rolle spielten.27 Das lange Zusammensein in weitgehender Abgeschlossenheit und die gleiche Prägung durch Erziehung und Bildung begünstigten innige Gefühlsbindungen zwischen den Kommilitonen, die als willkommenes Gegengewicht zur strengen Zucht von Seminar und Stift empfunden wurden. Vielfach mögen dabei auch homoerotische Regungen im Spiel gewesen sein. Mörike und seine Freunde schufen sich ihre eigenen Rückzugsorte, beispielsweise in Gestalt eines von Waiblinger angemieteten Gartenhauses in der Nähe von Tübingen oder der Gartenlaube Rudolf Lohbauers. Vermittelnd wirkte immer wieder die Literatur: Man las gemeinsam, begeisterte sich für einzelne Lieblingsautoren und tauschte eigene poetische Versuche aus. In den Briefen und Dichtungen der jungen Leute herrschte ein schwärmerisch-empfindsamer Ton vor, der auf den heutigen Leser mitunter gewaltig übersteigert wirkt, aber ganz zeittypisch war. Daneben zeigte sich jedoch auch eine Neigung zu Spott, Satire und – 47 –
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grotesker Komik, zu vulgärer jugendlicher Kraftmeierei und heimlichen nächtlichen Exzessen, die auf ihre Art ebenfalls eine Entlastung vom allgegenwärtigen Druck des Internatslebens versprachen. Wie es da mitunter zuging, illustriert eine Aufzeichnung, die sich unter dem Datum des 22. Dezember 1822 in Waiblingers Tagebüchern findet: So ein Tag, wie der heutige, ist schon ein paar Worte wert: ein wahres Fastnachtsleben, ganz im Genuß des Augenblicks. Nach der Kirche ins „Ballhaus“: hier Bier gesoffen und über Griechenland und den Orient bis zur Hitze gestritten – im „Museum“ 2 Heringe gefressen, Bier gesoffen und geraucht – von 6–7 literarisches Gespräch – nach dem Fraß gegen 6 Schoppen Wasser gesoffen – ich und Mörike hinterm Pult: ich mit einem abgeschabten Magisterhut, wie ein Zigeuner, die Pfeife in der Physiognomie – Mörike mit hinunterhängenden Hosen, den Bauch aus dem Hemd streckend – Eisbär und Buttersack beständig mit Teemachen beschäftigt – Eine Bouteille Tee um die andere – Ein Furz um den andern – Fratzengesichter bis ins Abscheuliche – Lumpenlieder – Travestien: In einem Tal, bei schwarzen, schwarzen Haaren, Erschien mit jedem neuen Jahr, Sobald die ersten Lerichen, Lerichen schwirriten, Ein Schwänzichen, schön und wunderbar. Das unaufhörlich gesungen – kein vernünftig Wort bis um Mitternacht gesprochen – bloß gelacht, gesoffen und geraucht – wie Säue, auf einander liegend – Den Unsinn aufs Höchste getrieben – Alles persifliert und ins Komische hinübergezogen – Endlich lachend mit vollem Teebauch ins Bett gegangen.28
Waiblingers umfangreiche Tagebücher bilden eine ergiebige Quelle für den Alltag im Stift wie auch für die vielfältigen Eskapaden der Studenten. Die Notizen müssen zwar mit Vorsicht ausgewertet werden, weil sie manche Stilisierungen und sogar einige gänzlich fiktionale Passagen enthalten, doch Schilderungen wie die eben zitierte dürften durchaus authentisch sein. Dass Mörike am burschikosen studentischen Treiben gerne teilnahm, bestätigen auch andere Zeugnisse, darunter das beachtliche, in den Stiftsakten dokumentierte Register seiner Strafen, die er sich beispielsweise durch Unpünktlichkeit, unvorschriftsmäßige Kleidung oder Rauchen in der Öffentlichkeit zuzog. Wilhelm Waiblinger besuchte zunächst das Gymnasium in Stuttgart und erschien nur gelegentlich als Hospitant im Niederen theologischen Seminar in Urach. Dennoch ergab sich seit dem Herbst 1821 ein enger, teils durch Briefverkehr aufrecht erhaltener Kontakt mit Mörike, der sich noch – 48 –
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vertiefte, als beide im folgenden Jahr das Stift bezogen. Obwohl Waiblinger in Mörikes Alter war, besaß er in dessen Augen eine gewisse Autorität und fungierte, wie wir bereits gehört haben, zeitweilig als sein literarischer Mentor. Der selbstbewusste und frühreife junge Mann hatte Verbindungen zur Literaturszene in der Residenzstadt, wo er mit Schwab, Matthisson, Haug und Uhland verkehrte, war selbst literarisch ungemein produktiv und konnte sogar bereits Veröffentlichungen vorweisen – neben einigen Gedichten erschien 1823 sein Roman Phaëton. Da er überdies schon in Liebesdingen erfahren und ausgesprochen skandalerprobt war, muss ihn eine faszinierende Aura der Verruchtheit umgeben haben. Übrigens ließ er es sich viel Zeit und Mühe kosten, dieses Image zu pflegen: Die Tagebücher, die unter ausgewählten Freunden zirkulierten, dienten seiner Selbstinszenierung als Genie, das den gewöhnlichen Regeln des bürgerlichen Lebens nicht unterworfen ist. Da war es durchaus passend, dass er sich dem wahnsinnigen Hölderlin wesensverwandt fühlte, dessen Hyperion auch das Muster für Phaëton abgab. Mörike und Ludwig Bauer bildeten mit Waiblinger für eine Weile eine engere Freundesgruppe, die unter anderem durch die gemeinsame Leitfigur Hölderlin zusammengehalten wurde. Während die anderen Studenten in der Regel keine Zusammenstöße mit den Autoritäten des Stifts und der Gesellschaft riskierten, die Schlimmeres als den Karzer nach sich gezogen hätten, konnte sich Waiblinger auf die Dauer nicht mit der disziplinarischen Ordnung seiner Bildungsstätte vertragen. Die Konflikte häuften sich, und eine Liebesaffäre mit der Professorentochter Julie Michaelis erregte schließlich massives öffentliches Ärgernis, zumal ein beleidigter Nebenbuhler zweimal bei ihrer Familie Feuer legte. Waiblingers Stellung in Tübingen wurde allmählich unhaltbar. Im Dezember 1824 kündigte ihm Bauer unter dem Einfluss seiner besorgten Angehörigen die Freundschaft auf, und bald darauf ging auch Mörike auf Distanz, der weder willens noch imstande war, sich gegen die bürgerlichen Normen und Erwartungen aufzulehnen und damit seine Zukunft aufs Spiel zu setzen – ganz zu schweigen von den beschwörenden Mahnungen seiner Schwester Luise. Typisch für ihn war allerdings, dass er den offenen Bruch geflissentlich vermied und den ohnehin überaus diplomatisch formulierten Absagebrief an den Freund, der das Datum des 8. April 1825 trägt, allem Anschein nach nie abschickte.29 Kurz vor dem Examen wurde Waiblinger im Herbst 1826 endgültig vom Stift verwiesen. In Württemberg war seines Bleibens nun nicht länger, und so zog er umgehend nach Italien, wo er weiterhin eine reiche literarische Produktion entfaltete, schon um sich finanziell über Wasser zu – 49 –
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halten. Nach einigen Monaten erhielt Mörike aus Rom einen letzten Brief, der ausführlich Waiblingers dortiges Leben und seine Eindrücke schilderte.30 Dass er dieses Schreiben unbeantwortet ließ, hat er nach dem frühen Tod des ehemaligen Freundes – am 17. Januar 1830 – zutiefst bereut.31 Immerhin erwies er dem in der Heimat Verfemten einen postumen Dienst, indem er 1844 eine gründlich bearbeitete Auswahlausgabe seiner Gedichte herausgab. Waiblingers Schicksal muss ihm demonstriert haben, wohin der Bruch mit den gesellschaftlichen Konventionen und eine genialische Ungebundenheit führen konnten. Die vorsichtige Diätetik, die er später entwickelte und die sein beschränktes, zurückgezogenes Dasein leitete, ist wohl nicht zuletzt als Gegenentwurf zu der rauschhaften, zügellosen Existenz und dem „schauderhaften Sturz“ (11, S. 80) dieses einstigen Weggefährten zu begreifen. Die anderen Freunde Mörikes aus Schüler- und Studententagen waren weniger abenteuerliche Gestalten. Herausgehoben seien hier neben dem schon mehrfach erwähnten Ludwig Bauer zwei von ihnen, die er bereits in Urach kennenlernte und von denen künftig noch des Öfteren die Rede sein wird, nämlich Wilhelm Hartlaub, der seit den späten dreißiger Jahren der engste Vertraute des Dichters werden sollte, und Johannes Mährlen. Mit Friedrich Theodor Vischer und David Friedrich Strauß, die aus Ludwigsburg gebürtig, aber einige Jahre jünger waren und 1825 vom Seminar in Blaubeuren ans Stift kamen, hatte Mörike in Tübingen zwar bereits Kontakt, doch datieren die engeren freundschaftlichen Beziehungen zu ihnen erst aus späterer Zeit. Von allen diesen Freunden sind Äußerungen über den jungen Mörike überliefert, aus denen sich ein erstes und vorläufiges, aber bereits recht aufschlussreiches Bild seiner Persönlichkeit gewinnen lässt. Schon die verstreuten Notizen in Waiblingers Tagebüchern verraten, dass Mörike damals auf seine Weise nicht minder faszinierend wirkte als sein unruhiger, genialischer Kommilitone. Ausführlich charakterisiert Waiblinger ihn am 2. April 1822: Mörike ist ein tiefes, schönes Gemüt, ringend, und doch nicht krampfhaft, nicht wund, sondern stark, kräftig und gesund. Überall, selbst da, wo sein Gefühl in den reinsten, schönsten Strahlen, wo seine Wehmut in den heißesten Tränen hervortritt, wo beide den heiligsten Regenbogen trunkener Liebe, schwellender Sehnsucht bewirken, ist keine Mattheit, keine Verzärtelung, keine Entkräftigung sichtbar. Es verlangt ihn endlos nach einem Gegenstand, den er lieben kann, und wenn er ihn gefunden hat, so hängt er an ihm mit einer wunderbaren Liebe. Sein heitrer Humor, sein Witz, der mich
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unendlich an ihn fesselt, gleicht schimmernden Regentropfen in wechselndem Farbenspiele, die das glühende Licht der Sonne durchschauert. Diese Sonne ist sein Herz. Er ist ganz Natur, nie legt er Fremdes in sich hinein, seine Eigentümlichkeit ist ihm genug. Er ist die Beute des Augenblicks, und so mag mancher Vorsatz, mancher Entschluß wieder ins Nichts zurückkehren, vor der Macht eines drängenderen Impulses, wie leichte, flücht’ge Wölkchen vor dem Hauch lebendiger Winde. Er ist unendlich liebenswürdig in diesem Hinleben, und wird zum angenehmsten Gesellschafter, wie er denn auch, arglos und beruhigt, sich der tüchtigsten Lustigkeit hingeben kann. So ist er auch gleichgültig gegen alles lose Spielwerk der Eitelkeit.32
Gewisse Eigenarten, die hier angedeutet werden, konnte man freilich auch ungünstiger beurteilen, und in der Tat hielt Waiblinger bereits zwei Wochen später fest: „Mörike ist über keine Stunde seines Lebens Meister. Er verspricht tausenderlei, aber wer weiß, was dazwischen kommt, kurz, es bleibt immer beim Versprechen oder beim Vorsatz. Es ist denn doch Mangel an Selbstständigkeit.“33 Gegen Jahresende heißt es dann zusammenfassend: „ich liebe sein Gemüt und seinen Humor, aber hasse seinen Leichtsinn, seine Veränderlichkeit.“34 Aus den Jahren 1823/24 sollen wenigstens noch zwei Passagen zitiert werden: „Manchmal fühl’ ich bei Mörike etwas, das mir noch kein Freund gab, – etwas unaussprechlich Heimisch-Kindlich-Gemütliches“, und: „er ist mir nicht wie ein Freund, ist mir wie ein Traumgesicht, wie der Glaube an eine schöne Fabelwelt“.35 Von der heiteren und gewinnenden Persönlichkeit des jungen Mörike zeugen auch andere Dokumente, darunter Hartlaubs rückblickende Schilderung seiner ersten Begegnung mit dem Vierzehnjährigen im Uracher Seminar, wo Mörike kurz nach der Ankunft an Scharlach erkrankt war: „Als er besucht werden durfte, strömten die Mitschüler in den Freistunden zu ihm. Wundershalber ging ich auch einmal mit. Aber wie ward mir! Mit hundert Scherzen erfreute und unterhielt er den Haufen um sich her; jedoch nichts Gewöhnliches kam aus seinem Munde; den heitersten Sonnenschein verbreitete sein Wesen, in dem es jedem sogleich wohl wurde.“36 Bemerkenswert früh haben die Freunde Mörike die Rolle des Dichters schlechthin zugeschrieben – eine auffallende Auszeichnung in einem Umfeld, in dem sich kaum jemand fand, der nicht irgendwann einmal Verse gemacht hätte. David Friedrich Strauß porträtierte ihn später im Kontrast zu Waiblinger: War Waiblinger imposant, so erschien Mörike räthselhaft. Er blendete schon deßwegen nicht, weil er sich entzog. Von dem geheimnißvollen Brunnenstübchen, von dem am Tage künstlich verdunkelten und kerzen
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erleuchteten Gartenhause, wo er mit seinen Erwählten im Shakespeare lese, oder von Orplid, der Stadt der Götter, sich unterrede, gingen nur dunkle, wunderliche Sagen im Volke. Nur wurde es Einem einmal so gut – das hielt aber schwer, – in seine Nähe zu kommen, und, war er ernst, von seinem aus innerstem Seelengrunde heraufquellenden Worte getroffen, oder in heiterer Stunde von seinem unvergleichlichen Talente humoristischer Mimik fortgerissen zu werden. Man wußte nicht, wie einem geschah; an die Geniefrage dachte man gar nicht, so wenig als Mörike selbst daran dachte; das aber wußte man, fast noch ohne seine Gedichte zu kennen, daß hier ein Dichter sei. Ja, Mörike ist für uns alle, die sein Wesen unmittelbar oder mittelbar berührt hat, das Modell dessen geworden, was wir uns unter einem Dichter denken.37
Zwar wurden diese Erinnerungen erst gut zwanzig Jahre nach der Tübinger Zeit niedergeschrieben, aber es mangelt nicht an Belegen dafür, dass sie die damalige Sicht der Freunde zutreffend wiedergeben. Eine Zeichnung Rudolf Lohbauers, die vermutlich aus dem Jahre 1826 stammt, zeigt in sorgfältiger Komposition eine gesellige studentische Runde in einer Laube.38 Die beherrschende Gestalt ist Lohbauer selbst, den wir im Vordergrund mit erhobenem Trinkpokal auf einer Bank breit hingelagert sehen. Dagegen sitzt Mörike als der Unauffälligste von allen halb verdeckt im Hintergrund – aber als einziger trägt er auf dem Kopf einen Kranz, das Symbol des Dichtertums! In Briefen, die Bauer ihm 1824 schrieb, finden sich Bemerkungen wie: „Die Poesie des Lebens hat sich mir in dir verkörpert, und alles, was noch gut an mir ist, sehe ich als ein Geschenk von dir an“, oder: „Deine bloße Erscheinung ist ja ein Gedicht“.39 Wie schon bei Strauß angedeutet, wirkte Mörike offenbar nicht nur und nicht einmal in erster Linie deshalb als reine Dichternatur, weil er Verse schrieb, sondern weil dank seines Humors, seiner menschlichen Wärme und seiner lebendigen Phantasie in seinem ganzen Wesen etwas Poetisches zu liegen schien. Wie rücksichtsvoll man in seinem Kreis mit ihm umging, fiel Luise Mörike im kritischen Sommer 1824 auf: „Seine Freunde behandlen ihn mit einer Schonung einer Zärtlichkeit und Nachsicht, schon in den gesunden Tagen, die sich kaum von unsrem Geschlechte erwarten ließen.“40 Das blieb auch in späteren Jahren so – die noble Hilfsbereitschaft der Freunde, von der er immer wieder profitieren sollte, und die Nachsicht, die sie für seine vielen Eigenheiten aufbrachten, flossen aus der grenzenlosen Bewunderung, die man dem Poeten Mörike zollte. Als Theodor Storm 1855 in Stuttgart weilte, gewann er einen Eindruck davon, „welch hohe Stellung der Dichter bei seinen Jugendgenossen einnahm, und wie sie – 52 –
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überall nur das Schönste und Beste von ihm erwarteten“, denn während Mörike aus der soeben vollendeten Novelle Mozart auf der Reise nach Prag vorlas, fiel dem norddeutschen Besucher die „verehrende Begeisterung“ auf, mit der der ebenfalls anwesende Hartlaub lauschte: „Als eine Pause eintrat, rief er mir zu: ‚Aber, i bitt Sie, ist das nun zum aushalte!‘“41
„Du bist Orplid, mein Land!“ Die Geburt Orplids gehört in den unmittelbaren Zusammenhang von Mörikes Tübinger Freundschaften, da sie aufs engste mit seiner Beziehung zu Ludwig Amandus Bauer verknüpft ist. Bauer, der das Niedere theologische Seminar in Blaubeuren besucht hatte, lernte den um ein Jahr jüngeren Mörike erst im Stift kennen und war seit der Entfremdung von Waiblinger wohl sein engster Gefährte. Nach dem Abschluss des Studiums übernahm er die Pfarrei Ernsbach im Hohenlohischen, gab das geistliche Amt jedoch bereits 1831 wieder auf und arbeitete zunächst in einer Erziehungsanstalt in Stetten, dann am Katharinenstift und schließlich am Oberen Gymnasium in Stuttgart. Neben seiner Lehrtätigkeit entwickelte er sich zu einem ebenso fleißigen wie vielseitigen Schriftsteller, der unter anderem verschiedene wissenschaftliche Abhandlungen, eine umfangreiche Darstellung der Weltgeschichte, Übersetzungen, einige Dramen und den satirischen Zeitroman Die Überschwänglichen vorlegte. Mehr noch als durch seine Publikationen scheint Bauer aber durch seine vielgerühmte liebenswerte, aufgeschlossene und begeisterungsfähige Persönlichkeit gewirkt zu haben. Nach seinem Abgang von Tübingen lockerte sich der Kontakt zu Mörike; Briefe wurden mit der Zeit selten – vor allem von Mörikes Seite – und Begegnungen noch seltener. Ein Zerwürfnis gab es aber nie, und die „schreckliche Botschaft“ vom frühen Tod des Freundes im Jahre 1846 traf Mörike tief (15, S. 26). Bauer verließ das Stift im Herbst 1825. Im Sommer davor war sein freundschaftlicher Umgang mit Mörike im Schatten des nahenden Abschieds offenbar besonders intensiv, und dieser Sommer brachte Orplid zur Welt. In Maler Nolten lässt Mörike in einer stark autobiographisch gefärbten Passage den Schauspieler und Dichter Larkens von der Entstehung und der Eigenart dieses Phantasiegebildes erzählen: Ich hatte in der Zeit, da ich noch auf der Schule studirte, einen Freund, dessen Denkart und ästhetisches Bestreben mit dem meinigen Hand in Hand ging; wir trieben in den Freistunden unser Wesen miteinander, wir bildeten uns bald eine eigene Sphäre von Poesie, und noch jezt kann ich nur
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mit Rührung daran zurückdenken. […] Wir erfanden für unsere Dichtung einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeschlossene Insel, worauf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verschiedene Stämme, Grenzen und Charakter-Abstufungen getheilt, aber mit so ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt haben soll. Die Insel hieß Orplid, und ihre Lage dachte man sich in dem stillen Ozean zwischen Neu-Seeland und Süd-Amerika. Orplid hieß vorzugsweise die Stadt des bedeutendsten Königsreichs: sie soll von göttlicher Gründung gewesen seyn und die Göttin Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands den Namen hatte, war ihre besondere Beschützerin. Stückweise und nach den wichtigsten Zeiträumen erzählten wir uns die Geschichte dieser Völker. An merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht. Unsere Götterlehre streifte hie und da an die griechische, behielt aber im Ganzen ihr Eigenthümliches; auch die untergeordnete Welt von Elfen, Feen und Kobolden war nicht ausgeschlossen. (3, S. 95f.)
Mit noch konkreteren Informationen über den Ursprung Orplids versorgt uns ein Brief Bauers an Mörike vom 27. Juni 1826, den die Sehnsucht nach den schönen Tagen des letzten Tübinger Sommers diktiert hat: Eine Preisfrage gebe ich dir auf. Besinne dich doch, und berathe dich auch mit denen, die etwas wissen können, an welchem Tage Orplid geboren wurde? Es war, soviel weiß ich, ein herrlicher Morgen: du führtest mich an die Quelle links von der Reutlinger Straße, dann giengen wir noch eine Weile im Walde spazieren, als wir eben von dem Fußwege auf die Straße kommen wollten, sagte ich: wir sollten mit Zweigen eine Hütte bauen im Walde, und dies sollte vorstellen, wie sich Leute eine Stadt bauen – wie müßte sie doch heißen? „Orplid,“ sagtest du. […] Es schlug 10 Uhr, ich mußte fort; aber vor des Bengels Kollegium, etwas vor 3 Uhr, kamst du zu mir, wir schwänzten, und entwarfen so leicht hin die Gestalt der Insel, wie ich sie noch auf einem Papiere habe. Den Sonntag drauf waren schon viele Namen erfunden, und noch vor der Kirche erfandest du den Namen „Spindel“. Nach Jacobi, also nach dem 25ten Julius, muß es gewesen sein […].42
Orplid war eines jener Refugien, die sich die Stiftler so gerne schufen; der Freiraum der produktiven Einbildungskraft, eben die „eigene Sphäre von Poesie“, nahm in dieser Märcheninsel buchstäblich Gestalt an. Dass dafür zwei Freunde zusammenwirken mussten, ist gewiss kein Zufall. Wie bei jenen „gemeinsamen Tagträumen“, die der Psychoanalytiker und FreudSchüler Hanns Sachs beschrieben hat, bedeutete die Teilnahme eines Kameraden an der Phantasietätigkeit eine Entlastung und Bestätigung und half dabei, die poetische Fiktion gegen die Ansprüche der nüchternen – 54 –
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Realität aufrecht zu erhalten. So stellte Orplid von Anfang an auch einen imaginären Raum der Freundschaft dar, den Mörike und Bauer gemeinsam bewohnten und ausgestalteten: Das freie Spiel der Phantasie und der innige Seelenbund waren wesensverwandt, weil beide als beglückende Gegenwelten zur strengen Atmosphäre des Stifts empfunden wurden. Indes verteilten sich die Gewichte zwischen den Freunden recht ungleich, da Mörike überwiegend den eigentlich schöpferischen Part übernommen zu haben scheint, während Bauer wenigstens zunächst eher rezeptiv als bewundernder Zuhörer beteiligt war. Auch in der Vorrede zu dem OrplidDrama Der heimliche Maluff bezeichnet er seinen „Freund Eduard“ als den eigentlichen Erfinder oder ‚Kenner‘ der geheimnisvollen Insel.43 In der Forschung wurde Orplid oft mit der Tradition der Robinsonaden, in die in Deutschland beispielsweise Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg gehört, und mit der zeitgenössischen Schwärmerei für das exotische Südsee-Paradies Otaheiti (Tahiti) in Verbindung gebracht – zu Unrecht, denn in den Phantasien der Tübinger Freunde begegnen wir weder einem Ursprungszustand paradiesischer Unschuld noch einem absoluten Neuanfang jenseits einer erstarrten gesellschaftlichen Ordnung, sondern einer mit Mythologie und Geschichte gesättigten, mit Kriegen, Kämpfen und Helden angefüllten Sphäre; die später auf der Insel eintreffenden europäischen Siedler, die in Mörikes Dramolett Der lezte König von Orplid auftreten, sehen sich den monumentalen Überbleibseln einer vergangenen Hochkultur gegenüber. Auch philosophisch begründete Inselutopien wie Platons Atlantis und Thomas Morus’ Utopia dürften für Mörike und Bauer kaum von Interesse gewesen sein. Pate gestanden haben bei Orplids Geburt andere Autoren, vielleicht Ossian, mit Sicherheit aber Homer und Shakespeare, deren Werke die beiden Freunde in Tübingen gemeinsam lasen 44 und die Larkens in der zweiten Fassung des Maler Nolten auch ausdrücklich nennt.45 Während Homer und die Tragödien des Engländers die episch-heroischen, pseudo-historischen Elemente der Orplid-Welt inspirierten, verrät das Reich der Elfen und Feen, das in Der lezte König von Orplid eine große Rolle spielt, den Einfluss von Shakespeares Sommernachtstraum und Der Sturm. Orplid existierte nicht bloß auf dem Papier oder in den Köpfen seiner geistigen Väter, es wurde in und um Tübingen auch ganz konkret gespielt und erlebt. Darauf deutet schon Bauers Vorschlag hin, mit der Errichtung einer Hütte im Wald die Gründung einer Stadt zu simulieren, und auch in anderen Briefen ist von allerlei Rollenspielen und Maskeraden die Rede, die die Freunde ausheckten und die sich entweder an ihre Lieblingslektüren anschlossen oder gleich im Orplid-Kosmos angesiedelt waren. Da – 55 –
3. Urach, Tübingen und Orplid: Bildungswege und Freundschaftsbünde
wurden im Kampf die Myrmidonen des Achill erschlagen 46, oder man bewaffnete sich mit einer Armbrust und spielte „nach Art der Kinder ein paar Jauner […], die in einer einsamen Diebsheerberg auf der Lauer sind“, wobei ein Krämer daran glauben musste, den man beraubte und in einem Sumpf verschwinden ließ (10, S. 103). Noch 1832 verglich Mörike den kleinen Kirchturm von Ochsenwang mit dem Gartenhäuschen, das die beiden Studenten zum Schauplatz ihrer imaginären Abenteuer gemacht hatten: „Bauer würde in die Luft springen vor Freuden, so hoch als der Thurm selber ist, wenn er ihn sähe, denn auch die 4. Läden sind akkurat so wie die, aus denen wir als Orplids-Wächter zu allen Stunden der lauen tübinger Sommernächte herausgeguckt haben“ (11, S. 244). Solche Vergnügungen mögen ein wenig kindisch und für junge Männer von Anfang zwanzig unpassend erscheinen, aber man sollte bedenken, dass Bauer in Blaubeuren Primus seiner Promotion gewesen war und auch später, wie seine Karriere beweist, im Leben seinen Mann stand – die Orplid-Sphäre war kein Rückzugsort für weltfremde Traumtänzer. Da sich die Phantasien von Orplid anfangs vorrangig in der lebendigen Interaktion des Freundespaares, in Spielen und Gesprächen entwickelten, wurde ihrer schriftlichen Fixierung zunächst keine große Bedeutung beigemessen. Deshalb liegen auch nur sehr spärliche unmittelbare Zeugnisse aus dem Sommer 1825 vor. Die bei Bauer mehrfach erwähnte Karte sowie ein Bild der Insel sind verschollen 47, erhalten hat sich lediglich eine von Mörike und Bauer gemeinsam angefertigte fragmentarische Beschreibung der orplidischen Geographie.48 Im Winter 1825/26 schrieb Mörike für den Freund, der Tübingen zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen hatte, das Stück Schicksal oder Vorsehung, von dessen Originalversion nur ein bescheidener Ausschnitt ohne jeden Orplid-Bezug überliefert ist 49, das wir aber in einer überarbeiteten Fassung kennen: Es handelt sich um eben jenes Zwischenspiel, das unter dem Titel Der lezte König von Orplid in den Maler Nolten aufgenommen wurde und mit dem sich die Kapitel, die Mörikes Roman beziehungsweise seinem Theaterschaffen gewidmet sind, eingehender befassen werden. Von Schicksal oder Vorsehung angeregt, verfasste wiederum Bauer 1826 mit Der heimliche Maluff und Orplids letzte Tage zwei fiktiv-historische Dramen in Blankversen, von denen das eine zwei Jahre später publiziert wurde, während das andere erst postum in einer Ausgabe von Bauers Schriften, die seine Freunde 1847 veranstalteten, zum Druck gelangte. Man tut dem Verfasser gewiss nicht Unrecht, wenn man den literarischen Wert dieser beiden Stücke, die ausschließlich von ihrer bunten, abenteuerlichen Handlung leben, gering veranschlagt. – 56 –
„Du bist Orplid, mein Land!“
Während Der heimliche Maluff von Schlachten und Intrigen aus Orplids heroischer Epoche erzählt, behandelt Orplids letzte Tage die Apokalypse des alten Orplid, dessen Bewohner für ihre Verderbnis und ihren Machthunger bestraft werden. Einer der beiden Überlebenden ist der zu einem tausendjährigen Dasein verdammte König Ulmon, der Titelheld von Mörikes Dramolett Der lezte König von Orplid, dessen Handlungszeit um eben diese tausend Jahre später liegt. Nicht nur in der Beschäftigung mit solchen dramatischen Projekten suchte Bauer einen Ersatz für die unmittelbare Berührung mit Mörike in ihren gemeinschaftlichen Tübinger Orplid-Fabeleien. Er füllte auch seine Briefe in der ersten Zeit nach dem Abschied vom Stift zu einem großen Teil mit orplidischen Geschichten, stattete die ländliche Umgebung von Ernsbach mit entsprechenden Namen aus und lud den Freund ein ums andere Mal in sein Pfarrhaus ein, wo das phantastische Treiben aus dem Sommer 1825 seinen Fortgang nehmen sollte. Offenbar erblickte Bauer in Orplid das Fundament seines Seelenbundes mit Mörike, an dem er treu festhielt. Er schlug sogar vor, „jedes Jahr das Fest ‚Orplids Geburt‘“ zu begehen (daher die oben zitierte „Preisfrage“ zur Ermittlung des exakten Datums): „wenn auch entfernt von einander, wären wir uns doch nahe in demselben Heilig thum, es wölbte sich über uns das Dach Eines großen Tempels, in welchem wir uns nicht sehen könnten, aber doch von denselben himmlischen Wesen beschützt wüßten.“50 Warum Mörike sich diesem Drängen beharrlich entzog, wissen wir nicht; jedenfalls reagierte er kaum mehr auf Bauers Schwärmerei und raffte sich auch nie zu einem Besuch in Ernsbach auf. Umso erstaunlicher mutet es an, dass sein schönstes Orplid-Werk erst Jahre später wie aus dem Nichts entstand, möglicherweise um 1830, als er durch die Arbeit an Maler Nolten wieder mit dieser Sphäre in Berührung kam: Gesang Weyla’s
Du bist Orplid, mein Land! Das ferne leuchtet; Vom Meere dampfet dein besonnter Strand Den Nebel, so der Götter Wange feuchtet. Uralte Wasser steigen Verjüngt um deine Hüften, Kind! Vor deiner Gottheit beugen Sich Könige, die deine Wärter sind. (1.1, S. 102)
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3. Urach, Tübingen und Orplid: Bildungswege und Freundschaftsbünde
Vom übrigen Orplid-Kosmos, soweit wir ihn noch überblicken können, ist dieses Rollengedicht deutlich abgesetzt. Es berührt sich weder mit dem Dramolett im Roman, wo die Göttin Weyla gar nicht persönlich auftritt, noch mit Bauers action- und figurenreichen Theaterstücken, und den unbekümmerten jugendlichen Rollenspielen steht es erst recht fern. Gesang Weyla’s ist eine Evokation im buchstäblichen Sinne des Wortes: In der hymnisch preisenden Anrufung durch ihre Beschützerin tritt die Insel Orplid wie in einer Epiphanie vor die Augen des Lesers. Natürlich muss diese Evokation eine poetische sein; sie vollzieht sich nicht in prosaischer Rede, sondern eben im „Gesang“ der Göttin. So wird hier indirekt auch die beschwörende Kraft der dichterischen Sprache gefeiert. Die zweite Strophe kann leicht zu einer Fehllektüre verleiten: Nicht die Insel hebt sich aus dem Meer empor wie die Göttin Aphrodite im griechischen Mythos, vielmehr steigen die Wasser um sie herum nach oben. Vielleicht deutet dieses etwas rätselhafte Bild auf die Brandung an der Küste, aber bedeutsamer ist wohl die Aufwärtsbewegung als solche, die in dem zum Himmel steigenden Nebel wiederkehrt – eine Bewegung hin zum Göttlichen, das sich seinerseits in der Sonne manifestiert, deren Licht von oben herabdringt. Die Bewegung nach aufwärts bildet sich insbesondere in den Versen 5 und 6 auch lautlich ab, nämlich in der fortschreitenden Aufhellung der Klangfärbung, die von dem dunklen Eingangswort „Uralte“ ausgeht und in der Anrede „Kind“ ihren Abschluss findet. Unten und Oben, Erde und Himmel, Irdisches und Göttliches stehen in diesen Versen in einer lebendigen Wechselbeziehung, und in der Mitte scheint Orplid ‚ferne leuchtend‘ wie ein verheißungsvoller Traum zu schweben. In Gesang Weyla’s gewinnt die Insel, herausgelöst aus allen epischen und dramatischen oder auch pseudo-historischen Zusammenhängen und frei von jeder phantasievollen Detailmalerei, tatsächlich die Aura eines utopischen Orts schimmernder Reinheit, ungebrochener Götternähe und ewiger Jugendschönheit, der sogar „uralte Wasser“ verjüngt. Dass Orplid als „Kind“ anthropomorphisiert und zugleich zur „Gottheit“ verklärt wird, fügt sich in diesen Zusammenhang ein, ist doch das göttliche Kind eine aus der heidnisch-antiken Mythologie wie auch aus der christlichen Lehre wohlbekannte Symbolfigur für die Hoffnung auf Erlösung und ein neues Goldenes Zeitalter. Und lässt der ehrfürchtige Dienst der „Könige“ nicht sogar an die Anbetung im Stall zu Bethlehem denken? Der Privatmythos der beiden Tübinger Freunde unterscheidet sich grundlegend von dem frühromantischen Projekt einer ‚Neuen Mythologie‘, die einen Integrationspunkt für das gesamte geistige und literarische Leben – 58 –
„Du bist Orplid, mein Land!“
der Gegenwart abgeben sollte. Der Orplid-Fiktion fehlt der programmatische Totalitätsanspruch dieses idealistischen Entwurfs, und sie entsprang ja auch nicht der philosophischen Reflexion und Spekulation, sondern der elementaren Freude an der weltenschaffenden Macht einer spielerischen Phantasie. Vielleicht konnte Orplid aber gerade deshalb zu einem Sinnbild utopischer Verheißungen werden, das seine Strahlkraft sogar noch im 20. Jahrhundert bewahrte. Die geographischen, ethnographischen und historischen Elemente, mit denen Mörike und Bauer ihre Schöpfung so verschwenderisch ausgestattet hatten, wurden in der späteren Rezeption freilich weitgehend ausgeblendet. Was übrig blieb, war eher von der poetischen Epiphanie inspiriert, die in Gesang Weyla’s aufleuchtet: Orplid als bedeutungsvolle Chiffre für ein fernes Traum- und Sehnsuchtsziel. So verhält es sich bei Ernst Bloch, der in Orplid die „Artikulierung eines utopischen Hoffnungsinhalts“ erblickte51, und bei Josef Weinheber, der diesen Namen in seinem Gedicht Du bist Orplid als den Inbegriff von Geborgenheit und Heimat zitiert. Und selbst Gottfried Benn, der Mörike verächtlich einen „völlig geistlose[n] Mann“ nannte, musste einräumen, dass Gesang Weyla’s „ein wunderbares Gedicht, ein magisches“ sei.52 Auch zu Beginn und am Ende von Nur noch flüchtig alles nimmt Benn auf dieses Werk Bezug: Nur noch flüchtig alles, kein Orplid, keine Bleibe, Gestalten, Ungestalten abrupte mit Verkürzung. […] Wo schließt sich was, wo leuchtet etwas ferne, nichts von Orplid – Kulturkreis: Zahl Pi mit Seiltricks!53
In einer verwissenschaftlichten und fragmentierten modernen Welt lösen sich nicht nur Harmonie und Geborgenheit, sondern auch das menschliche Subjekt und mit ihm der Zusammenhang der poetischen Rede unwiderruflich auf. Utopische Ausblicke und Hoffnungen können da allenfalls noch in resignierter Negation oder im schwachen Echo eines literarischen Zitats anklingen – und sie konzentrieren sich für Benn in dem Schlagwort Orplid. – 59 –
4. Der Kampf um die „Oeconomia
interior“: Konturen eines schwierigen Charakters Eine Krankengeschichte
Nachdem die ersten Kapitel bereits einige Aspekte von Mörikes Charakterbild berührt haben, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, dieses Bild noch genauer und vor allem systematischer zu zeichnen. Es ist sicherlich ein heikles Unterfangen, allein auf der Grundlage schriftlicher Zeugnisse die Persönlichkeit eines Menschen schildern zu wollen – zumal wenn ihm eine ausgeprägte Neigung zum Sich-Verstecken und Sich-Entziehen eigen war –, doch lassen sich bei Mörike tatsächlich manche auffallenden Wesenszüge und bestimmte typische Empfindungs- und Verhaltensmuster rekonstruieren, die einen plastischen Eindruck von seiner Eigenart vermitteln. Unsere wichtigste Quelle bildet das umfangreiche Korpus der Briefe, aber als erster Anknüpfungspunkt soll eine Notiz dienen, die der Dichter sehr wahrscheinlich während der Cleversulzbacher Jahre niedergeschrieben hat und die in ihrer Mischung aus präziser Selbstdiagnose und behutsamer Verallgemeinerung ein bemerkenswertes Dokument seiner feinen psychologischen Beobachtungskunst darstellt. Festgehalten werden darin persönliche Erfahrungen, die er wohl auch einmal literarisch zu verwerten und auszugestalten gedachte: Wie kommts daß mir gewiße Menschenwerke, zumal an e. fremden Ort, auch die gemeinsten Gegenstände, wenn sie nur etwas Tüchtiges, Festes, Massiges haben auf eine Art imponiren, eine Überlegenheit auf mich ausüben, ja mir bange machen können? Ein starkes Thor eine Eichenthür, mit schwerem Schloß Ring, Knauf u. Schrauben? (Es ist die überall hervortretende u. gerüstete Menschenkraft, Verstand u. Wille.) Sie scheinen sich
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Eine Krankengeschichte
gegen mich zu kehren, wenigstens mich auszuschließen; fremd gegen mich zu thun. Eine mächtig gefügte Brücke, die nur zweckmäßig nicht schön u. leicht ist, vielleicht finster u. plump, empfängt mich feindselig u. läßt mich nur gleichsam um Gottes willen durch. Ich rede aber hier nur v. solchen Potenzen die eigentl. geistlos und gemein. materieller Art sind. Was Geist u. Herz anspricht das ist gl. zugänglich, verwandt u. freundl. […] Jene drückende Wirkung sezt aber immer schon eine schwache Seite des Subjekt, eine ängstl. schüchterne Stimmung Gefühl von Fremde, Armuth, Unbehülflichkeit voraus. Mit einem gefüllten Beutel in der Tasche sieht man dergl. ganz anders oder gar nicht an. Denkt man sich die Menschen, deren Werk so stattlich u. herausfordernd aussieht in ihrer ganzen Menschlichkeit, Kümmerlichkeit, mit ihrer Dummheit, ihren Sorgen pp so schwindet gleich auch das Anspruchsvolle in ihren Produkten. (7, S. 286f.)
Wer Artefakte, die sich durch etwas „Tüchtiges, Festes, Massiges“ auszeichnen, gleich als einschüchternd empfindet, muss ausgesprochen unsicher und ängstlich veranlagt sein. Was von „Menschenkraft, Verstand u. Wille“ zeugt, macht ihm „bange“, weil er solchen Gewalten nichts entgegenzusetzen weiß: Ausdrücklich wird angemerkt, dass dieses Unbehagen „immer schon eine schwache Seite des Subjekt“ voraussetzt, „eine ängstl. schüchterne Stimmung“, ein „Gefühl von Fremde, Armuth, Unbehülflichkeit“, das jedes Selbstbewusstsein, wie es etwa ein wohlgefüllter Geldbeutel verschaffen könnte, im Keim erstickt. Begreiflicherweise stellen sich derartige Erfahrungen besonders leicht an fremden Orten ein, wo keine vertraute Umgebung dem beklemmenden Eindruck vorbeugt, hoffnungslos unterlegen und ausgeliefert zu sein. Als Heilmittel empfiehlt Mörike eine Gedankenoperation, die die imposanten Gebilde auf dem Umweg über ihre Schöpfer gleichsam depotenziert, indem sie bewusst macht, dass auch hinter den eindrucksvollsten Bauwerken letztlich nur Menschen mit all ihren kreatürlichen Unzulänglichkeiten stehen. Noch aufschlussreicher ist jedoch seine Einschränkung im Hinblick auf die Gegenstände, die überhaupt unerfreuliche Gefühle der beschriebenen Art zu wecken vermögen. Übermächtig und fast bedrohlich wirken nämlich allein „solche Potenzen die eigentl. geistlos und gemein. materieller Art sind“, eine Brücke etwa, die „nur zweckmäßig“ und dabei vielleicht gar „finster u. plump“ ist. Ganz anders sieht es aus, wenn das fragliche Bauwerk sich „schön u. leicht“ präsentiert und damit „Geist u. Herz anspricht“. Mörike differenziert also begrifflich zwischen „Verstand“ und „Geist“: Während der Erstere für ihn nüchtern das Zweckmäßige, Funktionale kalkuliert, bezeichnet er mit „Geist“ die – 61 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
Fähigkeit des Menschen, auch höhere Qualitäten als bloße Nützlichkeit zu schätzen. Eine Brücke, deren schöne und leichte Bauweise den Geist ihres Schöpfers verrät und deshalb auch den des Betrachters anzieht, kündet von einer Formung der Materie im Dienste des ästhetischen Empfindens und damit von einer Erhebung über die beschränkte Sphäre des Nutzens und der Zwecke in das freie Reich der Schönheit, des künstlerischen Spiels. In diesem Reich aber fühlt sich der Schreiber der Zeilen wie zu Hause, und was dort beheimatet ist, mutet ihn sogleich „zugänglich, verwandt u. freundl.“ an. Ganz konkret erlebte Mörike das beispielsweise, als er 1831 das Ulmer Münster besichtigte: „Ich hatte noch selten Gelegenheit, bey grandiosen Gebäuden, es so zu empfinden, wie der beugende Eindruck des Ungeheuern sich in dem ruhigen Gefühl der Schönheit lößt, mit welcher unser Geist sich homogen empfindet“ (11, S. 206). Über die Bedeutung der Kunst und des Spiels für Mörike werden wir an anderer Stelle ausführlicher sprechen; jetzt sollen uns zunächst die Schwierigkeiten beschäftigen, die ihm die praktische Auseinandersetzung mit der von „Menschenkraft, Verstand u. Wille“ geprägten Lebenswirklichkeit bereitete. Ein eklatanter Mangel an Durchsetzungsvermögen und energischer Zielstrebigkeit war nämlich in der Tat ein Charakteristikum des Dichters, an dem man nicht vorbeisehen kann. Dieses Manko hatte gewiss zum Teil äußerliche Gründe wie etwa den Umstand, dass Mörike von Kindheit an wenig Gelegenheit bekam, Willensstärke und Tatkraft zu entwickeln und zu erproben. Frühzeitig ohne eigenes Zutun auf eine festgelegte und recht komfortable Bahn gesetzt, musste er im Grunde nur noch dem vorgeschriebenen Weg von der Schule über das Studium bis ins Vikariat und ins Pfarramt folgen, was er zwar ohne Enthusiasmus, aber im Ganzen doch gehorsam tat. Auch die Bedingungen im Seminar und im Stift waren, wie wir bereits hörten, nicht dazu angetan, seine Initiative und seinen praktischen Sinn zu stärken. Die strengen Regeln dieser Bildungsinstitutionen, die Wertvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft, speziell der Ehrbarkeit, und nicht zuletzt der Erwartungsdruck von Seiten der Familie sorgten dafür, dass der junge Mann auf Kurs blieb – ausgenommen den einen Versuch, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen, der 1828 prompt in ein Fiasko mündete. Mörike war zwar handwerklich nicht unbegabt; er betätigte sich nebenher unter anderem als Zeichner, Elfenbeinmaler und Steinmetz und erwog in seiner Cleversulzbacher Zeit sogar, eine eigene Laterna magica – einen Projektionsapparat – zu konstruieren und serienmäßig herstellen zu lassen. Aber in Angelegenheiten des Alltags zeigte er sich noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter oft ungeschickt – 62 –
Eine Krankengeschichte
und hilflos: Auf sich allein gestellt, empfand er schon Feuermachen und Kaffeekochen als ernsthafte Herausforderungen.1 So blieb er in seiner Unselbständigkeit auf die Hilfe praktischer veranlagter (weiblicher) Vertrauenspersonen wie Mutter, Schwester oder Ehefrau angewiesen. Übrigens fand er auch zum Geld zeitlebens kein rechtes Verhältnis, und seine gedrückte materielle Lage dürfte ihren Teil zu der ängstlichen Unsicherheit beigetragen haben, mit der er den Härten des Daseins begegnete – wir wissen ja: „Mit einem gefüllten Beutel in der Tasche sieht man dergl. ganz anders oder gar nicht an.“ Vor allem aber muss in diesem Zusammenhang auf Mörikes Krankengeschichte eingegangen werden, denn seine anfällige Gesundheit war von beträchtlichem Einfluss auf seine seelische Verfassung und seine Verhaltensmuster. Krankheit und Kränklichkeit stellten für ihn Lebensthemen dar, denen die Briefe an Freunde und Bekannte so breiten Raum widmen, dass im Folgenden nur eine kleine Auswahl der einschlägigen Stellen angeführt werden kann. Schon in der Tübinger Zeit beschrieb er Justinus Kerner, den er damals noch gar nicht persönlich kannte, in einem ausführlichen Brief sein Augenleiden, das sich in Kurzsichtigkeit und Doppelsehen äußerte.2 Außerdem machten ihm von Jugend an seine schlechten Zähne zu schaffen, die ihn bereits mit Anfang zwanzig fürchten ließen, „in ein paar Jahren ein ganzes Lazareth im Munde“ zu haben (10, S. 108). Urlaubsanträge, die er später beim Konsistorium, der obersten Kirchenbehörde, einreichte, wurden meist mit gesundheitlichen Problemen begründet, aber verschiedene Kuraufenthalte, so eine „Brunnenkur mit Molken“ in Stuttgart im Frühjahr 1831 (11, S. 199), brachten keine nachhaltige Besserung. Überdies war Mörike sehr wetterfühlig und scheint in seinem ganzen Leben keinen Ort entdeckt zu haben, dessen Klima ihm dauerhaft zuträglich gewesen wäre. Bei seinen zahlreichen Wohnsitzwechseln kam immer wieder die Frage nach den klimatischen Bedingungen ins Spiel. Wirklich kritisch wurde der Zustand des Dichters in Cleversulzbach. Nachdem er schon Ende 1834 wochenlang an einer „UnterleibsEntzündung“ – vielleicht einer Blinddarmreizung – laboriert hatte, die ihn, wie er meinte, dem Tode nahebrachte (12, S. 76), lag er zwischen Spätsommer 1835 und Frühling 1836, vermutlich aufgrund einer heute nicht mehr exakt zu diagnostizierenden Nervenkrankheit, mit schweren Lähmungserscheinungen zu Bett. Diese Krankheit markierte einen entscheidenden Einschnitt in seinem Lebensgang, denn spätestens von da an scheint er seiner körperlichen Verfassung nicht mehr recht getraut und nie mehr ein volles und sicheres Gefühl von Gesundheit erlangt zu haben. Auf Jahre hinaus – 63 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
quälten ihn nun Unterleibs- und Verdauungsbeschwerden sowie rheumatische Schmerzen, die ihn manchmal aufs Neue lähmten. Vor allem aber war seine Arbeitsfähigkeit seither erheblich eingeschränkt, weil ihn schon die bescheidensten Aktivitäten im Handumdrehen geistig und körperlich erschöpften. „Ich muß mich schlechterdings noch von Allem enthalten was einige Anstrengung und Nachdenken erfordert und selbst das Leichtere darf ich nicht anhaltend betreiben“, teilte er im Februar 1838 seinem Freund Mährlen mit; schreiben könne er höchstens „½–¾ Stunde Morgens nüchtern im Bett“ (12, S. 163). 1847 versicherte er Vischer, er habe „in folge eines tief eingreifenden körperlichen Leidens seit 1835 mit Arbeiten fast ganz aufhören“ müssen (15, S. 217), und noch vier Jahre später erklärte er, dass er allenfalls früh am Tage in halbliegender Stellung etwa eine Stunde lang imstande sei, sich mit „einer strengern Denkarbeit“ zu befassen (16, S. 15). Verbrachte er einmal einige Zeit in Stuttgart, wie es im November und Dezember 1838 geschah, empfand er bei dem bewegteren geselligen Leben „gar zu oft u. täglich die engen Grenzen meiner körperlichen Kräfte“ (12, S. 225). So war gerade die Cleversulzbacher Zeit sehr viel bitterer und leidvoller, als es das verbreitete Klischee vom beschau lichen ländlichen Pfarrhaus-Idyll wahrhaben will. Die bewegende Klage „um verlorene Jahre des Siechbetts“, die Mörike damals dem lyrischen Ich von Auf dem Krankenbette in den Mund legte (1.1, S. 115), war ihm aus eigener Erfahrung wohlvertraut. Man kann sich leicht denken, warum es ihn so sehr nach dem wundersamen „Kräutlein“ mit Namen „assiduitas in laborando“ – Ausdauer bei der Arbeit – gelüstete, das er gerne auf den Felsen der Schwäbischen Alb gepflückt hätte (11, S. 264); es gelang ihm jedoch zeitlebens nie, dieser nützlichen Pflanze habhaft zu werden. Dass er sich seit Mitte der dreißiger Jahre selbst in Phasen relativen Wohlbefindens nicht mehr auf umfangreichere literarische Projekte einließ, deutet keineswegs nur auf eine programmatische Wertschätzung der kleinen Dichtungsformen hin, sondern auch auf die Einsicht in die Grenzen seiner physischen Kräfte: „Denke ich aber an ein größeres Werk, so wird mir immer bang bei der unglaublichen Beschränkung die mein körperlicher Zustand u.s.w. mir bei der Arbeit auferlegt“ (15, S. 76). Und wenn ihn seine Kränklichkeit schon 1843 bewogen hatte, sich als Pfarrer pensionieren zu lassen, so war es natürlich erst recht schwierig, ein neues berufliches Tätigkeitsfeld zu finden: „ich fürchte für meine Gesundheit, wofern ein solches Amt Ansprüche an mich machte, denen ich bei der Eigentümlichkeit meines körper lichen Zustandes und der dadurch mit tyrannischer Strenge gebotenen – 64 –
Eine Krankengeschichte
Lebensweise (in Einteilung der Stunden für Arbeit Ruhe etc.) nicht völlig gewachsen wäre“ (14, S. 227). 1847 war noch einmal ein besonders schlimmes Jahr, in dem Mörike aufgrund eines diffusen Übels, das er als Rückenmarkserkrankung interpretierte, fast durchgängig ans Bett oder zumindest an sein Zimmer gefesselt und oft kaum imstande war, auch nur einen Brief zu schreiben. Noch im folgenden Sommer bezeichnete er sich mit Galgenhumor als ein „Pflanzenthier das beinah seine ganze Zeit auf das Verdaun u. Vegetiren angewiesen ist“ (15, S. 256). Ein Kuraufenthalt in Möttlingen und Teinach im Schwarzwald bewirkte dann zwar eine „wunderbare Besserung“ seines Befindens, die er vor allem dem segensreichen Einfluss seines geistlichen Freundes Christoph Blumhardt zuschrieb (S. 270), aber von langer Dauer waren diese Heilerfolge nicht. Bereits 1850 ist wieder von dem „Mangel an allem Gesundheitsgefühl“ die Rede, der ihm jeden Genuss vergälle (S. 340); Gliederschmerzen, Lähmungserscheinungen und angegriffene Nerven werden genannt. Mörikes Krankengeschichte, die wir jetzt ungefähr bis zum Beginn der Stuttgarter Zeit verfolgt haben, gibt manche Rätsel auf. Angesichts der beredten Klagen, die seine Briefe durchziehen, mutet es einigermaßen verblüffend an, dass er das für die damalige Zeit durchaus beachtliche Alter von siebzig Jahren erreichte und die meisten seiner weitaus rüstigeren Jugendfreunde überlebte. Außerdem scheint er, von den Monaten unmittelbar vor seinem Tod abgesehen, noch im fortgeschrittenen Alter keineswegs besonders hinfällig gewesen zu sein. Auch akribischen medizinhistorischen Untersuchungen ist es nicht gelungen, den Leiden des Dichters zuverlässig auf die Spur zu kommen.3 Unser Interesse richtet sich allerdings ohnehin weniger auf vermeintlich objektive Befunde und Diagnosen als vielmehr darauf, wie Mörike selbst seine Situation auffasste und wie er sich mit ihr zu arrangieren suchte. Der Frage nach eventuellen psychosomatischen Ursachen der oben beschriebenen Beschwerden können wir freilich nicht aus dem Wege gehen. Sie drängt sich geradezu auf, wenn man bedenkt, wie sehr Mörike oftmals unter seiner unbefriedigenden Lebenssituation und insbesondere unter der Last des geistlichen Amtes gelitten hat. Als Pfarrverweser in Ochsenwang, wo ihm auch noch die fatale „Alpluft“ zusetzte (11, S. 287), schüttete er Luise Rau sein Herz aus: „mich ergreift dabei ein Gefühl von Bitterkeit von Trotz und Ungeduld, das nur derjenige verstehen und verzeihlich finden wird, der sich je auf ähnliche unsinnige Art durch Indolenz oder Pedanterie seiner Vorgesezten von seinem natürlichen Elemente abgeschnitten und nach – 65 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
seinem besten Theile gelähmt und vernichtet sah“ (S. 327). Die Metapher der Lähmung begegnet in solchen Kontexten des Öfteren: Von „lähmenden Gesangbuchs-Einflüssen“ ist bereits 1827 die Rede (10, S. 167), und im Jahr darauf hören wir den gequälten Ausruf: „Alles, nur kein Geistlicher! hier bin ich ganz u. durchaus gelähmt“ (S. 199). Kann man es da noch für einen Zufall halten, dass Mörikes Krankheitsschübe sich immer wieder ausgerechnet in Form von Lähmungen äußerten, die ihm die Erfüllung seiner dienstlichen Pflichten schlechterdings unmöglich machten? Ihm selbst war der Gedanke an einen untergründigen Zusammenhang von Physis und Psyche keineswegs fremd. Er erfasste ihn mit dem Begriff der Hypochondrie, der im unbestimmten Sprachgebrauch der Zeit eine abgeschwächte Variante der Melancholie, der tiefen Schwermut bezeichnete und eine Mischung aus Menschenscheu, düsteren Stimmungen, allgemeiner Ängstlichkeit und einer furchtsam gespannten Aufmerksamkeit für den eigenen körperlichen Zustand einschloss. Schon in jungen Jahren sprach Mörike von seiner „bößen hypochondrischen Natur“ (10, S. 104) oder verfluchte den „Satan Hypochondrie“, der ihn nie zu voller Zufriedenheit mit seiner Lage kommen lasse (S. 196), und noch 1854 erläuterte er dem Briefpartner Theodor Storm seine Neigung zu „extremen Sorgen“ mit den schlichten Worten: „Ich bin Hypochonder von Hause aus“ (16, S. 177). Die Angst um seine Gesundheit verfolgte ihn manchmal sogar im Schlaf, wo sie sich in alptraumhafte Bilder umsetzen konnte, wie er sie Ende 1838 in einem Brief an Mutter und Schwester schilderte. Der beigefügte Kommentar wird die Adressatinnen kaum getröstet haben: „Ihr dürft mich über diesen Traum nicht erst beruhigen; ich weiß, er hat nichts zu bedeuten, indem darin nur etwas stark dasselbe concentrirt u. ausgesprochen erscheint, was mich am Tag zuweilen in hypochondrischen Augenblicken wohl flüchtig beschlich. Wir wollen keineswegs den Muth verlieren. Ich hoffe alles Ernsts das Beste“ (12, S. 240). Vor allem war ihm bewusst, dass er unter einer extremen Verletzlichkeit, einer geradezu krankhaft gesteigerten Sensibilität für störende Reize und Einflüsse litt, die letztlich nichts anderes gewesen sein mag als die Kehrseite jener Offenheit für subtile äußere und innere Eindrücke, für Naturwahrnehmungen und feinste Stimmungsnuancen, die zu den großen Gaben des Dichters Mörike gehörte. Im Sommer 1824 schrieb er an Waiblinger: Es ist überhaupt in meinem wirklichen [d. h. gegenwärtigen] Zustand ein besonderer peinlicher Zug, daß Alles auch das Kleinste, Unbedeudenste was v. außen Neues an mich kommt – irgend eine mir nur einigermaßen fremde Person, wenn sie sich mir auch nur flüchtig nähert, mich in das
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Im Verborgenen: Rückzugsstrategien und Grenzziehungen
entsezlichste bangste Unbehagen versezt u. ängstigt, weßwegen ich ent weder allein oder unter den Meinigen bleibe, wo mich nichts verlezt, mich nichts aus dem unglaublich verzärtelten Gang meines innern Wesens heraus stört u. zwingt. (10, S. 58f.)
Ganz in diesem Sinne erwähnte er sechzehn Jahre später gegenüber Hartlaub seine „kranke Ängstlichkeit“ und seine „vis inertiä“, also eine paradoxe Kraft der Trägheit, der Untätigkeit (13, S. 112). Einen besonders bildkräftigen Vergleich gebrauchte er 1839 in einem Brief an Wilhelm Zimmermann: „Nun bin ich aber wie ein schaallos Ei seit meiner Krankheit, an deren Folgen ich noch immer trage“ (S. 21). Schutzlos allen Verletzungen preisgegeben wie ein Ei ohne Schale, so muss sich Mörike tatsächlich oft gefühlt haben. Wo aber Ängstlichkeit, Dünnhäutigkeit und echte physische Leiden eine solch unheilvolle Verbindung eingingen, konnte auf die Dauer nur eines helfen: ein umfassendes diätetisches Programm mit strengen Verhaltensregeln und Vorsichtsmaßnahmen, die das zerbrechliche innere Gleichgewicht schützten.
Im Verborgenen: Rückzugsstrategien und Grenzziehungen Von einem „vernünftigen Schema meiner künftigen Oeconomia interior“ – also gewissermaßen seines Seelenhaushalts –, mit dessen Hilfe er „dem gänzlichen Bankerott noch vorzubeugen“ hoffe, sprach Mörike bereits 1829, als sein Versuch, dem Kirchendienst zu entfliehen, gescheitert war (11, S. 31). Ähnliche Überlegungen durchziehen die Briefe späterer Jahre, in denen immer wieder das Bestreben des Dichters hervortritt, einen stabilen Ausgleich zwischen den Anforderungen der Umwelt und den eigenen Bedürfnissen zuwege zu bringen, der ihm eine halbwegs gesunde und zufriedene Existenz ermöglichen sollte. Im Dienste dieses Ziels mussten die Anregungen und Eindrücke von außen ebenso wie die eigenen Aktivitäten so weit eingeschränkt werden, dass sie ihn nicht überforderten. Daher gewann der Gedanke des rechten Maßes, der ja jeder Diätetik zugrunde liegt, für Mörike einen überragenden Stellenwert. Ihm ist die zweite Strophe des Gedichts Gebet gewidmet, die 1832 zunächst unabhängig von der ersten entstand: Wollest mit Freuden Und wollest mit Leiden Mich nicht überschütten!
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4. Konturen eines schwierigen Charakters
Doch in der Mitten Liegt holdes Bescheiden. (1.1, S. 210)
Nicht der Gegensatz zwischen „Freuden“ und „Leiden“, sondern der zwischen dem richtigen Maß und dem ‚Zuviel‘ strukturiert diese Verse: Statt sich das Angenehme zu wünschen und von Leid befreit werden zu wollen, wie man es eigentlich erwarten sollte, bittet das lyrische Ich darum, von jeglichem Übermaß, es sei nun im Guten oder im Bösen, verschont zu bleiben. Im Redegestus des christlichen Gebets verkündet es ein Ideal der rechten Mitte, das eher philosophischen Lebenslehren der Antike verpflichtet ist, wie man sie bei Aristoteles oder in der „aurea mediocritas“ des Horaz formuliert findet.4 Mörike sah sich wegen seiner „bößen hypochondrischen Natur“ schon frühzeitig auf eine solche Haltung verwiesen, wie er 1825 dem Freund Ernst Friedrich Kauffmann schrieb: „Ich tepeszire mit Leid und Freude gerne so fort – sonst komm ich aus dem Gleichgewicht und habe nach beiderley Schwelgereyen nachher wieder unendlich viel mit Schmerzen abzuräumen, zu sondern und einzuschachteln“ (10, S. 104). Das Verb „tepeszieren“ leitet sich vom lateinischen „tepesco“ ab, das so viel wie „lau oder warm werden“ bedeutet. Die ‚lauwarme‘ Mittellage in heilsamer Distanz zu allen Extremen schien Mörike die bekömmlichste zu sein. Betrachten wir die unterschiedlichen Gebiete, auf denen die „strenge geistige Diät“ (12, S. 98), die er sich verordnete, wirksam wurde! Bereits die bewusste Beschränkung des poetischen Schaffens, die er zeitweilig vornahm, war nicht nur auf körperliches Unvermögen, sondern auch auf die Furcht vor den aufreibenden geistig-seelischen Wirkungen des Dichtens zurückzuführen: „Was mein Verhältniß zu der Poesie betrifft so ists für jezt eigentl. nur die Sehnsucht eines Liebhabers zur Liebsten, der sich Diät halber enthalten muß. Ich darf mich nicht, auch nur auf eine Stunde mit ganzer Seele an einen Gegenstand hingeben“, teilte er Friedrich Theodor Vischer mit (12, S. 147), und dem befreundeten Poeten Karl Mayer schrieb er: „Mit meiner Gesundheit geht es nicht übel. Nur darf ich mich noch an Nichts hingeben, was einige Anstrengung fordert. Im poetischen Feld, auf meinem eignen wenigstens, ruht Alles“ (13, S. 151). Der kleine Einschub im letzten Satz ist aufschlussreich, denn in der Tat sah sich Mörike damals sehr wohl in der Lage, Mayer bei der Vorbereitung einer Lyriksammlung zu helfen und ihm Vorschläge zur Verbesserung seiner Gedichte zu unterbreiten; nur vor der selbständigen schöpferischen Tätigkeit musste er sich hüten. Wir werden noch sehen, dass die Übersetzungen antiker Dichtung, die er in den späten dreißiger Jahren in Angriff nahm, aus denselben diätetischen – 68 –
Im Verborgenen: Rückzugsstrategien und Grenzziehungen
Rücksichten erwuchsen. Die Sorge um sein Wohlbefinden war also mit dafür verantwortlich, dass Mörikes Oeuvre so schmal blieb, obwohl es ihm keineswegs an fruchtbaren Ideen fehlte und er jederzeit über „einen ganzen Rummel von selbsterfundnen Stoffen“ (12, S. 147) und ein „bestens assortirte[s] MährchenWaarenLager“ verfügte (S. 199). In einem Brief an David Friedrich Strauß fasste er 1838 sein Dilemma zusammen: „Ich habe ein ganzes Nest voll kleiner u. größerer Geschichten, Novellen u. Mährchen im Kopf, kann mich aber […] zur Zeit an so etwas mit Lebhaftigkeit, wie ich doch müßte, nicht hingeben“ (S. 164). Da sich seine „Diät“ konsequenterweise „selbst auf die Lektüre“ erstreckte (12, S. 158), ließ Mörike auch bei der Auswahl seines Lesestoffs Vorsicht walten. Vischers kühne Novelle Ein Traum, in der sich ein nihilistischer Selbstmörder vor dem Thron eines philiströsen, selbstzufriedenen Gottes rechtfertigt, kam ihm da sehr ungelegen, obwohl er ihre literarischen Qualitäten anerkannte – dergleichen störe seine „geistige Diät u. Ökonomie“ und verursache ihm „Übelkeit“ (11, S. 169). Vollends unerträglich fand er die „kranke Desperationskoketterie“, die er den Gedichten Heines unterstellte: „es hat sich bey mir seit Lesung der Letzteren eine Art Abneigung gegen alle lyrische Verzweiflungsexpektorationen eingenistet in so fern sie nemlich NB. das Gefühl zu lange in Anspruch nehmen“ (S. 170f.). Den Roman Die Zerrissenen von Alexander von Ungern-Sternberg schlug er lieber gar nicht erst auf: Mich schreckte […] der Titel den ich charakteristisch für unser Zeitalter nahm […]. Übrigens sage ich bei dieser Gelegenheit, daß ich der Kränklichkeit und Schmerzens-Pralerei unserer jezigen Poësie gegenüber mich (wenn ich je an eine neue Arbeit von mir denke) herzlich nach einem gesunden idealen Stoffe sehne, der sich eine antike Form assimilirte. Nur diß bewahrt entschieden vor jenem modernen Unwesen, von dem man doch wider Willen mehr oder weniger auch mit sich schleppt. (12, S. 46)
Ausdrücklich bezieht sich Mörike hier auf jene weltschmerzliche ‚Zerrissenheit‘, die in der Restaurationsepoche nach 1815 so verbreitet war und unter anderem in den Werken von Nikolaus Lenau, August von Platen und Heinrich Heine einen literarischen Niederschlag fand. Die Hochkonjunktur dieser melancholischen Stimmungslage, die mit ihren Sinnzweifeln und ihrem Lebensekel schon Züge des späteren Nihilismus vorwegnahm, hatte verschiedene Gründe: Das Zerbrechen der romantischen Dichter-Utopien und der hochfliegenden Entwürfe der idealistischen Philosophie, der fortschreitende Zerfall metaphysischer Gewissheiten – 69 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
sowie die bedrückenden politischen Verhältnisse jener Jahre und der Eindruck einer allgemeinen gesellschaftlichen Stagnation dürften eine Rolle gespielt haben. Mörikes entschiedene Antipathie gegen dieses „moderne Unwesen“ ist für ihn ebenso charakteristisch wie das nachgeschobene Eingeständnis, dessen fatale Wirkungen auch selbst zu verspüren. Das Gefühl, unfrei und in der Entfaltung seiner Fähigkeiten empfindlich behindert zu sein, auf das er, wie es scheint, immer wieder mit Kränklichkeit reagierte, war demnach keine reine Privatsache, sondern ein zeittypisches, von gewissen geistesgeschichtlichen, politischen und sozialen Konstellationen begünstigtes Phänomen, obwohl es in Mörikes Fall sicherlich durch die ganz individuellen Bedingungen seiner Existenz modifiziert wurde. Der in der zitierten Passage angedeutete Gedanke, dass man in der Hinwendung zur Antike ein Heilmittel für solche Leiden finden könne, wird uns an anderer Stelle noch beschäftigen, denn er sollte später entscheidenden Einfluss auf das Schaffen des Dichters nehmen. Harmonie und Idyllik, die zumindest weite Teile seines Werkes in so auffallendem Maße prägen, und das vielzitierte „holde Bescheiden“ aus dem Gedicht Gebet (1.1, S. 210) waren für ihn jedenfalls keine Selbstverständlichkeiten, sondern wurden der äußeren Beengung und mancherlei inneren Konflikten stets aufs Neue mühsam abgerungen. Dass Mörike in Phasen besonderer Empfindlichkeit auch den Umgang mit seinen Mitmenschen einschränkte, hat uns bereits der weiter oben angeführte Brief an Waiblinger verraten. Von Krankheit, Schwäche und hypochondrischen Sorgen geplagt, sah er sich oftmals sogar genötigt, Besuche abzulehnen, die ihm eigentlich nicht unwillkommen gewesen wären. 1837 beispielsweise musste er sowohl auf Bauers Gesellschaft verzichten – „es wäre für mich, unter meinen Umständen, des Guten zu Viel“ (12, S. 128) – als auch eine Einladung von Hermann Kurz ausschlagen: Es liegt in der Natur einer solchen Zusammenkunft, daß sie, auch wenn man keineswegs darauf ausgeht, sich außer Athem zu setzen, doch nicht ohne lebhafte Anregung dessen, was in und an uns ist, Stattfinden kann. Nun fühle ich mich aber in der That weit nicht gestärkt genug, um mich einem Genuß der Art zu überlassen. Ich kenne mich auf diesen Punkt und weiß, ich würde unwillkürlich weiter geführt, als sich mit meiner Reizbarkeit und meinem ganzen difficilen Zustande verträgt. (S. 130f.)
Vier Jahre später entging dem Cleversulzbacher Pfarrer aus ähnlichen Gründen eine Bekanntschaft, die ihm vielleicht sehr nützlich gewesen wäre. Als Ludwig Tieck auf der Durchreise im nahen Heilbronn Station – 70 –
Im Verborgenen: Rückzugsstrategien und Grenzziehungen
machte, arrangierte Justinus Kerner ein Treffen mit Mörike – und Tieck, der ein schmeichelhaftes Interesse an dem schwäbischen Kollegen bekundet hatte, war nicht nur ein Autor, den Mörike seit seiner Jugend schätzte, sondern auch ein Mann von beträchtlichem Einfluss in literarischen Kreisen und am Berliner Hof. Wer aber am vereinbarten Tag nicht erschien, war Mörike. In einem kurzen Schreiben an Tieck entschuldigte er sich unter Hinweis auf „ein unerwartet eingetretenes Unwohlseyn“ (19.2, S. 22), während er gegenüber Kerner, der die verpasste Gelegenheit wortreich beklagte, ein wenig ausführlicher wurde: „Ach! wäre ich gesund und nicht von aussen immer so gehezt und beengt, wie viel zufriedener sollten meine Freunde mit mir seyn. So aber muß ich ihnen öfter undankbar, als ein launischer Hypochonder erscheinen. Ich weiß das Alles anders und kann es doch nicht ändern!“ (13, S. 181) Neben dem wachen „Instinkt, Alles zu meiden, was mich einiger maßen lebhaft anregen könne“ (13, S. 21), war bei solchen Zwischenfällen ein ausgeprägter Widerwille gegen jede noch so entfernte Berührung mit der Sphäre der Öffentlichkeit im Spiel, die seinem diätetischen Programm strikt zuwiderlief. Deshalb bedeutete auch das Predigen unter sämtlichen Pflichten seines geistlichen Berufs die größte Plage für ihn. Schon zu Beginn des Vikariats sah er „mit den peinlichsten Gefühlen einem jeden Predigttag entgegen“ (10, S. 180), und im Laufe der Zeit wurde ihm das Sprechen vor der Gemeinde mehr und mehr zur physischen und psychischen Qual. Er sei „nicht über eine Viertelstunde öffentlich zu reden im Stande“, versicherte er 1838 (12, S. 210), und seinen Abschied vom Pfarrberuf begründete er kurz und bündig mit den Worten: „Ich kann das Predigen nicht vertragen“ (14, S. 127). In Cleversulzbach schob er die lästige Aufgabe jahrelang auf seine Vikare ab, bis er endlich nicht mehr umhin konnte, seiner offenkundigen Amtsunfähigkeit mit dem Gesuch um vorzeitige Pensionierung Rechnung zu tragen. Später empfand er sogar die wenigen Unterrichtsstunden, die er wöchentlich am Stuttgarter Katharinenstift erteilte, zunehmend als belastend. In der ängstlichen Sorge um seine zarte körperliche und seelische Konstitution wurzelte auch Mörikes Neigung, sich in überschaubare, abgeschlossene Zufluchtsräume zurückzuziehen, die Schutz und Geborgenheit verhießen. Aus diesem eigentümlichen Verhaltensmuster entwickelte der Dichter wiederum einen zentralen Motivkomplex seines Werkes. In dem Gedicht Erinnerung besinnt sich der Sprecher auf ein solches Refugium aus Kinderzeiten: Es sind die „großen Kufen“ in „Nachbar Büttnermeisters Höfchen“, in denen er sich an Sonntagnachmittagen mit – 71 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
seiner Freundin behaglich niederzulassen pflegte (1.1, S. 14). Als Seminarist baute Mörike sich an einem Felsen in der Nähe des Städtchens Urach eine Hütte, in der er ungestört sein konnte. 1822 erwähnt er dieses „Sorgenfrey“ in einem Brief an Waiblinger, in dem er seine „abgeschiedene Zelle“ mit einem Novalis-Zitat zum Lob der Einsamkeit in Verbindung bringt (10, S. 29), und aus derselben Zeit stammt das Gedicht In der Hütte am Berg, dessen erste Strophen folgendermaßen lauten: „Was ich lieb und was ich bitte Gönnen mir die Menschen nicht, Darum, kleine, moos’ge Hütte, Meid ich so des Tages Licht. Bin herauf zu dir gekommen, Wo ich oft der Welt vergaß Gerne sinnend bei dem frommen Roten Kerzenschimmer saß. Weil ich drunten mich verliere In dem Treiben bang und hohl, Schließe dich, du kleine Türe Und mir werde wieder wohl!“ –5
Dass es starke regressive Tendenzen waren, die den Rückzug ins Enge, Vertraute und Geborgene so verlockend erscheinen ließen, tritt hier sehr deutlich zutage. Ist die Tür erst einmal geschlossen, legen sich die Wände der Hütte wie eine zweite schützende Haut um das verletzliche Individuum und halten all jene Mächte fern, die es als feindselig und bedrängend erfährt. Dabei korrespondiert diese geschlossene Sphäre, wie der Fortgang des Gedichts bestätigt, dem seelischen Innenraum des Sprechers: In der Abkehr von der „Welt“ da draußen mit ihrem störenden grellen Licht und ihrem verworrenen „Treiben“ wendet sich das Ich der träumerischen Innerlichkeit und dem Reich der Phantasie zu, das sich im milden Kerzenschimmer auftut. Dieselbe Grundfigur begegnet in Mörikes Roman, wo der junge Theobald Nolten unter dem Dach des Hauses seines Ziehvaters eine Zufluchtsstätte findet: „Dort nämlich ist ein Verschlag von Brettern, schmal und niedrig, wo mir die Sonne immer einen besondern Glanz, überhaupt ein ganz ander Wesen zu haben schien, auch konnte ich völlig Nacht machen, und (dieß war die höchste Lust), während außen heller Tag, eine Kerze anzünden, die ich mir heimlich zu verschaffen und wohl zu verstecken – 72 –
Im Verborgenen: Rückzugsstrategien und Grenzziehungen
wußte“ (3, S. 278). In Mörikes Idyllendichtung werden wir die Vorliebe für abgeschiedene Bezirke der Ruhe und der Selbstbesinnung ebenfalls antreffen. Verständlicherweise wurden solche Plätze vor allem dann wichtig, wenn äußere Herausforderungen und eine aufgewühlte seelische Verfassung ihm zu schaffen machten. So zog er sich im Sommer 1824, als ihn die Affäre mit Maria Meyer belastete, in Stuttgart am liebsten in ein einsames Gartenhäuschen zurück, „eine wahre moderne Eremitage“, wo er die Stille und die „freundliche Dämmerung“ genoss (10, S. 56f.) und seinen Umgang fast ganz auf seine beiden Schwestern beschränkte. Auch von der Ehe mit Luise Rau erhoffte er sich eine heilsame Begrenzung seines Lebenskreises, wie er der Verlobten anvertraute: Schon oft hab ich gedacht: von dem Augenblicke wo wir über die eigene Hausschwelle treten, fängt die Beschränkung meines Daseyns an, die mir erst die wahre Freiheit geben soll und indem mein Horizont sich zu verengen scheint wird er sich vielmehr erweitern, die Spannkraft der Seele wie sie bisher zerstreut bald da bald dorthin gezogen und vergeudet worden war, ist nun auf Einen Punkt gewiesen, sie wirkt nur jederzeit auf das hin was zunächst liegt und mit der Strenge mannigfaltigerer Pflichten wächst die Aussicht ins Leben […]. (11, S. 167)
In späteren Jahren wollte er sich mit ähnlichen Überlegungen sogar Krankheit und Bettlägerigkeit schmackhaft machen: „Das Fleckchen Sonne, das dem Vogel die Ecke seines Käfigs wärmt, wer weiß, obs ihn nicht inniger ergötzt als es die Fülle in der Freiheit draußen thäte“ (15, S. 229). Übrigens konnte er sich bei seinem Lob der Zurückgezogenheit einmal mehr auf antike Vorbilder berufen, etwa auf Epikur und Horaz, aber auch auf Ovid: Unter einer Zeichnung, die das Schulhaus und die Kirche des entlegenen Dörfchens Ochsenwang zeigt, notierte er in lateinischer Sprache eine Anspielung auf den Vers „bene qui latuit bene vixit“ („Gut lebt, wer gut im Verborgenen bleibt“).6 Es gibt eine ganze Reihe von Gedichten, die gewisse Aspekte des von Mörike entwickelten diätetischen Konzepts und seine Strategien des Rückzugs und der Verweigerung reflektieren. Auf humoristische Weise behandelt Die Visite das Thema des menschenscheuen Poeten: Als virtuoser Verwandlungskünstler wehrt das Dichter-Ich die zudringlichen Philister, die seine Ruhe stören, erfolgreich ab, bis schließlich wenigstens eine Art Waffenstillstand zwischen den beiden Parteien zustande kommt. Eine solche Kunst des Sich-Entziehens war Mörike bestens vertraut, wenngleich er von der märchenhaften Leichtigkeit, mit der sie hier geübt wird, nur träumen – 73 –
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konnte. Das Gedicht Trost führt dagegen im Tonfall existenziellen Ernstes vor, wie der lyrische Sprecher angesichts der Widrigkeiten des Lebens in der Besinnung auf sich selbst, auf die unangreifbare innere Einheit seines Ich, Mut und Fassung gewinnt. Etwas detaillierter sei ein weiteres förmliches Programmgedicht der Abschließung und der Introversion analysiert, das aus gutem Grund zu Mörikes berühmtesten Werken zählt. Es entstand wie die oben zitierte zweite Strophe von Gebet im Jahre 1832: Verborgenheit
Laß, o Welt, o laß mich sein! Locket nicht mit Liebesgaben, Laßt dieß Herz alleine haben Seine Wonne, seine Pein! Was ich traure weiß ich nicht, Es ist unbekanntes Wehe; Immerdar durch Thränen sehe Ich der Sonne liebes Licht.
Oft bin ich mir kaum bewußt, Und die helle Freude zücket Durch die Schwere, so mich drücket Wonniglich in meiner Brust. Laß, o Welt, o laß mich sein! Locket nicht mit Liebesgaben, Laßt dieß Herz alleine haben Seine Wonne, seine Pein! (1.1, S. 145)
Die beherrschende Geste der Abwehr, der Abgrenzung macht sich schon im formalen Aufbau geltend, denn die identischen Strophen 1 und 4 bilden einen Rahmen, der das Gedicht markant nach außen abschließt. Und nur in diesen Strophen wendet sich der Sprecher an die anonyme „Welt“, während die beiden Binnenstrophen ganz seinem inneren seelischen Leben gewidmet sind. Die Rahmenstruktur, die auf einer anderen Ebene im Schema des umgreifenden Reims wiederkehrt, gibt überdies bereits zu erkennen, dass hier keine Entwicklung geschildert, sondern ein statischer Zustand, eine bestimmte Gemütsverfassung des Ich vorgeführt wird. Gleich in der Eingangszeile gewinnt der Gestus der Weltabsage eine ungemein suggestive sprachliche Gestalt: „Laß, o Welt, o laß mich sein!“ – 74 –
Im Verborgenen: Rückzugsstrategien und Grenzziehungen
Die Wiederholungen, die l-Alliteration, die in den beiden folgenden Versen nachhallt, und die strikte Beschränkung auf einsilbige Wörter intensivieren den eindringlichen Appell und verleihen ihm geradezu den Charakter einer magischen Beschwörung, einer Zauberformel. Fast könnte man auch meinen, hier spreche ein christlicher Eremit, der sein Sinnen und Trachten einzig auf Gott richtet, und es ist in der Tat denkbar, dass der Kult der Innerlichkeit, von dem Verborgenheit Zeugnis ablegt, von typischen Haltungen einer pietistisch gefärbten Frömmigkeit beeinflusst wurde. Sie erscheinen im Gedicht jedoch in einer völlig säkularisierten Form, denn statt der religiösen Besinnung strebt Mörikes lyrisches Ich lediglich ein reines Für-sich-Sein an, in dem es ungestört verharren möchte. Wie schon in dem Gedicht In der Hütte am Berg wird alles, was jenseits davon liegt, also insbesondere die Sphäre der sozialen Beziehungen, mit dem pauschalen Begriff „Welt“ umschrieben. Diese Welt, die immerhin „Liebesgaben“ zu bieten hat, ist in Verborgenheit freilich keineswegs negativ konnotiert, und ebenso wenig stellt die Innenwelt des Sprechers – sein „Herz“, das ja „Wonne“ und „Pein“ gleichermaßen kennt – einen Bezirk ungetrübten Glücks dar. Dennoch wünscht das Ich ganz in dieser Innerlichkeit aufzugehen und sich die Außenwelt vom Leibe zu halten, die es mit ihren Verheißungen aus sich herauszulocken trachtet. Von einer kämpferischen Opposition, von Polemik oder Gesellschaftskritik kann dabei aber nicht im Entferntesten die Rede sein: Der Sprecher der Verse proklamiert einen bescheidenen, stillen Rückzug in die geheimen Tiefen seines Gefühlslebens. Die Ambivalenz von Wonne und Pein wird in den Binnenstrophen weiter differenziert. Die Verfassung des sprechenden Ich ist durch eine unbestimmte, offenbar grundlose Trauer und drückende Schwere, kurz: durch tiefe Melancholie gekennzeichnet. Gerade diese Melancholie wird jedoch immer wieder zur Quelle unvermuteter Glückserfahrungen, die ihre schwermütige Dämmerung wie ein Blitz „wonniglich“ durchdringen und erleuchten. Eine solche Auffassung der Melancholie hat Tradition – man denke nur an Albrecht Dürers bekannten Kupferstich Melencolia I, der den titelgebenden Gemütszustand in einer versonnen dasitzenden Frauengestalt personifiziert, die zur Überraschung des Betrachters mit Flügeln ausgestattet ist: Der plötzliche Aufschwung, die Loslösung von der Erdenschwere gehört zu den genuinen Möglichkeiten des Melancholikers. Für Mörike selbst war die gemischte Empfindung von Gedrücktheit und unvermittelt ‚aufzuckender‘ Freudigkeit eine der vertrautesten Stimmungslagen überhaupt, die ihm einen eigentümlichen Genuss verschaffte. Auf eine Variante – 75 –
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dieser wehmütigen Heiterkeit, die in seinen Briefen und Dichtungen geradezu den Rang eines Leitmotivs hat, sind wir bereits im Zusammenhang mit seinen sehnsüchtigen Erinnerungen an die Kindheit in Ludwigsburg gestoßen. Man findet auch zahlreiche Briefstellen, die fast wie Paraphrasen des Gedichts Verborgenheit wirken. Dem Jugendfreund Waiblinger schilderte Mörike zum Beispiel seine Gefühle angesichts eines regnerischen Sommertages, der „naß u. melankolisch angerückt kommt“: „das Leben selber scheint, wie das Grün von Bergen u. Bäumen auf diesem sanften aschgrauen Grund erst recht betrachtenswerth u. innig“, und dem Schreiber ist dabei „wohl“ zumute, „halb weinerlich u. lustig“ (10, S. 57). Einige weitere Belege seien hier unkommentiert aneinandergereiht: „mir war selten so wohl u. doch etwas traurig zu Muth“ (S. 42); „voll wehmüthig seeliger Verwirrung“ (S. 174); „Mir ist wohl und weh“ (11, S. 47); „meine Stimmung ist ein Gemisch von Wehmuth und Zufriedenheit“ (S. 56); „wehmüthig-freudige Stimmungen“ (S. 171); „ein Bliz von Freude und Wehmuth“ (S. 176); „mit Wehmuth und mit Heiterkeit zugleich“ (S. 315). Die Vorliebe für derartige Hell-Dunkel-Schattierungen des Gefühls übertrug Mörike auch auf die Figuren seines Romans. „Ich unterhielt zu Zeiten eine unbestimmte Wehmuth bei mir, welche der Freude verwandt ist“, erzählt Theobald Nolten im Rückblick auf seine Jugend (3, S. 278), und seine Schwester Adelheid scheint Mörike ebenfalls aus dem Herzen zu sprechen: „Indem ich“, hob sie nach einer Weile an, „wohl gute Lust hätte, recht wehmüthig zu seyn, wie dieser graue Tag es selber ist, so rührt sich doch fast wider meinen Willen ein wunderlicher Jubel in einem kleinen feinen Winkel meines Innersten, eine Freudigkeit, deren Grund mir nicht einfällt. Es ist am Ende doch nur die verkehrte Wirkung dieses melancholischen Herbstanblicks, welche sich von Kindheit an gar oft bei mir gezeigt hat. Mir kommt es vor, an solchen trauerfarbnen Tagen werde die Seele am meisten ihrer selbst bewußt; es wandelt sie ein Heimweh an, sie weiß nicht wornach, und sie bekommt plötzlich wieder einen Schwung zur Fröhlichkeit, sie kann nicht sagen woher […].“ (S. 191)
Auch der Schauspieler Larkens weiß, dass die „heimlich melancholische Beschränkung“ nichts anderes ist als eine „graue Folie jener unerklärbar tiefen Herzensfreudigkeit, die so recht aus dem innigen Gefühl unseres Selbst hervorquillt“ (S. 229). Vielfach bilden Zeiträume des Zwielichts und des Übergangs das atmosphärisch passende äußere Pendant solcher Stimmungen – etwa der Herbst oder die Dämmerung, die in Mörikes Lyrik nicht zufällig eine herausragende Rolle unter den Tageszeiten spielt. Und – 76 –
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als typische Stilfigur ist der gemischten Empfindung das Oxymoron zugeordnet, das zwei einander eigentlich ausschließende Begriffe zusammenzwingt: „wehmüthig-freudig“ gibt ein Beispiel dafür ab oder, als äußerste Zuspitzung, die Formulierung „Schmerzensglück“ aus dem Gedicht Früh im Wagen, dessen Szenerie wiederum in das zweifelhafte Licht der Morgendämmerung getaucht ist (1.1, S. 146). Gleichwohl wäre es mindestens in einer Hinsicht voreilig, das lyrische Ich in Verborgenheit ohne weiteres mit dem Autor Mörike zu identifizieren. Denn so diffus die hier evozierte Gefühlslage als solche auch sein mag, ihre Schilderung im Gedicht zeichnet sich jedenfalls durch bestechende Klarheit und die außerordentliche Präzision von Sprache, lyrischer Form und poetischer Motivik aus. Verharrt der Sprecher der Verse, seiner selbst „kaum bewußt“, in einem dämmernden Seelenzustand, ohne ihn reflektierend zu durchdringen, so beweist dagegen ihr Verfasser einen äußerst wachen Kunstverstand und eine souveräne Meisterschaft des Gestaltens – dieses Gedicht ist gewiss kein Produkt einer vagen Träumerei! Und seine Komplexität tritt noch eindrucksvoller hervor, wenn wir die bislang ausgesparte poetologische Dimension ins Auge fassen. Verborgenheit scheint nämlich auch den Vorgang der Inspiration zu themati sieren, die sich bei Mörike gleichfalls durch blitzartige Plötzlichkeit im Verein mit freudiger Erregung auszeichnet und deren unverfügbaren Augenblick die dritte Strophe im poetischen Bild festhält: Wo der Mensch ganz in sich selbst zurückkehrt, um in die träumerischen Tiefenschichten seiner Seele einzutauchen, kann sich unvermutet der schöpferische Funke entzünden. Auch in diesem Punkt führt Mörike eine ehrwürdige Tradition fort, denn die Verknüpfung von Melancholie und Schöpfertum stellt seit der Antike und der Renaissance einen Topos der europäischen Geistesgeschichte dar, der gerade um 1800 wieder Hochkonjunktur hatte. Viele große Künstler des Abendlandes galten als Melancholiker, und noch Goethe schrieb die Verse: „Zart Gedicht, wie Regenbogen, / Wird nur auf dunklen Grund gezogen; / Darum behagt dem Dichtergenie / Das Element der Melancholie.“7 Dass Mörike dieser Gedanke nicht fremd war, wird die Analyse seiner Mozart-Novelle bestätigen. Verborgenheit lässt also nicht nur eine bestimmte seelische Verfassung anschaulich werden, sondern bestimmt zugleich auch die Bedingungen der künstlerischen Inspiration. Tatsächlich erklärte Mörike die Abkehr von der geschäftigen „Welt“ und den Rückzug auf sich selbst zu wichtigen Voraussetzungen seines poetischen Schaffens. Die Vermutung, dass er damit nur aus der Not – 77 –
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seiner gesteigerten Empfindlichkeit und seiner diätetischen Schutzmaßnahmen eine Tugend machte, kann man freilich nicht ganz abweisen, etwa wenn er in einem Brief an Luise Rau wortreich den eng umschränkten „Gesichtskreis einer wirtemb. Pfarrey“ rühmt: Ich will, wenn ich einer Luftveränderung für meine Gehirnkammer bedarf, aus einer kleinen Reise nach einer Ansehnlichen Stadt, mehr ziehen und meine poetische Musterkarte stärker bereichern als der verwöhnte Städter der mitten auf dem Tummelplaze des gestalt- und farbreichsten Lebens wohnt; – eben die Seltenheit pikanter Erscheinungen schärft den Blick der sie zu ergreifen und zu steigern hat. Wenige aber starke Eindrücke von außen, – ihre Verarbeitung muß im ruhigen bescheidenen Winkel geschehen; auf dem ruhigen Hintergrund wird sich ihr Kolorit erhöhen und die Hauptsache muß doch aus der Tiefe des eigenen Wesens kommen. […] Überhaupt lebe ich der festen Überzeugung, bey einem Schriftsteller der auch nur etwas mehr ist als z. B. Wilh. Hauff […] verhält sich die Nothwendigkeit äußerer Anregung (und lebender Stoffe des Tages) zur Bedingung des eigenen Ideenfonds wie 4 zu 80. Wer der lezteren Summe gewiß ist, der findet die erstere auch als Dorfpfarrer […]. Wer die 80 nicht besizt der muß sie sich aus der andern Summe ergänzen und sich seine Copien aus Theezirkeln, Gesellschaften us.w. holen, den feinen Ton studieren, hinter jedem Stutzer und seiner Cravatte den Satyr spielen und das dann als Poesie drucken lassen. […] eine Iphigenia schreibt sich gar wohl ohne das, wenn man zuvor ein J. Wolfgang v. Göthe […]. (11, S. 96f.)
Das klingt verdächtig nach dem angestrengten Versuch einer Selbsttröstung und -rechtfertigung, und es war gewiss kein glücklicher Einfall Mörikes, sich hier ausgerechnet auf den welt- und erfahrungshungrigen Goethe zu berufen. Wenn man aber den ins Allgemeine gesteigerten Anspruch dieser Thesen einmal beiseite lässt und sie lediglich als Umschreibung von Mörikes eigener Haltung liest, ist zu konstatieren, dass er seinen Maximen zeitlebens treu blieb. 1838 bekräftigte er sie noch einmal gegenüber Hermann Kurz, der sich für eine Weile in der Residenzstadt aufgehalten hatte: „Ein Leben wie Du es in Stuttgart führtest, das ist ein Zustand der fliegenden Hitzen, wo man bunte Liköre statt ächten Weins trinkt. Ein schönes Werk von innen heraus zu bilden, es zu sättigen mit unsern eigensten Kräften, dazu bedarfs – weißt Du so gut als ich – vor allem Ruhe u. einer Existenz die uns erlaubt, die Stimmung abzuwarten“ (12, S. 202). Die Bindung seiner dichterischen Produktivität an das Leben in der „Verborgenheit“, das eine sorgfältige diätetische Regulierung der äußeren – 78 –
„Freundeslieb’ und Treu’“
Anregungen und Einflüsse nach dem Prinzip des heilsamen Maßes gestattete, prägte Mörikes gesamte innere Biographie. Sie erklärt auch die bemerkenswerte Entschiedenheit, mit der er zumindest seit den dreißiger Jahren seine eigentümliche Daseinsweise durchhielt und verteidigte. Um eventuellen Störfaktoren zu begegnen, entwickelte er eine Art passiver Resistenz, deren wichtigste Strategien der Rückzug, das Ausweichen und das Schweigen waren – und natürlich die Kränklichkeit, die es ihm immer wieder erlaubte, sich unbequemen Anforderungen zu verweigern. Die von ihm selbst gebrauchte Formel von der „vis inertiä“ (13, S. 112), der eigentümlichen Beharrungskraft des Nichtstuns, bezeichnet seine wunderliche Begabung in diesem Punkt äußerst prägnant. Zu Hilfe kamen ihm dabei allerdings – neben dem unschätzbaren lebenspraktischen Beistand der Mutter und der Schwester Klara – die Opferbereitschaft seiner Freunde und die Großzügigkeit der Vorgesetzten. Die kirchlichen Amtsträger bewiesen im Umgang mit dem schwierigen Vikar und Pfarrer eine erstaunliche Langmut, Wilhelm Hartlaub borgte ihm Predigten und half finanziell aus, Ludwig Bauer bemühte sich um berufliche Förderung und materielle Unterstützung, Johannes Mährlen und Hermann Hardegg setzten sich selbstlos für ihn ein, und in Mörikes Stuttgarter Zeit übernahm Karl Wolff, der Rektor des Katharinenstifts, ein ums andere Mal bereitwillig die Unterrichtsstunden seines unpässlichen Kollegen. Der Druck und die Einschränkungen, denen Mörike sich fast unablässig ausgesetzt fühlte, resultierten vorwiegend aus strukturellen Gegebenheiten und Notwendigkeiten, denen er sich kaum entziehen konnte. Mit den Menschen in seinem persönlichen Umfeld hat er dagegen fast durchweg großes Glück gehabt.
„Freundeslieb’ und Treu’“ Gedichte wie Trost oder Verborgenheit und manche Passagen in Mörikes Briefen könnten den Eindruck erwecken, als habe er die Einsamkeit über alles geliebt und sich wie ein Einsiedler vor der Welt verkrochen. Das ist jedoch nur sehr bedingt richtig, denn es gibt auch eine Reihe von Indizien, die genau in die entgegengesetzte Richtung weisen. Wir wissen bereits von seiner ausgeprägten Vorliebe für freundschaftliche Geselligkeit in den Uracher und Tübinger Tagen, und in der Vikariatszeit wurden häufig Klagen über den Mangel an frischen Anregungen und geselligem Umgang laut. Solche Impulse erkannte Mörike nämlich ebenfalls als notwendig für – 79 –
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sein Schaffen, und in dieser Beziehung waren die Nachteile einer „Landpfarrey“ nun einmal nicht zu übersehen, wie er Mährlen gestand: „Was mir aber für einen großartigen Zweck im Poëtischen so nöthig – ach! viel nöthiger als irgend einem Andern ist – das geht ja dort ganz verloren! – eine lebhafte Berührung mit Diesem oder Jenem, der ein gleiches Bestreben oder wenigstens Liebe zu dem Meinigen und Liebe genug für mich hätte, um mich nicht einschlafen zu lassen“ (11, S. 32). Von der Sehnsucht nach einem produktiven Austausch mit Gleichgesinnten, nach dem „belebenden Athem“ (S. 80) und dem „erfrischende[n] Umgang“ (S. 173) eines Kameraden ist auch sonst des Öfteren die Rede: „Was wollt ich geben um einen rechten Freund, der in der Gegend wohnte. Ich bedarf so gar sehr der Mittheilung und gelegentlichen Reibung, sonst gerath ich mit allem leicht ins Stocken“ (S. 64). Dem Gespräch und seiner beflügelnden Wirkung schrieb der Dichter so große Bedeutung zu, dass er sich in Briefen manchmal ersatzweise eine mündliche Unterhaltung mit dem entfernten Adressaten ausmalte. „Man soll nur versuchen, statt für sich allein, mit andern zu denken und sich einen Dialog fingiren, so wird gewiß immer etwas Gescheidteres herauskommen“, stellte er befriedigt fest, nachdem er mit Hilfe dieses Kunstgriffs in einem Schreiben an den Bruder Karl eine verbesserte Version seiner Übersetzung des lateinischen Jesu, benigne zuwege gebracht hatte (S. 255). Zu viel des Guten durfte es aber natürlich auch nicht werden, und so klingt in einem Brief an Luise Rau aus dem einsamen, hoch auf der Schwäbischen Alb gelegenen Ochsenwang mit seinen kaum mehr als dreihundert Einwohnern wieder einmal der Gedanke des rechten Maßes an: „Wie anders (muß ich mir sagen), wie glücklich könnt ich seyn mit einer kleinen, man sollte denken, so billigen Veränderung meiner äußern Lage; – gesunde Luft und ein regeres Verhältniß zur Welt in der Art wie sie mir gemäß ist – wie sehr ist nicht dadurch jede freudige Thätigkeit, die ganze Harmonie meines Wesens bedingt!“ (11, S. 327) Auch im Hinblick auf das „doppelte Bedürfnis nach Einsamkeit und nach Anregung“8, das Mörike empfand, musste also ein Ausgleich angestrebt werden, der beiden Seiten Rechnung trug. Die Geselligkeitskultur des Biedermeier bot eine Fülle von Gelegenheiten zu Gesprächen und Bekanntschaften, meist im häuslichen Rahmen und verbunden mit allerlei künstlerischen und literarisch-ästhetischen Bestrebungen. Mörike stand in der Tat verschiedentlich mit solchen geselligen Kreisen in Verbindung, doch er bevorzugte die kleine, überschaubare und ganz informelle Runde vertrauter Freunde, weshalb er auch die Möglichkeiten zu Begegnungen, die ihm während der – 80 –
„Freundeslieb’ und Treu’“
Cleversulzbacher Jahre das vielbesuchte Kerner-Haus im benachbarten Weinsberg eröffnete, nur sehr sparsam nutzte – mit dem Dichter Nikolaus Lenau, der dort regelmäßig zu Gast war, traf er beispielsweise nie zusammen. Waren die Personen und die Umgebung aber nach seinem Geschmack, so konnte er erstaunliche gesellige Talente entfalten und Humor und Heiterkeit versprühen, wie schon zahlreiche Bemerkungen und Erinnerungen seiner Jugendfreunde bezeugen. Er selbst charakterisierte sich wohl zutreffend, wenn er in seinem ersten Brief an Kerner von einer „lustige[n] Laune“ sprach, die seinem „sonst wohl hypochondrischen Temperament beigemischt“ sei (10, S. 95). An die Partner in engen freundschaftlichen Beziehungen stellte er jedoch hohe Anforderungen. Einen Eindruck von dem, was echte Freundschaft für ihn bedeutete, vermitteln zwei Briefe an Männer, die ihm fast sein ganzes Leben hindurch besonders nahe standen. 1832 schrieb er an Johannes Mährlen im Anschluss an eine vergnügliche Schilderung gemeinsamer vergangener Erlebnisse: Warum, Alter, geht mir das Herz so auf bei diesen Possen? Wahrlich nicht der Possen wegen, sondern dessentwegen, was sich von jeher so gerne darhinter versteckt hat. Das voll-befriedigte Gefühl, das erschöpfende Wohlseyn meiner armen anima, in Deiner geistigen und körperlichen Nähe, worin die ganze lange Skala möglicher Empfindungen, allgemeiner und individuellster, höchster Ernst und liebliche Narrheit so harmonischen und kräftigen Widerklang findet, wie bei keiner andern Seele, der angeborne Bruderzug, ich kanns nicht anders nennen. (11, S. 286)
Und Wilhelm Hartlaub versicherte er acht Jahre später: Es ist nun einmal wahr, und warum soll ich Dirs nicht wiederholen, da mich das Herz antreibt: ich weiß neben Bruder und Schwester kein andres Menschenkind, verlange auch nach keinem, bei dem ich mich so wie bei Dir daheim befände, d. h. so innig in mir selber bleiben könnte. Du muthest mir nichts zu, was meinem Wesen nicht entspricht, und wenn Du mich anmahnst und aufschüttelst, so ists nicht mehr noch weniger, als ich bei meiner kranken Ängstlichkeit und jener vis inertiä, die ich selbst an mir kenne, gar wohl brauchen kann. (13, S. 111f.)
Intime Vertrautheit, die auf einer gewissen Seelenverwandtschaft beruhte, und die behutsame Rücksichtnahme auf Mörikes Eigenarten und Stimmungen ermöglichten eine vollkommene zwischenmenschliche Harmonie, die ein Gefühl tiefer Geborgenheit erzeugte. Im Umgang mit einem – 81 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
solchen Freund musste Mörike sich keinen Zwang antun oder aus seinem „Wesen“ heraustreten; in wohltuender Weise angeregt und ‚aufgeschüttelt‘, konnte er sich doch zugleich ganz „daheim“ fühlen. Dass die ideale Freundschaft in beiden Briefen einer geschwisterlichen Beziehung angenähert wird, ist kein Zufall, denn Freundschaft und Familie bildeten für den Dichter nahezu gleichwertige soziale Schonräume, die ihm emotionale Sicherheit gewährten und damit sein prekäres inneres Gleichgewicht stabilisierten. Als Drittes trat im günstigsten Fall noch die Liebesbindung an die Verlobte oder Ehefrau hinzu. Man betrachte nur folgende Briefauszüge nebeneinander: Sagt ich nicht schon vor langer Zeit zu L. A. Bauer, […] der auch eine Schwester hat, wie ich: mir käm es oft vor, als hätte die meinige mit schwesterlich-tiefem Zauber in der Ferne und ohne daß sie mirs sage, meine Lebensfäden, die ich spinne oder die meine Natur spinnt, ruhig vorsehend in der Hand? (10, S. 48) […] es thut mir wohl, obgleich mit einer Anwandlung eines ängstlichen süßen Gefühls, Dich meinen Schutzgeist zu nennen, der ohn es selbst recht zu wissen, den verborgenen Knoten meines Lebens hält und mir leise Worte zuflüstert. (10, S. 122)
Noch kam kein Zweifel in mein Herz, daß, da Du mir geschenkt bist, das Schiksal Gutes mit mir vorhaben müsse, daß mir Dein reiner frommer Sinn das treueste Orakel für die Feststellung meiner innersten u. eigensten Angelegenheiten gewesen sey u. ferner bleiben werde; das heißt, ich werde meinem bessern Selbst treu bleiben, um so gewisser, als Du mit meinem Genius verschwistert bist und Hand in Hand mit ihm die sanften Bande hältst in denen sich mein Leben, mein Wollen hinbewegt. (11, S. 328)
Das erste Schreiben ist an Luise Mörike gerichtet, das zweite an Wilhelm Hartlaub, das dritte an Luise Rau – aber in allen Fällen geht es um dieselbe innige geistig-seelische Verbindung, um Schutz und Leitung durch eine Person, der Mörike sich vertrauensvoll und ohne Rückhalt hingab. Bei solch fließenden Grenzen zwischen Familie, Liebe und Freundschaft ist es nicht verwunderlich, dass er im Juli 1825 den Anfang eines Briefes, der eigentlich für seine Schwester gedacht war, ohne weiteres für ein Schreiben an Ernst Friedrich Kauffmann verwenden konnte.9 Der Schluss des 1837 für Hermann Hardegg verfassten Gedichts An Hermann, das auf ein vorübergehendes Zerwürfnis mit diesem Jugendgenossen zurückblickt, stellt die Freundschaft sogar über die Geschwister- und die Geschlechtsliebe, und Ähnliches geschieht auf dem Umweg über eine – 82 –
„Freundeslieb’ und Treu’“
Bibelanspielung in einem Brief an Hartlaub aus dem Jahre 1839.10 Mit Mörikes Beziehung zu seiner späteren Frau Margarethe Speeth, in der er anfänglich eher eine neue Schwester gesehen zu haben scheint, werden wir uns an anderer Stelle noch befassen. Geteilte Erinnerungen vor allem an die Jahre in Urach und Tübingen spielten in Mörikes Freundschaften als verlässlicher Bezugspunkt und Basis der wechselseitigen Vertrautheit eine wichtige Rolle. In Briefen an Mährlen beschwor er wiederholt die Studentenzeiten, in denen sie zu zweit Hölderlins Hyperion gelesen hatten11, und fasste sogar eine „Walfahrt nach Tübingen“ ins Auge: „im May 1830 hoffe ich mit Dir die duftige Schaale der Vergangenheit aufs neue zu kosten. Wir machen dann auch einen schweigsamen Gang auf den Österberg in W[aiblinger]s Gartenhaus, wir wollen alles Süße und alles Bittre bis auf den Grund ausschöpfen“ (11, S. 81f.). Umgekehrt verband sich die freudige Wehmut, die ihn bei Besuchen an den Orten seiner Kindheit und Jugend überkam, fast automatisch mit den Erinnerungen an die Freunde, die an diesen Plätzen hafteten. 1827 wurde eine Visite in Tübingen sogleich zum Anlass für einen überschwänglichen Brief an Mährlen12, und noch 1863 stürzte das Wiedersehen mit dieser Stadt Mörike in einen „Rausch von Erinnerungen“ und ließ ihn gegenüber Hartlaub bedauern, „daß wir die Tübinger Tour nicht miteinander machen sollten“ (17, S. 297f.). Die Vergangenheit, die er mit Hardegg teilte, reichte sogar noch weiter zurück und knüpfte sich „an die Häußer und Bäume von Ludwigsburg an die älterlichen Wohnungen, an die Balken der Bühnen an tausend Kleinigkeiten“ (10, S. 249) und ganz besonders an die „Maulbeerbäume im Hof “ des Hauses der Familie Mörike, von denen in An Hermann die Rede ist (1.1, S. 113) und die der Dichter auch in anderen Rückblicken auf seine Kindheit erwähnt. Mörikes Anhänglichkeit an die Vergangenheit macht verständlich, warum seine wichtigsten und engsten Freundschaftsbündnisse fast durchweg auf die Zeit in Ludwigsburg, Urach und Tübingen zurückgingen. Er hielt eben gerne am Gewohnten fest: „Das Anwerben neuer Freunde ist doch immer eine schwierige Sache und gewöhnlich werden sie nie so schmackhaft wie die alten“, ließ er sich bereits 1829 vernehmen (11, S. 64), und einmal bekannte er sich ausdrücklich zu seiner „Pietät für Jugendfreundschaft“ (S. 217). Zudem begünstigten die Bedingungen im Seminar und im Stift die Entstehung solcher Bindungen, während Mörikes vorsichtige Zurückhaltung im gesellschaftlichen Umgang später nur noch selten vergleichbare Gelegenheiten zuließ. – 83 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
Dem Ideal vollkommener Offenheit und uneingeschränkten Vertrauens kam sicherlich der Bund mit Wilhelm Hartlaub am nächsten, jenem Mann, den Mörike sein „zweites Ich“ (13, S. 88) oder auch den „Vertrauten aus meinem innerlichen Leben“ (15, S. 340) nannte und dem er emphatisch versichern konnte, dass „kein erlogen Fädlein“ zwischen ihnen sei (12, S. 128). Hartlaub amtierte nacheinander in Wermutshausen, Wimsheim und Stöckenburg als Pfarrer. Er hielt nach dem Abschluss des Studiums zunächst noch brieflichen Kontakt mit Mörike, aber dann verloren sich die beiden für einige Jahre aus den Augen, bis eine Begegnung in Mergentheim, wo der Dichter 1837 zur Kur weilte, sie wieder zusammenbrachte. Fortan riss die Verbindung nicht mehr ab, obwohl es bisweilen Spannungen gab, weil Hartlaub äußerst empfindlich reagierte, wenn er sich von seinem Freund vernachlässigt fühlte, und später dessen Beziehung zu der Katholikin Margarethe Speeth mit größter Skepsis betrachtete. Die beiden Männer führten einen intensiven und verhältnismäßig kontinuierlichen Briefwechsel, der viele Einblicke in Mörikes privates und familiäres Leben gewährt, aber auch Besuche wurden ausgetauscht, wann immer es möglich war. Mit dem Gedicht An Wilhelm Hartlaub (1.1, S. 237f.) schrieb Mörike 1842 eine förmliche Hymne auf „Freundeslieb’ und Treu’“. Es ist aber bezeichnend für ihn, dass die Verse nicht in der Unbestimmtheit einer schwärmerischen Empfindung verharren, sondern von einer konkreten Situation ausgehen – das lyrische Ich lauscht der Musik des Freundes, der „im Dämmerschein“ am Klavier sitzt, während es dem Wunder der Freundschaft nachsinnt. Und am Ende wird übermäßiges Pathos durch die Wendung ins Häuslich-Gesellige vermieden: Da tritt dein Töchterchen mit Licht herein, Ein ländlich Mahl versammelt Groß und Klein, Vom nahen Kirchthurm schallt das Nachtgeläut’, Verklingend so des Tages Lieblichkeit.
Tatsächlich waren Hartlaubs Frau Konstanze und ihre Töchter sowie auf der anderen Seite Klara Mörike in den regen freundschaftlichen Verkehr einbezogen. Zu Recht hat Friedrich Sengle konstatiert, Hartlaub sei für Mörike „mehr Seelen- als Geistesfreund“ gewesen.13 Mörike brauchte neben sich keinen gleichrangigen Dichter, der ihn durch die kritische Begleitung seines Schaffens anspornte, wie es etwa Schiller für Goethe gewesen war, sondern einen liebe- und verständnisvollen Partner, bei dem er sich sicher – 84 –
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aufgehoben fühlen konnte. „Dein Urtheil schlag ich höher an als jedes andere, es sey in Lob oder Tadel“, schrieb er dem Freund (13, S. 242), aber produktive Kritik war von Hartlaub kaum zu erwarten, da er eine schier grenzenlose Ehrfurcht vor dem poetischen Genie des Freundes empfand und in der Regel mit Enthusiasmus auf dessen neueste Werke reagierte. Fragen der Literatur und der Poetik diskutierte Mörike eher im Briefwechsel mit Friedrich Theodor Vischer, über den in einem anderen Kapitel zu sprechen sein wird. Angesichts von Mörikes Empfindlichkeit und seiner Neigung, Konflikten und Spannungen aus dem Wege zu gehen, kann es nicht überraschen, dass sich manche Freundschaftsbindungen mit der Zeit lösten, wenn sie seinen Erwartungen nicht mehr entsprachen. Begreiflich ist aber ebenso, dass er in solchen Fällen den offenen Bruch lieber vermied und es vorzog, sich einfach in Schweigen zu hüllen – erinnern wir uns an den Absagebrief an Waiblinger, der seinem Adressaten nie zugestellt wurde. Etwas näher sei hier die wechselvolle Beziehung zu Hermann Kurz betrachtet. Kurz, neun Jahre jünger als Mörike, hatte ebenfalls Theologie studiert, dann aber ein Leben als freier Schriftsteller, Übersetzer und Redakteur gewählt. Mit seinen Büchern wenig erfolgreich, musste er lange mit materiellen Nöten kämpfen, bis er 1863 endlich eine Stelle als Bibliothekar in Tübingen erhielt. Während er sonst oft als strenger und spöttischer Kritiker literarischer Werke auftrat, brachte er Mörike ungeteilte Bewunderung entgegen. Das Schreiben, mit dem Kurz den Kontakt knüpfte, datiert vom 20. Mai 1837 und setzte einen für Mörikes Verhältnisse ungewöhnlich regen und bald auch sehr vertraulichen brieflichen Austausch in Gang. Im Mai 1838 kam in Cleversulzbach die erste Begegnung zustande, bei der man gleich das Du vereinbarte. Die persönliche Bekanntschaft scheint Mörikes Neigung jedoch bereits spürbar abgekühlt zu haben, denn seine Briefe wurden nun seltener und wortkarger. Ende des Jahres gab es während seines mehrwöchigen Aufenthalts in Stuttgart „kleine Reibungen“ zwischen den Freunden, weshalb er Kurz vorschlug, „vor der Hand nur durch schriftliche Communikation einander nahe bleiben zu wollen“ (12, S. 229); wenigstens zeitweilig machte das Du auch wieder der förmlichen Sie-Anrede Platz. Nachdem 1839/40 noch einmal heftige Kontroversen ausgetragen worden waren, über deren Natur wir nichts Genaueres wissen, führten mehrere Treffen in der Nähe von Cleversulzbach zu einer erneuten Annäherung. Danach verstummte Mörike aber ganz, und volle dreißig Jahre vergingen, bis man wieder voneinander hörte. Als Kurz nämlich die Erzählung Mozart auf – 85 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
der Reise nach Prag in den „Deutschen Novellenschatz“ aufnehmen wollte, den er gemeinsam mit Paul Heyse herausgab, wandte er sich 1871, zwei Jahre vor seinem Tod, mit einem Brief an den Dichter. Er erhielt auch eine freundliche und versöhnliche Antwort, allerdings ohne jede Andeutung einer Erklärung für Mörikes langes Schweigen!14 Gesehen haben sich die beiden nie mehr. Der eigentliche Grund für die Entfremdung dürften persönliche Animositäten gewesen sein, die in der Verschiedenheit der Charaktere begründet waren. Darauf lässt jedenfalls die einzige etwas präzisere Aussage schließen, die von Mörike zu diesem Thema überliefert ist: „Seine Manieren widerstreben meinem natürlichen Gefühl“, schrieb er in jenen Stuttgarter Tagen Ende 1838 über Kurz, „er hat, besonders andern gegenüber, so etwas Süffisantes“ (12, S. 229). Generell bedurfte es keiner konkreten Streitanlässe, um freundschaftliche Bande zu lockern oder gar nicht erst zustande kommen zu lassen. Wie später beispielsweise auch Theodor Storm erleben musste, hielt der Dichter bereits Distanz, wenn die eigentümliche Wesensart eines Menschen jene beglückende Harmonie unmöglich machte, die er im Umgang mit Freunden wie Mährlen oder Hartlaub erlebte. Jedenfalls war es, soweit wir das beurteilen können, durchweg Mörike, der sich spröde und distanziert verhielt oder eine Verbindung ganz einschlafen ließ. Dass er seinerseits jemals vergeblich um einen Freund geworben hätte, ist nicht bekannt. Selbst enge Vertraute hatten von seinen Eigenheiten einiges auszustehen. 1831 schickte Vischer, der monatelang ohne Nachricht von ihm geblieben war, ein einziges Blatt mit einem großen Fragezeichen, woraufhin der Dichter sich schließlich doch zu einer Antwort bequemte.15 Nach 1840 wurde ihr Briefwechsel aber sogar für sieben Jahre unterbrochen, unter anderem deshalb, weil Mörike sich über einige ihn betreffende Bemerkungen in Vischers Kritischen Gängen geärgert hatte.16 Andere Gefährten mussten sich oft ebenfalls lange gedulden, bis sie endlich wieder eines Briefes gewürdigt wurden. Die wortreichen Erklärungen, mit denen Mörike immer wieder um Entschuldigung für seine „Brieftrendlerei“ (11, S. 220) bat, würden ein stattliches Heft füllen. Symptomatisch ist sein Versuch, gegenüber Karl Mayer ein „langes, unbegreiflich langes Schweigen“ zu rechtfertigen: „Aller Welt bin ich auf diese Art verschuldet, und meine besten Freunde sind mir feind deßhalb, allein es ist gewiß, daß ich nur darum Niemanden mehr genugthue, weil ich mir selbst nicht mehr genüge“ (15, S. 329). Zumal wenn er sich brieflich über persönliche Angelegenheiten äußern wollte, war Mörike auf eine ausgeglichene Stimmung – 86 –
„Freundeslieb’ und Treu’“
angewiesen, er musste sozusagen mit sich selbst im Reinen sein. An den Altersfreund Moriz von Schwind schrieb er: Es ist der alte schlimme Eigensinn meiner Natur, daß ich, wenn es nach Innen nicht glatt und aufgeräumt bei mir aussieht, gerade den Edelsten und Besten gegenüber, bei denen ich, sobald die Feder einmal in Bewegung ist, am meisten in Versuchung komme, von mir selbst und aus dem Tieferen heraus zu reden, am schwersten mich zu einer Mitteilung entschließen kann. Durch Klagen rührt man nur den Grund der Klage auf, den man sich immer gern verbirgt, um noch erträglich fort zu existieren. (18, S. 236)
Und schon einige Jahre vorher teilte er Vischer mit, dass er „als ein Kranker“, der sich schonen müsse, „allen schriftlichen Verkehr, der irgend darnach war um mich in stärkere Bewegung zu versetzen und das Innerste herauszufordern, aufgegeben“ habe (16, S. 13). Ein anderes, mindestens ebenso häufiges Erklärungsmuster begegnet bereits 1821 in der ersten Mitteilung des siebzehnjährigen Schülers an Waiblinger: „Als ich Ihren Brief geleßen, war es fest bey mir beschlossen, ihn gleich am folgenden Tage zu erwiedern, daran wurd ich aber gehindert u. nun ward es eben verschoben, bis ich am Ende den Muth nicht mehr recht hatte“ (10, S. 21). Augenscheinlich empfand Mörike schon die kleinste Verzögerung bei der Beantwortung eines Briefes als drückende Last, die es ihm dann erst recht unmöglich machte, zur Feder zu greifen. Noch 1867 beschrieb er diesen fatalen Mechanismus folgendermaßen: „So strafte sich das erste Unter lassen u. Verschieben durch eine immer wachsende Verschuldung, indem, wie das so geht, die rechte Schreibelust durch das Versäumniß selbst merklich herabgestimmt war“ (18, S. 207). Dabei war der Brief ein Medium, das Mörike, wenn er sich denn einmal zum Schreiben aufraffte, virtuos zu handhaben verstand. Wer einen Brief verfasst, schlüpft zwangsläufig in eine bestimmte Rolle, die von seiner Schreibsituation, dem behandelten Gegenstand und dem Adressaten abhängig ist und die er schreibend ausgestaltet: Er wird zum Geschäftspartner, Berichterstatter, Bittsteller, Ratgeber, Freund oder Liebhaber – die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. So können auch Mörikes Briefe nach ihren Anlässen und Empfängern in verschiedene Rubriken eingeordnet werden, denen jeweils ein spezifischer, fein abgestufter Ton eigen ist. Die Skala reicht vom ehrfurchtsvollen, mit offiziösen Wendungen durchsetzten Stil der Briefe an den König und andere hochgestellte Persönlichkeiten über den höflichen, aber nüchternen Duktus von Verlegerbriefen bis zu dem burschikosen Ton, den der Student oft gegenüber seinen Kommilitonen – 87 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
anschlug, dem vertraulichen Geplauder der Familienkorrespondenz oder der empfindsamen Poesie der Liebesbriefe an Luise Rau. Was Mörike auszeichnet, ist sein ungewöhnlich bewusster Umgang mit solchen Rollen, der viele seiner Briefe im Verein mit ihrer wohlbedachten sprachlichen Gestaltung zu wahren Kunstwerken macht. Auf seine eigentümlichen Selbstinszenierungen in der Korrespondenz mit bestimmten Partnern und auf gewisse spielerische Täuschungen und Experimente, die er sich dabei gelegentlich erlaubte, werden wir noch mehrfach zu sprechen kommen. Die Grenzen zur poetischen Fiktion lösten sich vollends auf, wenn Mörike gelegentlich sogar Motivkomplexe seines literarischen Werkes im Brief verkehr entwickelte und erprobte. Außerdem liebte er es, Briefe durch Gedichte, eigenhändige Zeichnungen oder sogenannte „Musterkärtchen“ aus seinem privaten Umfeld zu ergänzen. In diesen Verfahren drückt sich eine Annäherung der Kunst an die Sphäre des Alltagslebens aus, die rigoros mit dem Postulat der ästhetischen Autonomie bricht und die auch in anderen Bereichen seines Schaffens wirksam wurde. Neben dem souveränen, kunstbewussten Rollenspiel hatte die Affinität zum Maskenwesen, die Mörike schon in jungen Jahren an den Tag legte, freilich noch eine andere Seite. Das früheste Zeugnis dafür ist der folgende „psychologische Exkurs“ (10, S. 29) in einem Brief an Waiblinger von 1822: Das ist ein wunderlicher, aber schon tausenmal v. mir verfluchter Zug, daß ich, aus einer dunkeln Besorgniß, ich möchte dem Freund oder Bekannten, den ich zum erstenmal oder auch nach langer Zeit wieder sehe, (der aber im ersten Fall schon v. mir gehört haben muß) in einem ungünstigen Licht erscheinen, blizschnell aus meinem eigentlichen Wesen heraustrete. Das ist schon so eingewurzelt bey mir, daß ich diese Maske fast bewußtlos annehme u. so den Freund abhalte, mir frey, mit warmen Zutrauen entgegenzukommen, mithin keinem v. beyden, am wenigsten mir selbst damit diene. Dabey ist mir aber nicht wohl zu Muthe, es drückt mich immer, es ist als wär ich in einen neblichten Duft halb eingeschleyert, als stünde der Freund klar u. wahrhaft mir vor Augen, wo ich mich ihm dann so gerne ganz offen u. unbefangen zeigen möchte, je mehr ich ihn liebgewinne u. bemerke, daß er so mich nicht lieben kann, da möcht ich ihm gerne mit Thränen mein Inneres aufschließen, das von Wunden blutet – aber ich kann nicht mehr aus dem Schleyer herausspringen ich scheue mich vor ihm u. zürne wüthend über mich selber; u. dieser Zwiespalt diese Unzufriedenheit mit mir steigt dann aufs Höchste, wenn der Geliebte fort ist – ich brenne, ihn noch einmal zurückrufen zu können, um ihm das unächte Bild aus dem Herzen zu reissen – Aber genug! (S. 28f.)
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Vom Reiz des Nervenkitzels
Hier wird die Maske, die ihren Träger doch eigentlich schützend nach außen abschirmen soll, schmerzlich als Zwang zur Verstellung empfunden, der die ersehnte rückhaltlose Offenheit dem Anderen gegenüber unmöglich macht. Dieser quälende Zustand und die mit ihm verbundenen Phänomene des Missverständnisses, der Täuschung und des Betrugs, die sich in allen zwischenmenschlichen Verhältnissen einnisten können, bilden auch in Mörikes literarischem Werk ein zentrales Thema. Die Schwärmerei des Dichters für ideale freundschaftliche Beziehungen, die solche Schranken zu überwinden und die Fremdheit zwischen den Individuen in einem beglückenden Einklang der Gefühle und Seelenregungen aufzu heben vermochten, wird vor diesem Hintergrund umso begreiflicher.
Vom Reiz des Nervenkitzels In einem Brief an Mährlen vom 5. Juni 1832 erzählt Mörike, wie ihn an einem „peinlich-müßigen Tag“ in Ochsenwang ein unerwartetes Naturereignis schlagartig von dem „Verdruß der Langenweile“ erlöst habe: Da sah ich am Fenster ein Gewitter von der TeckSeite herziehen, eine Minute drauf rollte der erste Donner und alle meine Lebensgeister fingen an heimlich vergnüglich aufzulauschen. In unglaublicher Schnelle stand uns das Wetter überm Kopf. Breite, gewaltige Blize, wie ich sie nie bei Tag gesehen fielen wie Rosen-Schauer in unsre weisse Stube; und Schlag auf Schlag. Der alte Mozart muß in diesen Augenblicken mit dem Kapellmeister-Stäbchen unsichtbar in meinem Rücken gestanden und mir die Schulter berührt haben, denn wie der Teufel fuhr die Ouvertüre zum Titus in meiner Seele los, so unaufhaltsam, so prächtig, so durchdringend mit jenem oft wiederholten ehernen Schrei der römischen Tuba daß sich mir beide Fäuste vor Entzücken ballten. (11, S. 299)
Dass Mörike bei Blitz und Donner ausgerechnet Mozart-Musik zu hören glaubte, wollen wir vorerst nur als besonders auffallendes Detail vermerken, denn in Anbetracht seiner strengen diätetischen Maximen und seiner ängstlichen Zurückhaltung gegenüber allem Gewaltsam-Kraftvollen ist ja schon die Faszination für das Gewitter an sich eigenartig genug. Dabei stellt die zitierte Passage keinen Einzelfall dar. Eine ganz ähnliche Schilderung findet sich in einem Brief an Luise Rau aus dem Jahr zuvor: „Ein prächtiger Akkord des schnell entwickelten Gewitters gab meinen Träumereyen plötzlich eine kräftigere und freudigere Gestalt: es war als zerrisse – 89 –
4. Konturen eines schwierigen Charakters
ein Flor in meinem Innern: ich fühlte mich frey u. erhoben, ja ich empfand mich Dir näher“ (11, S. 213). Dazu passt die Rolle des Gewittermotivs in einigen frühen Gedichten, etwa in Im Freien oder Besuch in Urach, wo die entfesselten Naturgewalten eine vergleichbare Wirkung auf das lyrische Ich ausüben: Da, plötzlich, hör’ ich’s durch die Lüfte treiben, Und ein entfernter Donner schreckt mich auf; Elastisch angespannt mein ganzes Wesen Ist von Gewitterluft wie neu genesen. (1.1, S. 47)
Der „kühne Anblick des feurig aufgeregten Elements“ versetzt auch Theobald Nolten, den Protagonisten von Mörikes Roman, für gewöhnlich in eine „muthige Fröhlichkeit“ (3, S. 365). Und die Vorliebe des Dichters für solche Erlebnisse verlor sich selbst im reiferen Alter nicht: Noch 1847 schwärmte er Karl Mayer von der „Herrlichkeit eines Gewitters“ vor (15, S. 198). Was in den zitierten Textpassagen beschrieben wird, fällt in die Kategorie des Erhabenen, die schon im 18. Jahrhundert zunächst in England, dann auch in Deutschland zunehmend das Interesse der Philosophen erregt und sich in der Ästhetik gleichrangig neben dem Schönen etabliert hatte. Waren Naturmächte, die das menschliche Maß weit übersteigen, bis dahin lediglich als fürchterlich und grauenerregend wahrgenommen worden, so entdeckte man sie nun als ästhetisches Faszinosum, als reizvollen Nervenkitzel, wie wir heute sagen würden. Das galt für Erscheinungen wie das Meer, das Hochgebirge oder das Weltall, deren Größe unsere Fassungskraft sprengt, aber mehr noch für gewaltsame Entladungen, die jedes Individuum mühelos vernichten könnten und zu denen beispielsweise das Gewitter zählt. Für Mörike gab es aber noch Phänomene anderer Art, auf die er in ganz ähnlicher Weise affektiv reagierte. 1828 bekam er einen Kupferstich in die Hände, der eine der ägyptischen Plagen darstellte: „ich schauderte tief bei diesem Anblick, mir war als entlade jener schwarze Himmel sich auch über meinem Haupt mit begeisterndem Verderben. Ich brannte vor Lust“ (10, S. 200). Große historische Gestalten und außergewöhnliche zeitgeschichtliche Ereignisse konnten ebenfalls solche Gefühle hervorrufen. So verdankte sich beispielsweise Mörikes Bewunderung für Napoleon dem Reiz des Erhabenen – das Gedicht Nachtgesichte aus den zwanziger Jahren schildert eine Traum begegnung mit Napoleon, die dem lyrischen Ich „Lust“ und „Entsetzen“ – 90 –
Vom Reiz des Nervenkitzels
gleichermaßen einflößt17 –, und 1830 jagten ihm die Neuigkeiten von der französischen Juli-Revolution einen „freudigen Schauder“ über den Rücken (11, S. 151). Diese Angstlust, die sich bei den unterschiedlichsten Anlässen einstellte und von Mörike offenbar intensiv genossen wurde, war eine ins Extrem gesteigerte Form jener gemischten Empfindung, die wir schon als ein typisches Muster in seinem Seelenleben kennen. Anspruchsvolle philosophisch-moralische Überlegungen, wie sie etwa Schiller an das Konzept des Erhabenen knüpfte, nach dessen Auffassung der Mensch gerade in der Begegnung mit der physisch übermächtigen Natur seiner Würde als unabhängiges Geistwesen inne werden kann, stellte Mörike jedoch nicht an. Er war tatsächlich an dem angenehmen Nervenkitzel als solchem interessiert, der seine vorsichtige diätetische Selbstbeschränkung wohltuend ergänzte, ohne sie doch aufzuheben: Das Erlebnis des Erhabenen versetzte ihn in Spannung, weckte seine Lebensgeister und erlöste ihn aus hypochondrischen Selbstquälereien, konfrontierte ihn aber nicht mit einem echten Risiko. Denn Voraussetzung für das Vergnügen an erhabenen Erscheinungen ist stets die Sicherheit des Betrachters, die beispielsweise durch eine beruhigende Distanz zum Geschehen gewährleistet sein kann – oder eben dadurch, dass dieses Geschehen bloß als Fiktion in einer künstlerischen Darstellung existiert. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine weitere Gewitterschilderung Mörikes, diesmal aus dem Jahre 1845. Damals, in Mergentheim, gewann das Unwetter nämlich eine solche Stärke, dass man es ernstlich mit der Angst zu tun bekam: Ich hatte anfangs Lust gewohntermaßen mich an dem Schauspiel zu erfreuen, allein es verging einem bald. Der weite Marktplatz stand in einem fast ununterbrochenen Feuer, daß man die hellen Bretter einzeln zählen konnte, wessen Augen es aushalten mochten. Der Donner jedoch ohne besonders heftige Schläge, war nur ein beständiges Rollen. Wir hatten alle Laden zu mit Ausnahme des Blumenfensters, an das der Regen, wie es schien, mit starken Schlossen, so entsetzlich schlug daß wir in jedem Augenblick befürchteten die starken Tafelscheiben in das Zimmer fallen zu sehen. (14, S. 257f.)
Die Hausbewohner, darunter Mörikes spätere Frau Margarethe Speeth, flüchteten ins Treppenhaus, wo sie ausharrten, bis das Schlimmste vorüber war. Sobald der Beobachter also wirklich Gefahr für Leib und Leben zu fürchten beginnt, verliert die Situation schlagartig jeden Reiz für ihn! Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn die Begebenheit – 91 –
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hinterließ bei Mörike einen bleibenden Eindruck. Noch fast zwei Jahre später besann er sich in einem Brief an Margarethe darauf, nannte sie nun aber eine „schaurig-herrliche Nachtscene“ (15, S. 151) – jetzt, wo der Abstand der Erinnerung die nötige Sicherheit verbürgte, konnte der Kitzel der Angstlust doch wieder seine Wirkung entfalten. Übrigens ist es kein Zufall, dass Mörike in seinem Bericht von 1845, um sein gewohntes Verhältnis zu einem erhabenen Gewitterspektakel zu charakterisieren, die Schauspiel-Metapher verwendet, die im selben Zusammenhang auch schon in Besuch in Urach und Im Freien auftaucht. Die Analogie zum Theater liegt ja auf der Hand, denn wo kann man besser als dort ein aufwühlendes, oft gewaltsames Geschehen aus der sicheren Perspektive des Zuschauers verfolgen und Genuss daraus ziehen? Für Schiller war die Theorie des Erhabenen bekanntlich zugleich eine Theorie der Tragödie. Betrachten wir zuletzt noch ein Gedicht, das ein anderes erhabenes Natur-„Schauspiel“ zum Thema hat. Es entstand 1846 als späte Frucht einer Reise in die Bodensee-Region, die Mörike sechs Jahre zuvor unternommen hatte, und ist in Distichen abgefasst, einer metrischen Form aus der antiken Poesie, auf die der Autor in jener Zeit häufig zurückgriff: Am Rheinfall
Halte dein Herz, o Wanderer, fest in gewaltigen Händen! Mir entstürzte vor Lust zitternd das meinige fast. Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen, Ohr und Auge wohin retten sie sich im Tumult? Wahrlich, den eigenen Wuthschrei hörete nicht der Gigant hier, Läg’ er, vom Himmel gestürzt, unten am Felsen gekrümmt! Rosse der Götter, im Schwung, eins über dem Rücken des andern, Stürmen herunter und streu’n silberne Mähnen umher; Herrliche Leiber, unzählbare, folgen sich, nimmer dieselben, Ewig dieselbigen – wer wartet das Ende wohl aus? Angst umzieht dir den Busen mit Eins und, wie du es denkest, Über das Haupt stürzt dir krachend das Himmelsgewölb! (1.1, S. 163)
„Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen“ – mit seiner Wortwahl, seiner ganz von abwechselnden a- und o-Lauten geprägten Klangfärbung und seiner Wiederholungsstruktur lässt dieser Vers sowohl die lärmende Wucht der herabstürzenden Fluten als auch die unveränderliche Einförmigkeit ihres Anblicks anschaulich werden. Ewig in Bewegung und doch an seinen Ort gebannt, bildet der mächtige Wasserfall ein – 92 –
Vom Reiz des Nervenkitzels
ideales Objekt der erhabenen Betrachtung. Zutiefst ergriffen von dem „Tumult“, der über „Ohr und Auge“ hereinbricht, und doch physisch in Sicherheit, wird der Sprecher von jener extremen gemischten Empfindung der Angstlust gepackt, deren beide Elemente im Text in der zweiten beziehungsweise vorletzten Zeile sogar ausdrücklich benannt sind. Aber nicht nur die Struktur des Naturerlebnisses als solche ist hier bezeichnend; auffälligerweise schaltet das Gedicht selbst bei seiner ästhetischen Annäherung an die tobende Elementargewalt noch einige zusätzliche Vermittlungsebenen ein. Von der eigenen Erfahrung spricht das Ich eher beiläufig und nur aus der Distanz des Rückblicks, von der das Präteritum im zweiten Vers zeugt, um sich statt dessen darauf zu konzentrieren, den angesprochenen „Wanderer“ in eine entsprechende Situation zu versetzen. Die wird dann zwar streckenweise äußerst plastisch und suggestiv ausgemalt, doch die Bildungsreminiszenzen in Gestalt mythologischer Versatzstücke, also die Anspielung auf den Sturz der Giganten, die den Olymp erstürmen wollten, und die metaphorische Umschreibung der brausenden Wogen als „Rosse der Götter“, sorgen wiederum für eine merkliche Brechung der sinnlichen Unmittelbarkeit. Und nicht zuletzt bändigt auch das Versmaß des Distichons die elementare Wucht, da es als ein höchst arti fizielles Metrum den Kunstcharakter des Werkes unterstreicht, seine bewusste und souveräne sprachlich-formale Gestaltung akzentuiert. So wird der erhabene Gegenstand vom Dichter gleich in mehrfacher Hinsicht eingehegt und auf Abstand gehalten, damit das Gefühl der Sicherheit, ohne das ein genüssliches Auskosten der Angstlust unmöglich wäre, nicht ins Wanken gerät. Unter solchen Bedingungen kann es sich der Schluss des Gedichts sogar erlauben, apokalyptische Assoziationen an den Weltuntergang und damit den erhabensten Schrecken, der überhaupt denkbar ist, zu beschwören. Der Reiz, den erhabene Phänomene in Form von Naturschauspielen oder ästhetischen Inszenierungen auf Mörike ausübten, widersprach seinen diätetischen Vorsichtsmaßnahmen nicht. Wieder einmal haben wir es mit einer der für ihn so typischen Kompromissbildungen zu tun, die ihm in diesem Fall lustvolle seelische Erschütterungen vermittelte, ohne dass er dafür die beruhigende und heilsame maßvolle Begrenztheit seiner Lebensführung aufs Spiel setzen musste. Dass Mozarts Musik ihn zumindest teilweise aus ähnlichen Gründen anzog, hat sich bereits angedeutet. Es lohnt sich, diese Einsicht im Gedächtnis zu behalten, denn sie wird später bei der Interpretation einer zentralen Passage aus Mozart auf der Reise nach Prag von Nutzen sein. – 93 –
5. Grundzüge des lyrischen
Schaffens Proteus Mörike
Eduard Mörikes Gedichtwerk ist nicht gerade schmal, aber doch von recht überschaubaren Dimensionen: Es umfasst rund siebenhundert Texte, von denen zu seinen Lebzeiten nicht einmal die Hälfte publiziert wurde. Will man dieses Oeuvre jedoch in seiner Gesamtheit charakterisieren und damit gewissermaßen das Profil des Lyrikers Mörike zeichnen, so stößt man auf erhebliche Probleme. Jost Schillemeit umschreibt sie folgendermaßen: Mörikes Lyrik scheint einer stilkritisch orientierten Literaturwissenschaft größere Schwierigkeiten zu bereiten als das Werk der meisten anderen deutschen Lyriker gleichen Ranges. Das Schwierige, vielleicht Unmögliche ist nicht so sehr die Interpretation des einzelnen Gedichts – die eigent lichen Schwierigkeiten beginnen vielmehr, wenn man nach durchgehenden Merkmalen sucht, um das zu erfassen, was man Mörikes lyrischen Stil nennen könnte. Hält man Ausschau nach solch durchgehenden Zügen, so erkennt man zwar Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Gedichten, es lassen sich Reihen bilden, aber sie brechen bald ab und umfassen kaum je einen nennenswerten Teil des Gesamtwerkes.1
Tatsächlich unterscheidet sich Mörike von anderen großen Lyrikern des 19. Jahrhunderts wie Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff, Theodor Storm, Conrad Ferdinand Meyer oder Stefan George durch den fast schon irritierenden Facettenreichtum seines Werkes, das keinen bestimmten, eindeutig wiedererkennbaren ‚Ton‘ aufweist. Der Dichter Mörike ist ein Proteus, dem es Vergnügen bereitet, unablässig in neuen Gestalten zu erscheinen; auch im Spiel mit den mannigfachen Formen, Stilen und – 94 –
Proteus Mörike
Redeweisen der Lyrik manifestiert sich seine ausgeprägte Neigung zum Maskentreiben und zur Verstellung. Die Bemühungen, in dieser überbordenden Fülle doch noch ein geheimes Gesetz zu entdecken, reichen weit zurück und zielen meist darauf ab, ein Entwicklungsprinzip auszumachen, das dem Werdegang des Lyrikers Mörike als innere Logik zugrunde liegt. Schon 1839 glaubte Friedrich Theodor Vischer, den Freund auf eine Linie festlegen zu können, die aus dem Umkreis der „nebelhafte[n] Romantik“ in die helle Sphäre der „Kunstpoësie, der klassisch veredelten Form, der reinen Idealität“ führe2: Mörike habe von früh an eine Vorliebe für das Phantastische und Märchenhafte und für die Einfachheit des Volkslieds besessen, inzwischen aber den „Uebergang […] aus der Dämmerung volksthümlicher Naivetät in das […] Reich des bewußten Geistes, in das helle Licht der Besonnenheit und künstlerischen Weisheit“ vollzogen3 – in Vischers Augen eindeutig ein Fortschritt, den er unter anderem mit Mörikes Hinwendung zu antiken Mustern seit der Mitte der dreißiger Jahre belegt. Einige Überlegungen der wissenschaftlichen Forschung stehen dem von Vischer skizzierten Modell gar nicht so fern. Heinz Schlaffer beispielsweise rekonstruiert in Mörikes Gedichtwerk eine Bewegung von der anfänglichen subjektiven Standortgebundenheit des lyrischen Sprechers, mit der sich der Dichter bereits von romantischen Einheits- und Verschmelzungsphantasien abkehre, hin zum poetischen Entwurf begrenzter, aber in sich geordneter Räume4, und Dagmar Barnouw beobachtet einen Wandel von der Selbstaussprache des fühlenden Subjekts, das lediglich Fragmente der äußeren Realität in seinen Vorstellungskreis ziehe, zur vollendeten ‚entzückten Anschauung‘ konkreter Wirklichkeit, die erst durch die Rede des Poeten in ihrer wahren Gesetzlichkeit sichtbar werde.5 Beide Arbeiten kranken allerdings daran, dass sie ihre Thesen auf eine allzu schmale Textbasis stützen und zu einem Schematismus neigen, der die Vielgestaltigkeit von Mörikes Lyrik eher verdeckt als erhellt. Eine äußerst materialreiche und differenzierte Studie hat dagegen Renate von Heydebrand vorgelegt, die anhand einer Fülle von Einzelanalysen Mörikes Weg von der monologischen ‚einsamen‘ Lyrik über die erzählende Darstellung zur dialogisch ausgerichteten gesellig-gesprächigen Mitteilung nachzeichnet.6 Diese Einteilung kann zumindest der vorläufigen Orientierung auf einem so schwer überschaubaren Feld dienen, auch wenn sie lediglich Tendenzen erfasst, die sich über die Jahre oder Jahrzehnte hin mehr oder weniger deutlich ausgeprägt haben, und nicht mit einer klaren Phasengliederung der Entwicklung des Autors verwechselt werden darf. – 95 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
Mit der Frage nach Kontinuität und Wandel in der Geschichte von Mörikes Werk werden wir uns noch mehrfach beschäftigen. Eine erste Annäherung an diesen Lyriker gelingt aber am besten über die allgemeine Feststellung, dass er ein außergewöhnliches Talent besaß, literarische Formen und Gattungen sehr unterschiedlicher Herkunft produktiv fortzuschreiben, womit er eindrucksvoll demonstrierte, wie sich schöpferische Originalität mit Traditionsbezogenheit verbinden lässt. Ein radikaler Neuerer war Mörike nämlich keineswegs; statt mit avantgardistischem Pathos den Bruch mit dem Herkommen zu proklamieren, zog er es vor, an die Gestaltungsmöglichkeiten anzuknüpfen, die ihm die Überlieferung zur Verfügung stellte. Und deren Reichtum war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immens. Das gilt schon für das Repertoire an metrischen und strophischen Formen, aus dem ein Dichter damals schöpfen konnte und dessen Bandbreite von den antiken Vers- und Strophenmaßen über die verschiedensten Liedstrophen bis zu den reimlosen freien Rhythmen reichte, denen Klopstock und der junge Goethe Eingang in die deutsche Literatur verschafft hatten. Die Schwerpunkte, die Mörike auf diesem Gebiet setzte, deuten bereits auf gewisse Aspekte seiner Poetik hin. Udo Pillokat formuliert den Sachverhalt treffend: „Mörike wählt Versmaße, die ihm eine maßvolle, mittlere Gestaltungsfreiheit gewähren“7, während er die Extreme für gewöhnlich meidet. So schrieb er nur selten in freien Versen: Zwei Stücke aus dem Peregrina-Zyklus und das ebenfalls in seinen jungen Jahren entstandene Gedicht Im Freien, das sich eng an Klopstock und Goethe anlehnt, sind hier zu nennen, während die freien Rhythmen in den späteren Werken An eine Äolsharfe und Erinna an Sappho durch die versteckte Paraphrase antiker metrischer Formeln schon wieder eine ganz eigentümliche Ausprägung erhalten. Auf der anderen Seite hielt die Abneigung gegen jedes zur Schau getragene Virtuosentum Mörike von der Verwendung jener hochgradig artifiziellen Vers- und Strophenformen aus dem romanischen und orientalischen Raum zurück, die sich die Romantiker erschlossen hatten und in denen Poeten wie August von Platen oder Friedrich Rückert ihre Kunstfertigkeit zeigten. Das Gedicht Apostrophe persifliert allzu künstliche Reimgebilde, die bei dilettantischer Ausführung leicht ins Komische fallen, bezeugt durch seine kleine Vorbemerkung allerdings auch, dass Mörike „Rückerts geniale Formen“ sehr wohl von ihrer bloßen mechanischen Nachahmung zu unterscheiden wusste (1.1, S. 179). Terzinen, Sestinen oder Ghasele beispielsweise findet man in Mörikes Lyrik nicht. In den zwanziger und dreißiger Jahren bevorzugte er statt dessen relativ – 96 –
Proteus Mörike
einfach gebaute vierzeilige Reimstrophen, die er vielfältig zu variieren verstand – Nächtliche Fahrt, 1823 geschrieben, liefert ein frühes Beispiel dafür. Die lockere madrigalische Form, die jambische Verse von wechselnder Länge und mit freier Reimstellung ohne regelmäßige Strophengliederung aneinanderfügt, kam ihm damals ebenfalls entgegen ( Josephine, Peregrina IV etc.); vereinzelt finden sich auch trochäische Madrigale, zu denen das berühmte Frühlingsgedicht Er ist’s zählt. An komplexeren Formen fällt neben dem Sonett, auf das wir noch ausführlicher zu sprechen kommen werden, die achtzeilige Stanze ins Auge. Mörike benutzte sie in seiner Seminarzeit als feierliche Prunkform in den Gedichten Die Liebe zum Vaterlande und Auf Erlenmayers Tod, die für den Vortrag bei offiziellen Anlässen gedacht waren, griff aber auch später noch in Besuch in Urach und einem Gedicht des Peregrina-Zyklus auf sie zurück. Für manche Gedichte, darunter Balladen wie Der Feuerreiter, verwendete er überdies anspruchsvolle Strophenformen eigener Erfindung, die eine subtile Binnengliederung aufweisen. Eine schlichtere metrische Gestalt verlieh der Dichter lyrischen Texten, die erzählenden oder reflektierenden Charakter haben und häufig in einem scheinbar kunstlosen Plauderton gehalten sind. Hier treffen wir oft reimlose trochäische Verse mit vier oder fünf Hebungen an, so in Abreise, An Karl Mayer, Erinnerung, Ländliche Kurzweil und An meinen Vetter; seltener liegen gereimte trochäische Vierheber vor wie in Der Petrefaktensammler oder Mit einem Teller wilder Kastanien. Unstrophisch gereihte, gleichmäßig gebaute jambische Reimverse gibt es etwa in Auf ein altes Bild und An Wilhelm Hartlaub. Für Gelegenheitsgedichte gebrauchte Mörike bisweilen den Blankvers, also den reimlosen jambischen Fünfheber – Beispiele sind Der Frau Generalin v. Varnbüler und In das Stammbuch von Theodor Buttersack (Nach seines Vaters Tod) –, und vereinzelt taucht bei ihm sogar der Knittelvers auf, der etwa in Erzengel Michaels Feder gut zu dem altertümlichen Legendencharakter des Werkes passt. Zu all dem kommen schließlich seit der Mitte der dreißiger Jahre noch die antiken Metren hinzu, denen wir in einem späteren Kapitel gesonderte Beachtung schenken werden. Ein gutes Beispiel für Mörikes kreative Aneignung einer festgefügten, traditionsreichen lyrischen Form liefert seine Sonettdichtung. Das aus der italienischen Literatur des Spätmittelalters stammende Sonett hatte sich in Deutschland bereits im Barock großer Beliebtheit erfreut und war in jüngerer Zeit durch die Romantiker zu neuen Ehren gebracht worden. Dabei verpflichtete August Wilhelm Schlegel den Sonettdichter strikt auf – 97 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
den jambischen Fünfheber mit weiblicher Kadenz und auf das Reimschema a b b a | a b b a | c d e | c d e – Vorgaben, die schon Goethe in seinem Sonettzyklus von 1807/08 als verbindlich anerkannte und die Mörike ebenfalls bis ins Detail beachtete. Die Herausforderung, eine solch strenge Form zu meistern und ihrem hohen Kunstanspruch gerecht zu werden, mag ihn gereizt haben; jedenfalls trägt seine Verwendung des Sonetts – wie bei Goethe – alle Züge eines Experiments, das die Möglichkeiten der Gattung auslotet.8 So drängen sich die meisten Sonette Mörikes in einem eng begrenzten Zeitraum zusammen: Nachdem 1828 neben dem Peregrina-Sonett mit Antike Poesie, Eberhard Wächter und Seltsamer Traum drei Gedichte entstanden waren, die auf die eine oder andere Weise die Kunst selbst zum Thema machen, schrieb er im Frühjahr 1830 in rascher Folge sieben Sonette für seine Verlobte Luise Rau. Auch die Verknüpfung des Sonetts mit der Liebesthematik hat eine Tradition, die bis zu den Tagen Dantes und Petrarcas zurückreicht, und inhaltlich und sprachlich passte Mörike die Gedichte für Luise der Würde der Sonettform an, indem er einen besonders erlesenen Stil wählte und das Liebeserlebnis zu einer quasi-religiösen Ausnahmeerfahrung verklärte. Nach dem Abschluss dieser kurzen produktiven Phase scheint sein Interesse am Sonett erschöpft gewesen zu sein; das Experiment war beendet. Jedenfalls spielten Sonette in seinem Schaffen fortan praktisch keine Rolle mehr. Eine der Ausnahmen ist allerdings bemerkenswert: In dem Gedicht Zwei dichterischen Schwestern aus dem Jahre 1845 wird die Sonettform selbstreflexiv und zugleich zum Gegenstand des geselligen Spiels, indem der Verfasser die Reimklänge in sämtlichen Versen durch Gedankenstriche ersetzt und damit den Leser zwingt, das Fehlende nach dem bekannten Schema selbständig zu ergänzen. Hinter der metrischen und strophischen Vielfalt steht bei Mörike die der ‚Töne‘, der lyrischen Redestile, nicht zurück. Heydebrand unterscheidet den Volkston, den Gesellschaftston und den antikischen Ton, aber diese Rubrizierung vermittelt nur einen sehr vagen Eindruck von der Fülle der Möglichkeiten, die Mörike nutzte und variierte. Seine Gedichte kennen die Satire und den feinsinnigen Humor ebenso wie die burleske Komik, der Ton empfindsamer Gefühlsinnigkeit steht neben der augenzwinkernden erotischen Anspielung, der gesellige Plauderton neben der religiösen Ergriffenheit, schwärmerische Naturseligkeit neben gelassener Schilderung und Reflexion – ganz zu schweigen von mancherlei Mischungen und subtil eingesetzten Brechungen dieser verschiedenen Sprachgesten. Auffällig ist indes auch hier das Fehlen der Extreme, denn Mörike – 98 –
Proteus Mörike
steigert das Pathos der Liebe wie des Leidens nie über ein bestimmtes Maß, schreibt aber andererseits auch keine nüchtern belehrende oder spruchhafte Gedankenlyrik. Sein Reich ist die fein differenzierte, vielfältig abgestufte Mittellage. Neben manchen Werken mit idyllischen Zügen passten die volksliedhaften Gedichte, die seit 1828 breiten Raum in seinem lyrischen Schaffen einnahmen, seit jeher am besten in das populäre Bild vom schlichten, gemütvollen Pfarrer-Poeten. Doch auch dieser Einschätzung liegt ein Missverständnis zugrunde, weil Mörike den Volkston ebenso kunstbewusst handhabte wie sämtliche anderen oben genannten Stile. Schon im Sturm und Drang und in der Romantik waren es hochgebildete Autoren, die sich für Volkslieder interessierten und aus ihnen neue lyrische Ausdrucksformen gewannen; ihre Dichtung im Ton des Volkslieds war von Anfang an eine Spielart der modernen Kunstpoesie. Dass es sich bei Mörike nicht anders verhielt, führt uns eine Anekdote aus dem Jahre 1837 vor Augen. Seinem Freund Hartlaub berichtete er damals von einem Erlebnis, das er eines schönen Novembermorgens auf einem Spaziergang in der Nähe von Cleversulzbach gehabt habe: Auf einmal höre ich Mädchengesang, mehrere Stimmen, vom Städtchen her, und ich bleibe stehen. Es dauert kurze Zeit, so kommen ihrer drei hinter dem Vorsprung jener hohen Wand herum, an der Du mit Konstanze schon vor übergingst. Die Eine, die Schlankste des Kleeblatts lief in der Mitte, u. sang besonders klar und keck im rüstigen Daherschreiten, die andern wenigstens nicht falsch. Die Melodie, schön, eigenthümlich was man nur sagen kann. Vom Text verstand ich nur von Zeit zu Zeit ein Wort: „Wir Schwestern – wir schönen“ – dieß kehrte immer wieder. Endlich hörten sie auf. Im Heimgehn sann ich nach, wie ich den Text am schicklichsten bekomme. Und sieh! in weniger als 10. Minuten hatte ich ihn. Ich gehe nemlich durch den Garten und finde die ledige Johanne Bort, die uns gewöhnlich arbeitet, mit Schoren beschäftigt. „Hanne! kann sie nicht ein Lied – es kommen die und die Worte drin vor.“ Sie besann sich ein wenig „Ja wohl kann ichs, Herr Pfarr.“ „So sag Sies her! Nur ohne Anstand.“ (12, S. 138)
Im Anschluss präsentiert Mörike den glücklichen Fund, ein vierstrophiges Gedicht, das mit dem Vers „Wir Schwestern zwei, wir schönen“ beginnt.9 Die hübsche Geschichte aus dem Leben des einfachen, sangesfreudigen Landvolkes hat allerdings einen Haken – sie ist nämlich frei erfunden. Am Ende des Briefes deckt Mörike die Karten auf: „Was aber das Liedchen von vorhin betrifft da hab ich Dir e. kleinen Bären aufgebunden. Es ist von mir und hat sich neulich Morgens im Bett unmittelbar – 99 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
nach dem Erwachen wie von selbst gemacht. Ich wollte nur, daß Du es unbefangen lesen sollst (was nun geschehen ist) und mir dann schreiben ob es den Eindruck eines Volkslieds auf Dich machte, oder nur halb oder gar nicht“ (S. 139). Und um ganz sicherzugehen, ließ er es nicht bei diesem einen Versuch bewenden, sondern veranstaltete ein paar Wochen später dieselbe Probe noch einmal mit Friedrich Theodor Vischer.10 Während Hartlaub bei der Lektüre der Verse schon früh Verdacht schöpfte11, durchschaute Vischer die Irreführung erst bei der letzten Strophe, deren ironische, desillusionierende Wendung mit ihrem „frappierenden Effekt“ die „Kunstpoesie“ erkennen lasse.12 Der Volkston ist also nichts anderes als eines der poetischen Register, über die Mörike verfügte, eine mit Überlegung gewählte Sprachmaske, deren Wirkung sogar experimentell getestet werden konnte. ‚Naiv‘ wird man das nicht mehr nennen wollen. Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die durch ihre Gegenstände oder ihre strukturellen Darbietungsformen bestimmten Gattungen und Genres, die in Mörikes Lyrik dominieren. Die Themen seiner Gedichte erscheinen, wenn man sie lediglich schlagwortartig benennt, durchweg konventionell. Neben Natur und Liebe, die eindeutige Schwerpunkte bilden, ist die Bedeutung religiöser Sujets nicht zu unterschätzen. Man findet Scherzgedichte und Parodien in vielen Spielarten und eine Fülle von Gelegenheitsgedichten an einzelne Personen, die sich vor allem in Mörikes späteren Jahren häuften und ihren Platz in seinem unmittelbaren zwischenmenschlichen Umgang, im privaten oder halb-öffentlichen geselligen Verkehr hatten. Epigramme und Episteln, also Briefgedichte, verdanken sich Anregungen aus der antiken Literatur. Auffallen könnte lediglich, dass die in der „Schwäbischen Romantik“ so beliebte Gattung der Ballade bei Mörike keine überragende Rolle spielte. Von seinen wenigen Balladen gehören die meisten in die zwanziger und dreißiger Jahre. Zu nennen sind vor allem Der Feuerreiter, Die schlimme Greth und der Königssohn, Die traurige Krönung, Die Geister am Mummelsee, der kleine Zyklus Schiffer- und Nixen-Märchen sowie Schön-Rohtraut, und mit Des Schloßküpers Geister zu Tübingen ist auch die Variante der komischen Ballade vertreten. Vielleicht hielt sich Mörike auf diesem Feld deshalb zurück, weil die Ballade bei Dichtern wie Uhland eng mit historischen Stoffen verbunden war, vor deren Verarbeitung er sich scheute. Tatsächlich sind die eben aufgeführten Werke samt und sonders im Reich des Phantastischen oder Märchenhaften angesiedelt, und ausgerechnet Der Schatten, ein Nachzügler von 1855, der noch am ehesten von einer (pseudo-)historischen Atmosphäre geprägt ist, muss wohl als die schwächste aller Mörike-Balladen gelten. Die – 100 –
Proteus Mörike
beschränkte Anzahl der Texte sollte freilich nicht dazu verleiten, diesen Bereich seines Schaffens gering zu schätzen. Der Feuerreiter beispielsweise, mit dem wir uns an anderer Stelle eingehend befassen werden, zählt zu den faszinierendsten Balladen der deutschen Literatur. Eine Vorliebe zeigte Mörike für Rollengedichte, die bestimmten, meist durch Beruf oder Stand stark typisierten Figuren in den Mund gelegt sind. Das verlassene Mägdlein, Der Gärtner und Der Jäger sind einige Beispiele für dieses Genre, das einen weiteren Beleg für die Lust des Dichters an der Maskerade, am Rollenspiel liefert. Es zeigt überdies, dass der Lyriker Mörike nicht auf das sogenannte Erlebnisgedicht festgelegt werden kann, das den Leser durch die Suggestion einer unverstellten, gefühlsbetonten Ich-Aussprache leicht dazu verführt, die Sprechinstanz im Text mit dem realen, biographisch fassbaren Autor gleichzusetzen. Lange Zeit galt die Erlebnisdichtung, deren Idealbild man aus Goethes frühen Gedichten ableitete, in der Germanistik als Norm des Lyrischen schlechthin – eine Auffassung, die bis heute in dem Klischee fortlebt, das der Gattung Lyrik eine besonders ausgeprägte Subjektivität zuschreibt. Aber abgesehen davon, dass auch Erlebnisgedichte in Wirklichkeit kunstvoll gestaltete Gebilde sind, die keinen simplen Rückschluss auf die Psyche ihrer Schöpfer zulassen, stand Mörike, wie die gesamte Literatur des Biedermeier, noch in manchen Traditionen, die bis weit vor die Goethezeit zurückreichen und sich mit einem solchen verengten Lyrikverständnis gar nicht vereinbaren lassen. In seinen Gedichten werden nicht nur scheinbar spontane Empfindungen artikuliert, es wird auch oft – und mit den Jahren sogar in zunehmendem Maße – erzählt, beschrieben, räsoniert oder vertraulich und scherzhaft geplaudert. Die vielfältigen Gattungen, Stilebenen, Redeweisen und Sprecherrollen, mit denen Mörikes Lyrik aufwartet, müssen zunächst einmal als literarische Mittel aufgefasst werden, die der Dichter mit hohem Kunstverstand einsetzte. Das schließt natürlich nicht aus, dass in solchen Vermittlungen auch Themen gestaltet wurden, die ihn emotional stark berührten. Gerade die distanzschaffende Wirkung von Rollenfiktionen dürfte es ihm erlaubt haben, vieles auszusprechen, was sonst wohl ungesagt hätte bleiben müssen: erotische Sehnsüchte zum Beispiel oder Angstphantasien von Betrug, Trennung und Verlassenheit. Solche Bezüge zwischen dem Werk und dem Seelenleben des Dichters können aber nur mit äußerster Vorsicht und größter methodischer Behutsamkeit rekonstruiert werden. Ein Gedicht ist ein aus Sprachmaterial geformtes Artefakt und kein ungefiltertes Selbstbekenntnis seines Autors. – 101 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
Mörikes Lyrik erwuchs aus der schöpferischen Aneignung von Traditionsbeständen, denen er immer neue Seiten abzugewinnen wusste – eine Begabung, die ihn vom bloßen Epigonentum unterscheidet. Mit welchen Augen er Dichter und literarische Strömungen der ferneren und näheren Vergangenheit betrachtete, illustriert ein 1851 entworfenes Konzept für Literaturvorlesungen, die er in Stuttgart zu halten gedachte: „Mein eigner Plan ist nemlich mehr ästhetisch als historisch und geht vorzüglich dahin, an Beispielen aus unsern Schriftstellern das Urtheil über das was schön und nicht schön ist zu bilden u. zu schärfen, gewiße unächte Erscheinungen der neuern Zeit, welche das große Publikum begünstigt, zu bekämpfen pp.“ (16, S. 51). Und selbst als er auf den Gedanken verfiel, in diesen Vorträgen neben deutschsprachigen Autoren auch Dichter des griechischen und römischen Altertums zu behandeln, hob er hervor, dass es ihm dabei hauptsächlich „um den unmittelbaren Genuß des Schönen überhaupt zu thun“ sei (S. 82). Als Maßstab und Richtschnur bei der Beschäftigung mit Poeten der unterschiedlichsten Epochen diente ihm demnach ein über jeden geschichtlichen Wandel erhabenes Ideal dessen, „was schön ist“, und so war sein Verhältnis zur literarischen Überlieferung tatsächlich „mehr ästhetisch als historisch“. Sein Blick auf die Geschichte der Literatur seit der Antike erfasste nicht so sehr spezifische Produkte ganz bestimmter Zeiten und kultureller Formationen, sondern vielfältige Möglichkeiten, Schönes zu gestalten, aus denen er nach seinen eigenen Vorlieben und Bedürfnissen passende Anknüpfungspunkte auswählte.
Unauffällige Meisterschaft Wenn es ein generelles Merkmal gibt, das Mörikes Lyrik auszeichnet, so ist dies der markante Zug des Konkreten und Plastischen, der überall ins Auge sticht. Das gilt nicht nur für Schilderungen von Gegenständen oder Naturphänomenen, sondern auch für Gedanken und Empfindungen sowie für die Nuancen der sinnlichen Wahrnehmung. Nirgends trifft man in seinen Gedichten auf Unklares und Verschwommenes; alles ‚Nebeln und Schwebeln‘, jede diffuse Gefühligkeit war ihm ein Gräuel. Drastisch formuliert wird diese Abneigung in dem humoristischen Gedicht Restauration, dessen Sprecher sich durch den übermäßigen Konsum von miserabler Lyrik „ohne Saft und Kraft“ die Laune und den Magen verdorben hat: „Mir ward ganz übel, mauserig, dumm“. Aber er weiß sich zu helfen: – 102 –
Unauffällige Meisterschaft
Ich sah mich schnell nach was Tüchtigem um, Lief in den Garten hinter’m Haus, Zog einen herzhaften Rettig aus, Fraß ihn auch auf bis auf den Schwanz, Da war ich wieder frisch und genesen ganz. (1.1, S. 357)
Die besondere Qualität von Mörikes Lyrik bezeichnet man vielleicht am besten mit dem Begriff Genauigkeit, der auf die subtile Abstimmung von Gehalt, Ton, Redegestus, Bilderwelt und metrisch-rhythmischer Form zielt. Seine Werke sind mit größter Sorgfalt durchgeformte Schöpfungen und von träumerischem Phantasieren oder spontanem ‚Singen‘ weit entfernt; mit Recht nannte Theodor W. Adorno diese Gedichte „Virtuosenstücke, die kein Meister des l’art pour l’art überbot“.13 Der Kunstverstand, der sie beherrscht, macht sich jedoch nicht aufdringlich geltend, sondern verfährt überaus diskret, weshalb viele seiner Produkte auf den ersten Blick auch so einfach und kunstlos wirken. Mörike kultivierte als Poet eine unauffällige Meisterschaft – man könnte auch von raffinierter Schlichtheit sprechen. Dergleichen lässt sich aber nur anhand konkreter Beispiele aufweisen. Wenden wir uns deshalb jetzt einer exemplarischen Textanalyse zu, die wiederum zum Ausgangspunkt für einige verallgemeinernde Überlegungen werden kann. Septembermorgen
Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt In warmem Golde fließen. (1.1, S. 144)
Das im Oktober (!) 1827 entstandene Gedicht zählt zu Mörikes bekanntesten und ist zugleich eines von denen, die gar keiner Erläuterung zu bedürfen scheinen, weil sie dem Leser gewissermaßen auf Anhieb einleuchten. Betrachtet man diesen Sechszeiler aber näher, erweist er sich rasch als ein erstaunlich komplexes Gebilde. Schon die äußere Form birgt einige Überraschungen. Septembermorgen schließt nicht an einen überlieferten Strophentypus an, sondern schafft sich selbst seine ganz individuelle Gestalt. Nach den ersten drei Versen mit dem Reimschema a b a erwartet man eigentlich einen Kreuzreim, doch der – 103 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
b-Klang, der ihn vervollständigen müsste, bleibt zunächst aus, da die Verse 4 und 5 statt dessen wieder den a-Reim aufnehmen. Erst mit beträchtlicher Verzögerung, nämlich ganz am Schluss, findet das Wort „Wiesen“ endlich seinen Reimpartner, wobei sich mit „fließen“ freilich nur eine Assonanz statt eines reinen Reims einstellt. Gleichwohl ist damit die Spannung gelöst, die das Gedicht durch seine unkonventionelle Reimstruktur hervorgerufen und Schritt für Schritt gesteigert hat. Und schon hier stoßen wir auf eine Analogie zum Inhalt der Verse, der ebenfalls von einer Spannung geprägt ist – einer zeitlichen nämlich zwischen dem gegenwärtigen „Noch“- und dem angekündigten „Bald“-Zustand: Wo sich mit dem letzten Wort die Reimkette schließt, vollendet sich zugleich die Befreiung der „Welt“ aus ihrem erstarrten und verhüllten Zustand. Auch auf der Ebene der Kadenzen spiegelt sich diese Bewegung, denn da die b-Verse einen zweisilbigen (weiblichen) Versschluss aufweisen, klingt das Gedicht wirklich buchstäblich ‚fließend‘ aus. Beachten wir schließlich noch, dass im Übergang vom vorletzten zum letzten Vers der bis dahin dominierende Zeilenstil zum ersten und einzigen Mal durch ein Enjambement aufgehoben wird – ein weiterer formaler Aspekt, der den Effekt des Fließenden, Gelösten verstärkt. Der Gegensatz von „Noch“ und „Bald“ wird des Weiteren durch die feine Variation der metrischen Struktur akzentuiert. Grundsätzlich hat das Gedicht einen jambischen Gang mit vier Hebungen in den männlichen und drei in den weiblichen Versen. Hin und wieder lässt sich aber eine gewisse Reibung zwischen diesem Muster und der natürlichen Betonung beobachten, und sie lenkt die Aufmerksamkeit auf eben jene Wörter, auf denen die Zeitstruktur des Gedichts aufbaut, denn zu Beginn der Verse 2 und 3 müssen beide, ihres inhaltlichen Gewichts wegen, zweifellos mit einer schwebenden Betonung belegt werden, obwohl sie in einer Tonsenkung stehen. Dasselbe geschieht im vorletzten Vers, wo man gewiss auch die erste Silbe des Neologismus „Herbstkräftig“ betonen wird. Im Verein mit der ausdrucksstarken Wortneuschöpfung als solcher unterstreicht diese Abweichung vom metrischen Schema den leuchtenden Eindruck der lichtdurchfluteten herbstlichen Natur. Einer Intensivierung der ästhetischen Wirkung dient auch die Laut gestalt des Gedichts. Schon der Titel lässt die Sorgfalt erahnen, die Mörike auf sie verwendete: Warum der Dichter, dem Entstehungszeitpunkt seiner Verse zum Trotz, nicht etwa den Titel „Oktobermorgen“ gewählt hat, wird ohne weiteres einsichtig, wenn man nur die Klangfärbung der beiden Alternativen miteinander vergleicht! Den Text selbst durchziehen ganze Ketten von Alliterationen und anderen Klangkorrespondenzen (Nebel – – 104 –
Unauffällige Meisterschaft
noch – Noch; Welt – Wald – Wiesen; Himmel – Herbstkräftig; Welt – warmem), und während der erste Vers seinen Schwerpunkt in dem langen, dunklen u-Laut von „ruhet“ findet, der den tiefen Schlaf der nebelumsponnenen Welt förmlich hörbar macht, vermittelt der letzte durch seine weiche Lautfärbung, die schon erwähnte ausschwingende weibliche Kadenz und die Synästhesie, in der die Bewegung des Fließens, die Farbe des Goldes und die taktile Empfindung der Wärme miteinander verschmelzen, ganz sinnlich greifbar die Atmosphäre einer sonnenbeglänzten, zu Licht und Leben erwachten Herbstlandschaft. Die Spannung zwischen zwei Zeitdimensionen, zwischen dem, was noch ist, und dem, was bald sein wird, beherrscht den gesamten Text. So steht dem Nebel, den die Inversion im ersten Vers unmittelbar an den Anfang des Gedichts rückt, am Ende das „warme Gold“ des Sonnenlichts gegenüber, und diesen Kontrast kann man mit weiteren Schlagwörtern vertiefen und differenzieren: Sehen wir auf der einen Seite Schlaf, Ruhe und Traum, Schleier und Verhüllung, Starre und Farblosigkeit, so auf der anderen Leben, Kraft und Fülle, Bewusstheit und Klarheit, Enthüllung und Offenbarung, Wärme und Fließen sowie die kräftigen Farben Blau und Gold. Allerdings ist der künftige Zustand, dem immerhin vier der sechs Verse gewidmet sind, eben noch kein wirklicher und sichtbarer, sondern lediglich ein verheißener. Kann schon die im Nebel ruhende Welt in der Dichtung nur sprachlich beschworen werden und daher allein in der Einbildungskraft des Lesers anschauliche Gestalt gewinnen, so potenziert sich dieser Sachverhalt ab dem dritten Vers, weil die Landschaft jetzt noch nicht einmal in der poetischen Fiktion des Gedichts so vorhanden ist, wie sie evoziert wird – umso entschiedener sieht sich der Rezipient auf das bilderschaffende Vermögen seiner Phantasie verwiesen. Und wird er mit dem Du, das ausgerechnet in diesem dritten Vers erscheint, nicht sogar unmittelbar angesprochen und aufgefordert, sich im Geiste jene Vision auszumalen, die der Text nur mit suggestiven Worten entwerfen kann? Septembermorgen ist mithin auch ein Gedicht über das produktive Wechselspiel zwischen der poetischen Rede und der Vorstellungskraft des Lesers. Aber noch aus anderen Gründen würde eine Deutung als reines Naturgedicht den Gehalt des Werkes schwerlich erschöpfen. So legt zum Beispiel die zentrale Schleiermetapher, die in religiösen wie in philosophischen Kontexten traditionell mit dem Thema der Erkenntnis verknüpft ist, eine symbolische Auffassung der Verse nahe. Das verheißene Fallen des Schleiers wäre dann als Offenbarung der Wahrheit oder gar als Epiphanie des Göttlichen zu verstehen, dessen Verbindung mit dem belebenden Licht der – 105 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
Sonne ebenfalls einen geläufigen Topos darstellt. Und dass hier nicht zuletzt auch seelische Vorgänge im Inneren des Menschen gemeint sein könnten, etwa der Übergang von träumerischer Versunkenheit zu einer selbstbewussteren, realitätszugewandten Haltung, deutet schon die unübersehbare Anthropomorphisierung der „Welt“ an, die aus ihrem traumbefangenen Dämmerschlaf zur Klarheit und zur Wirklichkeit erwacht. Die skizzierten Interpretationsvarianten sind keineswegs beliebig, da sie sich auf den Wortlaut und die ästhetische Faktur des Textes stützen, doch sollte man auch der Versuchung widerstehen, sie zugunsten eines einzigen Deutungsansatzes zu reduzieren. Der Reiz des Gedichts liegt gerade in der Überlagerung der unterschiedlichen ‚Lesarten‘, die es offeriert und die den Versen im Zusammenspiel mit dem Reichtum der formalen Mittel eine staunenswerte Komplexität verleihen – Septembermorgen ist ein Paradebeispiel für die außerordentliche Verdichtung, die große lyrische Kunstwerke auszeichnet. Einen wichtigen Aspekt dieser Verdichtung macht die starke Semantisierung der Formmerkmale aus, der wir vorhin im Einzelnen nachgegangen sind: Reim und Metrum, Klangfarben und Stilfiguren dienen nicht etwa bloß der Ausschmückung des Textes, sondern sind geradezu mit Bedeutung aufgeladen. Die Überzeugung, dass sich Form und Inhalt eines Gedichts gar nicht voneinander trennen lassen, gehört übrigens zu den wenigen poetologischen Grundsätzen, die Mörike auch explizit ausgesprochen hat. 1838 versuchte er sie dem eifrigen, aber glücklosen Verseschmied Friedrich Ostertag zu vermitteln: „Die Form ist doch in ihrer tiefsten Bedeutung ganz unzertrennlich vom Gehalt, ja in ihrem Ursprung fast Eins mit demselben, u. durchaus geistiger, höchst zarter Natur. […] Sie muß daher so vollendet als möglich seyn“ (12, S. 175f.). Diese meisterhafte Verschmelzung von „Form“ und „Gehalt“, die so gut wie jedem Mörike-Gedicht seine ganz eigentümliche Prägung verleiht, haben wir oben mit dem Wort Genauigkeit zu fassen versucht. Ihr verdankt Mörikes Lyrik insbesondere die unübertreffliche Anschaulichkeit, die sie überall da erreicht, wo sie von sinnlichen Eindrücken spricht. Man lese nur einmal nach, wie das zweite Gedicht des Peregrina-Zyklus in Maler Nolten das Bild eines nächtlichen Zaubergartens entwirft, der zum Schauplatz einer erotischen Begegnung werden soll – „Wo im Gebüsche die Rosen brannten, / Wo der Mondstrahl um Lilien zuckte, / Wo die Bäume vom Nachtthau trofen“ (3, S. 362) –, oder wie in Auf einer Wanderung die enthusiastisch aufgeregte Stimmung des Ich die ganze Welt verwandelt, „[d]aß die Blüthen beben, / Daß die Lüfte leben, / Daß in höherem Roth die Rosen leuchten vor“ (1.1, S. 157). Wegen dieser Tendenz zur – 106 –
Unauffällige Meisterschaft
sinnlichen Konkretheit betrachtete Mörike sein Schaffen auch als wahlverwandt mit der bildenden Kunst. Größte Befriedigung bereitete ihm 1847 der Brief, in dem eine Gruppe von Dresdner Künstlern ihren Enthusiasmus für seine Idylle vom Bodensee ausdrückte: „Daß es gerade nur Maler, Bildhauer, Kupferstecher sind, von denen mir ein solcher Zuruf kommt ist mir auch deßhalb so besonders erfreulich, weil es bezeichnend eben für diejenige Eigenschaft des Gedichtes scheint, die mir –, wie billig bei dieser Art v. Darstellung – fast einer andern vorgehn mußte“ (15, S. 134f.). Und noch 1871 versicherte er dem Schwind-Schüler Julius Naue, dass ihm „ein Wort des Beifalls von Seiten eines bildenden Künstlers jederzeit das angenehmste“ sei (19.1, S. 173). Mit bloßem Reichtum an äußeren Details oder gar mit ‚malender Poesie‘ hat Mörikes poetische Genauigkeit allerdings nichts zu tun. Noch besser als an Septembermorgen kann man das an dem berühmten Gedicht Er ist’s erkennen, das den nahenden Frühling spüren lässt, ohne dabei über „Lüfte“ und „Veilchen“ hinaus irgendwelche Naturelemente direkt zu benennen oder gar in die Nähe einer dichterischen Landschaftsschilderung zu geraten (1.1, S. 41). Mörikes „Drang, sich Alles, auch das Abstrakteste, gegenständlich auszuprägen“, fiel schon Theodor Storm bei seinem Treffen mit dem Dichter auf.14 Auch Reflexionen werden in seiner Lyrik für gewöhnlich mit sinnlichen Wahrnehmungen verwoben oder aus ihnen abgeleitet; so geht die vieldiskutierte Sentenz „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“, die das Gedicht Auf eine Lampe beschließt (1.1, S. 132), unmittelbar aus der Anschauung eines individuellen Kunstgebildes hervor. Und die wichtigste inhaltlich-strukturelle Grundform von Mörikes Gedichten kann man als lyrische Situation bezeichnen, wenn man darunter eine stark verdichtete Konstellation aus äußeren Eindrücken und einer spezifischen Gefühls- und Stimmungslage des Ich versteht: Die Empfindungen des Sprechers sind an einen bestimmten raum-zeitlichen Kontext gebunden, dem sie ihrerseits eine eigentümliche atmosphärische Färbung verleihen. Beispiele dafür lassen sich in allen Phasen von Mörikes Schaffen finden; Im Frühling und Das verlassene Mägdlein gehören ebenso hierher wie Erinna an Sappho und die Bilder aus Bebenhausen. Solche lyrischen Situationen ruhen aber meist nicht statisch in sich selbst, sondern unterliegen einer Entwicklung, die durch gewisse überraschende Impulse in Gang gebracht wird. Lieblingswendungen Mörikes wie „plötzlich“ oder „auf einmal“ signalisieren entscheidende Momente des Übergangs, die immer wieder den Dreh- und Angelpunkt eines Gedichts bilden, Momente eines intensiven Sinneseindrucks oder einer Einsicht, die – 107 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
das Ich blitzartig überfällt. Ulrich Hötzer schreibt dazu: „Der Augenblick des Mörikeschen Gedichts ist ein Moment des Dazwischen: zwischen Werden und Vergehen. Er repräsentiert den Umschlag vom einen ins andere und damit das Fließen der Zeit.“15 Deshalb spricht Hötzer gerade den Wörtern „noch“ und „schon“ eine strukturbildende Funktion zu, die man nicht nur in Septembermorgen, sondern auch in Früh im Wagen, In der Frühe oder An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang studieren kann. Wie bereits die Titel verraten, findet die Zeitstruktur solcher Gedichte oftmals ihre Entsprechung in einer äußeren Übergangsphase, vor allem in der von Mörike so sehr bevorzugten Morgendämmerung, die sich wiederum leicht mit jenen gemischten Gefühlsregungen verbindet, auf die wir schon in anderen Zusammenhängen gestoßen sind. Das kleine Gedicht Septembermorgen hat uns die Komplexität von Mörikes Lyrik eindrucksvoll vor Augen geführt. Semantische und formale Komplexität ist jedoch nicht mit Hermetik oder einem selbstgenügsamen Spiel der poetischen Sprache zu verwechseln. Die Virtuosität seiner unauffälligen Meisterschaft erhebt Mörike weit über das Klischee vom arglosen, gemütlichen Provinzdichter, doch auf der anderen Seite wahrte er auch Abstand zum ‚l’art pour l’art‘, zu einer Kunst um der Kunst willen. Als er mit Storm über das poetische Schaffen sprach, erklärte er, „es müsse nur so viel sein, daß man eine Spur von sich zurücklasse; die Hauptsache aber sei das Leben selbst, das man darüber nicht vergessen dürfe“.16 Tatsächlich gab es für Mörike, wie Friedrich Sengle feststellt, im Gegensatz zum reinen Ästhetizismus „noch eine Welt […], die Leben und Werk umgreift.“17 Da er weder die Existenz des Dichters noch die poetische Sprache von der Gesellschaft, die ihn umgab, und von der Erfahrungswirklichkeit ablöste, bleibt in seinen Texten die kommunikative Beziehung zu einem anvisierten – gebildeten – Lesepublikum durchgängig erhalten. Das gilt natürlich in besonderem Maße für die Gelegenheitslyrik, der er im Alter immer größere Aufmerksamkeit widmete, aber auch sonst spielen Geselligkeit und Gespräch als Thema wie als Bezugsrahmen seiner Dichtung eine gewichtige Rolle, die wir an späterer Stelle noch ausführlicher diskutieren werden.
Zur Publikationsgeschichte der Gedichte Mörikes Gedichte verteilen sich sehr ungleich auf die verschiedenen Phasen seines Lebens. Unter quantitativen Gesichtspunkten heben sich die Jahre zwischen 1827 und 1832 als ein erster Höhepunkt heraus, und damals begann – 108 –
Zur Publikationsgeschichte der Gedichte
auch bereits die Publikationsgeschichte seiner Lyrik: 1828 erlangte Mörike durch die Vermittlung Gustav Schwabs Zugang zu dem renommierten Cotta’schen „Morgenblatt für gebildete Stände“, wo er in diesem und dem folgenden Jahr nicht weniger als zwanzig seiner Gedichte gedruckt sehen konnte, während zwei weitere ihren Platz in der „Damen-Zeitung“ des Franckh-Verlags fanden, bei dem der Dichter während seines Urlaubs vom Vikariat kurzfristig selbst angestellt war. Viele seiner bedeutendsten lyrischen Werke aus der frühen Phase, darunter fünf der für Luise Rau bestimmten Sonette und eine vierteilige Version des Peregrina-Zyklus, aber auch Das verlassene Mägdlein, Im Frühling und die Ballade vom Feuerreiter, wurden dann 1832 als Einlagen in dem Roman Maler Nolten veröffentlicht. Doch schon im Dezember 1831 spielte Mörike mit dem Gedanken, eine separate Sammlung seiner Gedichte herauszubringen, deren Bestand er damals gerade überprüfte.18 Andere Projekte, aus denen schließlich das gemeinsam mit Wilhelm Zimmermann herausgegebene „Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten“ hervorging, berufliche Pflichten und gesundheitliche Kalamitäten drängten das Vorhaben zunächst in den Hintergrund, und es vergingen einige Jahre, bis Mörike darauf zurückkam. Noch von den Folgen seiner schweren Erkrankung gezeichnet, schrieb er am 16. August 1836 an Kerner, „daß ich kürzlich, um nur einmal wieder eine Art von Thätigkeit zu haben, anfing, meine besseren Gedichte zu sammeln und zu revidiren“ (12, S. 85). Nach längeren Verhandlungen, die seine Freunde in Stuttgart für ihn führten, wurde ein Vertrag mit Cotta geschlossen, und im September 1838 lag der Band Gedichte druckfrisch vor. Die Beschäftigung mit der Vorbereitung der Sammlung scheint auf den Dichter äußerst anregend gewirkt zu haben, und da ihn gleichzeitig überdies seine kreative Rezeption der antiken Versmaße beflügelte, bildeten die Jahre 1837/38 einen zweiten auffallenden Höhepunkt seines lyrischen Schaffens – das Manuskript der Gedichte gewann noch bis kurz vor Beginn der Drucklegung merklich an Umfang. Der Schwung dieser Phase kam auch in der Folgezeit nicht ganz zum Erliegen, aber eine besonders ertragreiche Periode fällt noch einmal in die Mitte der vierziger Jahre. Ob hierbei die Befreiung von der Last des geistlichen Amtes eine Rolle spielte, muss dahingestellt bleiben – der Abschied aus Cleversulzbach scheint Mörikes Befinden anfangs nicht spürbar verbessert zu haben –, aber ein anderes biographisches Faktum war mit Sicherheit von Bedeutung, nämlich die Bekanntschaft mit Margarethe Speeth, die später die Ehefrau des Dichters werden sollte. Jedenfalls konnte die zweite Auflage der gesammelten Gedichte, die im November 1847 unter dem Datum des folgenden – 109 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
Jahres erschien, schon mit einem erheblich vergrößerten Textbestand aufwarten. Jeweils noch einmal erweitert präsentierten sich auch die dritte Auflage von 1856 und die vierte von 1867. In der letzteren versah der Autor die einzelnen Gedichttitel im Inhaltsverzeichnis erstmals mit Angaben zur Entstehungszeit, die aber meist aus dem Gedächtnis festgesetzt wurden und nicht immer zuverlässig sind. Mörike gewährte keineswegs allen Gedichten, die er schrieb, Aufnahme in die Sammlung: Den strengen Qualitätskriterien, nach denen er seine Auswahl traf, genügten insgesamt lediglich rund 250 Texte, die dann in mindestens einer der vier Auflagen des Bandes einen Platz erhielten. Ungefähr fünfzig weitere Gedichte publizierte er lediglich außerhalb der Sammlung, beispielsweise in Zeitschriften oder Anthologien – bei solchen Gelegenheiten legte er also weniger rigorose Maßstäbe an –, und einige hundert wurden zu seinen Lebzeiten überhaupt nicht in Druck gegeben; sie kursierten in Handschriften unter Freunden und Bekannten, etwa als Beilagen zu Briefen, als Stammbuchblätter oder Widmungen, oder fanden sich im Nachlass. Die Wege der Verbreitung und Rezeption waren demnach sehr vielgestaltig, und gerade von der Fülle und dem Facettenreichtum der Gelegenheitslyrik Mörikes vermittelt der Band Gedichte nur einen ganz unzureichenden Eindruck. Unbestreitbar bildete die Sammlung aber das „Herzstück seiner lyrischen Produktion“19, dem er allergrößte Aufmerksamkeit widmete. Die Strenge seiner Selbstkritik konnte sogar dazu führen, dass er einzelne Gedichte, die in einer Auflage vertreten gewesen waren, bei der Vorbereitung einer neuen wieder ausschied. Gleichwohl wuchs der Band, wie erwähnt, mit den Jahrzehnten kontinuierlich an. Um die Verhältnisse in Zahlen auszudrücken: gegenüber der ersten Auflage mit ihren 143 Gedichten waren knapp dreißig Jahre später in der vierten und letzten zwar 16 Stücke weggefallen, dafür aber 99 neue hinzugekommen. Doch auch Werke, die ihren Ehrenplatz in dem Band durchgängig behaupteten, wurden bisweilen einer tiefgreifenden Überarbeitung unterzogen, wenn die ursprüngliche Fassung Mörikes Ansprüchen nicht mehr genügte. So schrieb er 1841 an Hartlaub: „Ich habe neulich angefangen, meine Gedichte für den Fall einer neuen Ausgabe durchzugehen und mit aller Diskretion für das Gute das der ursprüngliche Wurf im Allgemeinen hat, verschiedene Verbesserungen vorzunehmen“, da man doch nicht zulassen dürfe, dass bei älteren Gedichten „eine Art von Pietät jede Kritik verdrängt“ (13, S. 227). Die anschließenden Bemerkungen zu Die Elemente, Der Feuerreiter und Die schlimme Greth und der Königssohn belegen, wie bedachtsam der – 110 –
Zur Publikationsgeschichte der Gedichte
Dichter in solchen Fällen verfuhr – wir werden noch Gelegenheit finden, einen Blick in seine poetische Werkstatt zu werfen. Das markanteste Beispiel für eine lange und wechselvolle Textgeschichte bietet in Mörikes lyrischem Oeuvre jedoch der Peregrina-Zyklus, der in der ersten Fassung aus den zwanziger Jahren stammt und erst 1867 nach mancherlei Zwischenstufen seine endgültige Gestalt erhielt. Auch in ihrer Gesamtheit präsentiert sich die Sammlung von Mörikes Gedichten als ein sorgfältig komponiertes Kunstwerk. Lange Zeit galt es in der Forschung als ausgemacht, dass die Anordnung der Texte in der ersten Auflage auf Hermann Kurz zurückging, der damals in enger Verbindung mit dem Dichter stand. Inzwischen weiß man aber besser Bescheid. Mörikes hingebungsvoller Verehrer hatte zwar in der Tat einen detaillierten Vorschlag für den Aufbau des Bandes ausgearbeitet und auch einen umfassenden Freibrief erhalten: „Das Arrangement meiner Gedichte durch eine Hand wie die Ihrige ist höchst erwünscht u. im Voraus von mir unbedingt approbirt“ (12, S. 99). Doch im Wirrwarr des vielen Hin- und Herschickens von Gedichtmanuskripten und Entwürfen zwischen Cleversulzbach und Stuttgart ging dieses Konzept zumindest zeitweilig verloren, so dass Mörike keine Gelegenheit erhielt, davon Gebrauch zu machen: „Wo kann denn Ihr Entwurf der Anordnung meiner Gedichte stecken? Er ist mir noch gar nicht zu Gesicht gekommen!“ (S. 144) Und da die Zeit drängte, erstellte er im Dezember 1837 eben selbst ein „Innhaltsverzeichniß der Sammlung“ für den Verleger, das die Gruppierung der Stücke festlegte. Die von Kurz separat mitgeteilte Idee, An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang an den Anfang zu setzen, griff er dabei allerdings gerne auf: „Dieser Einfall fürwahr ist ein ganzes Gedicht“ (ebd.). Überlegungen zur Gestalt der Sammlung finden sich außerdem schon in einem Brief an Mährlen vom Mai 1837, mit dem Mörike auf einen Vorschlag des Freundes reagierte: „Was die Anordnung der Stücke mit Zwischentiteln betrifft so bin ich nicht der Meinung. Fürs Erste kann man nicht consequent dabei seyn; dann sind auch einige Rubriken zu dünne gesäet; besonders aber ist es ungezwungener u. der Mannig faltigkeit wegen sogar angenehmer wenn Alles durcheinander steht: mit Ausnahme der Epigramme u. des eigentl. Lustigen“ (12, S. 93). Gerade von der Vielfalt und dem Abwechslungsreichtum seiner Lyrik versprach sich Mörike also eine günstige Wirkung auf den Leser, die er nicht durch eine strenge Ordnung nach Gattungen oder Tönen schmälern wollte. An diesem Prinzip hielt er auch später fest. 1856 bekräftigte er gegenüber dem Cotta-Verlag mit Blick auf die anstehende dritte Auflage, dass er – 111 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
„eine freiere Anordnung der systematischen“ vorziehe (16, S. 261), und als 1867 schließlich die vierte vorbereitet wurde, schrieb er an Hartlaub: „Was die Anordnung betrifft so wollen wir es bei der alten (ohne die vornehme, zum Aufsuchen freilich bequemere Eintheilung nach den verschiedenen Formen) lassen“ (18, S. 160). Die Maxime, dass am besten „Alles durcheinander“ stehen solle, darf man indes nicht ganz wörtlich nehmen, denn der Band Gedichte ist durchaus kein bloßes Sammelsurium disparater Einzeltexte. Bei allem Lob der „Mannigfaltigkeit“ orientierte Mörike sich doch an gewissen Ordnungsprinzipien, nach denen er Schwerpunkte und Gedichtgruppen bildete. Im Grunde müsste man die Eigentümlichkeiten der Komposition für jede Auflage gesondert untersuchen, da schon das Anschwellen des Textmaterials im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Änderungen notwendig machte. Ein solches Unternehmen würde hier zu weit führen, aber am Beispiel der Ausgabe letzter Hand von 1867 sollen doch zumindest einige Hinweise auf Mörikes Verfahren gegeben werden. Die Spitzenstellung von An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang, von Kurz vorgeschlagen und von Mörike sofort akzeptiert, wird sich bei der näheren Analyse dieses Werkes im nächsten Kapitel rechtfertigen. Das Pendant am Ende des Bandes bildet das Gedicht Abschied, eine satirische Rezensentenschelte und zugleich eine indirekte Belehrung des Lesers über den angemessenen Umgang mit Dichtern und ihren Werken (lediglich in der ersten Auflage hatte Mörike hier noch die Verse Um Mitternacht platziert und damit einen einzigen Tageslauf als übergeordnetes Prinzip der ganzen Reihe angedeutet). Dazwischen finden sich mit Peregrina, den Schiffer- und Nixen-Märchen und den Bildern aus Bebenhausen einige lyrische Zyklen im strengen Sinne des Wortes, die durch eine gemeinsame Überschrift zusammengehalten werden. Eine bedeutendere Rolle für die Struktur der Sammlung spielen jedoch lockere Textreihen, deren Kohärenz durch inhaltliche oder formale Gemeinsamkeiten gestiftet wird. Insbesondere die antikisierenden Gedichte hat Mörike, wie schon seine Bemerkung über die „Epigramme“ in dem Brief an Mährlen verrät, zu solchen Ensembles geordnet. Von Ideale Wahrheit bis An eine Sängerin reicht eine lange Kette von Distichengedichten, der mit Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen und Auf eine Lampe zwei Gedichte im Senar folgen, bevor sich Erinna an Sappho sowie Die Herbstfeier anschließen, die den antiken Ton auf je eigene Weise variieren. Kleinere Gruppen von Texten in Distichen, im Hexameter und im Senar finden sich auch sonst noch. Ähnlich verfuhr Mörike mit den meisten Sonetten: Die drei Gedichte über Poesie, Malerei und Musik – 112 –
Zur Publikationsgeschichte der Gedichte
aus dem Jahre 1828 und die ursprünglich an Luise Rau gerichteten Sonette von 1830 bilden jeweils einen Block für sich. Da die eine dieser Sonettgruppen verschiedenen Spielarten der Kunst, die zweite vorrangig der Liebe gewidmet ist, kombinieren beide das formale Ordnungsmuster mit einem thematischen. Auch andere Liebesgedichte bilden eine solche Variationsreihe, die ein und denselben Gegenstand von unterschiedlichen Seiten beleuchtet: Der Knabe und das Immlein, Rath einer Alten, Begegnung, Der Jäger, Jägerlied, Ein Stündlein wohl vor Tag, Storchenbotschaft, Die schlimme Greth und der Königssohn, Liebesvorzeichen, Suschens Vogel. Dabei arbeitet Mörike manchmal mit schroffen Kontrasten, so wenn er auf die Ballade von der schlimmen Greth, in deren weiblicher Titelfigur die dämonische Macht des Eros Gestalt annimmt, das heitere, spielerischerotische Gedicht Liebesvorzeichen folgen lässt. Des Weiteren fallen zahlreiche Gedichtpaare ins Auge, darunter die Frühlingsgedichte Er ist’s und Im Frühling, die Erinnerungsgedichte Besuch in Urach und An eine Äolsharfe, die beiden Lieder um den Räuber Jung Volker, Das verlassene Mägdlein und Agnes als Rollenlieder über das Liebesleid aus weiblicher Perspektive oder Auf ein altes Bild und Schlafendes Jesuskind, zwei poetische Gemäldebeschreibungen mit christlichen Motiven. Mit Tag und Nacht und Die Elemente stehen die allegorischen Gedichte, die bei Mörike Seltenheitswert haben, beisammen, ebenso wie zwei Übersetzungen aus dem Lateinischen, An den Schlaf und Seufzer, von denen die letztere zugleich eine kleine Gruppe religiöser Dichtungen einleitet. Zu einem Paar vereint sind auch die beiden Gedichte für Hartlaub und seine Frau, An Wilhelm Hartlaub und Ländliche Kurzweil, die Mörike in einem Brief an den Freund als „zwei Gegenstücke zur Erinnerung an die Abende in Deinem u. meinem Haus“ bezeichnete (14, S. 36). Mit ihnen setzt wiederum eine längere Reihe von Werken ein, die sämtlich an Personen aus Mörikes unmittelbarem Umkreis gerichtet sind und deren letztes, An Clärchen, seinerseits ein Ensemble von vier Gedichten eröffnet, die ihre Entstehung der Bekanntschaft mit Margarethe Speeth verdankten. Schaffen die oben erwähnten Gruppen von Texten in antiken Metren Zusammenhänge formaler Art, die inhaltliche Unterschiede überspielen, so gibt es umgekehrt auch inhaltlich definierte Reihen, die eine Fülle verschiedener Formen vereinen. Das beste Beispiel dafür liefern die humoristischen Gedichte von An meinen Vetter bis Abschied, die den Band beschließen und ein ungemein facettenreiches Formenspektrum entfalten. Aber innerhalb dieses Rahmens hat Mörike aus den Odenparodien An Philomele und An einen Liebenden auch noch einmal ein nach formalen Gesichtspunkten zusammengesetztes Gedichtpaar gebildet. – 113 –
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens
Es lohnt sich also, bei der Lektüre von Mörikes Gedichtsammlung die Perspektive über den jeweiligen Einzeltext hinaus zu erweitern, den Analogie- und Kontrastbeziehungen zwischen benachbarten Stücken nachzuspüren, die oft reizvolle Effekte hervorbringen, und so den ganzen Band als ein kunstvoll angelegtes Dokument ästhetischer „Mannigfaltigkeit“ zu genießen. Dafür muss man freilich eine der großen Mörike-Ausgaben zur Hand nehmen, die den vollständigen Bestand der Sammlung nach der vierten Auflage bieten, da jede Auswahledition, so verdienstvoll sie im Übrigen auch sein mag, die feingesponnenen Verflechtungs- und Verweisungszusammenhänge zwangsläufig zerstört. Jedoch sei daran erinnert, dass wir in der letzten Auflage der Gedichte keineswegs die Gesamtheit von Mörikes lyrischem Werk vor uns haben: Hinzu kommen neben den Texten, die er lediglich in eine der früheren Auflagen des Bandes aufgenommen hat, noch jene, die außerhalb der Sammlung einzeln publiziert oder zu Lebzeiten des Dichters überhaupt nicht gedruckt wurden. Die lange Zeit maßgebliche Mörike-Ausgabe von Harry Maync, 1909 in erster und fünf Jahre später in zweiter Auflage erschienen, bringt die Gedichte dieser drei Gruppen in den verschiedenen Abteilungen ihrer lyrischen „Nachlese“, ein Prinzip, das die Sämtlichen Werke bei Artemis & Winkler übernommen haben. Auch über die Genese der einzelnen Gedichte und ihre verschiedenen Fassungen verrät die letzte Auflage der Sammlung natürlich nichts. Hier einen klaren Überblick zu gewinnen, ist derzeit kaum möglich, weil die einschlägigen Bände der historisch-kritischen Gesamtausgabe – abgesehen von dem Teilband 1.1, der den Bestand der Gedichte von 1867 wiedergibt – noch nicht vorliegen. Wer Mörikes sorgfältiger Arbeit an seinen Texten nachforschen und daraus auch Einsichten in seine Poetik und deren Wandlungen gewinnen will, muss sich das erforderliche Material deshalb bis auf weiteres mühsam zusammensuchen. Dabei wird er Mayncs wissenschaftlichen Apparat trotz der beträchtlichen Mängel, die dieser Ausgabe anhaften, nach wie vor nicht entbehren können.20 Hinzuzunehmen sind insbesondere die beiden umfangreichen Aufsätze, in denen sich Hans-Henrik Krummacher Anfang der sechziger Jahre mit Problemen der Überlieferung und der Textgeschichte von Mörikes Lyrik auseinandergesetzt hat.21 Eine moderne historisch-kritische Ausgabe der Gedichte bleibt vorerst das größte Desiderat der Mörike-Philologie.
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6. Die frühen Gedichte Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
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chrieb Mörike in Urach, den Gepflogenheiten des Seminars entsprechend, noch einige ziemlich konventionelle Kasualgedichte, so gewann er in der Folgezeit erstaunlich rasch eine beeindruckende Reife und Selbständigkeit: Ohne langes Tasten und Suchen scheint er jene souveräne Verfügung über Sprache und Formenwelt der Poesie erlangt zu haben, die seine Größe als Lyriker ausmacht. Schon mehrere zwischen 1822 und 1825 entstandene Werke stufte er später selbst als Schöpfungen von bleibendem Wert ein, indem er sie in seine gedruckte Sammlung aufnahm. Ein Gedicht, das aus dem Jahre 1825 stammt, wurde sogar an die Spitze der ganzen Reihe gestellt; es soll daher auch unseren Überblick über Mörikes lyrische Produktion von den frühen zwanziger bis zu den mittleren dreißiger Jahren eröffnen: An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe! Welch neue Welt bewegest du in mir? Was ist’s, daß ich auf einmal nun in dir Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?
Einem Krystall gleicht meine Seele nun, Den noch kein falscher Strahl des Lichts getroffen; Zu fluthen scheint mein Geist, er scheint zu ruhn, Dem Eindruck naher Wunderkräfte offen, Die aus dem klaren Gürtel blauer Luft Zuletzt ein Zauberwort vor meine Sinne ruft. Bei hellen Augen glaub’ ich doch zu schwanken; Ich schließe sie, daß nicht der Traum entweiche. Seh’ ich hinab in lichte Feeenreiche?
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6. Die frühen Gedichte
Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken Zur Pforte meines Herzens hergeladen, Die glänzend sich in diesem Busen baden, Goldfarb’gen Fischlein gleich im Gartenteiche? Ich höre bald der Hirtenflöten Klänge, Wie um die Krippe jener Wundernacht, Bald weinbekränzter Jugend Lustgesänge; Wer hat das friedenselige Gedränge In meine traurigen Wände hergebracht?
Und welch Gefühl entzückter Stärke, Indem mein Sinn sich frisch zur Ferne lenkt! Vom ersten Mark des heut’gen Tags getränkt, Fühl’ ich mir Muth zu jedem frommen Werke. Die Seele fliegt, so weit der Himmel reicht, Der Genius jauchzt in mir! Doch sage, Warum wird jetzt der Blick von Wehmuth feucht? Ist’s ein verloren Glück, was mich erweicht? Ist es ein werdendes, was ich im Herzen trage? – Hinweg, mein Geist! hier gilt kein Stillestehn: Es ist ein Augenblick, und Alles wird verwehn!
Dort, sieh, am Horizont lüpft sich der Vorhang schon! Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn; Die Purpurlippe, die geschlossen lag, Haucht, halbgeöffnet, süße Athemzüge: Auf einmal blitzt das Aug’, und, wie ein Gott, der Tag Beginnt im Sprung die königlichen Flüge! (1.1, S. 11f.)
Wie die Rede vom „frommen Werke“ und vom „Genius“ verrät, spricht hier ein Dichter, der sich auf sich und seine Schaffenskraft besinnt. Das Gedicht zeichnet einen schöpferischen Prozess nach und ist mithin poetologisch zu lesen; seinem programmatischen Charakter verdankt es sicherlich auch den herausgehobenen Platz in Mörikes Sammlung. Zu der lockeren Fügung von Gedanken, Assoziationen und Sinneseindrücken, die den Gang der Verse inhaltlich bestimmt, passt die verhältnismäßig freie madrigalische Form. Metrisches Grundmuster ist der jambische Fünfheber, aber vor allem gegen Ende gibt es auch einige Zeilen mit sechs Hebungen, die durch eine ausgeprägte Mittelzäsur zu makellosen Alexandrinern werden – etwa: „Es ist ein Augenblick, und Alles wird verwehn!“ Ohne feste Reimstellung sind die Verse zu unregelmäßigen – 116 –
Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
Blöcken zusammengefasst, von denen jeder eine Etappe auf dem Weg des lyrischen Ich zum vollen Bewusstsein seiner selbst und seiner Möglichkeiten markiert. Am Anfang steht träumerische Ungewissheit, ein Dämmerzustand des Ich, der auf das Genaueste der „dunkeln Frühe“ als einer zwielichtigen Übergangsphase zwischen Nacht und Tag korrespondiert. Es ist eine Phase der inneren Sammlung und der Offenheit für die subtilsten Eindrücke und seelischen Regungen: Nur fragend und unsicher kann der Sprecher vorerst die „neue Welt“, die da in seinem Gemüt erwacht, umkreisen, und an die Stelle klarer Überlegung und nüchterner Selbstvergewisserung tritt das bloße „sanfte“ und warme Gefühl des eigenen Daseins. Dabei ist anzumerken, dass der Ausdruck „Wollust“ im zeitgenössischen Sprachgebrauch noch nicht negativ konnotiert war, sondern allgemein ein intensives sinnliches Glücksempfinden bezeichnete. Bei behutsamen Umschreibungen bleibt es auch im zweiten Versabschnitt, wie der in den Eingangszeilen gebrauchte Vergleich und das doppelt verwendete „scheint“ signalisieren. Die Seele ähnelt in ihrem gegenwärtigen Zustand einem „Krystall“, der hell und klar ist, aber von äußeren Einflüssen leicht verunreinigt werden könnte – noch ist die verworrene Welt des Tages mit all ihren Ablenkungen und Anforderungen dem lyrischen Ich nicht willkommen. Sein „Geist“ bewegt sich ohne bestimmte Richtung, erweist sich aber gerade dadurch als aufnahmebereit für „nahe Wunderkräfte“, die in der Atmosphäre des Wintermorgens zu erahnen sind. Jenes „Zauberwort“, mit dem der Sprecher sie herbeizitieren will, deutet erstmals einen Zug von Aktivität an und stellt überdies die Beziehung zur Dichtung her, denn es lässt sich als Inbegriff der sprachmagischen Befähigung des Poeten verstehen. Zehn Jahre später feierte auch Joseph von Eichendorff in dem berühmten Vierzeiler Wünschelrute die romantische Dichterrede als das „Zauberwort“, das die Welt zu ihrem wahren Leben erwecken könne1, und nichts anderes meinte bereits Novalis mit dem erlösenden „geheimen Wort“, von dem sein Gedicht Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren spricht.2 Fungierte die äußere Wirklichkeit des Wintermorgens bislang schon vorrangig als symbolischer Spiegel für die Innenwelt des Ich, so wird im dritten Abschnitt erst recht eine entschiedene Wendung nach innen vollzogen. Förmlich überwältigt von den „Bildern und Gedanken“, die seine aufgeregte Einbildungskraft wie von selbst heraufbeschwört, schließt der Sprecher sogar die Augen, um den „Traum“ festzuhalten und jede Störung abzuwehren. Allein der Tiefe der eigenen Seele, wo sich „lichte – 117 –
6. Die frühen Gedichte
Feeenreiche“ aufzutun scheinen, gilt jetzt seine Aufmerksamkeit. Immer noch überwiegt dabei die passive, empfangende Haltung, die nach wie vor mit einer gewissen fragenden Unsicherheit einhergeht. Die vierte Versgruppe konkretisiert die Fülle und Vielfalt der Gesichte, indem sie auf die geistigen Traditionen verweist, aus denen sie hervorgehen. Dem Ich, in dessen Wahrnehmung sich die „Hirtenflöten“ der Heiligen Nacht mit den bacchantischen „Lustgesänge[n]“ einer dionysischen Weltfreude mischen, stehen sowohl die romantisch-christliche als auch die heidnisch-antike Vorstellungswelt und damit letztlich die ganze Breite der kulturellen Überlieferung des Abendlandes zu Gebote. Dass die zuvor dominierenden optischen Eindrücke nun durch akustische abgelöst werden, unterstreicht noch einmal die Intensität des Erlebens. Die unvermittelte Erwähnung der „traurigen Wände“ deutet auf Krankheit und Melancholie, vor allem aber auf Isolation und Enge hin. Das Ich befindet sich offensichtlich nicht in freier Natur, sondern in einem Innenraum, und so muss der Blick nach draußen, den einige Partien des Gedichts voraussetzen, wohl durch ein Fenster gehen, das im Text nirgends ausdrücklich erwähnt wird. Diese Konstellation ist ein romantischer Topos, der etwa bei Eichendorff häufig begegnet, aber sie entspricht auch einem für Mörike typischen Erfahrungsmuster, nämlich einer äußerlichen Einschränkung und Begrenzung, die dank Phantasie und Poesie durch eine innere, geistig-seelische Ausweitung überwunden oder kompensiert wird, wie es in An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang ja exemplarisch geschieht. Doch Mörike belässt es hier nicht bei der bloßen Entgegensetzung von äußerer Enge und innerem Reichtum, denn im fünften Abschnitt des Gedichts wendet sich das lyrische Ich, durch die Fülle von „Bildern und Gedanken“ augenscheinlich gekräftigt und über seine „traurigen Wände“ hinausgetrieben, endlich energisch der Außenwelt und der Wirklichkeit des anbrechenden Tages zu. Selbstbewusstsein und Tatendrang, das „Gefühl entzückter Stärke“ und der „Muth“ des Schaffens ersetzen die passive Hingabe, und unter dem Jauchzen des „Genius“ scheint die Seele die ganze Welt überfliegen zu wollen. Diesem vorläufigen Höhepunkt des inneren Vorgangs, den das Gedicht entwirft, folgt indes abrupt die Krise, die den kühnen Aufbruch sogleich wieder in Frage stellt. Mitten im Vers tritt mit einer Selbstanrede der Umschwung ein: „Doch sage …“ – der Sprecher fühlt sich von einer unbestimmten „Wehmuth“ ergriffen, die entweder in die Vergangenheit oder in die Zukunft weist, in jedem Falle aber die Aufmerksamkeit vom gegenwärtigen schöpferischen Moment abzulenken und das Ich wieder in die – 118 –
Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
Welt der reinen Innerlichkeit zurückzuziehen droht. Die beiden Schlusszeilen des Abschnitts hat man daher wohl als gezielte Gegenbewegung zu verstehen, als bewusste Besinnung auf den Kairos, den flüchtigen „Augenblick“ im Hier und Jetzt, der entschlossen ergriffen werden muss. Den Erfolg dieser Ermahnung dokumentiert die letzte Versgruppe, die wieder ganz dem Blick nach außen und dem Beginn des Tages als der Zeit für „fromme Werke“ gewidmet ist. Der mit pompösen Bildern ins Mythische überhöhte Sonnenaufgang, bei dem der Leser an den Wagen des Helios denken mag, der seine Fahrt über den Himmel antritt, veranschaulicht zugleich das endgültige Hervortreten der poetischen Tatkraft. Ein distanzierter Betrachter könnte womöglich Bedenken anmelden, ob die Metaphern vom „Sprung“ und von den „königlichen Flüge[n]“ wirklich auf den Naturvorgang passen, um den es in diesen Versen geht, aber im Kontext des Gedichts sind sie legitim, weil sich in der deutlich subjektiv gefärbten Schilderung der innere Schwung des lyrischen Sprechers unmittelbar auf das von ihm wahrgenommene äußere Geschehen überträgt. Gefeiert wird hier mit grandioser Geste nicht so sehr das meteorologische Ereignis des Tagesanbruchs als vielmehr der Triumph des dichterischen „Genius“ und damit der beglückende Stolz eines schöpferischen Individuums, das seiner Kräfte und Fähigkeiten inne geworden ist. Der Genuss eines frühen winterlichen Morgens und seiner produktiven Wirkungen war Mörike wohlvertraut. Im Januar 1830 pries er in einem Brief an Luise Rau diese Tageszeit, in der „das Innere noch unbewegt von der Außenwelt, rein und glatt wie ein Spiegel liegt“, und fuhr fort: „Du kennst doch jene stille Früh-stimmung des Herzens, wo man sich bewegt fühlt, man weiß nicht von was, aufgelegt zu jeder guten That […]; die Seele fängt gleichsam von sich selber zu tönen an wie jene Harfen auf denen die Luft spielt“ (11, S. 65f.). An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass auf diese Phase der Sammlung und der träumerischen Hingabe an vor- oder unbewusste seelische Regungen und die bilderschaffende Macht der Imagination früher oder später eine Wendung zur Außenwelt und zur tatkräftigen Aktivität folgen muss, die dem Übergang von der Dämmerung zum lichten Tag entspricht. Erst beide Stadien gemeinsam konstituieren den kreativen Prozess, in dem sich der „Genius“ zum Flug aufschwingt. Erscheint die Erinnerung an ein „verloren Glück“ in dem Eröffnungsgedicht von Mörikes Lyrikband geradezu als Gefahr, weil sie den Sprecher vom schöpferischen Kairos fortlockt, so erweist sie sich in anderen Werken ihrerseits als unerschöpfliche Quelle der poetischen Inspiration. Während – 119 –
6. Die frühen Gedichte
der Dichter die unmittelbare Gegenwärtigkeit des Erlebens und Erleidens oftmals als bedrängend empfand, schuf das Vermögen der Erinnerung eine heilsame Distanz und eröffnete damit einen willkommenen Spielraum für die poetische Formung und Bewältigung selbst der stärksten Empfindungen. Vor allem aber strahlten die Erinnerungen an vergangene Zeiten des Glücks und der Geborgenheit jenen ambivalenten wehmütigen Reiz aus, an dem Mörike ein so eigentümliches Vergnügen fand. In den Briefen an seine engsten Vertrauten gibt es immer wieder halb freudige, halb melancholische Rückblicke auf die Jahre in Urach und Tübingen, die er im Nachhinein fast ausschließlich mit der geselligen Intimität der freundschaftlichen Zirkel verband, von der in einem früheren Kapitel ausführlich die Rede war. Wie er Hartlaub gestand, begann er sich nach Urach zu sehnen, kaum dass er das Niedere theologische Seminar im Herbst 1822 verlassen hatte: „wie ich zurück dachte wars, als wäre ich, als sähe ich mich selber – einen Mörike, den wahren, in U. – es machte mich halb wehmüthig“ (10, S. 40), und bereits im Mai 1827, ein gutes halbes Jahr nach dem Abgang von der Universität, sprach er gegenüber Mährlen von „tübinger Heimweh“ (S. 155). Wie seine Heimatstadt Ludwigsburg zum Gegenstand schwärmerischer Erinnerungen wurde, haben wir schon an anderer Stelle gehört, und vermutlich bildete die glückliche Kindheit auch das archetypische Muster für sämtliche Geborgenheitserfahrungen, deren Andenken er im Laufe seines Lebens pflegte: „In der Scheuer, meinem Fenster gegenüber, hör ich dreschen; ein traulicher winterlicher Klang, nach dessen Takte das Herz sich so recht genügsam einspinnen kann! Ich knüpfe immer einen ganzen Schwarm von wehmüthig-süßen Erinnerungen an diesen Ton, die bis in meine tiefe Kindheit fortlaufen“ (11, S. 36). Als Anlass und Thema des Schreibens begegnet Erinnerung im Werk dieses Autors auf Schritt und Tritt: „Eduard Mörike ist ein Leben lang der Dichter des Erinnerns.“3 Darf man es als bloßen Zufall werten, dass gleich das älteste Gedicht, das Eingang in seine Sammlung fand, den Titel Erinnerung trägt? Wir werden uns später mit ihm befassen und dabei im Einzelnen erörtern, wie schon der Achtzehnjährige wesentliche Impulse seines Schaffens aus einer Rückbesinnung bezog, die vergangene Glücksmomente noch einmal vergegenwärtigte, damit aber zugleich den unüberbrückbaren Abstand zu ihnen ins Bewusstsein treten ließ und deshalb jene charakteristische gemischte Empfindung heraufbeschwor. Die größte Intensität erreichten solche Erinnerungen, wenn er die Stätten seines vergangenen Lebens wieder aufsuchte, was er am liebsten in Begleitung von Freunden tat, die seine nostalgische Schwärmerei teilen konnten. So schrieb er der – 120 –
Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
Schwester Luise im Sommer 1825: „In Urach gewessen mit Hartlaub. In einer seltsamen Gefühlsverschränkung von Erinnerungen an meinen hiesigen Aufenthalt und an [es folgt das Zeichen für den Namen des Bruders August] unaufhörliche Thränen vergossen. Die alten lieben Pläze liefen im Taumel vor meinen Augen vorbey“ (10, S. 100). In Besuch in Urach, dem wohl gewichtigsten unter den zahlreichen Gedichten, die die Erinnerung und damit auch „das Bewußtsein der Zeitausgesetztheit des Ich“ umkreisen 4, scheint Mörike diese Exkursion poetisch verarbeitet zu haben. Die zwölf Stanzen stammen allerdings erst aus dem Jahre 1827 – statt das biographische Erlebnis lediglich zu protokollieren, gestalten sie es aus dem Abstand heraus mit hoher künstlerischer Souveränität. Übrigens diente das „Gedicht auf Urach“ auch als Denkzeichen der Freundschaft mit Hartlaub, der es am 25. Mai als Briefbeilage erhielt (10, S. 160). Besuch in Urach
Nur fast so wie im Traum ist mir’s geschehen, Daß ich in dieß geliebte Thal verirrt. Kein Wunder ist, was meine Augen sehen, Doch schwankt der Boden, Luft und Staude schwirrt, Aus tausend grünen Spiegeln scheint zu gehen Vergangne Zeit, die lächelnd mich verwirrt; Die Wahrheit selber wird hier zum Gedichte, Mein eigen Bild ein fremd und hold Gesichte! Da seid ihr alle wieder aufgerichtet, Besonnte Felsen, alte Wolkenstühle! Auf Wäldern schwer, wo kaum der Mittag lichtet Und Schatten mischt mit balsamreicher Schwüle. Kennt ihr mich noch, der sonst hieher geflüchtet, Im Moose, bei süß-schläferndem Gefühle, Der Mücke Sumsen hier ein Ohr geliehen, Ach, kennt ihr mich, und wollt nicht vor mir fliehen? Hier wird ein Strauch, ein jeder Halm zur Schlinge, Die mich in liebliche Betrachtung fängt; Kein Mäuerchen, kein Holz ist so geringe, Daß nicht mein Blick voll Wehmuth an ihm hängt: Ein jedes spricht mir halbvergessne Dinge; Ich fühle, wie von Schmerz und Lust gedrängt Die Thräne stockt, indeß ich ohne Weile, Unschlüssig, satt und durstig, weiter eile.
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6. Die frühen Gedichte
Hinweg! und leite mich, du Schaar von Quellen, Die ihr durchspielt der Matten grünes Gold! Zeigt mir die ur-bemoosten Wasserzellen, Aus denen euer ewigs Leben rollt, Im kühnsten Walde die verwachsnen Schwellen, Wo eurer Mutter Kraft im Berge grollt, Bis sie im breiten Schwung an Felsenwänden Herabstürzt, euch im Thale zu versenden. O hier ist’s, wo Natur den Schleier reißt! Sie bricht einmal ihr übermenschlich Schweigen; Laut mit sich selber redend will ihr Geist, Sich selbst vernehmend, sich ihm selber zeigen. – Doch ach, sie bleibt, mehr als der Mensch, verwais’t, Darf nicht aus ihrem eignen Räthsel steigen! Dir biet’ ich denn, begier’ge Wassersäule, Die nackte Brust, ach, ob sie dir sich theile! Vergebens! und dein kühles Element Tropft an mir ab, im Grase zu versinken. Was ist’s, das deine Seele von mir trennt? Sie flieht, und möcht’ ich auch in dir ertrinken! Dich kränkt’s nicht, wie mein Herz um dich entbrennt, Küssest im Sturz nur diese schroffen Zinken; Du bleibest, was du warst seit Tag und Jahren, Ohn’ ein’gen Schmerz der Zeiten zu erfahren. Hinweg aus diesem üpp’gen Schattengrund Voll großer Pracht, die drückend mich erschüttert! Bald grüßt beruhigt mein verstummter Mund Den schlichten Winkel, wo sonst halb verwittert Die kleine Bank und wo das Hüttchen stund; Erinn’rung reicht mit Lächeln die verbittert Bis zur Betäubung süßen Zauberschalen; So trink’ ich gierig die entzückten Qualen. Hier schlang sich tausendmal ein junger Arm Um meinen Hals mit inn’gem Wohlgefallen. O säh’ ich mich, als Knaben sonder Harm, Wie einst, mit Necken durch die Haine wallen! Ihr Hügel, von der alten Sonne warm, Erscheint mir denn auf keinem von euch allen Mein Ebenbild, in jugendlicher Frische Hervorgesprungen aus dem Waldgebüsche?
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Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
O komm, enthülle dich! dann sollst du mir Mit Freundlichkeit in’s dunkle Auge schauen! Noch immer, guter Knabe, gleich’ ich dir, Uns beiden wird nicht vor einander grauen! So komm und laß mich unaufhaltsam hier Mich deinem reinen Busen anvertrauen! – Umsonst, daß ich die Arme nach dir strecke, Den Boden, wo du gingst, mit Küssen decke!
Hier will ich denn laut schluchzend liegen bleiben, Fühllos, und Alles habe seinen Lauf! – Mein Finger, matt, in’s Gras beginnt zu schreiben: Hin ist die Lust! hab’ Alles seinen Lauf! Da, plötzlich, hör’ ich’s durch die Lüfte treiben, Und ein entfernter Donner schreckt mich auf; Elastisch angespannt mein ganzes Wesen Ist von Gewitterluft wie neu genesen. Sieh! wie die Wolken finstre Ballen schließen Um den ehrwürd’gen Trotz der Burgruine! Von Weitem schon hört man den alten Riesen, Stumm harrt das Thal mit ungewisser Miene, Der Kukuk nur ruft sein einförmig Grüßen Versteckt aus unerforschter Wildniß Grüne, – Jetzt kracht die Wölbung, und verhallet lange, Das wundervolle Schauspiel ist im Gange! Ja nun, indeß mit hoher Feuerhelle Der Blitz die Stirn und Wange mir verklärt, Ruf ’ ich den lauten Segen in die grelle Musik des Donners, die mein Wort bewährt: O Thal! du meines Lebens andre Schwelle! Du meiner tiefsten Kräfte stiller Herd! Du meiner Liebe Wundernest! ich scheide, Leb wohl! – und sei dein Engel mein Geleite! (1.1, S. 45–47)
Der „Besuch“ am Schauplatz einer vergangenen Lebensepoche bildet das äußere, räumliche Pendant zum psychischen Akt der Erinnerung. Theobald Nolten erlebt in Mörikes Roman etwas Ähnliches wie der Sprecher im Gedicht, wenn er die Umgebung seiner Jugend wiedersieht: „in jedem Winkel schien ein holdes Gespenst der Vergangenheit neugierig dem Halb fremden aufzulauschen und ihm zuzuflüstern: Siehe, hier ist sich am Ende Alles gleich geblieben, wie ist’s indessen mit dir gegangen?“ (3, S. 266) Das – 123 –
6. Die frühen Gedichte
lyrische Ich von Besuch in Urach vermag seine Situation jedoch vorläufig gar nicht mit voller Klarheit zu erfassen, weil es aufgrund der Überlagerung von gelebter Gegenwart und erinnerter Vergangenheit in größte Verwirrung gerät. Verirrt, schwankend und „wie im Traum“ kommt es sich vor, da es ja gleichsam doppelt vorhanden ist – im Einst wie im Jetzt –, und infolgedessen deutet sich eine tiefe Selbstentfremdung an: „Mein eigen Bild ein fremd und hold Gesichte“. Die Anrede an die unveränderten Elemente der Landschaft, der Natur soll eine Selbstvergewisserung ermög lichen: „Kennt ihr mich noch […] und wollt nicht vor mir fliehen?“ Doch der Abstand zu dem, was früher einmal war, kann nicht völlig aufgehoben werden, und so stellen sich unvermeidlich „Wehmuth“ und die zwiespältige Empfindung von „Schmerz und Lust“ ein. Die ersten drei Strophen von Besuch in Urach bilden als Exposition des Gedichts und seiner zentralen Erinnerungsproblematik eine Einheit. Der Einschnitt, der ihnen folgt, wird durch einen Ortswechsel markiert: „Hinweg!“ ermahnt sich der Sprecher und begibt sich in den Wald zu einem nahen Wasserfall, dem die nächsten drei Stanzen gewidmet sind. Von der Vergangenheit ist hier zunächst nicht mehr die Rede, statt dessen tritt das Verhältnis des menschlichen Individuums zur Natur in den Vordergrund. Verschmelzungssehnsüchte und die frustrierende Erfahrung eines unüberwindlichen Getrenntseins bestimmen die Gefühlslage des Ich. Dabei klingen naturphilosophische Spekulationen der Romantik und insbesondere Schellings an, nach denen die elementare Natur den bewusstlosen Geist repräsentiert, der danach ringt, in der Reflexion endlich seiner selbst gewahr zu werden: „O hier ist’s, wo Natur den Schleier reißt! / Sie bricht einmal ihr übermenschlich Schweigen; / Laut mit sich selber redend will ihr Geist, / Sich selbst vernehmend, sich ihm selber zeigen.“ Aber diese Hoffnung, die zugleich auf eine Verständigung, auf eine gelingende Kommunikation zwischen Mensch und Natur zielt, erfüllt sich nicht, denn die Natur bleibt letztlich doch „verwais’t“, isoliert und vom drängenden Verlangen ihres Gegenübers unberührt, was den Verdacht nahelegt, dass die ihr unterstellte Sehnsucht nur eine Projektion des Ich ist. Und wenn dieses am Ende ausspricht, was die „Seele“ des Elements unwiderruflich von der des Menschen scheidet, bringt es mit dem Aspekt der Zeitlichkeit schließlich doch wieder das Grundthema des ganzen Gedichts ins Spiel: „Du bleibest, was du warst seit Tag und Jahren, / Ohn’ ein’gen Schmerz der Zeiten zu erfahren.“ Als bewusstloses Sein weiß die Natur nichts von einem Wandel in der Zeit, nichts von Veränderung und Vergänglichkeit; die Kluft zwischen Früher und Heute, die das Ich im Tal – 124 –
Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
von Urach schwindeln macht, ist ihr unbekannt. In dem ein Jahr später entstandenen Gedicht Mein Fluß hat Mörike den Abstand des Menschen von der Natur und das vergebliche Streben nach seiner Überwindung in einem ganz ähnlichen Sinne gestaltet.5 Die am Wasserfall erlebte Enttäuschung treibt das Ich erneut fort; ein weiteres „Hinweg“ eröffnet eine neue Strophengruppe, die wieder drei Stanzen umfasst. In den Mittelpunkt rückt jetzt im „schlichten Winkel“, also in einem begrenzten, idyllischen Raum, das Verhältnis des Sprechers zu seinem eigenen früheren Ich, seinem erinnerten „Ebenbild, in jugendlicher Frische“. Wie so oft bei Mörike erscheinen Kindheit und Jugend in sentimentalischer Perspektive als eine Epoche vor aller Gebrochenheit und Entfremdung, vor jedem „Schmerz der Zeiten“, den man ja erst später, im Rückblick auf einen vergangenen Lebensabschnitt, verspüren kann, und damit auch als eine Phase des ungestörten Einklangs mit der Natur. Bezeichnenderweise erwähnt das Gedicht das Städtchen Urach ebenso wenig wie das Theologische Seminar. Urach – das vergangene, erinnerte – erscheint nicht als Ort des Lernens, der Sozialisation und auch des Zwangs, den äußere Autoritäten ausüben, sondern ausschließlich als Sphäre der unbeschwerten Naturseligkeit und der Freundschaft. In diesen paradiesischen Zustand vorreflexiver Unschuld „sonder Harm“ zurückzukehren, ist der brennende Wunsch des Sprechers, der so gerne wieder eins werden würde mit dem „gute[n] Knabe[n]“, der er einmal war. Und erneut bleibt es dem abschließenden Verspaar vorbehalten, die Enttäuschung zu formulieren, in die solche Bemühungen unausweichlich münden: „Umsonst, daß ich die Arme nach dir strecke, / Den Boden, wo du gingst, mit Küssen decke!“ Von „Erinn’rung“ spricht diese Partie des Textes ausdrücklich, denn angesichts der altvertrauten Umgebung stürmen Erinnerungen unablässig als „entzückte Qualen“ auf das lyrische Ich ein, das sie wie eine Droge begierig einsaugt. Es fragt sich allerdings, ob der Sprecher tatsächlich von bloßer Erinnerungstrunkenheit erfüllt ist oder ob wir es hier nicht eher mit einer starken Tendenz zur Regression zu tun haben. Während nämlich die Erinnerung die Differenz von Einst und Jetzt voraussetzt und anerkennt, um sodann eine Verbindung zwischen beiden zu stiften, strebt die Regression danach, diese Differenz (imaginär) zu tilgen und das Jetzt wieder ins Einst zurückzuführen. Die regressive Sehnsucht nach der früheren harmonischen Geborgenheit, nach unschuldiger Kindheit und Naturnähe aber ist es, der das Ich in Besuch in Urach nachhängt und deren Erfüllung ihm beständig verweigert wird; Trennung, Distanz und der unaufhaltsame Fluss – 125 –
6. Die frühen Gedichte
der Zeit, der auch den Menschen mit sich trägt und verwandelt, sind die Phänomene, die es ebenso krampfhaft wie vergeblich zu leugnen sucht. Die Wende bringt erst der vierte und letzte Abschnitt des Gedichts, der noch einmal drei Strophen umfasst. Der Sprecher, inzwischen völlig verzweifelt, verzichtet jetzt darauf, seinen Standort zu wechseln und damit vor den fortgesetzten Enttäuschungen davonzulaufen. Im pointierten Gegensatz zu den Strophen 4 und 7 setzt die zehnte damit ein, dass er einfach „laut schluchzend“ am Boden liegen bleibt; der identische Reim „Lauf “ – „Lauf “ spiegelt seine Resignation und die (scheinbare) Ausweglosigkeit der Lage. Aber dann tritt ein Umschwung ein, der neue Möglichkeiten eröffnet. Er kommt zunächst von außen und, wie in vielen Gedichten Mörikes, ganz unvermutet: „Da, plötzlich, hör’ ich’s durch die Lüfte treiben, / Und ein entfernter Donner schreckt mich auf “. Das aufziehende Gewitter ist ein rein gegenwärtiges Ereignis und übt zudem als erhabener Naturvorgang auf das lyrische Ich dieselbe belebende Wirkung aus, die wir schon von Mörikes eigenen Gewittererlebnissen her kennen: Die gewaltsame Entladung versetzt die seelischen Kräfte des Sprechers – sein „ganzes Wesen“ – in eine heilsame Spannung. Statt sich weiter in der Natur oder in der Vergangenheit auflösen zu wollen, stellt er sich nun als faszinierter Beobachter einem „wundervolle[n] Schauspiel“ gegenüber, das im Hier und Jetzt direkt vor seinen Augen und Ohren abrollt. Damit ist die Lösung aus den regressiven Verstrickungen gelungen und das Ich des Gedichts, „wie neu genesen“, gleichsam in der Gegenwart und letztlich auch bei sich selbst angekommen. Jetzt erst kann es dem geliebten Tal den Rücken kehren, von seiner Vergangenheit Abschied nehmen und sie zugleich als erinnerte mit sich tragen – den „Engel“ dieser Gegend, dessen künftiges „Geleit“ es sich erhofft, darf man wohl als den verkörperten Repräsentanten einer solchen Erinnerung verstehen. Folglich haben wir mit Besuch in Urach nicht nur ein Zeit- und Erinnerungsgedicht, sondern auch ein Gedicht der Reifung, ja der Subjektwerdung vor uns. Die Verse schildern die Genese eines buchstäblich selbstbewussten Individuums in der Überwindung regressiver Verlockungen zugunsten der echten Erinnerung, mit deren Hilfe der Einzelne die Vergangenheit als Teil seiner persönlichen Identität bewahrt, ohne dabei rettungslos von ihrem verführerischen Sog überwältigt zu werden. Nicht die imaginäre Rückkehr in einen früheren Zustand kindlicher Harmonie verbürgt die Einheit des Ich, sondern die Anerkennung des Wandels, der sich in der Zeit vollzieht und den Gedächtnis und Erinnerung ins Bewusstsein zu heben vermögen. So wird das Tal von Urach für den – 126 –
Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
Sprecher zum Ort einer metaphorischen Wiedergeburt, zu „[s]eines Lebens andre[r]“ – zweiter – „Schwelle“. Besuch in Urach präsentiert die Erinnerung als eine Kraft, die den „Schmerz der Zeiten“ dämpft, ohne doch die Zeitlichkeit als unabänderliche Grundvoraussetzung der menschlichen Existenz zu verleugnen. In Mörikes Lyriksammlung folgt auf dieses Werk seit der ersten Auflage ein anderes Erinnerungsgedicht, das eher die poetologische Dimension des Themas hervorhebt, indem es den Zusammenhang von Erinnerung und dichterischer Inspiration beleuchtet. Der Text entstand allerdings erst 1837 und damit in einer Phase, in der man – nach einer zugegebenermaßen recht groben Einteilung – den Übergang von Mörikes früher zu seiner mittleren und späten Lyrik ansetzen kann, weil er damals jene Vorliebe für antike Versformen entwickelte, die sein Schaffen fortan in hohem Maße prägen sollte. Das Gedicht lässt diese Neuorientierung bereits erkennen, obwohl es kein antikes Metrum im strengen Sinne aufweist: An eine Äolsharfe Tu semper urges flebilibus modis Mysten ademptum: nec tibi Vespero Surgente decedunt amores, Nec rapidum fugiente Solem. Hor.
Angelehnt an die Epheuwand Dieser alten Terrasse, Du, einer luftgebornen Muse Geheimnißvolles Saitenspiel, Fang’ an, Fange wieder an Deine melodische Klage!
Ihr kommet, Winde, fern herüber, Ach! von des Knaben, Der mir so lieb war, Frisch grünendem Hügel. Und Frühlingsblüthen unterweges streifend, Übersättigt mit Wohlgerüchen, Wie süß bedrängt ihr dieß Herz! Und säuselt her in die Saiten, Angezogen von wohllautender Wehmuth, Wachsend im Zug meiner Sehnsucht, Und hinsterbend wieder.
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6. Die frühen Gedichte
Aber auf einmal, Wie der Wind heftiger herstößt, Ein holder Schrei der Harfe Wiederholt, mir zu süßem Erschrecken, Meiner Seele plötzliche Regung; Und hier – die volle Rose streut, geschüttelt, All’ ihre Blätter vor meine Füße! (1.1, S. 48)
Das Motto führt das zentrale Thema der Totenklage ein. Es entstammt dem neunten Gedicht im zweiten Buch der Oden des Horaz und lautet in einer modernen Übersetzung: „Du aber bejammerst stets in kläglichen Liedern / Den Verlust deines Mystes, und weder, wenn der Abendstern / Aufgeht, schwindet dein Liebesleid / Noch wenn er vor der sengenden Sonne flieht.“6 Die horazische Ode in ihrer Gesamtheit warnt allerdings vor der übermäßigen Trauer um einen Verstorbenen und sucht den Angesprochenen zu ermuntern und zu trösten; daher gelingt es Mörike nur durch die Isolierung der vier Zeilen von ihrem ursprünglichen Kontext, eine ungebrochene elegische Stimmung zu beschwören. Zugleich schafft das Zitat der lateinischen Verse jedoch Distanz, indem es auf bestimmte literarische Muster und Traditionen verweist, an die Mörike mit seiner kunstvoll gestalteten lyrischen Klage anknüpft – von erlebnishafter Unmittelbarkeit kann hier also keine Rede sein. Und schließlich setzt das Horaz-Motto auch ein metrisches Signal, denn die freirhythmischen, aber keineswegs völlig regellosen Verse von An eine Äolsharfe umspielen „als Variation oder metrisch-rhythmische Paraphrase einer horazischen Ode“ die Form der von dem römischen Dichter verwendeten alkäischen Strophe.7 Eine besonders auffallende und quasi als rhythmisches Leitmotiv fungierende metrische Figur ist dabei der aus einem Daktylus und einem Trochäus zusammengefügte Adoneus, dessen Bezeichnung sich von dem griechischen Wehruf über den toten Götterliebling Adonis herleitet; die Verse 9 und 10 bilden beispielsweise jeweils einen Adoneus.8 So erweist sich Mörikes Gedicht bis ins kleinste formale Detail als ein hochgradig artifizielles Gebilde. Sogar die Lautfärbung zeugt noch von der künstlerischen Sorgfalt des Verfassers: Die „wohllautende Wehmut“ des Harfenspiels bildet sich in der w-Alliteration unmittelbar ab, so wie auch die Zeile „Wie der Wind heftiger herstößt“ beinahe lautmalerisch anmutet. Im Übrigen gewinnt das Werk durch eine Fülle von Assonanzen eine Musikalität, die seinem Gegenstand vollkommen angemessen ist und das Fehlen von Reimen fast übersehen lässt. – 128 –
Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
Die Verbindung wehmütiger Trauer mit den „Wohlgerüchen“ des Frühlings macht dieses Gedicht zu einem Paradefall der von Mörike so sehr geliebten gemischten Empfindungen, und folgerichtig stellt das Oxymoron als deren adäquates rhetorisch-stilistisches Ausdrucksmittel die beherrschende Stilfigur der Verse dar: „melodische Klage“, „süß bedrängt“, „wohllautende Wehmuth“, „holder Schrei“, das „süße Erschrecken“. Ambivalent ist noch das einprägsame Schlussbild, da man im plötzlichen Fallen der Rosenblätter ebenso ein verschwenderisches Geschenk der Natur an das lyrische Ich wie einen Vorgang der Zerstörung sehen kann. Wie eng die Klänge der Äolsharfe für Mörike mit traurig-schönen Erinnerungen verbunden waren, wissen wir schon aus dem Kapitel über Ludwigsburg, und die biographischen Verästelungen lassen sich noch weiter verfolgen, da man sich unter dem geliebten „Knaben“ zweifellos den 1824 verstorbenen August, den jüngeren Bruder des Dichters, zu denken hat, über den er unmittelbar nach dessen Tod schrieb: Ich selber hab es sonst nicht so gewußt, wie unaussprechlich schön der Zußam menhang Seines Lebens war mit dem Meinigen! Jezt da es zerrissen ist merk ich villeicht erst daß es 2 Leben waren. […] Es war Niemand auf Erden, den ich so lieben, den ich so lauter! so ganz zu jeder Zeit in d. Arm nehmen konnte, wie Ihn. Und ich weiß auch das, daß ich Niemals werde anders empfinden lernen. (10, S. 65)
Noch 1848 fiel Mörike bei der Erwähnung seiner Heimatstadt die künstliche Ruine im Schlosspark mit ihren „Äolsharfen“ ein, denen er als Kind zu lauschen pflegte, und von dort führten ihn seine Gedanken unmittelbar zu Augusts Grab auf dem Ludwigsburger Friedhof (15, S. 248). Wichtiger als die biographischen Aspekte des Gedichts sind jedoch die poetologischen, die bereits durch die Variation des klassischen Musenanrufs zu Beginn angedeutet werden. Der Rückgriff auf diesen uralten Topos konnte im 19. Jahrhundert leicht zur bloßen Bildungsreminiszenz geraten, doch Mörike beweist auch hier sein bemerkenswertes Talent, literarischen Überlieferungen durch eine originelle Abwandlung neues Leben einzuflößen, indem er den Wind als eine „luftgeborne Muse“ auffasst, die auf den Saiten der Harfe spielt, und diese Wendung wiederum in die implizite Poetik seines Gedichts integriert. Die (Äols-)Harfe ist nämlich ihrerseits ein traditionelles Sinnbild des Dichters oder Sängers (ähnlich übrigens wie der „Epheu“), und in einem Brief an Luise Rau, aus dem schon weiter oben zitiert wurde, vergleicht Mörike das empfängliche, schöpferisch gestimmte Gemüt ausdrücklich mit „jene[n] Harfen auf denen die Luft – 129 –
6. Die frühen Gedichte
spielt“ (11, S. 66). Auch in An eine Äolsharfe verschmilzt das Instrument geradezu mit der seelischen Innenwelt des Sprechers, etwa in den letzten Zeilen des zweiten Versabschnitts und erst recht ganz am Schluss, wo der „holde Schrei der Harfe“ die „plötzliche Regung“ der „Seele“ wiederholt. Nimmt man dies alles zusammen, lässt sich die poetologische Dimension des Werkes vollständig rekonstruieren: Die „luftgeborne Muse“ steht für die Inspiration des Dichters – ein ‚Einhauchen‘ im ganz buchstäblichen Sinne! –, während dessen poetische Rede in den Klängen der Harfe ihr Analogon findet. Quelle der Inspiration aber ist die Erinnerung, denn die Winde kommen ja „fern herüber, / Ach! von des Knaben, / Der mir so lieb war, / Frisch grünendem Hügel“; ihr Wehen schließt im Gedenken an den Toten die Tiefen der Vergangenheit auf. So bildet die wehmütige Erinnerung als Ursprungsgrund und Gegenstand der Dichtung das eigentliche Thema dieser Verse. Doch Mörikes Verhältnis zu Zeit und Vergänglichkeit wird nicht ausschließlich von der Erinnerung beherrscht. Immerhin konfrontiert die Schlusspartie von An eine Äolsharfe die elegische Erinnerungsseligkeit des Sprechers mit dem zu höchster Intensität gesteigerten Erleben des gegenwärtigen Augenblicks, und eine ähnliche hellwache Besinnung auf das Hier und Jetzt war schon in An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang sowie in Besuch in Urach jeweils am Ende zu beobachten. In der Tat ist Mörikes Neigung, eine momentane Erfahrung lyrisch festzuhalten, ja diesen Moment geradezu aus dem Fluss der Zeit zu lösen und als einen absoluten zu feiern, ebenso stark ausgeprägt wie seine Vorliebe für das Phänomen der Erinnerung. Peter von Matt hat diesen „magische[n] Augenblick“ bei Mörike, der gleichermaßen „in der Zeit und außerhalb der Zeit“ liegt, treffend als „Niemandszeit“ bezeichnet.9 Eines der berühmtesten Gedichte des Autors, das im Jahre 1827 entstand, stellt „Niemandszeit“ und Erinnerung als zwei unterschiedliche Weisen des Umgangs mit der Erfahrung der Zeitlichkeit einander direkt gegenüber: Um Mitternacht
Gelassen stieg die Nacht an’s Land, Lehnt träumend an der Berge Wand, Ihr Auge sieht die goldne Wage nun Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn; Und kecker rauschen die Quellen hervor, Sie singen der Mutter, der Nacht, in’s Ohr Vom Tage, Vom heute gewesenen Tage.
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Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
Das uralt alte Schlummerlied, Sie achtet’s nicht, sie ist es müd’; Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch, Der flücht’gen Stunden gleichgeschwung’nes Joch. Doch immer behalten die Quellen das Wort, Es singen die Wasser im Schlafe noch fort Vom Tage, Vom heute gewesenen Tage. (1.1, S. 155)
In einer für Mörikes Lyrik an sich recht untypischen Weise präsentieren diese Strophen so etwas wie ein absolutes Bild. Wir haben es nicht mit einem klar konturierten lyrischen Ich zu tun, das von einem bestimmten Standpunkt aus eine Landschaft wahrnimmt, sondern mit einer anonymen Sprechinstanz, deren Perspektive abrupt zwischen Totale und Nahaufnahme wechselt, wenn sie einerseits den weiten, von der Nacht erfüllten Raum bis zu den Bergen und andererseits unmittelbar daneben das Detail der plätschernden Quellen erfasst. Eine ungemein plastische Gestalt gewinnt dabei das Verhältnis der beiden Naturphänomene, die hier als personifizierte Akteure auftreten, zur Zeit. Der Nacht ordnet das Gedicht die gelassene Konzentration auf den gegenwärtigen Moment der Mitternacht zu: In der Vision der im Gleichgewicht ruhenden „goldne[n] Wage“ wird die Zeit ihrer Dynamik beraubt, zu einem statischen Gebilde vergegenständlicht und damit anschaubar. Die ersten Verse der zweiten Strophe verstärken die Intensität dieses Erlebnisses durch eine Synästhesie – „Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch“ –, wahren aber gleichwohl den Vorrang der visuellen Wahrnehmung, indem sie mit dem „gleichgeschwung’ne[n] Joch“, das die Eile der „flücht’gen Stunden“ stillstellt, ein weiteres räumliches Zustandsbild einführen. Das Joch als schwer lastendes Tragegerät will zwar nicht recht zu der Schwerelosigkeit des Moments und seinem reinen Genuss passen, doch möglicherweise hat Mörike an die Jochbögen eines Gewölbes gedacht, deren architektonisches Gleichmaß dann dem regelmäßigen Gang der Stunden entsprechen würde. Die Verwandlung zeitlicher in räumliche Verhältnisse ist jedenfalls der entscheidende Kunstgriff, mit dem hier der Lauf der Zeit in der mystisch getönten Erfahrung eines ‚ewigen Augenblicks‘ aufgehoben wird. Ganz anders die geschwätzigen Quellen – „keck“ heißt ursprünglich so viel wie lebendig oder lebhaft –, die direkt mit dem Fließen der Zeit assoziiert werden können und sich ausschließlich akustisch vernehmen lassen: unablässig „[v]om heute gewesenen Tage“ sprechend, repräsentieren sie die – 131 –
6. Die frühen Gedichte
Kraft der Erinnerung und damit eine andere Art, der Vergänglichkeit zu begegnen. Das Gedicht vermeidet es sorgfältig, eine Hierarchie dieser beiden Modi des Umgangs mit der Zeit aufzustellen. Gewiss erscheint die Nacht sehr viel würdiger und imposanter, und wenn sie als „Mutter“ apostrophiert wird, darf man in den Quellen die (metaphorischen) Kinder vermuten, doch andererseits sind es paradoxerweise die Quellen, die der Mutter ein „Schlummerlied“ vorsingen und im Text überdies das letzte Wort behalten. So schaffen Mörikes Verse eine kunstvolle Balance zwischen der stillen Weihe der mitternächtlichen „Niemandszeit“ und der quecksilbrigen Unruhe einer Erinnerung, die das Vergangene in der Gegenwart fortdauernd lebendig hält. Seine suggestive Wirkung als ästhetisches Gebilde gewinnt Um Mitternacht aber hauptsächlich durch die vollendete Widerspiegelung des inhaltlichen Gegensatzes auf der Ebene der lyrischen Form. Schon das Druckbild deutet eine Zweiteilung der Strophen an, die der Nacht und den Quellen jeweils eine Hälfte widmen. Die ersten vier Verse schreiten mit vier beziehungsweise fünf Hebungen ruhig im jambischen Gleichmaß voran, wobei der regelmäßige Wechsel von Hebung und Senkung aufgrund der durchgängig männlichen Kadenzen nicht einmal am Zeilen ende gestört wird. Die zweite Strophenhälfte, deren Rhythmus durch eingestreute Doppelsenkungen geprägt ist, wirkt dagegen sehr viel bewegter. Zudem variiert die Verslänge hier beträchtlich; die siebte Zeile weist sogar nur eine einzige Hebung auf. Der refrainartige Strophenschluss mit seinem identischen Reim bildet zunächst den Umstand ab, dass das Rauschen des Wassers bei all seiner Unruhe doch ganz monoton bleibt, aber darüber hinaus verweist die auffallende Wiederholung auch einmal mehr auf das erinnernde ‚Wieder-holen‘ des Vergangenen. Noch vierzig Jahre später verband der Dichter in „Lang, lang ist’s her“ die „süße Wehmuth“ der Erinnerung an „vergangne Zeiten“ mit ähnlichen EchoStrukturen und verglich sie mit dem „[e]intönig sanfte[n] Wellenschlag“ am Strand (1.1, S. 304). Die intensiven Sinneseindrücke eines günstigen Augenblicks, der sich aus dem gleichförmigen Kontinuum des Zeitflusses heraushebt, wirken in Mörikes Gedichten oft ebenso inspirierend wie das Eintauchen in das weite Reich der Erinnerung. Einige Beispiele werden wir später noch kennenlernen; hier sei vorerst nur die vielleicht großartigste Gestaltung einer solchen sinnlichen Epiphanie angeführt, auch wenn wir dafür die zeitliche Grenze, die wir der frühen Lyrik Mörikes gesteckt haben, um mehrere Jahre überschreiten müssen: – 132 –
Inspirationsmomente: Augenblick und Erinnerung
Auf einer Wanderung
In ein freundliches Städtchen tret’ ich ein, In den Straßen liegt rother Abendschein. Aus einem offnen Fenster eben, Über den reichsten Blumenflor Hinweg, hört man Goldglockentöne schweben, Und Eine Stimme scheint ein Nachtigallenchor, Daß die Blüthen beben, Daß die Lüfte leben, Daß in höherem Roth die Rosen leuchten vor.
Lang hielt ich staunend, lustbeklommen. Wie ich hinaus vor’s Thor gekommen, Ich weiß es wahrlich selber nicht. Ach hier, wie liegt die Welt so licht! Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle, Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch; Wie rauscht der Erlenbach, wie rauscht im Grund die Mühle! Ich bin wie trunken, irr’geführt – O Muse, du hast mein Herz berührt Mit einem Liebeshauch! (1.1, S. 157)
Mit der Bemerkung „Ein altes Stück zur guten Stunde verändert“ schickte der Autor dieses Werk am 30. August 1845 an Familie Hartlaub (14, S. 728), und tatsächlich knüpft es an ein Gedicht an, das bereits vier Jahre zuvor entstanden war. Damals hatte Mörike unter dem Titel Auf zwei Sängerinnen eine halb scherzhafte Huldigung an seine musikalisch begabte Verwandte Marie Möricke in Neuenstadt am Kocher verfasst 10, aus der er später einige Verse, die in ihrem ursprünglichen Kontext schon wie ein Fremdkörper wirken, in leicht abgewandelter und ergänzter Form als ersten Abschnitt von Auf einer Wanderung übernahm, während er den zweiten Teil ganz neu schrieb. So ging aus einer anspruchslosen Gelegenheitsarbeit ein Kunstwerk von höchstem Rang hervor, das den privaten Ausgangspunkt weit hinter sich lässt: Das „Städtchen“ und die Sängerin sind jetzt nicht mehr zu identifizieren, und dass die wundersame „Stimme“ überhaupt einer Frau gehört, kann man allenfalls noch aus dem Vergleich mit einem „Nachtigallenchor“ erschließen. In einem gelassenen, prosanahen Berichtston, zu dem die lockere, unregelmäßige Form der Verse passt, hebt Auf einer Wanderung mit der Schilderung einer recht alltäglichen Begebenheit an. Der unspektakuläre – 133 –
6. Die frühen Gedichte
Auftakt dient indes nur dazu, die semantische und ästhetische Verdichtung, die gegen Ende des ersten Versabschnitts erfolgt, umso eindrucksvoller hervortreten zu lassen. Hingerissen von dem Gesang, der plötzlich an sein Ohr dringt, erlebt der Sprecher eine ungeheure Intensivierung seiner Wahrnehmung. Mit dem ab Zeile 7 dreimal anaphorisch wiederholten „Daß“ wechselt er von der vergleichsweise nüchternen Beschreibung seiner Umgebung in die Sphäre ekstatisch gesteigerter subjektiver Eindrücke, die von dem akustischen Impuls stimuliert worden sind: „Daß die Blüthen beben, / Daß die Lüfte leben, / Daß in höherem Roth die Rosen leuchten vor.“ Durch eine virtuos gehandhabte Ballung rhetorisch-stilistischer Mittel, in der Anapher, Alliteration, Assonanz, Reim, Parallelismus und Inversion zusammenwirken, verwandelt Mörike diese Eindrücke, deren Übermaß fast bedrängend wirkt („lustbeklommen“!), auf unnachahmliche Art in Sprache. Im zweiten Abschnitt hält der Taumel der Sinne an, der nun aber aus der Enge der kleinstädtischen Umgebung in die freie „Welt“ der offenen Gegend jenseits des Tores verlegt wird. Stärker noch als zuvor hebt das Gedicht hier den synästhetisch entgrenzenden Charakter des Erlebnisses hervor, der bereits in dem Neologismus „Goldglockentöne“ anklang: Ein Rausch von Farben und Lauten versetzt das Ich in selige Trunkenheit, die sich in euphorischen Ausrufen Luft macht. Werden mit dem Bach und der Mühle Versatzstücke der populären Romantik zitiert, so muten die Verse „Der Himmel wogt in purpurnem Gewühle, / Rückwärts die Stadt in goldnem Rauch“ schon beinahe impressionistisch an. Die Grenzen zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt, zwischen Innen und Außen scheinen aufgehoben, weil der Sprecher im Überschwang des Gefühls seine Wahrnehmungen so wiedergibt, als sei die „Welt“ durch die Macht jenes Gesanges tatsächlich verzaubert worden. Erst ganz am Ende wird eine gewisse Distanzierung, eine Wendung zur Reflexion spürbar, wenn er das Vorgefallene deutend zusammenfasst, indem er es als eine liebevolle Berührung durch die Muse interpretiert. Ein Werk, das einen solchen schöpferischen Kairos glaubhaft evozieren will, muss es kraft seiner ästhetischen Gestaltung dem Rezipienten ermöglichen, die Erfahrung des Ich im Lesen (oder Hören) zu teilen. In Auf einer Wanderung ist das zweifellos geglückt, und so versteht es Mörike auch in diesem Gedicht, die längst zum Klischee geronnene Anrufung der Muse aus ihrer konventionellen Erstarrung zu befreien: Man meint zu spüren, dass hier jemand wirklich noch das Recht hat, vom begeisternden Hauch einer Muse zu sprechen. Und die Muse erweist sich letztlich als – 134 –
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
identisch mit der aufgeregten Einbildungskraft des Sprechers, die ihn dazu befähigt, die Wirklichkeit in einem neuen Licht, eben poetisch zu sehen. Dabei ist diese Poesie durch und durch eine Poesie der Sinne und der Sinnlichkeit, so wie sie ja auch durch einen sinnlichen Eindruck inspiriert wurde, wohingegen das klare Bewusstsein des Ich vorübergehend ganz aussetzt, wenn es sich unvermittelt vor der Stadt in freier Natur wiederfindet, ohne sagen zu können, „[w]ie ich hinaus vor’s Thor gekommen“. Auf einer Wanderung liest sich, die Eingangs- und Schlussverse ausgenommen, wie ein spontanes Erlebnisprotokoll von größter Unmittelbarkeit. Umso wichtiger für das Verständnis von Mörikes Dichtertum ist die Erinnerung an die Entstehungsgeschichte des Werkes, die uns belehrt, dass wir hier nicht etwa den kühnen Wurf eines einmaligen Augenblicks, sondern das Produkt eines umsichtig verfahrenden Kunstwillens vor uns haben, der „zur guten Stunde“ ausführte, was in einem älteren Ansatz an Möglichkeiten angelegt war. In seinen Gedichten über die Erinnerung und über plötzliche Augenblicke beglückender sinnlicher Intensität nähert sich Mörike bereits gewissen ästhetischen Konzepten an, denen man dann in der literarischen Moderne seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert häufiger begegnet. Vor allem aber reflektiert er in diesen Texten, die verschiedene Quellen des Schöpferischen umkreisen, sein Selbstverständnis als Autor, denn sie entfalten in impliziter Form einzelne Aspekte eines poetologischen Programms. Dass Mörikes Nachdenken über Dichtung für gewöhnlich selbst literarische Gestalt annahm, werden wir bestätigt finden, wenn wir später versuchen, seine Grundlinien im Detail nachzuzeichnen.
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik Was im fünften Kapitel über die Vielgestaltigkeit und den Reichtum von Mörikes Lyrik im Allgemeinen gesagt wurde, gilt in besonderem Maße für seine Liebesgedichte, die schon in der frühen Phase seines Schaffens durch eine verblüffende Fülle von Formen, Tönen und inhaltlichen Abstufungen gekennzeichnet sind. Bei der Erörterung dieser unterschiedlichen Spielarten des liebeslyrischen Schreibens darf man die Frage nach ihren biographischen Hintergründen, die vor allem mit den Namen Klara Neuffer und Maria Meyer verknüpft ist, nicht ausblenden, auch wenn sie mit größter Behutsamkeit behandelt werden muss. Mörikes Texte stellen keine – 135 –
6. Die frühen Gedichte
Erfahrungsprotokolle in Versen dar und verraten nichts über äußere lebensgeschichtliche Fakten, aber sie inszenieren mit poetischen Mitteln gewisse Muster des Erlebens und Empfindens, die ihre Wurzeln in der Biographie des Autors haben und doch in ihrer Bedeutung weit über den Einzelfall hinausgehen. So lässt sich hier mustergültig studieren, wie schöpferische Kraft die privatesten Begebenheiten in große Dichtung von überindividueller Geltung verwandelt. Mörikes Jugendliebe war seine gleichaltrige Cousine Klara (oder Clara, Clärchen) Neuffer, die in Benningen und in Bernhausen auf den Fildern im Pfarrhaus ihres Vaters aufwuchs. Seine Neigung wurde zunächst auch erwidert, doch etwa 1821 muss eine Entfremdung eingetreten sein, wie einem Brief an Waiblinger vom Dezember des Jahres zu entnehmen ist: „Aber noch einen Traum hatt ich damals – der mir traurig zeigte, was ich schon seit e ½ Jahre weiß; Ich nannte einst ein Wesen mein, wie Du eines Dein nanntest – Dir wards genommen aber Du hasts noch. ich habs auch verloren aber trauriger, – denn zu einem andern ists übergegangen“ (10, S. 26). Im April 1822 schreibt Mörike ebenfalls von dem quälenden „Bewußtseyn […] verloren zu haben, was mir sonst mein Liebstes war“ (S. 34). Im folgenden Jahr verlobte sich seine Cousine mit Christian August Schmid, der am Tübinger Stift studierte, später Pfarrer wurde und sie 1827 heiratete. Klara starb bereits 1837. Die Forschung hat dieser frühen Liebesbeziehung Mörikes weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der mysteriösen Affäre mit Maria Meyer, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil eine geheimnisvolle Fahrende mit anrüchiger Vergangenheit besser zu dem Klischee der tragischen Dichterliebe passte als eine brave schwäbische Pfarrerstochter. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass der Bruch mit Klara für den Heranwachsenden eine tiefe Erschütterung bedeutete, die ihm lange nachging. Des Öfteren träumte er „mit einem unnenbar freudigen Grauen“ von der verlorenen Geliebten (10, S. 69), während er es gleichzeitig ängstlich vermied, ihr noch einmal zu begegnen. Mindestens zeitweilig geriet er schon bei dem bloßen Gedanken an ein solches Treffen in Panik: „Ich bitte Dich, o beste Luise“, schrieb er seiner Schwester 1824 aus Tübingen, „ist es denn nicht möglich eine Zußammenkunft mit Ihr zu vermeiden?“ (10, S. 71)11 Als er drei Jahre später Vikar in Köngen wurde und damit ausgerechnet die Nachfolge von Christian Schmid antrat, der inzwischen eine feste Pfarrstelle erhalten hatte, nahm er diesen Zufall in einem Brief an Hartlaub zum Anlass für einige zynische Bemerkungen, die nur allzu deutlich die Bitterkeit des Zurückgesetzten verraten: – 136 –
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
Mein Vorfahr ist […] HE. Christian Schmidt, den Klärchen Neuffer glücklich macht […]. Er ist nun angestellt u. läßt mich in seine alten Fußstapfen treten, so wie ich ihn einmal in die meinigen; das ist doch billig von ihm, gelt? Ein Dienst ist des andern werth! Ernstlich aber, schon mehrmal hab ich bemerkt und neulich besonders, daß das gute u. einst verblendete Klärchen eine – Reue in dieser Sache vor sich selber verbirgt. […] Ich prophezeyhe hier auf diesem Papier: entweder wird ihr der S. später zur Last, oder die Zeit und Gewohnheit wird sie unter sich selbst erniedern. (S. 158f.)
Und wenn das Gedicht Vicia faba minor tatsächlich, wie man vermutet hat, aus Anlass von Klaras Tod entstanden ist, muss der Gedanke an die frühe Liebesbindung dem Autor noch im Jahre 1837 tiefe Qual bereitet haben. In diesem Doppeldistichon mischt sich die Anklage der „Verführerin“ mit Trauer und schmerzlich lockenden sehnsüchtigen Erinnerungen: Fort mit diesem Geruch, dem zauberhaften: Er mahnt mich An die Haare, die mir einst alle Sinne bestrickt. Weg mit dieser Blüthe, der schwarz und weißen! Sie sagt mir, Daß die Verführerin, ach! schwer mit dem Tode gebüßt. (1.1, S. 165)
Allerdings war Mörike auch selbst von Schuldgefühlen nicht ganz frei, wie beispielsweise einer der Briefe an Waiblinger andeutet, in denen von Klara die Rede ist: „Sie wird mir wieder viel lieber u. anmuthiger, u. ich glaube, Ihr Unrecht gethan zu haben, wünsche, jezt gleich zu ihr zu können um alles wieder Gut zu machen womit ich sie in meiner falschen Meynung beleidigte“ (10, S. 34). Es wäre unsinnig, die Erlebnisse des Dichters mit Klara Neuffer zum einen und mit Maria Meyer zum anderen gegeneinander ausspielen oder aufrechnen zu wollen, doch gilt es festzuhalten, dass ein Grundthema seiner Liebeslyrik, nämlich der Motivkomplex von Untreue, Schuld und Reue, sich offenkundig bereits aus dem Scheitern seiner Kinder- und Jugendliebe herleitete. Das Ende der Beziehung zu Klara konfrontierte ihn erstmals mit der prinzipiellen Unzuverlässigkeit und Unbeständigkeit selbst der engsten zwischenmenschlichen Bindungen, und diese Erfahrung muss sich verheerend auf sein ohnehin labiles seelisches Gleichgewicht ausgewirkt haben – wir werden noch in unterschiedlichen Zusammenhängen auf Spuren des Traumas stoßen. Auch suchte er bereits damals Zuflucht in einer dichterischen Verarbeitung seiner Bedrängnisse. 1822 entstand das Gedicht Erinnerung, das er in seiner Sammlung unmittelbar hinter An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang platzierte. Wir zitieren es in der Fassung der vierten Auflage: – 137 –
6. Die frühen Gedichte
Erinnerung An C.N.
Jenes war zum letztenmale, Daß ich mit dir ging, o Clärchen! Ja, das war das letztemal, Daß wir uns wie Kinder freuten. Als wir eines Tages eilig Durch die breiten, sonnenhellen, Regnerischen Straßen, unter Einem Schirm geborgen, liefen; Beide heimlich eingeschlossen Wie in einem Feeenstübchen, Endlich einmal Arm in Arme!
Wenig wagten wir zu reden, Denn das Herz schlug zu gewaltig, Beide merkten wir es schweigend, Und ein Jedes schob im Stillen Des Gesichtes glüh’nde Röthe Auf den Widerschein des Schirmes. Ach, ein Engel warst du da! Wie du auf den Boden immer Blicktest, und die blonden Locken Um den hellen Nacken fielen.
„Jetzt ist wohl ein Regenbogen Hinter uns am Himmel“, sagt’ ich, „Und die Wachtel dort im Fenster, Däucht mir, schlägt noch eins so froh!“ Und im Weitergehen dacht’ ich Unsrer ersten Jugendspiele, Dachte an dein heimathliches Dorf und seine tausend Freuden. – „Weißt du auch noch“, frug ich dich, „Nachbar Büttnermeisters Höfchen, Wo die großen Kufen lagen, Drin wir Sonntags nach Mittag uns Immer häuslich niederließen, Plauderten, Geschichten lasen, Während drüben in der Kirche Kinderlehre war – (ich höre Heute noch den Ton der Orgel
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Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
Durch die Stille rings umher): Sage, lesen wir nicht einmal Wieder wie zu jenen Zeiten – Just nicht in der Kufe, mein’ ich – Den beliebten Robinson?“ Und du lächeltest und bogest Mit mir um die letzte Ecke.
Und ich bat dich um ein Röschen, Das du an der Brust getragen, Und mit scheuen Augen schnelle Reichtest du mir’s hin im Gehen: Zitternd hob ich’s an die Lippen, Küßt’ es brünstig zwei- und dreimal; Niemand konnte dessen spotten, Keine Seele hat’s gesehen, Und du selber sahst es nicht. An dem fremden Haus, wohin Ich dich zu begleiten hatte, Standen wir nun, weißt, ich drückte Dir die Hand und – Dieses war zum letztenmale, Daß ich mit dir ging, o Clärchen! Ja, das war das letztemal, Daß wir uns wie Kinder freuten. (1.1, S. 13–15)
Gibt der Titel die beherrschende Erinnerungsperspektive vor, so beschwören die Eingangsverse mit dem ‚letzten Mal‘ einen tiefen Einschnitt in der Vergangenheit, einen Bruch, den die Erinnerung wieder ins Bewusstsein hebt, indem sie zugleich eine Brücke zu dem schlägt, was vorher war – daraus ergibt sich auch hier die ambivalente Stimmung beglückender Wehmut, die sämtliche Erinnerungsdichtungen Mörikes durchdringt. Vergangen und unwiderruflich verloren ist für den Sprecher die innige Vertrautheit mit der Geliebten seiner jungen Jahre, die ihm das Gefühl einer umfassenden Geborgenheit vor jeder Entfremdung und Trennung vermittelte. Herzklopfen, Erröten und beiderseitige Verlegenheit deuten auf das erste Erwachen zaghafter erotischer Wünsche hin, die in dem „Röschen“ ihr Sinnbild finden und an denen augenscheinlich noch nicht das Stigma der Schuld und der Sünde haftet. Damit bewahrt diese Erinnerung gleichsam einen Hauch des Paradieses, der fast überall zu spüren – 139 –
6. Die frühen Gedichte
ist, wo Mörike von der Kindheit spricht, und die Wendung „wie Kinder“ bietet denn auch den besten Schlüssel zum Verständnis des Gedichts. Das „Feeenstübchen“, in dem die beiden „heimlich eingeschlossen“ sind, bildet als eines jener intimen Refugien, die Mörike so liebte, ein räumliches Gegenstück der Geborgenheitsempfindung, ebenso wie die „großen Kufen“ im Hof des „Büttnermeisters“, auf die sich der Sprecher in einer zweiten Erinnerung innerhalb der Erinnerung besinnt. Doch das Kindheitsparadies kann eben nur im sehnsüchtigen elegischen Rückblick gepriesen werden; erst als verlorenes wird es der Reflexion und der Sprache zugänglich. Warum es zum Bruch mit Clärchen kam, bleibt im Gedicht offen. Auffällig ist immerhin, dass die Verse keinen unmittelbaren Einblick in das Gefühlsleben des Mädchens gewähren, das nie das Wort ergreift und den Vorschlag, den alten Kinderbund durch eine Wiederaufnahme der gemeinsamen Lektüre neu zu bekräftigen, nur mit einem vieldeutigen Lächeln quittiert. Was drückt dieses Lächeln aus: Rührung, Wehmut oder vielleicht sogar milden Spott über die kindischen Phantasien des Gefährten? Teilte Clärchen, der „Engel“, bei jenem Spaziergang überhaupt noch die Seligkeit des jugendlichen Sprechers, wie der es ganz selbstverständlich unterstellt? Auch das „fremde Haus“, das Ziel ihres gemeinsamen Ganges, wirkt wie ein unheilvolles Vorzeichen, wie eine Vorausdeutung auf die Fremdheit und Entzweiung, die über kurz oder lang zwischen den beiden jungen Leuten eintreten wird. In der Gegenwart des lyrischen Ich ist dies jedenfalls längst geschehen: Die Schlusszeilen, die den Gedichteingang fast wörtlich wiederholen, akzentuieren noch einmal den schmerzlich empfundenen Abstand zwischen Einst und Jetzt, aus dem die produktive – poetische – Kraft der Erinnerung erwächst. Und so ist die Anrede an Clärchen, die dem gesamten Gedicht als Gestus zugrunde liegt, wohl nur eine imaginäre, die ihre Adressatin gar nicht mehr erreicht, ein vergeblicher Versuch, die Kluft zu überbrücken, die den Sprecher inzwischen von der Geliebten früherer Tage trennt. In Mörikes Sammlung folgt auf Erinnerung das Gedicht Nächtliche Fahrt, das ebenfalls in den Umkreis der unglücklichen Liebe zu Klara Neuffer gehört. Es wurde geschrieben, noch bevor Mörike in den Osterferien 1823 Maria Meyer kennenlernte12, weshalb wir bei der Analyse alle Versuche der älteren Forschung, die Verse auf diese neue Affäre zu beziehen, beiseite lassen können. Damit erübrigen sich auch die vom Text ohnehin nicht gedeckten Spekulationen, wonach hier von zwei verschiedenen Frauen die Rede sei, die man mit Klara und Maria in Verbindung bringen müsse. – 140 –
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
Nächtliche Fahrt
Jüngst im Traum ward ich getragen Über fremdes Heideland; Vor den halbverschlossnen Wagen Schien ein Trauerzug gespannt.
Dann durch mondbeglänzte Wälder Ging die sonderbare Fahrt, Bis der Anblick offner Felder Endlich mir bekannter ward. Wie im lustigen Gewimmel Tanzt nun Busch und Baum vorbei! Und ein Dorf nun – guter Himmel! O mir ahnet, was es sei. Sah ich doch vor Zeiten gerne Diese Häuser oft und viel, Die am Wagen die Laterne Streift im stummen Schattenspiel.
Ja, dort unter’m Giebeldache Schlummerst du, vergeßlich Herz! Und daß dein Getreuer wache, Sagt dir kein geheimer Schmerz.
– Ferne waren schon die Hütten; Sieh, da flattert’s durch den Wind! Eine Gabe zu erbitten Schien ein armes, holdes Kind. Wie vom bösen Geist getrieben Werf ’ ich rasch der Bettlerin Ein Geschenk von meiner Lieben, Jene goldne Kette, hin.
Plötzlich scheint ein Rad gebunden, Und der Wagen steht gebannt, Und das schöne Mädchen unten Hält mich schelmisch bei der Hand. „Denkt man so damit zu schalten? So entdeck’ ich den Betrug? Doch den Wagen festzuhalten, War die Kette stark genug. Willst du, daß ich dir verzeihe, Sei erst selber wieder gut!
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6. Die frühen Gedichte
Oder wo ist deine Treue, Böser Junge, falsches Blut?“
Und sie streichelt mir die Wange, Küßt mir das erfrorne Kinn, Steht und lächelt, weinet lange Als die schönste Büßerin.
Doch mir bleibt der Mund verschlossen, Und kaum weiß ich, was geschehn; Ganz in ihren Arm gegossen Schien ich selig zu vergehn. Und nun fliegt mit uns, ihr Pferde, In die graue Welt hinein! Unter uns vergeh’ die Erde, Und kein Morgen soll mehr sein! (1.1, S. 16f.)
Auf Mörikes reges Interesse für Träume werden wir an anderer Stelle noch zu sprechen kommen. In den Werken seiner frühen Jahre spielen sie immer wieder eine bedeutende Rolle, weil sie vielfältige Möglichkeiten bieten, das Zwielichtige und Ambivalente poetisch zu inszenieren und dabei auch solche Regionen des Seelenlebens zu erkunden, die sich der strengen Logik des nüchternen Verstandes entziehen. Nächtliche Fahrt bietet ein gutes Beispiel dafür, denn die Eigenart der offenbar gescheiterten Liebesbeziehung, in deren Bannkreis das lyrische Ich im Traum zurück „getragen“ wird, ist alles andere als klar konturiert. Zwar nimmt der Sprecher zunächst eine eindeutige Rollenverteilung vor, wenn er die Geliebte als „vergeßlich Herz“ apostrophiert, sich selbst dagegen als einsamen „Getreue[n]“ darstellt, der redlich an der verschmähten Neigung festhält. Gleich darauf begeht er aber seinerseits einen Treuebruch, indem er die „goldne Kette“, das „Geschenk“ seiner „Lieben“, der (scheinbar) fremden „Bettlerin“ hinwirft, die ihm wie ein Geist in den Weg tritt – „Sieh, da flattert’s durch den Wind!“ – und sich dann auf geheimnisvolle Weise als identisch mit jener Geliebten erweist. Die Geste des Sprechers ist unmissverständlich: Er will sich endlich von der Bindung, die in der Kette ihr Symbol findet, befreien. Diese Loslösung gelingt jedoch nicht, weil die Kette immer noch die Kraft hat, „den Wagen festzuhalten“ und den Träumer buchstäblich an das Mädchen zu fesseln. Und nun gerät die Frage der Schuldzuweisung vollends ins Ungewisse. Die Geliebte wirft dem Mann „Betrug“ vor und bietet ihm zugleich Verzei– 142 –
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
hung an, die sie im selben Atemzug aber auch für sich erbittet, und während sie ihn an seine wankende „Treue“ erinnert, erscheint sie in seinen Augen als reuige „Büßerin“. So entspricht die dunkle, nächtliche Atmosphäre des Traumgeschehens den Wirren einer zwischenmenschlichen Verstrickung, die nicht mehr mit den verlässlichen Kategorien von eindeutiger Schuld und Verantwortung erfasst werden kann. Obendrein wirkt die Geliebte gerade wegen der zwielichtigen Aura von Treulosigkeit und Reue, die sie umgibt, auf den Sprecher besonders anziehend: Als „schönste Büßerin“ strahlt sie einen pikanten Reiz aus, den die reine Unschuld gewiss nicht besäße. Von diesem Reiz hingerissen, ist das lyrische Ich außerstande, tatkräftig eine Entscheidung zu treffen oder überhaupt noch auf die Anrede des Mädchens zu reagieren. Von dem Augenblick an, in dem der Wagen still steht, bleibt es gänzlich passiv, weiß kaum mehr, wie ihm geschieht, und glaubt in den Armen der wiedergefundenen Geliebten „selig zu vergehn“. Folglich bleibt ihm am Ende nur der sehnliche Wunsch, dieses Erlebnis möge niemals enden und der Traum von einer Rückkehr des alten Liebesglücks nie mehr von einem ernüchternden „Morgen“ verscheucht werden. Seit der frühesten Zeit gehört die Bedrohung der Liebe durch Untreue, Täuschung und Schuld zu den Grundmotiven von Mörikes Lyrik. Das Lied vom Winde stellt diese Gefahr durch einen Vergleich mit dem Element geradezu als naturgegeben hin: „Lieb’ ist wie Wind, / Rasch und lebendig, / Ruhet nie, / Ewig ist sie, / Aber nicht immer beständig“ (1.1, S. 70), und auch das lyrische Ich von Im Frühling gelangt zu der Einsicht, dass die „alleinzige Liebe“ keine feste, sichere Bleibe besitzt: „du und die Lüfte, ihr habt kein Haus“ (S. 42). Auffallend häufig behandelt Mörike das Thema des Liebesverrats in Rollengedichten aus weiblicher Perspektive. Mit Das verlassene Mägdlein, Agnes, Ein Stündlein wohl vor Tag und Suschens Vogel stammen die meisten davon aus den zwanziger und dreißiger Jahren, aber auch noch das späte Gedicht Die Tochter der Heide von 1861 gehört in diese Reihe. Und fast durchweg, nämlich mit der einzigen Ausnahme von Suschens Vogel, tritt die Sprecherin als die Betrogene und Verlassene auf. Das nicht zuletzt dank zahlreicher Vertonungen berühmteste dieser Gedichte, entstanden im Jahre 1829, sei hier etwas näher betrachtet: Das verlassene Mägdlein
Früh, wann die Hähne krähn, Eh’ die Sternlein verschwinden, Muß ich am Herde stehn, Muß Feuer zünden.
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6. Die frühen Gedichte
Schön ist der Flammen Schein, Es springen die Funken; Ich schaue so drein, In Leid versunken. Plötzlich, da kommt es mir, Treuloser Knabe, Daß ich die Nacht von dir Geträumet habe. Thräne auf Thräne dann Stürzet hernieder; So kommt der Tag heran – O ging’ er wieder! (1.1, S. 72)
Bereits in An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang erschien die Morgendämmerung als eine Zeit des Übergangs von der Traumbefangenheit zum wachen Bewusstsein. Eine solche „aufhellende Bewußtseinsbewegung“, wie sie Ulrich Hötzer als typisch für viele Gedichte Mörikes erkannt hat13, zeichnet auch Das verlassene Mägdlein nach. Sie mündet hier allerdings nicht in die beglückende Erfahrung eines schöpferischen Vermögens, sondern in die klare Einsicht des Ich in sein tiefes Unglück. Steht am Anfang nur die nüchtern konstatierte Mühsal der Arbeit, die für das Mädchen noch vor Tageslicht beginnt, so macht sich in der zweiten Strophe zunächst ein vages Gefühl von „Leid“ bemerkbar, auf dessen Ursprung sich die Sprecherin dann in der dritten Strophe besinnt; erst diese Besinnung lässt endlich die Tränen strömen. Ob der nächtliche Traum, der ihr plötzlich wieder einfällt, ein glücklicher war oder nicht, muss freilich dahingestellt bleiben, und so können wir auch nur mutmaßen, was der abschließende Wunsch, dass der neue Tag gar nicht anbrechen möge, zu bedeuten hat: Würde das lyrische Ich am liebsten wieder in die Sphäre des Traums zurückflüchten, weil es dort wenigstens noch einmal die vergangene Seligkeit der Liebe genießen konnte, oder sehnt es sich einfach nach der bewusstlosen Dunkelheit des Schlummers, die jeden Kummer vergessen machen würde? Virtuos nutzt Mörike in Das verlassene Mägdlein die Möglichkeiten des Volksliedtons, den Herder, Goethe und die Romantiker für die deutsche Kunstdichtung erschlossen hatten. Durch die artifiziell erzeugte (vermeintliche) Schlichtheit von Form und Ausdruck, die leicht archaisierende Färbung der Sprache und die inhaltliche Reduktion auf einige wenige einprägsame Elemente – das Mädchen, die Morgendämmerung, – 144 –
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das Feuer, der Traum – stilisiert er die Erfahrung des Liebesleids ins Allgemeingültige und verleiht ihr archetypische Züge. Dieses Verfahren mag ihm dazu gedient haben, ein Sujet, das er als äußerst bedrängend empfand, in der poetischen Gestaltung auf Distanz zu bringen – und seine Vorliebe für Rollengedichte über das Thema „Ach, Lieb’ und Treu’ ist wie ein Traum“ (1.1, S. 28) ließe sich insgesamt als eine Strategie der Maskerade verstehen, die es ihm gestattete, sehr persönliche Empfindungen zugleich zu artikulieren und zu verbergen. Die ausgeprägte Neigung, diese Gedichte weiblichen Figuren in den Mund zu legen und sie als Opfer männlichen Verrats zu zeigen, könnte wiederum in Schuldgefühlen begründet gewesen sein, die den Dichter selbst quälten. Bereits die Trennung von Klara Neuffer scheint ja solche Regungen bei ihm geweckt zu haben, und sein Verhalten gegenüber Maria Meyer war sicherlich dazu angetan, sie wieder aufleben zu lassen. Der Bruch mit seiner Cousine wirkte bei Mörike noch nach, als ihn die Affäre mit Maria in den Jahren 1823/24 in eine neue Krise stürzte. Betrachten wir auch hier zuerst die biographischen Fakten, die schon vor fast hundert Jahren von Paul Corrodi soweit erhellt worden sind, wie es im Nachhinein überhaupt möglich ist.14 Dabei sei es gestattet, in diesem in vieler Hinsicht mysteriösen Fall etwas weiter auszuholen. Maria Meyer kam 1802 in Schaffhausen als uneheliches Kind zur Welt und wuchs verwahrlost und ohne geregelte Erziehung auf. 1817 befand sie sich wahrscheinlich zeitweilig im Gefolge der Baronin von Krüdener, einer christlich-mystisch angehauchten Wanderpredigerin, die damals durch die Schweiz reiste und neben zahlreichen Gläubigen auch allerlei Schaulustige und fragwürdiges Gesindel anzog. Zurück in ihrer Heimatstadt, verbrachte Maria, die man für moralisch verdorben erklärte, einige Zeit im Arbeitshaus, bis sie 1819 wieder aus Schaffhausen verschwand. Noch im selben Jahr lernte sie der junge Schriftsteller und Gelehrte Ernst Münch in Rheinfelden im Aargau kennen, wo sie unter dem Namen Minette als Magd in seinem Elternhaus diente. In seinen Lebenserinnerungen erzählt er von ihrer religiösen Schwärmerei, die dem Wahnsinn nahekam, von ekstatischen Bußübungen, aber auch von den außergewöhnlichen sinnlichen Reizen der jungen Frau.15 Schwer abzuschätzen ist allerdings, wie weit die künstlerische Freiheit ging, die er sich bei der Gestaltung dieser Episoden nahm. Als Mörike 1843 von David Friedrich Strauß auf Münchs Buch aufmerksam gemacht wurde, äußerte er sich jedenfalls sehr abfällig über „das Mangelhafte Übertriebene der Darstellung“ und die „widerliche Eitelkeit des Verf.“, die sich darin kundtue (14, S. 96). – 145 –
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Nachdem sie vorübergehend wieder in Schaffhausen gewesen war, tauchte Maria im Frühjahr 1823 in Ludwigsburg auf. Ein Gastwirt, der sie vor der Stadt ohnmächtig am Straßenrand gefunden hatte, stellte sie als Kellnerin in seinem Lokal ein, wo sie Rudolf Lohbauer traf und auch Mörikes Bekanntschaft machte, als er während der Osterferien Freunde in seiner Heimatstadt besuchte. Über die Einzelheiten der Affäre, die sich nun entspann, sind wir nicht unterrichtet. Maria beeindruckte ihre Verehrer anscheinend nicht nur durch ihre Schönheit, sondern mindestens ebenso sehr durch eine erstaunliche literarische Bildung, die sie im Hause Münchs erworben haben mag, sowie durch die fremdartige Atmosphäre, von der sie umgeben war und die sie durch abenteuerliche Geschichten über ihre Abkunft und ihre Vergangenheit noch zu verstärken wusste. Neben mystischen Neigungen besaß sie, wie es scheint, somnambule Fähigkeiten und praktizierte das magnetische ‚Bestreichen‘; möglicherweise litt sie auch an Epilepsie. Die Faszination Mörikes, der seine Weltund Menschenkenntnis im Theologischen Seminar und im Tübinger Stift hauptsächlich durch die Vermittlung der Literatur erworben hatte, ist begreiflich, schien hier doch mitten im biederen Schwaben ein poetisches Urbild verlockender Weiblichkeit – man könnte auch sagen: ein romantisches Klischee – leibhaftige Gestalt angenommen zu haben! Von Tübingen aus wechselte Mörike Briefe mit Maria, bis sie überraschend Ludwigsburg verließ und nach Heidelberg kam, wo sie erneut Freunde und Gönner fand. Deren Gunst verscherzte sie sich jedoch bald durch eigene Schuld. Was genau vorfiel, bleibt im Dunkeln, aber offenbar war sie entweder nicht willens oder nicht fähig, sich auf Dauer den bürgerlichen Verhaltenskonventionen zu fügen. Mörike jedenfalls, von dem Maler Christian Philipp Köster, einem entfernten Bekannten, über die Vorgänge unterrichtet, distanzierte sich nun und reagierte nicht mehr auf ihre Briefe. Von großer Bedeutung dürften dabei die beredten Warnungen seiner frommen und sittenstrengen Schwester Luise gewesen sein, der er am 26. Januar 1824 schrieb: „Warum sollt’ ich Dir in Bezug Maria’s nicht getraut haben? Du scheinst nach Deinem lezten Schreiben halb u. halb daran zu zweifeln. Aber ich antwordtete Ihr nicht. […] Ihr Leben, – so viel ist gewiß, hat aufgehört in das Meinige weiter einzugreifen, als ein Traum den ich gehabt und der mir viel genüzt“ (10, S. 48). Diese Überzeugung sollte sich freilich als irrig erweisen. Mörike machte auch Ludwig Bauer zum Vertrauten seiner Herzensangelegenheiten, der die Eröffnungen des Freundes im März oder April 1824 in dem Gedicht Geheimniß. An E.M. poetisch festhielt.16 Hier finden – 146 –
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sich bereits einige Motive, die später in die Peregrina-Gedichte eingingen, darunter vor allem die ambivalente Stilisierung der Geliebten als „heil’ge Sünderin“. Doch Anfang Juli sah sich Mörike plötzlich wieder mit der Vergangenheit, die er längst abgeschlossen glaubte, konfrontiert, als Maria unvermutet in Tübingen erschien. Er suchte sie in Begleitung seines Kommilitonen Rudolf Flad auf, flüchtete dann aber erst in die Krankheit, bald darauf in den Schoß der Familie und nicht zuletzt – in die Dichtung, denn in diesen Tagen entstand das älteste der PeregrinaGedichte („Ein Irrsal kam …“), das im Zyklus später den dritten Platz einnahm. Laut einem Tagebucheintrag von Luise Mörike sprach ihr Bruder in einem nicht erhaltenen Brief „in einer heftig schmerzlichen ja fast kranken Bewegung des Gemüthes“ den dringenden Wunsch aus, nach Stuttgart zu seinen Verwandten kommen zu dürfen, „um hier wieder an Geist und Körper zu geneßen, besonders Mariens Nähe zu entfliehn“.17 Nachdem Bauer in einem ausführlichen Schreiben seinen angegriffenen Zustand bestätigt hatte18, erwirkte Luise ein ärztliches Attest, das Eduard im Stift mit einem Antrag auf Urlaub vorlegen konnte. Von Bauer und Mährlen eskortiert, fuhr er am 16. Juli nach Stuttgart. Einige Wochen später kehrte Maria Meyer in ihre Heimat zurück. Im Frühjahr 1826 kam sie noch einmal nach Tübingen, doch Mörike weigerte sich entschieden, sie wiederzusehen. Nach weiteren unsteten Wanderjahren lenkte sie ihr Leben schließlich in ruhigere Bahnen. In Schaffhausen lernte sie den Tischlergesellen Andreas Kohler kennen, den sie 1836 heiratete. Das Ehepaar wohnte in Winterthur, wo Maria als Putzmacherin Arbeit fand, später in Wilen im Thurgau. Zu Wohlstand brachten es die beiden nicht; sie lebten zurückgezogen und hatten keine Kinder. Maria Kohler, geb. Meyer starb 1865 an der Wassersucht. Echte Einblicke in die Persönlichkeit dieser Frau gewährt die spärliche Überlieferung nicht, zumal es keine Zeugnisse aus ihrer eigenen Perspektive gibt und man sie daher immer nur in den mannigfachen Bildern und Projektionen anderer zu Gesicht bekommt. Mörike vermied zeitlebens offene Äußerungen über sie und scheint manche Spuren sogar zielstrebig beseitigt zu haben. Nur 1843 taucht Maria Meyer noch einmal flüchtig in dem schon oben zitierten Brief auf, in dem er sie vielsagend seiner „Nolimetangere-Vergangenheit“ zurechnet (14, S. 96). Aber gerade die Leerstellen, die hier klaffen, haben eine ungemein suggestive Wirkung auf die Phantasie späterer Betrachter ausgeübt, wovon neben manchen literarischen Bearbeitungen der Geschehnisse, unter anderem von Peter Härtling und Hermann Lenz, auch die nicht nachlassende Faszination der Mörike-Forschung für – 147 –
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den gesamten biographischen und poetischen ‚Peregrina-Komplex‘ zeugt. Peter von Matt beispielsweise charakterisiert Mörikes Erlebnis mit Maria Meyer als „eine Begegnung, die den jungen Mann aus allen Ordnungen wirft, innerlich umschafft, an die Grenzen stellt. Er ist überfordert und kommt beinahe um. Gleichzeitig wird er darüber von einem freundlichen Gelegenheitsdichter zum großen, autochthonen Autor, auf Lebenszeit.“19 Doch eine solche pointierte Deutung, die in unterschiedlichen Formulierungen häufiger anzutreffen ist, entwirft in dem Bemühen, eine eingängige Formel für Leben und Schaffen des Dichters zu finden, ein allzu schlichtes Schema. Sicherlich gäbe es ohne Maria Meyer weder die Peregrina-Gedichte noch den Roman Maler Nolten, und die Vermutung liegt nahe, dass das Schreiben als fiktionale Inszenierung von (inneren) Erfahrungen und daran geknüpften Wunschphantasien und Ängsten in diesen Fällen auch der Selbsttherapie des Dichters nach einer Reihe zutiefst aufwühlender und verstörender Vorfälle diente; immerhin haben ihn die genannten Werke und ihre Bearbeitung über Jahrzehnte hin beschäftigt. Gleichwohl kann das sogenannte ‚Peregrina-Erlebnis‘ nur als eine, wenn auch besonders markante Manifestation eines wiederkehrenden Musters in Mörikes Existenz gelten: Angesichts von Herausforderungen, die über seine Kräfte gingen und sein schwankendes seelisches Gleichgewicht gefährdeten, griff er zu gewissen typischen Strategien des Rückzugs und der Absicherung, zu denen insbesondere die Verarbeitung im Medium der Dichtung gehörte. So erinnert sein Umgang mit den Kalamitäten, in die ihn Maria Meyer stürzte, in vielen Punkten an sein Verhalten nach dem Bruch mit Klara Neuffer – die späteren Ereignisse reaktivierten Erlebnisweisen und traumatische Erfahrungen aus früherer Zeit und mit ihnen auch die spezifischen Techniken, mit denen Mörike die bedrohte Integrität seines Selbst verteidigte. Gedichte wie Erinnerung und Nächtliche Fahrt belegen zudem eindrucksvoll, dass er schon vor der Affäre mit Maria Meyer kein harmloser „Gelegenheitsdichter“ mehr war! Weitgehend neu aber ist im Korpus der poetischen Schöpfungen, die sich eindeutig der Begegnung mit Maria verdanken, die Rolle der erotischen Verlockung, die hier zu einer weiteren Quelle ambivalenter Gefühlsregungen wird. Der Ursprung von Mörikes vielumrätselten und vielinterpretierten Peregrina-Gedichten liegt, wie erwähnt, im Sommer 1824, als die Krise ihren Höhepunkt erreichte: Eine Abschrift des ältesten Stückes von Hartlaubs Hand ist auf den 6. Juli datiert. Möglicherweise gehört auch das andere freirhythmische Gedicht der Reihe („Aufgeschmückt ist der Freudensaal …“) bereits in diese Zeit. Die übrigen drei Texte verfasste Mörike – 148 –
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bis spätestens 1828, denn aus diesem Jahr gibt es Handschriften von sämtlichen fünf Stücken. Bei der ersten Veröffentlichung des Zyklus, die – ohne übergreifenden Titel – 1832 im Rahmen des Maler Nolten erfolgte, verzichtete der Autor allerdings auf das Gedicht „Warum, Geliebte, denk’ ich dein …“. Dennoch werden wir uns im Folgenden auf diese Version beziehen (3, S. 362–364), die von allen publizierten Fassungen der Entstehungszeit des Ensembles am nächsten liegt.20 In Maler Nolten ist der Schauspieler und Dichter Larkens der Verfasser der Gedichte, dem die Erlebnisse seines Freundes Nolten mit der geheimnisvollen Zigeunerin Elisabeth als Inspirationsquelle dienen: „Ohne Zweifel hatte Larkens einmal die Absicht gehabt, die Geschichte mit der Zigeunerin für sich zu erweitern und in’s Fabelhafte hinüber zu spielen“; in seinem Nachlass finden sich „theils Fingerzeige zu Gedichten, theils ausgeführte Stücke, welche in loser und schwebender Verknüpfung, wie es der mythischen Komposition angemessen schien, zulezt einen gewissen Lebenskreis erschöpfen sollten“ (3, S. 361). Diese Erläuterungen des Erzählers unterstreichen zum einen den phantastisch-surrealen Charakter des Zyklus und machen zum anderen deutlich, dass die verschiedenen Gedichte, obwohl der lockere Zusammenhang eines ‚Lebenskreises‘ im Hintergrund steht, keineswegs einzelne Etappen eines kohärenten Handlungsgangs schildern. Statt dessen beleuchten sie von verschiedenen Seiten die eigentümliche Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und jener mysteriösen Frau, die im Romantext wie auch im Schlussgedicht „Peregrina“ – die Fremde, die Wandernde – genannt wird. Aber nicht nur um eine komplizierte und letztlich scheiternde Liebe geht es hier, sondern, weit grundsätzlicher, um die Konfrontation eines Mannes mit Erfahrungen, die in seinem bürgerlichen Dasein ganz und gar nicht vorgesehen sind und auf die er mit einer Mischung aus Faszination und Angst reagiert. Das Eingangsgedicht exponiert diese Widersprüchlichkeit auf eindrucksvolle Weise: Die Hochzeit*
Aufgeschmückt ist der Freudensaal; Lichterhell, bunt, in laulicher Sommernacht Stehet das offene Gartengezelte; Säulengleich steigen, Reichlich durchwirket mit Laubwerk, Die stolzen Leiber Sechs gezähmter, riesiger Schlangen, Tragend und stützend das Leicht gegitterte Dach.
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Aber die Braut noch wartet bescheiden In dem Kämmerlein ihres Hauses. Endlich bewegt sich der Zug der Hochzeit, Fackeln tragend, Feierlich stumm. Und in der Mitte, Mich an der linken Hand, Schwarzgekleidet geht einfach die Braut; Schöngefaltet ein Scharlachtuch Liegt um den zierlichen Kopf geschlagen, Lächelnd geht sie dahin; Das Mahl schon duftet.
Später, im Lärmen des Fests, Stahlen wir seitwärts uns Beide Weg, nach den Schatten des Gartens wandelnd, Wo im Gebüsche die Rosen brannten, Wo der Mondstrahl um Lilien zuckte, Wo die Bäume vom Nachtthau trofen. Und nun strich sie mir, stillestehend, Seltsamen Blicks mit dem Finger die Schläfe: Jählings versank ich in tiefen Schlummer. Aber gestärkt vom Wunderschlafe Bin ich erwacht zu glückseligen Tagen, Führte die seltsame Braut in mein Haus ein. *
Im Munde des Bräutigams gedacht.
Das Bild Peregrinas sei „wie aus seltsamen Träumen gewebt“, befand Friedrich Theodor Vischer in seiner Rezension von Mörikes Gedichtband21, und gerade die Eigenart dieses ersten Textes ist damit sehr treffend bezeichnet, denn in der Tat muten seine gesamte Atmosphäre, die Orte, die Figuren und die Ereignisse gleichermaßen traumartig an. Schauplätze wie der geschmückte „Freudensaal“ tauchen auf, nur um gleich wieder zu verschwinden, und statt eines zusammenhängenden Geschehens werden abrupt wechselnde Ausschnitte geboten, wobei das Gedicht ausgerechnet die Trauungszeremonie, den Kern des ganzen Vorgangs, ausspart; an ihre Stelle tritt die Episode im Garten mit Peregrinas ‚magnetisch‘-hypnotischer Geste. An einen Traum erinnern überdies die phantastischen Motive, insbesondere das atemberaubende Bild der lebendigen Riesenschlangen, die das Dach des Saales stützen, aber auch der nächtliche Garten, der im Mondlicht zu einem Eigenleben von intensiver Sinnlichkeit – 150 –
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erwacht. Und wie im Traum bekanntlich noch die größten Absonderlichkeiten ganz selbstverständlich hingenommen werden, zeigt auch das lyrische Ich, das wir hier in der Rolle des Träumers sehen müssen, zunächst keine Spur von Verwunderung angesichts all dieser merkwürdigen Erscheinungen, bis das Attribut „seltsam“ gegen Ende doch noch ein behutsames Distanzierungssignal setzt. Auf der anderen Seite schimmern allenthalben Fragmente einer vertrauten Alltagsrealität durch, die sich mit den surrealen Elementen zu einer zwiespältigen Einheit verbinden, wie sie nur der Traum zuwege bringt. So wartet die Braut, den Geschlechter rollen in einer patriarchalischen Gesellschaft gehorchend, „bescheiden / In dem Kämmerlein ihres Hauses“, bis man sie zur Hochzeit abholt, und wird am Ende von ihrem Mann in dessen „Haus“ eingeführt. In den Traumbildern, die sich um das zentrale Motiv der Hochzeit ranken, beschwört Mörike eine Vereinigung des Gegensätzlichen, eine Verschmelzung von bürgerlicher Normalität und exotischer Fremdheit. Während der männliche Sprecher im ganzen Zyklus die Welt der gesellschaftlichen Konventionen vertritt, ist Peregrina, die das Fremde, Unvertraute schon im Namen trägt, der Inbegriff alles dessen, was für gewöhnlich aus der bürgerlichen Lebenssphäre ausgeschlossen bleibt, und somit ebenfalls mehr als eine bloß individuelle Figur. Dieses Ausgeschlossene umfasst nicht zuletzt die Sexualität, die sinnliche Verlockung, die in den – freilich gezähmten! – Schlangen ebenso präsent ist wie in der förmlich erotisch aufgeladenen Szenerie des Gartens. Beide Motive wecken in Verbindung mit einer Liebesszene zudem unweigerlich Assoziationen an den Sündenfall im Paradies, die indes sogleich wieder gebrochen werden, wenn sich zu dem brennenden Rot der Rosen das vom Mondlicht noch verstärkte Unschuldsweiß der Lilien gesellt. Im Traum macht sich also das geltend, was moralische Gebote und soziale Zwänge aus der Realität des gewöhnlichen Lebens verbannen – ein Vorgang, der ungemein faszinierend wirkt und „glückselige Tage“ erhoffen lässt, andererseits aber auch von einem Hauch des Unheimlichen umgeben ist. Betrachtet man nämlich die nächtliche Atmosphäre des Geschehens, die mächtigen Schlangen, den stummen, von Fackeln begleiteten „Zug der Hochzeit“, der ebenso gut ein Trauerzug sein könnte, die beunruhigende Scharlachfarbe des schmückenden Kopftuchs und schließlich die Überlegenheit der vermeintlich ‚bescheidenen‘, aber mit magischen Kräften begabten Braut über den Mann, die die übliche Hierarchie der Geschlechter auf den Kopf stellt, so drängt sich der Gedanke auf, dass der faszinierende Traum jederzeit in eine Schreckens vision umschlagen könnte. Nur die Farbe von Peregrinas Gewand, die bei – 151 –
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heutigen Lesern ebenfalls unbehagliche Empfindungen hervorrufen dürfte, muss man hier ausnehmen, weil ein schwarzes Hochzeitskleid durchaus dem damaligen schwäbischen Brauch entsprach. Die innere Logik von Mörikes Traumgedicht steht der erst sehr viel später entwickelten Traumlehre der Psychoanalyse verblüffend nahe. Auch für Sigmund Freud führt der Traum in seelische Regionen, die aus dem klaren Tagesbewusstsein ausgeschlossen bleiben, weil im Schlaf der Verdrängungswiderstand des Über-Ich, das die verinnerlichten gesellschaftlichen Normen und Verbote repräsentiert, nachlässt und unbewusste Wunschregungen – beispielsweise sexueller Art – sich daher wenigstens eine imaginäre Befriedigung verschaffen können. Folglich stellt in psychoanalytischer Sicht jeder Traum eine phantasierte Wunscherfüllung dar, die allerdings immer noch durch die verbleibenden Einflüsse der psychischen Zensur mitbestimmt ist und deshalb nur in rätselhaften und vieldeutigen Bildern Gestalt annimmt. Der Wirkung dieser Zensur, also dem inneren Widerstand des Träumers gegen seine eigenen verbotenen Wünsche, entspringen auch jene Empfindungen der Angst und der Beklemmung, die sich in Traumvisionen häufig bemerkbar machen. Und so ist ein Alptraum für die Psychoanalyse letztlich nichts anderes als ein Wunschtraum, der durch den Einspruch des Über-Ich verzerrt und in sein Gegenteil verkehrt wurde. Diese Grenze überschreitet das Gedicht Die Hochzeit zwar nicht, aber es entwirft doch unverkennbar eine Kompromissbildung aus Wunsch und Abwehr, aus tabuisierten Begierden und unterschwelligen Ängsten, wenn das lyrische Ich der Lockung der Peregrina-Welt nachgibt, ohne dabei die Ahnung einer latenten Bedrohung ganz abstreifen zu können. Das Werk gestaltet keine bruchlose Einheit, sondern allenfalls eine spannungsreiche Synthese von Eigenem und Fremdem, von bürgerlicher Ordnung, die im Bild des festen ‚Hauses‘ ihr Symbol findet, und verführerischer Exotik. Begreiflich ist unter diesen Umständen zumal, dass die sinnlich-sexuelle Komponente als das eigentliche Zentrum der ganzen Wunschphantasie lediglich in bildhafter Verschlüsselung in die Verse eingeht, da die wirkliche körperliche Vereinigung mit der Geliebten in der Gartenszene, wo man sie am ehesten erwarten sollte, durch Peregrinas Zaubergeste und den „tiefen Schlummer“ des Mannes buchstäblich ausgeblendet wird. Über die wissenschaftliche Vertrauenswürdigkeit der Psychoanalyse mag man streiten, aber jedenfalls begegnen Grundzüge ihrer Modelle bei Mörike bereits als poetische Konzepte, die es dem Dichter erlauben, die Abgründe und Widersprüche der seelischen Innenwelt eines (männlichen) bürgerlichen Individuums sprach- und bildgewaltig zu inszenieren. – 152 –
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Der Widerstreit von Verlangen und Furcht, in den der Sprecher durch die Begegnung mit der rätselhaften Frau gestürzt wird, bildet den thematischen Kern des Peregrina-Zyklus und stiftet den untergründigen Zusammenhang zwischen seinen einzelnen Texten. Im zweiten Gedicht, das sich ansonsten in jeder Hinsicht markant von dem ersten abhebt, finden wir ihn in anderer Akzentuierung wieder: Warnung
Der Spiegel dieser treuen braunen Augen Ist wie von innrem Gold ein Widerschein; Tief aus dem Busen scheint er’s anzusaugen, Dort mag solch’ Gold in heil’gem Gram gedeihn. In diese Nacht des Blickes mich zu tauchen, Unschuldig Kind, du selber lädst mich ein, Willst, ich soll kecklich dich und mich entzünden – Reichst lächelnd mir den Tod im Kelch der Sünden!
Schilderte Die Hochzeit in reimlosen, freirhythmischen Versen Fragmente eines Ereignisablaufs, so entfaltet Warnung in der strengen Form der Stanze Reflexionen, die an einen einzigen Augenblick geknüpft sind – und dies im Wortsinne, denn es geht ja tatsächlich um den Blick des Sprechers in die Augen seiner Geliebten. Die ersten vier Verse thematisieren mit dem ungeklärten Verhältnis zwischen wahrnehmbarer Oberfläche und verborgener Tiefe die bei Mörike oft beschworene Distanz zwischen den Menschen und die Unmöglichkeit, sich völlige Gewissheit über den anderen zu verschaffen. Körperlich ist man sich nahe, aber was in Peregrinas Innerem vorgeht, kann der Sprecher nur mutmaßen: Schlummert wirklich lauteres Gold in den verborgenen Tiefen ihrer Seele, oder erliegt der Betrachter hier womöglich einer Täuschung oder gar einem bewussten Betrug? Immer wieder blockiert in Mörikes Werken dieser quälende Zweifel den Weg zu wirklicher Geborgenheit und Sicherheit in der Liebe. Doch in der zweiten Hälfte der Stanze kommt mit dem Bild des Eintauchens in die „Nacht des Blickes“ eine Möglichkeit ins Spiel, den Abstand zwischen den beiden Liebenden zugunsten einer förmlichen Verschmelzung gänzlich aufzuheben. Dass dieses wechselseitige ‚Entzünden‘ metaphorisch für die sexuelle Vereinigung steht, liegt auf der Hand, aber die mit drei sich steigernden Wendungen umschriebene Verlockung, die von Peregrina ausgeht, weckt in dem Sprecher sogleich auch Angst – die Furcht vor dem Selbstverlust nämlich, der sich im Motiv des Sturzes in die Dunkelheit ankündigt. Basieren die Identität und das Selbstverständnis des – 153 –
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bürgerlichen Mannes in hohem Maße auf einer umfassenden verinnerlichten Trieb- und Affektkontrolle – psychoanalytisch gesprochen: auf einem rigiden Über-Ich –, so muss die Entgrenzung im Liebesakt, in den Flammen der sinnlichen Leidenschaft wahrhaftig als existenzielle Bedrohung erscheinen, die der Sprecher, wiederum metaphorisch, mit dem „Tod“ gleichsetzt. Verstärkt wird der Schrecken durch religiöse Vorstellungen und die traditionelle Sinnenfeindlichkeit des Christentums. Während das Hochzeitsgedicht nur von ferne auf den Sündenfall anspielt, bezieht sich Warnung unzweideutig auf Passagen des Neuen Testaments, die den Tod als den Lohn der Sünde auffassen (Röm 6,23 und Jak 1,15). Und der Schlussvers kleidet die Verführung zur lustvollen Selbstpreisgabe sogar in das blasphemische Bild der communio sacrilega, die den christlichen Kelch des Heils durch einen höllischen „Kelch der Sünden“ ersetzt. Bemerkenswerterweise verschmäht der Sprecher jedoch die in der abendländischen Kultur- und Literaturgeschichte geläufige männliche Entlastungsstrategie, die Verantwortung für seine entzündeten Begierden auf deren Objekt zu projizieren und damit die Frau zur dämonischen Versucherin zu stempeln. Ausdrücklich nennt er Peregrina ein „[u]nschuldig Kind“: Seine begehrlichen Regungen allein sind es, die ihn angesichts der verlockenden Einladung zugleich fesseln und ängstigen. Wie er sich aber entscheiden und ob die „Warnung“, die er wohl eher an sich selbst als an Peregrina richtet, Wirkung zeigen wird, lässt der Text offen, denn mit dem Ausruf am Schluss, der die communio sacrilega zitiert, erreicht die Faszination ebenso ihren Höhepunkt wie das Erschrecken. So setzt dieses Gedicht im Konflikt zwischen Wunsch und Abwehr, der das Grundmuster des Zyklus bildet, einen anderen Schwerpunkt als sein Vorgänger, dem die Maske des Traums eine stärkere Annäherung an verdrängte Regungen und ein weitergehendes Sich-Einlassen auf die Reize der Peregrina-Sphäre gestattete, während die Gefährdung latent blieb. Noch einmal eine neue Perspektive auf den zentralen Widerstreit eröffnet das dritte Stück der Reihe, das zur erzählenden Darstellung und damit auch zur lockeren freirhythmischen Form zurückkehrt: Scheiden von ihr
Ein Irrsal kam in die Mondscheinsgärten Einer einst heiligen Liebe. Schaudernd entdeckt’ ich verjährten Betrug; Und mit weinendem Blick, doch grausam Hieß ich das schlanke, Zauberhafte Mädchen
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Ferne gehen von mir. Ach, ihre hohe Stirn, Drin ein schöner, sündhafter Wahnsinn Aus dem dunkelen Auge blickte, War gesenkt, denn sie liebte mich. Aber sie zog mit Schweigen Fort in die graue, Stille Welt hinaus.
Von der Zeit an Kamen mir Träume voll schöner Trübe, Wie gesponnen auf Nebelgrund, Wußte nimmer, wie mir geschah, War nur schmachtend, seliger Krankheit voll. Oft in den Träumen zog sich ein Vorhang Finster und groß in’s Unendliche, Zwischen mich und die dunkle Welt. Hinter ihm ahnt’ ich ein Haideland, Hinter ihm hört’ ich’s wie Nachtwind sausen; Auch die Falten des Vorhangs Fingen bald an, sich im Sturme zu regen, Gleich einer Ahnung strich er dahinten, Ruhig blieb ich und bange doch, Immer leiser wurde der Haidesturm – Siehe, da kam’s! Aus einer Spalte des Vorhangs guckte Plötzlich der Kopf des Zaubermädchens, Lieblich war er und doch so beängstend. Sollt’ ich die Hand ihr nicht geben In ihre liebe Hand? Bat denn ihr Auge nicht, Sagend: da bin ich wieder Hergekommen aus weiter Welt!
Der innere Zwiespalt, der die Haltung des männlichen Ich bestimmt, manifestiert sich hier in einer Fülle von irritierenden Widersprüchen, denen als beherrschende Stilfigur das Oxymoron korrespondiert. Wenn man liest, wie Peregrina regelrecht verstoßen wird, muss die Überschrift des Gedichts geradezu euphemistisch anmuten, aber der Sprecher, der seine Grausamkeit mit „weinendem Blick“ übt, ist doch keineswegs so entschlossen und kaltherzig, wie er sich nach außen hin gibt, und die vom Titel ausgedrückte Wehmut folglich keine bloße Heuchelei. Sehr mysteriös klingt, was die – 155 –
6. Die frühen Gedichte
Verse über den Grund für die Trennung zu sagen haben. Lässt die poetische Wendung „Ein Irrsal kam …“ noch an schicksalhafte Verstrickungen denken, die Kategorien wie Schuld und Verantwortung außer Kraft setzen, so ist etwas später, scheinbar unmissverständlich, von einem „Betrug“ die Rede, der überdies als „verjährt“ bezeichnet wird, was nach dem älteren, für Mörike noch maßgeblichen Sprachgebrauch bedeutet, dass er über viele Jahre hin kontinuierlich andauerte. Der Gedanke an einen Treuebruch im gewöhnlichen Sinne, also an einen Seitensprung Peregrinas, mutet in diesem Kontext freilich recht unpassend an, zumal das lyrische Ich offensichtlich nicht an der vollkommenen Aufrichtigkeit ihrer Gefühle zweifelt: „denn sie liebte mich“. Plausibler dürfte es sein, den „Betrug“, der dem Sprecher mit einem Mal „[s]chaudernd“ bewusst wird, auf das eigentümliche Wesen dieser Frau zu beziehen, das in schroffem Gegensatz zur geordneten, gesicherten Sphäre der Gesellschaft und ihrer Normen und Regeln steht, auf die fundamentale Fremdheit eben, der sie ihren Namen verdankt. Indem das Ich Peregrina verstößt, gehorcht es diesen Normen und vollzieht im Einklang mit ihnen eine radikale Ausgrenzung dessen, was in der bürgerlichen Welt keinen Platz findet. Die Wendung „ein schöner, sündhafter Wahnsinn“ bringt Peregrinas eigentliches ‚Vergehen‘ am deutlichsten zum Ausdruck, und nicht von ungefähr taucht dabei wieder das Augen-Motiv auf. Zu der Gleichsetzung von Eros und Sünde, die wir bereits aus Warnung kennen, tritt hier noch die Angst vor der ganz und gar vernunftwidrigen Macht der leidenschaftlichen Begierden: Die sexuelle Verlockung erscheint dem lyrischen Ich nicht nur als amoralisch, sondern auch als irrational, als eine Bedrohung seiner vernünftigen Selbstbestimmung, die eine strenge Triebund Affektkontrolle voraussetzt. Mit der Verstoßung Peregrinas entscheidet es sich gegen diese Abweichung von dem, was in der gesellschaftlichen Ordnung als richtig, verständig und gesund gilt, und zugleich gegen die eigenen verbotenen, angstbesetzten Wünsche, die das „[z]auberhafte Mädchen“ geweckt hat. Welchen Reiz diese Sehnsüchte nach wie vor ausüben, drückt jedoch noch einmal das Attribut „schön“ aus, das die schroffe Verurteilung auf paradoxe Weise unterläuft. Für die Sicherung der bürgerlichen Identität ist demnach ein hoher Preis zu zahlen. Einsam, seelisch verarmt und tiefer Erfahrungen des Glücks und der Erfüllung beraubt, bleibt der Sprecher zurück. Indes ist er gar nicht imstande, sich völlig von Peregrina zu lösen: Hat er in der nüchternen Welt des Tages auch seine Entscheidung getroffen, so dauert die Bindung an die Verstoßene doch auf einer Ebene, die sich – 156 –
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s einem klaren Bewusstsein und seinem Willen entzieht, fort. Sie offenbart sich in häufig wiederkehrenden Träumen, die, ganz folgerichtig, ihrerseits zwiespältig erlebt werden, nämlich als „selige Krankheit“ und mithin als eine eindeutige Abweichung von dem ‚gesunden‘ Normalzustand, die das lyrische Ich trotzdem keinesfalls missen möchte. Die zweite Gedichthälfte ist der ausführlichen Schilderung eines solchen Traumes gewidmet, und es kann kaum noch verwundern, dass diese nächtliche Vision zwischen Wunsch- und Alptraum schwankt, weil die Sehnsucht nach der Geliebten sich mit der Angst vor einer Bedrohung der beschränkten, aber auch gesicherten Existenz im Bezirk der gesellschaftlich anerkannten Normalität paart. Der Traum fasst die Trennung dieser Sphäre von der nur zu erahnenden „dunkle[n] Welt“ des Verdrängten und Ausgegrenzten, aus der Peregrina stammt, in ein phantastisches räumliches Modell, wobei der mächtige Vorhang, der sich „in’s Unendliche“ zieht, die Grenze zwischen beiden Seiten markiert. Die erweist sich aber als durchlässig, wenn plötzlich das „Zaubermädchen“ hervorblickt und dem Ich, wie aus dessen Reaktion zu erschließen ist, die Hand entgegenstreckt. Wir finden hier exakt jene Traumlogik wieder, die schon am Beispiel von Die Hochzeit erörtert wurde: Im Schlaf lässt die psychische Zensur nach und erlaubt daher eine imaginäre Rückkehr des Verdrängten, die Mörikes Gedicht in bildhafter Anschaulichkeit vorführt. Das Verhalten Peregrinas, die neckisch aus einer Spalte „guckt“, steht in einem kuriosen Kontrast zu der düsteren Größe des gigantischen Vorhangs und der sturmdurchtobten Heide. Am existenziellen Ernst der Situation ist dennoch nicht zu zweifeln. Beim Anblick der Geliebten, der „[l]ieblich“ und „doch so beängstend“ wirkt, mischen sich aufs Neue Furcht und Verlockung, und dann folgt die entscheidende Frage, die der Träumer an sich selbst richtet: „Sollt’ ich die Hand ihr nicht geben / In ihre liebe Hand?“ Der Handschlag könnte eine Wiederherstellung des früheren Glücks bedeuten, ebenso gut aber die Gefahr mit sich bringen, den festen Halt in der vertrauten Wirklichkeit zu verlieren und in das unheimliche Reich jenseits des Vorhangs gezogen zu werden. Welche Wahl trifft der Sprecher? Ähnlich wie Warnung lässt auch dieses Gedicht die Antwort in der Schwebe, denn der Traum mündet gleichsam in ein erstarrtes Tableau von dem lyrischen Ich, das angesichts von Peregrinas einladender Geste zaudernd verharrt – ein Tableau, das den inneren Zwiespalt des Mannes auf prägnante Weise festhält. Und da sich dieser Traum, wie es zu Beginn der Schilderung heißt, häufig wiederholt, wird der Sprecher anscheinend mit quälender und doch auch beglückender – 157 –
6. Die frühen Gedichte
Regelmäßigkeit bis zu dieser offenen Situation geführt und vor die Frage nach seiner Entscheidung gestellt. Schon mehrfach haben wir angedeutet, dass Mörikes Peregrina-Zyklus sich nicht in der poetischen Darstellung einer scheiternden individuellen Liebesbeziehung erschöpft. Obwohl das Umfeld der gesellschaftlichen Normen und Zwänge in den Texten nicht explizit thematisiert wird, wirkt es doch, vermittelt durch das Denken, Empfinden und Handeln des Ich, massiv auf das Geschehen ein: Die geheimen Sehnsüchte des Sprechers, vor allem aber seine Ängste entspringen den verinnerlichten Geboten der Selbstkontrolle, der rigiden Affektbeherrschung, die dem Einzelnen von der bürgerlichen Ordnung auferlegt werden und die auch das Bild formen, das der bürgerliche Mann von sich selbst hat. Die Liebe zu Peregrina bedeutet deshalb eine faszinierende Grenzüberschreitung und zugleich eine fundamentale Gefährdung der männlichen Identität – in diesem Widerspruch wurzelt die Ambivalenz, die den Zyklus bis in die kleinsten Details hinein prägt. Das am Schluss der Reihe platzierte Sonett rückt die über das persönliche Einzelschicksal hinausreichenden Aspekte der Peregrina-Dichtung erstmals etwas direkter in den Blick: Und wieder
Die treuste Liebe steht am Pfahl gebunden, Geht endlich arm, verlassen, unbeschuht, Dieß kranke Haupt hat nicht mehr wo es ruht, Mit ihren Thränen nezt sie bittre Wunden. Ach, Peregrinen hab’ ich so gefunden! Wie Fieber wallte ihrer Wangen Gluth, Sie scherzte mit der Frühlings-Stürme Wuth, Verwelkte Kränze in das Haar gewunden.
Wie? Solche Schönheit konnt’ ich einst verlassen? – So kehrt nun doppelt schön das alte Glück! O komm! in diese Arme dich zu fassen!
Doch wehe! welche Miene, welch’ ein Blick! Sie küßt mich zwischen Lieben, zwischen Hassen, Und wendet sich und – kehrt mir nie zurück.
Das erste Quartett erhebt Peregrina zur Allegorie der verstoßenen Liebe schlechthin, die von einer buchstäblich lieblosen Welt an den Pranger gestellt und heimatlos gemacht wird – die grausame Trennung, die das lyrische Ich in Scheiden von ihr vollzogen hat, war also nichts anderes als – 158 –
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
der individuelle Ausdruck einer allgemeinen Missachtung und Misshandlung dieser Liebe. Dabei führt die Stilisierung der Peregrina-Figur in Mörikes Sonett in hochliterarische und sogar mythische Dimensionen. Die Umrisse berühmter verratener liebender Frauen der Literaturgeschichte schimmern durch; der Leser glaubt Shakespeares Ophelia oder Margarethe aus Goethes Faust wiederzuerkennen, die beide dem Wahnsinn verfallen. Anklänge an die Passion Christi sind nicht zu überhören – man denke an Paul Gerhardts Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden“! –, während Peregrina andererseits dem Gott Eros ähnelt, wie ihn Platon in seinem Symposion durch den Mund des Sokrates schildert. So demonstrieren diese Verse, in welchem Maße Mörike bei der Gestaltung des ‚Peregrina-Komplexes‘ auf kulturell und literarisch vermittelte Vorstellungsmuster und Motive zurückgriff, die ihm halfen, für das Erlebte und Empfundene eine adäquate poetische Sprache zu entwickeln. Sie erheben die geheimnisvolle Frau zu einer archetypischen Gestalt und verleihen der von ihr verkörperten „Liebe“ Züge einer förmlichen weltlichen Gegenreligion zur christlichen Lehre. Die zweite Strophe bezieht die universale Tragödie der allegorisierten Liebe wieder konkret auf die Erlebnisse des Sprechers mit Peregrina. Hat er zuvor den gesellschaftlichen Normen Rechnung getragen, indem er die Geliebte verstieß, so kommt nun im Nachhinein mit der Trauer um die verlorene Seligkeit und der Sehnsucht nach erneuter Vereinigung die entgegengesetzte Tendenz zu ihrem Recht: „Schönheit“ und „Glück“ sind in den Augen des Mannes geradezu mit Peregrina identisch. Die pikante Erhöhung weiblicher Reize und zumal der erotischen Anziehungskraft durch die zwielichtige Aura von Schuld, Reue und geistiger Verrückung kennen wir ansatzweise bereits aus dem Gedicht Nächtliche Fahrt. Wenn sich die Geliebte aber schließlich ein für alle Mal von dem Sprecher abwendet, ist seine bedrückende Einsamkeit, die schon in Scheiden von ihr thematisiert wurde und aus der ihn nur noch der Traum wenigstens imaginär erlösen kann, endgültig besiegelt. Damit stellt das Gedicht dem männlichen bürgerlichen Individuum eine ernüchternde Diagnose: Seine Identität und seine ganze Existenz haben ihr Zentrum in der Melancholie des Verzichts, in verzehrender Sehnsucht und einem tiefverwurzelten Ungenügen. Und wieder bildet den markanten Schlusspunkt einer Gedichtfolge, die zwar keine zusammenhängende Liebesgeschichte erzählt, ihre Einzeltexte aber nach dem Prinzip des wachsenden Abstands zwischen dem lyrischen Ich und Peregrina anordnet. Für eine wirkungsvolle Abrundung des – 159 –
6. Die frühen Gedichte
Zyklus sorgen überdies die strenge Form des Sonetts und die Fülle intertextueller Anspielungen, in denen der überindividuelle Rang der Peregrina-Gestalt und die allgemeinere Bedeutung des gesamten Geschehens anschaulich werden. Zumindest vermuten darf man, dass mit der Niederschrift dieses Gedichts auch Mörikes persönlicher Versuch, das eigene Erleben in der poetischen Gestaltung deutend zu bewältigen und zu distanzieren, seinen Abschluss fand. Es war freilich nur ein vorläufiger Abschluss, denn zu einem wirklichen Ende ist seine Arbeit an den Peregrina-Gedichten nie gelangt: Die Textgeschichte des Zyklus erstreckt sich über mehr als vierzig Jahre. Seit der ersten Ausgabe fand er Aufnahme in den Band der gesammelten Gedichte, wobei nun auch das fünfte Stück („Warum, Geliebte, denk’ ich dein …“) berücksichtigt wurde, das seinen Platz unmittelbar vor dem Sonett erhielt, während die Stanze vor das Hochzeitsgedicht und damit an den Anfang der Reihe rückte. Mörike wählte für das Ensemble den schlichten Gesamttitel Peregrina und ersetzte die Einzelüberschriften aus Maler Nolten durch römische Ziffern. Vor allem aber erfuhren die beiden freirhythmischen Werke im Laufe der Zeit eine tiefgreifende Umgestaltung, die ihnen einen völlig neuen Charakter verlieh. Man darf diese Bearbeitungen als gezielte Entschärfungen ansehen, denn Mörike scheint darauf bedacht gewesen zu sein, gerade jene irritierenden und beunruhigenden Elemente der Texte auszumerzen, die einen großen Teil ihrer Faszination für den Leser ausmachen. In den vierziger Jahren ersetzte er Peregrinas magnetische Geste in „Aufgeschmückt ist der Freudensaal …“ durch eine zwar sehr poetisch geschilderte, doch nach der Struktur des Geschlechterverhältnisses völlig konventionelle Liebesszene, in der der Mann den überlegenen Part spielt und die kindlich-unschuldige Braut am Ende erschöpft einschläft. Der Traumcharakter des Ganzen ist jetzt kaum noch spürbar, weil die Darstellung weit detaillierter und zusammenhängender ausfällt als in der früheren Fassung, während die phantastischen Elemente zurücktreten (die lebendigen Schlangen sind beispielsweise durch Säulen in Schlangengestalt ersetzt worden) – aber eine Liebesbeziehung, die weitgehend den gesellschaftlichen Normen entspricht, muss eben auch nicht mehr in die vieldeutige Bildlichkeit eines Traumgeschehens gehüllt werden. Analog dazu hat Mörike später bei der Bearbeitung von „Ein Irrsal kam …“ für die vierte Auflage der Gedichte von 1867 die gesamte umfangreiche Traumpartie geopfert. Statt dessen fügte er ein kurzes Phantasiespiel des melancholischen Sprechers über eine mögliche reale Rückkehr der verlorenen Geliebten ein: – 160 –
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
Wie? wenn ich eines Tags auf meiner Schwelle Sie sitzen fände, wie einst, im Morgen-Zwielicht, Das Wanderbündel neben ihr, Und ihr Auge, treuherzig zu mir aufschauend, Sagte, da bin ich wieder Hergekommen aus weiter Welt! (1.1, S. 152)
Als poetische Auseinandersetzung mit den verborgenen Sehnsüchten und Ängsten des bürgerlichen Individuums lässt sich der Zyklus in seiner letzten Fassung nur noch sehr bedingt verstehen, und man geht wohl nicht fehl, wenn man den Grund für die einschneidenden Veränderungen in einem zunehmenden Unbehagen vermutet, das die brisante Annäherung an solche tabuisierten Bezirke der seelischen Wirklichkeit und des geheimsten Empfindens dem Autor bereitete. Der Themenkomplex von Liebe und Untreue, sexuellem Begehren, Schuld und tödlichem Verderben kehrt bei Mörike mehrfach wieder – die Peregrina-Gedichte entwickeln gewissermaßen die Grammatik eines poetischen Liebeskonzepts, das in mancherlei Abwandlungen auch einer ganzen Reihe weiterer Werke zugrunde liegt. So gibt es in seiner Lyrik, aber auch in seinen Erzähltexten einige Gestalten, die man geradezu als Peregrina-Variationen ansehen kann. Dazu zählen zum Beispiel die Zigeunerin Elisabeth in Maler Nolten und die Zauberin in der Ballade Die schlimme Greth und der Königssohn, die den Mann, der ihrer dämonischen Verlockung erliegt, am Ende vernichtet. Vereinzelt wird diese Rolle aber auch einer männlichen Figur übertragen: In dem Gedicht Vom Sieben-Nixen-Chor, das den kleinen Zyklus der Schiffer- und Nixen-Märchen einleitet, stürzt der finstere Magier Drakone mit einer Mischung aus poetischer Gaukelei und erotischer Verführung eine edle Prinzessin ins Verderben. Der Eindruck, als würde Mörikes Liebeslyrik ausschließlich um Täuschung und Treulosigkeit oder aber um die existenzielle Bedrohung durch die Macht entfesselter sexueller Leidenschaften kreisen, wäre jedoch irreführend, denn der Dichter schrieb durchaus auch Gedichte, die gelingende Liebesbeziehungen feiern und beglückende erotische Begegnungen gestalten. Schon in biographischer Perspektive treten neben die erschütternden Erfahrungen mit Klara Neuffer und Maria Meyer andere Episoden, die belegen, dass körperliche Liebe und sinnliches Verlangen Mörike nicht zwangsläufig Angst einflößten. Freilich hinterließen solche Abenteuer in seinen Briefen lediglich flüchtige Spuren. Aus Buchau am Federsee berichtete er beispielsweise am 20. Juli 1828 dem Freund Mährlen von – 161 –
6. Die frühen Gedichte
großen Fortschritten, die er ohne jedes Risiko in Liebesdingen gemacht habe, wobei er sich der lateinischen Sprache bediente, die die Stiftler gerne benutzten, um brisante Botschaften zu verschlüsseln: „In rebus amatoriis hic multum, at nequaquam periclitando, profeci“ (10, S. 229). In späteren Aufzeichnungen über seinen damaligen Aufenthalt in Oberschwaben ist auch von „litterae erot. & preces“ die Rede, von Liebesbriefen und Bitten also, deren Adressatin allerdings ungenannt bleibt (7, S. 322). Wir wissen nicht, was Mörike dort im Einzelnen erlebte und wer seine anonyme Partnerin war, und können daher über mögliche biographische Bezüge von Gedichten wie Liebesvorzeichen, Josephine und Nimmersatte Liebe, die in jener Zeit entstanden, nur spekulieren. Dass der Dichter gerade 1828 eine ganze Anzahl von Texten über die sinnlichen Freuden der Liebe verfasste, ist immerhin auffällig, aber der neue Ton, der sich in seiner Liebeslyrik geltend machte, wird wohl auch ganz allgemein durch die äußeren Umstände seiner Existenz angeregt worden sein: Der lange Urlaub vom Vikariat, den er damals genoss, die Hoffnung, dem Kirchendienst für immer zu entfliehen, und die ungewohnt weltfreudige, weniger sittenstrenge Lebensart im katholischen Oberschwaben dürften hier zusammengewirkt haben. In dasselbe Jahr gehören zwei Gedichte, deren drastische Bildlichkeit selbst noch heutige Leser in Verlegenheit bringen kann: Was in Begegnung der „Sturm“ bedeutet, durch den in der vergangenen Nacht das Haar des Mädchens in Unordnung gebracht wurde, und worauf der „ungebetne Besen“ anspielt, der „Kamin und Gassen ausgefegt“ hat, ist wohl nicht zweifelhaft (1.1, S. 24), und in Erstes Liebeslied eines Mädchens tritt die Phallus- und Deflorationssymbolik sogar noch deutlicher zutage, wenn die Sprecherin halb neugierig, halb ängstlich die Beute in ihrem Fischernetz betrachtet und rätselt: „Greif ’ ich einen süßen Aal? / Greif ’ ich eine Schlange?“, bis sich das mysteriöse Geschöpf zu ihrem wohligen Entsetzen „durch die Haut“ beißt und Besitz von ihr ergreift (S. 43). Zu allem Überfluss schickte Mörike dieses „Liebesliedchen“ kurz nach seiner Entstehung an den befreundeten Komponisten Ernst Friedrich Kauffmann, der damals vor der Hochzeit mit Marie Lohbauer stand, und instruierte ihn: „Sez es in Musik, gib Ihr am BrautMorgen einen Kuß und frag Sie, wenn sie’s nun absingt, ob das Lied nicht, auf ein Haar, alle die Seeligkeit ausdruckt, die Sie in den ersten Tagen Eurer Liebe empfunden“ (10, S. 223). Das Gedicht Scherz („Einen Morgengruß ihr früh zu bringen …“), 1829 geschrieben, treibt dagegen ein heiteres Spiel mit dem Sujet der erotischen Begegnung, in das der Rezipient augenzwinkernd einbezogen wird: Seine Phantasie darf sich ausmalen, was wirklich geschehen sein mag, als der – 162 –
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
Sprecher sein leichtbekleidetes Mädchen beim morgendlichen Waschen überrascht hat. Hier greift Mörike auf Elemente der scherzhaften Rokokodichtung zurück, denen er neue Reize abgewinnt, indem er sie in einen alltagsnahen schwäbisch-biedermeierlichen Kontext einbettet. Ein besonders gelungenes Beispiel feinsinniger erotischer Lyrik stammt schließlich aus dem Jahre 1837: Der Gärtner
Auf ihrem Leibrößlein, So weiß wie der Schnee, Die schönste Prinzessin Reit’t durch die Allee.
Der Weg, den das Rößlein Hintanzet so hold, Der Sand, den ich streute, Er blinket wie Gold. Du rosenfarbs Hütlein, Wohl auf und wohl ab, O wirf eine Feder Verstohlen herab!
Und willst du dagegen Eine Blüthe von mir, Nimm tausend für Eine, Nimm alle dafür! (1.1, S. 67)
Das Rollengedicht beschwört mit dem herrschaftlichen Garten, der schönen Prinzessin zu Pferd und den leuchtenden Farben Weiß, Gold und Rosenrot eine ebenso märchenhafte wie heitere Atmosphäre, die von dem leichten, tänzerisch anmutenden Versrhythmus wirkungsvoll unterstützt wird. Darüber hinaus entwirft es eine deutliche Hierarchie von Oben und Unten, in der die Positionen klar verteilt sind. Die Distanz zwischen der vornehmen Dame auf ihrem „Leibrößlein“ und dem Gärtner, der nur den Sand auf ihren Weg streuen darf, scheint eine Erfüllung des geäußerten Liebesverlangens von vornherein unmöglich zu machen und die begehrlichen Wünsche des Sprechers ganz auf die Sphäre der Phantasie zu beschränken, wo sie in der imaginären Anrede an das „Hütlein“ der Geliebten ihren Ausdruck finden. Aber was sind das eigentlich für Wünsche? Vordergründig betrachtet, begnügt sich der Gärtner mit einer Feder vom Hut der Angebeteten, für – 163 –
6. Die frühen Gedichte
die er in verliebtem Überschwang tausend Blüten aus seinem Garten hergeben möchte. Die Schlussstrophe, die dieses Angebot formuliert, enthält allerdings einige dunkle Stellen, die dazu anregen, sie etwas näher in Augenschein zu nehmen. Unklar ist zunächst, an wen sich die Du-Anrede hier richtet: immer noch an das „Hütlein“, was grammatikalisch ohne weiteres denkbar, inhaltlich aber wenig sinnvoll wäre, oder nicht eher an die Prinzessin selbst? Und das eigens hervorgehobene „Eine“ im vorletzten Vers kann unmöglich auf das Substantiv „Feder“ bezogen werden; vielmehr geht es offenkundig um eine ganz besondere „Blüthe“, die der Gärtner im Tausch gegen den ganzen Schmuck seines Gartens zu erhalten hofft. Was man aber unter dieser einen Blüte zu verstehen hat, liegt im Kontext des traditionellen bildhaften Sprechens über Liebe und Sexualität auf der Hand: Es ist die Jungfräulichkeit der schönen Dame, jene metaphorische Blüte, die bei der Defloration gepflückt wird. Die Träume des Sprechers kreisen also nicht etwa nur um einen bescheidenen Fetisch, der ihm die Geliebte repräsentieren soll, sondern zielen mit größter Kühnheit auf die volle körperliche Hingabe der umschwärmten Prinzessin. Liest man den Text so, dann verwandelt sich das vermeintliche gefühlvolle Liebespoem, einem Kippbild gleich, mit einem Schlag in ein handfestes erotisches Gedicht, und auch die so auffallend in den Vordergrund gerückten Motive des Reitens und des Auf und Ab erhalten plötzlich einen Hintersinn, der nicht einmal mehr zweideutig genannt werden kann. Die Möglichkeit, die Verse nur auf der ersten, unverfänglichen Ebene zu rezipieren, bleibt davon freilich unberührt – wäre es anders, hätten Mörikes wohlanständige bürgerliche Zeitgenossen sie gewiss nicht nach einer der schon damals zahlreichen Vertonungen in ihren Wohnzimmern zur Klavierbegleitung singen können! Wie schon in Begegnung und Erstes Liebeslied eines Mädchens eröffnet die semantische Mehrfachcodierung dem biedermeierlichen Dichter einen Weg, gewagte erotische Phantasien auszusprechen, ohne sein Publikum vor den Kopf zu stoßen. Doch wäre es gewiss falsch, sie bloß als einen Notbehelf einzustufen, der eben den Moralvorstellungen der Epoche geschuldet war, denn auf ihr beruht ja auch ganz wesentlich die faszinierende Komplexität des Gedichts und damit sein Rang als Kunstwerk. Sinnliches Verlangen wird zum Gegenstand eines subtilen, buchstäblich doppelbödigen Spiels, dessen Reiz für den feineren Leser jedes Interesse, das eine unverhüllte Benennung sexueller Begierden und Vorgänge wecken könnte, weit übertrifft. Wir stoßen hier auf die Grenze, die kunstvolle erotische Lyrik von bloßer literarischer Pornographie trennt. – 164 –
Zwischen Angst, Verlockung und erotischem Spiel: Facetten der Liebeslyrik
Die Dichtung gewährte Mörike den nötigen Freiraum für eine komplexe Auseinandersetzung mit allen Facetten des großen Themenkreises von Liebe und Begehren, Treue und Täuschung, Verlangen und Schmerz. Im Schreiben konnte er traumatische Erfahrungen schöpferisch verarbeiten, Gefühlsregungen reflektieren, die zwischen Angst und Faszination schwankten, und nicht zuletzt auch Utopien des Glücks und der sinnlichen Erfüllung entwerfen. Er brachte damit eine Liebesdichtung hervor, die in ihrem Reichtum und ihrer Vielseitigkeit in der deutschsprachigen Literatur allenfalls mit dem liebeslyrischen Werk Goethes zu vergleichen ist. Dabei haben wir wegen unserer Beschränkung auf die jungen Jahre des Autors bis jetzt nur einen begrenzten Ausschnitt daraus kennengelernt. Wir werden den Gegenstand daher wieder aufgreifen, wenn es um Mörikes produktive Anknüpfung an Formen und Motive der antiken Poesie geht, durch die er sich in einer späteren Phase seines Schaffens auch noch einmal neue Möglichkeiten der Liebeslyrik erschloss.
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7. Seelische Abgründe und
die Ursprünge der Kunst: M aler Nolten
Ein schwieriger Roman
M
aler Nolten, Mörikes einziger Roman und sein mit Abstand umfangreichstes Werk, mutet auf den ersten Blick wie ein finsterer monumentaler Fremdkörper im Schaffen des Autors an und hat Leser und Interpreten seit jeher in Verlegenheit gebracht. Obwohl es im Gang der Handlung keineswegs an idyllischen oder komischen Episoden fehlt, überwiegt im Ganzen doch die düstere, unheilverkündende Stimmung, und angesichts eines wahrhaft gnadenlosen Endes, das keine einzige Hauptfigur überlebt, versagen alle Klischees von biedermeierlicher Harmlosigkeit, die mit diesem Dichter so gerne in Verbindung gebracht werden. Gehäufte Todesfälle sind in der Literatur zwar keine Seltenheit; gerade in der erzählenden und dramatischen Dichtung der klassisch-romantischen Epoche begegnet man ihnen allenthalben. Verstörend wirkt jedoch, dass Mörikes Nolten keine Spur einer tragischen Notwendigkeit erkennen lässt, die mit dem schrecklichen Ausgang versöhnen könnte, denn die Protagonisten sterben weder im Dienst eines Ideals noch als Sühne für eine schuldhafte Verfehlung, und die krasse Nüchternheit ihres Untergangs duldet keine Verklärung, die die Wechselfälle des Irdischen transzendiert und die Katastrophe mit einem höheren Sinn versieht. Angesichts einer ganzen Kette von fatalen Geschehnissen, die allein aus unglücklichen Zufällen und undurchschaubaren Verstrickungen zu entspringen scheinen, empfindet der Leser weniger den Schauer des Tragischen als vielmehr Fassungslosigkeit und Entsetzen. Wer aber die ersten Hürden nicht scheut, die den Zugang zu diesem Text erschweren, wird in Maler Nolten eine literarische Schöpfung von – 166 –
Ein schwieriger Roman
staunenswerter Komplexität und geradezu unerschöpflichem Reiz kennenlernen. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie lohnend eine eingehende Beschäftigung mit all diesen merkwürdigen Liebeshändeln und traurigen Künstlerschicksalen sein kann. Doch bevor wir uns Mörikes Roman in einem ersten Schritt gleichsam von außen nähern, indem wir die Umstände seiner Entstehung und seine Aufnahme bei den Zeitgenossen ins Auge fassen, seien zur Erleichterung des Verständnisses wenigstens die Grundlinien der verwickelten Handlung skizziert. Im Alter von sechzehn Jahren macht Theobald Nolten bei einem Ausflug zu der Ruine auf dem Berg Rehstock in Begleitung seiner Schwester Adelheid die Bekanntschaft der jungen Zigeunerin Elisabeth, die eine tiefe Leidenschaft in ihm weckt. Allerdings verlieren sich die beiden nach dieser kurzen Begegnung bald wieder aus den Augen. Als sein Vater, der Pfarrer von Wolfsbühl, stirbt, wird Theobald von einem benachbarten Förster aufgenommen, verliebt sich in dessen Tochter Agnes und verlobt sich mit ihr. Er schlägt die Malerlaufbahn ein, absolviert die übliche Studienreise nach Italien und lässt sich schließlich in einer Residenzstadt nieder, die der Roman nie mit Namen nennt, die man sich aber offenbar in Süddeutschland vorzustellen hat. Dort wird ein bereits etablierter Kollege namens Tillsen auf ihn aufmerksam, fördert seine Karriere und verschafft ihm Zugang zu den höchsten Kreisen der Gesellschaft. An diesem Punkt setzt die erzählte Haupthandlung des Maler Nolten ein, während alles bisher Erwähnte zur Vorgeschichte gehört. Wir erfahren zudem, dass Theobald sich inzwischen von Agnes abgewandt hat, weil er sich von ihr betrogen glaubt, und statt dessen seine Gefühle für die schöne und gebildete Gräfin Constanze entdeckt, die ihm auch ihrerseits Sympathie entgegenbringt. Das zweideutige Verhalten seiner Verlobten, das Theobalds Misstrauen weckte, hat freilich besondere Gründe. Inzwischen ist nämlich Elisabeth wieder zum Vorschein gekommen, die selbst Ansprüche auf Nolten erhebt und ihre Nebenbuhlerin durch eine trügerische Prophezeiung geschickt zu manipulieren weiß. Auf der anderen Seite mischt sich nun aber Noltens Freund Larkens in das Geschehen ein, ein schwermütiger Schauspieler, der sich zugleich als Dichter betätigt. Larkens ist von Agnes’ Unschuld überzeugt, möchte sie erneut mit Nolten vereinen und inszeniert daher eine Gegenintrige, indem er heimlich mit verstellter Handschrift den abgebrochenen Briefwechsel des Malers mit Agnes fortsetzt und zugleich versucht, Constanze und Nolten auseinanderzubringen. Das gelingt ihm schließlich auch, aber um einen hohen Preis, denn in diesem Zusammenhang werden die beiden – 167 –
7. Seelische Abgründe und die Ursprünge der Kunst: M aler Nolten
Künstlerfreunde in einen politischen Prozess verwickelt und landen wegen einer angeblichen Satire auf den Hof für einige Wochen im Gefängnis. Die Angelegenheit klärt sich jedoch zu ihren Gunsten auf, und die Dinge nehmen ihren Lauf, wie es Larkens’ Absicht war: Constanze, inzwischen über alles unterrichtet, verzichtet auf Theobald, der wiederum auf Larkens’ Drängen beschließt, zu Agnes zurückzukehren. Während er also in die ländliche Idylle des Försterhauses zu Neuburg reist, verlässt der Melancholiker Larkens die Residenzstadt mit unbekanntem Ziel, um sich in der Fremde ein neues Dasein aufzubauen. Dem Glück von Theobald und Agnes scheint jetzt nichts mehr im Wege zu stehen, zumal dem Bräutigam eine vorteilhafte Lebensstellung an einem fremden Fürstenhof angeboten wird. Dort soll auch die Hochzeit des Paares stattfinden, aber auf dem Weg zu der künftigen Wirkungsstätte kommt es zur Katastrophe – besser gesagt: zur finalen Häufung von Katastrophen. Zufällig stößt man wieder auf den verschollenen Larkens, dessen seelische Krise inzwischen ihren Höhepunkt erreicht hat und der sich unmittelbar nach dem flüchtigen Wiedersehen mit seinem Freund vergiftet. Auf dem nahen Schloss eines großzügigen vornehmen Mannes, des Präsidenten von K*, erholt sich die Reisegesellschaft von ihrem Entsetzen, bis Nolten so unvorsichtig ist, Agnes seine vorübergehende Leidenschaft für die Gräfin Constanze zu gestehen, über die Larkens das Mädchen mit seinen verstellten Briefen hinweggetäuscht hat. Agnes verkraftet diese Nachricht nicht, verfällt dem Wahnsinn und endet, nachdem auch die Zigeunerin unvermutet wieder aufgetaucht ist, durch Selbstmord. Wenig später kommt Nolten im Schloss des Präsidenten ebenfalls unter mysteriösen Umständen ums Leben, und Elisabeth wird tot auf der Straße gefunden, wo sie offenbar an Entkräftung gestorben ist. Im letzten Abschnitt des Romans berichtet der Erzähler mit dürren Worten, dass auch Con stanze diese schrecklichen Ereignisse nicht lange überlebt habe. – „Ich habe diesen Sommer eine Novelle geschrieben, welche zu Zeiten meines Cotta-Franckischen Verhältnisses angefangen worden war. Ein Stück aus dem Leben eines (imaginirten) Malers. Vielleicht ließest Dus bald gedruckt“ (11, S. 132) – so lapidar kündigte Mörike seinem Freund Hartlaub im Juli 1830 den Maler Nolten an. Die Veröffentlichung ließ indes noch geraume Zeit auf sich warten: Erst im August 1832 brachte die Schweizerbartsche Verlagshandlung in Stuttgart den umfangreichen Roman in zwei Bänden auf den Markt, ergänzt um eine Musikbeilage mit sechs Gedichtvertonungen, die teils von Karl Mörike, teils von dem Komponisten Ludwig Hetsch stammten. Über die Details der Entstehungs – 168 –
Ein schwieriger Roman
geschichte sind wir nur unzureichend informiert, zumal sich keine Handschriften oder Entwürfe erhalten haben. Die Erwähnung des „Cotta- Franckischen Verhältnisses“ deutet auf das Jahr 1828, als Mörike die Last des geistlichen Amtes abzuschütteln versuchte und mit verschiedenen Verlagen über eine Anstellung verhandelte; dazu passt die flüchtige Erwähnung eines Romanprojekts gegenüber Bauer am 9. Dezember 1827.1 Ob der Dichter damals wirklich schon mit dem Schreiben begann, ist jedoch fraglich. Die Hauptarbeit dürfte in der Tat im Frühjahr und Sommer 1830 während seines Vikariat in Owen geleistet worden sein. Eine beiläufige Bemerkung des Autors verrät aber, dass er sich noch mindestens bis Ende des Jahres mit dem Manuskript beschäftigte2, wozu unter anderem einige kritische Bemerkungen Vischers Anlass gaben, dem er Teile des Textes zur Vorablektüre anvertraut hatte.3 Mörikes briefliche Äußerungen zu seinem Erstling lassen erkennen, wie sehr ihm daran gelegen war, allzu hochgesteckten Erwartungen im Freundeskreis vorzubeugen. Mit förmlichem Understatement ist da von einem „kleinen Opus“ (11, S. 221) oder einem „Werklein“ (S. 289) die Rede, und einmal behauptet er gar: „Im Ganzen aber kann ich Dir wohl sagen mach ich überhaupt nicht viel aus dem Stück und das phantasmagorische Intermezzo freut mich […] noch am meisten dabei“ (S. 156). Übrigens hatte er zunächst erwogen, den Nolten nicht einmal als selbständige Veröffentlichung, sondern als Beitrag zu einem Almanach herauszubringen, um „das Ding nur so gelegenheitl. in die Welt schlüpfen [zu] lassen ohne alle Prätension – als erstes Debüt“ (S. 149). Der Plan musste fallengelassen werden, weil der „kleine Roman“ unbestreitbar „zu voluminös für ein TaschenbuchsIngrediens“ geraten war (S. 192). Aus Rücksicht auf seine „Pastoralstellung“ wollte der Verfasser zeitweilig auch seinen Namen nicht genannt wissen und lieber ein Pseudonym wählen (S. 290), was dann aber doch unterblieb. Bescheidene Ansprüche signalisierte nicht zuletzt die Gattungsbezeichnung „Novelle“, die Mörike in seinen Briefen zunächst fast durchgängig verwendete und die auch auf dem Titelblatt steht. Vor allem scheute er den Vergleich mit dem bewunderten Bildungsroman Goethes: Meiner Meinung nach liegt es durchaus im Charakter der Novelle, daß mit allgemeinen Maximen und Reflexionen zurückgehalten wird, daß, wenn auch der Geschichte (und diese ist die Hauptsache) eine tiefere Idee unterliegt, solche nur angedeutet, nicht aber ausgeführt werden muß. […] Der Leser soll zu manchem angereitzt werden, er soll sich die zerfahrenen Lichter sammeln, ich Aber lasse den rothen Faden nur zuweilen und kaum
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7. Seelische Abgründe und die Ursprünge der Kunst: M aler Nolten
ervorblicken, wer Sinn hat wird ihn wohl verfolgen […]. Hätt ich einen h ästhetischen oder auch nur lebensphilosophischen Roman schreiben wollen, etwa nach Art des Wilhelm Meister so hätt ich freilich ganz andern Aufwand machen müssen. (S. 155f.)
Angesichts einer derart eigenwilligen Gattungsauffassung wäre es verfehlt, strengere Novellentheorien, wie sie in der Literaturwissenschaft diskutiert werden, an den Nolten anzulegen. Für uns ist das Werk wegen seines Umfangs und seiner Vielschichtigkeit eindeutig ein Roman, und als es erst einmal gedruckt vorlag, ging auch Mörike bald dazu über, es so zu nennen.4 Zu den ersten Lesern, die sich begeistert über Maler Nolten äußerten, zählte Ludwig Bauer: „Mir aber mußte dieß vo’m höchsten Werthe seyn, daß ich überall dich selbst fand. Ich habe es bisher für unmöglich gehalten, sich so ganz in einem Produkte abzuprägen, wie du dieses Werk zu einem Abbilde deines Geistes gemacht hast. Unsre ganze Vergangenheit, die schönste meines Lebens, ist mir vor mir abgerollt.“5 Eine solche Perspektive konnten aber eben nur die engsten Vertrauten einnehmen, während das breite Publikum augenscheinlich nicht viel mit dem Roman anzufangen wusste: Der Absatz war schleppend, und auch später gehörte Maler Nolten nicht zu den Dichtungen, die Mörike populär gemacht haben, obwohl er immer wieder einzelne enthusiastische Verehrer fand, darunter beispielsweise Theodor Storm. Dabei waren die Ausgangsbedingungen für eine freundliche Aufnahme in der Lesewelt keineswegs ungünstig, denn die fünf zeitgenössischen Rezensenten sparten nicht mit Lob.6 Sie kamen allerdings auch durchweg aus dem näheren oder weiteren Umfeld des Autors, der einige der Besprechungen sogar selbst lanciert hatte. Der einflussreiche Stuttgarter Kritiker Wolfgang Menzel stellte den Nolten in Cottas „Morgenblatt für gebildete Stände“ vor, Johannes Mährlen ließ sich im „Hochwächter“ vernehmen, Gustav Schwab, gleichfalls eine wichtige Persönlichkeit des Literaturbetriebs, veröffentlichte eine umfangreiche Besprechung in den „Blättern für literarische Unterhaltung“, und Friedrich Notter, den Mörike bereits aus Ludwigsburger Tagen kannte, rezensierte den Roman im „Unpartheiischen“. Die differenzierteste und ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Werk stammt aber aus der Feder von Friedrich Theodor Vischer. Der Dichter hatte seinen Freund schon frühzeitig um „eine Kurze Recension“ gebeten (11, S. 283), doch Vischers Unsicherheit und andere Hindernisse verzögerten die Veröffentlichung um mehrere Jahre: Erst 1839 wurde der Aufsatz in den angesehenen „Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst“ gedruckt. – 170 –
Ein schwieriger Roman
Aber bei allem Wohlwollen und aller Anerkennung für den jungen Autor verraten die Rezensionen schon einiges von jener Ratlosigkeit, die auch viele spätere Rezipienten befallen sollte. Während Menzel und Mährlen sich weitgehend mit bloßen Inhaltsangaben begnügten, wobei sie übrigens das Kunststück fertigbrachten, die Zigeunerin Elisabeth ganz zu übergehen, entwickelten vor allem Schwab und Vischer erste Deutungsmuster, die noch im 20. Jahrhundert in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Roman nachgewirkt haben. Schwab sah die innere Einheit des Maler Nolten durch eine „verschwenderische Duplicität“ beeinträchtigt, weil Mörike das Geschehen einerseits einer „psychologischen Wahrheit“, andererseits einem „Mythus der Phantasie“ unterstellt habe (5, S. 49): Neben Larkens’ Intrige und seine Anmaßung, „die Vorsehung seines Freundes Nolten zu werden“ (S. 49), trete mit dem von Elisabeth verkörperten „Fatum“ (S. 50) eine verhängnisvolle Schicksalsmacht, der sich die Protagonisten nicht entziehen könnten. Eine ähnliche Doppelung konstatierte Vischer: „Wir haben also einen Roman, der zur Hälfte ein Bildungs-Roman, die Geschichte der Erziehung eines Menschen durch das Leben, die Liebe namentlich, ein psychologischer Roman, zur Hälfte ein Schicksals-Roman, ein mystischer Roman ist, und beide Hälften gehen nicht in einander auf “ (S. 67). So führten die Beurteiler ihre Interpretationsschwierigkeiten auf einen Mangel in der Konzeption des Werkes zurück, an den Vischer überdies eine Diagnose der vermeintlichen literarhistorischen Zwischenstellung des Autors knüpfte: „Wir sehen also […] unsern Dichter mit einem Fuße noch in der Romantik, den andern auf die Stufe des classisch-modernen Ideals emporgehoben“ (S. 65). Als Schicksalsroman spätromantischer Prägung und Kronzeuge für die ‚dämonische‘ Seite Mörikes galt Maler Nolten dann auch in der älteren germanistischen Forschung – „Das Schicksal“ überschrieb Benno von Wiese 1950 das einschlägige Kapitel seiner Mörike-Monographie.7 Der Roman wirft jedoch nicht nur bezüglich der inhaltlichen Deutung viele Fragen auf, sondern konfrontiert den Leser auch mit einer komplexen Erzählweise und einem recht verwirrenden Aufbau. Bereits Schwab rügte die „Menge von Episoden“, die „der steten Entwickelung der Haupt ideen“ im Wege stünden (5, S. 51), und tatsächlich ist die Werkstruktur durch eine ausgeprägte Kleinteiligkeit, häufige Schauplatzwechsel, wiederholte Rückblenden und eine Schichtung mehrerer Zeitebenen, vor allem aber durch die Einfügung zahlreicher Binnentexte gekennzeichnet. Dem Vorbild Goethes und der Romantiker folgend, integrierte Mörike viele Gedichte aus seinen frühen Jahren in den Roman, wo sie als Lieder – 171 –
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gesungen oder als Manuskripte einzelner Protagonisten ausgegeben werden; hinzu kommen unter anderem die von dem blinden Gärtnerjungen Henni vorgetragene Legende vom Alexis-Brunnen sowie das Dramolett Der lezte König von Orplid, jenes schon oben erwähnte „phantasmagorische Intermezzo“, dessen Umfang, wie es scheint, in einem eklatanten Missverhältnis zu seiner bescheidenen handlungstechnischen Funktion steht, die Verhaftung von Nolten und Larkens wegen angeblicher Majestätsbeleidigung zu motivieren. Auf die Erzählinstanz kann sich der Leser bei seiner Suche nach Orientierung auf dem unübersichtlichen Feld dieses Romans nur in sehr begrenztem Maße verlassen. Zwar trägt der Erzähler streckenweise eindeutig auktoriale Züge, da er uns unmittelbar am Seelen- und Gefühlsleben verschiedener Figuren teilhaben lässt und überdies häufig kommentierend und wertend hervortritt, womit er seine Aufgabe als souveräner Vermittler zwischen dem Publikum und der fiktiven Welt herausstreicht. Wenn es aber beispielsweise um die Motive für Larkens’ Freitod und um den letzten Brief des Schauspielers an seinen Freund geht, schlüpft der Erzähler plötzlich in die Rolle eines Chronisten, der selbst Teil der erzählten Wirklichkeit ist und sich daher auf das bloße Hörensagen verlassen muss: „Von dem Inhalt jenes hinterlassenen Schreibens wissen wir nur das Allgemeinste, da Nolten selbst ein Geheimniß daraus machte“, und: „Einige Jahre nachher hörten wir von Bekannten des Malers die Behauptung geltend machen …“ (3, S. 331). Entscheidende Abschnitte des Geschehens werden in der Darstellung durch gezielte Perspektivenwechsel ausgespart und damit der Phantasie des Lesers anheimgestellt; das gilt etwa für die Ereignisse in Noltens Todesnacht, in der wir zwar anfangs die Sichtweise des Protagonisten teilen, dann aber auf den Blickwinkel des alten Gärtners verwiesen werden, der die Vorgänge als Außenstehender mit ratlosem Entsetzen verfolgt.8 Gerade gegen Ende des Romans, wenn sich die Katastrophen häufen, zieht sich der Erzähler zunehmend auf eine distanzierte Beobachterposition zurück, statt die Hintergründe der Geschehnisse aufzuklären. Mit seiner variablen Erzählweise verfolgt Mörike also offenkundig eine bestimmte Absicht: Indem der Text verlässliche Sinnangebote hartnäckig verweigert und provozierende Leerstellen schafft, vergrößert er die Verwirrung des Lesers und drängt ihn zu eigenständiger Deutungsarbeit. Die dadurch geschaffene Rätselhaftigkeit des Romans korrespondiert übrigens den Motiven des Betrugs, der Täuschung und des Missverständnisses, denen auf der inhaltlichen Ebene so großes Gewicht zukommt. – 172 –
Ein schwieriger Roman
Dass auch die schwer durchschaubare episodische Struktur des Maler Nolten einem sorgfältigen künstlerischen Kalkül gehorcht, erweist sich bei einer genaueren Lektüre, die in dem scheinbaren Chaos eine ganze Reihe versteckter Ordnungsmuster auszumachen vermag. In räumlicher Hinsicht sind drei große Handlungsbezirke zu unterscheiden, nämlich die namenlose „Residenzstadt“ (3, S. 11), in der Theobald Nolten als Maler Karriere macht und seine Liebe zu Constanze entdeckt, sodann die der Förstertochter Agnes zugeordnete ländliche Welt des Städtchens Neuburg und drittens die ebenfalls anonyme „ehemalige Reichsstadt“ (S. 317) mitsamt dem nahen Schloss des Präsidenten, wo sich die letzten Ereignisse abspielen. In der Dimension der Zeit offenbart der Lebenslauf des Protagonisten eine strenge innere Folgerichtigkeit, wenn man seine Frauenbeziehungen betrachtet: Schließt er als Jugendlicher ein „seltsame[s] Bündniß“ mit der Zigeunerin Elisabeth (S. 217), so verlobt er sich später mit Agnes, von der er sich wiederum löst, um auf eine Verbindung mit Constanze hinzuarbeiten. Dann setzt jedoch eine Gegenbewegung ein, in deren Verlauf dem Bruch mit der Gräfin die Rückkehr zu Agnes und zuletzt, sofern man der gespenstischen Vision des blinden Henni trauen darf, die Vereinigung mit Elisabeth im Tode folgen. Die Kreisförmigkeit dieser Lebensbahn gewährt bereits einigen Aufschluss über Noltens Persönlichkeit und sein Schicksal – augenscheinlich ist der Maler nicht imstande, sich von einer Vergangenheit zu lösen, die ihn immer wieder in ihren Bann zieht. Von einer gelingenden Entwicklung, von Reifung und Fortschritt kann hier wohl kaum die Rede sein. Darbietungstechnisch betrachtet, ist der erste Teil des Nolten durch ein analytisches Verfahren geprägt, das in immer neuen Anläufen Stück für Stück die Vorgeschichte der Handlung enthüllt, ihre Auswirkungen auf die Gegenwart der Figuren offenlegt und auf diese Weise allmählich Licht in viele zunächst rätselhafte Begebenheiten bringt. Besonderes Interesse gilt dabei natürlich der Verbindung des Titelhelden mit der geheimnisvollen Zigeunerin, und folgerichtig gipfelt der erste Romanteil in der Episode „Ein Tag aus Noltens Jugendleben“, die von der Begegnung auf dem Rehstock erzählt und zudem mit den eingeschalteten Auszügen aus dem Tagebuch des Onkels Friedrich Nolten am weitesten in die Vergangenheit dringt. Dagegen herrscht im zweiten Teil des Werkes ein unablässiger Wechsel von trügerischen idyllischen Ruhepausen und neuen Schrecknissen, die unvermittelt hereinbrechen: Um Schwabs Kritik an der Struktur seines Romans zu begegnen, erklärte Mörike ausdrücklich, er habe durch die zahlreichen episodischen Einschübe „die Hauptbegebenheiten so lange – 173 –
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auseinandergehalten […] als nöthig schien, damit das Gemüth des Lesers sich nicht ermüde und für Capitalschläge empfänglich bleibe“ (12, S. 19). Und schließlich schaffen zahlreiche Motivkorrespondenzen und Spiegelungen zwischen verschiedenen Partien des Nolten sowie zwischen einzelnen Binnentexten und der Haupthandlung ein dichtes Beziehungsgefüge, das sich erst der Detailanalyse erschließt. Hier sei vorläufig nur auf das Schema von Vorausdeutung und Erfüllung verwiesen, das die Schicksale von Nolten und Constanze jeweils zu einer Einheit zusammenschließt. Nimmt das eingangs geschilderte Totentanz-Gemälde das düstere Ende Theobald Noltens vorweg, so kündigt sich Constanzes Tod bereits in jenem Alptraum an, von dem die Gräfin berichtet, als sie zum ersten Mal im Roman persönlich in Erscheinung tritt.9 Erst in jüngerer Zeit ist es der Literaturwissenschaft gelungen, der erzählerischen und psychologischen Komplexität des Nolten wirklich gerecht zu werden und ihn vom Odium eines obskuren fatalistischen Mystizismus zu befreien. Einen wichtigen Einschnitt markierte die 1992 veröffentlichte Studie von Herbert Bruch, die vornehmlich in der sorgfältigen Interpretation einiger wichtiger Binnentexte überzeugend herausarbeitet, wie Mörike bei seinen literarischen Vorstößen in das Reich verdrängter Ängste und Begierden Ansätze der Psychoanalyse vorwegnahm.10 In der Folge stieg das Interesse an Maler Nolten sprunghaft an, so dass der zuvor meist etwas stiefmütterlich behandelte Roman geradezu ins Zentrum der Mörike-Forschung rückte. Mehrere Dissertationen und eine ganze Reihe von kleineren Beiträgen erprobten – freilich mit sehr unterschiedlichem Erfolg – unter anderem diskursanalytische, narratologische, feministische und zivilisationstheoretische Ansätze und würdigten den Nolten vor allem endlich als eine vielschichtige Reflexion über Kunst und Künstlertum. Inzwischen steht der Rang des Werkes als psychologischer Roman über die seelischen Konflikte des bürgerlichen Individuums und als Künstlerroman außer Zweifel, und unter diesen beiden Gesichtspunkten, deren enge Verknüpfung seinen besonderen Reiz ausmacht, soll es im Folgenden auch erörtert werden.11
Frauenbilder Will man Theobald Nolten Glauben schenken, so ist die Frage nach der Schuld an all dem Unglück, das ihn trifft, leicht zu beantworten. Vor dem Schloss des Präsidenten bezeichnet er Elisabeth als die „Quelle“, aus der – 174 –
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ihm „schon ein übervolles Meer von Kummer und Verwirrung“ geflossen sei, und beschimpft sie mit den Worten: „Aus meinen Augen, Verderberin! verhaßtes, freches Gespenst! das mir den Fluch nachschleppt, wohin ich immer trete“ (3, S. 373f.). Mehrere andere Figuren dürften geneigt sein, sich diesem Urteil anzuschließen. So gerät Agnes schon bei der ersten Begegnung mit der Zigeunerin in Angst und Schrecken und hat das Gefühl, „einer fremden, entsetzlichen Macht anzugehören“, die „Unheil und Verzweiflung“ über sie bringen wird (S. 53), und Constanze erblickt Elisabeth sogar im Traum, wo sie ihr in Gestalt der geisterhaften Orgelspielerin von Noltens Gemälde den Tod ankündigt: „Constanze Josephine Armond wird auch bald die Orgel mit uns spielen“ (S. 70) – kein Wunder, dass die Gräfin ohnmächtig zusammenbricht, als sie die Zigeunerin später beim Kirchgang leibhaftig zu Gesicht bekommt.12 Haben wir in Elisabeth aber tatsächlich eine dämonische Botin des Verderbens zu sehen, deren verhängnisvolles Wirken undurchschaubaren Gesetzen unterliegt? Immerhin unterrichtet uns der Roman so weit über ihren Lebensweg, dass wir ihr Handeln auch psychologisch plausibel zu deuten vermögen. Als Tochter des bürgerlichen Malers Friedrich Nolten und der Zigeunerin Loskine steht sie von Geburt an zwischen zwei Welten, und der innere Zwiespalt wird noch durch das Fehlen einer geschlossenen Sozialisation verstärkt, da Elisabeth nur bis zum siebten Lebensjahr im Hause ihres Vaters lebt, dann aber von einer Zigeunerbande verschleppt wird und fortan nie mehr in ein geordnetes Dasein zurückfindet. Melancholie, Wahnsinn und eine „jammervolle Existenz“ als Fahrende (S. 414) sind die traurigen Folgen. So kann man hinter Elisabeths Leidenschaft für Theobald Nolten und der Beharrlichkeit, mit der sie das auf dem Rehstock geschlossene Bündnis einfordert, ihre Sehnsucht nach einem Ersatz für die Geborgenheit erkennen, die ihr die schmerzlich vermisste „Heimath“ der frühen Kindheit einmal gewährt hat (S. 198). Theobald selbst gesteht noch mitten in seiner zornigen Aufwallung ein, dass das „Elend dieser Heimath losen“ im Grunde eher „Mitleid“ als „Haß“ verdiene (S. 374). Überdies ist Elisabeths Einfluss auf das Romangeschehen, nüchtern betrachtet, sehr viel geringer, als die oben zitierten Figurenäußerungen vermuten lassen. Von einer zielgerichteten Manipulation kann im Grunde lediglich bei jenem Gespräch mit Agnes die Rede sein, in dem Elisabeth ihrer Rivalin die Liebe zu Nolten auszureden versucht, und auch diese Einflüsterungen zeitigen nur deshalb eine so fatale Wirkung, weil sie im ohnehin schon zerrissenen Gemüt des Mädchens auf fruchtbaren Boden fallen: „Agnes fand Sinn in diesen dunkeln Reden, denn sie erklärten ihr – 175 –
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nur ihre eigene Furcht“ (S. 52). Die Begegnung mit Constanze in der Kirche muss hingegen als reiner Zufall gelten, wie auch Nolten erkennt, für den Elisabeth diesmal ganz „unwillkürlich“ in seine Liebesverwicklungen eingegriffen hat (S. 258). Merkwürdig ist schließlich Larkens’ Reaktion, als Elisabeth mit dem Wunsch, Nolten wiederzusehen, an ihn herantritt, denn obwohl der Schauspieler ihr Verlangen ausdrücklich „eben so gerecht als arglos und treuherzig“ nennt, scheint ihm doch die „Hintertreibung einer solchen Zusammenkunft das Sicherste und Zweckmäßigste“, ohne dass er diese Überlegung näher begründet (S. 186). Elisabeths Bedeutung als Schlüsselfigur des Romans liegt augenscheinlich weniger in dem, was sie tatsächlich sagt oder tut, als vielmehr in dem, was andere in ihr zu sehen glauben. Die verdächtige „Landfährerin“ (S. 200) eignet sich wie so viele andere Zigeunergestalten in der deutschen Literatur vortrefflich als Projektionsfläche für Zuschreibungen, in denen sich die seelischen Verstrickungen der übrigen Protagonisten abbilden, und wird damit aus deren Perspektive zu einer ebenso faszinierenden wie beängstigenden Gestalt. Eigentümlich zwiespältig ist besonders die Haltung, die Nolten ihr gegenüber einnimmt, der als Jugendlicher eine schwärmerische Neigung für Elisabeth hegt, in späteren Jahren aber vorwiegend Furcht und Grauen bei dem Gedanken an dieses „ungeheure Wesen“ (S. 258) empfindet, was ihn indes nicht daran hindert, die Zigeunerin mehrfach zum Gegenstand seiner Kunst zu machen. Auch Larkens beschäftigt sich in seiner Eigenschaft als Dichter mit ihr: In der Fiktion des Maler Nolten entspringen die Peregrina-Gedichte seiner „Vorliebe für Elisabeth“, die er aber wiederum sorgfältig vor Theobald geheim hält (S. 361). Und von Agnes heißt es, dass sie bei aller Verwirrung und Beängstigung in Elisabeths Gesicht doch auch „etwas unbeschreiblich Hohes, Vertrauenerweckendes, ja Längstbekanntes zu entdecken“ glaubt (S. 52). Bestimmte Strategien der erzählerischen Gestaltung machen die rätselhafte Aura, die Elisabeth in den Augen der anderen Figuren umgibt, auch für den Leser spürbar. So bleibt ihre eigene Sichtweise im Text fast völlig ausgespart, weil wir nirgends einen direkten Einblick in ihr Denken und Fühlen erhalten, und obwohl sie auf die eine oder andere Weise in sämtliche Handlungsstränge des Romans verwickelt ist, erscheint sie immer nur flüchtig als mysteriöses „Nachtbild“ (S. 185), um sogleich wieder zu verschwinden. Die Züge ihres Wesens, die in unterschiedlichen Episoden zum Vorschein kommen, fügen sich nicht zu einem stimmigen Bild zusammen, weil sie offenkundig jeweils mit der Situation und dem Blickwinkel des Betrachters wechseln: Mal ist sie durch kindliche – 176 –
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Harmlosigkeit gekennzeichnet, mal wirkt ihre „majestätische Gestalt“ (S. 373) geradezu ehrfurchtgebietend; sie tritt als intrigante Betrügerin, als Kranke und Verrückte, aber auch als unheimliche Wiedergängerin auf. Bemerkenswert ist, dass sie sich in ihrer ausführlichsten selbständigen Äußerung, nämlich in der Rede an Theobald Nolten im Park des Präsidenten, explizit mit der verstoßenen „Liebe“ identifiziert (S. 374). Wenn wir an die Analyse der Peregrina-Gedichte zurückdenken, können wir aufgrund dieses einen Wortes bereits erahnen, welche Regungen Elisabeth für Nolten verkörpert und warum sie so ambivalente Gefühle bei ihm weckt. Dass Mörikes Roman dem Rezipienten durchaus die Möglichkeit einräumt, sich den Projektionsmechanismen der fiktiven Gestalten und der suggestiven Kraft eines ominösen Schicksalsbegriffs zu entziehen und differenzierte psychologische Erklärungen für die katastrophalen Vorgänge zu finden, soll zunächst am Beispiel von Constanze und Agnes demonstriert werden. Über beide Frauen bricht kein mysteriöses dunkles Geschick in Gestalt Elisabeths herein; sie werden vielmehr zu Opfern innerer Widersprüche, die aus spezifischen weiblichen Identitätskonstrukten in der zeitgenössischen Gesellschaft erwachsen. Teils im Erzählerbericht, teils über Selbstaussagen der Protagonistinnen gewährt Maler Nolten Einblicke in deren seelische Innenwelt. So ist der Brief an Nolten, in dem die Gräfin ihre Mitschuld an der Verhaftung der Künstlerfreunde eingesteht und sich in Selbstanklagen ergeht, eine Schlüsselstelle für das Verständnis von Constanzes Scheitern: Nie kann ich hoffen, Sie mir zu versöhnen, ja wäre das möglich, ich kann keine Vergebung, auf Ewig keine, von mir erhalten. Aber die Strafe, die ich schrecklich genug im eigenen Bewußtseyn trage, bin ich im Begriff auf ’s Höchste zu schärfen, indem ich meinen Frevel vor Ihnen enthülle, indem ich freiwillig Ihre ganze Verachtung, Ihren gerechtesten Haß auf mich ziehe. Was hält mich ab vom entehrendsten Bekenntniß? Ist man noch eitel, ist man noch klug, sucht man ängstlich noch einigen Schein für sich zu bewahren, wenn man einmal sich selbst zu verachten einen verzweifelten Anfang gemacht hat? […] Gott, du Gerechter, weißt, ob ich mich solcher Missethat je fähig halten konnte, bevor du mir diese Versuchung bereitet! Doch daß ich sie so schlecht bestand, das öffnet mir schaudernd die Augen über mich selbst, über mein gesammtes Wesen. (S. 260f.)
An sich ist Constanzes Handeln in der Affäre um das kleine Stück Der lezte König von Orplid vollauf verständlich: In dem Glauben, von Nolten auf tückische Weise hintergangen worden zu sein, nutzt sie in einem schwachen Moment den aufkommenden politischen Verdacht gegen ihren – 177 –
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Geliebten, um sich für die vermeintliche Kränkung zu rächen. Doch ein solcher Ausbruch aggressiver Regungen ruft umgehend Gefühle der Scham und des tiefen Selbsthasses hervor. Im Augenblick der „Versuchung“ ist unvermutet ein Teil von Constanzes Persönlichkeit zutage getreten, den ihr Über-Ich entschieden verurteilen muss, weil er sich ganz und gar nicht mit jenem Ideal sanfter, tugendhafter Weiblichkeit vereinbaren lässt, das offenkundig das Selbstverständnis der Gräfin geprägt hat. Angesichts von Empfindungen und Taten, deren sie sich niemals „fähig halten konnte“, versinkt das Bild, das sie bislang von sich hatte, in einem „ungeheuern Abgrunde […], den dieses Herz, sein selbst unkundig, mir bis daher verbarg“ (S. 261). Als Buße für ihren fatalen Normverstoß malt sich Constanze ein förmliches Gericht aus, das über sie gehalten wird: „dürft’ ich mein ganzes Geschlecht wider mich aufrufen, möchten die Besten desselben mich fremd aus ihrer Mitte weisen!“ (ebd.) Diese Strafphantasien münden in unverhohlene Todeswünsche, die, wie der Schlussabschnitt des Romans verrät, sehr bald in Erfüllung gehen. Völlig unvermittelt tritt die existenzielle Krise freilich nicht ein, denn ganz zu Recht vermutet Nolten, dass „dieß Gemüth lange zuvor mit sich selbst uneins gewesen seyn müsse“, ehe es so sehr von „heimlichen Gedanken an einen frühen Tod“ eingenommen werden konnte (S. 258). Schon in der Grotte auf Schloss Wetterswyl stürzt Noltens leidenschaftliche Annäherung die Gräfin in einen tiefen inneren Konflikt: „der Boden schien sich zu theilen unter den Füßen Constanzens – Erd’ und Himmel zu taumeln vor ihrem geschlossenen Auge – in eine unendliche Nacht voll seliger Qualen stürzt ihr Gedanke hinab – liebliche Bilder in flammendem Rosenschein, wechselnd mit drohenden, grünaugigen Larven, dringen auf sie ein“ (S. 82). Hier sind es nicht aggressive Impulse, sondern sinnlich-erotische Begierden, die so verwirrend wirken, weil sie einerseits als verlockend empfunden werden, andererseits aber die verinnerlichte Triebkontrolle der jungen Frau gefährden. Die Widersprüchlichkeit dieser Gefühle findet ihren prägnanten Ausdruck in der Stilfigur des Oxymorons („selige Qualen“), während sich die Drohung des Selbstverlusts in den Motiven des Sturzes und der Dunkelheit manifestiert – all das ist uns (aus männlicher Perspektive) schon aus den Peregrina-Gedichten geläufig und wird auch in Maler Nolten noch häufiger vorkommen. Constanze entzieht sich der heiklen Situation durch eilige Flucht und verbannt das Erlebnis anschließend aus ihrem Bewusstsein, um ihre Fassung wiederzugewinnen: „zurückhaltend und höflich“ tritt sie Nolten im geselligen Kreis gegenüber, „ja es hatte das Ansehen, als verläugnete sie die Erinnerung“ an den Vorfall gänzlich (S. 84). – 178 –
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Die Gefährdung einer weiblichen Identität, die in hohem Grade auf der strikten Verleugnung sexueller und aggressiver Impulse basiert, deutet sich schon frühzeitig in jenem Alptraum an, in dem sich Constanzes unbewusste Ängste vor dem erahnten „Abgrund“ in ihrem eigenen Inneren und ihre daran geknüpften Selbstbestrafungsphantasien an die Figur der gespenstischen Orgelspielerin von Noltens Gemälde heften. So vollzieht sich die seelische Entwicklung dieser Figur vom Anfang bis zum Ende mit unerbittlicher und zerstörerischer Konsequenz – und damit artikuliert der Roman seine fundamentale Kritik an einem Weiblichkeitsbild, das die ideale Frau zu einem beinahe körperlosen Engel von vermeintlich natürlicher Unschuld und Reinheit stilisiert. Ein solches Bild, in Kultur und Literatur des 19. Jahrhunderts allenthalben anzutreffen, beherrscht auch die Gedanken und Wunschvorstellungen der männlichen Protagonisten in Maler Nolten. Für Theobald machen „äußerste Reinheit der Gesinnung“, „kindliche Bescheidenheit und eine unbegränzte Ergebung“ den „schönste[n] und bleibendste[n] Reiz aller Weiblichkeit“ aus. Da die Frau als unmündiges und seiner selbst kaum bewusstes Wesen völlig auf den Mann fixiert sein soll, bricht der Maler mit Agnes, sobald sie in seinen Augen erste Spuren von Eigensinn und Selbständigkeit zeigt: „daß ich der Thor seyn konnte, zu glauben an die Unwandelbarkeit jener ursprünglichen Einfalt, die mir unendlichen Ersatz für jeden glänzenden Vorzug der Erziehung gab! Wo blieb doch jener fromm genügsame Sinn, den auch die leise Ahnung nie beschlich, daß es außer dem Geliebten noch etwas Wünschenswerthes geben könne? jene ungefärbte Wahrheit, welche auch den kleinsten Rückhalt nicht in sich duldet, jene Demuth, die sich selbst Geheimniß ist?“ (S. 42) Von seiner Verlobten enttäuscht, wendet sich Nolten Constanze zu, in der er nun das Ziel seiner Sehnsucht zu finden hofft, nämlich „angeborene Grazie“, „ewig wahrhaftige Natur“, „die Unschuld selber“ und den „unbewußte[n] Ausdruck des Engels“, der nur aus „Hauch“ und „Geist“ besteht (S. 32). Larkens spottet zwar über die verstiegenen Ansprüche seines Freundes, teilt aber letztlich doch dessen Vorstellungen, denn er hat sich seinerseits von Agnes ein „goldreine[s] Christengelsbild […] construirt“, das er ungern preisgeben würde (S. 47). Die Macht derartiger Phantasmen, in denen die Frau stets als Kind und Engel oder im Vergleich mit einer Blume erscheint, wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass auch das Denken, Fühlen und Handeln des bürgerlichen Mannes durch eine ausgeprägte habitualisierte Trieb- und Affektkontrolle geprägt ist und er leidenschaftliche Regungen etwa sexueller Art daher als Bedrohung seines fragilen inneren – 179 –
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Gleichgewichts empfinden muss. Aber das Ideal einer Frau, die weder Selbstsucht noch Sinnlichkeit oder andere heftige Affekte kennt, lebt eben nicht nur in männlichen Projektionen, es prägt auch die Art und Weise, wie die Frauen sich selbst wahrnehmen, und so zerbricht Con stanze an dem Widerstreit zwischen seinen rigiden Anforderungen und jenen Anteilen ihrer Persönlichkeit, die ihm schroff widersprechen. Wie gesellschaftliche Zuschreibungen von früh an in das Selbstverständnis des Individuums eingehen und seine Identitätsstrukturen konstituieren, reflektiert Mörike in verschlüsselter Form in Agnes’ Gedanken über die prägende Wirkung, die ein Name auf seinen Träger ausüben kann: „Sollten denn, meint’ ich, die Namen, welche wir als Kinder bekommen, zumal die weniger verbrauchten, nicht einen kleinen Einfluß darauf haben, wie der Mensch sich später sein innerliches Leben formt, wie er Andern gegenüber sich fühlt? ich meine, daß sein Wesen einen besondern Hauch von seinem Namen annähme?“ (S. 351) Die unausgesprochene Pointe dieses Einfalls liegt in dem Namen Agnes selbst, der, aus dem Griechischen stammend, soviel wie ‚die Keusche, die Reine‘ bedeutet und überdies an das lateinische agnus (‚Lamm‘) anklingt. Er drückt also in konzentrierter Form das zeitgenössische Weiblichkeitsideal aus, nach dem Agnes in der Tat ihr „innerliches Leben“ gebildet hat und mit dem sie sich identifiziert. Indem der Roman jedoch aufdeckt, dass die angebliche Reinheit weiblicher ‚Engelsgestalten‘ keineswegs mit unverfälschter Natürlichkeit identisch ist, sondern vielmehr ein Produkt strikter Selbstzwänge und rigider Verdrängungsprozesse darstellt, die durch die Verinnerlichung gesellschaftlicher Normvorstellungen bedingt sind, entfaltet er ein ungeahntes subversives Potenzial. Auch am Beispiel von Noltens Verlobter werden die verheerenden Konsequenzen einer solchen Identitätsbildung offengelegt und damit zentrale Denkmuster der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur in Frage gestellt, denn es zeigt sich, dass die Pathologie des bürgerlichen Subjekts ihre Wurzeln gerade in der vermeintlich gesunden Normalität hat. Die geistige Verwirrung, der Agnes gegen Ende ihres Lebens verfällt, entspringt der panischen Angst vor den verdrängten sinnlich-sexuellen Leidenschaften. Einige Hinweise auf diese Furcht gab es schon an früherer Stelle. Sie mag bei Agnes’ Zweifeln an der Beziehung zu Nolten mitgespielt haben; jedenfalls ist es bezeichnend, dass die junge Frau in ihrem selbstquälerischen Sinnieren auf den Ausweg verfällt, ihre Gefühle für den Verlobten von sämtlichen sinnlichen Anteilen zu ‚reinigen‘, wenn sie hofft, „Alles, was leidenschaftlich an dieser Neigung sey, aus ihrem Herzen“ – 180 –
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v erbannen zu können (S. 55), oder überlegt: „Theobald muß ja mein Mann nicht eben seyn, und ich darf ihn dennoch lieb behalten“ (S. 60f.). Dagegen erscheint ihr der Vetter Otto als Partner offenbar gerade deshalb anziehend, weil er keine verwirrenden Begierden weckt: „mit dir könnt’ ich leben, du bist ganz darnach gemacht, daß man dich nicht zu viel und nicht zu wenig lieben kann!“ (S. 57) Wie anfällig sie in dieser Situation für Elisabeths trügerische Weissagung sein muss, haben wir bereits erwähnt. Später, als sie mit Nolten wieder versöhnt ist, macht ihr der Gedanke an die bevorstehende Hochzeit „im Stillen Vieles […] zu schaffen“, so dass sie den Termin aus Gründen, die ihr „selber nicht ganz klar“ sind, am liebsten möglichst weit hinausschieben würde (S. 312), und in ihrer geistigen Umnachtung spricht sie sogar direkt den Wunsch aus, ihren „Mädchenkranz“ mit ins Grab nehmen zu dürfen (S. 400). Der psychische Zusammenbruch erfolgt aber erst, als der Verlobte ihr seine Neigung zu Con stanze gesteht und Elisabeth auch noch ihre eigenen Ansprüche auf Nolten bekräftigt, denn Untreue und sinnliche ‚Verirrungen‘ kann Agnes bei dem Geliebten ebenso wenig akzeptieren, wie Theobald dergleichen mit seinen Vorstellungen von idealer Weiblichkeit zu vereinbaren vermag. Angesichts dieses Gefühlsdilemmas rettet sich Agnes in eine förm liche Aufspaltung ihres Bildes von Nolten, die exakt dem Konflikt zwischen ihrem idealen Selbstverständnis und den angstbesetzten triebhaften Regungen entspricht. Malt sie sich auf der einen Seite einen „Höllenbrand“ aus (S. 382), der Sinnlichkeit und Treulosigkeit gleichermaßen verkörpert, so schwärmt sie auf der anderen für einen makellosen Geliebten, der in ihrer Phantasie weitgehend mit dem Schauspieler Larkens verschmilzt, aber auch mehr und mehr die Züge des himmlischen Bräutigams Jesus annimmt. Keineswegs gelingt es ihr also im Schutze des Wahnsinns, „sowohl den Festlegungen und Normierungen als auch den Phantasmen, deren Objekt sie war“, zu entrinnen13, wie in der Forschung gelegentlich behauptet wurde. Die geistige Verwirrung bietet durchaus keinen Freiraum für eine Selbstfindung jenseits projektiver Zuschreibungen und männlicher Idealbilder; sie gehorcht vielmehr einer inneren Logik, die durch die gesellschaftlich geprägten Identitätsstrukturen des Mädchens selbst vorgegeben ist. Nur ein einziges Mal gibt sich Agnes im Wahnsinn hemmungslos der „Gluth“ ihres erotischen Verlangens hin, doch folgen diesem flüchtigen Ausbruch sogleich Erschrecken, Scham und Verdrängung – sie sieht sich als unschuldiges Opfer der Verführung durch die „Schlangen“, die mit dem „tückische[n] Satan“ im Bunde sind, den sie in Nolten zu erkennen glaubt (S. 398). – 181 –
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Zugleich belegt der Wahnsinn den tiefen Einfluss religiöser Lehren auf Agnes’ Denken und Empfinden: Den als „böse Lust“ buchstäblich verteufelten sexuellen Begierden steht die „[f]romme Liebe“ zu Christus gegenüber (S. 401f.). Während sie Noltens Bund mit Elisabeth konsequenterweise als Satanspakt deutet – „Wenn ich Lust hätte, könnt’ ich den Ort wohl nennen, wo der Verspruch gehalten wurde und wer den Segen dazu sprach, aber fromme Christen beschreien so was nicht“ (S. 388) –, erblickt Agnes in dem sagenumwobenen Alexis-Brunnen den geweihten Ort einer keuschen, reinen und gottgefälligen Neigung, weshalb sie dort auch schließlich den Freitod sucht – wohl in der Hoffnung, sich dadurch ganz mit dem imaginierten ‚wahren‘ Gegenstand ihres Verlangens vereinigen zu können. Bedenkt man die enge Verbindung zwischen Weiblichkeit und Religiosität im bürgerlichen Denken des 19. Jahrhunderts, so wird deutlich, dass Mörike hier eine ebenso scharfsinnige wie weitreichende Diagnose stellt: Die schwärmerische Innerlichkeit der religiösen Passion eröffnete den Frauen einen Weg, verdrängte und verleugnete sinnliche Bedürfnisse in einer sublimierten, gesellschaftlich akzeptablen Form auszuleben. Davon zeugen im Nolten auch die Strophen mit dem Titel In der Char-Woche, die das Ensemble der Gedichte „An L.“ beschließen und in denen von der „Andachtslust“ einer jungen Frau in der Kirche und von den „süße[n] Liebes-Massen“, die sie in ihrem frommen Entzücken genießt, die Rede ist (S. 392). Der Roman aber entlarvt sowohl die übersteigerte Sinnenfeindlichkeit als auch die Flucht in die christliche Mystik als bedenkliche Symptome einer seelischen Krankheit, die ihren Ursprung in den strengen Anforderungen hat, mit denen die zeitgenössische Gesellschaft eine Frau konfrontierte. Die teils latenten, teils offenen Konflikte zwischen Selbsteinschätzung und seelischer Wirklichkeit, mit denen die weiblichen wie die männlichen Hauptfiguren unablässig kämpfen, liefern auch den Schlüssel zu den mannigfaltigen Kommunikationsproblemen, die für die Handlung des Romans eine so bedeutsame Rolle spielen. Der Erzähler macht einmal ausdrücklich auf die komplizierte Überlagerung unterschiedlicher Täuschungen und Selbsttäuschungen aufmerksam: „Auf diese Weise standen die Personen eine geraume Zeit in der wunderlichsten Situation gegen einander, indem Eines das Andere mit mehr oder weniger Falschheit, mit mehr oder weniger Leidenschaft zu hintergehen bemüht war“ (S. 67). Bei anderer Gelegenheit wird darauf hingewiesen, dass sich „durch die fatalste Verschränkung der Umstände, durch ein doppeltes und dreifaches Mißverständniß“ eine „ungeheure Kluft“ zwischen den Protagonisten aufgetan – 182 –
Frauenbilder
habe (S. 171). Am zielstrebigsten geht dabei Larkens vor, der als wohlmeinender Intrigant seinem Freund die Verlobte retten will, weil er „jenes einfache Mädchen“ für ein „seltenes Gut“ hält (S. 67). Seine Einschätzung von Agnes leitet er allerdings einzig und allein aus ihren Briefen ab, in denen sich die Verfasserin, wie der Leser des Romans weiß, keineswegs rückhaltlos offenbart. Ihr Vater, der eines dieser Schreiben zu Gesicht bekommt, liest darin „köstliche, hinreißende, und doch wohlbedachte Worte“, die „bloß ein Mädchen schreiben [kann], das völlig ungetheilt in dem Geliebten lebt und webt“, wundert sich aber über die „absichtliche Leichtigkeit, womit jene ernsten und tiefen Bewegungen in Agnesens innerm Leben hier gänzlich übergangen waren“ (S. 61). Auch sonst pflegt Agnes immer dann „eilig die Feder“ zu ergreifen, wenn sie sich einmal vorübergehend alle Zweifel und Sorgen wegen ihrer Beziehung zu Nolten aus dem Kopf geschlagen hat, so dass ihre innere Zerrissenheit gar nicht erst zum Thema werden kann (S. 56). Sie inszeniert sich demnach buchstäblich nach dem geläufigen Muster idealer Weiblichkeit, indem sie alles, was nicht in dieses Schema passt, sorgsam verschweigt. Ihre vermeintliche unschuldige Reinheit ist das Produkt einer ‚wohlbedachten‘ Schreibstrategie, mit der sie den männlichen Wunschphantasien entgegenkommt, und gerade deshalb schenkt Larkens ihrer Darstellung ohne weiteres Glauben – er, der doch am besten wissen müsste, wie sich das Medium des Briefes für ein virtuoses Masken- und Verwirrspiel gebrauchen lässt! Und der Schauspieler ist nicht der einzige, der sich seine Vorstellung von Noltens Verlobter nach deren Briefen formt. Auch Constanze, die Agnes ebenfalls nur auf diesem Wege kennenlernt, bewundert ihren „reinen harmonischen Sinn“, bezeichnet sie als „Lamm“ und „Engel“ (S. 161) und als kindliche „Heilige“ (S. 262) – in tragischer Ironie glaubt sie, in dem fernen Mädchen jenes Frauenideal verkörpert zu sehen, vor dem sie selbst in beschämender Weise versagt hat. Nolten dagegen bricht den Kontakt zu Agnes auf der Stelle ab, als er durch „die Briefe sehr ehrenwerther Personen“ (S. 44) von ihrer angeblichen Untreue unterrichtet wird, ohne weitere Nachforschungen anzustellen oder ihr Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben, denn ihm genügt die Gewissheit, „um den ersten heiligen Begriff von Reinheit, Demuth, ungefärbter Neigung […] für immer bestohlen“ zu sein (S. 66). Nicht auf Agnes’ Person und Wohlergehen richtet sich sein Interesse, sondern ausschließlich auf die Sicherheit seines eigenen Gefühlslebens. Die angeführten Beispiele erschöpfen zwar keineswegs das ganze Spektrum gestörter oder scheiternder Kommunikationsvorgänge in Maler – 183 –
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Nolten, belegen aber doch schon hinreichend, dass die Projektionen, mit denen die Figuren sich den Zugang zu ihren Mitmenschen verstellen und einen wirklichen Austausch unmöglich machen, aus ihrer jeweiligen psychischen Verfassung, aus ihren Wunschbildern und geheimen Ängsten erwachsen; der Abscheu, den Agnes im Wahnsinn gegen den vermeintlichen „Höllenbrand“ Nolten an den Tag legt, illustriert diesen Zusammenhang besonders eindrucksvoll und in krankhafter Zuspitzung. So geht Mörikes erschütternde Erfahrung, dass eine rückhaltlose Offenheit in zwischenmenschlichen Beziehungen unerreichbar bleiben muss, auch in seinen Roman ein. In den zahlreichen Briefen, die zwischen den Personen gewechselt werden und die über weite Strecken den unmittelbaren mündlichen Verkehr ganz in den Hintergrund drängen, findet der gesamte Problemkomplex gleichsam sein mediales Gegenstück, weil die briefliche Kommunikation, die ja die Abwesenheit des Partners voraussetzt, der Täuschung und dem Missverständnis ein weites Feld eröffnet. Aber nicht bloß Trug und Selbstbetrug, sondern auch die Schamgefühle, die von verbotenen Seelenregungen geweckt werden, drängen die Protagonisten dazu, den mündlichen Austausch von Angesicht zu Angesicht durch Briefe zu ersetzen. Nur schriftlich kann sich Constanze gegenüber dem Geliebten zu ihrer Schuld bekennen, und „Furcht, Grille, Scham, Feigheit“ haben Friedrich Nolten stets davon abgehalten, sich in der Residenzstadt, wo er inkognito lebt, seinem Neffen zu offenbaren und damit noch einmal das „Labyrinth“ seiner Vergangenheit zu betreten (S. 412) – sein Bekenntnisbrief an Theobald kommt schließlich zu spät. Generell ist in Maler Nolten auf die Zeichen, die der Verständigung über Gefühle dienen sollen, kein Verlass, weil sie jederzeit manipuliert oder falsch gedeutet werden können. Dass beispielsweise authentische Liebesbekundungen von den bloßen Effekten geschickt eingesetzter rhetorischer Strategien nicht zu unterscheiden sind, zeigt sich, wenn es Larkens gelingt, in seinen Briefen an Agnes die „holden Töne“ echter Zuneigung „täuschend genug dem wirklichen Geliebten nachzuspielen“ (S. 67). Geradezu als Sinnbild für die Allgegenwart von Trug und Verstellung in Mörikes Roman erscheint der Maskenball im Redoutenhaus der Residenz, den Theobald mit seinen Freunden besucht. Durch reine Intuition hofft der Maler seine Constanze unter den verkleideten Gestalten zu erkennen: „Und doch wie wäre es möglich, daß ich aus tausend Drahtpuppen das einzige Wesen nicht sollte herausfinden können, das in der einfachsten, unwillkürlichsten Bewegung jene angeborene Grazie, jenen stets lächelnden Zauber verräth, den nur die ewig wahrhaftige Natur, den nur – 184 –
Künstlerschicksale
die Unschuld selber zu geben und so reizend und leicht mit der anerzogenen Sitte zu verschmelzen vermag!“ (S. 32) In der Granatblüte, die ihm auf dem Fest von unbekannter Hand angeheftet wird, glaubt er sogar ein untrügliches „theures, unschätzbares Merkzeichen“ von Constanzes Liebe vor sich zu haben (S. 46). Aber diese beiden vermeintlichen Gewissheiten erweisen sich als illusorisch, denn etwas später erfährt Nolten, dass die Gräfin gar nicht an dem Maskenball teilgenommen hat.14 Auch in seinen sehnsüchtigen Gedanken an Agnes, die inzwischen durch Larkens’ Eröffnungen rehabilitiert worden ist, manifestieren sich die unüberwindlichen Barrieren, die jeden Menschen vom anderen trennen und ihm dessen innerste Wahrheit verstellen: „so sah er die Gestalt des lieben Mädchens gleichsam immer einige Schritte vor sich, aber leider nur vom Rücken; der Anblick ihrer Augen, die ihm das treuste Zeugniß geben sollten, war ihm versagt; von allen Seiten sucht er sie zu umgehn, umsonst, sie weicht ihm aus: ihres eigentlichen Selbsts kann er nicht habhaft werden“ (S. 246). Letztlich sind diese Barrieren in den Verdrängungsschranken verankert, die die Romanfiguren aufgerichtet haben, um unerwünschte, erschreckende und verbotene Bezirke des eigenen Seelenlebens aus ihrem Bewusstsein auszuschließen.
Künstlerschicksale Mit den Identitätskrisen des bürgerlichen Menschen, die aus dem Kampf zwischen der Zensur des Über-Ich und den verdrängten triebhaften Regungen erwachsen, verknüpft Maler Nolten auch das Künstlertum seiner männlichen Protagonisten. Deren Produktivität verdankt sich nämlich der Auseinandersetzung mit solchen inneren Konflikten, die Nolten und Larkens in ihren Bildern und Dichtungen förmlich inszenieren – deshalb lassen sich zwischen ihren verschiedenen Werken, die immer wieder die Konfrontation mit einer ebenso anziehenden wie bedrohlichen weiblichen Verlockung thematisieren, auch manche Analogien beobachten, die bis in motivische Details hineinreichen. Künstlerisches Schaffen wird in Mörikes Roman als ein Versuch aufgefasst, die stetige latente Gefährdung der nur scheinbar festgefügten Identitätsmuster durch objektivierende Gestaltung zu bannen. Ein solches Unternehmen bleibt aber zwangsläufig ambivalent, weil es zugleich eine Annäherung an die tabuisierten Wünsche und Ängste ermöglicht, die in Bild oder Text festgehalten und den Rezipienten vermittelt werden: Dichtung und Malerei stehen nicht allein – 185 –
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im Dienste der Zensur und der Abwehr, sondern bergen auch ein subversives Potenzial, indem sie zutage fördern, was normalerweise der striktesten Verdrängung unterliegt. Dem psychoanalytischen Verständnis künstlerischer Schöpfungen vorgreifend, interpretiert Mörike das Kunstwerk – in Analogie zum Traum – als eine widersprüchliche Einheit, die sowohl den tabuisierten Triebwünschen als auch den Geboten des Über-Ich Geltung verschafft. Den Künstler zeichnet gerade die partielle Durchlässigkeit seiner Verdrängungsschranken aus, die eine ungewöhnliche Offenheit für die Impulse des Unbewussten bedingt. Seine auf Triebkontrolle und Selbstzügelung beruhende bürgerliche Identität hat sich nicht so weit verfestigt, dass sie ihm zu einer zweiten Natur geworden wäre; dieser Umstand begründet seine Begabung wie seine Gefährdung. Den Titelhelden des Romans stellt Mörike zunächst indirekt vor und zwar über die Beschreibung zweier Bilder, denen, wie man später erfährt, Skizzen von Noltens Hand als Vorlage dienten. Gleich das Gemälde von der „Wassernymphe“, der „ein schöner Knabe auf dem Kahn von einem Satyr zugeführt wird“, gewährt tiefe Einblicke in jenen innerseelischen Widerstreit, der sich als das Kernthema des ganzen Nolten erweisen wird. Die Nymphe drückt sich, vorgeneigt und bis an die Hüften im Wasser, fest an den Rand des Nachens, indem sie mit erhobenen Armen den reizenden Gegenstand ihrer Wünsche zu empfangen sucht. Der schlanke Knabe beugt sich angstvoll zurück und streckt, doch unwillkürlich, Einen Arm entgegen […]. Bei der Senkung einer Welle zeigt sich wenig der Ansatz des geschuppten Fischkörpers, in der Nähe schlägt der thierische Schwanz aus dem grünen Wasser, aber man vergißt das Ungeheuer über der Schönheit des menschlichen Theils und der Knabe vergeht in dem Liebreiz dieses Angesichts […]. Übrigens ist vollkommene Meeraussicht und man befindet sich mit den Personen einsam und ziemlich unheimlich auf dem hülflosen Bereiche. (S. 13f.)
Aus männlicher Perspektive betrachtet, für die der Knabe die Identifikationsfigur abgibt, liegt diesem Bildmotiv die Wunschphantasie einer sexuellen Vereinigung zugrunde, die aber von der charakteristischen Furcht des bürgerlichen Menschen vor dem ungezügelten Rausch der Leidenschaften durchdrungen ist und deshalb zutiefst widersprüchliche Züge trägt. Zwiespältig im Wortsinne ist schon die Nymphe selbst, die bei aller „Schönheit des menschlichen Theils“ eben doch ein „Ungeheuer“ bleibt, und zwiespältig erscheint auch die Haltung des Jungen, der sich „angstvoll“ zurückbeugt, während er der Verführerin zugleich einen Arm entgegenstreckt. – 186 –
Künstlerschicksale
So hält das Gemälde in plastischer Form fest, wie sich ein männliches Subjekt, zwischen Faszination und Entsetzen schwankend, mit triebhaften Regungen konfrontiert sieht, die hier ganz buchstäblich aus dem Reich des Unbewussten emportauchen. Die Drohung des Selbstverlusts kommt in der „hülflosen“ Weite des Meeres, in das die Wasserfrau ihr Opfer ziehen will, und in der sprechenden Wendung „der Knabe vergeht in dem Liebreiz dieses Angesichts“ anschaulich zum Ausdruck. Eine nüchterne, sachliche Bildbeschreibung liefert die Passage allerdings keineswegs, denn obwohl der alte Baron Jaßfeld, dem die Schilderung in den Mund gelegt ist, zahlreiche Einzelheiten mit großer Genauigkeit wiedergibt, lässt er vielfach auch seine ganz persönliche emotionale Reaktion auf das Dargestellte einfließen, wobei er sich bezeichnenderweise in den Knaben einfühlt – woher könnte er sonst beispielsweise wissen, dass dieser seinen Arm „unwillkürlich“ ausstreckt? Die Wendung „man vergißt das Ungeheuer …“ und der Hinweis auf die unheimliche Atmosphäre der Meereseinsamkeit sind gleichfalls aus dem Blickwinkel des Jungen formuliert. In seiner Wahrnehmung des Bildes vollzieht Jaßfeld demnach jene Wunsch- und Angstphantasien nach, die in das Gemälde eingegangen sind, und in diesem mehr oder weniger unbewusst ablaufenden Identifikationsprozess dürften auch die geheimen Gründe für den überschwänglichen Enthusiasmus zu suchen sein, den das Kunstwerk bei ihm hervorruft. Mörike verbirgt in der Beschreibung des Nymphenbildes eine Reflexion über die Wirkung von Kunst auf den Rezipienten: Das Gemälde fesselt den Betrachter, weil es ihm eine Begegnung mit verdrängten Anteilen des eigenen Selbst ermöglicht, wobei Angst und Unbehagen durch die Tatsache, dass man sich ja im sicheren Bezirk der Fiktion und der Phantasie bewegt, wohltuend gemildert werden. Auch in diesem Punkt nimmt Maler Nolten Überlegungen vorweg, die später von Psychoanalytikern wie Sigmund Freud und Hanns Sachs entwickelt wurden. Das zweite von Jaßfeld geschilderte Bild, eine mit Wasserfarben ausgeführte Federzeichnung, die eine „nächtliche Versammlung musik liebender Gespenster“ zeigt, verschafft dem Baron ebenfalls einen hohen ästhetischen Genuss, obwohl es doch „einen fast schauderhaften Eindruck“ erregt (S. 14). Hier manifestiert sich die Angst vor dem Selbstverlust in der Vision einer melancholischen Jenseitsexistenz, in deren Mittelpunkt die nach Elisabeths Vorbild entworfene Orgelspielerin und „ein schlummertrunkener Jüngling mit geschlossenen Augen und leidenden Zügen“ stehen (S. 15). Aber schon die Bildkomposition als solche zeugt auch von dem Bestreben des Künstlers, seine Ängste zu bewältigen, denn – 187 –
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er bereichert das düstere Szenario um eine ganze Reihe komisch-grotesker Figuren, die die unheimliche Wirkung durch „possenhafte und neckische Spiele“ mildern (S. 16). Jaßfelds Beschreibung vollzieht diesen Übergang Schritt für Schritt nach. Die beiden Bilder, die gewissermaßen die Ouvertüre des Maler Nolten ausmachen, illustrieren Theobalds prekäre psychische Situation sehr viel eindrucksvoller, als es etwa eine direkte Charakterisierung dieser Figur durch den Erzähler tun könnte. Wie eng sie mit seinem innerlichen Leben verknüpft sind, wird in verschiedenen Wendungen angedeutet: Sein „eigentliches Selbst“ liege in diesen Werken, bekennt er im Gespräch mit Tillsen (S. 21), und das inzwischen vollendete Gemälde mit dem Geisterkonzert erschreckt ihn beim ersten flüchtigen Blick wie das „Gespenst eines Doppelgängers“ (S. 24). Noltens Unfähigkeit, seine Skizzen aus eigener Kraft in Öl auszuführen, weckt freilich von vornherein Zweifel, ob seine Bemühungen, bedrängende seelische Konflikte durch künstlerische Objektivierung zu bewältigen, letztlich erfolgreich sein werden. Tillsen bleibt es überlassen, der selbsttherapeutischen Strategie des Kollegen über den fatalen toten Punkt hinwegzuhelfen, und folgerichtig erscheint er dem Jüngeren als verklärter väterlicher „Meister“ und „Erretter“, dessen „gelassene Hand […] auf ewig die verworrenen Fäden [s]eines Wesens ordnete“ (S. 22). Indes werfen die Eingangspartien des Romans auch auf den arrivierten Künstler ein fragwürdiges Licht, denn Tillsen hat zuvor „in anderthalb Jahren keine Farbe angerührt“ (S. 12) und bedurfte erst der „Spur“ eines fremden Genius, um sich endlich wieder zum Schaffen aufraffen zu können (S. 17). Er vermag Noltens Entwürfe souverän und mit technischer Brillanz zu benutzen, weil er von den Konflikten, die dessen Kunst inspirieren, offenbar nicht unmittelbar berührt wird, aber die Kehrseite dieser Sicherheit stellt sein schmerzlich empfundener Mangel an schöpferischen Impulsen dar. In Tillsen und Nolten haben wir gewissermaßen die beiden Hälften einer ganzen, vollständigen Künstlerpersönlichkeit vor uns, deren Spaltung in Maler Nolten nie überwunden wird. Das Fehlen einer verlässlichen väterlichen Autorität stellt übrigens ein Leitmotiv des Romans dar, denn auch die weiteren auftretenden Vater figuren, zu denen neben Noltens leiblichem Vater noch der Förster, der alte Baron in Neuburg und der Präsident von K* zu rechnen sind, lassen jene beruhigende Überlegenheit vermissen, die dem Protagonisten in seiner Bedrängnis einen festen Halt gewähren könnte.15 Die Wertmaßstäbe und Normvorstellungen der patriarchalischen bürgerlichen Ordnung finden im Text keinen einzigen starken und glaubwürdigen Repräsentanten. – 188 –
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Ohne Zweifel ist Theobalds Künstlertum aufs engste mit der Person Elisabeths verknüpft. In dem eingefügten Bericht „Ein Tag aus Noltens Jugendleben“, der seine erste Begegnung mit der Zigeunerin schildert, heißt es gegen Ende: „der Trieb zu bilden und zu malen ward jezt unwiderstehlich und sein Beruf zum Künstler war entschieden“ (S. 217), und nicht von ungefähr stellt diese exakt in der Mitte des Maler Nolten platzierte Schlüsselepisode den Ziel- und Endpunkt der analytischen Erzählstruktur des ersten Romanteils dar. Da scheint es nahe zu liegen, Elisabeth mit Adolf Beck im „symbolischen Sinne“ als Personifikation von Noltens „Berufung zum Künstler zu verstehen“16 – eine Interpretation, die in der Mörike-Forschung seither tatsächlich immer wieder vertreten wurde. Eine nähere Analyse erweist diese Auffassung jedoch als irrig und fördert sehr viel komplexere Zusammenhänge zutage. Elisabeths Anblick übt auf den jungen Theobald eine erschütternde und zutiefst aufwühlende Wirkung aus, die der Heranwachsende in pathetischen Wendungen umschreibt: „Seht nur […], als ich Euch ansah, da war es, als versänk’ ich tief in mich selbst, wie in einen Abgrund, als schwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe stürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch in hundert Träumen gesehen habe […]: da verging das Bewußtseyn mir, ich habe vielleicht lange geschlafen, aber wie sich meine Augen aufhoben von selber, schaut’ ich in die Eurigen, als in einen unendlichen Brunnen, darin das Räthsel meines Lebens lag.“ (S. 195)
Auch der Erzähler nähert Theobalds Erfahrung auf dem Rehstock einem mystischen Erweckungserlebnis an: „Es war, als erleuchtete ein zauberhaftes Licht die hintersten Schachten seiner inneren Welt, als bräche der unterirdische Strom seines Daseyns plötzlich lautrauschend zu seinen Füßen hervor aus der Tiefe, als wäre das Siegel vom Evangelium seines Schicksals gesprungen“ (S. 217). Der junge Nolten sieht sich auf einmal mit Regionen seines Seelenlebens konfrontiert, die ihm bislang verborgen waren und die der Text in Anlehnung an geläufige Motive der romantischen Dichtung als dunkle Abgründe und verborgene Tiefen umschreibt. Es handelt sich aber um ein Gebiet, das jenseits der bürgerlichen Normalität und ihrer Konventionen liegt und dessen Erkundung daher riskante Grenzverletzungen impliziert. Aus gutem Grund begegnet Noltens strenger Vater Elisabeth von Anfang an mit einer Mischung aus Angst und Feindseligkeit. Die Begebenheiten auf dem Rehstock scheinen im Kleinen nachzubilden, was Theobalds Onkel Friedrich Nolten, Elisabeths Vater, vor langer – 189 –
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Zeit im größeren Maßstab durchgemacht hat. Dessen Reise in die böhmischen Wälder, auf der er die Zigeunerin Loskine kennenlernt, bedeutet nicht nur eine Grenzüberschreitung im räumlichen Sinne, sondern auch einen Vorstoß in Bezirke des Empfindens und der Leidenschaften, die die bürgerliche Gesellschaft zu tabuisieren pflegt, eine Begegnung mit der Faszination des Fremden, Wilden, Exotischen – und Erotischen. Friedrichs Versuch, diese Aspekte durch die Heirat mit Loskine in sein gewohntes Dasein zu integrieren, stößt dementsprechend auf heftigen Widerstand. Der Pfarrer von Wolfsbühl verwirft das Verhalten seines Bruders noch nach vielen Jahren mit Ausdrücken, die den geltenden Normen eine quasi-religiöse Würde verleihen und die Abweichung davon als teuflische Verlockung brandmarken: „Ich werde ihn aufrichtig beweinen bis an meinen Tod, ob ich gleich was er that nicht billigen kann und Jeden warnen muß, dem Gott ein so gefährlich Temperament verlieh, daß er den Fallstrick des Versuchers vermeide und nie die Bahn heilsamer Ordnung verlasse“ (S. 215). Die Religion dient dem Pfarrer also zur Legitimation und Stabilisierung bürgerlicher Normen und Verhaltensstandards – und schon am Beispiel von Agnes’ Wahnsinn konnten wir beobachten, wie kritisch der Roman diese Rolle des christlichen Glaubens beleuchtet. Dass Noltens Vater als autoritärer Repräsentant der „Ordnung“ insbesondere die Sprengkraft sexueller Triebregungen fürchtet, erhellt aus verschiedenen Details und aus gewissen motivischen Verweisen innerhalb des Romans. Loskines hinterlassenes Porträt, das schon frühzeitig Theobalds Neugier geweckt hat, übt mit seiner „dämonischen Schönheit“ eine Anziehungskraft aus, die selbst der Pfarrer „wider Willen“ verspürt, weshalb er das fatale Gemälde sicherheitshalber „in die hinterste Ecke“ des Dachbodens versteckt (S. 214f.). Und Elisabeth wird im Nolten leitmotivisch mit dem Feuer in Verbindung gebracht, das traditionell – wie auch in vielen Gedichten Mörikes – die Flammen der erotischen Begierde symbolisiert. Bei Theobalds Erlebnis auf dem Rehstock geht es demnach nicht zuletzt um die Konfrontation mit verdrängten und verleugneten Leidenschaften und Affekten. Im übertragenen Sinne hat sein Vater gar nicht so unrecht, wenn er die Zigeunerin der Brandstiftung in seinem Hause verdächtigt!17 Indem der Roman die Auszüge aus Friedrichs Tagebuch in Theobalds Jugendgeschichte einfügt, lädt er förmlich dazu ein, die Abenteuer des Neffen mit denen des Onkels zu vergleichen, und im Text stellen mehrere Figuren auch ausdrücklich entsprechende Überlegungen an: Larkens spricht von einem bemerkenswerten Beispiel für „Wahlverwandtschaften“ zwischen Verwandten (S. 187), und der Pfarrer fürchtet, dass sein Sohn in – 190 –
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die Fußstapfen des Onkels treten werde.18 Eine genauere Betrachtung deckt jedoch gewichtige Unterschiede zwischen den beiden Personen auf, denn obwohl Theobald so euphorisch auf die Begegnung mit Elisabeth reagiert, zieht er nie ernsthaft in Erwägung, für sie die Sicherheit seines bürgerlichen Daseins aufs Spiel zu setzen und einen offenen Konflikt mit dessen Regeln und Geboten zu riskieren. Aufschlussreich ist hierbei die Vereinbarung, die er mit der Zigeunerin trifft, während sie auf dem Rehstock allein sind. Wir erfahren darüber allerdings nur wenig: Niemand war Zeuge von dem seltsamen Bündniß, welches der Knabe in einer Art von Verzückung mit seiner angebeteten Freundin dort unter den Ruinen schloß, aber nach dem, was er Adelheiden darüber zu verstehen gab, sollte man glauben, daß ein gegenseitiges Gelübde der geistigsten Liebe Statt gefunden, deren geheimnißvolles Band, an eine wunderbare Naturnothwendigkeit geknüpft, beide Gemüther, aller Entfernung zum Trotze, auf immer vereinigen sollte. (S. 217)
Diese Passage belegt, wie unbekümmert Mörike auch in „Ein Tag aus Noltens Jugendleben“ mit der Erzähllogik umspringt. Obwohl er die Episode als ein Manuskript ausgibt, in dem Larkens die mündlichen Mitteilungen seines Freundes „treulich“ aufgezeichnet hat (S. 187), nimmt er bei der erzählerischen Gestaltung nicht die geringste Rücksicht auf diese Fiktion, denn der Erzähler der Jugendgeschichte weiß manches, was Nolten unmöglich wissen kann, während er andererseits mitunter Dinge verschweigt, von denen der Protagonist genaue Kenntnis haben müsste. Wie auch sonst in Maler Nolten gehorcht die Erzählhaltung allein wirkungsästhetischen Gesichtspunkten: Soll der Leser über einen Sachverhalt im Unklaren gelassen werden, wird ihm im Erzählvorgang eben eine Leerstelle präsentiert. So spart der Bericht das vertrauliche Gespräch zwischen Theobald und Elisabeth aus, indem er im entscheidenden Augenblick zu Adelheids Perspektive überwechselt 19, und Noltens eben zitierte Bemerkungen über jenes „seltsame Bündniß“ verdienen gewiss kein uneingeschränktes Vertrauen, da sie unmissverständlich als eine sehr persönlich gefärbte Deutung des Vorgangs gekennzeichnet sind („nach dem, was er Adelheiden darüber zu verstehen gab, sollte man glauben …“!). Was wirklich auf dem Rehstock abgemacht wurde, entzieht sich folglich unserer Kenntnis, doch zeigt sich später jedenfalls, dass Elisabeth das mysteriöse „gegenseitige Gelübde“ ganz anders interpretiert. Während Theobald in seiner gleichsam spirituellen Bindung an die Zigeunerin offenkundig kein Hindernis für andere Frauenbeziehungen erblickt, die sich im konventionellen Rahmen bewegen und auf eine – 191 –
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Eheschließung abzielen, fordert Elisabeth den Maler als ihren Geliebten für sich allein und macht gegenüber ihren beiden Rivalinnen ältere Ansprüche geltend: „Sey Zeuge du Himmel, du frommes Gewölbe, daß dieser Jüngling mir zugehört! Er hat mir’s geschworen vorlängst auf der Höhe, da er mich fand.“ Nolten, der bei Elisabeth bezeichnenderweise nur eine „schwesterliche Neigung“ voraussetzen wollte, steht wie vom Donner gerührt, als sie ihm vorwirft, sie mit Agnes und Constanze gleich „doppelt“ betrogen zu haben (S. 374f.). Theobalds eigentümliche Auffassung des geschlossenen Bundes, die so gar nicht mit Elisabeths Sicht der Dinge harmoniert, lässt sich als eine Kompromissbildung begreifen, mit deren Hilfe er die „mächtige und tiefgegründete Leidenschaft“, die ihm die mysteriöse Fremde eingeflößt hat (S. 202), bewahren will, ohne aus der vertrauten bürgerlichen Ordnung ausbrechen zu müssen. Immerhin ist schon das Treffen auf dem Rehstock bei aller überschwänglichen Seligkeit des jungen Mannes ein durchaus zwiespältiges Erlebnis, deuten sich doch in den bekannten Motiven der Dunkelheit, der Ohnmacht und des Sturzes auch die identitätsgefährdenden Seiten einer solchen Grenzüberschreitung an. Deshalb verschiebt Nolten die Beziehung zu Elisabeth aus dem Raum des praktischen, folgenreichen Handelns in die virtuelle Sphäre der „geistigsten Liebe“, die ganz selbstverständlich eine „Entfernung“ zwischen den Partnern voraussetzt. Als eine ähnliche sublimierende Kompromissbildung können wir nun seinen Enthusiasmus für die Kunst verstehen. Intensive Kunstrezeption hat schon die Begegnung mit Elisabeth vorbereitet, deren überwältigende Wirkung schwerlich eingetreten wäre, wenn der junge Theobald in der Zigeunerin nicht das zum Leben erwachte „unwiderstehliche Bild“ Loskines wiederzuerkennen geglaubt hätte, das er seit Jahren heimlich verehrt (S. 217) – das Kunsterlebnis präfiguriert für ihn die lebendige Erfahrung. Der schwärmerische Umgang mit dem Porträt auf dem Dachboden gestattet es dem Jugendlichen, in seiner Phantasie geheime emotionale Bedürfnisse auszuleben, die in der Welt des streng religiösen Pfarrhauses keinen Platz finden, und es kann kaum verwundern, dass er nach Elisa beths Verschwinden in einem erneuerten Bilderkult Trost sucht, mit dem der Erzähler jetzt auch seine Neigung zur selbständigen Ausübung der Malkunst in eine unmittelbare Verbindung bringt: „Doch dauert es lang’, bis Theobald die tiefe Sehnsucht nach der Entfernten überwand. Sein ganzes Wesen war in Wehmuth aufgelöst, mit doppelter Inbrunst hielt er sich an jenes theure Bild; der Trieb zu bilden und zu malen ward jezt unwiderstehlich und sein Beruf zum Künstler war entschieden“ (S. 217). – 192 –
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Als Gegenstand eines seiner ersten Werke wählt er wiederum Elisabeth, die er „in asiatischem Costume, mit Scenerie im ähnlichen Geschmack“, darstellt, womit er noch einmal ihre Distanz zu seinem bürgerlichen A lltag betont (S. 361). Noltens „innigste Vermählung mit der Kunst“, die Larkens ganz zutreffend als Dreh- und Angelpunkt der Jugendgeschichte bezeichnet (S. 188), geht also auf Kosten Elisabeths: Rezeption und Produktion von Kunst ersetzen für Theobald die persönliche Bindung an die Zigeunerin. Seine Begeisterung für die Malerei und seine künstlerische Produktivität speisen sich gerade aus der Distanz und aus der stets unerfüllten „Sehnsucht“, die er im Gespräch mit Larkens das „Element des Künstlers“ nennt (S. 232). Die Kunst eröffnet ihrem Jünger einen Schonraum jenseits der lebensweltlichen Realität, in dem er sich ohne bindende Verpflichtungen seinen Phantasien hingeben kann. Dass diese Phantasien ihrerseits ambivalent ausfallen, weil Begehren und Abwehr, leidenschaftliches Verlangen und innere Zensur in ihnen gleichermaßen zur Geltung drängen, haben wir bereits in der Analyse des Nymphengemäldes dargelegt. Der latent subversive Charakter künstlerischer Schöpfungen, die auf diese Weise verborgene seelische Konflikte des bürgerlichen Individuums ans Licht ziehen, erklärt auch die Abneigung, mit der die rigiden Vertreter der gesellschaftlichen Ordnung dem Künstlertum begegnen. Der Pfarrer von Wolfsbühl erschrickt angesichts der „hexenhafte[n] Karikaturen“, die Theobald zu kritzeln pflegt (S. 216), und will von einer Künstlerlaufbahn seines Sohnes nichts wissen, und ganz ähnlich urteilt der Hofrat in der Residenzstadt, hinter dem sich niemand anders als der gealterte Friedrich Nolten verbirgt, der seit dem Tod seiner Frau und dem Verschwinden seiner Tochter augenscheinlich allen unbürgerlichen Neigungen abgeschworen hat: Er verwirft die Werke des Neffen als „eine trübe Welt voll Gespenstern, Zauberern, Elfen und dergleichen Fratzen“, die geradewegs den Köpfen von Irrsinnigen entsprungen sein könnten (S. 28). Was über den engen Kreis der vermeintlich gesunden Normalität hinausgeht, mutet den Pfarrer wie den Hofrat krankhaft, abartig und gefährlich an – eine Einschätzung, die Mörike ironisch unterläuft, indem er beide Figuren als skurrile hypochondrische Unglücksvögel porträtiert. Die Kunst dient Theobald dazu, seine fragile bürgerliche Identität zu stabilisieren, denn sie ermöglicht es ihm, sich in einer gesicherten Sphäre produktiv mit Gefühlsregungen und Begierden zu beschäftigen, die ihm bedrohlich vorkommen und ihn doch zugleich anziehen. Der Wandel seiner Einstellung zu der wirklichen Elisabeth, die dem Erwachsenen nur – 193 –
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noch als Unheilsbotin, als die „schreckliche Elisabeth“ oder „die Verrückte“ erscheint (S. 246), gibt jetzt kein Rätsel mehr auf. Was im abgeschlossenen Refugium der Kunst bewältigt werden sollte, tritt in ihrer Person leibhaftig und fordernd vor ihn hin: Die Zigeunerin verkörpert für Nolten geradezu die Wiederkehr des Verdrängten und muss in seinen Augen daher folgerichtig gespenstische und – im präzisen Freud’schen Sinne – unheimliche Züge annehmen. Kein Wunder also, dass Larkens die Vorstellung eines Wiedersehens seines Freundes mit Elisabeth „bedenklich“ findet (S. 185). Mit diesen Einsichten in Noltens Persönlichkeit und die Wurzeln seines Künstlertums lassen sich einige typische Verhaltensmuster verknüpfen, die der Roman dem Titelhelden zuschreibt. Opfert er schon frühzeitig Elisabeths Ansprüche seinem Kunstenthusiasmus, so wiederholt sich dieselbe Bewegung später, sobald er in seinen Liebesbeziehungen mit Erfahrungen und Emotionen konfrontiert wird, die sein inneres Gleichgewicht gefährden. Kaum ist die Illusion zerbrochen, dass er in Agnes das Ideal engelsgleicher Weiblichkeit gefunden habe, flüchtet sich Theobald aufs Neue in die Kunst, „welche ihm nunmehr Ein und Alles, das höchste Ziel seiner Wünsche seyn sollte“ (S. 26), und als er sich von Constanze abgewiesen sieht, klammert er sich ebenfalls nur umso entschiedener an den „heiligen Werth“ der Malerei, wobei er sogar ausdrücklich auf das ursprüngliche Vorbild dieser Ausweichstrategie zu sprechen kommt: „Befreit von der Herzensnoth jeder ängstlichen Leidenschaft, besizt mich nur ein einziger gewaltiger Affekt. Fast glaub’ ich wieder der Knabe zu seyn, der auf des Vaters Bühne vor jenem wunderbaren Gemälde wie vor dem Genius der Kunst geknieet“ (S. 227). Die „ängstliche Leidenschaft“, die Nolten in intimen zwischenmenschlichen Verhältnissen fürchtet, wird in den „gewaltige[n] Affekt“ verwandelt, der sich auf die künstlerische Produktion richtet; das „fremde Feuer“, das zuvor in seinem Inneren loderte, weicht der „Inbrunst“ für den Künstlerberuf (ebd.). Schon die Wortwahl verweist hier auf den Vorgang der Sublimierung, der Noltens Schaffen als Maler zugrunde liegt. Indem die umfassende automatische Zügelung spontaner triebhafter Impulse förmliche ‚Affektmauern‘ zwischen den Individuen aufrichtet, drängt sie zugleich sinnliche Freuden und leibliche Genüsse zugunsten der verfeinerten Augenlust des kontemplativen Schauens zurück. Anhand von Theobalds eigentümlicher Art, andere Menschen wahrzunehmen, lässt sich das musterhaft nachzeichnen, und auch auf diesem Gebiet zeigt sich, wie subtil Mörike schon in „Ein Tag aus Noltens Jugendleben“ die – 194 –
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wichtigsten Wesenszüge und Verhaltensweisen angelegt hat, die den Protagonisten des Romans noch in seinen späteren Jahren charakterisieren. Der Jugendliche ersetzt den faszinierend-verstörenden Blick in Elisabeths Augen, der ihn in die schwindelnden Tiefen seines eigenen Selbst stürzen und vorübergehend die Besinnung verlieren lässt, umgehend wieder durch die schwärmerische Betrachtung eines Bildnisses, in der seine Subjekt position unangefochten bleibt. Darüber noch hinausgehend, pflegt der Erwachsene sogar Frauen, die leibhaftig gegenwärtig sind, wie gemalte Bilder zu behandeln – das gilt für Constanze, die er bei einer unerwarteten Begegnung „unverrückt mit klopfendem Herzen“ im Spiegel anschaut, statt sich ihr direkt zuzuwenden (S. 77), für die junge Henriette, die er heimlich durch ein Fenster bewundert, während sie gerade einem anderen Künstler Modell sitzt20, und auch für Agnes, die er beim ersten Wiedersehen auf dem Kirchhof von Neuburg zunächst ebenfalls durchs Fenster beobachtet, wobei sie sich in ihrer idyllischen Umgebung wie eine Figur auf einem Genrebild ausnimmt.21 In allen drei Fällen verwandelt Noltens Blick lebendige Personen in ästhetische Objekte, die ihn nicht zu einer echten Interaktion herausfordern, sondern sich einer distanzierten Betrachtung aus sicherem Abstand darbieten. Nochmals wird daran deutlich, wie innere Schranken und Verdrängungsmechanismen auch zwischenmenschliche Beziehungen prägen, Barrieren errichten und den offenen Austausch blockieren. Eine Ausnahme, die diesmal wahrhaftig die Regel bestätigt, ereignet sich in der Grotte auf Schloss Wetterswyl, wo die vollkommene Dunkelheit kein kontemplatives Schauen zulässt und Noltens heftige Affekte – „Haß, Verzweiflung, Angst“ und „unbegrenzte Wonne“ (S. 82) – endlich einmal in Wort und Tat und letztlich in der Überwindung der körperlichen Distanz zu der Geliebten ihren unverstellten Ausdruck finden können. Als der Maler nach Constanzes eiliger Flucht ans helle Tageslicht zurückkehrt, baut er allerdings schnell wieder eine „Art von Scheidewand zwischen sich selber und seinem gegenwärtigen Gefühl“ auf, wodurch ihm auch die „lebhafte Scene“ in der Grotte „in eine zweifelhafte Ferne“ entschwindet, so dass er nicht einmal mehr sicher ist, ob sie sich wirklich zugetragen hat (S. 84f.). Der Kampf zwischen angstbesetzten und zugleich verlockenden triebhaften Begierden und den von seinem Über-Ich vertretenen gesellschaftlichen Geboten erweist sich bei Nolten als künstlerisch produktiv, doch ein stabiler Ausgleich zwischen den beiden Tendenzen gelingt dem Protagonisten zeitlebens nicht. Unsicherheit und Passivität sind die Folgen dieser permanenten Identitätskrise: An keinem Punkt seines Werdeganges ist der – 195 –
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Maler imstande, völlige Klarheit über sich selbst zu erlangen oder gar einen eigenständigen Daseinsentwurf zu verwirklichen; er bleibt ein Spielball wechselnder innerer und äußerer Einflüsse und Manipulationen, bis hin zu seinem durch Hennis Vision vermittelten Untergang, der sein rettungsloses Verfallensein an die von Elisabeth repräsentierten Kräfte noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Das bürgerliche Subjekt, an dessen Konstituierung Aufklärung und Weimarer Klassik gearbeitet hatten, erweist sich in Maler Nolten als ein äußerst zerbrechliches Gebilde, das auf die Ausgrenzung unerwünschter Triebregungen gegründet ist und, weit entfernt von reflektierter Autonomie und Souveränität, seine unsicheren Identitätsgrenzen ständig mühsam gegen die bedrohliche Wiederkehr des Verdrängten behaupten muss. Mörike schuf damit einen von radikaler Skepsis geprägten Gegenentwurf zu dem idealtypischen Modell des Bildungs- und Entwicklungsromans, an dessen Ende eine erfolgreiche Selbstfindung des Helden und eine verlässliche Balance zwischen persönlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen stehen müssten. Noltens Intimus, der Schauspieler Larkens, kämpft schon seit langem mit ganz ähnlichen Problemen. Eben wegen seiner schlimmen Erfahrungen fühlt er sich zum väterlichen Mentor berufen, „welcher durch eigenen unsäglichen Schaden klug geworden, dem Jüngern gar wohl gelegentlich auf die rechte Spur helfen zu können glaubt“ (S. 179). Überdies tritt Larkens auch als Dichter in Erscheinung und spielt damit eine wichtige Rolle für die poetologische Reflexionsebene von Mörikes Roman. Aber gerade der Widerstreit zwischen seinen beruflichen Pflichten auf der Bühne, die seinen Lebensunterhalt sichern, und dem brennenden Wunsch, frei „im Reiche seiner eigenen Dichtung leben“ und sich ganz der „schaffenden Lust“ hingeben zu können (S. 177), hat in der Vergangenheit eine schwere Krise heraufbeschworen: Dieser widrige Konflikt des Dichters und des Brodmenschen brachte die ersten Stockungen und Unordnungen in seinem Leben hervor; aus Verdruß über die Unausführbarkeit seiner höhern Geisteswelt warf er sich in den Strudel der gemeinen, und die Leidenschaften, welche er durch kunstmäßige Darstellung im schönen Gleichgewichte mit seinem bessern Selbst zu erhalten gedacht hatte, ließ er jezt in zügelloser Wirklichkeit rasen. (S. 178)
Mussten die Strukturen der bürgerlichen Identität und ihre dauernde Gefährdung in Theobalds Fall erst interpretierend aus dem Text rekonstruiert werden, so schildert der Erzähler die vergleichbare Lage seines – 196 –
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Freundes in der zitierten Passage explizit: Einem „bessern Selbst“, das der rigiden Trieb- und Affektkontrolle unterliegt, stehen die ausgegrenzten „Leidenschaften“ gegenüber, die der Schauspieler weder ganz zu unterdrücken noch als Teil seines Ich zu akzeptieren vermag. Um ein „Gleichgewicht“ zu schaffen, die Triebwelt gestaltend zu bändigen und damit seine innere Zerrissenheit zu heilen oder doch wenigstens zu mildern, nimmt Larkens die Kunst zu Hilfe, deren nun schon mehrfach berührte ambivalente Rolle zwischen Affirmation und Subversion hier noch einmal deutlich hervortritt. Soll sie einerseits der therapeutischen Sublimierung dienen, so bewahrt sie andererseits die verbotenen Regungen in „kunstmäßige[r] Darstellung“ auf, womit sie ihre Verdrängung aus der bürgerlichen Normalität immer von neuem unterläuft. Larkens’ Bemühungen scheitern letztlich an dem Druck der materiellen Notwendigkeiten. Nur flüchtig, aber doch unmissverständlich ist von dem „Wirbel der verderblichsten Genüsse“ die Rede, der ihn daraufhin verschlingt. Und obwohl er es nach einer Weile fertigbringt, diese „traurige Versunkenheit“ zu überwinden, dem „unwürdigen Leben“ zu entsagen und sich in der Residenzstadt „zu neuer Thätigkeit“ aufzuraffen, entrinnt er den seelischen Folgewirkungen seiner Ausschweifungen nicht: Aber jene fleckenvolle Zeit seines Lebens hinterließ auch dann noch eine unüberwindliche Unruhe, eine Leere bei ihm, als er seine sittliche und physische Natur längst mit den besten Hoffnungen aus dem Schiff bruch gerettet hatte. Des heiteren geistreichen Mannes bemächtigte sich eine tiefe Hypochondrie, er glaubte seinen Körper zerrüttet, er glaubte die ursprüngliche Stärke seines Geistes für immer eingebüßt zu haben, obgleich er den zwiefachen Irrthum durch tägliche Proben widerlegte. (S. 178)
Auch im Nachhinein straft das Über-Ich die Verfehlungen unerbittlich, indem es den Bedauernswerten, übrigens im Einklang mit den Anschauungen der zeitgenössischen Medizin und Pädagogik, mit hypochondrischen Quälereien verfolgt – das „besser[e] Selbst“ geht nicht unbeschädigt aus dem „Schiff bruch“ der sinnlichen Exzesse hervor. Trost findet Larkens in seinem Einsatz für das Wohl des Freundes, den er zu der vermeintlich kindlich-unschuldigen Agnes zurückführt. Mögen die Methoden, deren er sich dabei bedient, auch eigenwillig sein, so handelt er diesmal doch ganz im Einklang mit seinen verinnerlichten Normvorstellungen, was den lastenden Gewissensdruck offenkundig abschwächt. Völlig uneigennützig ist sein Engagement indes nicht, denn die „Maskencorrespondenz“ (S. 48), die er in Noltens Namen mit Agnes führt, erlaubt es – 197 –
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ihm auch, sich im Schutze der Verstellung und der sicheren Distanz „mit unschuldiger Innigkeit an der eingebildeten Liebe eines engelreinen Wesens [zu] erfreuen“, ohne an dessen „Besitz“ zu denken und damit aufs Neue von dem bedrohlichen Strudel triebhafter Leidenschaften erfasst zu werden (S. 179f.). Das bescheidene Ersatzglück, das der heimliche Korrespondent genießt, muss ein Ende nehmen, sobald der wirkliche Nolten wieder an seine Stelle tritt, um, Larkens’ Plan folgend, das kunstvolle Spiel der Briefintrige in die lebendige Realität einer erneuerten Liebesbeziehung zu überführen. An diesem Punkt räumt der Schauspieler konsequenterweise das Feld, um an einem anderen Ort „durch völlige Entäußerung von seiner bisherigen Lebensweise sich innerlich auszubessern und auszuheilen“ (S. 233). Wie wir später erfahren, hat er zu diesem Zweck nicht nur seinen Namen abgelegt und die Schauspielerei aufgegeben, sondern auch den Beruf eines gewöhnlichen Tischlers gewählt und sich beträchtlichen physischen Anstrengungen unterzogen. Als Gründe für diese Entscheidung werden „eine übertriebene Furcht für seine Gesundheit“ und der Wunsch nach „Stärkung seines Körpers“ genannt (S. 333), und in der Tat galt handwerkliche Betätigung traditionell als ein probates Mittel gegen hypochondrische Anwandlungen und nervliche Zerrüttung. Allerdings hegt Larkens von Anfang an den Verdacht, dass seine Rolle als biederer Tischler Joseph bloß „eine neue Fratze“ ist, „worin ich mich selber hintergehen möchte“ (S. 238), und diese Ahnung bestätigt sich: Nachdem er unvermutet noch einmal mit Nolten konfrontiert worden ist, löscht er im Freitod sein eigenes Leben, das er seit der „Maskencorrespondenz“ mit Agnes nur noch für ein Schattenbild der glücklicheren Existenz seines Freundes halten kann, endgültig aus. Und es steht zu vermuten, dass gerade die Neigung, im Schreiben jener Briefe „ganz und gar zum andern Nolten“ zu werden (S. 48), sein Verhängnis besiegelt hat, denn es wird ihm nachgesagt, einer „geheime[n] Leidenschaft für die Braut“ Theobalds verfallen zu sein (S. 331). Sollte dies zutreffen, wofür sich der Erzähler freilich nicht verbürgen will, wäre Larkens am Ende also doch wieder von der Übermacht seiner Triebwelt eingeholt worden. Über die poetischen Werke, die Larkens früher verfasst hat, erfahren wir nichts Näheres, weil der Roman sich lediglich für die Aufgabe interessiert, die sie im Seelenhaushalt ihres Schöpfers erfüllen sollten. In vollem Umfang vorgelegt wird dem Leser hingegen das Dramolett Der lezte König von Orplid, das „vor Kurzem erst“ entstanden ist, auch wenn eine „längst gehegte tragische Lieblingsvorstellung“ des Autors den Stoff dazu – 198 –
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geliefert hat (S. 97). Dieses „phantasmagorische Zwischenspiel“ ist die gründlich überarbeitete Neufassung eines nur ausschnittweise überlieferten Stücks mit dem Titel Schicksal oder Vorsehung, das Mörike 1825/26 in Tübingen geschrieben hatte, lange bevor an Maler Nolten zu denken war22 – in dem Kapitel über seine Arbeiten für die Bühne werden wir ausführlicher darauf zu sprechen kommen. Der Roman stellt das kleine Drama als Gemeinschaftswerk von Larkens und Nolten vor, das im Hause des Grafen Zarlin als multimediale Darbietung präsentiert wird, wobei die Projektion von auf Glas gemalten Bildern mittels einer „magischen Laterne“ die Lesung des Textes mit verteilten Rollen begleitet (S. 98). Das produktive Zusammenwirken der beiden Freunde bestätigt noch einmal die enge Verwandtschaft, die zwischen ihnen als Künstlern und zwischen ihren jeweiligen Schöpfungen besteht. Aber das Hauptaugenmerk richtet sich in diesem Fall doch auf den Textdichter Larkens, denn das OrplidSpiel soll, wie der Erzähler schon im Vorhinein rezeptionslenkend ankündigt, insbesondere „einen lebhaften Begriff von dem inneren Leben jenes Schauspielers geben“ (S. 98). Tatsächlich würde die äußerst bescheidene Funktion des Dramoletts im äußeren Gang der Handlung seine vollständige Wiedergabe, die immerhin rund ein Achtel des Maler Nolten in Anspruch nimmt, kaum rechtfertigen; umso schwerer fällt seine Bedeutung für die psychologischen und poetologischen Dimensionen des Romans ins Gewicht. Treffend bezeichnet Herbert Bruch, dem wir eine subtile Interpretation des Zwischenspiels verdanken, dieses Stück als „Psycho-Drama mit verteilten Rollen“, in dem Larkens „seinen intrapsychischen Konflikt“ zwischen den Geboten des Über-Ich und den Ansprüchen der triebhaften Leidenschaften in eine „szenische Interaktion zwischen Mann und Frau“ umsetzt.23 Unschwer kann man in dem todessüchtigen König Ulmon ein mythisch überhöhtes Selbstbildnis seines (fiktiven) Schöpfers erkennen, der des Daseins ebenso müde ist und beispielsweise in seinem Abschiedsbrief an Nolten schreibt: „mein Leben hat ausgespielt, ich habe angefangen, mich selber zu überleben“ (S. 238). In der verführerischen Fee Thereile, die Ulmon mit ihrer Zauberkunst gegen seinen Willen an sich kettet, nehmen dagegen die verbotenen und ausgegrenzten sinnlich-erotischen Begierden Gestalt an – bezeichnenderweise herrscht sie über die nächtliche Sphäre Orplids, die in einem schroffen Kontrast zu der nüchternen Tageswelt der menschlichen Inselbewohner steht. Ihr magischer Bann versinnbildlicht die Gewalt der Triebe, denen sich Ulmon wie einer fremden, unwiderstehlichen Kraft hilflos ausgeliefert fühlt: „Sie hat die Macht – 199 –
7. Seelische Abgründe und die Ursprünge der Kunst: M aler Nolten
schon über ihn, daß er, / So oft sich ihr Gedanke nach ihm sehnt, / Tag oder Nacht, und aus der fernsten Gegend, / Nach ihrem Wohnsitz plötzlich eilen muß“ (S. 104). Thereiles Widerpart ist Ulmons verstorbene Gattin Almissa, die als körperlose Lichtgestalt das verklärte Ideal der ‚reinen‘ Frau repräsentiert, mit dem der König im Tode und damit jenseits aller irdischen Leidenschaften aufs Neue vereint zu werden hofft. So erscheint Orplid in Larkens’ Stück als eine Art Seelenlandschaft, in der der Kampf um Ulmons Befreiung aus den Fesseln der bedrohlichen Triebregungen ausgetragen wird. Mit göttlichem Segen und dank der Hilfe der kind lichen Silpelitt, deren „[u]nschuld’ge Hand“ Thereiles Bann bricht (S. 138), erlangt der Protagonist schließlich die ersehnte Erlösung, die von der begleitenden Musik mit „einigen erhebenden Triumph-Passagen“ gefeiert wird (S. 149). Gegen Ende des Romans versucht der Präsident, den völlig gebrochenen Theobald Nolten mit einer zweifelhaften Paradoxie aufzurichten: „Ein Mensch, den das Schicksal so ängstlich mit eisernen Händen umklammert, der muß am Ende doch sein Liebling seyn und diese grausame Gunst wird sich ihm eines Tags als die ewige Güte und Wahrheit enthüllen“ (S. 406). In ihrem düsteren Kontext und angesichts von Noltens Tod, der unmittelbar darauf eintritt, wirkt diese Versicherung wie schneidende tragische Ironie. Aber während die Protagonisten des Maler Nolten sich von einem Verhängnis verfolgt wähnen, dessen Hintergründe und Ursprünge sie nicht durchschauen und das keinen Hoffnungsschimmer aufkommen lässt, entfaltet das Orplid-Drama eine tröstliche Fiktion, eine poetische Wunschphantasie, in der sich das schier endlose Leiden und die peinigende innere Zerrissenheit wirklich als Zeichen einer höheren Erwählung entpuppen, weil Ulmon nach bestandener Prüfung zu den Göttern aufsteigen darf. Die Realität sieht sowohl für Larkens als auch für Nolten anders aus. So eindeutig, wie sie zunächst scheinen mag, ist die Tendenz des L ezten Königs von Orplid jedoch keineswegs, denn auch dieses Stück stellt als Produkt des Widerstreits von Triebwünschen und psychischer Zensur ein höchst zwiespältiges Kunstgebilde dar, das in seiner komplexen Struktur mit dem Nymphenbild Noltens verglichen werden kann. Allen Verdrängungsstrategien zum Trotz behalten die triebhaften Regungen ihre Anziehungskraft, und so mischt sich in Ulmons Hass auf Thereile eine spürbare Faszination, der er sich nicht zu erwehren vermag. Einen Einblick in seine seelische Verfassung gewähren die folgenden Verse, die der König beiseite spricht, während er den Tanz der Fee beobachtet: – 200 –
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Wie hass’ ich sie! und doch, wie schön ist sie! Hinweg! mir wird auf Einmal angst und bange Bei dieser kleinen golden-grünen Schlange. Von ihren rothen Lippen träuft Ein Lächeln, wie drei Tropfen süßes Gift, Das in dem Kuß mit halbem Tode trifft. Ha! wie sie Kreise zieht, Anmuth auf Anmuth häuft! Doch stößt’s mich ab von ihr, ich weiß nicht wie. (S. 116)
Das „süße Gift“ der erotischen Verführung, lockend und verhängnisvoll zugleich, bannt Ulmon in eine Haltung von quälender Unentschiedenheit, wie wir sie etwa auch bei dem Knaben auf Noltens Bild oder bei dem lyrischen Ich in mindestens zwei Peregrina-Gedichten angetroffen haben. Wenn der König seinen Zustand an anderer Stelle als „selige[s] Erkranken“ umschreibt (S. 114), greift er damit sogar eine Wendung aus dem Gedicht Scheiden von ihr fast wörtlich auf. Mit der Zerstörung von Thereiles Zauber spaltet Ulmon auch die eigenen sinnlichen Begierden von sich ab. Die Gewaltsamkeit dieses Aktes, der einer Selbstverstümmelung gleichkommt, schlägt sich in der magischen Prozedur nieder, die den Weg zur Erlösung bahnt: Ulmon und Silpelitt schießen einen Pfeil in den Weidenbaum, dem Thereile ihr Blut und das des Königs „eingeimpft“ hat (S. 139), um den Geliebten an sich zu binden; der Baum stirbt daraufhin ab. Und noch auf eine andere Weise enthüllt das Dramolett die lebensfeindlichen Konsequenzen der panischen Angst vor dem Reich der unbezähmbaren Wünsche und Begierden. Indem es Ulmons Errettung aus Thereiles Bann mit dem Ende seiner irdischen Existenz zusammenfallen lässt, vermittelt es die Erkenntnis, dass Leben mit Triebgebundenheit identisch ist und folglich nur der Tod den Menschen von der Macht seiner Triebe befreien kann – und in der fiktiven Realität des Romans handelt der Autor des Orplid-Spiels auch nach dieser Einsicht, als sich alle anderen Hoffnungen und Illusionen zerschlagen haben. Der lezte König von Orplid deutet also schon auf den fatalen Weg voraus, den Larkens einschlagen muss, um der dauernden Gefährdung seiner ‚gesunden‘ bürgerlichen Identität zu entrinnen. Im Blick auf den Peregrina-Zyklus, den Mörike gleichfalls als ein Werk aus der Feder von Larkens in seinen Maler Nolten integriert hat, können wir uns kürzer fassen, weil die Gedichte in der 1832 publizierten Version bereits im vorangegangenen Kapitel ausführlich besprochen worden sind. Auch sie inszenieren in immer neuen Bildern die typischen – 201 –
7. Seelische Abgründe und die Ursprünge der Kunst: M aler Nolten
Wunsch- und Angstphantasien des bürgerlichen Menschen in der Begegnung mit dem Fremden und Ausgegrenzten, das in der Frau mit dem sprechenden Namen Peregrina Gestalt annimmt, und auf dieser Ebene – und nicht etwa in einer Widerspiegelung äußerer Ereignisse, die zwischen Theobald und Elisabeth vorgefallen wären – hat man ihre Verknüpfung mit dem Romangeschehen zu suchen. Im Nolten verdanken die Gedichte ihre Entstehung einer „Vorliebe“, die Larkens seit jeher für Elisabeth hegte (S. 361), und seinem Interesse für deren Verbindung mit Theobald: Ähnlich wie in seiner Tätigkeit als heimlicher Briefpartner von Agnes ersetzt er auch hier das eigene unmittelbare Erleben, das ihn früher ins Unglück gestürzt hat, durch die doppelte Sicherheit der literarischen Fiktion und einer geradezu parasitären Teilhabe an Noltens Existenz. Ebenso verständlich ist aber seine ängstliche Sorge, diese poetische Beschäftigung mit der Zigeunerin vor dem Freund geheim zu halten, weil er sonst für die „Gesundheit seines Gemüths“ fürchten müsste. Tatsächlich fühlt Nolten sich schon beim Anblick der im Nachlass des Schauspielers aufgefundenen Texte „auf ’s Äußerste frappirt und eigentlich erschreckt“ und wird später von „Beklemmung, Unruhe und Schwere“ ergriffen (S. 360f.). Unter dem Eindruck dieser neuerlichen, wenngleich nur mittelbaren Berührung mit der Sphäre Elisabeths verfällt er auf den unseligen Gedanken, Agnes die Wahrheit über Larkens’ Briefintrige und seine eigene „Verirrung zu der Gräfin“ zu gestehen (S. 368). Während er überzeugt ist, durch eine solche Offenheit seine vermeintlich reine Beziehung zu der Verlobten „ewig und unantastbar“ zu machen (S. 367), zerrüttet die Einsicht in die Untreue ihres Geliebten das Gemüt der jungen Frau endgültig. Bedeutungsvoll ist nicht zuletzt der Schauplatz von Noltens Lektüre, jenes „Labyrinth“ im Park beim Schloss des Präsidenten, in dessen Mitte er sich mit dem Manuskript der Gedichte niederlässt. Man kann in dieser Anlage mit ihren „planmäßig, aber scheinbar willkürlich in einander geschlungene[n] Laubgänge[n]“ (S. 359) geradezu ein Abbild von Noltens Psyche erkennen: Sein Weg in die dämmrige „träumerische Wirrung der grünen Schattengänge“, die sich so deutlich vom „hellen nüchternen Tageslichte“ abheben (S. 365), ist „ein ‚Weg nach innen‘, ins Unbewußte“ und mithin in die „Tiefenschichten seiner Seele“24, wo ihn die Dichtung mit Gefühlen und Konflikten konfrontiert, die dem klaren Bewusstsein unzugänglich bleiben. Wir finden damit erneut bestätigt, wie eng in Maler Nolten Kunstreflexion und Psychologie miteinander verflochten sind: Wie die anderen Kunstwerke im Roman, die bereits behandelt wurden, gestalten auch die Peregrina-Gedichte die verborgenen seelischen Kräfte und – 202 –
Künstlerschicksale
Mechanismen, die untergründig das Handeln der Figuren steuern, ohne jemals zum Thema expliziter Erörterungen werden zu können. Deshalb darf das Labyrinth zugleich als ein Sinnbild der verschlungenen, jedoch ebenfalls „planmäßig“ angelegten Struktur des Romans selbst gelten. Findet die Lektüre der Peregrina-Gedichte im Zentrum dieser Gartenanlage statt, so stehen die von ihnen umspielten Widersprüche der bürgerlichen Psyche im Mittelpunkt von Mörikes Werk. Als Gegenstück zum Peregrina-Zyklus erscheinen in Maler Nolten die sechs Gedichte „An L.“25, überwiegend Liebesgedichte in Sonettform, die Mörike 1830 ursprünglich für seine Verlobte Luise Rau geschrieben hatte und von denen wir einige in anderen Zusammenhängen noch detaillierter erörtern werden. Der Roman präsentiert sie als Zeugnisse einer früheren Neigung von Larkens zu der inzwischen verstorbenen „Tochter eines Geistlichen“, deren Andenken der Schauspieler pietätvoll wahrt (S. 360). Es sind Dokumente einer ganz andersartigen, schwärmerischen und christlich-religiös überhöhten Liebeskonzeption, in der die Geliebte, eine schemenhafte Idealgestalt ohne individuelle Konturen, zum „Engel“ stilisiert wird und das lyrische Ich von der Überwindung aller „schwülen Leidenschaften“ im „ew’gen Licht“ des Himmels träumt (S. 390). Kein Wunder, dass Agnes in ihrer geistigen Umnachtung diese Texte auf sich bezieht und sie ihren „höchste[n] Schatz“ nennt: Während Theobald, der gefürchtete „Höllenbrand“, nach ihrer Überzeugung durch einen Teufelspakt „mit der Zigeunerin verlobt ist“, schreibt sie die Gedichte „An L.“ ihrem ‚wahren‘ Geliebten zu, den sie mit Larkens identifiziert (S. 388). Krasser als durch diese Einbildungen eines Mädchens, das die Furcht vor den eigenen unterdrückten Leidenschaften und der Macht des Eros in den Wahnsinn getrieben hat, könnte das Wunschbild einer solchen ‚unschuldigen‘ Liebe freilich kaum ironisiert werden! Die schonungslose Auseinandersetzung, die Mörikes Roman mit den seelischen Nöten des bürgerlichen Individuums und den damit so eng verflochtenen Ursprüngen der künstlerischen Produktivität führt, lädt förmlich dazu ein, den Maler Nolten unter biographischer Perspektive zu lesen und ihn als Resultat einer selbsttherapeutischen Strategie des Autors zu begreifen. Darauf verfiel bereits Theodor Storm, der 1855 an Mörike schrieb, er sehe die Figur des Larkens „in einem ähnlichen Verhältniß zum Dichter […], worin z. B. Werther zum Göthe steht; nur daß der Dichter des Larkens über das, was er selbst in und an sich erfahren, hinweggeht, und uns nur die finstersten Consequenzen daraus in seiner poetischen Figur zur Anschauung bringt, welche er selbst durch seine größre – 203 –
7. Seelische Abgründe und die Ursprünge der Kunst: M aler Nolten
Kraft, vielleicht mit Hülfe dieser poetischen Befreiung vermieden hat.“26 Später erblickte auch Gerhard Storz „im Maler Nolten, was Mörike selbst angeht, ein Gegenstück zum Werther und zu dessen Bedeutung für den Werdegang des jungen Goethe“.27 Diese These klingt plausibel, denn insbesondere die Erschütterungen, die die Begegnung mit Maria Meyer hervorgerufen hatte, sind im Roman noch deutlich zu spüren. Die Kunst gestattete es Mörike, seine „Nolimetangere-Vergangenheit“ (14, S. 96), über die er sich sonst beharrlich ausschwieg, schreibend und gestaltend zu bewältigen – und zwar gerade indem er analoge Versuche seiner erfundenen Figuren in katastrophaler Weise scheitern ließ und deren Identitätskrisen mit erbarmungsloser Konsequenz bis zum bitteren Ende fortspann. Seine Abkehr von Maria und der damit einhergehende Rückzug in die Sphäre der Kunst – in der Abfassung der Peregrina-Gedichte wie des Romans – erinnern jedenfalls frappierend an Theobalds Verhalten gegenüber Elisabeth. So ist Maler Nolten zwar gewiss keine bloße fiktionalisierte Wiedergabe lebensgeschichtlicher Erfahrungen Mörikes, aber es lässt sich auf ihn anwenden, was im Text selbst über das Zwischenspiel Der lezte König von Orplid gesagt wird: Der Roman gibt dem Leser „einen lebhaften Begriff von dem inneren Leben“ seines Schöpfers (3, S. 98). Vermutlich kam Mörike eben deshalb nie ganz von diesem Jugendwerk los.
Verwischte Spuren: die unvollendete Zweitfassung Bereits 1850 erwog der Dichter, Maler Nolten für eine neue Auflage zu überarbeiten, und vier Jahre später wurde mit dem Verlag Schweizerbart ein entsprechender Vertrag abgeschlossen.28 Im April 1854 schrieb Mörike mit Blick auf den Roman an Storm: „Verschiedene Parthien im ersten Theil desselben sind mir selbst widerwärtig und fordern eine Umarbeitung“ (16, S. 178). Doch die Aufgabe gestaltete sich schwieriger als erwartet: „Zunächst macht mir der Nolten jetzt unvermuthet zu schaffen. Einiges mir ganz Unerträgliche darin muß schlechterdings noch heraus, u. hie und da durch Anderes ersetzt werden. Wie weiß ich selbst noch nicht“ (S. 225). Wie sehr er sich mit diesem Vorhaben abquälte, bezeugen unter anderem Storms Erinnerungen an Eduard Mörike. Auf den gutgemeinten Rat, lieber etwas ganz Neues in Angriff zu nehmen, soll Mörike aber geantwortet haben, „es werde doch kein Maler, dem Gelegenheit gegeben sei, ein Bild zu wiederholen, mit Bewußtsein dieselben Verzeichnungen wieder hineinmalen.“29 – 204 –
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So wurde Maler Nolten zum „Schmerzenssohn“ seiner späten Jahre (19.1, S. 87), denn die Arbeit ging nur äußerst langsam und stockend voran. 1861/62 wurde wenigstens das Orplid-Spiel umgeschrieben, bevor erneut eine längere Unterbrechung eintrat. Erst als er Stuttgart für eine Weile mit dem ruhigen Lorch vertauschte, kam Mörike dazu, sich kontinuierlicher mit dem Roman zu befassen, von dem er im Sommer 1867 immerhin „ein Stück ins Reine“ brachte (18, S. 228). Aber noch der Verleger Ferdinand Weibert, der 1871 die Rechte an seinen Schriften erwarb, wurde ein ums andere Mal vertröstet, wenn er nach dem Abschluss des Manuskripts fragte. Von ehelichen Zerwürfnissen und Krankheitsanfällen geplagt, versicherte Mörike ihm im März 1873: „Denn nachgerade wird es mir, der Welt und Ihnen gegenüber zu einer Ehrensache, den armen Maler, der indeß weder leben noch sterben konnte, zu vollenden. Er soll aber leben, das glauben Sie nur“ (19.1, S. 228). Manchmal las er im Freundeskreis aus der revidierten Fassung vor, so weit sie inzwischen gediehen war.30 Sie abzuschließen, gelang ihm jedoch nicht mehr: Als er 1875 starb, war die Überarbeitung des Textes kaum über die Mitte hinausgekommen; im Übrigen lagen lediglich einige verstreute Notizen und zahlreiche Anmerkungen und Anstreichungen in zwei Handexemplaren der Erstfassung vor.31 Julius Klaiber, ein jüngerer Freund des Dichters aus seiner Stuttgarter Zeit, übernahm die Aufgabe, den Torso anhand dieser Materialien zu vollenden. Er begnügte sich im Wesentlichen damit, einige neue Passagen zu verfassen, die den notwendigen Übergang zur zweiten Hälfte des Romans herstellten, und ließ die verbleibenden Textpartien ohne große Veränderungen abdrucken. Die Neufassung des Nolten, die im Spätjahr 1876, vordatiert auf 1877, endlich erschien, entspricht also nur partiell den authentischen Absichten Mörikes, und dementsprechend müssen sich die folgenden Ausführungen weitgehend auf den ersten Romanteil beschränken. In einem Brief an Weibert erläuterte Mörike, wie die geplante „durchgreifende Umarbeitung des ganzen ersten und theilweise des zweiten Bandes“ aussah: Erfindung, Composition und Darstellung wurden sehr wesentlich modificirt, gewiße Grellheiten getilgt, die Zeichnung der Hauptcharaktere bestimmter und feiner gegeben, ein paar Figuren als überflüssig ausgeschieden, dagegen eine bedeutende Mittelsperson neu eingeführt, – genug, ich war bemüht, das Ganze besser zu organisiren, ihm, ohne daß dadurch der ursprüngliche Charakter des Buchs verwischt werden durfte, mehr Wahrheit und Natur, zugleich mehr Fülle im Einzelnen zu geben, und so diesem Roman einen bleibenden Platz in unserer Literatur zu sichern. (19.1, S. 150)
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7. Seelische Abgründe und die Ursprünge der Kunst: M aler Nolten
Wie diese Bemerkungen schon erahnen lassen, gab sich der Dichter nicht etwa mit stilistischen Korrekturen und anderen behutsamen Änderungen zufrieden, sondern schrieb den größten Teil des Textes völlig neu. In Sprache, Erzählstruktur und Figurenarsenal präsentiert sich die zweite Fassung des Maler Nolten tatsächlich weitaus überschaubarer, kohärenter und gewissermaßen glatter als die erste, womit sie auch den damals zeitgemäßen realistischen Konventionen näher kommt. Mörike klärte die Verknüpfung und Motivierung der Handlungsabläufe, war auf eine sorgfältigere Einführung einzelner Gestalten bedacht und verringerte zudem die Episodenfülle, um den Gang der Erzählung flüssiger zu gestalten. An die Stelle der komischen, grotesken und unheimlichen Elemente, an denen die ursprüngliche Version so reich ist, tritt ein konsequent durchgehaltener gedämpfter, ‚mittlerer‘ Sprach- und Darstellungsgestus. So sind der Überarbeitung auch zwei gar zu unwahrscheinlich anmutende Verkleidungskunststücke zum Opfer gefallen: Elisabeth (jetzt Elsbeth) agiert nicht mehr im Nachtwächterkostüm, Wispel mimt nicht mehr den italienischen Bildhauer. Während einige Randfiguren ganz gestrichen wurden, spielt Tillsen als Noltens Freund und Lehrer und als vertrauter Gesprächspartner des Schauspielers Larkens eine gewichtigere Rolle als zuvor; er ist es auch, der nun den Bericht über Noltens Erlebnisse auf dem Rehstock zu lesen bekommt. Für die angestrebte „Fülle im Einzelnen“ sorgen mehrere neue, überwiegend szenisch gestaltete Partien, die dem Geschehen mehr Leben einhauchen und manche Protagonisten schärfer profilieren. Das gilt insbesondere für Constanze, die den Maler bei seinem Besuch im Landhaus der Geschwister Zarlin mit Kindheitserinnerungen unterhält32, aber auch für Agnes, aus deren Briefen an den Verlobten umfangreiche Passagen wiedergegeben werden.33 Für den zweiten Teil des Romans war außerdem offenbar die Einschaltung von Abschnitten aus Larkens’ Tagebuch geplant.34 Weitaus interessanter als alle äußerlich-technischen Aspekte der Umgestaltung sind Mörikes Eingriffe in die psychologischen und poetologischen Tiefendimensionen des Maler Nolten, auf die er in dem zitierten Brief nicht ausdrücklich zu sprechen kommt. So wird aus Constanze in der zweiten Fassung eine ganz andere Person, die weder Alpträume hat noch unter verstörenden Identitätskrisen leidet. In der Episode in der Schönen Grotte ist jetzt der Einblick in ihre aufgewühlte seelische Verfassung ausgespart – der Erzähler schildert ihr Verhalten nur noch aus der Außensicht35 –, und aus den Verwicklungen um das Orplid-Spiel, die Nolten und Larkens ins Gefängnis bringen, hält Mörike die Gräfin völlig – 206 –
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heraus, womit natürlich alle späteren Schuldgefühle und Selbstvorwürfe ebenso wegfallen wie die Erwähnung von Constanzes Tod am Schluss des Werkes, mit deren Streichung Klaiber den einschlägigen Vermerken in Mörikes Handexemplaren folgte.36 Was Theobald in der Erstfassung zeitweilig in Constanze zu sehen glaubt, ist sie nun wahrhaftig – eine makellose weibliche Idealgestalt, von der ihre intime Freundin Fernanda, eben jene von Mörike eigens hinzugefügte „bedeutende Mittelsperson“, sagen darf: „Nicht einen Augenblick hat sich der hohe, der himmlische Sinn von Constanze verleugnet“ (4, S. 244). Ihre umfassende Entlastung geht auf Kosten Herzog Adolphs, der als „Mann der niedrigen Intrigue“ (S. 160) zum abgefeimten adligen Schurken geworden ist. Einzig seine tückischen Manipulationen verwirren in der Zweitfassung die Beziehung zwischen Constanze und dem Maler, die sich im Übrigen bruchlos und organisch entwickelt, weil Mörike auch sämtliche Hinweise auf Noltens Hemmungen bei der Annäherung an andere Menschen und auf die Barrieren, die einen offenen Austausch blockieren, getilgt hat. Überhaupt rückt der Motivkomplex von Täuschung und Missverstehen in der neuen Romanversion weitgehend in den Hintergrund, da hier alle Protagonisten eine erstaunliche Fähigkeit und Bereitschaft zur unverstellten, vertrauensvollen Kommunikation an den Tag legen. Dass der „ursprüngliche Charakter des Buchs“ entgegen Mörikes Beteuerungen durch die Überarbeitung sehr wohl „verwischt“, ja sogar von Grund auf verändert wurde, zeigt sich nicht minder deutlich auf dem Feld des Künstlertums. Schwerlich würde ein Leser der Zweitfassung auf den Einfall kommen, die künstlerische Produktivität der männlichen Hauptfiguren mit innerseelischen Konflikten in Verbindung zu bringen, denn der Verfasser hat fast jede Spur, die in diese Richtung deutet, sorgsam ausgelöscht. Die Schilderung der beiden Bilder zu Beginn findet sich zwar fast unverändert wieder, aber die Jugendgeschichte des Helden mit der Rehstock-Episode zeigt ein ganz neues Gesicht. Einerseits ist die bedeutungsvolle Leerstelle, die das „seltsame Bündniß“ (3, S. 217) zwischen Theobald und Elisabeth in der ersten Fassung darstellt, durch eine im wechselseitigen Schwur „Treu’ um Treu’, Seel’ um Seele“ gipfelnde konventionelle Liebesszene gefüllt (4, S. 182), andererseits empfindet Nolten für die Fremde offenbar kaum mehr als eine flüchtige Schwärmerei, da es die besorgte Adelheid nach Elsbeths Verschwinden wenig Mühe kostet, ihren Bruder durch gutes Zureden „ganz allmählich zu ernüchtern“ und von seinen phantastischen Gedanken abzubringen (S. 194). Von einer umso innigeren Hinwendung des Heranwachsenden zu Loskines Porträt – 207 –
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ist jetzt nicht mehr die Rede, und ebenso fehlt jeder Hinweis auf eine Verknüpfung dieser Erfahrungen mit Noltens eigenem künstlerischem Schaffen. Für Elsbeth bleibt im Roman nur noch die Rolle einer bedauernswerten Verrückten, die sich mit Nolten auf ewig verbunden glaubt, einer „armen Thörin“ (S. 189), deren Verhalten Tillsen und Larkens in einem ausführlichen Gespräch psychologisch sezieren, wobei sogar ihre hellseherische Begabung zum Gegenstand kühler wissenschaftlicher Erörterungen wird.37 Auf der anderen Seite erwähnt die Neufassung eine ganze Reihe weiterer Kunstwerke Noltens, von denen die meisten offen oder verdeckt seine Beziehungen zu Agnes und Constanze umspielen, ohne aber jene Vielschichtigkeit aufzuweisen, die beispielsweise das Gemälde mit der Nymphe und dem Knaben auszeichnet. Sicherlich wollte Mörike durch diese Ergänzungen den Künstlerberuf seines Protagonisten herausstreichen, um den Erwartungen, die der Romantitel beim Leser wecken musste, besser zu entsprechen, aber gerade die faszinierenden, abgründigen Seiten des Künstlertums berührt die überarbeitete Version kaum noch. Tillsens schöpferisches Unvermögen und seine langwierige Schaffenskrise passten ebenfalls nicht in das veränderte Bild und wurden daher gestrichen. Als harmonische, ausgeglichene Persönlichkeit, der zwar „das Starke und Große“ in der Kunst nicht liegt, die aber auch gar keinen gesteigerten Ehrgeiz kennt, begnügt sich dieser Maler nun bescheiden mit dem „Einfachen und Milden“, statt sich an „weitläuftigere[n] Compositionen“ zu versuchen, und genießt zufrieden den „geachteten Namen“, den er sich damit erworben hat (S. 12). Auch der Dichter Larkens setzt sich in seinen Werken nicht mehr mit dem inneren Widerstreit auseinander, in den die Begegnung mit verdrängten triebhaften Regungen und Begierden das bürgerliche Individuum stürzt. Wir können das besonders gut am Beispiel des Orplid-Spiels beobachten, das in den noch von Mörike selbst bearbeiteten Teil des Nolten gehört. Ulmons Beziehung zu Thereile hat hier jede Ambivalenz eingebüßt; rundweg feindlich und ablehnend steht der König seiner Gegenspielerin gegenüber, deren erotische Verführungskunst bei ihm nicht die geringste Wirkung zeigt.38 Wie sorgfältig Mörike bei der Umgestaltung seines Romans verfuhr, erhellt noch aus dem winzigen Detail, dass der ausdrückliche Hinweis auf die Verknüpfung des Zwischenspiels mit dem „inneren Leben“ seines fiktiven Autors (3, S. 98) in der Zweitfassung fehlt, wo er in der Tat keine Berechtigung mehr hätte.39 Die Peregrina-Gedichte ließ Klaiber im zweiten Teil der neuen Version so abdrucken, wie sie in der – 208 –
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vierten Ausgabe von Mörikes gesammelter Lyrik standen, was nachweislich den Absichten des Verfassers entsprach.40 Die generellen Tendenzen, die die Textgeschichte des Zyklus im Laufe der Jahrzehnte bestimmten, wurden bereits im vorigen Kapitel besprochen, und sie fügen sich nahtlos in die veränderte Konzeption des Maler Nolten ein. Auch wollte Mörike, wie die Bearbeitungsansätze in seinen Handexemplaren erkennen lassen, einige verräterische Indizien für die Verbindung dieser Gedichte mit den seelischen Verstrickungen der Romanfiguren tilgen. So sollten etwa die Bemerkungen über Larkens’ Sorge um die „Gesundheit“ von Noltens „Gemüth“ ebenso wegfallen wie die „Beklemmung, Unruhe und Schwere“, die den Maler bei der Lektüre der Texte überkommen (3, S. 361).41 Wie sich Mörike die Umgestaltung des zweiten Teils von Maler Nolten im Einzelnen dachte, können wir anhand unseres spärlichen Materials nicht rekonstruieren. Dass in diesem Punkt mehr Arbeit auf ihn wartete, als er anfangs angenommen hatte, wurde ihm mit der Zeit jedenfalls klar, denn während er Weibert im Oktober 1873 noch versicherte, das letzte Drittel des Werkes werde „am wenigsten Mühe“ machen (19.1, S. 251), schrieb er im folgenden Sommer an Luise Walther: „Im Übrigen will ich euch nur gestehn, daß meine Arbeit unterdessen keine großen Fortschritte gemacht hat und daß ich bei Durchlesung meines 2ten Bands mich überzeugte, wie viel da noch […] zu ändern ist, wenn ich ihn nicht zu tief unter dem ersten halten will“ (S. 270). Nur spekulieren kann man beispielsweise darüber, wie Agnes’ Wahnsinn und Tod in der Zweitfassung behandelt worden wären. Empfindliche Brüche im Sinngefüge des Nolten hätten sich aber unter keinen Umständen vermeiden lassen, denn angesichts der grundlegend veränderten Figurenkonzeption wäre vor allem der Untergang des Titelhelden kaum noch plausibel zu motivieren gewesen. Das fatale Ende der Geschichte, an dem Mörike wohl nicht zu rütteln gedachte, musste in eine unlösbare Spannung zu seinen angestrengten Bemühungen geraten, den Problemkomplex der psychischen Krisen und Identitätskonflikte des bürgerlichen Menschen aus seinem Roman zu entfernen. In diesen Bemühungen darf man auch das eigentliche Motiv für Mörikes zähes Ringen mit dem widerspenstigen Maler Nolten vermuten. Schwer vorstellbar ist es, dass ihn allein der Ärger über vermeintliche strukturelle Mängel oder erzähltechnische Schwächen seines Jugend romans dazu bewogen haben könnte, sich so viele Jahre lang mit der Überarbeitung abzuplagen, und auch die ungewöhnlich schroffen Äußerungen über die ursprüngliche Fassung, die sich in seiner Korrespondenz finden, deuten auf ein Unbehagen hin, das sehr viel tiefer reichte. Wie bereits – 209 –
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zitiert wurde, nannte er gewisse Aspekte des Nolten widerwärtig und unerträglich, ohne dabei aber auf Details einzugehen; die Arbeit an der Neufassung erklärte er für „theilweise sehr peinlich“ (19.1, S. 87), und bei anderer Gelegenheit schrieb er sogar: „Sie muß aber gethan seyn, und falle sie aus wie sie wolle, so weiß ich doch daß ich mit dieser Umformung das alte Buch vertilge, d. h. den Wiederabdruck unmöglich mache“ (S. 30). Peinlich und unbequem mögen ihm mit der Zeit die Vorstöße in geheime Regionen des seelischen Lebens geworden sein, die das Werk unternahm, die Beschäftigung mit verbotenen Wünschen und tabuisierten Ängsten und die Aufdeckung der dunklen Ursprünge der künstlerischen Produktivität sowie der existenziellen Bedrohung des bürgerlichen Künstlers selbst. Hatte Mörike alle diese Phänomene in jüngeren Jahren im Medium der künstlerischen Gestaltung gleichsam gebannt, so lief die gründliche Überarbeitung des Romans auf eine noch weitergehende Verdrängung hinaus, die ihre Erörterung nicht einmal mehr im Schonraum der literarischen Fiktion dulden wollte. Die zweite Fassung beschränkt sich also durchaus nicht auf oberflächliche Modifikationen und Verbesserungen, wie in der älteren Forschung manchmal behauptet wurde42, sie stellt vielmehr ein ganz neues Werk dar, das gerade jene Dimensionen vermissen lässt, die den ursprünglichen Maler Nolten zu einem der bedeutendsten Romane der deutschen Literatur machen. Die Version von 1832 verdient in unserer Wertschätzung nicht nur deshalb den Vorrang, weil die spätere, als ein Werk Mörikes betrachtet, Fragment geblieben ist.
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8. Mörike und die Religion Die Nöte eines Kirchendieners
„ A Mährlen vom 20. Februar 1828 lässt erahnen, welche Qualen er in
lles, nur kein Geistlicher! “ – Mörikes Stoßseufzer in einem Brief an
seinem kirchlichen Amt erduldete (10, S. 199). Es war ja ohnehin nicht sein eigener Wunsch gewesen, eine solche Laufbahn einzuschlagen; Erwägungen der Familie, für die das Sozialprestige und die ökonomische Sicherheit eines württembergischen Pfarrers ausschlaggebend gewesen sein dürften, hatten ihn in jungen Jahren auf diesen Weg geführt. Und so begleitete ihn das Hadern mit dem ungeliebten Beruf, bis die frühzeitige Pensionierung einen Schlusspunkt setzte: Noch vor seinem neununddreißigsten Geburtstag beschloss der Dichter, dem Pfarramt endgültig Lebewohl zu sagen. Um die Gründe für die Dauerkrise des Geistlichen Eduard Mörike verstehen zu können, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, welche Rolle er als Pfarrer zu spielen hatte und welche Aufgaben ihm in dieser Position zufielen. Die evangelisch-lutherische Kirche des Königreichs Württemberg war eine hierarchisch organisierte Staatskirche, an deren Spitze der Monarch in höchsteigener Person stand. Sowohl bei der genau reglementierten Ausbildung des theologischen Nachwuchses als auch bei der Amtsführung der Pfarrer wurde streng auf Ordnung und Disziplin geachtet, wobei die Vorgesetzten – das Inspektorat des Tübinger Stifts, die Dekane der einzelnen Diözesen und das Konsistorium in Stuttgart als oberste geistliche Behörde – nicht nur über die korrekte Erfüllung der dienstlichen Pflichten, sondern auch über den Lebenswandel jedes Einzelnen wachten. Ebenso wie bei der großzügigen Finanzierung des Theologiestudiums durch Stipendien hatte die Regierung hier keineswegs ausschließlich das Seelenheil der Unter tanen im Auge. Die Pfarrer waren vielmehr Staatsdiener, die vor allem in – 211 –
8. Mörike und die Religion
ländlichen Gebieten auch wichtige Verwaltungsfunktionen wahrnahmen und die Autorität der Obrigkeit repräsentierten. So könnte man das Gelöbnis, das Mörike wie alle seine Amtsbrüder bei der Investitur in Cleversulzbach ablegte, fast mit dem Diensteid eines schlichten weltlichen Beamten verwechseln, denn die speziellen kirchlich-religiösen Obliegenheiten finden dort eher beiläufig Erwähnung. Er musste beschwören, Seiner Königlichen Majestät, dem allerdurchlauchtigsten Könige Wilhelm, König von Württemberg, getreu und hold zu seyn; Alles, was zum Besten des Königs und des Landes gereichen kann, nach Ihren Einsichten und Kräften zu befördern, jeden zu Ihrer Wissenschaft kommenden Schaden abzuwenden, oder anzuzeigen, insbesondere die Landes-Verfassung gewissenhaft zu wahren, und alles dasjenige gewissenhaft und pünktlich zu befolgen, wozu Sie die Ihnen übergebene Amts-Instruktion und die Ihnen hiernach zukommenden Befehle Seiner Königlichen Majestät oder der vorgesetzten Behörden anweisen. Insbesondere verpflichten Sie Sich hiermit, bei Ihren Vorträgen und dem Religions-Unterricht sich an die heilige Schrift zu halten, und sich keine Abweichungen von dem evangelischen Lehrbegriffe, so wie derselbe vorzüglich in der Augsburgischen Confession enthalten ist, zu erlauben. Sie werden Sich überhaupt in der Erfüllung aller Obliegenheiten Ihres Amtes durch keine Rücksicht auf Ihren eigenen Vor theil, auf Familien-Verbindungen, oder auf irgend ein persönliches Verhältniß oder Privat-Interesse irgend einer Art hindern lassen, in Allem nach Ihrer Pflicht, und so zu handeln, wie Sie es gegen den allmächtigen Gott, und gegen den König zu verantworten Sich getrauen.1
Die überwiegend rein wissenschaftlich ausgerichteten humanistischen und theologischen Studien, die im Seminar und im Stift betrieben wurden, waren denkbar ungeeignet, um die angehenden Pfarrer auf die Herausforderungen der Berufspraxis vorzubereiten. In jedem Pfarrhaus gab es einen umfangreichen Aktenbestand, den der Ortsgeistliche zu verwalten hatte. Dass ihm „[d]ieser Theil des Amtes […] bei weitem am schwersten fallen“ werde, ahnte Mörike schon in Pflummern, wo er 1829 für eine Weile als Pfarrverweser amtierte. „Bis jezt“, schrieb er kurz nach der Ankunft an seine Mutter, „hab ich mich nur in der Registratur ein wenig umgesehen, die mir größtentheils noch voll böhmischer Dörfer ist“ (11, S. 16). Die Not machte jedoch erfinderisch, und so ersann er später in Cleversulzbach einen praktischen „Zwölffächerkasten“, der ihm die Ordnung der Akten und damit die Übersicht über seine vielfältigen Aufgaben erleichtern sollte. Der getreue Hartlaub durfte an den Segnungen dieser Erfindung teilhaben, während sie anderen Kollegen „aus Handwerks– 212 –
Die Nöte eines Kirchendieners
Neid“ vorenthalten wurde (13, S. 169). Die Sachthemen, die im Einzelnen unter die zwölf Rubriken fielen, vermitteln einen Eindruck von dem ausgedehnten Tätigkeitsfeld eines württembergischen Pfarrers: Armenwesen. (WohlthätigkeitsVerein). Auswärtige. Bausachen. Bevölkerungslisten. Bibelsachen. Collekten. Confirmation. Dispensationen. Ehesachen (Proklamationspapiere) Eidessachen. Fremde Confessionsverwandte. Geburten (uneheliche) Inventarien. Kirchenbücher (Normalien darüber &c) Kirchengesang Kirchenconvent u. Stiftungsrath. Stiftungsangelegenheiten Königliches Haus. Allgemeine Landesangelegenheiten Reformationsfest. Kirchweihe. Lichtkärze. Militaria. Normalien (Allgemeine). Pfarrer, dessen Anstellung, Besoldung, Amtswohnung &c. Pfarrbeschreibung. Pfarrberichte. Topisten atque Separatisten Sanitätssachen (Hebammen – Leichenschau) Schulsachen. Schulmeister. Schulfonds &c. Industrieschule Sonntagsfeier, Sportelwesen, Taubstummen u. Blindenbildung. Taufscheine, Todtenscheine. Vermischte Akten über specielle Gegenstände Vikarii. Waisenhäuser. (13, S. 169)
Mörike kümmerte sich also, um nur einige wichtige Punkte herauszugreifen, um die Armenpflege, visitierte die Dorfschule, behielt religiöse Abweichler („Separatisten“) im Auge, wachte als Vorsteher des Kirchenkonvents über die öffentliche Ordnung wie auch über die private Sittlichkeit seiner Schäflein und verwaltete das Vermögen der Kirche und wohltätiger Stiftungen. Da er die „Bevölkerungslisten“ zu führen, die Wehrpflichtigen des Ortes zu registrieren („Militaria“) und alle bürokratischen „Ehesachen“ zu erledigen hatte, fungierte er gewissermaßen als Einwohnermeldeamt, Militärbehörde und Standesamt in einem. Außerdem musste er die vorgesetzten Behörden ständig über den Zustand der Gemeinde unterrichten, indem er die „Pfarrbeschreibung“ von Cleversulzbach auf dem Laufenden hielt und für den Dekan regelmäßige „Pfarrberichte“ verfasste. Die im engeren Sinne geistlichen Verpflichtungen wie Gottesdienst, Predigt, Katechisation – auch „Kinderlehre“ genannt – und Seelsorge sind damit noch nicht einmal berührt! Man kann sich denken, dass Mörike seine Tätigkeit überwiegend als ausgesprochen geistlos empfand und die württembergische Amts- und Staatskirche in erster Linie als – 213 –
8. Mörike und die Religion
ein Instrument der Sozialdisziplinierung und der verwaltungstechnischen Reglementierung erlebte. Doch mit dem Überblick über die Aufgaben des Cleversulzbacher Ortspfarrers haben wir in der Chronologie schon weit vorgegriffen, denn die Absolventen des Tübinger Stifts erhielten normalerweise keineswegs sofort eine feste Pfarrstelle. Der Weg dorthin führte vielmehr über das Vikariat, eine Phase der Vorbereitung und zugleich der permanenten Ungewissheit, die oft mehrere Jahre dauerte. Der Vikar war entweder als bloßer Gehilfe einem Geistlichen zugeteilt, der beispielsweise wegen seines Alters oder einer Erkrankung der Unterstützung bedurfte, oder er betreute – im fortgeschrittenen Stadium – als Pfarrverweser eine vorübergehend vakante Pfarrei, ohne deshalb schon den Status eines regulären Pfarrers zu besitzen. Es gab auch einige sogenannte „ständige Pfarrverwesereien“ im Land, die nie mit einem ordentlichen Pfarrer besetzt wurden. Das galt zum Beispiel für das Örtchen Ochsenwang auf der Schwäbischen Alb, wo Mörike die Amtsgeschäfte von Januar 1832 an fast zwei Jahre lang völlig selbständig führte. Die Regel waren allerdings doch die kurzfristigen Einsätze in unterschiedlichen Gemeinden, und so bekleidete Mörike 1826/27 und dann zwischen 1829 und seiner Berufung nach Cleversulzbach 1834 eine stattliche Reihe von Vikariaten im ländlichen Württemberg: Oberboihingen, Möhringen und Köngen sowie nach der Unterbrechung Pflummern, Plattenhardt, Owen, Eltingen, Ochsenwang, Weilheim, noch einmal Owen und schließlich Ötlingen. An manchen dieser Orte verbrachte er nur einige Wochen, lediglich in Owen und Ochsenwang verweilte er länger als ein Jahr. Seine Leiden am geistlichen Amt müssen frühzeitig begonnen haben, denn bereits im Sommer 1827 verlieh er in einem Brief an Mährlen seinem „Bedürfniß nach einer andern Lage“ beredten Ausdruck: „Ich weiß zu gut wo es mir fehlt und es ist, so wahr ich lebe, kein überqueerer Einfall, wenn ich mich aus diesen hunderttausend Haken und Häckchen losreissen will, die mich, oft unsichtbar, zerren und zerstreuen u. meine bessere Kraft niederhalten, daß ich mich am Ende selbst nicht mehr kenne“ (10, S. 163). Neben der lästigen Verwaltungsarbeit machte ihm eine andere Pflicht zu schaffen, die er als Geistlicher erst recht nicht abschütteln konnte, nämlich das Predigen vor der Gemeinde. Schon im Studium war die Homiletik, die Predigtlehre, ein wunder Punkt gewesen – Mörikes Zeugnis vom Winterhalbjahr 1825/26 verzeichnet das wenig schmeichelhafte Urteil: „Seine Predigt war mittelmäßig disponiert, unangemessen ausgeführt, unangenehm vorgetragen.“2 Auf die Ursachen dieser Schwäche, soweit sie in seinem – 214 –
Die Nöte eines Kirchendieners
besonderen Verhältnis zur christlichen Religion begründet gewesen sein mögen, werden wir noch zu sprechen kommen; verstärkt wurden sie aber sicherlich durch seine generelle Scheu vor der Öffentlichkeit und zumal vor der öffentlichen Rede. Obwohl die Vorgesetzten wie auch die Gemeinden in seinen Vikariatsjahren mit seinen Predigten durchaus zufrieden waren, steigerte sich seine Abneigung mit der Zeit zu einer regelrechten Phobie: „Ich kann und kann eben nicht predigen und wenn Du mich auf die Folter spannst“, versicherte er Ludwig Bauer (S. 219), und von Köngen aus vertraute der junge Vikar seiner Mutter an: „Ich sehe mit den peinlichsten Gefühlen einem jeden Predigttag entgegen mein guter Pfarrer brauchte den Ausdruck, er könne sich wohl vorstellen, daß der Sonntag schon am Mitwoch wie ein Gespenst vor mir stehen müsse“ (S. 180). Freilich war Mörike darauf bedacht, die Ausbrüche seines Widerwillens zu mäßigen, wenn er an die Mutter oder andere Verwandte schrieb. Er wusste, wie skeptisch die Familie sein Liebäugeln mit alternativen Karrierewegen betrachtete und wie sehr sie sich um seine Zukunft sorgte, und versicherte deshalb, dass „[s]einem Gefühl, im Ganzen, das geistliche Fach theuer“ bleibe und ihm die Rückkehr ins Vikariat im Notfall jederzeit offenstehe (10, S. 179). In Briefen an enge Freunde tat er sich dagegen keinen Zwang an. Hier fällt das vielzitierte Wort von der „VicariatsKnechtschaft“ (S. 193), hier wird über das „unerträgliche Joch“ geklagt (S. 195) und auch unumwunden die Hoffnung auf eine „lebenslängliche Dispensation vom theolog. Leben“ ausgesprochen (S. 237). Vor allem Mährlen war in dieser Zeit der Sorgen und des fieberhaften Pläneschmiedens ein vertrauter Partner, mit dem Mörike in einem intensiven Briefwechsel den jeweiligen Stand seiner Angelegenheiten besprach. Der Freund, der der geistlichen Laufbahn ebenso wenig abgewinnen konnte, befand sich nämlich in einer vergleichbaren Situation – mit dem bemerkenswerten Unterschied allerdings, dass es ihm am Ende tatsächlich gelang, sich eine Existenzgrundlage außerhalb des Kirchendienstes zu schaffen. Im Dezember 1827 wurde der von einem ärztlichen Attest begleitete Antrag Mörikes, ihn „auf einige Zeit von den VikariatsDiensten allergnädigst zu dispensiren“ (10, S. 192), genehmigt; alles in allem dehnte sich sein Urlaub schließlich auf mehr als ein Jahr aus. Beseelt von dem Verlangen, sich „das geistliche Leben noch auf längere Zeit oder – auf immer in Rücken zu bringen“, hätte er jetzt sogar „die geistloseste Sekretairstelle, etwa beim Consistorium oder meinethalben gar ein KanzelistenPult“ angenommen, wie er Mährlen versicherte (S. 198f.), aber im Grunde hoffte er selbstverständlich, sein Auskommen mit literarischen Arbeiten zu finden. – 215 –
8. Mörike und die Religion
Warum alle diesbezüglichen Bemühungen fehlschlugen und sogar ein vielversprechender Vertrag mit einem Stuttgarter Verleger binnen kurzem wieder gelöst wurde, soll in einem anderen Zusammenhang erörtert werden. Hier genügt vorerst die Feststellung, dass Mörike sich einem Dasein als Berufsschriftsteller auf die Dauer nicht gewachsen fühlte und daher reuevoll beschloss, von Neuem den Vikariatsdienst auf sich zu nehmen. Im Februar 1829 wurde er als Pfarrverweser nach Pflummern beordert. „1829 kehrte ich mit neugestärktem Muthe zu dem mir immer lieb u. theuer gebliebenen Beruf zurück“, behauptet Mörike in seinem offiziösen Investiturlebenslauf (7, S. 334), aber in Wirklichkeit konnte von echtem Enthusiasmus für das geistliche Amt nach wie vor keine Rede sein. Der junge Mann war vielmehr zu der Überzeugung gelangt – oder hatte sich selbst mit einigem Erfolg eingeredet –, dass gerade der Beruf eines Dorfpfarrers mit der materiellen Absicherung, der ruhigen Abgeschiedenheit und genügend freier Zeit ideale Bedingungen für das Schreiben bieten werde: „Wie Schuppen fiels mir von den Augen, daß ich alle jene Plane, die mein ganzes Herz erfüllen auf keinem Fleck der Welt (wie nun eben die Welt ist!) sicherer und lustiger verfolgen kann als in der Dachstube eines wirtembergischen Pfarrhauses“ (10, S. 260f.). Und er versicherte Mährlen, als er ihn über seine abrupte Kehrtwende unterrichtete: „Ich gehe mit zehnmal mehr Lust und Willen aufs Vicariat, als ich es verließ“ (S. 260). Dass solche energischen Bekundungen nur seine Unsicherheit und sein fortdauerndes Unbehagen kaschierten, enthüllt allerdings spätestens der Schluss dieses bedeutungsschweren Briefes vom 20. Dezember 1828. Mörike dichtet da zwar noch einen kleinen lateinischen Hochruf auf den Kirchendienst – „Vi vi vicariat / Vivat Vicariat!“ –, lässt dem Zweizeiler aber die Zeichnung eines Herrn in geistlicher Tracht folgen, der ein saures Gesicht zieht, und notiert als Erläuterung dazu: „Der Mann hat soeben Essig getrunken“ (S. 261). Der Katzenjammer blieb in der Tat nicht lange aus. Schon im März 1829 schlug ein Brief an den Freund wieder ganz andere Töne an: Ich habe Dir so lange geschwiegen, weil ich diese ganze Zeit her […] nicht mir selbst, nicht einem einzigen Menschen auf der Erde, sondern nur dem Gedanken meines Unglücks angehöre – Halte Du das für Übertreibung, für was Du willst, aber ich denke, es sollte Dir begreiflich werden, wenn ich Dir sage, daß ich seit 1½ Monaten wieder das Joch schleppe, das ich vor 1¼ Jahr abgeworfen hatte. Du hast keinen Begriff von meinem Zustand. Mit Knirschen und Weinen kau ich an der alten Speise, die mich aufreiben muß. Ich sage Dir, der allein begeht die Sünde wider den heiligen Geist, der mit einem Herzen wie ich der Kirche dient. (11, S. 21)
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Die Nöte eines Kirchendieners
Dass Mörike trotzdem durchhielt und die Strapazen seines Berufs in der Folgezeit sogar etwas geduldiger ertrug, war wohl in erster Linie der Beziehung zu Luise Rau zu verdanken, die wir deshalb auch im Rahmen dieses Kapitels – in einem separaten Abschnitt – behandeln werden. Einige weitere Faktoren sind leicht zu erschließen oder finden in Briefen explizit Erwähnung. Dazu gehörte der sanfte Druck der Familie, auf den Mörike anspielte, wenn er über seine „Pastoralische Existenz“ an Vischer schrieb: „es gibt außer mir Leute die sich für die leztere gar sehr interessiren, denen ichs also auch schuldig bin“ (11, S. 172). Angesichts der zweifelhaften Pfade, auf denen seine Brüder wandelten, zeigte sich überdies immer dringlicher die Notwendigkeit, die verwitwete Mutter und die jüngere Schwester Klara materiell zu unterstützen, was eine feste Stelle mit sicherem Einkommen voraussetzte. Und an brauchbaren Alternativen zum Pfarramt fehlte es ohnehin, seit Mörike 1828 eingesehen hatte, dass er für eine Existenz als Freiberufler, die ein hohes Maß an Tatkraft und Durchsetzungsvermögen erforderte, nicht geschaffen war. Die Verknüpfung von Förderung und Bevormundung, von zuverlässiger Versorgung und klaren Direktiven, die die geistliche Karriere in Württemberg kennzeichnete, bot für einen Mann mit seiner charakterlichen Veranlagung eben auch beträchtliche Vorteile. Er wählte im Grunde also einfach den Weg des geringsten Widerstands, wie er 1833 in einem anderen Brief an Vischer verriet, in dem er zwar wieder einmal seinen Missmut über den „KirchenRock“ äußerte, der keinerlei „schöne Produktivität“ gestatte, im Rückblick auf die letzten Jahre aber hinzufügte: „so hat doch eine gewiße Indolenz und Liebe zur Bequemlichkeit mich dergleichen Klagen immer seltener führen lassen“ (12, S. 44). Mörikes Vikariat erstreckte sich, wenn man jenen langen Urlaub abrechnet, über fast sieben Jahre. Das war eine beträchtliche, aber doch nicht ganz ungewöhnliche Dauer, weil damals wegen mehrerer starker Jahrgänge am Tübinger Stift gerade eine Absolventenschwemme herrschte, die lange Wartezeiten für Pfarramtsanwärter bedingte. Obendrein war Mörikes Zeugnis beim Abgang von der Universität so mäßig ausgefallen, dass er keine bevorzugte Behandlung erwarten durfte. Zum Glück lagen fast sämtliche Ortschaften, in die es den jungen Vikar verschlug, im Umkreis der Schwäbischen Alb und somit in der Nähe von Nürtingen und Stuttgart, wo seine Verwandten wohnten. Gleichwohl empfand er das Harren auf die Sicherheit einer festen Anstellung zunehmend als frustrierend. Besonders der sich hinziehende Aufenthalt in Ochsenwang, das ihm anfangs sehr gut gefallen hatte, zermürbte ihn mit der – 217 –
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Zeit, weil er durch das raue Klima auf der Gebirgshöhe seine „Gesundheit vielleicht auf Jahre hinaus“ zu ruinieren fürchtete (12, S. 45). Er fühlte sich „muthloser, stumpfer, ärmlicher […] als je“, sprach von „Bitterkeit“, von „Trotz und Ungeduld“ (11, S. 327) und erwog bisweilen sogar wieder, „den KirchenMantel eine Weile fliegen“ zu lassen und sich einen anderen Beruf zu suchen (S. 328). Erst nach drei weiteren Vikariatsstationen und einer ganzen Reihe vergeblicher Bewerbungen hatte das Warten ein Ende, als König Wilhelm I. der am 26. April 1834 eingereichten Bitte um die „allergnädigste Verleihung der Pfarrei Klever-Sulzbach“ (12, S. 64) stattgab. Im Juli nahm Mörike die Amtsgeschäfte in dem kleinen Ort im Unterland auf, der nicht weit von Neuenstadt am Kocher entfernt war, wo die württembergische Linie seiner Familie ihren Ursprung hatte. Charlotte und Klara Mörike bezogen gemeinsam mit dem Sohn und Bruder das geräumige Pfarrhaus. Als akademisch gebildeter ‚Städter‘, Geistlicher und Vertreter der staatlichen Autorität war der Pfarrherr in einer ländlichen Gemeinde eine Respektsperson, zugleich aber so etwas wie ein Fremdkörper unter den eingesessenen Bauern. Die Kluft, die einen solchen Mann von der Dorfbevölkerung trennte, deutet Mörike beispielsweise in dem Gedicht Wald-Idylle an, in dem der belesene Sprecher das einfache Dasein der Landleute sentimentalisch verklärt. Humorvoller wird das Verhältnis zwischen dem Pfarrer und den Dörflern in Pastoral-Erfahrung behandelt, wo das lyrische Ich davon erzählt, wie ihm seine Bauern nachts den Salat aus dem Garten stehlen – vielleicht hat Mörike selbst entsprechende Erfahrungen gemacht. Nach allem, was wir wissen, scheint er in Cleversulzbach immerhin recht beliebt gewesen zu sein. Nur gestaltete sich sein Verhältnis zum geistlichen Amt leider ebenso misslich wie zuvor. Die schweren Erkrankungen, die ihn alsbald heimsuchten, taten ein Übriges, um seine Diensttauglichkeit einzuschränken und schließlich fast völlig aufzuheben; mit dem idyllischen Bild einer beschaulichen pfarrherrlichen Existenz, das er Jahre später in Der alte Thurmhahn entwarf, hatte sein Leben in Cleversulzbach jedenfalls wenig gemein. Schon von 1835 an sah er sich genötigt, auf den Beistand wechselnder Vikare zurückzugreifen, die in der Folgezeit einen großen Teil der Verwaltungsgeschäfte und insbesondere das Predigen übernahmen. Die Kosten für diese Helfer hätte er eigentlich selbst tragen müssen, doch wurden mehrere Anträge auf staatliche Unterstützung genehmigt. Es war wohl kaum übertrieben, wenn Mörike damals mit einer Anspielung auf Shakespeares Falstaff beteuerte, er wisse kaum mehr, „wie das Inwendige einer Kirche aussieht“ (12, S. 99). Die Versetzung in eine besser besoldete Pfarrei – 218 –
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wäre ihm zwar trotzdem willkommen gewesen, aber dafür hätte er eine zusätzliche theologische Prüfung ablegen müssen, was natürlich nicht in Frage kam, und sein Gesuch, man möge ihm wegen der „Schwäche und Reizbarkeit [s]einer Nerven“ ein solches „BeförderungsExamen allergnädigst erlassen“, fand kein Gehör (13, S. 71f.). Ohnehin wurden nicht nur die Einwohner seiner Gemeinde, sondern auch die vorgesetzten Behörden, die bislang eine erstaunliche Nachsicht an den Tag gelegt hatten, allmählich ungeduldig. Notgedrungen versuchte Mörike ab 1840, wenigstens einen Teil der Dienstgeschäfte wieder in die eigene Hand zu nehmen, indem er sich mit Verwaltungsangelegenheiten befasste und gelegentlich auch predigte, doch diese Bemühungen waren nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Ende 1842 spitzte sich die Lage zu, als das Konsistorium ihn vor die Wahl stellte, entweder sein Amt künftig in vollem Umfang selbst auszuüben oder aber bis zur Wiederherstellung seiner Gesundheit in den einstweiligen Ruhestand zu gehen.3 Mörike bat Hartlaub daraufhin vorsorglich, ihm „für die Sonntage von Ostern an ein Duzend Deiner Predigten“ zu schicken (14, S. 100) – offenbar besaß er kein großes Zutrauen zu seinen Fähigkeiten! Tatsächlich musste er sich schon bald sein Scheitern eingestehen und kam zu der Überzeugung, „daß mich das Amt umbrächte“ (S. 112). Genaueres erfahren wir aus dem Brief, mit dem er den König am 3. Juni 1843 „unterthänigst um allergnädigste Ent hebung von dem Pfarramt und Pensionirung auf unbestimmte Zeit“ ersuchte, nicht ohne dabei seinen „redliche[n] Willen“ und seine „innerlich entschiedene Liebe“ zum geistlichen Beruf zu betonen: Ein allgemeines Schwächegefühl, das mich seit Jahren eigentlich nie verlassen hat und sich bei jeder Art von länger fortgesezter Anstrengung, vornemlich bei der physisch geistigen der öffentlichen Rede zeigte, ist kürzlich in Folge meiner neu übernommenen ungetheilten Amtsthätigkeit, in erhöhtem Grade eingetreten. Vermehrter Blutandrang nach dem Kopfe, Schwindel, Kopfschmerz, ein heftiges, nicht selten die Sprache hinderndes Herzklopfen und gegen das Ende ein auffallender Nachlaß der Kräfte waren die Anzeigen, die meine neuesten Vorträge und kirchlichen Verrichtungen theils begleiteten, theils ihnen folgten […]. Bei meiner lezten Katechisation und Taufhandlung […] ward mir so schlimm, daß die Gemeinde sowohl als ich selber jeden Augenblick mein Umsinken erwartete. (S. 109f.)
Im August übergab er das Amt seinem Nachfolger, und im September verließ er Cleversulzbach, um mit Klara bis auf weiteres zu Familie Hartlaub nach Wermutshausen zu ziehen. Offiziell war die Versetzung in den – 219 –
8. Mörike und die Religion
Ruhestand zwar nur vorläufig, aber Mörike zog niemals ernsthaft in Erwägung, auf die Kanzel zurückzukehren. Er musste allerdings fortan Jahr für Jahr schriftlich und unter Beifügung eines Attests über sein Befinden Rechenschaft ablegen und durfte, da er als Pensionär vollkommen von der Staatskasse abhängig blieb, nach außen hin keine Zweifel an seiner Loyalität gegenüber Religion und Kirche aufkommen lassen. So erklärt sich der Unmut, mit dem er reagierte, als Justinus Kerner ihn einer „Abneigung gegen den geistlichen Stand“ verdächtigte. In einer ungewöhnlich scharfen Erwiderung berief er sich auf seine körperlichen Leiden und beteuerte einmal mehr, „diesen Beruf […], was die ersten inneren Bedingungen und die Sache selbst betrifft, um die es sich darin handelt, mit erneuerter Liebe ergriffen“ zu haben, bevor er schließlich auf den springenden Punkt kam: „Was mich nun aber Ihrerseits besorgt machen könnte, das ist, daß Sie Sich etwa gegen Andere leicht auf eine Weise äußern möchten, die mir bei meinen Vorgesezten schaden muß“ (14, S. 122). In Wahrheit war er, wie er Hartlaub anvertraute, heilfroh, als er die ungeliebte Bürde endlich abschütteln und nach seiner letzten Amtshandlung „an den weißen Kasten in der Sakristei gleichsam als unabänderliches Gelübde“ die Worte „Pro ultimo“ – ‚zum letzten Mal‘ – kritzeln konnte: „Und nun wird Alles anders gehn“ (S. 112). Eine wohl von Anfang an verfehlte Laufbahn hatte ihren ruhmlosen Abschluss gefunden.
„Luftbild oder Leben“: Luise Rau Im Februar 1829 verstarb in dem Dorf Plattenhardt auf den Fildern der Pfarrer Gottlieb Friedrich Rau. Als Mörike im Mai aus Pflummern dorthin versetzt wurde, um die verwaiste Gemeinde bis zur regulären Wiederbesetzung des Amtes zu betreuen, traf er im Pfarrhaus die Witwe und drei ihrer Töchter an, denen das Konsistorium noch für einige Monate ein Wohnrecht eingeräumt hatte. Er kannte die Familie von früher her, da Rau mit seinem Onkel Neuffer befreundet und er selbst in seiner Uracher Zeit hin und wieder in Plattenhardt zu Besuch gewesen war; deshalb konnte er von einem „mir gar wohl bekannten u. lieben Hause“ sprechen (11, S. 33). Der Umgang mit den Raus dürfte also von Anfang an recht vertraulich gewesen sein, und rasch entwickelte sich eine besondere Zuneigung zwischen dem Vikar und Luise, der mittleren der Schwestern. Sie gestanden einander ihre Gefühle jedoch erst, als die Trennung drohte, weil die Witwe sich anschickte, mit ihren Kindern zu einem Schwieger– 220 –
„Luftbild oder Leben“: Luise Rau
sohn zu ziehen, der als Pfarrer in Grötzingen amtierte. Später erinnerte Mörike seine Braut in einem Brief an diese Epoche: Wir spielten lange Zeit, wie Kinder, im Sonnenschein zusammen, ohne eben einander entschieden zu begehren, – ein Sturm mußte kommen, um den Vorhang, der noch über meiner Seele hieng, zu zerreissen; ich klammerte mich mit Heftigkeit an Dich und wollte verzweifeln da die Möglichkeit erschien, Dich zu verlieren. […] Ich fühlte, ein Gott hatte die Glocke der entscheidenden Stunde angeschlagen, er trieb, er stieß mich vorwärts, das Glück zu ergreifen, das mir und Keinem andern bestimmt war.
Am 14. August verlobten sich Eduard Mörike und Luise Rau „in der morgendlichen, goldengrünen Gartenlaube“ des Pfarrhauses von Plattenhardt (S. 110). Die neue Liebe blieb für Mörikes Einstellung zum Kirchenamt nicht folgenlos, war doch ohne einen festen Posten mit hinreichenden Einkünften an Eheschließung und Familiengründung nicht zu denken. So freundete er sich jetzt offenbar zumindest für einige Zeit mit dem Gedanken an ein häusliches bürgerliches Leben als verheirateter Geistlicher an, wie es auch den Vorstellungen seiner Verwandten entsprach. Mährlen bekam nun zu hören: „ich lerne nach und nach begreifen, es kommt nur auf einen männlichen Entschluß an, um auch innerhalb des Kirchendienstes der ganze ungetheilte Mensch zu bleiben“ (11, S. 80), oder: „Ich sage Dir, mir ist ganz wohl in meinem pastoralischen Esse und ich will den sehen, der mir in irgend einer Hinsicht etwas Resignirtes ansähe“ (S. 122). Seiner Verlobten versicherte er ebenfalls, dass er sich „mit der schwarzen Farbe“ – dem „Kirchenrock“ nämlich – „mehr und mehr aussöhne“ (S. 71). Bedeutungsvoll war für ihn nicht zuletzt, dass er durch die Verbindung mit Luise auch die Integration in eine weitere Familie erlangte, die er wie seine eigene als eine schützende Sphäre inniger emotionaler Verbundenheit empfand. Er bezeichnete seine Mutter und die künftige Schwiegermutter als „Mutter a. und Mutter b.“, die kaum voneinander zu unterscheiden seien (S. 87), und legte Charlotte Mörike nahe, seine Verlobte gleichsam als Ersatz für ihre vor wenigen Jahren verstorbene Tochter gleichen Namens zu betrachten.4 Doch schon aufgrund der äußeren Umstände war die Beziehung zu Luise Rau von Beginn an nicht unkompliziert. Ein so langes Beisammensein, wie man es vom Frühjahr bis zum Herbst 1829 in Plattenhardt genoss, sollte es später nie wieder geben, da Mörikes dienstliche Pflichten ihm nur sporadische und meist sehr kurze Besuche in Grötzingen oder – 221 –
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Treffen an anderen Orten erlaubten. Der Tatsache, dass oftmals die schriftliche Kommunikation an die Stelle persönlicher Begegnungen treten musste, verdanken wir die lange Reihe jener berühmten Liebesbriefe, die der junge Pfarrvikar seiner Braut schrieb. Erhalten hat sich vermutlich ungefähr die Hälfte dieser Schreiben. Luises Briefe sind dagegen samt und sonders verlorengegangen, und so fällt es schwer, einen auch nur halbwegs klaren Eindruck von ihrer Persönlichkeit zu gewinnen. Die wenigen Indizien lassen auf eine schüchterne, in sich gekehrte, aber auch recht belesene junge Frau schließen. Wenn Mörike selbst sie charakterisierte, verschwanden die individuellen Züge weitgehend hinter Stereo typen, die dem Arsenal der zeitgenössischen Vorstellungen von idealer jungfräulicher Weiblichkeit entstammten. Hartlaub erhielt beispielsweise folgende Schilderung: Ein einfaches heiligunschuldiges Wesen, das, weil Andere es verkannten, lange im Unklaren über seinen eigenen tief verborgenen Werth war, seitdem ich sie kenne erhob sich ihr Gefühl u. Geist mit schöner Zuversicht, doch bildet ihre Schüchternheit noch immer ein reizendes Gemisch mit diesem neuen Leben. Sie ist verständig, vorsichtig, entschieden und im Affekt sogar überbrausend, zumal wenns einem edlen Gedanken gilt, den man ihr bekämpft. Bey der Lektüre leitet sie, besonders in Dingen die über den unschuldigen keuschen Mädchenhorizont hinaus liegen, ein niemals irrender Instinkt, dessen verlegener kindlich origineller Ausdruck mich oft zur seeligsten Freude vermocht hat […]. Ihr Äußeres ist zart u. leicht. Wer ihr Gesichtchen beurtheilt sagte noch jedesmal, daß es mit längerem Anschaun nicht blos gefällig sey sondern ihre ganze Seele treu abspiegle. Mir ist sie so ergeben, als es nur ein Mensch dem Andern seyn kann […]. (11, S. 132)
Ähnlich urteilten Mörikes Freunde, darunter Ludwig Bauer, der von Luise nur zu sagen wusste, dass sie „ein bildschönes, hingebendes, liebe athmendes, seelengutes Geschöpf “ sei.5 Sehr viel mehr als über die Person der Adressatin verraten die Brautbriefe über Mörikes Verständnis dieser Liebesbeziehung oder, genauer gesagt, über seine Bemühungen, sie mit sprachlichen, oft geradezu poetischen Mitteln in seinem Sinne zu formen und auszugestalten. Er pflegte die nur um zwei Jahre jüngere Luise als „Kind“ anzusprechen, stilisierte sie zum Inbegriff von Unschuld und Reinheit und behandelte sie zugleich wie eine unmündige Schutzbefohlene, der er in väterlichem Ton Ratschläge zu ihrer Lektüre oder zur Vorsorge für ihre Gesundheit erteilte. Vor allem aber erhob er die Liebe zu einer Sphäre absoluter Geborgenheit, die in allen – 222 –
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Wechselfällen des Lebens einen sicheren Halt gewährte, und zum sinnstiftenden Mittelpunkt seiner gesamten Existenz. Zitiert sei hier eine bezeichnende Passage aus dem Brief vom 17. Februar 1832, die den bekannten rhetorischen Unsagbarkeitstopos aufgreift, indem sie beredt ausführt, was sich doch, wie behauptet wird, gar nicht in Worte fassen lässt: Ach theure, einzige Luise! wie soll ich Dir ausdrücken, was täglich, stündlich, wenn auch zu Zeiten wortlos und verschwiegen, für Dich und durch Dich in meinem Innersten sich bewegt! Wie ich mein wahres und eigentliches Daseyn nur von der Stunde an rechne, die Dich mit mir verband! Wie Alles was ich sonst noch treiben, thun und hoffen mag doch in demselben unveränderlichen Zirkel zu Dir, zum Lebenspunkte meines Friedens, meiner Freuden ruhig zurückfließt und dort seine Nahrung findet! (11, S. 248)
Wie wir bereits wissen, empfand Mörike die fundamentale Unsicherheit zwischenmenschlicher Beziehungen und die allgegenwärtige Gefahr von Täuschung und Treulosigkeit von früh an als eine geradezu traumatische Bedrohung seines inneren Gleichgewichts, auch wenn die erschütternde Einsicht in die Ungewissheit und Unzulänglichkeit jeder irdischen Bindung ihren bündigsten Ausdruck erst 1846 in der Eingangsstrophe des Gedichts Neue Liebe fand: „Kann auch ein Mensch des andern auf der Erde / Ganz, wie er möchte, sein? / – In langer Nacht bedacht’ ich mir’s, und mußte sagen, nein!“ (1.1, S. 206) Die Briefe an Luise Rau lesen sich nun wie unablässige Versuche, gegen diese Erkenntnis anzuschreiben und sie durch emphatische Beschwörungen zu bannen. Mörike beteuert: „wir sind Ein Ich, und Eine Seele“ (11, S. 109) und: „Du bist das Einzige Wesen, das mich hierin ganz zu würdigen versteht, ich bin der Einzige der das schöne Geheimniß Deiner Seele, Deines ganzen Denkens, Seyns und Ausdrucks entschleierte, der den leisesten Laut Deines Gemüths auffängt“ (S. 86); er schwelgt in der „schöne[n] Gewißheit unseres InEinanderLebens“ (S. 248) oder versichert der Verlobten, „daß wir uns ganz und ewig angehören, daß keines Menschen Seele auf weiter Welt sich inniger, glücklicher an Dich anschließen könne als ich, Dein Eduard!!“ (12, S. 16) Das letzte Zitat stammt allerdings aus einem Brief, in dem der Schreiber bereits gegen erste Missverständnisse zwischen den Liebenden und eine beginnende Entfremdung anzukämpfen hat … Auch die Sakralisierung der Liebe zu Luise, die sich wie ein Leitmotiv durch die Briefe zieht, soll diese Gefühlsbindung von jeder Kontingenz, wie sie irdischen Dingen anhaftet, befreien: „Heiliges Bewußtseyn der Unveränderlichkeit unserer Liebe und ihres höheren Ursprungs“ (11, S. 106). – 223 –
8. Mörike und die Religion
Schon allein die herrlichen Bilder, die er für das Gefühl der Liebe findet, machen Mörikes Brautbriefe zu vollgültigen künstlerischen Schöpfungen. So verbreitet er sich einmal über den unerschöpflichen Reiz, den Verliebte „im Austheilen und Hinnehmen immer neuer Schwüre“ entdecken: „Diese süße Wiederholung worin man sich selber nie ein Genüge thut, gleicht fast einem lieblichen Spiele, das etwa darin bestünde, daß Du ein goldenes Gefäß mit köstlichem Wein in ein anderes gößest damit ich den immer frischen Perlschaum schnell vom Rande sauge um sodann Dir wieder einzufüllen, daß Du das gleiche thuest und so fort – ohne unsern Durst löschen und den Wundertrank zur Neige bringen zu können“ (11, S. 85). Derselbe Brief schlägt etwas später sogar hymnische Töne an, die an den Schöpfungspreis von Klopstocks Frühlingsfeyer denken lassen: Ich bewundere mit Thränen die Liebe des Höchsten und seine Majestät, wenn mir einfällt, – ich der Einzelne, an dem sich das Füllhorn überschwänglicher Wonne erschöpft zu haben scheint, bin doch der kleinste Theil nur in einer ganzen unendlichen Schöpfung auf welche sich Ströme der Liebe stürzen. Es fluthet eine Welt voll Seeligkeit in mir auf und nieder – sie ist ein Tropfen, der im All verschwindet, – und doch so mächtig fühl ich mich in ihr, daß ich mir Nichts gleich mehr glaube von Allem was außer mir und außer uns Beiden lebt; ja, wenn der Lobgesang aus tausend glücklichen Kehlen sich in Einem breiten Strome himmelan schwänge – ich könnte zweifeln, ob er der Empfindung meines einzelnen Glücks gleich käme und doch fühlte von den Tausenden ein jeder vielleicht dasselbe was ich und was Du […]. (S. 85f.)
Doch hier deutet sich auch schon an, wie leicht die pathetische Überhöhung der Liebeserfahrung dazu führen kann, dass der geliebte Mensch als solcher ganz in den Hintergrund tritt und der Gefühlsüberschwang in eine schwärmerische Ich-Bezogenheit mündet. Stärker noch als in Mörikes Briefen manifestiert sich diese Tendenz in den Sonetten für Luise, die er im Frühjahr 1830 in rascher Folge niederschrieb. Als Beispiel möge An die Geliebte dienen: Wenn ich, von deinem Anschaun tief gestillt, Mich stumm an deinem heil’gen Werth vergnüge, Dann hör’ ich recht die leisen Athemzüge Des Engels, welcher sich in dir verhüllt.
Und ein erstaunt, ein fragend Lächeln quillt Auf meinem Mund, ob mich kein Traum betrüge, Daß nun in dir, zu ewiger Genüge, Mein kühnster Wunsch, mein einz’ger, sich erfüllt?
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„Luftbild oder Leben“: Luise Rau
Von Tiefe dann zu Tiefen stürzt mein Sinn, Ich höre aus der Gottheit nächt’ger Ferne Die Quellen des Geschicks melodisch rauschen. Betäubt kehr’ ich den Blick nach Oben hin, Zum Himmel auf – da lächeln alle Sterne; Ich kniee, ihrem Lichtgesang zu lauschen. (1.1, S. 205)
Spätestens in den Terzetten gerät die Angesprochene völlig aus dem Blick, weil ihre kontemplative Betrachtung dem Sprecher lediglich den Anlass für eine in mystische Dimensionen reichende Selbsterfahrung liefert, die ausgeprägte narzisstische Züge trägt und in einem synästhetischen Gefühl kosmischer All-Einheit gipfelt: „Das Gedicht zeigt die Geburtsstunde einer Liebesmetaphysik, die der Geliebten nur mehr als Geburtshelferin bedarf.“6 Überhöht zu einem engelsgleichen Wesen, scheint die Frau ihre Körperlichkeit ebenso einzubüßen wie ihre unverwechselbaren indivi duellen Konturen, was dem Wunsch des Mannes entgegenkommt, von vornherein jede mögliche Gefährdung der eigenen Gefühlssicherheit durch zwischenmenschliche Disharmonie oder auch durch die leidenschaftlichen Regungen des sexuellen Begehrens auszuschließen. Eine Parallele dazu bietet der Brief vom 9. November 1829, in dem Mörike seine nächtlichen Phantasien am geöffneten Fenster schildert: Könnt ich Dich eine Minute lang haben! Nicht einen Kuß gäben wir uns – sondern stille, staunend, andachtvoll säh’ ich Dich mir an die Seite gezaubert wie eine leichte Verkörperung meines heiligsten Gedankens, die ich nicht zu berühren wage, die leisen Trittes wieder entweicht, aber in mir eine unnennbare Seeligkeit zurückläßt die mich in den Schlaf hinüber begleitet. Ist mir aber nicht jezt schon so zu Muthe? Tritt, o Kind, diesen Augenblick herein! und ich will nicht erschrecken, will nicht fragen bist du Luftbild oder Leben – ich wäre auf jedes Wunder gefaßt – – (11, S. 44)
Die Verklärung der Geliebten wie auch der Liebe selbst, die Mörike in seinen Brautbriefen so virtuos betreibt, erinnert bis ins Detail an das Frauenbild der männlichen Protagonisten seines Romans, der gerade in jenen Jahren abgeschlossen und veröffentlicht wurde. Vor diesem Hintergrund wirkt die Hellsichtigkeit, mit der der Autor des Maler Nolten am Beispiel seiner Figur Agnes das Ideal vollkommener Reinheit und körperloser Unschuld als Resultat einer rigiden Verdrängung entlarvt, umso verblüffender. Offensichtlich war der Dichter Mörike zu psychologischen Einsichten fähig, die der verliebte Pfarrvikar geflissentlich unterdrückte – wenn man von einigen – 225 –
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Merkwürdigkeiten in seinen Briefen absieht, etwa von dem Einfall, Luise ausgerechnet eine Zeichnung zu schicken, die „die unglückliche Ophelia im Wahnsinn“ zeigte, in den sie ihre Liebesverwicklungen gestürzt haben und in dem sie bekanntlich die bedenklichsten sexuellen Anspielungen äußert (11, S. 112). Was mag Luise Rau durch den Kopf gegangen sein, als sie im Nolten las, wie eine scheinbar engelsgleiche junge Frau, zu deren weiteren Vornamen übrigens „Luise“ zählt (3, S. 389), in geistiger Umnachtung versinkt und Selbstmord begeht, nachdem sie sich zu allem Überfluss auch noch jene Gedichte – darunter An die Geliebte – zugeeignet hat, die von ihrem wahren Verfasser ursprünglich für seine Verlobte geschrieben worden waren? Mörikes Leben und Schaffen sind in dieser Phase durch ein Nebeneinander von Stilisierung und Desillusionierung, von schwärmerischer Überhöhung und tiefgründiger literarisch-psychologischer Analyse gekennzeichnet, das beinahe unheimlich anmutet. Das zitierte Sonett, das die Liebe zur Mittlerin zwischen dem (männlichen) Ich und dem visionär geschauten Reich des kosmisch-göttlichen Absoluten erhebt, steht in einer großen poetischen Tradition, deren Wurzeln bei Petrarca und seinen Nachfolgern zu suchen sind. Da Mörike aber bestrebt war, solche Fiktionen auf den Alltag und auf die Person seiner Verlobten zu übertragen, musste ihr Zusammenstoß mit den Beschränkungen und Unwägbarkeiten der lebensweltlichen Realität früher oder später zu einem gravierenden Problem werden. Der Dichter scheint das auch geahnt zu haben, denn obwohl er immer wieder die räumliche Trennung von der Geliebten beklagte und sich gerne den „glücklichen, vielleicht nicht allzufernen Tag“ ausmalte, „an welchem wir Beide mit stillem Entzücken zum ersten Mal die Schwelle der künftigen Wohnung betreten“ (11, S. 317), wusste er doch andererseits die Vorzüge der Distanz sehr wohl zu schätzen. Solange sie nämlich andauerte, konnte er sich in „seliger Wehmuth“ ergehen, die ja seine bevorzugte Stimmungslage darstellte, und etwa nach einem Beisammensein mit Luise über seine sehnsüchtigen Gedanken auf dem Heimweg nach Ochsenwang schreiben: „Es gibt für mich kaum einen reizendern Genuß in der Liebe als eben dieß Gemisch von Wohl und Weh, wo die dämmernde Wolke so eines Abschieds den vollen Glanz des himmlischen Bewußtseyns überschleiert, wie ganz wie eigen man einander habe“ (S. 271). Die dauernde Gemeinschaft im häuslichen Eheleben mit all ihren Pflichten und Notwendigkeiten hätte einen solchen aparten „Genuß“, den er in einem anderen Brief als Mischung aus „Erinnerungssüßigkeiten, Liebes-Jubel“ und „leise[r] Wehmuth“ charakterisierte (S. 196f.), nicht mehr zugelassen, und so ist es eine nur scheinbar – 226 –
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banale Feststellung, dass die wunderbare Poesie von Mörikes Liebesbriefen eben die Entfernung von Luise voraussetzte, da sie allein jenen Freiraum gewährte, in dem die tätige Einbildungskraft ihre Wunschbilder und Projektionen ungestört entfalten konnte. Angesichts der Diskrepanz zwischen dichterischem Höhenflug und profaner Alltagsrealität liegt die Vermutung nahe, dass diese Beziehung, verstanden als eine bürgerliche Verlobung mit dem Ziel der Heirat und der Familiengründung, in jedem Fall über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt war. Deshalb wiegt es nicht allzu schwer, dass wir über die konkreten Anlässe, die schließlich zur Trennung führten, lediglich spekulieren können, weil aus den entscheidenden Monaten auch von Mörikes Hand nur noch spärliche Briefzeugnisse vorliegen. Von den Schwierigkeiten, mit denen er 1832/33 in Ochsenwang zu kämpfen hatte, von den fruchtlosen Bemühungen um eine nachhaltige Verbesserung seiner Lage und seiner zunehmenden Verbitterung war bereits die Rede. Immer häufiger bekam Luise jetzt bewegende Klagen zu lesen: „Ich bin seit Wochen wie ein geheztes Wild, unstet, fast heimathlos, uneins mit mir selbst u. möchte mein Schicksal mit Füßen zertreten“ (12, S. 36). Auf der anderen Seite wurde die Verlobte mit der Zeit anscheinend an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle irre und begann, sich über die Seltenheit ihrer Begegnungen zu beklagen. Den Brief vom 24. Januar 1833 beginnt Mörike mit den Worten: „Ich bin, meine theuerste Luise! in hohem Grade überrascht und bekümmert durch Dein leztes Schreiben. Du hast mir bitteres Unrecht gethan. Ich sage das mit reinem ruhigem Herzen, im männlichsten Bewußtseyn, obgleich nicht ohne tiefe Wehmuth“; anschließend geht er auf Zweifel an seiner „Redlichkeit“ und „Treue“ ein, die sie anscheinend zum Ausdruck gebracht hatte (S. 14). Sorgen wegen Mörikes ungewissen Berufsaussichten dürften hinzugekommen sein, denn auf die Dauer konnten wohl nicht einmal die schönsten poetischen Episteln Luise über die Tatsache hinwegtrösten, dass immer noch keine feste Pfarrstelle in Reichweite war, die ihnen die Begründung eines gemeinsamen Hausstandes ermöglicht hätte. Seine Gedankenspiele, den Kirchendienst aufs Neue zu verlassen, mussten ihre Unruhe weiter verstärken. Und nicht zuletzt mögen auch die Eskapaden, die Karl Mörike 1831 auf den Hohenasperg brachten, eine Rolle gespielt haben, zumal es in Luises Familie bereits einen Sträfling gab: Der Bräutigam ihrer älteren Schwester Friederike saß wegen politischer Umtriebe jahrelang in Festungshaft. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme war es aber Mörike, der schließlich den entscheidenden Schritt tat und die Verlobung aufkündigte. – 227 –
8. Mörike und die Religion
Anfang November 1833 erhielt Luise einen entsprechenden Brief, über dessen Inhalt wir allerdings nur durch indirekte Zeugnisse unterrichtet sind.7 Am 20. Dezember entschuldigte sich Mörike bei Vischer „wegen meines langen Stillschweigens“ mit der knappen Erklärung: „Es hat sich aber inzwischen eine für mein ganzes Leben wichtige Katastrophe eingeleitet, deren schmerzhafte Entwicklung alles Übrige bei mir verschlang“ (12, S. 51). Fortan vermied er es, die Rede auf dieses Thema zu bringen. Lediglich als Hartlaub sich vier Jahre später für die Brautbriefe interessierte, die Mörike bei der Trennung zurückerhalten hatte, schickte er ihm eine Auswahl davon mit der Bemerkung: „Sie sind ihrer Natur nach ziemlich eintönig. Nur wirst Du daraus sehen, daß ich das Mädchen unsäglich liebte. Es ist dießfalls auch nicht Ein falscher Hauch darin; sonst wären sie lange ins Feuer geworfen. Es schwindelt mir wenn ich hineinblicke und denke, wir sind auseinander!“ (12, S. 152) Luise blieb vorläufig bei ihrer Mutter wohnen, bis sie nach deren Tod 1845 den verwitweten Pfarrer Ernst Heinrich Schall heiratete, der mehrere Kinder mit in die Ehe brachte. Ihren einstigen Verlobten sollte sie um sechzehn Jahre überleben.
Eine „fortdauernde Neigung zum Christenthum“ In einem Brief an den Jugendfreund Rudolf Lohbauer bekräftigte Mörike im Sommer 1843, dass er nur seiner Gesundheit wegen gezwungen sei, sein geistliches Amt niederzulegen, und fügte sicherheitshalber noch hinzu: „Die hie und da schon ausgesprochene Vermuthung als ob mich ein inneres Mißverhältniß zum Christenthum hiezu bewege, ist ein völlig grundloser und dummer Verdacht“ (14, S. 127). Warum es dringend geraten schien, solchen Mutmaßungen entgegenzutreten, haben wir bereits erörtert; außerdem muss in diesem Fall der spezifische Adressatenbezug bedacht werden, denn der einst so wilde und rebellische Lohbauer, der inzwischen als Professor für Militärwissenschaften in der Schweiz wirkte, war längst ein frommer und gesetzter Mann geworden. Richtig ist aber zweifellos, dass Mörikes Amtsverzicht und selbst seine vielfach belegte entschiedene Abneigung gegen seine beruflichen Funktionen noch nichts über seine Einstellung zum christlichen Glauben als solchem besagen, der wir uns jetzt zuwenden wollen. Die Quellenlage auf diesem Gebiet ist freilich sehr unbefriedigend, da der Dichter sich kaum einmal unzweideutig oder ausführlich zu seiner – 228 –
Eine „fortdauernde Neigung zum Christenthum“
Religiosität geäußert hat. Zwar schrieb er zahlreiche lyrische Texte mit christlichem Gehalt, aber es verbietet sich, sie als schlichte biographische Zeugnisse zu lesen, weil hier stets die Differenz von Autor und Sprech instanz, von künstlerischer Gestaltung und persönlicher Überzeugung in Rechnung gestellt werden muss. Das gilt umso mehr, als diese Gedichte ganz unterschiedliche Perspektiven, Empfindungen und Sujets gestalten und offenkundig keineswegs aus dem einheitlichen Grund und Boden einer bestimmten religiösen Haltung erwachsen sind. Während Neue Liebe, wo das lyrische Ich die Gewissheit der innigen Gemeinschaft mit Gott als „süßes Schrecken“ erfährt, ganz pietistisch anmutet (1.1, S. 206), schwelgt das Gedicht Charwoche in einer katholisch gefärbten Marienund Jesusmystik; die Strophen Zum neuen Jahr künden von einem schlichten, fröhlichen Gottvertrauen, wohingegen die zweiteilige Verslegende Erzengel Michaels Feder ein ironisches Spiel mit dem naiven volkstüm lichen Wunderglauben treibt – und mit der Einbeziehung weiterer Werke könnte man die Anzahl der stilistischen und inhaltlichen Facetten noch beträchtlich vermehren. Mit dogmatischen Problemen oder subtilen theologischen Streitfragen dürfte sich Mörike, dem das abstrakte und systematische theoretische Denken nicht lag, jedenfalls nur so weit befasst haben, wie es Studium und Beruf unbedingt erforderlich machten. Die Theologie an der Universität Tübingen stand zu seiner Zeit obendrein in dem Ruf einer ausgesprochen trockenen akademischen Disziplin und war sicherlich nicht geeignet, bei einem phantasiebegabten und gefühlvollen jungen Mann Enthusiasmus für dieses Fach zu wecken. An der konservativ geprägten Fakultät dominierte damals der Supranaturalismus, nach dessen Auffassung die Bibel tatsächlich eine unmittelbare Offenbarung Gottes aufbewahrte und daher Wahrheiten enthielt, die über alle menschliche Vernunft und Einsicht hinausgingen. Der Professor Johann Christian Friedrich Steudel, den Mörike im Investiturlebenslauf unter seinen Lehrern aufführt8, zählte zu den einflussreichsten Vertretern dieser Richtung. Frischen Wind brachte erst die Berufung Ferdinand Christian Baurs, der mit seinen Bibelforschungen die historisch-kritische Jüngere Tübinger Schule begründen sollte, doch als er 1826 an die Universität kam, war Mörikes Studium bereits so gut wie beendet. Sein jüngerer Freund David Friedrich Strauß, von dem später noch die Rede sein wird, konnte dagegen schon von Baurs Anregungen profitieren. Mörikes Predigten, von denen er trotz seiner Aversion gegen das Sprechen vor der Gemeinde im Laufe der Jahre eine stattliche Anzahl gehalten – 229 –
8. Mörike und die Religion
haben muss, sind nicht überliefert. Dagegen besitzen wir zwei kleine theologische Aufsätze aus seiner Feder, die im Sommer 1827 während der Zeit in Köngen entstanden.9 Einblicke in seine private Glaubensüberzeugung gewähren sie jedoch schwerlich, da derartige Arbeiten Pflichtübungen darstellten, die von den Vikaren regelmäßig abzuliefern waren. Während der Beitrag Ist dem Christen erlaubt, zu schwören? seine Argumente weitgehend aus einem einzigen moraltheologischen Standardwerk übernimmt10, zeugt der andere, den Mörike in lateinischer Sprache verfasste, von größerer Selbständigkeit und damit vielleicht auch von einem größeren Interesse des Autors an dem gewählten Thema. Quid ex Nov. Testamenti effatis statuendum sit de nexu peccatum inter et malum physicum intercedente? („Was ist aus den Aussagen des Neuen Testaments über den Zusammenhang zwischen der Sünde und dem physischen Übel festzustellen?“) bestreitet den im Judentum zu Christi Zeiten weitverbreiteten Glauben an einen geradezu mechanischen Zusammenhang von Sünde und (körperlichen) Leiden, stellt aber auch die These auf, dass überhaupt erst die in der Sünde zum Ausdruck kommende Abkehr von Gott den Menschen dazu gebracht habe, natürliche Widrigkeiten bis hin zum Tod als Übel anzusehen: „Darin, daß die ersten Menschen nicht des Todes gewesen wären, wenn sie nicht gesündigt hätten, ist unsere Ansicht symbolisch enthalten: sie hätten ohne Sünde den Tod weder als Übel noch als Strafe begriffen“ (7, S. 733). Mit der paulinischen Verknüpfung von Sünde und Tod, an die diese Überlegungen anschließen, haben wir einen theologischen Kerngedanken vor uns, der auch in Mörikes poetischem Werk einen Widerhall findet; eine einschlägige Anspielung ist uns bereits in dem Gedicht Warnung aus dem Peregrina-Zyklus begegnet. Begreiflicherweise übten die gelehrten Disputationen, die normalerweise einmal im Jahr alle Geistlichen einer württembergischen Diözese zusammenführten, auf Mörike keinen großen Reiz aus. Am 3. Oktober 1827, als er sich schon mit dem Gedanken trug, dem Kirchendienst den Rücken zu kehren, schilderte er Mährlen eine anstrengende Exkursion von Köngen nach Kirchheim unter Teck: Es war Disputation dort, die erste, die ich in meinem Leben mitmachte und auch die lezte wahrscheinlich – ein sehr humaner und nichtvielbesagender locus theologicus mit gastrologischer Nutzanwendung – ich kann Dir weiter nichts davon erzählen, ich that nichts wie essen und trinken, denn im übrigen war ich ganz Storrens Meinung; und gelernt hab ich auch nichts neues dort, ja ich weiß noch diesen Augenblick nicht, war der Fraß um der Disputation willen oder die Disp. um des Fraßes willen […]. (10, S. 182f.)
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Eine „fortdauernde Neigung zum Christenthum“
Die Bemerkung über Gottlob Christian Storr, der die supranaturalistische Schule in Württemberg begründet und ein einflussreiches dogmatisches Lehrbuch verfasst hatte, darf man sicherlich nicht als ernsthaftes theologisches Bekenntnis werten – Mörike war offensichtlich aus reiner Bequemlichkeit mit allem einverstanden, um sich desto eifriger an Speis und Trank gütlich tun zu können! Drei Jahre später nannte er eine andere Disputation, der er beigewohnt hatte, „ein langweilig Ding von dem nicht viel zu erzählen ist“, und auch in diesem Fall scheint es allen Beteiligten vorrangig um die anschließende üppige Mahlzeit gegangen zu sein (11, S. 143). Der Pfarrer von Cleversulzbach drückte sich vor solchen Verpflichtungen, so gut es ging. In einem satirischen Gedicht, das 1834 geschrieben und zehn Jahre später um einige zusätzliche Strophen erweitert wurde11, macht er sich über den „Neuenstädter Pfarrkranz“ lustig (14, S. 162), zu dem sich die Amtsbrüder seiner Diözese regelmäßig versammelten. Er selbst, wegen seiner Beschäftigung mit der Oper Die Regenbrüder „Herr Bruder ‚Regen‘“ genannt, fehlt natürlich in der Runde, aber auch die anwesenden Kollegen bringen wenig Begeisterung für theologische Diskussionen auf: „Nun, an welchem Paragraphen / Sind wir neulich eingeschlafen?“ Statt dessen plaudert man lieber über den Wein und das Wetter … Aus verständlichen Gründen sah der Dichter davon ab, diese Verse zu veröffentlichen. Mörikes Abneigung gegen dogmatische Reflexionen macht es unmöglich, ihn einer bestimmten theologischen Richtung zuzuordnen. Wie stand es aber mit seiner persönlichen Frömmigkeit? Als ihn die Schwester Luise auf dem Sterbebett fragte, ob er „auch einen Glauben an den Heiland“ habe, konnte er, wie er nachher einer gemeinsamen Freundin gestand, „leider nicht frischweg antwordten“ (10, S. 147), doch muss offen bleiben, ob dieses Zögern auf echte Glaubenszweifel oder eher auf seinen bekannten Widerwillen gegen alle pathetischen Bekundungen zurückzuführen war. Immerhin zählten in der Tübinger Zeit auch tiefreligiöse Kommilitonen zu seinen Freunden, darunter der frühverstorbene Rudolf Flad und Christoph Blumhardt. Auf den Ersteren wird – ohne Namensnennung – im Cleversulzbacher Investiturlebenslauf angespielt; demnach soll er durch seinen „Umgang“ und seine „leise Leitung“ dazu beigetragen haben, dass Mörike dem Theologiestudium nicht untreu wurde (7, S. 333). Und mit Blumhardt pflegte Mörike wenigstens zeitweilig einen weit engeren Kontakt, als die spärliche Überlieferung ihrer Korrespondenz vermuten lässt.12 Den Gottesdienst besuchte der Dichter seit seiner Pensionierung allenfalls sporadisch, doch pflegte er noch in seinen späten Jahren im Familienkreis ein Tischgebet zu sprechen, wie der gänzlich areligiöse – 231 –
8. Mörike und die Religion
Theodor Storm bei seinem Besuch in Stuttgart überrascht feststellte.13 Mehrfach ist in Mörikes Briefen auch von einem Leben nach dem Tod die Rede. Die Fortexistenz der Verstorbenen „in einer neuen Wirklichkeit“ stellt er dabei als „eine ausgemachte natürliche Sache“ hin, die für ihn „eben so wenig bloßer Glaube als bloßes Resultat des Räsonnements“ sei (16, S. 245), und an anderer Stelle heißt es: „Da wir mit gutem Grund an die persönliche Fortdauer glauben, wie haben wir uns denn den jetzigen Zustand des Abgeschiedenen zu denken? doch ohne Zweifel weit entfernt von Allem was Leiden oder Kummer heißt. Er lebt und wirkt in glücklicher, erhöhter Geistesthätigkeit, auf dem Schauplatz einer neuen Natur in freier Gemeinschaft mit vielen gleichartigen Geistern“ (19.1, S. 161). Dass beide Passagen aus Beileidsschreiben an Hinterbliebene stammen, stempelt sie nicht unbedingt zu konventionellen Pflichtübungen. Es fragt sich allerdings, ob Mörikes Sicherheit wirklich im christlichen Glauben wurzelte, denn in einem weiteren Kondolenzbrief liest man: „So viel indeß bekenn ich Ihnen gerne hier, daß es nichts Gewisseres für mich giebt als unsere jenseitige Fortdauer und daß sich diese Überzeugung mir seit Jahren unwiderstehlich auf einem Gebiet der Erfahrung aufdrang, von welchem die Wissenschaft leider bis jezt noch allzu selten Notiz genommen hat“ (S. 68f.). Das ist eine Anspielung auf sein Interesse an Okkultismus und Spiritismus, mit dem wir uns in einem späteren Kapitel befassen werden. Wahrscheinlich sah er aber – wie etwa auch sein Freund Kerner – gar keinen Widerspruch zwischen den Lehren des Christentums und den Spekulationen über Geistererscheinungen. Den besten Zugang zu Mörikes persönlicher Religiosität eröffnet sein Verhältnis zu David Friedrich Strauß, der mit seiner berühmten Studie Das Leben Jesu von 1835/36 einen Skandal provozierte und die Zeitgenossen weit über den Kreis der theologischen Experten hinaus in Erregung versetzte. Von Hegel inspiriert, deutete Strauß die Wundergeschichten des Neuen Testaments als Mythen, deren man sich auf einer frühen Stufe der geistigen Entwicklung und der Reflexion bedient habe, um ideale Vernunftwahrheiten überhaupt ausdrücken zu können; sie seien daher nicht wörtlich zu nehmen, sondern als eine anschauliche, sinnlich greifbare Vorstufe der abstrakten philosophischen Erkenntnis zu verstehen. Mit diesem Buch verspielte der Verfasser alle Karrierechancen in Württemberg, und ein Versuch, ihn an die Universität Zürich zu berufen, führte 1839 sogar zu gewaltsamen Unruhen, in deren Verlauf die liberale Kantonsregierung gestürzt wurde. Mörike sah dagegen keinen Grund, die Verbindung zu Strauß abzubrechen. Eine seiner ausführlichsten und differenziertesten – 232 –
Eine „fortdauernde Neigung zum Christenthum“
Äußerungen zu religiösen Fragen, die sich in einem Brief an Vischer vom 13. Dezember 1837 findet, gehört in diesen Zusammenhang: Du schreibst auch von den Straußischen Bewegungen. Ich sehe ihnen mit dem größten Antheil zu. Dasjenige, was er gemeiner Christenheit durch die Kritik der Evangelien nimmt, war freilich ihm und Dir und mir u. Tausenden auf einem andern primitivern Weg im Voraus weggenommen und es könnte sich nur fragen, wie denn bei einem so landkundig werdenden theol. Bankerot zulezt der unvernünftige Haufe sich befinden u. beruhigen werde? In meiner öffentl. Stellung als Geistlicher habe ich jederzeit geglaubt, gewisse Dinge hergebrachter Maßen als ausgemacht & faktisch voraussetzen zu dürfen, ja zu müssen, und zwar theils nach dem Grundsatz von der Unmündigkeit des Volks, theils weil doch selbst auch der Gebildete u. Wissende gern seine Andacht an die von Kindheit auf gewohnten Vorstellungen u. Formen knüpfen mag; obwohl ich Dir gestehe, daß mir bei dieser Auskunft niemals ganz wohl & frei zu Muthe war. Inzwischen ist Straußens Maxime daß alle Forschung völlig unbekümmert um die Folgen ihre gerade Bahn fortschreiten müsse, auf keine Weise anzufechten. Er ist ein tapferer und feiner Geist & es ist eine Freude, ihn in den Streitschriften zu hören. (12, S. 146f.)
An den Verdiensten von Strauß und an seinem eigenen Bekenntnis zur Unabhängigkeit der kritischen Forschung von kirchlicher Bevormundung und anderen Bedenklichkeiten lässt Mörike keinen Zweifel. Im Hinblick auf die Einstellung zu den orthodoxen religiösen Lehren trifft er eine Unterscheidung: Während der „unvernünftige Haufe“ sich an die buchstäbliche Wahrheit der biblischen Überlieferung klammern mag, haben die aufgeklärten ‚Eingeweihten‘ solche Illusionen längst abgestreift und können daher auch durch eine nüchterne mythenkritische Analyse der Heiligen Schrift nicht mehr schockiert werden. In Mörikes Augen hat Strauß also nichts anderes getan, als den ohnehin unbestreitbaren „theol. Bankerot“ öffentlich, „landkundig“ zu machen. Und doch ist das Festhalten an der tradierten Gestalt der christlichen Lehre für Mörike mehr als eine rein pragmatische, der „Unmündigkeit“ der breiten Masse geschuldete Maßnahme, da auch der „Gebildete u. Wissende“ das Bedürfnis verspürt, seine „Andacht“ in die „von Kindheit auf gewohnten Vorstellungen“ zu kleiden. In dieser Wendung darf man, so allgemein sie auch formuliert ist, ein persönliches Bekenntnis vermuten. Hier schimmert eine Religiosität durch, die gewissermaßen einen dritten Weg zwischen kirchlicher Orthodoxie und aufgeklärter Kritik beschreitet, ein Christentum der privaten „Andacht“, des Gemüts und der Innerlichkeit, – 233 –
8. Mörike und die Religion
das keiner dogmatischen Festlegung bedarf, sich aber schon aus lieber Gewohnheit gerne der vertrauten Bilder und Formen bedient. Der so verstandene christliche Glaube war für Mörike vermutlich eine bereits durch sein Elternhaus vermittelte Selbstverständlichkeit, die zu zergliedern er wenig Lust verspürte. Diese Religionsauffassung, die in der Biedermeierzeit – und noch weit darüber hinaus – sehr verbreitet gewesen sein dürfte, erklärt die Seltenheit expliziter einschlägiger Äußerungen, denn Mörike sah keinen Anlass, sich für seine Haltung zu rechtfertigen oder sie mit großem Aufwand zu begründen, und missionarischer Eifer war ihm natürlich erst recht fremd. Dass er sich unter solchen Umständen in seiner Funktion als offizieller Verkünder amtskirchlicher Dogmen auf der Kanzel unwohl fühlen musste, leuchtet ebenfalls ein. Im März 1843, also im Vorfeld seiner Pensionierung, bekräftigte er in einem Gespräch mit Strauß seine „fortdauernde Neigung zum Christenthum“, verwies aber zugleich auf „den großen Unterschied zwischen dem Gebrauch, den ich davon für meine Person machen könne, und zwischen meiner Aufgabe als Prediger“ (14, S. 91). Von diesem „Unterschied“ ist auch schon in einem Brief an Luise Rau die Rede: Den andern Tag hatt ich theils in der Kirche theils am Pulte zu thun; – Nie fühlte ich ein lebhafteres Bedürfniß ein durstigeres Verlangen nach der jenigen Beruhigung welche mein Beruf unmittelbar mit sich bringt, und doch – nie fühlte ich mich unfähiger, Hand an die Arbeit zu legen und meiner Empfindung irgend eine Form zu geben. Das Evangelium hielt mir seinen ganzen Frieden entgegen und lockte mich tief und tiefer in jene stille Abgeschiedenheit des Geistes, wo der Engel unserer Kinderjahre uns wieder begegnet und mit uns weint. Aber was ich hier empfand das gehörte nur mir gehörte nur Dir – ich konnte die Brücke zur Predigt nicht finden, und was dort lauteres Gold gewesen war das wurde stumpfes Blei wenn ich die Feder ansezte. (11, S. 180f.)
Die an die Botschaft des Evangeliums geknüpften religiösen Empfindungen vermittelten Mörike etwas von jener tröstlichen Geborgenheit, die er stets mit seiner Kindheit verband, doch gerade wegen ihrer ganz privaten emotionalen Bedeutung vermochte er sie nicht in das Medium der öffentlichen Rede zu übersetzen und fand folglich die „Brücke zur Predigt“ versperrt. So konnte der Dichter für das Pfarramt gänzlich ungeeignet sein und sich doch zeitlebens als guter Christ verstehen. Von seinem undogmatischen, gefühlsbestimmten religiösen Glauben aus ergaben sich zwanglos Übergänge in verwandte Vorstellungsbereiche, – 234 –
Eine „fortdauernde Neigung zum Christenthum“
etwa zum Gebiet der okkulten Erscheinungen, das eben bereits angesprochen wurde, oder auf das Feld der dichterischen Phantasie, deren Umgang mit christlichen Sujets wir im folgenden Abschnitt in Augenschein nehmen werden. Auch konfessionelle Engherzigkeit konnte man Mörike nicht nachsagen, denn er bewies eine erstaunliche Offenheit für den Katholizismus, wie man sie unter den lutherischen Alt-Württembergern gewiss nur selten antraf. Katholische Religiosität und Lebensart lernte er 1828 eingehend kennen, als er während seines ausgedehnten Urlaubs vom Vikariat mehrere Monate in Oberschwaben zubrachte, um seinen Bruder Karl, den Amtmann in Scheer an der Donau, und einen Vetter in Buchau am Federsee zu besuchen. Damals entstand das Gedicht Josephine, das die sinnliche Intensität einer katholischen Messe beschwört: Das Hochamt war. Der Morgensonne Blick Glomm wunderbar im süßen Weihrauchscheine; Der Priester schwieg; nun brauste die Musik Vom Chor herab zur Tiefe der Gemeine. So stürzt ein sonnetrunkner Aar Vom Himmel sich mit herrlichem Gefieder, So läßt Jehovens Mantel unsichtbar Sich stürmend aus den Wolken nieder. (1.1, S. 55)
Schon diese ersten Verse deuten darauf hin, dass Mörikes Affinität zum Katholizismus, ähnlich wie bei vielen Angehörigen der romantischen Dichtergeneration, eher ästhetisch als im engeren Sinne religiös motiviert war, und das bestätigt sich, wenn das Gedicht in seinem Fortgang im Anschluss an eine lange literarische Tradition eine leicht blasphemisch angehauchte und damit umso pikantere Verbindung zwischen sakralem Raum und erotischer Verlockung herstellt: Die Kirche wird für das lyrische Ich zum Ort der Liebesbegegnung, und der überwältigende Eindruck des feierlichen Hochamts vermischt sich mit dem Taumel des Begehrens. So wie der Maler Theobald Nolten, dem heimliche katholische Neigungen nachgesagt werden, gegen die aber nicht einmal sein kritischer Freund Larkens etwas einzuwenden hat 14, empfand auch Mörike den Reiz, der von dem stärker sinnlich und anschaulich geprägten Kultus der alten Kirche und seiner poetisch-mystischen Aura ausging. Im Pfarrhaus von Cleversulzbach richtete er gemeinsam mit seiner Schwester in einer separaten Kammer eine Hauskapelle ein, die mit einem Altar, einem K ruzifix, einem Marienbild, mehreren Blumenvasen und einer Sanduhr – 235 –
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ausstaffiert war und zeitweilig sogar einen Totenkopf beherbergte: „Als wir die Mutter hineinführten sagte sie: es ist schön; aber katholisch! schwärmerisch!“ (13, S. 145) Auch in seiner Mergentheimer Wohnung befand sich später ein Madonnenbildnis, und es wurde ihm etwas unbehaglich zumute, als dieses merkwürdige Ausstattungsstück dem protestantischen Stadtpfarrer bei einem unerwarteten Besuch ins Auge fiel.15 Der vertraute Umgang der Geschwister Mörike mit der Katholikin Margarethe Speeth gab in Mergentheim, wo die katholische Konfession überwog, ohnehin zu allerlei Gerüchten Anlass, die auch zu Hartlaub drangen, so dass der Dichter sich veranlasst sah, in einem Brief an den Freund „dem Gerede von auffallend häufigem Besuch der kathol. Kirche von einem Mitmachen der Ceremonien (!) pp“ nachdrücklich entgegenzutreten (14, S. 275f.). Seine eigene Vorurteilsfreiheit stellte er unter Beweis, als er einige Jahre danach – zu Hartlaubs Entsetzen – Margarethe heiratete. Zuvor vergewisserte er sich freilich, dass ein solcher Schritt für einen protestantischen Pfarrer im Ruhestand keine nachteiligen Folgen haben würde, und stellte nach einer Anfrage beim Konsistorium erleichtert fest: „die Pension bleibt“ (16, S. 58). Unter den samt und sonders streng lutherischen Freunden und Verwandten ihres Mannes hatte Margarethe aber keinen leichten Stand. Nach seinem Tod klagte sie in einem Brief an Storm, sie sei in diesem Kreise „wie eine fremde Ausgestoßene“ behandelt worden16, beteuerte jedoch im gleichen Atemzug, Eduard selbst habe niemals Anstoß an ihrem Bekenntnis genommen und ihrer Religionsausübung auch keine Hindernisse in den Weg gelegt. Ein Übertritt zum Katholizismus lag Mörike völlig fern – den öffentlich vorgetragenen Vorschlag eines ehemaligen Tübinger Kommilitonen, die deutschen Protestanten sollten unter bestimmten Bedingungen zur römischen Kirche zurückkehren, kommentierte er 1848 mit tiefer Entrüstung über eine solche „Niederträchtigkeit“ (15, S. 261). Zudem verliefen nicht alle seine Begegnungen mit dieser Konfession erfreulich. So hatte er während seines Kuraufenthalts in Mergentheim im Herbst 1837 einen Zusammenstoß mit einem katholischen Geistlichen, weil er es versäumte, vor einem Trauerzug den Hut abzunehmen17, und schrieb unter dem Eindruck dieser Begebenheit ein Gedicht, das an spöttischer Schärfe nichts zu wünschen übrig lässt. Die ersten Verse lauten: Armseligster Repräsentant Der stockkatholischen Priesterwürde! Sieh da, es kommt ein Wolf gerannt In deiner toten Schäflein Hürde!18
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Christliches im poetischen Werk
Als er später erfuhr, dass sein Kontrahent wegen seines intoleranten Benehmens nun seinerseits gemaßregelt worden war, konnte er seine Genugtuung nicht verbergen.19 Selbstgerechtigkeit und dogmatische Enge waren ihm zuwider, ganz gleich auf welchen religiösen oder weltanschaulichen Fundamenten sie im Einzelfall beruhten.20
Christliches im poetischen Werk Das ambitionierteste literarische Projekt, in dem Mörike sich mit Fragen der Religion und des Glaubens auseinandersetzen wollte, blieb Fragment: Es handelt sich um ein Erzählwerk, das er Anfang 1833, einige Monate nach der Veröffentlichung des Maler Nolten, in Angriff nahm und in dessen Mittelpunkt „ein religiöses Thema“ stehen sollte (12, S. 29). Zunächst war zwar nur an eine Novelle mäßigen Umfangs für das im Brockhaus-Verlag erscheinende Taschenbuch „Urania“ gedacht, doch der Gegenstand gewann bald ein Eigenleben, das die eng gesteckten Grenzen sprengte: „Gegen meine Erwartung nemlich hat sich die religiöse Idee, welche der Komposition zu Grunde liegt, bei Entwicklung gewisser rein innerlicher Motive, die ich unmöglich vernachläßigen durfte, stets weiter aufgethan und immer fruchtbarer erwiesen. Ich überzeugte mich, daß meine Fabel nur durch die gehörige Ausführung des philosophischen Gehalts ihre wahre und volle Bedeutung erhalte“ (S. 27). So beschloss Mörike schon im Laufe des Frühjahrs, die begonnene Novelle „zu einem größeren selbständigen Roman“ auszuarbeiten (S. 29). Das Vorhaben, von dem er im November noch einmal beiläufig sprach21, muss jedoch bald ins Stocken geraten sein und wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt endgültig aufgegeben. Überliefert ist nur eine Anzahl von Bruchstücken mit ausformulierten, stellenweise aber immer noch lückenhaften Episoden, die in der historisch-kritischen Werkausgabe etwas mehr als dreißig Druckseiten umfassen. In der mit Abstand umfangreichsten zusammenhängenden Textpartie berichtet der Ich-Erzähler, ein frisch promovierter deutscher Akademiker, von einem Besuch bei seinem Onkel, Professor Killford, bei dem er mit Mary, der Tochter des Baronets Leithem, und dem englischen Geistlichen Thomas zwei weitere Gäste des Hauses kennenlernt. Auch ein geheimnisvoller Jüngling namens Alexis – in einer früheren Bearbeitungsstufe Viktor genannt – kommt ins Spiel, der mit Mary auf eine schwer durchschaubare Weise verbunden ist und sich schließlich als der uneheliche Sprössling eines anderen englischen Aristokraten erweist. Schon in den erhaltenen Fragmenten deutet – 237 –
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sich also eine komplizierte, weitgespannte und wahrhaft internationale Figurenkonstellation mit verwickelten Verwandtschaftsverhältnissen an; erkennbar ist außerdem eine durch zahlreiche Einschübe und Rückgriffe geprägte Erzählstruktur, wie sie auch in Maler Nolten begegnet. Welche Handlungsführung Mörike im Einzelnen vorschwebte, lässt sich nicht rekonstruieren, aber einige zentrale Motivkomplexe treten deutlich hervor. Offenbar sollten anhand der Schicksale verschiedener Protagonisten religiöse Glaubenskrisen und Gewissensnöte breit thematisiert werden und zwar in Verbindung mit dem Gegensatz der christlichen Konfessionen. So hören wir in einer der Rückblenden von einem jungen protestantischen Geistlichen, dem bei der Unterweisung einer zum Übertritt entschlossenen katholischen Dame von hohem Adel – der künftigen Lady Leithem – nicht nur die sinnliche Neigung zu seiner schönen Schülerin in die Quere kommt, sondern auch ein unvermuteter Selbstzweifel, der sein Amt und seinen Glauben betrifft: „Bei Erklärung des wichtigen Dogma von der begegnet er sich plötzl. im Stillen selber mit der Frage: ob er denn wohl als eigene vollk. Überzeugung beschwören würde, was er hier als unerläßl. Bedingung ewiger Seligkeit vorzustellen mit solcher Sicherheit sich unterfange?“ (6.1, S. 316f.) Man kann es kaum für einen Zufall halten, dass ein Text mit solchen Reflexionen gerade 1833 entstand, als Mörikes Verhältnis zu seinem geistlichen Beruf soeben wieder in eine besonders kritische Phase geriet. Und vielleicht entwickelte sich die Idee zu diesem Werk nicht zuletzt deshalb „immer fruchtbarer“, weil es seinem Verfasser die Möglichkeit bot, im Medium der Fiktion die fragwürdigen Seiten offizieller religiöser Lehren und damit auch seiner eigenen amtlichen Rolle zu durchleuchten. Ein weiterer Schwerpunkt betrifft ein psychologisches Phänomen, mit dem sich Mörike auch sonst häufiger befasste, zumal es unmittelbar sein Selbstverständnis als Poet betraf. Mary, seit früher Kindheit durch den engen Umgang mit einem schottischen Diener ihres Vaters an allerlei Märchen und wundersame Geschichten gewöhnt, besitzt nämlich eine überbordende Einbildungskraft, die von Killford als „liebenswürdige Originalität“ verteidigt, von Thomas aber mit einiger Sorge betrachtet wird: „Bekümmern muß es mich, daß jede höhere Forderung bei Ihr durch die Herrschaft einer höchst seltsam gestimmten Phantasie verdrängt wird. […] Es ist um es mit einem Wort zu sagen ein Bestreben die Imagination zum einzigen Organ alles zu erheben. (Sie sieht die Welt wie durch gefärbtes Glas)“ (6.1, S. 315). Die zufällige erste Begegnung mit Alexis, deren Schilderung zu den eindrucksvollsten Partien des Romanfragments gehört, liefert Marys phantastischen Neigungen neuen – 238 –
Christliches im poetischen Werk
Stoff. Nachdem sie den fremden Jungen in Begleitung mehrerer exotischer Tiere flüchtig durch einen Felsspalt in einer Höhle gesehen hat, wobei sich ihre Blicke für einen Moment begegneten, beschäftigen sich ihre Gedanken mit nichts anderem mehr: Mit allem Reiz eines verbotnen Glücks unheimlich, u. unwiderstehlich liegt das Geheimniß in ihr, worüber sie Zeit hat d. folg. Tage zu brüten sieht sie sich wo sie nur geht u. steht, wie von dem Glanz eines Wunders begleitet sie ist sich selbst die ganze Aussenwelt ist ihr verändert. In jenem abenteuerlichen Bilde floß vor ihrer Phantasie Alles zusammen was ihr je Seltsames Liebliches aus Mährchen u. Geschichten ihrer frühesten Kindheit vorgeschwebt hatte. (S. 327)
Vermutlich beabsichtigte der Autor, diesen problematischen Wesenszug seiner Heldin mit dem Thema der religiösen Schwärmerei und mit den konfessionellen Verwicklungen, die in ihrer Familiengeschichte eine bedeutsame Rolle gespielt haben, zu verknüpfen. Und wenn für das Werk tatsächlich der Titel Die geheilte Phantastin vorgesehen war22, haben wir damit wohl einen Fingerzeig für die Richtung, die Marys weitere Entwicklung hätte nehmen sollen. Religiöse Motive verarbeitete Mörike, wie bereits erwähnt, auch in v ielen Gedichten. Genannt seien hier neben den schon früher aufgezählten noch Seufzer, die deutsche Übersetzung eines lateinischen Hymnus von Venantius Fortunatus, und Wo find’ ich Trost – beide wurden in den Roman Maler Nolten aufgenommen – sowie aus späterer Zeit Im Weinberg, Corona Christi und Crux fidelis. Eingehender wollen wir uns aber nur mit zwei Texten befassen, die aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und ihres künstlerischen Ranges eine Sonderstellung in Mörikes religiöser Lyrik einnehmen. Die Entstehungsgeschichte von Auf eine Christblume, über die wir gut unterrichtet sind, gewährt interessante Einblicke in das poetische Verfahren des Dichters. Am 28. Oktober 1841 machte er auf dem Friedhof von Neuenstadt am Kocher in Begleitung seiner Schwester eine Entdeckung, die er Hartlaub tags darauf ausführlich beschrieb: Auf einem andern, mir gleichfalls bekannten, Grabe aber fand ich mit großer Überraschung etwas Lebendiges, Frischblühendes, wonach ich viele Jahre vergeblich getrachtet hatte. Eine mir völlig neue Blume, mit fünf ganz aufgeschlagenen ziemlich breiten Blättern, an Weiße u. Derbheit wie die der Lilie; von den Enden herein lichtgrün angehaucht u. fast ebenso, nur etwas satter grün, im Kelche unten. In dessen Mitte bildeten die blaßgelben Befruchtungstheile einen ziemlich dicken Kegel, oben mit 4–5 kurzen
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8. Mörike und die Religion
urpurfäden büschchenartig geziert. Der runde, schmutzig-grüne, roth P gesprenkelte Stengel, nicht gar kurz, jedoch gekrümmt, so daß die Blume niedrig saß. Die Blätter gleichfalls schmutzig grün. Die Pflanze hat einige Ähnlichkeit mit der Wasserrose. Ihr Duft ist äußerst fein, kaum bemerklich, aber angenehm. So reizend fremd sah sie mich an, sehnsucht-erregend! Clärchen hatte sich kaum hinabgebückt, sie genau zu betrachten, so sagte sie auch schon: Die Christblume ist es. Ich war entzückt u. glaubte es ihr auf der Stelle, wiewohl es eigentlich gerathen war. (13, S. 218)
Nach Hause zurückgekehrt, konsultierte er sogleich ein botanisches Nachschlagewerk, das ihm mehr über diese „mystische Blume“ und ihre ungewöhnlichen Eigenschaften, etwa über ihre Fähigkeit, „die größte Kälte [zu] erdulden“, verriet. Außerdem plante er bereits, seine „Empfindungen bei guter Zeit in einigen Strophen auszudrücken“ (S. 219). Das muss in der Tat sehr bald geschehen sein, denn nur wenige Wochen später erhielt Hartlaub kurz hintereinander ein längeres und ein kürzeres Gedicht auf die Christblume.23 Von der zweiten Auflage an finden sich beide, nun zu einem zweiteiligen Werk vereint, in Mörikes Lyriksammlung. Auf eine Christblume ist ein Musterbeispiel für jene Poetisierung der Dingwelt, in der man Mörikes eigentümliche Form der künstlerischen Weltaneignung erkennen kann und die wir in anderen Zusammenhängen noch ausführlicher besprechen werden. Der Prozess, der das Naturphänomen in ein Artefakt der Dichtkunst verwandelt, beginnt aber schon im Brief an den Freund, wo die exakte Schilderung mit Ansätzen zu einer dichterischen Überhöhung und Ausdeutung der Pflanze verbunden wird: Beschreibt Mörike die Christblume einerseits nüchtern mit allen botanischen Details, so erhebt er sie andererseits zu einem persönlichen Gegenüber, das Sehnsucht weckt und die Phantasie anregt. Im Gedicht setzt sich diese Transformation des gegenständlich Gegebenen durch die produktive Einbildungskraft fort: Auf eine Christblume I
Tochter des Walds, du Lilienverwandte, So lang von mir gesuchte, unbekannte, Im fremden Kirchhof, öd’ und winterlich, Zum erstenmal, o schöne, find’ ich dich!
Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest, Ich weiß es nicht, noch Wessen Grab du hütest;
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Christliches im poetischen Werk
Ist es ein Jüngling, so geschah ihm Heil, Ist’s eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Theil.
Im nächt’gen Hain, von Schneelicht überbreitet, Wo fromm das Reh an dir vorüberweidet, Bei der Kapelle, am krystall’nen Teich, Dort sucht’ ich deiner Heimath Zauberreich.
Schön bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne; Dir wäre tödtlich andrer Blumen Wonne, Dich nährt, den keuschen Leib voll Reif und Duft, Himmlischer Kälte balsamsüße Luft. In deines Busens goldner Fülle gründet Ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkündet; So duftete, berührt von Engelshand, Der benedeiten Mutter Brautgewand.
Dich würden, mahnend an das heil’ge Leiden, Fünf Purpurtropfen schön und einzig kleiden; Doch kindlich zierst du, um die Weihnachtszeit, Lichtgrün mit einem Hauch dein weißes Kleid. Der Elfe, der in mitternächt’ger Stunde Zum Tanze geht im lichterhellen Grunde, Vor deiner mystischen Glorie steht er scheu Neugierig still von fern und huscht vorbei. II
Im Winterboden schläft, ein Blumenkeim, Der Schmetterling, der einst um Busch und Hügel In Frühlingsnächten wiegt den sammt’nen Flügel; Nie soll er kosten deinen Honigseim. Wer aber weiß, ob nicht sein zarter Geist, Wenn jede Zier des Sommers hingesunken, Dereinst, von deinem leisen Dufte trunken, Mir unsichtbar, dich blühende umkreist? (1.1, S. 196–198)
Die Christblume wird zum Adressaten der lyrischen Rede und zum Kristallisationspunkt phantasievoller Stilisierungen. Das Bild von ihr, das der Sprecher beschwört, geht weit über alles hinaus, was objektiv wahrnehmbar sein könnte, spart aber auch zahlreiche im Brief noch erwähnte Einzelheiten aus, die in diesem Rahmen störend wirken müssten. Indem das – 241 –
8. Mörike und die Religion
Gedicht die „mystische Glorie“ der Pflanze erst in und mit dem poetischen Sprechen entstehen lässt, macht es den Vorgang der Zuschreibung von Bedeutungen transparent und enthüllt die religiösen Bezüge der Blume als Produkte der schöpferischen Vorstellungskraft eines vom christlichen Denken inspirierten Betrachters. Auf diese Weise wahren die Verse zudem die reizvolle Fremdheit ihres Gegenstandes, statt ihn völlig in die ihm angehefteten symbolischen Qualitäten aufzulösen und ihn damit gänzlich hinter den Projektionen des lyrischen Ich verschwinden zu lassen. In welche Richtung die assoziativen Deutungsanstrengungen des Sprechers gehen, wird gleich zu Beginn mit der (botanisch unzutreffenden) Anrede an die „Lilienverwandte“ signalisiert, denn die Lilie, in Mörikes Bildern aus Bebenhausen ausdrücklich als „Blume der Jungfrau“ bezeichnet (1.1, S. 298), ist in der christlichen Ikonographie das Symbol Marias. Weitere mit der „benedeiten Mutter“ des Herrn verbundene Motive sind der Mond, als dessen „Kind“ die Christblume bezeichnet wird, sowie die jungfräuliche Keuschheit, und aus der schlichten Feststellung des Briefes, dass der Duft der Blume „kaum bemerklich“ sei, macht das Gedicht eine Anspielung auf den zarten „Wohlgeruch“ von Marias Gewand. Doch das lyrische Ich berührt noch weitere Stationen der Heilsgeschichte. Als blühendes Leben auf einem „Kirchhof “, noch dazu mitten im Winter – eine bezeichnende Abweichung von der realen Fundsituation! –, erscheint die Christblume, ihrem Namen entsprechend, wie ein Sinnbild der Geburt Jesu, die ja die Erlösung von der Finsternis des Todes verheißt und von der kirchlichen Überlieferung aus gutem Grund in die Zeit des winterlichen Dunkels verlegt wird. Da ist es nicht verwunderlich, dass dem Sprecher auch die Passion Christi in den Sinn kommt, jenes „heil’ge Leiden“, in dem sich die Errettung der Menschheit vor Tod und Sünde vollendet. Hier unterstreicht der Text aber noch einmal die Differenz zwischen der Gegenständlichkeit seines Objekts und den Phantasien des lyrischen Ich, denn die „Purpurtropfen“, die für die fünf Wunden des Gekreuzigten stehen müssten, finden sich auf der Christblume gerade nicht. Eine weitere Ausgeburt der Imagination ist schließlich der „Elfe“, ein heidnisches Naturwesen, das die christliche Aura der Blume nur neugierig und verständnislos „von fern“ bestaunen kann. Der zweite Gedichtteil setzt das poetische Spiel mit heilsgeschichtlichen Motiven fort, indem er mit dem Schmetterling ein traditionsreiches Symbol der menschlichen Seele einführt (das griechische Wort Psyche bezeichnet beides). Aber selbst dieses zarteste aller Wesen wird von Mörike noch einmal sublimiert, weil es als ein Geschöpf der warmen Jahreszeit in – 242 –
Christliches im poetischen Werk
seinem irdischen Leben niemals Gelegenheit bekäme, die nur im Winter blühende Christblume kennenzulernen: Erst wenn es als „Geist“ die Sphäre des Diesseits schon hinter sich gelassen hat, erlangt es – vielleicht! – einen Zugang zu der Blume und damit zur Erlösung. In der visionären Schilderung einer solchen unsichtbaren Begegnung, bei der sich der Schmetterlingsgeist am „leisen Duft“ der Blüte berauschen mag, erreicht überdies die subtile Erotik des Gedichts, das die Pflanze von Beginn an mit Zügen einer begehrenswerten Weiblichkeit ausgestattet hat, ihren Gipfel. Diese Verbindung von erotischer Lockung und religiösem Erlösungsverlangen ist ihrerseits der christlichen Mystik verpflichtet. Wir treffen sie ebenso in den Versen Im Weinberg an, wo das lyrische Ich einen Schmetterling als Symbol der Verkündigung und der unbefleckten Empfängnis deutet. Auch unser zweites Textbeispiel führt vor, wie sich die Phantasie an Inhalten der christlichen Glaubenswelt entzündet. Göttliche Reminiscenz, im Sommer 1845 verfasst, gehört zu einer kleinen Gruppe von Gedichten, die Mörike auf Bilder mit religiösen Themen schrieb, wobei er eine auf fällige Vorliebe für Darstellungen des Jesusknaben an den Tag legte – möglicherweise ein Reflex der Faszination, die Kindheit und kindliche Unschuld generell auf ihn ausübten. Auf ein altes Bild (1837) und Schlafendes Jesuskind (1862) behandeln den Gegenstand in recht konventioneller Weise, indem sie den kindlichen Erlöser mit dem Kreuz als dem Zeichen seiner späteren Heilstat zeigen und damit die historische Zeitfolge den eschatologischen Sinnzusammenhängen unterordnen. Zumindest in Schlafendes Jesuskind ist dieses Verfahren bereits durch das Gemälde des italienischen Meisters Francesco Albani vorgegeben, das der Untertitel als Vorlage der Verse nennt. Göttliche Reminiscenz hebt sich nicht nur durch seinen größeren Umfang, sondern auch durch eine eigentümliche Rahmenkonstruktion sowie durch das markante Hervortreten des sprechenden Ich von den beiden anderen Werken ab und weist eine sehr viel komplexere gedank liche Struktur auf: Göttliche Reminiscenz
Πάντα δι’ αὐτοῦ ἐγένετο. Ev. Joh. 1,3
Vorlängst sah ich ein wundersames Bild gemalt, Im Kloster der Carthäuser, das ich oft besucht. Heut, da ich im Gebirge droben einsam ging, Umstarrt von wild zerstreuter Felsentrümmersaat, Trat es mit frischen Farben vor die Seele mir.
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8. Mörike und die Religion
An jäher Steinkluft, deren dünn begraster Saum, Von zweien Palmen überschattet, magre Kost Den Ziegen beut, den steilauf weidenden am Hang, Sieht man den Knaben Jesus sitzend auf Gestein; Ein weißes Vließ als Polster ist ihm unterlegt. Nicht allzu kindlich däuchte mir das schöne Kind; Der heiße Sommer, sicherlich sein fünfter schon, Hat seine Glieder, welche bis zum Knie herab Das gelbe Röckchen decket mit dem Purpursaum, Hat die gesunden, zarten Wangen sanft gebräunt; Aus schwarzen Augen leuchtet stille Feuerkraft, Den Mund jedoch umfremdet unnennbarer Reiz. Ein alter Hirte, freundlich zu dem Kind gebeugt, Gab ihm soeben ein versteinert Meergewächs, Seltsam gestaltet, in die Hand zum Zeitvertreib. Der Knabe hat das Wunderding beschaut, und jetzt, Gleichsam betroffen, spannet sich der weite Blick, Entgegen dir, doch wirklich ohne Gegenstand, Durchdringend ew’ge Zeitenfernen, gränzenlos: Als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz Der Gottheit, ein Erinnern, das im gleichen Nu Erloschen sein wird; und das welterschaffende, Das Wort von Anfang, als ein spielend Erdenkind Mit Lächeln zeigt’s unwissend dir sein eigen Werk. (1.1, S. 258f.)
Die Verse verdanken ihre Entstehung unter anderem der Leidenschaft des Verfassers für Fossilien, die er um die Mitte der vierziger Jahre mit großer Begeisterung sammelte und klassifizierte. Eine besondere Anregung könnte ein leider nicht erhaltenes Gedicht beigesteuert haben, das wahrscheinlich von Marie Möricke aus Neuenstadt stammte und für dessen Zusendung sich Mörike am 27. April 1845 bedankte, denn schon darin wurden Versteinerungen als „geheime Symbole der Schöpfung“ gedeutet (14, S. 243). Theologisch betrachtet, knüpft Göttliche Reminiscenz an das Mysterium der Präexistenz Christi an, wenn das Motto den Verweis des Johannesevangeliums auf die Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis zitiert („Alles ist durch ihn“ – den göttlichen Logos, das Wort – „geworden“): In Jesus Christus hat das Wort Gottes, durch das am Anfang aller Dinge die Welt geschaffen wurde, Menschengestalt angenommen. Vergeblich würde man dagegen nach einer realen bildlichen Vorlage für Mörikes Schilderung suchen, denn in einem Brief wies der Dichter später – 244 –
Christliches im poetischen Werk
ausdrücklich darauf hin, „daß das beschriebene Gemälde in Wirklichkeit nicht existirt“ (17, S. 173). Der Aufbau des Gedichts ist durch die Staffelung mehrerer Vermittlungsebenen geprägt. Inmitten einer unwirtlichen „Felsentrümmersaat“, die Assoziationen an das Chaos des Schöpfungsbeginns und eben auch an versteinerte Urzeitlebewesen weckt, kommt dem Sprecher ein Bild in den Sinn, das er „[v]orlängst“ gesehen hat und das seinerseits ebenfalls eine Erinnerungsszene darstellt, die nun freilich in die Dimensionen von „ew’ge[n] Zeitenfernen“ führt. Nicht nur der Bildgegenstand thematisiert demnach eine „Reminiscenz“, auch das lyrische Ich erlebt eine solche. Mit der Wahl dieses Ausdrucks – anstelle von ‚Erinnerung‘ – akzentuiert Mörike den Umstand, dass das fragliche Phänomen sich unwillkürlich einstellt und somit gänzlich unverfügbar ist. Wie das Jesuskind urplötzlich zu der Einsicht in seine Identität mit dem „Wort von Anfang“ gelangt, die „im gleichen Nu“ schon wieder „[e]rloschen sein wird“, so besinnt sich auch der Sprecher in den Eingangsversen nicht etwa bewusst und absichtsvoll auf den Anblick des Gemäldes; die Aktivität wird vielmehr dem Bild selbst zugeschrieben, das ihm „mit frischen Farben vor die Seele“ tritt, sich seinem inneren Auge also förmlich aufdrängt. Was hier „Reminiscenz“ heißt, hat ganz die Gestalt eines unvermuteten Moments der Inspiration, wie wir ihn schon aus anderen Werken Mörikes kennen. Daher lässt sich das Gedicht auch poetologisch verstehen, als eine lyrische Reflexion über die dichterische Phantasietätigkeit, die mit einem Mal durch eine sinnliche Wahrnehmung oder eine Erinnerung in Gang gesetzt wird. In der Tat liefern die Zeilen durchaus keine nüchterne, um Exaktheit bemühte Beschreibung einer bildkünstlerischen Komposition, denn während ein Gemälde sich darauf beschränken muss, einen einzigen isolierten Punkt aus einem größeren Geschehensablauf festzuhalten, löst das lyrische Ich diese Statik wieder in einen Handlungszusammenhang auf, indem es die gemalte Konstellation um ein Vorher und ein Nachher ergänzt („Gab ihm soeben“ – „das im gleichen Nu / Erloschen sein wird“) und sie überdies deutend vertieft. Am augenfälligsten manifestiert sich der kreative Anteil des Sprechers aber im Modus des ‚Als ob‘, in dem er den Kern des Vorgangs präsentiert und den kein Maler sichtbar machen könnte: „Als wittre durch die überwölkte Stirn ein Blitz / Der Gottheit …“. Das Sujet des fiktiven Bildes dient lediglich als Rohmaterial, das von der angeregten Vorstellungskraft schöpferisch verarbeitet und ausgestaltet wird. Erinnerung, Phantasie und das Medium der Sprache vermögen den gewaltigen Zeitsprung zum Anbeginn der Welt zu vergegenwärtigen und – 245 –
8. Mörike und die Religion
damit die Grenzen zu überschreiten, die der bildenden Kunst gesetzt sind. Und während sich dem Knaben auf dem Gemälde seine blitzartige Erkenntnis sogleich wieder entzieht, bleibt sie dem Rezipienten des Gedichts als fortdauernder Eindruck erhalten – als eine jener bei Mörike öfters anzutreffenden Begegnungen mit dem Erhabenen, das jedes menschliche Maß übersteigt: Hier nimmt es die Gestalt einer schwindelerregenden Gedankenreise in die Tiefe der kosmischen Vergangenheit an, die zugleich wirkungsvoll mit der idyllischen Beschränkung der gemalten Hirten- und Kinderszene kontrastiert. Wie das Christblumen-Gedicht belegt auch Göttliche Reminiscenz, dass es Mörike in seiner religiösen Lyrik nicht um die erbauliche Vermittlung von Glaubenswahrheiten und Heilstatsachen ging. Sein Interesse galt vielmehr dem weiten Spielraum, den die Mysterien des christlichen Denkens der Einbildungskraft gewährten; es war ihr spezifischer Reiz für den Dichter, der ihn anzog.
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9. Von der Anmut des müssigen
Spiels: Poetik und Ästhetik
Vergnügen und Spiel
D
er Dichter Eduard Mörike war nicht daran interessiert, programmatische Verlautbarungen oder gar systematische Abhandlungen mit allgemeinem Anspruch zu Papier zu bringen – es gibt von ihm keine Aufsätze zu ästhetischen Fragen und erst recht keinen umfassenden Entwurf einer Poetik. Will man seinen Gedanken über Bedeutung und Wirkung der Poesie nachforschen, sieht man sich fast ausschließlich auf verstreute Bemerkungen in seinen Briefen, die meist an konkrete Einzelfälle anknüpfen, und vor allem auf die literarischen Werke selbst verwiesen: Mörikes hochentwickeltes Kunstbewusstsein schlug sich nicht in elaborierten theoretischen Reflexionen, sondern unmittelbar in der komplexen Struktur seiner poetischen Schöpfungen nieder, die überdies häufig selbst das Wesen und den Ursprung von Dichtung zu ihrem Thema machen. Aus diesen Quellen müssen die Grundsätze erschlossen werden, von denen er sich bei seinem eigenen Schaffen wie auch bei seinen Urteilen über die Werke anderer Autoren leiten ließ. Sensationell muten die Ergebnisse einer solchen Rekonstruktion auf den ersten Blick nicht an. Schon Renate von Heydebrand stellte fest, dass „Mörikes Kunstauffassung […] nicht durch besondere Originalität ausgezeichnet“ sei, und betonte dabei insbesondere die zentrale Rolle, die er der „Verbindung von Kunst und Harmonie“ und ihrer „therapeutischen Wirkung“ zuschrieb.1 Derartige Vorstellungen stehen in krassem Kontrast zu den Gefährdungen des Künstlers, wie sie in Maler Nolten gestaltet werden, und sind wohl in der Tat als gezielter Gegenentwurf zu jenen seelischen Verstrickungen zu begreifen, die Nolten und Larkens zu ihren Werken inspirieren, sie aber letztlich auch ins Verderben reißen – und denen Mörike – 247 –
9. Von der Anmut des müssigen Spiels: Poetik und Ästhetik
sich näher gefühlt haben mag, als ihm lieb sein konnte. Bereits 1821 begründete er gegenüber Waiblinger seine „feurige Liebe zur Poesie“ mit der Sehnsucht nach einer „Zuflucht“ und nannte die Dichtung einen „wohlthuenden warmen Sonnenschein“ (10, S. 22f.). In eine ähnliche Richtung weist die Feststellung in einem Brief an Mährlen aus dem Jahre 1830: „Im Ganzen aber wird sich z. B. d. Poësie ihre erste göttliche Bestimmung zum Vergnügen niemals rauben lassen“ (11, S. 150). Das Wort „Vergnügen“ darf hier nicht missverstanden werden, denn es hatte zu Mörikes Zeit noch eine sehr viel tiefere Bedeutung, als wir sie ihm heute für gewöhnlich beilegen. In Gedichten wie Gebet und An die Geliebte bezeichnet es im Kontext religiöser oder quasi-religiöser Erfahrungen ein überschwängliches Gefühl vollendeter Seligkeit und Zufriedenheit, das die innigsten Wünsche des Sprechers befriedigt, und auch die Wendung von der „göttliche[n] Bestimmung“ lässt keinen Zweifel daran, dass Mörike die Dichtung nicht etwa auf seichte Unterhaltung und bloße Zerstreuung festlegen wollte. Zu berücksichtigen ist außerdem der Fortgang des Briefes, in dem sich der Verfasser auf Goethe beruft und aus Dichtung und Wahrheit zitiert: Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt in höhere Regionen und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen. (11, S. 150f.)2
Die „wahre Poesie“ hat also eine im wörtlichen Sinne erhebende Wirkung, weil sie den Menschen über alle Bedrängnisse seines verworrenen Erdendaseins hinausträgt und die Leidenschaften – „Lust“ und „Schmerz“ –, deren Übermaß ihn sonst gefangen hält, dämpft und reinigt. Diese Macht verdankt sie der souveränen Gestaltung, der „glücklichen geistreichen Darstellung“, die den „irdischen Lasten“ ihr bedrückendes Gewicht nimmt. Wenn wir an die Ausführungen über Mörikes diätetische Maximen zurückdenken, begreifen wir leicht, warum solche Lehren seinen Beifall fanden. Neben den Werken der antiken Kunst war es insbesondere Goethe, der ihm einen derartigen Genuss, ein Vergnügen im höchsten Sinne des Wortes, verschaffen konnte: Vor Einschlafen les ich gegenwärtig Wilhelm Meister wieder. Das Buch ist in der That unerschöpflich und was künstliche Composition betrifft unendlich lehrreich. So oft ich eben eine Seite lese wird es heller Sonnenschein
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Vergnügen und Spiel
vor meinem Geist und ich fühle mich zu Allem Schönen aufgelegt. Es sezt mich wunderbar in Harmonie mit der Welt, mit mir selbst, mit Allem. Das, dünkt mich, ist das wahrste Kriterium eines Kunstwerks überhaupt. Das thut Homer auch und jede Antike Statue. (11, S. 239)
Auch in diesem Fall scheint die beseligende „Harmonie“, die der Rezipient empfindet, vornehmlich ein Effekt der gelungenen „künstliche[n] Composition“, der künstlerischen Formung des Stoffes zu sein. Erinnert sei außerdem an Mörikes Schilderung seiner Lektüre des Goethe-Schiller-Briefwechsels, in der die Kernmotive der Erhebung und des Vergnügens ebenfalls auftauchen: „ich lag wie über mich selbst hinausgerückt und fühlte mich neben aller Feyerlichkeit doch unaussprechlich vergnügt“ (11, S. 30). Überall, wo Mörike sich ausnahmsweise einmal in allgemeinen und grundsätzlichen Wendungen über Kunst und Dichtung äußert, stoßen wir auf ähnliche Ideen. 1832 schrieb er Vischer von dem „innige[n] Erquicken“, dem „Behagen welches der ächte Dichter, auch wo er Ernst und Schmerzen wirken will, auf uns verbreitet“ (11, S. 292), und noch Jahrzehnte später pries er in einem Brief an Schwind „jene rein schöne, hohe mit keinem andern Glück zu vergleichende Lust, die wir immer empfinden, wo die Kunst einmal wieder ihren Gipfel erreicht, wo uns der Genius selber anlacht, eine freudige Rührung und selbstloser Dank, der vorerst gar nicht weiß, wem er gilt“ (18, S. 168). Seinen weniger günstigen Urteilen über Werke der Dichtkunst lagen dieselben Maßstäbe zugrunde. Hölderlins Hyperion beispielsweise hinterließ bei ihm einen zwiespältigen Eindruck: „Man fühlt sich ergriffen, wie mit Götterfingern plötzlich an der leisesten SeelFaser berührt, kräftig erhoben und dann wieder so krank, so pusillanim [kleinmütig], hypochondrisch u. elend, daß von dem, was eigentlich Beruf aller, auch der tragischsten Dichtung ist, jede Spur vertilgt wird“ (11, S. 286). Der Roman verfehlt den „Beruf “ der Dichtung also nicht etwa deshalb, weil er tragische, schmerzliche Gegenstände behandelt, deren Legitimität Mörike keineswegs bestritt, sondern weil ihm ihre läuternde Verwandlung in die Leichtigkeit der Kunst nicht völlig glückt – und das liegt in den Augen des Kritikers wiederum an gestalterischen Schwächen, an der „Schiefheit im ganzen Sujet, in der Anlage, ja zum Theil in der Darstellung des Hauptcharakters“, die nur „ein rührendes Zerrbild“ ergebe (ebd.). Mit Vischers Selbstmörder-Novelle Ein Traum und dem darin eingefügten Gedichtzyklus erging es ihm nicht anders. Zwar lobte er die dichterische Behandlung, den Stil und die Figurenzeichnung des Werkes, aber – 249 –
9. Von der Anmut des müssigen Spiels: Poetik und Ästhetik
„ich fühle, daß ich hierin kein reines Urtheil habe, weil mein pathologischer, dem Individuum u. der ‚grauen‘ Materie gewidmeter Antheil den poetischen Eindruck nicht aufkommen läßt“ (11, S. 170). Das „pathologische“ Interesse des Lesers wird von den extremen Bewusstseins- und Gefühlszuständen, die Vischer entwirft, zu sehr gefesselt, als dass er noch den „poetischen Eindruck“ einer souveränen, gleichsam olympischen Überlegenheit über den gestalteten Stoff gewinnen könnte. Zu Beginn des vierten Kapitels wurde eine Notiz Mörikes erörtert, in der es um den Reiz jener schwerelosen Schönheit geht, die jeder geglückten ästhetischen Behandlung einer kruden Materie entspringt: Was auf diese Weise „Geist u. Herz anspricht“, mutet den Dichter „zugänglich, verwandt u. freundl.“ an (7, S. 286). Damit ist, wie man jetzt sieht, schon der Grundgedanke seiner Poetik ausgesprochen – echte Kunst vermittelt eine Erhebung über das Reich der Notwendigkeit und eröffnet den Weg in eine Sphäre spielerischer Freiheit. Und was Mörike in der Rezeption solcher Kunstwerke erlebte, fand sein genaues Pendant in den Empfindungen, die ihn beseelten, wenn er selbst poetisch tätig war. Im Februar 1830 berichtete er Luise Rau, wie es ihm gelungen sei, über allerlei bedrückende familiäre Sorgen hinwegzukommen: Indem aber hiebey keineswegs etwas Gutes erreicht werden konnte, entschlug ich mich dieser und ähnlicher Gedanken am kräftigsten dadurch daß ich einen poëtischen Lieblingsgegenstand mir recht anschaulich vor die Seele führte und ihn nach allen Seiten recht zu durchdenken bemüht war. Unter diesem innerlichen Geschäfte wuchs gewißermaßen mein Selbstgefühl und das war in solchen Fällen immer das erste was mich gegen Druck so mancher Aussendinge von jeher wohlthätig gestärkt und mit guten Hoffnungen erfüllt hatte.
Schließlich fühlte er sich „dergestalt erhoben und gestählt“, dass er in „Ruhe und Behagen“ sein inneres Gleichgewicht vollkommen wiederfand (11, S. 90). Wie diese Passage belegt, darf das Spiel der poetischen Phantasie, das eine Zuflucht vor der rauen Welt der störenden „Aussendinge“ gewährt, nicht mit der Flucht in unverbindliche Träumereien verwechselt werden. Das Dichten stellte für Mörike vielmehr eine Tätigkeit dar, in der er seine schöpferischen Kräfte üben und dadurch sein „Selbstgefühl“ befestigen konnte; sie verschaffte ihm eben jenes „Gefühl entzückter Stärke“, von dem das Dichter-Ich in An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang ergriffen wird (1.1, S. 11). Auf dem Felde der Poesie genoss er jene Sicherheit und Souveränität, zu der er es im Umgang mit den praktischen Erfordernissen – 250 –
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des Lebens niemals brachte. Seine eigentümliche Art der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit war die der dichterischen Formung und Bewältigung, wie sie eine frühe Fassung von Der junge Dichter – freilich noch in recht konventionellen Wendungen – als Idealziel benennt: O wie drang es da mich armen, Mich unmünd’gen Sohn Apollens, Dieses Alles auch in schöner, Abgeschlossener Gestaltung Fest, auf ewig festzuhalten, Es durch goldne Leierklänge So zum Einklang mit mir selber Umzubilden, neu zu schaffen, Daß ich, heiter wie ein Gott, Ueber der gediegnen Schöne, Die aus mir herausgetreten, Die ich ganz mein eigen nenne, Ruhig, klaren Auges schwebe.3
Über das Reich dessen, was er selbst gestaltet, herrscht der Poet unumschränkt wie ein Gott. Hat er seine Erlebnisse und Empfindungen erst einmal in Kunst verwandelt, so unterstehen sie allein seiner Verfügungsmacht und büßen die bedrängende Gewalt ein, die ja durchaus auch überwältigenden Glückserfahrungen eigen sein kann. Noch in dem Gelegenheitsgedicht An Emma von Niendorf von 1841 heißt es ganz in diesem Sinne: „Was dir Herrliches begegnet / Wird erst dein durch schöne Kunst.“4 Kunst bedeutete für Mörike Unabhängigkeit von den Zwängen der Lebensrealität und überlegene Distanz – mit einem Wort: sie repräsentierte für ihn die Freiheit des Spiels. Der Spielbegriff, der tatsächlich den Mittelpunkt seines Dichtertums bezeichnet, kam in unseren Überlegungen bereits mehrfach vor, und es ist nun höchste Zeit, ihn präziser zu definieren. Dass der kreative Freiraum der Dichtung dem Spiel nahe steht, erkannte bereits Sigmund Freud. In seinem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren, dem Gründungsdokument der psychoanalytischen Literaturtheorie, nimmt er das Spiel zugleich gegen den Vorwurf des Unverbindlichen, Unernsten in Schutz und bestimmt es als einen autonomen Bezirk, in dem das Realitätsprinzip außer Kraft gesetzt ist: „Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit.“5 Wenn Freud das Spiel auf die Kindheit beschränkt und es vom Phantasieren des Erwachsenen unterscheidet, das nicht mehr an greifbare Objekte gebunden ist, fasst er den Spielbegriff aber doch zu eng. Wir orientieren uns deshalb – 251 –
9. Von der Anmut des müssigen Spiels: Poetik und Ästhetik
lieber an dem weiteren Verständnis, von dem Johan Huizinga in seinem Standardwerk zum Kulturphänomen des Spiels mit dem Titel Homo ludens ausgeht. Für Huizinga bedeutet das Spiel grundsätzlich freies Handeln, das jenseits des gewöhnlichen Lebens und der Nöte der physischen Existenzsicherung angesiedelt und damit im strengen Sinne überflüssig ist: Als bloßer Selbstzweck kennt das Spiel weder materielle Interessen noch einen direkten Nutzen. Es bildet eine eigene, in Zeit und Raum deutlich abgegrenzte Sphäre aus, die besonderen Regeln unterliegt. Elemente der Spannung, der Ungewissheit sind ihm eigen, bedingt durch Formen der Prüfung und der Bewährung vor den Regeln des Spiels oder vor einem Gegen-Spieler; dem korrespondiert andererseits die Befriedigung des Gelingens. Dass das Handeln des Poeten ebenfalls eine Manifestation des Spiels darstellt, hält Huizinga ausdrücklich fest (auch wenn er vorrangig den Spielcharakter der Dichtung in archaischen Kulturen erörtert): „Poiesis ist eine Spielfunktion. Sie geht in einem Spielraum des Geistes vor sich, in einer eigenen Welt, die der Geist sich schafft.“6 Die Abgrenzung von der alltäglichen Lebenswelt übernehmen in diesem Fall Fiktionssignale und Merkmale der ästhetischen Gestaltung, die dem Rezipienten den Übertritt in das Reich des poetischen Spiels signalisieren. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob Huizingas Definition in allen Punkten trennscharf genug ausfällt, um das Spiel beispielsweise von rituellen Handlungsvollzügen zu unterscheiden, denen sehr wohl konkrete gesellschaftliche Funktionen und Aufgaben zukommen; für unsere Absicht, die Grundzüge von Mörikes Poetik präziser zu fassen, leistet sie jedenfalls ausgezeichnete Dienste. Da das Spiel seine Gegenstände nicht aus dem Nichts schaffen kann, muss es auf Elemente der erlebten Wirklichkeit zurückgreifen. Sie werden aber neu zusammengestellt und neuen Gesetzen unterworfen – es wird eben mit ihnen gespielt, und aus dem Gefühl dieser Freiheit erwächst jenes „Vergnügen“, das Mörike mit dem Genuss und der Ausübung von Kunst verband. Mit einem Gegenstand spielen heißt: sich seiner produktiv bemächtigen, wenn auch nicht durch praktisches Handeln oder theoretische Grübelei, sondern eben kraft einer Imagination, die sich der strengen Ordnung der Realität entzieht. Mag das Spiel auch keinen greifbaren Einfluss auf die Lebenswirklichkeit ausüben, so ist es doch nichts weniger als belanglos, denn nur der Spielende kann seine Anlagen und Fähigkeiten ohne störenden äußeren Zwang entfalten und damit im umfassenden Sinne des Wortes sein eigentliches Menschsein erfahren. So sah es schon Friedrich Schiller, ein weiterer wichtiger Theoretiker des Spiels: „der Mensch spielt nur, wo er in voller – 252 –
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Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“7 Schiller rückte das Phänomen des Spiels denn auch in die nächste Nähe der Kunst und ihrer ästhetischen Autonomie. Mörike pflegte seine Ansichten zwar nicht in solch abstrakter Form darzulegen, stand aber in der Sache den poetologischen und anthropologischen Positionen der Weimarer Klassik durchaus nahe. Wir haben bereits bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen, wie er gewisse beunruhigende Erfahrungen auf dem Wege der Gestaltung im Gedicht oder in der Romanfiktion zu bewältigen und sich so, wie es in einem Brief an Mährlen heißt, „für immer mit dieser subjektiven Masse quitt zu machen“ suchte (11, S. 33). Gerade die lyrische Dichtung ist aber schon an sich ein Paradefall des künstlerischen Spiels, weil sie die Bindung der Sprache an die verpflichtenden Regeln der Kommunikation aufhebt und sie nicht mehr den pragmatischen Normen der Verständlichkeit, Kohärenz und Eindeutigkeit, sondern allein ihren eigenen ästhetischen Gesetzen unterstellt. Mörike liebte darüber hinaus auch komische und groteske Sprachspiele, von denen in einem späteren Kapitel noch ausführlich die Rede sein wird. Die Rollen und Masken, hinter denen er sich so gerne verbarg, sind gleichfalls Techniken des Spiels, die dessen schöpferischen Freiraum von der fremdbestimmten Sphäre des wirklichen Lebens und der gesellschaftlichen Zwänge abgrenzen. Und spielerischen Charakter hatte nicht zuletzt Mörikes Umgang mit den überlieferten Formen und Gattungen der Dichtung, vor allem der Lyrik, denn sein Werk bezieht seine Energie ja zu einem großen Teil aus der virtuosen Variation traditioneller Muster. Da konnte ihm etwa der Volkston zum Gegenstand des Spiels werden, wie das Experiment mit dem Gedicht Die Schwestern, das er Hartlaub und Vischer zunächst als echtes Volkslied unterschob, anschaulich zeigt, ebenso aber der Formtypus des Sonetts oder auch eine jener antiken metrischen Formen, die er seit den späten dreißiger Jahren mit Vorliebe aufgriff. Die zuletzt angeführten Beispiele machen bereits deutlich, dass Spielen und hochbewusstes artifizielles Gestalten einander keineswegs ausschließen. Das Reich des Spiels ist durchaus nicht regellos, es gewährt dem Spielenden lediglich die Möglichkeit, die Regeln, denen er folgen will, selbst zu entwerfen oder zu wählen. Und mit der Dichtung wählte Mörike ein Spiel, das er in Vollendung beherrschte: Statt sich absoluter Willkür und Ungebundenheit hinzugeben, genoss er hier in der Bewährung seiner Kunst fertigkeit eine vergnügliche Souveränität. Nur deshalb konnte er auch ein so unverkrampftes, von allen epigonalen Nöten freies Verhältnis zu den – 253 –
9. Von der Anmut des müssigen Spiels: Poetik und Ästhetik
literarischen Traditionen pflegen, auf die er sich produktiv bezog. Überhaupt war dem Poeten Mörike offenbar ein Selbstbewusstsein eigen, das er in seinem bürgerlichen Dasein ganz und gar nicht besaß. Es spricht sich zwar nirgends laut und aufdringlich aus, artikuliert sich aber indirekt in manchen schroffen Urteilen über missratene literarische Werke, die ihm unter die Augen kamen. So kommentierte er einen neuen Musenalmanach mit den Worten: „das ist ein verzweifelter Ausstich!“ (12, S. 50) und nannte eine Lyrikanthologie, die ihm der Herausgeber zugeschickt hatte, „entsetzliche Waare“, wobei er hinzufügte: „Es ist doch wahrlich zum Erschrecken was Alles wirklich [d. h. gegenwärtig] schreibt u. dichtet! So arg war doch die Affenschande mit dem Musendienst in Kammern und Unzucht noch zu keiner Zeit!“ (15, S. 143f.) Auch die feine Selbstironie mancher Verse aus den späten Jahren, in denen er den Wert des eigenen Schaffens in Frage zu stellen scheint, konnte sich wohl nur ein Poet erlauben, der sehr genau um den Rang seines Werkes wusste: Mein Wappen ist nicht adelig, Mein Leben nicht untadelig, Und was da werth sei mein Gedicht, Fürwahr das weiß ich selber nicht! (19.1, S. 185)
Bemerkenswert ist schließlich die stille, aber unnachgiebige Beharrlichkeit, mit der Mörike zumindest seit den dreißiger Jahren seinen poetologischen Grundsätzen auch da treu blieb, wo wohlmeinende Freunde ihr Bestes taten, um ihn auf andere Wege zu leiten. Wir müssen hier vor allem auf sein Verhältnis zu Friedrich Theodor Vischer eingehen, das einige zusätzliche Aufschlüsse über die Eigenart seines Dichtertums verspricht. Vischer, ebenfalls ein gebürtiger Ludwigsburger, aber drei Jahre jünger als Mörike, kam 1825 ans Tübinger Stift, wo sich wohl noch kein engerer Kontakt ergab. Erst 1830 setzte der Briefwechsel der beiden ein, der anfangs recht intensiv war, später allerdings einige längere Unterbrechungen erlebte. Auch Vischer trat zunächst das Vikariat an, verließ die geistliche Laufbahn jedoch bald zugunsten einer akademischen Karriere als Dozent für Philosophie, Ästhetik und deutsche Literatur, die ihn zunächst an die Universität Tübingen, 1855 nach Zürich und 1866 schließlich erneut nach Tübingen und nach Stuttgart führte. In der Hauptstadt stellte sich wieder ein regerer persönlicher Verkehr mit Mörike ein, der bis zu dessen Tod andauerte. Vischer war es auch, der bei der Beisetzung des Freundes die Grabrede hielt. – 254 –
Vergnügen und Spiel
In den frühen dreißiger Jahren kreisten die Briefe der beiden meist um konkrete literarische Projekte, darunter Mörikes Maler Nolten, dessen Entstehung Vischer kritisch begleitete, und verschiedene erzählende und lyrische Werke des Letzteren, von denen einige im „Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten“, für das Mörike als Mitherausgeber zeichnete, veröffentlicht wurden. Mit solchen speziellen Erörterungen verbanden sich gelegentlich allgemeinere Reflexionen zu ästhetischen und poetologischen Fragen. Wie so viele andere Freunde scheint auch Vischer in Mörike den Dichter schlechthin gesehen zu haben, und seit er selbst nach langem Grübeln, ob er „zum Denker“ oder „zum Dichter geboren“ sei8, endlich beschlossen hatte, sich vorrangig der Wissenschaft zu widmen, erblickte er in ihm überdies sein eigenes verdrängtes Alter Ego: „Deine Briefe sind mir so erquickend, es weht mir aus ihnen meine eigne ursprüngliche Natur, mein altes Selbst entgegen, ich meine, der verschüttete und vom Reflektieren, Philosophieren absorbierte Dichter in mir.“9 Deshalb versuchte er wiederholt, ihn aus seiner vermeintlichen Lethargie aufzurütteln und zum Schaffen anzuspornen: „Ich werde nie etwas Großes leisten, aber Du mußt es tun, dann bilde ich mir ein, ich habe es gemacht. Wenn Du es nicht tust, bist Du ein Verräter an mir und Dir, und meine nur nicht, die Kraft komme morgen, sondern heut ist sie da, und setze Dich lieber um halber drei als um drei hin, und fange an. Die Quelle sprudelt, Du darfst sie nur fassen.“10 Die Stoffe, die Mörike wählte, und die ganze Ausrichtung seines Dichtens fanden indes nicht Vischers Beifall. Was er in der Poesie für zeitgemäß hielt und folglich auch von seinem Freund erwartete, dokumentiert ein Brief vom 1. April 1838, in dem er Mörike aufforderte, vom Märchen als der Paradegattung der Romantiker und von der poetischen Verfremdung und Verklärung der Welt abzulassen und seiner Schöpferkraft würdigere Ziele zu setzen: „das Wirkliche in seiner festen Ordnung, in klarem, gesetzmäßigem Verlaufe, scharfen, plastischen Umrissen schildern, diese Wirklichkeit aber dennoch zugleich im Feuer der Phantasie zum Träger höherer Ideen läutern, dies ist ihr Höchstes, dies das wahre Ideal. Daraus gehen die höheren Produkte, das moderne Epos (der Roman) und das Drama hervor.“ Mörike sei zwar in Ansätzen schon über die Romantik hinausgekommen, müsse jetzt aber energisch auf dem eingeschlagenen Weg fortschreiten: Du wirst in diesem Gebiete [des Romantischen, Märchenhaften, Phantastischen], was Du leistest, immer etwas Treffliches, aber doch nur solches leisten, was einem von unserem jetzigen ästhetischen Zeiturteil doch bereits
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zurückgelegten Prinzip angehört, und wenn Du Dich in diesem Gebiete der Elfen, der sichern Männer, der Geister, der Salamander fixierst, Deinen großen Genius verpuffen. Ich möchte so gern ein Drama von Dir! Ich möchte es der Welt so sehr gönnen! Oder etwas umfassend Episches, was die Welt hinreißt durch weltbeherrschende Ideen aus der sittlichen Welt! Ich möchte Dich bitten, einen großen historischen Stoff zu behandeln!11
Die vernünftige Weltordnung soll als philosophisches und sittliches Prinzip das Wunderbare, Phantastische ersetzen: Der Dichter „rückt die Welt in das Licht der Idee, er braucht dazu nicht ihre festen Gesetze aufgelöst darzustellen.“12 Mörikes Entgegnung auf diese wortgewaltige Predigt ließ nicht nur mehrere Monate lang auf sich warten, sondern fiel auch ziemlich lakonisch aus: Dein lezter Brief ist in gutem Andenken bei mir. Ich wünschte nur, ihn mit der That beantworten zu können. Du hast in allen Punkten Recht, soweit Du mir des Guten nicht zu viel zutraust. Zum wenigsten bin ich für jetzt ex altis regionibus noch ganz verbannt, und Die Mährchen seyn halt Nürnberger Waar, Wenn der Mond Nachts in die Boutiquen scheint; Aber Weihnacht ist nur Einmal im Jahr. (12, S. 207)
Nichts könnte für diese konziliante Natur typischer sein: Friedfertig gibt Mörike dem drängenden Freund „in allen Punkten Recht“ und setzt die phantastische Märchenwelt, die Vischer für verspielt und unbedeutend und zudem als Ausfluss der Romantik für literarhistorisch überholt hält, bereitwillig in einen Gegensatz zu den ‚höheren Regionen‘ der Poesie – aber zugleich vermeidet er es, für sich selbst irgendwelche Konsequenzen aus diesem Eingeständnis zu ziehen, wobei ihm seine notorische Kränklichkeit als Entschuldigungsgrund trefflich zustatten kommt. So konnte er jeden Konflikt vermeiden und doch seine Eigentümlichkeit behaupten. Tatsächlich dachte Mörike gar nicht daran, die von Vischer gewiesene Richtung einzuschlagen: Die Themen, die dieser ihm ans Herz legte, und die Gattungen des Zeitromans und des großen Dramas besaßen für ein Spiel in souveräner Leichtigkeit zu viel Eigengewicht und kamen für ihn somit nicht ernsthaft in Betracht. Deshalb erntete auch Strauß, der mit Vischer wie mit Mörike befreundet war, wenig Dank für seinen Vorschlag, der Dichter solle sich das Produzieren doch durch die Aufnahme historischer Sujets erleichtern, denn Mörike war auf Stoffe angewiesen, mit denen – 256 –
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er freier schalten und walten konnte: „fürs Zweite müßt Ihr mirs ja nicht für eitle Sprödigkeit auslegen, wenn ich versichere, daß eine solche Benützung vorhandenen Materials, wie ihr sie euch denkt, meiner Natur durchaus entgegen wäre. Was ich nicht aus mir selbst & etwa aus dem Leben nehmen kann, hat keinen Reiz für mich u. ich kann gar nichts damit anfangen“ (12, S. 164). Am Ende stellten Strauß und Vischer resigniert fest, dass Mörike zwar „das specificum, was den Dichter macht“, in hohem Grade besitze, aber wegen der mangelnden ‚Objektivität‘ und Welthaltigkeit seines Schaffens trotzdem niemals zu einem „großen Poeten“, wie sie ihn sich vorstellten, reifen werde.13 Die Individualität eines Autors, dessen Schaffen aus der produktiven Kraft des Spiels erwuchs, vermochten sie mit ihren philosophisch-ästhetischen Kategorien nicht zu erfassen. Das Spiel der Poesie beschränkte sich bei Mörike nicht auf das literarische Werk im engeren Sinne. Er entwickelte vielmehr eine Fülle von Praktiken, die man unter dem Begriff einer Poetisierung der Lebenswelt zusammenfassen kann und deren Gemeinsamkeit in dem Bemühen lag, auch einer indifferenten Erfahrungswirklichkeit Züge des Spielerischen aufzuprägen. Mörikes Leidenschaft für Rollenspiele und Maskeraden wurde schon häufiger erwähnt, und wir werden später noch verfolgen, wie er einige komische und groteske Geschöpfe seiner Phantasie auf mannigfache Weise in den geselligen Umgang mit Freunden und Angehörigen einwandern ließ. Aus Rollenspielen und Tagträumen ging ja auch Orplid hervor, das seinerseits nichts anderes war als ein buchstäblicher SpielRaum der schöpferischen Einbildungskraft. Auf der Grenze zwischen Kunst und Lebenspraxis sind zudem die zahlreichen Gelegenheitsgedichte und Musterkärtchen angesiedelt, mit denen Mörike seine sozialen Beziehungen und die Vorfälle eines nicht selten bedrückenden Alltags im Medium der Dichtung überhöhte und mit einem poetischen Glanz versah. Den Ursprung dieser besonderen Gabe, die Realität spielerisch zu verwandeln, erblickte er in einer spezifischen Art der Wahrnehmung, die auf das Kindesalter zurückging. In Maler Nolten wird sie von Theobalds väterlichem Freund, dem greisen Baron, folgendermaßen beschrieben: Ich kann es mir nicht reizend und rührend genug vorstellen, das stille gedämpfte Licht, worin dem Knaben dann die Welt noch schwebt, wo man geneigt ist, den gewöhnlichsten Gegenständen ein fremdes, oft unheimliches Gepräge aufzudrücken, und ein Geheimniß damit zu verbinden, nur damit sie der Phantasie etwas bedeuten, wo hinter jedem sichtbaren Dinge, es sey dieß, was es wolle – ein Holz, ein Stein, oder der Hahn und Knopf auf dem Thurme – ein Unsichtbares, hinter jeder todten
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Sache ein geistig Etwas steckt, das sein eignes, in sich verborgnes Leben andächtig abgeschlossen hegt, wo Alles Ausdruck, Alles Physiognomie annimmt. (3, S. 279)
Dieser „glückliche Mysticism des Knabenalters“ (S. 281) kann unter Umständen in spätere Jahre hinübergerettet werden, und gerade hier liegt der Punkt, „wo der Philister und der Künstler sich scheiden. Wenn dem Leztern als Kind die Welt zur schönen Fabel ward, so wird sie’s ihm in seinen glücklichsten Stunden auch noch als Mann seyn, darum bleibt sie ihm von allen Seiten so neu, so lieblich befremdend“ (S. 282). Nicht von ungefähr erwähnt der Baron in diesem Zusammenhang Novalis, an dessen Kunst des Romantisierens die zitierten Passagen in der Tat denken lassen. Wie tief solche Reflexionen aber in ganz persönlichen Erfahrungen Mörikes verwurzelt waren, zeigt ein Blick in seinen Investiturlebenslauf, wo er über den Einfluss spricht, den der ältere Bruder Karl in Kinderjahren auf ihn ausgeübt habe: Was nur ein jugendlicher Sinn irgend Bedeutungsvolles hinter der Oberfläche der äußern Welt, der Natur u. menschlicher Verhältnisse zu ahnen vermag, das Alles wurde durch die Gespräche dieses Bruders auf einsamen Spaziergängen, wenn ich ihn manchmal auch nur halb verstand, in meinem Innern angeregt, er wußte den gewöhnlichsten Erscheinungen einen höheren u. oft geheimnißvollen Reiz zu geben; er war es auch, der meine kindischen Gefühle zuerst mit mehr Nachhaltigkeit auf übersinnliche u. Gött liche Dinge zu lenken verstand. (7, S. 329f.)
So begreift Mörike die Fähigkeit des Poeten, eine an sich gleichgültige Wirklichkeit spielerisch zu einem beseelten Reich der Schönheit und Harmonie zu verklären, als Fortsetzung oder Wiederbelebung der kindlichen Weltsicht. Pointiert formuliert er dies in dem Gedicht Ideale Wahrheit, das die phantasievolle Überhöhung der Dinge, wie sie dem Kind und eben auch dem Dichter eigen ist, gegen die nüchterne Faktizität des Realen ausspielt. Poetisierung bedeutet vor allem, ganz teilnahmslose Gegenstände durch die bewusste Stiftung geistiger Beziehungen mit einer bedeutungsvollen Aura auszustatten. Die Verse An eine Lieblingsbuche meines Gartens berichten von einem solchen Fall – indem der Sprecher den Namen des verehrten Dichters Hölty in die Rinde der Buche ritzt, weiht er sie zu einem Heiligtum mit magischen Kräften –, und bereits im vorigen Kapitel hat das Gedicht Auf eine Christblume ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für diese Technik geliefert. In Mörikes Briefen begegnet bisweilen Ähnliches. Im Sommer 1831 schrieb er an Luise Rau: – 258 –
Vergnügen und Spiel
Bey unserm lieben Baum bist Du gewesen? Wie mich das freute! wie die Beschreibung Deiner Wallfahrt mich innig rührte! Der Baum hat ich weiß nicht warum was ganz besonder Ahnungsvolles ja fast persönliches für mich. Ich muß mir in der Gegend hier herum auch einen ähnlichen auffinden und eine geistige Communikationslinie zwischen den Beiden, und dadurch zwischen uns, formiren. NB. Wenn Du gelegentlich wieder hingehst bitt ich Dich doch um ein Blättchen von ihm. (11, S. 218)
Von einer an einen Baum geknüpften sympathetischen Beziehung zu der entfernten Geliebten berichtet auch ein Brief aus dem folgenden Jahr, und bei anderer Gelegenheit wurde ein Gewitter für Mörike zum Medium der zarten geistig-seelischen Berührung mit Luise.14 Wo sich das Spiel unmissverständlich als solches zu erkennen gibt, sind weder Täuschung noch Betrug zu befürchten. Aber die Unterschiede können auch verschwimmen, und Mörike hat dieses zwielichtige Grenzgebiet nicht immer vermieden. Über das Experiment mit dem vermeintlichen Volkslied Die Schwestern klärte er seine Probanden Hartlaub und Vischer immerhin umgehend auf, doch in einigen vergleichbaren Fällen blieb es dem jeweiligen Opfer selbst überlassen, die spielerische Irreführung zu entlarven. Dem Freund Mährlen beispielsweise schickte Mörike das soeben entstandene Gedicht Um Mitternacht mit der einleitenden Bemerkung: „Damit diß Blatt nicht leer bleibt sez ich noch 2 (zum Erstaunen getreuübersezte) Verse aus Shakespeares Venus und Adonis“ (10, S. 185), und die erste Fassung der Erzählung Die Hand der Jezerte gab er gegenüber Hartlaub als eine Übertragung „aus dem Lateinischen des Äneas Sylvius“ aus (13, S. 28) – beide Bezüge sind frei erfunden. Als man ihn später tatsächlich einmal um einen Beitrag zu einem Band mit Nachdichtungen fremdsprachiger lyrischer Werke bat und er auf die Schnelle „nichts Passendes zum Übersetzen“ fand (17, S. 167), verfiel er auf den Ausweg, „irgend Etwas von ausländischer Miene (mit einem zweideutigen Titel) selbst zu phantasiren“ (S. 172), und schrieb das Gedicht Jedem das Seine, das er in jener Anthologie mit dem vielsagenden Untertitel „Quid pro quo“ versah. Noch einen Schritt weiter ging sein Plan, der Novelle Mozart auf der Reise nach Prag eine fingierte Komposition Mozarts beizugeben, die er von einem befreundeten Musiker anfertigen lassen wollte. Diese „unschuldige Mystifikation“, die in seinen Augen nur „eine Ausdehnung der novellistischen Erfindung bis auf die Musik hinaus“ gewesen wäre (16, S. 216), scheiterte einzig daran, dass sich niemand aus seinem Bekanntenkreis imstande sah, das Gewünschte zu liefern. – 259 –
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Die Wirklichkeit durch schöpferische Phantasie spielerisch zu verwandeln und zu überformen, war Mörike ein lebenslanges Bedürfnis. Dass derartige ‚Mystifikationen‘ ihre Unschuld einbüßen, sobald sie zur gezielten Manipulation eingesetzt werden, wusste er aber sehr wohl. Maler Nolten reflektiert dieses Problem in Larkens’ Briefintrige, mit der das Spiel die Sphäre des schönen Scheins der Kunst verlässt, um täuschend und verwirrend in reale Lebensverhältnisse einzugreifen, wobei es zu allem Überfluss auch noch der Kontrolle des Spielers entgleitet, der über die Gedanken und Gefühle leibhaftiger Menschen eben nicht so souverän zu verfügen vermag wie über die Produkte seiner eigenen Einbildungskraft. Damit erweist sich der Roman gleich in doppelter Hinsicht als ein skeptischer Kommentar zu Mörikes Poetik des Spiels: Wirft er einerseits anhand der Schicksale von Nolten und Larkens die Frage auf, ob seelische Konflikte wirklich durch sublimierende künstlerische Gestaltung bewältigt werden können, so legt er andererseits die bedenkliche Verwandtschaft offen, die zwischen Spiel und Intrige, zwischen Kunst und Betrug besteht.
Leichter Tanz: Schönheit, Anmut, Maß Kehren wir aber zum Kern dieser Kunst des Spiels zurück! Mörike sah in ihr in erster Linie einen Freiraum, in dem Schönheit verwirklicht werden konnte, denn dies war – ganz traditionell – die zentrale Kategorie seiner Ästhetik: „Nach dem Schulgerechten frage ich nicht, wenn nur Schönheit da ist“, schrieb er 1838 in einem Brief (12, S. 175). Den Wörtern ‚Schönheit‘ und ‚schön‘ kommt auch im lyrischen Werk ein besonderer Rang zu, und Mörikes berühmteste Reflexion über das Schöne hat die Form eines Gedichts: Auf eine Lampe
Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du, An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier, Die Decke des nun fast vergeßnen Lustgemachs. Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand Der Epheukranz von goldengrünem Erz umflicht, Schlingt fröhlich eine Kinderschaar den Ringelreihn. Wie reizend Alles! lachend, und ein sanfter Geist Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form – Ein Kunstgebild der ächten Art. Wer achtet sein? Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. (1.1, S. 132)
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Leichter Tanz: Schönheit, Anmut, Mass
Die Lampe vereinigt sämtliche Attribute, die Mörike dem Schönen zuschrieb: Leichtigkeit, Zierlichkeit, eine harmonische Verbindung der Gegensätze – „lachend, und ein sanfter Geist / Des Ernstes doch“ – und damit, alles in allem, eine Vollendung der Form, der künstlerischen Gestalt, die einen angenehmen Reiz ausstrahlt. Dass gerade diese Vollendung, der sich die innere Einheit und Geschlossenheit eines Kunstwerks verdankt, nach Mörikes Auffassung das erhebende „Vergnügen“ des Betrachters hervorruft, haben wir bereits an einer Reihe von Beispielen gesehen. In dem oben zitierten Brief charakterisiert er ihren Effekt noch präziser: Ein schöner Gedanke, ein schönes Gefühl kommt, poetisch, nur durch die schöne Form zur Erscheinung, ohne sie hat, künstlerisch genommen, ein schöner Gedanke, eine schöne Phantasie eigentlich keinen Werth. Sie muß daher so vollendet als möglich seyn. Sie ist es auch, behaupte ich, welche das Glück des Dichters, ich meine den Beifall, entscheidet; mit Recht: denn gute Gedanken, reizende Bilder, Geist &c können auch Andere haben: aber dieß Alles in harmonischer, unverrückbar geschlossener Form einschmeichelnd uns wieder zu geben, das ist der Vorzug des Poeten, das bestimmt wesentlich seinen Charakter, seinen Werth für alle Zeiten. (12, S. 175f.)
Hier ist zwar speziell von der Dichtung die Rede, doch lassen sich die Thesen ohne weiteres auf andere Künste übertragen. Ihren idealen Ausdruck findet die „schöne Form“ in der Figur des Kreises, die seit jeher als Inbegriff der Vollkommenheit gilt und auch von Mörike immer wieder in diesem Sinne eingesetzt wird. In Auf eine Lampe trifft man sie in der Marmorschale, dem Efeukranz und dem Ringelreihen der Kinder sowie in der zusammenfassenden Wendung „ergossen um die ganze Form“ gleich mehrfach an. Und die Vollendung, die Mörikes Verse der Lampe zusprechen, zeichnet auch das Gedicht selbst aus, das ebenfalls ein „Kunstgebild der ächten Art“ darstellt: Mit der sentenziösen Verdichtung im Schlussvers wird eine perfekte Abrundung erreicht, ein In-sich-Ruhen der poetischen Schöpfung, das sich in der doppelten Alliteration „schön“ – „scheint“ und „selig“ – „selbst“ zudem klanglich abbildet. Gerade der Schlussvers hat den Interpreten allerdings viel Kopfzerbrechen bereitet. Bevor wir uns dieser vertrackten Zeile widmen, empfiehlt es sich jedoch, noch einmal das Ganze des Gedichts, seinen Aufbau und sein Thema ins Auge zu fassen. Eine detaillierte Beschreibung des schönen Gegenstandes liefert Mörike eigentlich nicht, da der Leser aus den einzelnen Elementen von Gestalt und Schmuck der Lampe, die hier genannt werden, durchaus keine klare Vorstellung von ihrem Aussehen gewinnt – 261 –
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(wo sind beispielsweise die Lichtquellen angebracht?). Dem Dichter ging es offenkundig nicht um eine exakte, gleichsam malende Schilderung des Kunstwerks, sondern um dessen Wirkung auf den Betrachter – das Gedicht will die ‚reizende‘ Aura des Schönen als solche evozieren. In den ersten drei Versen richtet sich die Aufmerksamkeit des lyrischen Ich zunächst auf die Umgebung, in der es die Lampe antrifft. Unter einem „Lustgemach“ hat man sich wohl einen Ort des geselligen Vergnügens und der Festfreude vorzustellen, aber auch erotische Konnotationen sind nicht ganz von der Hand zu weisen, zumal in der tanzenden „Kinderschaar“, die der Lampe zur Zierde dient, eine Gruppe von Eroten vermutet werden kann. Indes ist dieses Lustgemach inzwischen so gut wie vergessen. Nur die Lampe zeugt hier noch von einer vergangenen kultivierteren, fröhlicheren Epoche; das Umfeld einer sinnenfrohen Geselligkeit, in dem sie ursprünglich ihren Platz hatte und in Gebrauch war, besteht schon längst nicht mehr. So kennzeichnet der Sprecher den gegenwärtigen Zustand dieser Lampe von Beginn an als defizitär, was wir für die weiteren Überlegungen im Gedächtnis behalten sollten. Die Verse 4 bis 6 wenden sich der Lampe selbst zu, der einzigen verbliebenen Spur jenes vergnügten Genusses, dessen Schauplatz das Lustgemach einst war. Der Efeu ist traditionell ein Sinnbild der Ewigkeit – ein Gegenpol zu der elegischen Vergänglichkeitsstimmung des Anfangs –, ebenso aber ein Symbol der Dichtkunst und nicht zuletzt das Attribut einer dionysischen Lebenslust, die hier freilich, wie die lachende Kinderschar andeutet, im Stil des Rokoko zu einer lebhaften Heiterkeit gedämpft erscheint. Die folgenden drei Verse formulieren eine zusammenfassende Würdigung der Lampe, der schließlich noch eine allgemeinere Reflexion folgt. Die Lampe ist schön und ein „Kunstgebild der ächten Art“, das steht außer Zweifel. Die wehmütige rhetorische Frage „Wer achtet sein?“ beantwortet sich gewissermaßen von selbst, wobei sie auf die Feststellung zurückweist, dass das Gemach beinahe vergessen sei – kaum noch jemand schenkt der Lampe die gebührende Aufmerksamkeit (nicht niemand, wohlgemerkt, denn da wäre das lyrische Ich ja der lebende Gegenbeweis!). Das „aber“ in der Schlusszeile signalisiert eine fast trotzige Entgegnung auf diese implizite Antwort: Ein Kunstwerk, das in seiner Schönheit selbstgenügsam „selig scheint“, hat Beachtung und Anerkennung von außen gar nicht nötig. Das Wörtchen „ihm“ lässt sich im Kontext als schwäbische Form des Reflexivpronomens lesen, mit deren Hilfe Mörike auch eine unangenehme Häufung von s-Lauten – das schöne Ding ‚scheint selig in sich selbst‘ – vermied. – 262 –
Leichter Tanz: Schönheit, Anmut, Mass
An diesem Vers entzündete sich nun ein berühmt gewordener Disput zwischen dem Literaturwissenschaftler Emil Staiger und dem Philosophen Martin Heidegger, der hier kurz referiert sei. Heidegger verstand „scheint“ als ‚leuchtet‘ – lateinisch ‚lucet‘ – und bezog „selig“ adverbial auf dieses Wort. Für ihn vollzieht sich im Kunstwerk ganz im Sinne Hegels das „Sichoffenbaren“, das „leuchtende Sichzeigen“ einer Idee, die sinnliche Erscheinung des Ideals15; deshalb genieße es vollkommene Autonomie und sei sich selbst genug. Staiger dagegen wollte „scheint“ lieber mit ‚videtur‘ übersetzen und „selig“ prädikativ auf die Lampe beziehen: Der Sprecher wage keine apodiktische Aussage über das Selbstgefühl des Schönen und könne lediglich feststellen, dass das vollendete Kunstgebilde für ihn den Anschein erwecke, als ruhe es selig in sich selbst (‚Es scheint so, als sei das Kunstwerk selig …‘). In jüngerer Zeit brachte philologischer Scharfsinn sogar noch eine dritte Deutungsmöglichkeit ins Spiel, die das „ihm“ nicht als Reflexivpronomen auffasst, sondern es auf den vereinzelten Beobachter bezieht, von dem implizit in der vorletzten Zeile die Rede war; in ihm würde demzufolge die Seligkeit des Schönen zum Ereignis.16 Diese Interpretationsvariante können wir jedoch schon deshalb ausschließen, weil die beiden letzten Verse des Textes nicht vom selben Gegenstand sprechen. Ist in der vorletzten Zeile noch von der Lampe allein die Rede, so trifft die abschließende Sentenz, weit über den Einzelfall hinaus greifend, eine allgemeine Aussage über alles, ‚was schön ist‘ – und es ergibt keinen vernünftigen Sinn, dass dies alles in dem Betrachter der einen Lampe „selig“ sein (oder scheinen) soll. Wir sehen uns also doch auf die bereits von Heidegger und Staiger formulierte grundlegende Alternative verwiesen, und von unserer Entscheidung hängt es ab, welche ästhetische, kunstphilosophische Stellungnahme wir Mörikes Auf eine Lampe zuschreiben. Ist die Seligkeit eine objektive Qualität des schönen Gegenstandes, in dem sich die sinnliche Epiphanie des Ideals ereignet, oder bleiben wir auf die subjektive Sicht eines menschlichen Betrachters beschränkt, der allenfalls aus seinen eigenen Empfindungen vorsichtige Rückschlüsse auf die Verfassung des Schönen ziehen darf? An diesem Punkt sollte man sich darauf besinnen, dass Auf eine Lampe nicht im Stil eines reinen Gedankengedichts abstrakte Reflexionen entwickelt, sondern vielmehr in der für Mörike typischen Weise eine konkrete Situation entwirft, die den Sprecher an Ort und Stelle mit dem Anblick eines schönen Kunstgegenstandes konfrontiert. So ist denn auch die Präsenz des Ich nicht zu übersehen, an dessen Perspektive sämtliche Aussagen gebunden bleiben, von der einleitenden Anrede über die einzelnen Elemente – 263 –
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der Schilderung von Lustgemach und Lampe bis hin zu dem Ausruf „Wie reizend Alles!“, der rhetorischen Frage im vorletzten Vers und der Sentenz am Schluss. Von einer un-vermittelten Selbstoffenbarung des Schönen kann daher keine Rede sein, und bezeichnenderweise berührt Heidegger in seinen Ausführungen die Rolle der individuellen Sprechinstanz mit keinem Wort. Allein in den Beobachtungen und Überlegungen eines menschlichen Subjekts formt sich das Bild der vollendeten Kunstschöpfung, die, wie es ihm scheint, selig in sich selbst ruht. Und wie sollte es auch anders sein? Sogar die Feststellung einer absoluten Autonomie und Selbstgenügsamkeit des Schönen bliebe doch immer an eine aussagende Instanz gebunden; es bedürfte eines reflektierenden Individuums, um eine solche Auffassung zu formulieren, die damit – als Meinung oder Eindruck eines außenstehenden Betrachters – von vornherein in ihrer Geltung relativiert wäre. Die im Gedicht so deutlich mitgestaltete Perspektivierung des Urteils über das Schöne lässt demnach die These Staigers als die weitaus plausiblere erscheinen. Fragwürdig mutet es dagegen an, wenn er das Fehlen einer entschiedenen Gewissheit darüber, „wie es der Schöne zumute ist“, als Beleg für die Unsicherheit des vermeintlichen Spätlings Mörike wertet.17 Die Akzentuierung des subjektiven Blickwinkels verweist eher darauf, dass der Dichter eben nicht an einer spekulativen absoluten Kunstmetaphysik, sondern an einer Wirkungsästhetik interessiert war, und in der Tat galt seine besondere Aufmerksamkeit ja stets den Effekten, die von der Kunst ausgehen – auf den, der sie schafft, wie auf den, der sie als Rezipient genießt. So ist die Rede des lyrischen Sprechers in Auf eine Lampe ganz von dem Reiz durchdrungen, den die harmonische Gestalt des Kunstgebildes auf ihn ausübt, und die Seligkeit, die er der Lampe – behutsam! – zuspricht, muss er zweifellos zuerst selbst empfunden haben: Es ist eben jenes Vergnügen, jene innere Erhebung, die künstlerisches Gelingen bei Mörike immer hervorruft. Und dennoch bleibt ein Schleier von Melancholie über das ganze Erlebnis des Sprechers gebreitet, der wehmütig die Einsamkeit der Lampe und die fast völlige Vergessenheit des Lustgemachs bedenkt. Das „Kunstgebild der ächten Art“ ist nicht mehr festlich schmückender Bestandteil einer heiteren Geselligkeit, es ist gleichsam aus der Zeit und aus der Gesellschaft herausgefallen. Nur unter diesen Bedingungen kann es überhaupt zum isolierten Gegenstand der Kontemplation werden: Ihrem ursprünglichen Gebrauchskontext entrückt, erfährt die Lampe eine Art von Musealisierung. Damit ist aber das Wirkungspotenzial der schönen Kunst spürbar eingeschränkt. Die einsame Betrachtung des lyrischen Ich bietet gewiss keinen zureichenden Ersatz für die verlorene Atmosphäre geselliger – 264 –
Leichter Tanz: Schönheit, Anmut, Mass
reuden, und neben ihm kann allenfalls noch der Leser der Verse die F Seligkeit des Schönen mitempfinden. Als Kontrast sei Mörikes Gedicht Corinna angeführt, das nur ein Jahr vor Auf eine Lampe geschrieben wurde: Wir sahn dich im geschwisterlichen Reigen Voll Anmut, Blume unter Blumen, schweben. Im Lächeln blühete die Seele dir, Ganz eines mit der sichtbaren Gestalt – Sie wußt es nicht –, heraus aufs Angesicht. Unschuldige Freude, dem Beschauer fast So innig fühlbar wie der Tänzerin! O wessen ganzes Sein und Leben doch Sich so bewegte durch des Jahres Kreis, In holdem Gleichmaß jeglichen Moment, Sich selber so zu seliger Genüge, Und alle Welt zu letzen, zu erbaun!18
Hier entsteht die reine Schönheit im Tanz, im „holde[n] Gleichmaß“ anmutiger Bewegung, in dem sich die makellose Übereinstimmung von Innen und Außen, von „Seele“ und „sichtbare[r] Gestalt“ ausdrückt. Auch dieses Gedicht spricht von einer Selbstgenügsamkeit des Schönen, dessen seliges In-sich-Ruhen sich aber doch zugleich dem Betrachter mitteilt und ihn in einen ähnlichen Zustand versetzt. Nur ist hier anders als in Auf eine Lampe keinerlei Wehmut zu bemerken, weil die beglückende Wirkung der Schönheit in emphatischer Überhöhung auf „alle Welt“ ausgedehnt wird. Im Tanz, der die Schwere des Körpers, ja die ganze Last der irdischen Existenz in ätherischer Leichtigkeit aufzuheben scheint, fand Mörike ein ebenso treffendes wie anschauliches Bild für seine Poetik des schönen Spiels. Wir begegnen diesem Motiv noch in einem weiteren Gedicht, das der Autor in seiner Sammlung unmittelbar vor Auf eine Lampe platziert hat. Die beiden Werke teilen nicht nur das Versmaß des Senars, des reimlosen jambischen Sechshebers, sondern auch die inhaltliche Dimension einer Reflexion über die Kunst: Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen
Βάρδισται μακάρων Ώραι φίλαι – Theocr.
Am langsamsten von allen Göttern wandeln wir, Mit Blätterkronen schön geschmückte, schweigsame. Doch wer uns ehrt und wem wir selber günstig sind,
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9. Von der Anmut des müssigen Spiels: Poetik und Ästhetik
Weil er die Anmuth liebet und das heil’ge Maß, Vor dessen Augen schweben wir im leichten Tanz Und machen mannigfaltig ihm den langen Tag. (1.1, S. 131)
Das Motto ist einem Gedicht Theokrits entnommen, das sich unter dem Titel Die Syrakuserinnen am Adonisfeste auch in Mörikes Anthologie Classische Blumenlese findet, wo die fragliche Zeile in deutscher Übersetzung lautet: „Langsam gehn die Horen vor anderen seligen Göttern“ (8.1, S. 115). Die Horen, die hier sinnigerweise eine Uhr schmücken, waren bei den Griechen die Gottheiten, die über den geregelten Wechsel der Zeiten und damit über die schöne Ordnung des Lebens wachten; oft wurden sie zudem als Beschützerinnen von Recht und Gerechtigkeit verehrt oder in die Nähe der Chariten, der Anmutsgöttinnen, gerückt. Auch im Gedicht repräsentieren sie offensichtlich kein leeres, abstraktes Maß der Zeiteinteilung, sondern das erfüllte Erleben von Zeit, das im „leichten Tanz“ Gestalt annimmt. Dessen schwebende Anmut bilden die Verse mit ästhetischen Mitteln virtuos nach. Der Senar entspricht dem gelassenen und zugleich beschwingten Schreiten der Göttinnen, und dass Mörike „in diesem reimlosen Gedicht durch Häufung von Assonanzen […] dieselbe Verdichtung des Klanggeflechts schafft, die er in anderen Gedichten durch Reimwiederholungen erreicht“, hat Ulrich Hötzer in einer sorgfältigen Analyse gezeigt, die insbesondere die Korrespondenzen „des einfachen a-Klangs und des Zweiklangs ei–a“ sowie die „gelöste und fließende Bewegung“ des abschließenden Zeilenpaares, in dem das Geschenk der Horen für ihren Günstling zum Ausdruck kommt, hervorhebt.19 Ein solcher Freund und Verehrer der Horen ist für Mörike insbesondere jeder wahre Poet, denn mit Anmut und Maß benennen die Verse zwei weitere Aspekte seines künstlerischen Spiels, die das zentrale Element der Schönheit ergänzen und differenzieren. Das Wort „Anmuth“ nannte schon der junge Mörike enthusiastisch „eines der schönsten, das wir haben“ (10, S. 124), und eine Sentenz des griechischen Spruchdichters Theognis, die er in die Classische Blumenlese aufnahm, war ihm sicherlich aus dem Herzen gesprochen: „Was anmuthig, ist werth, was nicht anmuthig, ist unwerth“ (8.1, S. 84). Anmut oder Grazie kennzeichnen eine ‚schwebende‘ Bewegung, die sich vom Zwang des groben Stoffes befreit zu haben scheint und damit sogar das Gesetz der Schwere in einen Gegenstand des Spiels verwandelt – daher auch das Attribut der Leichtigkeit. Das Maß wiederum, in Inschrift auf eine Uhr mit den drei – 266 –
Leichter Tanz: Schönheit, Anmut, Mass
Horen zum „heil’ge[n] Maß“ gesteigert, kennen wir bereits als grundlegende Kategorie von Mörikes diätetischem Programm; jetzt wird deutlich, dass dieser Leitbegriff für den Dichter ebenso eine ethische und eine ästhetische Seite besaß, die ihrerseits wiederum eng miteinander verknüpft waren. Maß zu halten, auch und gerade bei der Gestaltung des Leidenschaftlichen oder Komischen, war in Mörikes Augen eine der wichtigsten Maximen jeder künstlerischen Produktion. So wird der Schauspieler Larkens in Maler Nolten dafür gerühmt, dass die „komische Kraft“ seiner Bühnendarbietungen niemals über die „feine Schönheitslinie“ hinausgeht, „die nur der ächte Künstler, vom richtigsten Takte geleitet, zwischen Begeisterung und Weisheit hin zu ziehen weiß. Statt, wie so Mancher an seinem Platze, immer gleichsam auf erhiztem Boden zu gehen, schien Meister Larkens nur von einer sanften Wärme belebt, die ihm die Grazien angehaucht, und die Funken des Genies, welche er auswarf, entzündeten keineswegs ihn selber. Maaßhaltung blieb immer die Seele seines Spiels“ (3, S. 35). Und noch viele Jahre später forderte Mörike in seiner Rezension von Bernhard Guglers Così fan tutte-Übersetzung, dass bei einer Aufführung dieser Oper, „namentlich bei Darstellung der stark komischen Partien […], die Linie nicht überschritten“ werden dürfe (7, S. 249), die den Bezirk der anmutigen Schönheit vom Übertriebenen und Manierierten scheidet. Um den Gedanken des Maßes kreisen auch einige wichtige poetologische Äußerungen Mörikes, die sich an einer entlegenen und wenig beachteten Stelle, nämlich in der Selbstrezension seiner Ausgabe von Waiblingers Gedichten finden. Dieses Bändchen mit lyrischen und epigrammatischen Arbeiten, die überwiegend aus den italienischen Jahren des längst verstorbenen Jugendfreundes stammten, war 1844 erschienen. Mörike hatte aber nicht nur die Texte ausgewählt und angeordnet, sondern mitunter auch stark in den Wortlaut der Gedichte eingegriffen. In seiner Vorbemerkung verzichtete er noch auf nähere Erläuterungen, wie er bei der Bearbeitung „zu Werk gegangen [sei] und insbesondere, welche Gränzen er sich dabei gesetzt“ habe (9.1, S. 29), doch mit der besagten Rezension, die er im folgenden Jahr, ohne sich als Verfasser zu nennen, in einer Zeitschrift abdrucken ließ, wollte er das Versäumte offenbar nachholen: Sie ist als programmatische Rechtfertigung seines Editionsverfahrens angelegt, die zugleich immer wieder ins Grundsätzliche ausgreift. Waiblinger muss in diesem Zusammenhang als Negativfolie herhalten, weil er in Mörikes Augen nicht die erforderliche Reife besaß, um seine Begabung voll zu entfalten. Eine charakteristische Passage lautet: – 267 –
9. Von der Anmut des müssigen Spiels: Poetik und Ästhetik
Es begegnet Waiblinger leicht daß er zu superlativ wird […], daß er, die der Grazie so eng verwandte Modestia der Alten (im ethischen Sinne) verletzend, den Mund etwas zu weit aufthut, und zwar dieses fürs erste vielfach ohne näheren Bezug auf sich selbst, sodann aber entsteht durch einen ungeschickten vorlauten Ausdruck und dergleichen auch wohl der Anschein des persönlich Prahlerischen. (7, S. 238)
Mörikes ästhetisches Ideal der Grazie und der vornehmen Dezenz bildet das Pendant zu seiner Aversion gegen jegliche Großtuerei: Das Ethos eines Dichters und die Anmut seines Werkes sind für ihn auf engste miteinander verknüpft. Mit dem lateinischen Wort „Modestia“ (Bescheidenheit, Mäßigung, Besonnenheit) umschreibt er die Tugend, das rechte Maß zu wahren, die auf dem Gebiet der Dichtung dazu anhält, alles Gesuchte und Preziöse in Form, Sprache und Bildlichkeit sorgsam zu meiden. Dem Schöpfer eines Werkes obliegt es, seinen Stoff in die edle Harmonie der Kunst zu überführen: „wir lassen poetisch jede Art von Übermuth und Sinnlichkeit gelten, vorausgesetzt sie sey der schönen Darstellung fähig“ (7, S. 238). Und da Waiblinger zu einer solchen Leistung oftmals (noch) nicht fähig war, musste eben der Herausgeber des Gedichtbandes eingreifen und jene Korrekturen anbringen, die der verstorbene Poet nach Mörikes Überzeugung „bei längerem Leben“ selbst vorgenommen hätte (S. 240). Unter philologischen Gesichtspunkten ist das Ergebnis seiner editorischen Tätigkeit höchst anfechtbar: In dem Bemühen, sozusagen einen geläuterten Waiblinger zu präsentieren, beschränkte er sich nicht auf Verbesserungen im Detail, sondern ließ manchmal auch komplette Strophen eines Originaltexts weg oder schrieb größere Partien ganz neu. Die individuelle Physiognomie des Autors und ihr authentischer Ausdruck hatten gegenüber dem von Mörike für allgemeingültig erachteten Ideal anmutiger Schönheit zurückzustehen, weil er sich nur von einer Annäherung an dieses Ideal jenes reine Vergnügen versprach, das echte Kunst in seinen Augen bereiten sollte.20 Er war zu bescheiden und zu skeptisch, um das Amt des Poeten im Gefolge Klopstocks, Hölderlins oder der Frühromantiker als das eines Sehers und Propheten oder gar eines geistigen Welterlösers aufzufassen, doch dieses Konzept des Schönen und seiner Wirkungen auf den Rezipienten sichert immer noch die hohe Würde des Dichters und erhebt seine Schöpfungen über das Reich der bloßen Willkür und Beliebigkeit. Mörikes tiefe Abneigung gegen Geltungsdrang, affektierte Selbstgefälligkeit und unechtes Pathos ist vielfach belegt. Das satirische Gedicht An Longus verdichtet die Kritik an solchen Charakterzügen und Neigungen im – 268 –
Leichter Tanz: Schönheit, Anmut, Mass
Typus des „Sehrmannes“, der sozusagen permanent „zu superlativ“ wird – wir werden diesen unerfreulichen Gesellen an späterer Stelle näher kennenlernen. Über Friedrich Ostertag, der in seiner Lyrik die politischen Freiheitsbewegungen in Polen und Griechenland aufgriff, schrieb Mörike voller Zorn: „Diese Leute glauben, unser HerrGott selber könnte nicht umhin, sie zu bewundern, wenn sie ihm ihre herben Welt-Reflexionen in Versen, so vom Gaul herunter, in den Bart würfen! Und doch ist ihnen wieselwohl in ihrer Haut! und doch ist ihnen ihre Schnauzhaarwichse und das Almosen eines Recensenten theurer als Warschau, Missolunghi und Byron obendrein!“ (13, S. 23) Verbinden schon diese Bemerkungen den ethischen Aspekt unmittelbar mit einem ästhetischen Werturteil, so veranschaulichen zahlreiche weitere Äußerungen erst recht, wie konsequent sich Mörike auf dem Gebiet der Literaturkritik an dem Leitbild der „Modestia“ orientierte. Mit Edward Bulwer-Lytton, von dem er einige Romane in Übersetzungen las, konnte er sich beispielsweise nicht anfreunden: „Es ist ein Kauz, der gar zu sichtbar und selbstgefällig raffinirt; ein Mann, so mit starkem Gewürz handeln thut“ (12, S. 135f.); die Lektüre schlug ihm denn auch prompt auf den Magen. Einige Gedichte Theobald Kerners, der ein Sohn seines Freundes Justinus aus Weinsberg war, missfielen ihm aus ähnlichen Gründen: „Sie haben mitunter einen gewissen unästhetischen Schein von Prätension, oder, wie soll ich sagen, – zu sichtbar Bewußtes“ oder werden „durch einen gleichsam prahlerischen Kraftaufwand“ entstellt (15, S. 51). Gegenüber Paul Heyse unterstrich Mörike, dass der „Schein des Selbstgefälligen“ in der Kunst allemal „unästhetisch“ wirke (16, S. 231), und an den Werken anderer Autoren monierte er den „prahlerische[n] Übermuth“ (17, S. 123) und die „durchgängige Prätension u. Koketterie“ (9.1, S. 465). Auf besondere Weise bestimmte er das Verhältnis von Ethik und Ästhetik im Falle Heinrich Heines, dessen „kranke Desperationskoketterie“ (11, S. 170) ihm zuwider war. Er folgte dabei, wie Theodor Storm überliefert, einem geläufigen Muster der zeitgenössischen Heine-Kritik, indem er die (vermeintliche) innere Unwahrhaftigkeit dieses Autors gegen sein unbestreitbares poetisches Talent ausspielte: „‚Er ist ein Dichter ganz und gar‘, sagte Mörike; ‚aber nit eine Viertelstund’ könnt’ ich mit ihm leben wegen der Lüge seines ganzen Wesens.‘“21 Einen zugespitzten Ausdruck finden seine Maßstäbe, die über die Jahrzehnte hin im Wesentlichen dieselben blieben, in dem Zweizeiler An X und Y von 1863: Geistreich seid ihr, glänzend, wahrlich, daß ich euch bewundern müßte, Wenn sich nur bei euch nicht jede Zeile selber geistreich wüßte! (1.1, S. 310)
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9. Von der Anmut des müssigen Spiels: Poetik und Ästhetik
Die Waiblinger-Rezension erwähnt beiläufig auch die besondere Gabe, die den echten Poeten vor derartigen Verirrungen bewahrt: „ein feiner Sinn wird das rechte Maß treffen“ (7, S. 246). Im Kontext geht es zwar um den speziellen Fall der unreinen Reime, die Mörike in Grenzen für zulässig erklärt, aber zugleich haben wir hier eine prinzipielle Überzeugung des Dichters vor uns, die ins Zentrum seines Selbstverständnisses führt. Sein Unwille angesichts jeder Form von Großtun und Geltungssucht auf dem Gebiet der Kunst macht noch einmal begreiflich, warum die Virtuosität seiner eigenen Lyrik stets so diskret bleibt und seine künstlerische Meisterschaft sich so unauffällig gibt – und er zeigt obendrein, wie weit die Freude am poetischen Spiel bei Mörike von jeglichem Sich-Aufspielen entfernt ist.
Die Kunst der Muße Seine „Muse“ sei „sehr subjektiv und eigensinnig“, stellte Mörike 1832 in einem Brief an Vischer fest (11, S. 263) und umschrieb damit die Tatsache, dass seine poetische Schöpferkraft sich nur unter ganz bestimmten Bedingungen entfalten konnte. Wie der Idealfall aussah, schilderte er Luise Rau am 4. Mai 1830: Der Seitenweg den ich mit Deinem Briefe machte, entdeckte mir ein vortrefflich angenehmes Örtchen, das ich bisher nicht gekannt hatte. Ein kleiner, von Bäumen und Buschwerk besezter, abhängiger WiesenWinkel an der lebhaften Lauter, in die sich eine andre Quelle vom Berg her gießt. Dort saß ich nieder, las, dachte und fieng mit Bleistift an zu schreiben, was Du hier als poëtische Beilage erhälst. Dann stieg ich vollends den Wald hinan und spann die Verse so fort. Sie kamen recht aus meinem Innersten. Seitdem ist dieser Spaziergang mein Lieblingsweg. (11, S. 108)
Zu den drei Sonetten, die die „poëtische Beilage“ des Briefes ausmachten, zählte auch das folgende: Am Walde
Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage, Dem Kukuk horchend, in dem Grase liegen; Er scheint das Thal gemächlich einzuwiegen Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.
Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage, Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,
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Die Kunst der Musse
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen, Wo ich auf eigne Weise mich behage. Und wenn die feinen Leute nur erst dächten, Wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden, Sie würden mich zuletzt noch gar beneiden.
Denn des Sonetts gedrängte Kränze flechten Sich wie von selber unter meinen Händen, Indeß die Augen in der Ferne weiden. (1.1, S. 201)
Wenn er die für seine Verlobte bestimmten Sonette in Maler Nolten oder in der Sammlung der Gedichte zu einem Ensemble vereinigte, platzierte Mörike dieses Werk stets am Anfang oder am Ende der Reihe und trug damit seiner Sonderstellung Rechnung, denn es ist das einzige unter ihnen, das nicht von Liebe handelt, sondern in stilisierter Form seine eigene Entstehung reflektiert. Des Näheren lässt sich sein Thema mit einem Ausdruck fassen, der heutzutage kaum noch gebräuchlich ist – vermutlich deshalb, weil auch das Phänomen, das er bezeichnet, in der arbeitswütigen modernen Gesellschaft keinen rechten Platz mehr findet: Am Walde ist ein Gedicht über die Muße. Nicht zu allen Zeiten war Muße ein Zustand, den man entweder gar nicht kannte oder doch mit einem gewissen Misstrauen betrachtete. In früheren, vorbürgerlichen Epochen der abendländischen Geschichte, als nur die unteren Bevölkerungsschichten in der traurigen Lage waren, einem Beruf nachgehen und durch eigener Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen, stellte sie ein soziales Privileg dar. Auch die seligen Götter des griechischen Olymp geben sich wie alle großen Herren vorzugsweise der Muße hin! Dabei war Muße keineswegs mit Nichtstun identisch, da sie zwar jegliche Arbeit ausschloss, die allein der physischen Existenzsicherung diente, nicht aber die schöpferische Tätigkeit als solche. So bildete sie beispielsweise das Element, in dem sich in der Antike die philosophische Kontemplation entfalten konnte, die keinem unmittelbaren Zweck diente und keinen materiellen Nutzen erbrachte. Arbeit galt als unerwünschte Plage und lästiger Zwang; erst in der Muße, im selbstbestimmten Tun, über dessen Gegenstand und Zeitrhythmus frei entschieden werden konnte, verwirklichte sich die wahre Bestimmung des Menschen. Deshalb hat Muße nichts mit dem modernen Freizeitstress zu tun und ist auch keine bloße Erholungspause zur Regeneration der ‚Ware Arbeitskraft‘: In der Muße lebt der Mensch ganz sich selbst. Das christliche – 271 –
9. Von der Anmut des müssigen Spiels: Poetik und Ästhetik
Denken wertete die Arbeit zwar schon beträchtlich auf – man denke nur an ihre Bedeutung für die Mönchsorden –, doch die weltlichen Oberschichten des Abendlandes blieben von diesem Wandel bis weit in die Neuzeit hinein so gut wie unberührt. Das änderte sich erst mit dem Aufstieg des Bürgertums, das seinen Führungsanspruch aus der Berufsarbeit und einem strengen Leistungsethos ableitete: Aus Muße wurde jetzt Müßiggang, der bekanntlich aller Laster Anfang sein soll. Gerade zur Zeit der Frühindustrialisierung standen Tugenden wie Fleiß, Askese und Strebsamkeit hoch im Kurs, was in Württemberg vielfach noch durch den Einfluss einer pietistischen Ethik verstärkt wurde. Mörikes lyrisches Ich, das seine Tage am liebsten in gemütlicher Ruhe am Waldrand zubringt, verweigert sich dem Arbeitskult und dem Leistungsdenken der bürgerlichen Welt und entzieht sich damit auch dem Strudel ihrer zunehmenden hektischen Dynamik, dem ‚Veloziferischen‘, wie es der alte Goethe ahnungsvoll nannte.22 Der Sprecher in Am Walde fühlt sich durch nichts gedrängt und scheint unendlich viel Zeit zu haben. In den gedehnten a-Lauten der Eingangszeile glaubt man die Aufhebung des Zeitflusses förmlich zu hören, und die hypnotische Wirkung des einförmigen Kuckucksrufs stellt dann vollends jene „Niemandszeit“ (Peter von Matt) her, die dem strengen Rhythmus des bürgerlichen Tageslaufs und seiner Verpflichtungen enthoben ist. Das Wort „einwiegen“ evoziert eine Stimmung schläfriger Geborgenheit, und dass der Laut des Vogels als „Klage“ aufgefasst wird, stört das müßige Idyll nicht im Mindesten; die für Mörike so typische gemischte Empfindung, in der sich Heiterkeit und Wehmut vereinen, verstärkt vielmehr noch den Reiz der Situation. Untätig ist das Ich des Gedichts aber durchaus nicht, denn Am Walde kreist ja gerade um den Zusammenhang zwischen Muße und künstlerischer Produktivität – wortspielerisch könnte man auch sagen: um die enge Verwandtschaft der Muse mit der Muße. In souveräner Leichtigkeit meistert der Sprecher ausgerechnet die anspruchsvolle Form des Sonetts, die sich „wie von selber“ einstellt, während die Metapher vom Flechten doch zugleich den artifiziellen Charakter dieser Beschäftigung andeutet; Mühe und Spiel, kunstfertiges Gestalten und glückliche Eingebung fließen hier zu einer vollkommenen Einheit zusammen. Das Gedicht spricht jedoch nicht nur über sein eigenes Zustandekommen, sondern auch grundsätzlicher über die generellen Bedingungen dichterischen Schaffens, indem es die „Poeten“ ganz allgemein mit der Haltung der Muße in Verbindung bringt: ‚Schöne Zeitverschwendung‘ ist nichts anderes als eine Umschreibung von Muße in ihrem krassen Gegensatz zu jeder Form bürgerlicher – 272 –
Die Kunst der Musse
Ökonomie. Und Schönheit zeichnet neben der Muße selbst auch das poetische Produkt aus, das ihr entspringt, denn „des Sonetts gedrängte Kränze“ sind Sinnbilder künstlerischer Rundung und Vollendung, wie sie schon am Beispiel von Auf eine Lampe erwähnt wurden. Klassischer Ort der Muße ist die freie Natur, und so zitiert Mörikes Gedicht auch den Topos des locus amoenus. Einsam am Waldrand liegend, sieht sich das lyrische Ich geradezu in einen paradiesischen Zustand versetzt, in dem es, von allem Druck befreit, vollkommen selbstbestimmt – „auf eigne Weise“ – leben kann. Ruhe, Frieden und Gemächlichkeit, die es hier genießt, bilden sich musterhaft in der harmonischen Klanggestalt dieser ersten Strophe ab. Im zweiten Quartett dagegen, das ausdrücklich den Kontrast zwischen dem Naturschauplatz und der Sphäre der Gesellschaft formuliert, ruft das Wort „Fratzen“, wiederum passend zum Inhalt, vorübergehend einen schrillen Missklang hervor. „Fratzen“ kann so viel wie „Grimassen“ bedeuten, aber auch als Pluralform von „der Fratze“ (ein jämmerlicher, alberner Kerl) aufgefasst werden. Die „Gesellschaft“ mit ihren Regeln und Anforderungen wirkt auf den Sprecher unheimlich, ja fast gespenstisch und zugleich skurril, verstörend und doch auch lächerlich. Sie wird nicht etwa kritisch analysiert, sondern bloß als unangenehme Zumutung erfahren, eben als „Plage“, die man sich nach Möglichkeit vom Leibe hält. Wir kennen diese Einstellung schon aus anderen Zusammenhängen, beispielsweise aus dem Gedicht Die Visite: Mörike zog die stille Verweigerung der offenen Auflehnung, den vorsichtigen Rückzug der aggressiven Provokation vor. Er war kein Rebell, sondern allenfalls ein auf Unauffälligkeit bedachter – zeitweiliger – ‚Aussteiger‘. Wie eng die Muße mit dem Spiel verwandt ist, müssen wir wohl kaum noch eigens hervorheben. Gemeinsam ist beiden der Aspekt der Freiheit, der unentfremdeten schöpferischen Entfaltung in souveräner Leichtigkeit, eine Erfahrung, die bei Mörike stets Vergnügen und Behagen weckte. Wer sich dem müßigen Spiel hingibt, verweigert nach den Begriffen der bürgerlichen Gesellschaft eigentlich das Erwachsenwerden, und daher rühren wohl auch die kindlichen Züge, die immer wieder an der Persönlichkeit wie am Werk des Dichters beobachtet worden sind – ein „fast kindlich zarter Ausdruck“ fiel beispielsweise Theodor Storm an dem Fünfzigjährigen auf, „als sei das Innerste dieses Mannes von dem Treiben der Welt noch unberührt geblieben.“23 Im Umgang mit Kindern scheint Mörike sich besonders wohl gefühlt zu haben. Zahlreiche Briefe, Gedichte und Musterkärtchen nehmen auf Hartlaubs Kinder oder auf seine eigenen Töchter Bezug, und offenbar war die Kinderlehre, die Katechisation der – 273 –
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Schuljugend, der einzige Teil seines geistlichen Amtes, an dem er etwas Gefallen fand. Von seiner Neigung, die Kindheit zu einem Goldenen Zeitalter ungetrübten Glücks zu verklären, wurde schon im Kapitel über seine Heimatstadt Ludwigsburg gesprochen. In vielen Gedichten Mörikes begegnet uns ein lyrisches Ich im Zustand der Muße: im Garten oder in freier Natur, oft liegend, bisweilen schläfrig und träumerisch, manchmal lesend, allenfalls wandernd oder gemächlich spazierengehend. Wald-Idylle, Im Weinberg, Im Frühling, Waldplage, Die schöne Buche und Nachmittags (aus den Bildern aus Bebenhausen) sind nur einige einschlägige Beispiele. Der Müßige öffnet sich den inneren und äußeren Impulsen, die ihm die Inspiration für das poetische Schaffen liefern, seinen Erinnerungen und jedem plötzlichen Sinneseindruck. Mörike kleidet diese ungemein fruchtbare Gemütsverfassung in einprägsame lyrische Bilder: „Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüthe offen“, heißt es in Im Frühling (1.1, S. 42), und „mit aufgeschlossenen Sinnen“ nimmt der Sprecher in Wald-Idylle seine Umgebung wahr (S. 159). Auch das Motiv der „Niemandszeit“ ist dabei häufig anzutreffen, meist wieder verbunden mit beruhigend einförmigen Naturlauten, die dem Ich die Versenkung in die eigenen Seelentiefen und in das Reich der Erinnerung erleichtern. In Wald-Idylle ruft der wohlbekannte Kuckuck, in Besuch in Urach erinnert sich der Sprecher an das „süß-schläfernde Gefühl“, das „[d]er Mücke Sumsen“ in seiner Jugend bei ihm heraufbeschwor (S. 45), und das Summen der Bienen findet man in dem frühen Gedicht Im Frühling ebenso wie in den Distichen Nachmittags, die aus dem Jahre 1863 stammen – dort hört das Ich zwar, wie der Glockenschlag aus dem nahen Kloster „durch die schwülige Stille“ zu seinem Ruheplatz „unter den Tannen“ herüberdringt, registriert aber auch, wie er dann „lieblich zerfließt, in der Biene Gesumm sich mischend“, und die Zeitlosigkeit der Idylle auf diese Weise nur noch unterstreicht (S. 302). Die Auffassung der Natur als einer freien Gegensphäre zur beengenden gesellschaftlichen Ordnung hat eine lange literarische Tradition, wurzelte bei Mörike aber sicherlich auch in ganz persönlichen Erfahrungen. Im immer noch überwiegend agrarischen Württemberg war Natur für ihn fast allerorten unmittelbar und in nächster Nähe gegenwärtig, zumal er viele Jahre seines Lebens in ländlichen Regionen verbrachte und Spaziergänge zumindest in halbwegs gesunden Tagen zu seinen liebsten Zerstreuungen gehörten. Für den Lyriker Mörike stellte die Natur ein unerschöpfliches Reservoir an poetischen Motiven und ein Objekt der ästhetischen Betrachtung und Stilisierung dar, aber vor allem erscheint sie bei ihm als idyllischer – 274 –
Die Kunst der Musse
Zufluchtsort jenseits aller geschichtlichen und sozialen Zwänge. Die beginnende Industrialisierung und die mit ihr einhergehende massive Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch den Menschen hinterließen in seinem Werk noch keine Spuren, anders als etwa bei Justinus Kerner, der bereits 1845 in dem Gedicht Unter dem Himmel die ebenso hellsichtige wie beängstigende Vision einer Zukunft heraufbeschwor, in der nicht nur die lärmende Eisenbahn den Poeten aus seiner träumerischen Ruhe scheucht, sondern auch das Firmament von mächtigen Fluggeräten verdunkelt wird, aus deren Lecks Öl herabtropft! Gewisse andere Entwicklungen, die das dichterische Bild der Natur nicht unberührt ließen, lagen ebenfalls noch jenseits von Mörikes Horizont. Will man sich seinen Abstand von der Literatur des 20. Jahrhunderts vor Augen führen, so kann man den Sechszeiler Septembermorgen, der im fünften Kapitel eingehend behandelt wurde, neben einige Verse Bertolt Brechts stellen, die 1940 unter dem Eindruck des Westfeldzugs der deutschen Wehrmacht entstanden und wie eine zynische Replik auf Mörikes Gedicht anmuten: Nebel verhüllt Die Straße Die Pappeln Die Gehöfte und Die Artillerie.24
Hier verbirgt sich hinter dem geheimnisvollen Nebelschleier nur noch die Brutalität des technisierten Massenmords. Angesichts des universal gewordenen Grauens, mit dem die Menschen einander überziehen, haben Natur und Naturlyrik gleichermaßen ihre Unschuld verloren. Kehren wir aber zu der für Mörike so grundlegenden Verbindung von Muße und künstlerischer Produktivität zurück! Das Sonett Am Walde ist natürlich kein schlichtes Protokoll einer authentischen Erfahrung des Dichters, sondern entwirft ein Idealbild von schöpferischer Freiheit in der Geborgenheit der idyllischen Natur. Gleichwohl besteht kein Zweifel daran, dass Mörikes Poesie tatsächlich ganz wesentlich eine Kunst der Muße war. Wie er seinen Freunden und Bekannten unermüdlich versicherte, brauchte er Ruhe und die Befreiung von äußerem Druck, um seine kreative Begabung entfalten zu können. Einige einschlägige Äußerungen kennen wir bereits, beispielsweise das Loblied auf die ländliche Abgeschiedenheit in einem Brief an Luise Rau von 1830: Die große Stadt, der „Tummelplaz des gestalt- und farbreichsten Lebens“, sei dem Poeten nicht günstig, der allenfalls einige „[w]enige aber starke Eindrücke von außen“ – 275 –
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benötige, um sich anregen zu lassen – „ihre Verarbeitung muß im ruhigen bescheidenen Winkel geschehen; auf dem ruhigen Hintergrund wird sich ihr Kolorit erhöhen und die Hauptsache muß doch aus der Tiefe des eigenen Wesens kommen“ (11, S. 96). Und an Hermann Kurz schrieb Mörike acht Jahre später: „Ein schönes Werk von innen heraus zu bilden, es zu sättigen mit unsern eigensten Kräften, dazu bedarfs – weißt Du so gut als ich – vor allem Ruhe u. einer Existenz die uns erlaubt, die Stimmung abzuwarten“ (12, S. 202). Da konnte es mitunter notwendig werden, auch ein laufendes Projekt für eine Weile auszusetzen. 1852 bat Mörike den Verleger Friedrich Schweizerbart um Verständnis für die verspätete Fertigstellung seiner Erzählung Das Stuttgarter Hutzelmännlein: „die Arbeit mußte längere Zeit, erst wegen Unwohlseyn, dann weil der gute Humor den sie verlangte sich nicht gleich wieder einstellen wollte, ganz ruhen“ (16, S. 131). Dieser unregelmäßige, unberechenbare Rhythmus von schöpferischen Phasen und längeren Unterbrechungen war ihm etwas Selbstverständ liches, und er beharrte darauf, dass die „poetische Apathie“, die ihn so häufig überkam, „von Faulheit ganz gewiß zu unterscheiden“ sei (S. 171). Wir wissen aus Mörikes Alltag von manchen Augenblicken erfüllter Muße, von idyllischen Momenten der Entspannung, die sich mit einem Gefühl der Zeitlosigkeit und einer besonderen Offenheit für die Eindrücke der Sinne verbanden. Wie fruchtbar sie für den Dichter werden konnten, zeigen Schilderungen in seinen Briefen, die sich zu poetischen Miniaturen von eigenem Reiz verdichten. Hier ein schönes Beispiel aus den Cleversulzbacher Jahren: Ich sitze viel im Garten unter dem grünen Schirm, ein Buch vor mir, in das ich zwei Minuten hineinsehe, um alsbald wieder in meine eignen Grillen zu verfallen. Oder ich stecke mich in einen hohen Zucker-Schefen-Wald und belausche ein Kindergespräch am Gartenhag, wobei einem das Herz vor Freuden lacht. Gestern Abend sangen 2. Mädchen: Regen-Regentropfen, Buben muß man klopfen, D’Maidlich muß man schonen Wie die Citeronen. Dabei donnerte es von fern, die Rosen dufteten und durch den Hag durch schimmerten die blechernen Zierrathen der Kirchhofskreuze hell herüber. (12, S. 204)
Friedlicher Muße in freier Natur verdankte 1841 auch das Gedicht An Philomele seine Entstehung, das die altehrwürdige Form der alkäischen – 276 –
Die Kunst der Musse
Ode in einen komischen Gegensatz zu höchst prosaischen Bildern und Vorstellungen bringt: Am 22. May, Abends, saß ich im Dahinfelder Wald, nicht weit vom Eingang, unter einer hohen Eiche und las eine Zeitlang in der Bibel (es war meiner lieben Mutter ihre). Ganz nah bei mir schlug eine Nachtigall. Ich machte das Buch endlich zu, hing meinen eigenen Betrachtungen nach und hörte dazwischen auf den Gesang der Vögel. Die Nachtigall wiederholte einigemal jene schöne Stufenreihe gezogener Töne welche allmählich mit Gewalt anwachsend aus der Tiefe in die Höhe gehn und mit einer Art von Schnörkel oder Sprützer schließen. Dabei fiel mir von ungefehr ein komisches Gleichniß ein, u. während des Heimgehns war ich […] durch den Geist des Widerspruchs genöthigt, den Gedanken in einpaar Strophen auszubilden, indem mir unaufhörlich das Alcäische Versmaas in den Ohren summte. (13, S. 183f.)
Solche Gelegenheiten waren jedoch verhältnismäßig selten, denn nur allzu oft fehlten in Mörikes Leben zwei wichtige Voraussetzungen für den Genuss wahrer Muße: die materielle Unabhängigkeit und das körperliche und seelische Wohlbefinden. Mit einer dürftigen, beschränkten Existenz hätte sich der Dichter, der in Sachen des Komforts keine großen Ansprüche stellte, gewiss noch abfinden können, aber Gesundheit war für ihn, wie er einmal an Luise Rau schrieb, „unabweißliche Bedingung aller Thätigkeit, alles Muthes, aller Lebenslust“ (12, S. 36), und so blockierten seine Kränklichkeit und seine hypochondrischen Sorgen immer wieder den ersehnten Aufschwung in die Sphäre des souveränen poetischen Spiels, das sich über alle Widrigkeiten des Daseins hinweghebt: „wenn es wohl zuweilen geschieht daß ein freier Gedanke, ein heitrer Bliz der Einbildung bei mir aufschießt, daß mir die Lust ankommt einen längst fertigen Plan mit der Feder in der Hand keck anzufassen – so steht der böse Geist auch augenblicklich wieder da und läßt die schöne Täuschung nicht aufkommen, die mir die trübe Wirklichkeit, das kümmerliche körperliche Gefühl hätte vergessen lassen sollen“ (11, S. 327). An die Stelle der Muße, die der frei schweifenden schöpferischen Einbildungskraft Raum gibt, trat dann eine Lethargie, in der die „Grillen“ des Dichters äußerst unerfreuliche Gestalten annahmen und sich zu selbstquälerischen Phantasien auswuchsen. Als sich beispielsweise im August 1840 Wilhelm Hartlaub nach einem Besuch in Cleversulzbach verabschiedet hatte, überkamen Mörike sofort „Öde und Mattherzigkeit“ und „ein Gefühl der Beklemmung […], das bis zur Angst anwachsen kann“: „Man ist gleich dem verscheuchten – 277 –
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Huhn, ein blödes Kind, das über Alles leicht zum Weinen gebracht wird. Ich lag den halben Vormittag mit unsteten Gedanken lesend und brütend auf dem Bett, schlenderte durch den Garten und sah die Hummeln in den Sonnenblumen wühlen“ (13, S. 112). Angesichts einer dermaßen zarten und empfindlichen Muse überrascht es nicht, dass der Umfang von Mörikes Werk so begrenzt blieb, manche Projekte sich über viele Jahre hinzogen und zahlreiche andere gar nicht verwirklicht wurden. Auf literarische Auftragsarbeiten, die mit ihren vorgegebenen Anforderungen die Freiheit des poetischen Spiels beschnitten und ihn überdies mit festen Abgabeterminen konfrontierten, ließ er sich verständlicherweise nur selten ein, und die wenigen Ausnahmen führten auch zu recht unbefriedigenden Ergebnissen. So schrieb er die von Peter Lindpaintner vertonte Cantate bei Enthüllung der Statue Schillers für eine Festveranstaltung in Stuttgart im Mai 1839 im Grunde bloß deshalb, weil er keine Möglichkeit sah, den ehrenvollen Auftrag, den er „nicht eigentlich gern“ übernahm (12, S. 224), abzulehnen, und ärgerte sich nach der Fertigstellung des Textes sehr über verschiedene Änderungswünsche, die an ihn herangetragen wurden.25 Daneben ist vor allem das kleine dramatische Spiel Das Fest im Gebirge zu erwähnen, das für das 25. Regierungsjubiläum König Wilhelms I. im Jahre 1841 gedacht war, schließlich aber doch nicht zur Aufführung gelangte. Ein Dichter, der für sein Schaffen in solchem Grade auf die passende Stimmung angewiesen war, konnte erst recht nicht daran denken, das Schreiben zu einem Brotberuf zu machen. Symptomatisch für Mörikes Verhältnis zum Berufsschriftstellertum ist der Ablauf seines Versuchs, noch während des Vikariats die Kirchenlaufbahn zu verlassen. Wir müssen daher noch einmal auf diese wichtige biographische Episode zurückkommen, die wir im vorangegangenen Kapitel allein unter dem Aspekt seiner Einstellung zum geistlichen Amt betrachtet haben. Seit Dezember 1827 beurlaubt, genoss Mörike die ungewohnte Freiheit zunächst in vollen Zügen, und seine Dichtung profitierte davon: Das Jahr 1828 zählte auf dem Gebiet der Lyrik zu den produktivsten seines ganzen Lebens, und die Anfänge des Maler Nolten dürften gleichfalls in diese Zeit gehören. Die Suche nach einem neuen, geeigneteren Betätigungsfeld betrieb der junge Mann dagegen ziemlich lässig; nach- oder nebeneinander fasste er ein Hofmeisteramt, eine Stellung als Bibliothekar und eine Beschäftigung als Redakteur oder Korrektor ins Auge, wobei er stets hoffte, dass ihm der jeweilige Beruf noch genügend Zeit für literarische „Privat Arbeiten“ lassen würde (10, S. 220). Verschiedene Bemühungen – 278 –
Die Kunst der Musse
um eine Anstellung in Cottas weitverzweigtem Verlagsunternehmen, in dem Johannes Mährlen damals beschäftigt war, scheiterten trotz prominenter Fürsprecher, zu denen Gustav Schwab und der Hofprediger Karl Grüneisen zählten. Freilich war es auch nicht übermäßig geschickt, wenn Mörike in seinem Bewerbungsschreiben an Johann Friedrich Cotta von Cottendorf vom 21. März 1828 ausgerechnet seine angeschlagene Gesundheit als einen Grund für seinen Wunsch anführte, sich anstelle des Vikariats künftig „dem ästhetischen Fache zu widmen“ (S. 202) – ein eindrucksvolles Zeugnis für seine Unbeholfenheit in lebenspraktischen Dingen. Dafür kam aber im Oktober ein Vertrag mit dem Stuttgarter Verleger Friedrich Gottlob Franckh zustande, der im selben Jahr übrigens Bauers Orplid-Drama Der heimliche Maluff herausbrachte. Mörike berichtete seinem Onkel Neuffer: „Ich bin verbunden eine bestimmte Anzahl von erzählenden und andern ästhetischen Aufsätzen in die neue Zeitung zu liefern, die Fr. unter dem Titel Damenzeitung und unter der Redaction des nun hiesigen Dr. Spindler herausgeben will“ (10, S. 245). Er verfasste auch wirklich einige Prosabeiträge für die „Damen-Zeitung“, die allerdings ohne Namensnennung gedruckt wurden und daher nicht mehr zu identifizieren sind; lediglich die aus Dialogen bestehende kleine Skizze Ein Dampfschiff, eine satirische Gesellschaftsdarstellung mit einer Vielzahl typisierter Figuren, die ohne eigentliche Handlung auskommt, kann ihm mit einiger Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden.26 Das böse Erwachen ließ indes nicht lange auf sich warten. Im April hatte Mörike Mährlen noch beschworen: „Schaffe nur einen Ausweg vor dem Consistorium und seiner Stickluft, so will ich mich regen und umthun, und Dinte aus allen Poren sprützen!“ (S. 208), doch bereits wenige Wochen nach der Einigung mit Franckh klagte er Bauer sein Leid: ich macht aber die Präliminarien schon so halb und halb mit Bangen, wie die Katze die im Regen ihre Pfote nicht naß machen will. Ich sah – oder vielmehr der Kerl in mir, der sich auf den E. Möricke besser versteht, als ich selber, sah voraus, ich würde von dem Erzählungenschreiben bald Bauchweh bekommen, ärger als je vom Predigtmachen. Das ließ ich aber dem guten Kerl nicht gelten, oder vielmehr ich hörte ihn gar nicht an und wieß ihm gleich die 50.f. [Gulden] monatliche Vorausbezahlung, die mir der Buchhändler ungefordert gab eh er fast einen Buchstaben von mir hatte; die erste Wurst aber, so ich von dem Geld aß, schmeckte mir schon nicht recht und eh vierzehn Tage vergingen hatt ich das Grimmen als läge mir Gift im Leibe. (S. 253)
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Im selben Brief wird die tiefe „Aversion vor der Zeitungsschreiberei“ und dem literarischen „Manufacturwesen“ noch etwas näher begründet: Das was ungefehr von Poësie in mir steckt, kann ich nicht so tagelöhnermäßig zu Kauf bringen. Ich bin, wenn ich mich zu so einer Arbeit hinsetze, auch schlechterdings nicht im Stande, tief aus der Seele einen Anlauf zu nehmen, einen freyen, unbefangenen Zug der Begeisterung zu bekommen, wie es doch sonst bei mir ist, oder war, wenn ich für mich oder gleichsam für gar Niemand etwas unternahm. Gleich verkleinert und schwächt sich Alles, was eben noch frisch in mir aufsteigen wollte, von dem Augenblick an, wo ich fühle daß ichs für die Zeitung machen soll und daß man auf mich wartet […]. (S. 255)
Bald darauf unterrichtete Mörike auch Mährlen von der veränderten Lage der Dinge: „Der ganze Franckh’sche Handel wird wieder von mir aufgesteckt. Ich bin die lezten Wochen her fast krepirt vor Ekel an der Sache und vor Zorn über die Blindheit worin ich mich bereden konnte, daß ich mir jemals, auch nur ein Vierteljahr bei diesem Geschäft gefallen könnte, ohne daß meine Poësie sich die Schwindsucht dabei hole“ (S. 260). Noch vor Jahresende wurde der Vertrag gelöst, und im Februar 1829 kehrte Mörike ins Vikariat zurück. Offenkundig belehrte ihn erst dieses klägliche Scheitern über die Bedingungen und Grenzen seiner dichterischen Begabung: Die Berufsschriftstellerei, die mit der Freiheit des müßigen Spiels die Grundlage seiner schöpferischen Tätigkeit aufhob, musste seine Poesie in der Tat unweigerlich mit der „Schwindsucht“ infizieren. Jedenfalls hatte er die Lektion für alle Zeiten gelernt, denn als man ihn 1854 einlud, sich regelmäßig an literarischen Publikationen zu beteiligen, entschuldigte er sich höflich, aber bestimmt mit der „böse[n] Eigenheit meiner Natur, daß mir etwas Gefordertes, Bestelltes, eine Arbeit, bei welcher ich mich an einen bestimmten Termin gebunden weiß, niemals oder selten gelingt“ (16, S. 174). Und einige Jahre später brachte er seine Skepsis gegenüber der Dichtung als Beruf noch einmal zum Ausdruck: „eine Lage […], worin der Mann […] lediglich auf den Ertrag seiner Feder angewiesen ist“, sei „immer ein Unglück, und zwar für seine Dichtung selbst das größte“ (17, S. 189). Die ausgeprägte „Eigenheit“ seiner Dichterpersönlichkeit verwies Mörike für sein Schaffen auf die seltenen Augenblicke echter Muße, die nicht erzwungen werden konnten, sondern geduldig abzuwarten waren. Dass fleißigere und betriebsamere Zeitgenossen dafür mitunter recht unfreundliche Ausdrücke fanden, kann man sich denken. Ein „faul’s Luder“ – 280 –
Aus der Werkstatt des Dichters
sei der Pfarrer von Cleversulzbach gewesen, ließ sich ein geistlicher Amtsbruder vernehmen27; Wilhelm Raabe, dessen literarisches Werk um ein Vielfaches umfangreicher ist, nannte den Kollegen, den er nie persönlich kennenlernte, boshaft eine „quabblige, faule Natur“28, und Männer wie Vischer und Strauß beklagten immer wieder die chronische Apathie, die ihren Freund in ihren Augen daran hinderte, wahrhaft große und würdige Kunstwerke zu schaffen. Aber es stand eben nicht in Mörikes Macht, sich Fleiß und eine rigide Arbeitsdisziplin zu verordnen, und so drücken nicht nur zahlreiche seiner poetischen Schöpfungen, sondern auch die ganze Art seiner Existenz und seines Dichtens gewissermaßen einen stillen Protest gegen das forcierte Leistungsethos der bürgerlichen Gesellschaft aus. Unter dem Blickwinkel unserer vom Burnout geplagten Gegenwart erscheint eine solche Einstellung schon wieder sympathisch, wenn nicht sogar weise, und in einer Geschichte der literarischen ‚Entdeckung der Langsamkeit‘ könnte Mörike jedenfalls einen wichtigen Platz beanspruchen.
Aus der Werkstatt des Dichters Kamen auch Mörikes eigene Gedichte in Phasen der Muße „wie von selber“ zustande, wie es das lyrische Ich in Am Walde von den seinigen sagen kann? Manche Äußerungen des Poeten scheinen tatsächlich auf eine solche wundersame Leichtigkeit des Produzierens hinzudeuten. In dem Bericht über die Entstehung von An Philomele schreibt Mörike: „Die erste Strophe hat sich sozusagen von selbst, ohne mein Zuthun zusammengefügt“ (13, S. 184), und von dem Gedicht Die Schwestern weiß er Ähnliches zu erzählen: „Es ist neulich morgens im Bett unmittelbar nach einem heiteren Erwachen gleichsam aus dem Stegreif entstanden u. war in weniger als 8 Minuten beisammen“ (12, S. 150). Auch unterwegs in der Kutsche konnte er nebenher dichten: Suschens Vogel wurde auf einer Reise von Cleversulzbach nach Mergentheim „in der Chaise gemacht als wir durch den Harthäuser Wald fuhren“ (S. 119). Weiter ins Detail geht die Schilderung eines „Moment[s] plötzlicher Eingebung“, die er 1868 in einem Brief an Moriz von Schwind lieferte. Hier ist von der Ballade Schön-Rohtraut die Rede: Ich stieß einmal – es war in Cleversulzbach – zufällig in einem Wörterbuch auf den mir bis dahin unbekannten altdeutschen Frauennamen. Er leuchtete mich an als wie in einer Rosengluth, und mit ihm war auch schon die Königstochter da. Von dieser Vorstellung erwärmt trat ich aus dem Zimmer zu ebener Erde in den Garten hinaus, ging einmal den breiten Weg bis zur
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hintersten Laube hinunter und hatte das Gedicht erfunden, fast gleichzeitig damit das Versmaas und die ersten Zeilen, worauf die Ausführung auch wie von selbst erfolgte. (19.1, S. 53f.)
Die schöpferische Phantasie formt das ganze Gedicht also im Handumdrehen aus dem schwerelosen Material eines einzigen Namens und seiner poetischen Aura! Man versteht, warum Mörike noch nach dreißig Jahren mit Vergnügen an dieses Erlebnis zurückdachte. Indes könnte gerade der große Zeitabstand auch Zweifel an der Verlässlichkeit der Erinnerung wecken, und es gibt einige Indizien, die dieses Misstrauen nähren. Hartlaub bekam Schön-Rohtraut bereits am 2. April 1838 mit der präzisen Angabe „Ged. Klevers. d. 31. Mrz 1838 Morgens im Bette“ zugeschickt (12, S. 186), und diese Version wird durch einen Bericht von Klara Mörike bestätigt: „Am 31. März 38, an einem Samstage, morgens, las er beim Frühstück seiner Schwester die Romanze vor, und als diese ihn erstaunt fragte, woher er das habe, antwortete er, es sei von ihm, gestern habe er in einem alten Kalender den Namen gelesen und daraus habe er das Gedicht die letzte Nacht geschaffen und eben im Bett vollendet.“29 Aber ob Mörike nun dichtete, während er im Bett lag, im Reisewagen fuhr, durch den Garten schlenderte oder unter einem Baum saß und dem Vogelgesang lauschte – alle hier angeführten Zeugnisse stimmen darin überein, dass das Schaffen für ihn keine schwere Mühsal und kein angestrengtes Ringen mit einem widerspenstigen Stoff bedeutete (die Arbeit an der zweiten Fassung des Maler Nolten bildete aus mancherlei Gründen eine Ausnahme). Aus den verschiedenen Hinweisen können wir idealtypisch rekonstruieren, wie sich der schöpferische Prozess bei ihm abspielte. Am Anfang steht der Zustand der Muße, verbunden mit einer ruhigen, ausgeglichenen Stimmung und der Aufgeschlossenheit für äußere und innere Anregungen. Nun kann sich jederzeit der Augenblick der Inspiration ereignen, häufig in Form eines intensiven sinnlichen Eindrucks, wie ihn der Gesang der Nachtigall oder auch der einer „Rosengluth“ vergleichbare lockende Glanz eines klangvollen Namens darstellen. Die Ausarbeitung des Gedichts erfolgt sodann im Kopf, und erst ganz am Ende wird der fertige Text schriftlich festgehalten. Dieses Modell künstlerischer Kreativität könnte eine auffallende Eigentümlichkeit in der Überlieferung von Mörikes Lyrik erklären, nämlich den Umstand, dass es „aus früher und späterer Zeit kaum Handschriften gibt, welche je für sich die noch unentfaltete Konzeption eines Gedichts oder eine tiefgreifende Umarbeitung dokumentieren.“30 Mörike nahm die Feder offenbar – 282 –
Aus der Werkstatt des Dichters
wirklich erst zur Hand, wenn ein Werk in Gedanken bereits vollkommen abgeschlossen war und nur noch fixiert werden musste. Dennoch fragt es sich, ob ein solches Bild von seinem dichterischen Tun nicht doch zu einseitig ausfällt. So ist bezeugt, dass er sich „zum bequemen Niederschreiben poetischer Produktionen“ gerne einer Schiefertafel bediente31, was das Fehlen von Handschriften zur Entstehung einzelner Gedichte ebenso gut erklären würde – als Theodor Storm nach Stuttgart kam, legte Mörike ihm dieses Verfahren sehr ans Herz und kaufte seinem norddeutschen Gast auch gleich ein paar Kreidestifte! Überdies blieben selbst Gedichte, die schon veröffentlicht waren, nicht unbedingt für alle Zeiten unverändert, denn der Autor feilte bisweilen noch nach Jahren oder Jahrzehnten an seinen Schöpfungen, wobei nicht nur zahlreiche Detailkorrekturen anfielen, sondern manchmal sogar völlig neue Fassungen geschaffen wurden. Erinnert sei hier auch noch einmal an die zweistufige Entstehungsgeschichte des Gedichts Auf einer Wanderung, von der im sechsten Kapitel die Rede war. Über den beglückenden Momenten der Inspiration, die Mörike in seiner Lyrik bevorzugt gestaltete, darf also der gewichtige Anteil, den die bewusste, reflektierte Kunstarbeit an seinem Schaffen hatte, nicht übersehen werden. Und auch diese Seite der produktiven Tätigkeit thematisierte er mitunter in seinem Werk. In Am Walde findet sie sich, wie schon erwähnt, in der Metapher des Flechtens zumindest angedeutet, und in Mozart auf der Reise nach Prag umschreibt der Protagonist die Entstehung eines Hochzeitsliedes, zu der eine plötzlich aufsteigende Jugenderinnerung den ersten Anstoß gab, mit folgendem Bild: „der Vogel hatte nur den Kopf erst aus dem Ei, und auf der Stelle fing ich an, ihn vollends rein herauszuschälen“ (6.1, S. 253). Der inspirierende Augenblick, jener „glücklich erleuchtete Moment, auf den man sich die Zuversicht im Innern nur stet erhalten muß, ohne sich drum zu hetzen“ (19.1, S. 104), bildet bei Mörike die erste Stufe des kreativen Prozesses; ihm folgt aber das sorgsame und konzentrierte ‚Herausschälen‘ der perfekten künstlerischen Gestalt. Auch das erste Distichon von Leichte Beute hält diese Unterscheidung zweier Phasen fest: „Hat der Dichter im Geist ein köstliches Liedchen empfangen, / Ruht und rastet er nicht, bis es vollendet ihn grüßt“ (1.1, S. 122). Spontane Eingebung und künstlerische Gewissenhaftigkeit, plötzliche Inspiration und zielstrebige Arbeit wirkten also in Mörikes Produktion zusammen. Er verschmähte es auch nicht, sich aus Büchern über komplizierte Probleme der Lyrik zu belehren. So studierte er 1846 die Schrift Zeitmessung der deutschen Sprache von Johann Heinrich Voß, die metrische – 283 –
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Fragen erörtert und wahrhaftig keine leichte Lektüre darstellt. Bezeichnend für seine Haltung ist allerdings, was er in einem Brief an Hartlaub über dieses Büchlein schreibt: „Ich habe es nun hier zum großen Theil gelesen, nicht ohne Nutzen u. Bestätigung, doch sind mir manche Zweifel übrig blieben und im Ganzen finde ich, man kommt zulezt am weitsten wenn man in allen Fällen sein eigenes Gehör befragt“ (15, S. 47). Deshalb befriedigte er sein Interesse an der gewissermaßen technisch-handwerk lichen Seite des Dichterberufs lieber in der Beschäftigung mit konkreten poetischen Texten, wo ihm sein feines „Gehör“ für metrisch-rhythmische Strukturen ebenso zustatten kam wie sein Gefühl für Klangfarben oder für die Klarheit und Prägnanz des sprachlichen Ausdrucks. Ungemein faszinierend fand er beispielsweise eine Handschrift der Hölderlin-Ode Heidelberg, die zahlreiche Korrekturen des Verfassers aufwies und die er von dessen Schwester in Nürtingen geschenkt bekommen hatte. 1847 fertigte er davon eine „Abschrift […] mit allen wesentlich veränderten Stellen des ersten Entwurfs“ an und schickte sie Hartlaub mit der Bemerkung: „Es wird Dich unterhalten in die Entstehung dieses Stücks hineinzusehn, wie es sich nach u. nach gereinigt hat, Gedanke u. Ausdruck immer klarer u. kräftiger wurde“ (15, S. 143). Eine weitere sorgfältige diplomatische Wiedergabe dieses Autographs ließ er sogar im „Deutschen Musenalmanach“ von 1856 abdrucken, weil ein solcher „unmittelbare[r] Einblick in die Arbeit des Geistes“ eines großen Poeten nach seiner Überzeugung jedem Literaturliebhaber willkommen sein musste (7, S. 217). Von penibler Gründlichkeit in der Auseinandersetzung mit Wortlaut und Form lyrischer Werke zeugen auch Mörikes Bemühungen, literaturbeflissenen Freunden oder Bekannten bei der Abfassung und Redaktion ihrer Gedichte behilflich zu sein. Besonders aufschlussreich ist hier die Beratung Karl Mayers, die ihn – mit vielen Stockungen und Unterbrechungen – mehr als zwanzig Jahre lang in Anspruch nahm. Der 1786 geborene Mayer, der mit Kerner und Uhland befreundet war, entstammte einer weitverzweigten, einflussreichen Familie der Ehrbarkeit, wirkte nach seinem Jurastudium als Oberamtsrichter und Oberjustizrat in Waiblingen und Tübingen und trat auch als liberaler Politiker hervor. Seine gesammelte Lyrik war 1833 bei Cotta in dem Band Lieder veröffentlicht worden, dem 1839 eine beträchtlich erweiterte zweite Auflage unter dem Titel Gedichte folgte. 1833 äußerte Mörike sich noch recht abfällig über einige Werke Mayers, die er in einem Almanach gelesen hatte: „mir däucht, er habe mit seinen kleinen gedüftelten Frühlings-Überschwänglichkeiten ganz allernächstens ausgezirpt“ (12, S. 51) – das lässt an Heines – 284 –
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Kommentar zu Mayer im Schwabenspiegel denken: „er ist eine matte Fliege und besingt Maykäfer“.32 Als er den Dichter sieben Jahre später durch Kerners Vermittlung persönlich kennenlernte, revidierte Mörike dieses Urteil jedoch: „Wie herzlich hab ich ihm im Stillen das Unrecht abgebeten, das auch ich ihm früher auf ein paar Verse hin gethan, die mir gerade vor die Augen kamen“ (13, S. 134). Schon wenig später nahm Mörike seine Beratertätigkeit auf, deren Dokumentation in der historisch-kritischen Ausgabe seiner Werke den ganzen voluminösen Band 9.2 füllt. Mayer schrieb alles in allem einige Tausend Gedichte, von denen Mörike nicht wenige sogar mehrfach überprüfte und beurteilte. Die Freunde verkehrten fast ausschließlich schriftlich miteinander, indem sie Gedichtmanuskripte, Titellisten, Anmerkungen, Repliken und Repliken auf Repliken austauschten. Dabei ging es vorrangig darum, das Textkorpus für eine neue – dritte – Auflage von Mayers Lyrikband zusammenzustellen. Zu diesem Zweck prüfte Mörike zuerst die Ausgabe von 1839 und begutachtete dann nach und nach die neuen Gedichte, die in nicht enden wollendem Strom Mayers Feder entquollen. Meist nahm er Anstreichungen vor, um besonders gelungene oder schwächere Texte zu markieren, oder legte Verzeichnisse an, die Rubriken wie „entbehrlich“ und „zweifelhaft“ enthielten, aber darüber hinaus erhob er auch immer wieder differenzierte Bedenken gegen einzelne Stellen oder formulierte gleich Verbesserungsvorschläge, die dem Wohlklang der Verse, der Präzision der Sprache und der Stimmigkeit der poetischen Bilder galten. Die Überlegungen zu Umfang und Anlage der geplanten Lyriksammlung änderten sich im Laufe der Jahre mehrfach, und die Suche nach einem Verleger gestaltete sich schwierig, da schon die zweite Auflage von Mayers Gedichten wie Blei in Cottas Regalen lag. Nach langem Zögern erklärte sich der Verlag jedoch 1864 schließlich bereit, auch den neuen Band herauszubringen, der zu einem guten Teil das Ergebnis von Mörikes Anstrengungen darstellte. Selbst danach fuhr Mayer unentwegt fort, zu schreiben und zu verbessern, aber Mörike glaubte wohl, seiner Pflicht Genüge getan zu haben, und vermied es fortan, in der gewohnten Weise schriftlich und systematisch Stellung zu den Gedichten des Freundes zu nehmen. Mayers lyrische Arbeiten sind überwiegend recht kurz und in schlichten Reimstrophen abgefasst. Obwohl er unter anderem auch versifizierte Kommentare zu politischen Fragen vorlegte, bildet doch die Natur den Hauptgegenstand seiner Dichtung. Manche Texte präsentieren sich als bloße Beobachtungsprotokolle, die der Wahrnehmung eines Augenblicks – 285 –
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entsprungen zu sein scheinen, andere knüpfen an die Natureindrücke Reflexionen des Sprechers, die bisweilen mit sinnbildlichen Ausdeutungen verbunden sind. Aus heutiger Sicht kann man die meisten von Mayers Versen bestenfalls als banal bezeichnen, und seine Bemühungen um Bedeutungsschwere und tieferen Gehalt überschreiten gelegentlich auch die Grenze zur unfreiwilligen Komik. So gibt uns Mörikes offenbar aufrichtige Begeisterung für diese Poesie, die er wiederholt gegen Kritiker verteidigte und seinen Freunden zur Lektüre empfahl, ein schwer zu lösendes Rätsel auf. 1842 schrieb er für Kerner zwei neue Gedichte von Mayer ab – darunter das folgende: Es hängt vom Stockbret manche Nelk’ Herunter nach dem Hausgebälk Und hinterm Birnbaum schimmert vor Als Fensterschmuck Levkojenflor. Milchtöpfe liegen nach der Schnur, Besonnt die innere Glasur, Ein Kätzchen ruht und schnurrt dabei, Der Sonne froh, so warm es sey. Das Kammerzlaub von Sonne strahlt, Die sich im Röhrenbrunnen malt. Das Mädchen singt, der Knabe lärmt, Die Henne gackst, die Biene schwärmt. Dank, Vaterland, das mir so mild Bereitet ländliches Gebild! Dank, Sonne, die noch holder schmückt Was mir den stillen Sinn beglückt.
– und kommentierte diese biederen Belanglosigkeiten, deren Versgeklapper von ferne an Wilhelm Busch erinnert, mit den enthusiastischen Worten: „Gibts etwas Lieblichers?“ (14, S. 46). Über den schlechten Absatz des Lyrikbandes von 1839 tröstete er den Freund mit der Versicherung, „daß diesen Gedichten ihre Epoche erst bevorsteht, oder ich will für die Kriterien des Ächten und Unvergänglichen in der Kunst niemals Verstand u. Sinn besessen haben“ (S. 224f.), und man muss befürchten, dass er diese Prognose ernst meinte. Seine „bewundernde Liebe“ (17, S. 81) für Mayers Werk hatte sicherlich mit dessen Reichtum an sinnlich konkreten und zugleich beseelten Naturbildern zu tun, die Mörikes eigenen Neigungen entsprachen. Eine seiner beifälligen Bemerkungen lautet beispielsweise: „Manchmal wird ein Gemälde ganz objektiv hingestellt, so doch, daß die Seele des Dichters – Empfindung und Reflexion – wie ein – 286 –
Aus der Werkstatt des Dichters
leichter Widerschein darüber webt und ruht“ (13, S. 148). Eine ebenso große Rolle spielte aber vermutlich Mayers anziehende Persönlichkeit, die Mörike in einem Brief an Hartlaub rühmte: Mayer […] spricht nicht viel, sizt bescheiden und freundlich aufmerksam da; was er damals sagte, könnte jeder andere Oberjustizrath auch gesagt haben. Nicht leicht aber hab ich einem neuen lieben Bekannten gegenüber es so gefühlt, wie mir das Herz im Busen sich zu ihm hin bewegte. Ich sah ihn einpaarmal, indeß die Andern plauderten, so an; da kam auf einmal jene Rührung über mich, mit der man etwa ein Mädchen betrachtet, das eine heimliche Liebe hat, welche man ihm verkümmert. Ich meine sein unglaublich zärtliches Verhältniß zur Natur […]. (13, S. 134)
Von dem, was Mörike an einem Dichter abstoßen konnte, also von falschem Pathos, Selbstgefälligkeit und Geltungssucht, spürte er in diesem Falle offensichtlich nichts, denn Mayers Naturschwärmerei war eine ehrliche Leidenschaft und seine Lyrik deshalb bei aller Unbeholfenheit doch der aufrichtige Ausdruck seiner individuellen Wesensart. Aber Mörike führte noch einen weiteren Grund an, warum er sich seinen Beistand so viel Zeit und Mühe kosten ließ, nämlich das außerordentliche „Vergnügen“, das es ihm bereite, den Autor Mayer im intensiven brieflichen Austausch „in seine innere Werkstätte zu begleiten“ (13, S. 163). Was seine hingebungsvolle Beratertätigkeit ohnehin schon eindrucksvoll bezeugt, finden wir hier direkt ausgesprochen: Poetisches Spiel darf ebenso wenig mit unverbindlicher Tändelei gleichgesetzt werden, wie Muße mit Nichtstun identisch ist. Das Dichten bedeutete für Mörike stets auch konzentrierte Arbeit in einer „Werkstätte“ des Geistes, Arbeit am Material der Sprache und an der künstlerischen Form – eine Arbeit freilich, die ihm hohen Genuss bescherte, weil er dabei seine eigentümlichen Talente aufs Glücklichste zur Geltung bringen konnte.
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10. Die Erzählungen der
dreissiger Jahre
D
er neue Roman über religiöse Fragen, konfessionelle Unterschiede und phantastische Schwärmerei, an dem Mörike im Laufe des Jahres 1833 arbeitete, sollte sein letztes literarisches Großprojekt bleiben. Nachdem er dieses Vorhaben abgebrochen hatte, ließ er sich nur noch auf Erzählwerke von allenfalls mittlerem Umfang ein, die keinen langen Atem erforderten und seiner vorsichtigen diätetischen Selbstbeschränkung daher nicht widersprachen. Was darüber hinausging, weckte sogleich sein Unbehagen: „Denke ich aber an ein größeres Werk, so wird mir immer bang bei der unglaublichen Beschränkung die mein körperlicher Zustand u.s.w. mir bei der Arbeit auferlegt“, vertraute er 1846 dem Freund Hartlaub an (15, S. 76). Allerdings lieferte auch die Lage auf dem zeitgenössischen Literaturmarkt gute Gründe für eine Konzentration auf Erzählungen bescheidenen Formats, denn die populären Medien der Biedermeierzeit – die Almanache, die Taschen- und Jahrbücher und mehr und mehr auch die Zeitschriften – füllten ihre Seiten vorwiegend mit solchen Texten und garantierten deshalb eine ebenso starke wie kontinuierliche Nachfrage. Und da die Epoche noch keinen strikten Gegensatz zwischen Hochliteratur und trivialen Lesestoffen kannte, erachteten es auch anspruchsvolle Dichter nicht für unter ihrer Würde, einem bürgerlichen Publikum Stoff zur geistvollen Unterhaltung zu bieten. Gerade Mörikes Erzählungen belegen mustergültig, dass Unterhaltsamkeit und tiefere Bedeutung, vergnüglicher Genuss und ästhetische wie psychologische Vielschichtigkeit einander keineswegs ausschließen. Für eine erste grobe Einteilung dieser sechs Werke, von denen die eine Hälfte in die dreißiger, die andere in die fünfziger Jahre gehört, scheinen sich die Gattungsbezeichnungen Märchen und Novelle anzubieten, wobei Der Schatz, Der Bauer und sein Sohn, Die Hand der Jezerte und Das Stuttgarter – 288 –
10. Die Erzählungen der dreissiger Jahre
Hutzelmännlein unter die erstere, Lucie Gelmeroth und Mozart auf der Reise nach Prag unter die letztere zu subsumieren wären. Doch bei solchen Zuordnungen ist Vorsicht geboten. Der Schatz beispielsweise wurde von Mörike im Untertitel zuerst als Märchen, später aber als Novelle deklariert, und die Jezerte-Erzählung müsste man nach Ton und Gehalt eher eine Legende nennen. Überdies nimmt das Märchenhafte bei Mörike von Fall zu Fall sehr unterschiedliche Gestalten an, und auf der anderen Seite schloss der äußerst weit gefasste biedermeierliche Novellenbegriff die verschiedensten Spielarten der Erzählprosa ein – sogar der voluminöse Maler Nolten wurde als „Novelle“ publiziert! So weist das erzählerische Werk des Dichters trotz seines verhältnismäßig schmalen Umfangs eine erstaunliche Fülle von Formen, Stilen und Themen auf, die jede schlichte Rubrizierung fragwürdig erscheinen lässt. Ein solcher Facettenreichtum entsprach Mörikes ästhetischem Ideal der Mannigfaltigkeit, das uns bereits im Zusammenhang mit seiner Gedichtsammlung begegnet ist. Es klingt auch im Titel des Bändchens „Iris“ an, das er 1839 publizierte und das neben dem Opernlibretto Die Regenbrüder und dem Orplid-Zwischenspiel aus Maler Nolten die Erzählungen Der Schatz, Lucie Gelmeroth und Der Bauer und sein Sohn enthielt: Der Name der griechischen Göttin des Regenbogens sollte, wie der Autor im Vorwort schrieb, „bunte Unterhaltung“ versprechen (7, S. 205). Gleichwohl lassen sich auch einige gemeinsame Charakteristika von Mörikes Erzählungen ausmachen, die im Folgenden nach und nach zur Sprache kommen werden. Die auffälligste Eigentümlichkeit seines Prosawerks sei hier aber schon vorweggenommen, nämlich die Vorliebe für eine lockere, episodenhafte, durch mancherlei Einschübe und Rückblenden gekennzeichnete Komposition. In einem Brief an Vischer warf Mörike sogar die Frage auf, ob man nicht berechtigt wäre, neben dem eigentlichen Roman und der Novelle, ein besonder Genre aufzustellen, das, ohne auf höchste Nothwendigkeit im innern Organischen Anspruch zu machen, doch in der Stellung und Ausdehnung der sinnlichen Theile sich einiger Symmetrie befleißend, – eine anspruchslose, für sich interessante Geschichte als den Träger einiger gleichfalls für sich interessirenden durch schwächere Motive mit der Fabel verknüpften Ideen gebrauchte. (11, S. 281)
Diese Überlegungen sind für das Verständnis seines eigenen erzählerischen Verfahrens durchaus hilfreich; mit Novellentheorien, die eine „unerhörte Begebenheit“ fordern (Goethe), einen „Falken“ als zentrales – 289 –
10. Die Erzählungen der dreissiger Jahre
Dingsymbol verlangen (Heyse) oder die Novelle als vermeintliche „Schwester des Dramas“ auf einen straffen Spannungsaufbau verpflichten (Storm), ist es dagegen nicht zu erfassen. Der Verzicht auf eine strenge, gleichsam tektonische Organisation des Stoffes darf indes – wie schon im Falle des Maler Nolten – nicht mit Formlosigkeit verwechselt oder gar auf eine sträfliche Nachlässigkeit des Verfassers zurückgeführt werden. Mörikes Erzählungen weisen, wie sich bei näherer Analyse zeigt, ein ebenso komplexes wie subtiles Strukturgefüge auf und stellen gewiss keine Produkte einer naiven Fabulierfreude dar, die sich nicht zu zügeln wusste.
Gesprächstherapie und Geschlechterrollen: Lucie Gelmeroth Anfang 1833 fragte der Leipziger Brockhaus-Verlag, der durch Maler Nolten auf den schwäbischen Dichter aufmerksam geworden war, über Gustav Schwab bei Mörike an, ob er für den nächsten Band des Taschenbuchs „Urania“ eine Novelle liefern könne. Diese Einladung war als Auszeichnung zu verstehen, denn die „Urania“, in der beispielsweise Erzählungen von Tieck, Eichendorff und Auerbach erschienen, gehörte zu den erfolgreichsten Periodika der Zeit. Mörike wollte sich die Chance auch nicht entgehen lassen und begann zügig mit der Arbeit an einem neuen Erzählprojekt, das sich jedoch wider Erwarten immer weitläufiger entwickelte und bald den vorgesehenen Rahmen sprengte (was den Autor nicht davon abhielt, weiterhin von einer „Novelle“ zu sprechen): Es handelte sich um jenes Werk über eine „religiöse Idee“ (12, S. 27), das möglicherweise den Titel Die geheilte Phantastin tragen sollte. Der Dichter beabsichtigte nun, dieses Vorhaben als „selbständiges Werk“ weiterzuverfolgen (S. 27), wollte aber auch Brockhaus nicht leer ausgehen lassen und beschloss deshalb, wie er Schwab am 4. Mai mitteilte, „ein kleines Fragment“ aus dem größeren Zusammenhang herauszulösen, „das sich recht wohl für die Urania als e. Ganzes qualifizirt, da es in der Novelle selbst nur als eine skizzirte Zwischen-Erzählung erscheint“ (S. 28). Welche Rolle diese „Zwischen-Erzählung“ ursprünglich im weiteren Kontext von Mörikes Projekt hätte spielen sollen, lässt sich nicht mehr ermitteln. Im Herbst wurde sie unter dem Titel Miß Jenny Harrower und mit dem bescheidenen Zusatz „Eine Skizze“ in „Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1834“ veröffentlicht. Bei den Rezensenten fand die kleine Erzählung, die ihnen allzu belanglos vorkam, wenig Anklang. Den kritischen Hinweis, dass „die – 290 –
Gesprächstherapie und Geschlechterrollen: Lucie Gelmeroth
ganze Darstellung der gerichtlichen Verhandlungen […] die offenbarste Unkenntniß des englischen Brauches“ verrate1, nahm Mörike sich zu Herzen, als er das Werk einige Jahre später für die „Iris“ überarbeitete, wo es dann als „Novelle“ firmierte: Wie schon der neue Titel Lucie Gelmeroth zu erkennen gibt, verlegte er das Geschehen in vertrautere Gefilde, und an die Stelle des englischen Geistlichen trat als Ich-Erzähler ein deutscher Gelehrter. Weitere und inhaltlich bedeutsamere Veränderungen erfuhr der Text 1856 beim Wiederabdruck in dem Bändchen „Vier Erzählungen“. Mörike kürzte hier unter anderem die Ausführungen zu den seelischen Nöten und der religiösen Überspanntheit der Titelheldin, die in den früheren Versionen noch stärker die Herkunft aus dem Umkreis des neuen Romanvorhabens verraten.2 Auf diese letzte Fassung, die von allen gängigen Werkausgaben zugrunde gelegt wird, beziehen wir uns im Folgenden. Ein nur flüchtig angedeuteter Erzählrahmen präsentiert die Geschichte von Lucie Gelmeroth als Auszug aus den (fiktiven) „noch ungedruckten Denkwürdigkeiten“ eines Gelehrten (6.1, S. 13), der als Student bei einem Ferienaufenthalt in seiner Heimatstadt in die Geschehnisse um die vermeintliche Mörderin verwickelt wurde. Was er in der Rückschau aus der Ich-Perspektive berichtet, mutet auf den ersten Blick wie eine Detektivgeschichte an – immerhin gibt es da einen mysteriösen Todesfall, eine verdächtige Unschuldige und nicht zuletzt die glückliche Aufklärung der rätselhaften Zusammenhänge. Und doch führt eine solche Gattungszuschreibung in die Irre. Ein Verbrechen liegt ja eigentlich gar nicht vor, denn der treulose Liebhaber von Lucies verstorbener Schwester ist, wie sich herausstellt, „im ehrlichen Zweikampf gefallen“ (S. 25). Vor allem aber erfolgt die Aufdeckung der Hintergründe ohne jedes aktive Zutun des Erzählers, dem Lucie von sich aus bereitwillig die ganze Wahrheit eröffnet und der obendrein unmittelbar nach dieser Unterredung erfährt, dass „das Gericht in Sachen Luciens Gelmeroth seit gestern schon auf sicherem Grunde sey“ (S. 27). Seine Aufgabe ist es also nicht, ein kriminalistisches Rätsel zu lösen, sondern Lucies seelische Verstrickungen zu verstehen; er hat sie nicht aus der Haft, sondern von ihren Obsessionen zu befreien und betätigt sich eher als Psychologe und Therapeut denn als Detektiv. Bei seinem Besuch im Gefängnis trifft er die junge Frau in einer fatalen Isolation und Verstörung an, und selbst ihre Erklärung vor Gericht, zu der er sie überredet, und ihre anschließende Freilassung ändern daran nicht viel: – 291 –
10. Die Erzählungen der dreissiger Jahre
Jetzt aber forderte der Zustand ihres Innern die liebevollste, zärteste Behandlung. Sie glaubte sich entehrt, vernichtet in den Augen der Welt, als Abenteurerin verlacht, als Wahnsinnige bemitleidet. Fühllos und resignirt that sie den unfreiwilligen Schritt in’s menschliche Leben zurück. Die Zukunft lag wie eine unendliche Wüste vor ihr, sie selbst erschien sich nur eine leere verächtliche Lüge; sie wußte nichts mehr mit sich anzufangen. (S. 28)
Mit der Zeit erst gelingt es dem Erzähler als freundschaftlichem Mentor, diese seelische Verödung zu überwinden und Lucie ins Leben und – als seine Ehefrau – in die Gesellschaft zurückzuführen. Als Medium des Heilungsprozesses fungiert das Gespräch, dessen zentrale Bedeutung für Mörikes gesamtes Prosawerk Horst Steinmetz herausgestellt hat: „Nur als Redender und Hörender beweist sich bei Mörike der Mensch in seiner Humanität. Wo das Gespräch verstummt, hört er auf, Mensch zu sein. Und umgekehrt: wo das Gespräch aufgenommen wird, ist man auf dem Weg zu Glück und Menschlichkeit.“3 Gesellschaft ist für Mörike primär ein Kommunikationszusammenhang. Dementsprechend drückt sich Lucies Verirrung in völligem Verstummen aus – nach ihrer Gefangensetzung hüllt sie sich „in hartnäckiges Schweigen“ (S. 17) –, und ebenso folgerichtig führt der Weg der Genesung über die Wiederbelebung der Kommunikation, erst im vertraulichen Gespräch mit dem Jugendfreund, dann in ihrer Eröffnung vor der Gerichtsbehörde, schließlich im Kreise der Familie des Dorfpfarrers, der sich ihrer annimmt, und in den Tagebuchberichten, die Lucie ihrem Beschützer und späteren Ehemann regelmäßig zuschickt – so wird der Austausch auch über die Entfernung hinweg aufrecht erhalten. Woraus erklärt sich nun Lucies Verstörung, die sie vorübergehend aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließt und dem Wahnsinn nahe bringt? Die Ursachen sind in der Diskrepanz zwischen ihrem Verhalten und dem zeitgenössischen Bild idealer Weiblichkeit zu suchen. Die verwaisten, unverheirateten Schwestern Gelmeroth benehmen sich zunächst ganz rollenkonform, wenn sie ihre Existenz „durch feine weibliche Handarbeit“ fristen und „zufrieden und stille“ in einem zurückgezogenen „Winkel des genügsamsten Glücks“ leben (S. 14). Aber schon bald nach dem Auftreten des Offiziers Richard Lüneborg, der um Anna, die Ältere, wirbt, gerät Lucie in ein gewisses Zwielicht, da das vertrauliche Dreiecksverhältnis, wie der referierende Ich-Erzähler diplomatisch formuliert, „der Natur der Sache nach, in die Länge so harmlos nicht bleiben“ kann und Anna „in ihrer Schwester eine Nebenbuhlerin zu fürchten“ beginnt (S. 15). – 292 –
Gesprächstherapie und Geschlechterrollen: Lucie Gelmeroth
Damit deutet sich bereits an, dass von der Jüngeren eine beträchtliche erotische Anziehungskraft ausgeht, die in geordneten zwischenmenschlichen Beziehungen Verwirrung stiften kann. Zwar wird der drohende Konflikt hier noch entschärft, doch nach Richards Verrat und dem Tod der völlig gebrochenen Anna treten bei Lucie Seelenregungen zutage, die dem Klischee vom sanften und milden weiblichen Gemüt schroff widersprechen. Gegenüber dem jungen Paul Wilken, der Anna heimlich geliebt hat, entfallen ihr, „sie weiß nicht wie, die lebhaften Worte: ‚Räche die Schwester, wenn du ein Mann bist!‘“ (S. 24). Das Duell, das Richard das Leben kostet, ist die unmittelbare Folge dieses Appells. Für einen Moment werden hier die Konturen einer fast dämonischen Frauengestalt sichtbar, die ohne weiteres aus einer griechischen Tragödie oder einem Drama Shakespeares stammen könnte. Aber der Preis für die Erfüllung des aus dem Unbewussten aufsteigenden leidenschaftlichen Racheverlangens besteht in massiven Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen – wir kennen eine solche Krise eines weiblichen Gemüts schon von der Gräfin Constanze in Maler Nolten! In ihrer Gewissenspein betrachtet sich Lucie „als Mörderin im eigentlichen Sinn“ (S. 25) und geht, des Lebens müde und in Sehnsucht nach der verstorbenen Schwester, mit Selbstmordgedanken um. Weil sie vor deren Sündhaftigkeit jedoch wiederum zurückschreckt, verfällt sie auf den Ausweg, öffentlich die Verantwortung für Lüneborgs Tod auf sich zu nehmen und „zur Sühnung der Blutschuld“ ihr Leben auf dem Schafott hinzugeben. Dass in diesem Plan „ein großer Selbstbetrug versteckt“ ist (S. 26), betont der Erzähler ganz zu Recht, denn ein willkommener, ja ersehnter Tod kann schwerlich als Zeichen wirklicher Reue gelten. Lucies exaltierte Haltung zeugt eher von raffinierter Ich-Bezogenheit als von einem echten Willen zur Buße. Die Katharsis beginnt aber bereits vor dem Eintreffen des Erzählers, der Lucies Schilderung der Ereignisse entnimmt, dass sie „inzwischen selbst schon angefangen hatte, das Unhaltbare und Verkehrte ihrer Handlung einzusehen“ (S. 26). Wie sie dann mit Hilfe des Gesprächs behutsam aus ihrer Isolation herausgeführt wird, haben wir weiter oben erörtert. Doch in diesem Zusammenhang rücken aufs Neue die Geschlechterverhältnisse in den Fokus der Aufmerksamkeit. Lucies Gesprächspartner sind nämlich durchweg Männer oder – wie das Gericht – männlich geprägte Instanzen der Gesellschaft, und von Dialogen zwischen Gleichberechtigten kann dabei keine Rede sein; vielmehr hat sich die Frau den Männern rückhaltlos zu offenbaren und damit auch unterzuordnen. Was Lucie in der Unterredung mit dem Ich-Erzähler begonnen hat, soll sie – 293 –
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fortsetzen, indem sie dem Gericht ebenfalls „ungesäumt die ganze, reine Wahrheit“ sagt (S. 26). „Bekennen Sie!“, rät (oder befiehlt?) ihr der Jugendfreund beim Abschied in der Zelle – eine merkwürdige Formulierung, da die im juristischen Sinne völlig unschuldige Lucie im Grunde ja gar nichts zu bekennen hat. Gemeint ist aber, dass sie ihr trotziges Schweigen brechen und mit der Anerkennung der Autorität des Gerichts den ersten Schritt zurück in die patriarchalische Ordnung der Gesellschaft tun soll. Dieser Aspekt ist bei Lucies ‚Geständnis‘ der entscheidende, denn für die Ermittlung des Tathergangs sind ihre Eröffnungen belanglos, weil „die Herren“ vom Gericht ohnehin schon seit dem Vortag im Wesentlichen Bescheid wissen und zudem anscheinend ihr vertrauliches Gespräch mit dem Freund belauscht haben (S. 27). Auch im weiteren Verlauf der Handlung geht Lucies fortschreitende kommunikative und soziale Reintegration mit einer Unterwerfung unter männlich dominierte Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse einher. Ein „würdiger Dorfpfarrer“, der mit seiner Familie „ein ächtes Patriarchenleben“ führt (S. 28), übernimmt ihre Pflege, und wie wir bereits gehört haben, macht sie es sich in dieser Zeit „zur Pflicht“, ihrem Mentor „in einer Art von Tagebuch […] von Allem und Jedem, was sie betraf, getreue Rechenschaft zu geben“. Das Tagebuch dient hier also nicht etwa als Medium weiblicher Selbstvergewisserung, sondern als Instrument der Rechenschaftslegung gegenüber dem Mann, der auf diese Weise „das innere sittliche Leben des Mädchens“ bis in den letzten Winkel kennenlernt. Und als Lucies „segensreiche, liebliche Entwicklung“ abgeschlossen ist, macht er sie zu seiner Gattin (S. 29): Die Rückkehr in die gesellschaftliche Ordnung fällt mit der endgültigen Übernahme der bürgerlichen Frauenrolle in eins. Was vorhin als gelingende Heilung bezeichnet wurde, kann man ebenso gut als eine erfolgreiche Domestizierung und Disziplinierung der Frau ansehen.4 Ausgespart haben wir bei den bisherigen Überlegungen die eingeschobene Episode aus der Kindheit des Erzählers. Diese handlungstechnisch überflüssige Rückblende, die sogar ausdrücklich als bloßes retardierendes Moment vor der „Auflösung der wunderbaren Geschichte“ eingeführt wird (S. 18), könnte zunächst wie eine belanglose Abschweifung wirken, entpuppt sich unter dem Gesichtspunkt der psychologischen Thematik jedoch als eine Schlüsselpassage der Novelle, die mit feinen Fäden an die Gegenwartshandlung geknüpft ist. Auch in der Kindheitsepisode geht es um die Geschlechterrollen in der bürgerlichen Welt und um ihre mögliche Störung, die in poetischen Bildern inszeniert werden. – 294 –
Gesprächstherapie und Geschlechterrollen: Lucie Gelmeroth
Eine solche Inszenierung im Wortsinne stellt das Theaterstück dar, das die Kinder zu Ehren der Herzogin aufführen wollen und das als spielerische, exotisch stilisierte Einübung in geschlechtsspezifische Rollenmuster erscheint, wenn der Ich-Erzähler als Sultan, Lucie dagegen als eine durch „Tugend“ und „hohen Glauben“ ausgezeichnete demütige „Christensklavin“ auftritt (S. 20). Wie wenig die Kinder aber im wirklichen Leben den entsprechenden Erwartungen schon gerecht werden, zeigt sich, als ein Unwetter die Theateraufführung unterbricht: Im Angesicht der Gefahr wirkt der Junge geradezu kläglich hilflos, während Lucie sich als „muthig und resolut“ und überdies als „gescheidter“ erweist und ihm sein „kindisches Betragen“ vorhält (S. 21). Der unfreiwillige gemeinsame Ritt der beiden auf dem wildgewordenen Pferd ist weit mehr als eine amüsante Anekdote, lässt er sich doch als szenische Metapher für ihre „erotische Initiation“ interpretieren.5 Man kann dabei an Sigmund Freud denken, der „das Verhältnis des Ichs zum Es“, also zu den unbewussten triebhaften Regungen der Seele, „mit dem des Reiters zu seinem Pferd“ vergleicht: „Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten. Aber zwischen Ich und Es ereignet sich allzu häufig der nicht ideale Fall, daß der Reiter das Roß dahin führen muß, wohin es selbst gehen will.“6 Eben dieser „nicht ideale Fall“ wird in der Jugendepisode von Lucie Gelmeroth ins Bild gesetzt, wenn das Pferd die Kinder bei Sturm und Regen „von Stadt und Menschen fort“ in das „Labyrinth“ des nächtlichen Parks trägt. „[D]em tollen Muthe dieser Bestie unwiderstehlich preisgegeben“, vergeht der Junge schier vor Angst, während Lucie die „verzweifelte Lage“ beinahe „komisch“ zu finden scheint, „wenn anders nicht ihr lautes Lachen krampfhaft war“ (S. 21). Ein Licht verkündet endlich die nahe Rettung, und das handfeste Eingreifen eines erwachsenen Mannes sorgt umgehend wieder für geordnete Verhältnisse. In der Handlungsgegenwart der Novelle nehmen die beiden Hauptfiguren eine ganz andere Stellung zueinander ein, die den gesellschaft lichen Konventionen weit eher entspricht, denn jetzt ist es der Mann, der als Erforscher und Erzieher der Frau den souveränen, überlegenen Part spielt. Die neue Hierarchie manifestiert sich auch darin, dass er die Geschichte vermittelt, indem er in die Rolle des Erzählsubjekts schlüpft und Lucies Schicksal zum Gegenstand seiner Darstellung macht. Aber die Relation zwischen Rückblende und Haupthandlung erschöpft sich nicht in einem schlichten Kontrast. Wir müssen hier an das Nachspiel – 295 –
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anknüpfen, das die verunglückte Theateraufführung der Kinder hat. Bei einer bescheideneren Wiederholung des Stückes im elterlichen Haus des Erzählers gerät Lucie – zu Unrecht, wie sich später ergibt – in den Verdacht des Diebstahls, der ihre Anziehungskraft in den Augen ihres Freundes jedoch nur noch verstärkt: Merkwürdig, obwohl in Absicht auf das undurchdringliche Gewebe verkehrter Leidenschaft und feiner Sinnlichkeit, wie sie bereits in Kinderherzen wirkt, zu meiner Beschämung merkwürdig, ist mir noch heute der reizende Widerstreit, welchen der Anblick der schönen Diebin in meinem Innern rege machte. Denn wie ich mich zwar vor ihr scheute und nicht mit ihr zu reden, viel weniger sie zu berühren wagte, so war ich gleichwohl mehr als jemals von ihr angezogen, sie war mir durch den neuen, unheimlichen Charakterzug interessanter geworden, und wenn ich sie so von der Seite verstohlen ansah, kam sie mir unglaublich schön und zauberhaft vor. (S. 23)
Schon als Kind war der Erzähler also für jenen zugleich „unheimlichen“ und pikanten erotischen Reiz empfänglich, der dem Sündigen, Verbotenen anhaftet und der beispielsweise auch die Gestalt der Peregrina umgibt! Die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts hielt große Stücke auf die vermeintliche Reinheit des Kindesalters, und in Mörikes Werken wird diese Zeit häufig ebenfalls als ein paradiesisches Reich der Unschuld und der ungebrochenen Einheit des Menschen mit sich selbst beschworen. Dagegen zeigt die zitierte Passage aus Lucie Gelmeroth, die eine ungemein modern anmutende Psychologie kindlicher Gefühlsregungen skizziert, dass dem Dichter auch ganz andere Seiten der Kindheit wohlvertraut waren. Nicht überlesen sollte man nun die scheinbar beiläufige Bemerkung, mit der nach der Episode um das verschwundene Schmuckstück wieder zur Gegenwartshandlung übergeleitet wird: „Diese und ähnliche Scenen rief ich mir in jener unruhigen Nacht zurück und hatte mehr als Eine bedeutsame vergleichende Betrachtung dabei anzustellen“ (S. 23). Was mag der Inhalt dieser ‚vergleichenden Betrachtungen‘ sein, über die sich der Erzähler bezeichnenderweise nicht weiter auslässt? Eine Parallele mehr äußerlicher Art zwischen den Kindheitserlebnissen und dem aktuellen Geschehen ist mit Händen zu greifen, denn im einen wie im anderen Fall wird Lucie eines Vergehens verdächtigt. Doch liegt es nahe, die Analogie, der jene unausgesprochenen Reflexionen gelten, auch auf die erotisch gefärbte Lockung des Sündhaften und Verbotenen auszudehnen. – 296 –
Gesprächstherapie und Geschlechterrollen: Lucie Gelmeroth
Hätte der erwachsen gewordene Erzähler wohl jemals seine Liebe zu Lucie entdeckt, wenn die Freundin bei seiner Rückkehr in die Heimatstadt nicht gerade wieder von der schillernden Aura einer vermeintlichen Schuld umgeben gewesen wäre? Die früheren Fassungen der Novelle stellen seine mit Angst gemischte Faszination sogar noch um einiges deut licher heraus, indem sie den Erinnerungen aus der Kindheit einen verstörenden Traum folgen lassen. Dessen Schilderung sei hier im Wortlaut des „Urania“-Drucks wiedergegeben, in dem Annas ungetreuer Verehrer noch Geoffry Whisket heißt: Bald war ich mit der kleinen Kaufmannstochter im Hof und Garten unserer Ältern, wir flochten Kränze, sie weinte dabei und wollte nicht sagen warum; bald sah ich sie bei Geoffry Whisket’s Leiche, wie sie die Kinderhände in einem nahen Bassin vom frisch vergossenen Blute reinigte. Darauf kam sie im weißen Armesünderkleide auf mich zu unter einer ungeheuern Menge von Menschen und flüsterte mir mit sonderbarem Lächeln ins Ohr: Befiehl, daß diese Leute zu Stein werden, so entflieh’ ich mit dir und bin deine Frau. Aber im selben Augenblick erstarrte sie selber zu Stein und sah vollkommen aus wie eine der kleinen Statuen, die in dem Garten meines Vaters die vier Jahreszeiten vorstellten und an deren einer sich der Kopf hin- und herdrehen und abnehmen ließ. Diese grausenhafte Verwandlung des Kindes ergriff mich dergestalt im Traum, daß ich auf der Stelle erwachte. (6.2, S. 35)
Eine Person, die so stark mit Tod und Eros gleichermaßen assoziiert wird, taugt freilich nicht zur bürgerlichen Gattin. Die abschließende Heirat und das Eheglück des Mannes setzen daher einerseits die ‚Genesung‘ Lucies in dem oben erörterten Sinne, andererseits aber auch eine innere Entwicklung des Erzählers voraus, der seiner Vorliebe für die zwielichtige Atmosphäre des Sündigen und Geheimnisvollen entsagen muss. An jener Frau, deren „innere[s] sittliche[s] Leben“ wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm liegt (6.1, S. 29), haftet nichts Rätselhaftes und Beunruhigendes mehr, und gerade deshalb kann ein reifer bürgerlicher Mann sie guten Gewissens ‚heimführen‘. Lucie Gelmeroth entwirft auf wenigen Seiten ein verblüffend komplexes Bild seelischer Verwicklungen, deren abschließende Auflösung in ein sehr ambivalentes Licht getaucht wird. Dabei eröffnet die Erzählung ungewohnte Perspektiven auf die bürgerlichen Geschlechterkonventionen, die dem Leser ein kritisches Nachdenken nahelegen. Eine „unbedeutende Kleinigkeit“, wie ein zeitgenössischer Rezensent meinte7, ist diese vielschichtige psychologische Novelle sicherlich nicht. – 297 –
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Geselliges Erzählspiel: Der Schatz Mörikes zweite Erzählung entstand im Zusammenhang mit dem „Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten“, das 1834 geplant wurde und für das er schließlich gemeinsam mit Wilhelm Zimmermann als Herausgeber die Verantwortung übernahm. Anfangs wollte er zwar gar keinen eigenen Beitrag liefern: „Ich werde für dießmal nichts in die Sammlung geben“ (12, S. 63), teilte er Vischer im April mit. Im Laufe des Jahres muss dann aber doch Der Schatz niedergeschrieben worden sein, der schließlich in dem Band seinen Platz fand; am 4. März 1835 hatte Mörike jedenfalls ein „Mährchen“ fertig (S. 77). Das „Jahrbuch“, das über diesen einen Jahrgang nicht hinauskommen sollte, erschien im Herbst, vordatiert auf 1836. Es enthielt neben dem Schatz noch zwei Gedichte Mörikes – Das Bacchusfest und Erstes Liebeslied eines Mädchens – sowie zwei pseudonym publizierte Novellen Vischers und eine ganze Reihe lyrischer Werke anderer Verfasser. Mörike benutzte für die Erzählung einige Textpartien, die ursprünglich in den Zusammenhang seines unvollendeten zweiten Romans gehörten. So findet sich die kuriose Begegnung mit dem elfischen Feldmesser, die Franz Arbogast auf dem Grauen Schlösslein erlebt, schon in den Materialien zu diesem Projekt8, für das auch die bereits 1828 verfasste Ballade vom König Milesint vorgesehen war9, die Josephe dann am Ende der Urfassung von Der Schatz vor der versammelten Gesellschaft im Gasthaus vorträgt. Beim Wiederabdruck des Werkes in seinem Bändchen „Iris“ strich Mörike die Ballade allerdings, die inzwischen unter dem Titel Die traurige Krönung Eingang in seine Gedichtsammlung gefunden hatte. Die „Vier Erzählungen“, auf deren Version wir uns hier stützen, präsentieren dafür das abschließende Gespräch der geselligen Runde über Arbogasts Geschichte in einer etwas erweiterten Fassung. Überdies führt Der Schatz jetzt den Untertitel „Novelle“, während er im „Jahrbuch“ und in der „Iris“ noch als „Mährchen“ deklariert wurde. Der eigentümliche Umgang des Textes mit der Kategorie des Wunderbaren und der Frage von Fiktionalität und Wahrheit dürfte es dem Autor schwer gemacht haben, eine wirklich adäquate Gattungsbezeichnung zu finden. Auf den ersten Blick folgt die Geschichte des jungen Goldschmiedegesellen Franz Arbogast, der nach allerlei Abenteuern endlich mit seiner geliebten Josephe vereint wird und außerdem beruflichen Erfolg und gesellschaftliches Ansehen erringt, ganz dem bekannten Schema des Glücksmärchens. Der sympathische, aber auch ein wenig unbedarfte Protagonist ist eben im wörtlichen Sinne ein Sonntags-, mehr noch: ein – 298 –
Geselliges Erzählspiel: Der Schatz
Osterkind, dem „nach mancher Prüfung ein selten Glück beschieden“ ist (6.1, S. 81), ein beneidenswerter Günstling des Schicksals also, das ihn sicher durch alle Fährnisse leitet. Als Garantin dieser wohlwollenden Vorsehung erscheint die Freifrau Dorothea Sophia von Rochen, an deren Stelle nach ihrem Tod ihr Bruder Marcell tritt. Ausgestattet mit der „Gabe der Weissagung“ (S. 87), hat sie jenes Bändchen mit dem Titel „Schatzkästlein“ verfasst, das ihrem Schützling seinen Lebenslauf buchstäblich vorschreibt. Deshalb muss der gute Franz auch weder große Klugheit noch heroische Tapferkeit beweisen; seine Tugenden bestehen vielmehr in einer lobenswerten Passivität und dem unbeirrbaren Vertrauen auf „das wunderbare Schicksal, unter dessen Leitung ich stand“ (S. 42). In der Gewissheit, dass eine „höhere Hand“ alles zum Besten wenden wird, verzichtet er sogar in kritischen Situationen weise auf „jede eigene Geschäftigkeit und Sorge“ (S. 59). So kann die Erzählung geradezu als heiterer Gegenentwurf zu Mörikes Roman Maler Nolten verstanden werden, dessen Figuren sich von einem fatalen Verhängnis verfolgt wähnen, das sie unbarmherzig in den Abgrund zieht. Der Kontrast zeigt sich auch in der Art und Weise, wie der Dichter im Schatz sein Lebensthema von Untreue und Liebesverrat variiert. Zwar ist die im historischen Rückblick dargebotene Binnengeschichte von Frau Irmel und ihrem betrogenen Gatten Veit von Löwegilt ausgesprochen düster: Die Treulose, auf frischer Tat ertappt, begeht im Kerker Selbstmord und muss ihren Frevel noch jenseits des Grabes als ruheloser Geist büßen. Doch mit dem idealen Paar Franz und Josephe zeichnet der Text ein lichtes Kontrastbild zu der unglücklichen Ehe der Löwegilts, zumal die beiden dazu bestimmt sind, Irmels Vergehen zu sühnen und das Gespenst zu erlösen, so dass sich am Ende eine umfassende Harmonie einstellt. Allerdings hat Mörike das Problem des Liebesverrats im Schatz auch rigoros vereinfacht und ihm damit jene schillernde Zweideutigkeit genommen, die beispielsweise die Faszinationskraft der Peregrina-Gedichte ausmacht, denn da sich das Geschehen hier im festen Rahmen einer patriarchalischen Ordnung abspielt, deren Werte und Normen nie in Zweifel gezogen werden, stehen Veits Recht und Irmels Schuld für den Leser wie für die Protagonisten völlig außer Frage. Ganz ähnlich liegen die Dinge übrigens noch in der motivisch eng verwandten späten Ballade Der Schatten, die der Dichter ausdrücklich als „eine Variante der Irmelsgeschichte im Schatz“ bezeichnete (16, S. 249). Aber obwohl das typische Verlaufsmuster des Glücksmärchens im Schatz sofort ins Auge fällt, ist der Märchencharakter des Werkes doch – 299 –
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nicht so eindeutig, wie man zunächst glauben könnte. Die entscheidende Frage, ob bei den Vorgängen, von denen der mittlerweile zum Hofrat avancierte Arbogast rückblickend berichtet, wirklich höhere Mächte im Spiel waren, lässt sich nämlich nicht beantworten, weil Mörike sämtliche Begebenheiten, die einen Einfluss des Übernatürlichen zu verraten scheinen, in ein Zwielicht hüllt, das letztlich kein klares Urteil über sie gestattet. War zum Beispiel der Wegweiser auf der öden Heide tatsächlich verzaubert, oder könnte der Wanderer, dem er einen solchen Schrecken einjagte, nicht einfach „ein bischen beschnapst gewesen seyn“ (6.1, S. 47)? Für die gespenstische Begegnung des jungen Franz mit der Fee Briscarlatina, der personifizierten Scharlachkrankheit, wird in einer gelehrten Fußnote eine wissenschaftliche Erklärung geliefert, nach der diese Vision bloß der „fieberhafte Vorbote“ seiner „bereits erfolgten Ansteckung“ war (S. 72), und ob er das Gespräch mit dem zappelfüßigen Feldmesser und das nächtliche Fest der Waidfeger „wachend oder schlafend“ erlebt hat (S. 63), vermag nicht einmal Arbogast selbst zu entscheiden. Weil der Leser zudem das Liebesglück und den beruflichen Erfolg des Helden ebenso gut einer bloßen Verkettung günstiger Zufälle wie einer zauberischen Fügung zuschreiben kann, bleibt er immer im Zweifel, ob er die Erzählung nun als (realistische) Novelle oder aber als Märchen zu lesen hat, in dem wundersame Kräfte wirksam sind. Diese Ungewissheit wird schon frühzeitig heraufbeschworen, wenn der einleitende Abschnitt eine „Geschichte“ ankündigt, die Arbogast zum Besten geben will – ist damit seine authentische Lebensgeschichte oder eine von ihm ersonnene Erzählung und folglich ein Produkt der Phantasie gemeint? Überdies warnt er seine Zuhörer bereits im Voraus, „daß man Unglaubliches zu hören bekommen und sich am Ende ganz gewiß bitter beklagen würde, als wenn er sie mit einem bloßen Kindermärchen hätte abspeisen wollen“ (S. 33), und noch der Schlusskommentar seiner Frau lässt alles in der Schwebe: „Sie dankte ihrem Manne sehr anmuthig für alle das Schöne und Gute, das er ihr angedichtet, bestätigte jedoch, daß er im Ganzen keineswegs ein Märchen erzählt habe“ (S. 95). Auffälligerweise stört der Mangel an Klarheit über den Status von Arbogasts „Geschichte“ niemanden in der geselligen Runde – abgesehen von jenem „treuherzigen Schweizer“, der ganz verdutzt ist, als er mittendrin plötzlich zu bemerken glaubt, dass man es gar nicht mit einer reinen „Fabel“, sondern mit einem Tatsachenbericht zu tun hat (S. 86f.). Wahrheitstreue als verbindlicher Maßstab des Erzählens wird ohnehin von vornherein suspendiert, wenn „einige Damen“ auf die vorsorglichen – 300 –
Geselliges Erzählspiel: Der Schatz
arnungen des Hofrats mit dem launigen Zuruf reagieren: „Nur zu! nur W angefangen! […] wir sind nicht allzu scrupulös, und die Kritik, wer Lust zu zweifeln hat, steht nachher Jedem frei“ (S. 33f.). Die versammelte Gesellschaft hält später zwar in der Tat noch eine „kleine Discussion über Wahrheit und Dichtung in dem erzählten Abenteuer“ ab (S. 94), geht jedoch schließlich auseinander, ohne ein eindeutiges Ergebnis erzielt zu haben oder dessen Fehlen als Nachteil zu empfinden. Bei alledem haben wir die größte Merkwürdigkeit der Erzählung noch gar nicht berührt, nämlich den Umstand, dass Arbogast seine Geschichte nicht einmal zu Ende bringt und sich rundheraus weigert, dem gespannt lauschenden Publikum auch „das letzte Capitel“ der Begebenheiten vorzutragen (S. 91). Ein Schluss aber muss her, damit man sich zufrieden geben kann und die „Imagination vor Schlafengehn“ zur Ruhe kommt: „Wir müssen absolut jetzt irgend einen Schluß, einen expressen Schluß bekommen, und wenn wir ihn uns selbst erzählen sollten“ (S. 92). Genau dies geschieht denn auch – oder besser gesagt: verschiedene Mitglieder der Gesellschaft bieten nacheinander zwei alternative Schlüsse an, von denen der eine dem Geist des Märchens verpflichtet ist, während der andere nüchtern und realistisch verfährt, indem er die von Arbogast aufgefundenen Schätze einem Räuber statt dem Elfenvolk der Waidfeger zuschreibt. Auf die erste dieser beiden Varianten, die von Cornelie stammt, reagiert der Hofrat lächelnd mit den Worten: „Sie haben in der That, bis auf einige Kleinigkeiten, meine Geheimnisse so artig errathen, daß ich mich, ganz im Ernst, darüber wundern muß und kein Bedenken trage, hiemit meine Geschichte für geschlossen zu erklären“ (S. 94). Dass sich sein vergangenes Leben tatsächlich so abgespielt habe, wie Cornelie es erzählte, sagt er damit nicht; die Wendung „meine Geschichte“ bleibt so doppeldeutig, wie sie es vorher auch gewesen ist. Der Eigenart von Mörikes Schatz wird man am ehesten gerecht, wenn man die Frage nach „Wahrheit und Dichtung“, die offenkundig eben nicht zu beantworten ist, beiseite lässt und die gesamte Unterhaltung der im Gasthof versammelten Runde als ein Spiel betrachtet, wie es in Mörikes Werk so häufig und in den unterschiedlichsten Formen begegnet: Ein geistvolles spielerisches Vergnügen zu bereiten, ist der Zweck der ganzen Veranstaltung. Arbogast präsentiert sich seiner Zuhörerschaft als virtuoser Regisseur einer Geschichte, die ein Spiel mit den Kategorien Wahrheit und Fiktion, Wirklichkeit und Traum treibt und deren Uneindeutigkeit gerade ihren größten Reiz ausmacht. Als erzähltes Ich mag er gutgläubig und passiv sein, aber als Erzähler beweist er eine bewunderns– 301 –
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werte Souveränität. Fungiert auf der Ebene der Geschehnisse die Freifrau von Rochen als ‚guter Geist‘, der das Schicksal des Helden lenkt, so steht der Erzähler Arbogast doch noch über ihr – als derjenige, der dieses Schicksal mitsamt der Rolle der Frau von Rochen narrativ konstruiert. Die Regeln des Erzählspiels werden zu Beginn durch Arbogasts Vorbemerkung und die Reaktion der „Damen“ einvernehmlich festgelegt. Dazu gehört insbesondere die schon erwähnte Aufhebung des in der Alltagskommunikation gemeinhin vorausgesetzten Wahrheitskriteriums. Nicht um den nüchternen Ernst einer Lebensgeschichte geht es hier und erst recht nicht um indiskrete Neugier der Zuhörer, die unbedingt Licht in das Dunkel von Arbogasts geheimnisumwitterter Vergangenheit bringen wollen, sondern um den Genuss, den das kunstvolle Erzählen einer ebenso spannenden wie heiteren Geschichte dem Publikum verschafft. Wenn die Verblüffung des braven Schweizers bei den übrigen Anwesenden „ein allgemeines, unauslöschliches Gelächter“ hervorruft (S. 87), so nicht etwa deshalb, weil er eine wahrheitsgetreue autobiographische Schilderung zunächst irrtümlich für bloße Fiktion gehalten hätte; er hat vielmehr das freie Spiel, das hier mit solchen Unterscheidungen getrieben wird, nicht begriffen und zieht daher verdientermaßen den Spott der ‚Eingeweihten‘ auf sich. Der Prototyp eines unsensiblen Rezipienten also, dem Leser als warnendes Exempel vorgehalten! Mörike selbst mokierte sich nach der Veröffentlichung seiner Erzählung über einen Kritiker, der den Kern des Ganzen nicht erfasst habe, nämlich „daß das Wunderbare nur scheinbar ist u. bloses Spiel“ (13, S. 100f.). Obwohl Arbogast als Initiator der Geschichte eine bedeutsame Rolle übernimmt, ist das Erzählspiel in Der Schatz, wie bereits angedeutet, doch kein monologisches, weil die Gegenüberstellung von Erzähler und Publikum sich zum Ende hin zunehmend auflöst, um einem mehrstimmigen Erzählen Raum zu geben. Den Anfang macht die Majorin, die auf Arbogasts Bitte „eine Schilderung der Frau von Rochen“ gibt (6.1, S. 87), die sie in ihrer Jugend noch persönlich gekannt haben will – natürlich wäre es müßig zu spekulieren, ob der Hofrat tatsächlich von einer realen Person gesprochen hat oder ob die Majorin lediglich einen Beitrag zum Spiel leistet, der sich kongenial in den von Arbogast aufgespannten Rahmen einfügt. Erst recht werden die Zuhörer zu aktiver Teilnahme aufgefordert, wenn der Erzähler ihnen den Schluss seiner Geschichte vorenthält. Dass der sich „im Wesentlichen […] von selbst ergibt“ (S. 92), ist freilich richtig, denn es bedarf ja nur der Kunst, die Fäden weiterzuspinnen und die verschiedenen Motive, die Arbogast ‚ins Spiel‘ gebracht hat – die Kette der – 302 –
Geselliges Erzählspiel: Der Schatz
Frau Irmel, die Krone der fürstlichen Braut, den verborgenen Schatz, die gestohlenen Dukaten –, sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Mustergültig gelingt dies Cornelie, die unter anderem die nach dem Schema von Schuld, Buße und Erlösung angelegte Irmel-Handlung zu einem stimmigen Ende führt. Jetzt wird auch das Kompliment des Hofrats für seine Erzählpartnerin vollauf verständlich: Die „Geheimnisse“, die sie „errathen“ hat, sind nicht etwa die Rätsel seines Lebensweges, sondern die inneren Gesetz mäßigkeiten der von ihm entworfenen narrativen Struktur. Guten Gewissens darf er nun seine „Geschichte für geschlossen […] erklären“ (S. 94). Ergänzungen und Alternativen sind allerdings sehr wohl denkbar, wie die anschließenden Bemerkungen des Forstmeisters zeigen, denn gerade wegen der in Arbogasts Erzählung so konsequent durchgehaltenen Balance zwischen dem Wunderbaren und den vertrauten Naturgesetzen kann man durchaus unterschiedliche Schlüsse ersinnen, die jeweils für sich plausibel klingen, in ihrem Neben- und Gegeneinander aber jene Balance wiederum aufrecht erhalten. Dank seiner komplexen Rahmenkonstruktion ist Mörikes Schatz kein schlichtes Glücksmärchen, sondern in erster Linie eine Erzählung über das Erzählen – und zwar über das Erzählen als artifizielles Spiel. Diese selbstreflexive Dimension des Textes macht es möglich, die von Franz Arbogast wieder zusammengefügte Irmel-Kette als „immanent-poetologische Metapher gelingenden Erzählens“ aufzufassen10, geht es doch im einen wie im anderen Fall um die Herstellung eines in sich geschlossenen Kunstgebildes. Indem er die innere Logik des Märchens, die ein glückliches Ende garantiert, als erzählerische Konstruktion, als narratives Muster sichtbar macht, thematisiert Mörike die Fähigkeit der Kunst, im ästhetischen Spiel sämtliche Widersprüche und Hemmnisse der realen Lebenswelt aufzuheben und eine tröstliche Harmonie zu stiften. Als unabdingbare Voraussetzung für die Freiheit eines solchen Spiels erweist sich dabei einmal mehr die Muße, denn die zu abendlicher Stunde im „ersten Gasthofe des Bades zu K*“ versammelte „kleine Gesellschaft von Damen und Herrn“ (S. 33), die ihre Zeit und Aufmerksamkeit dem kultivierten Erzählspiel widmen kann, ist ohne Zweifel eine Gruppe von Müßigen. Das müßige Spiel stellt bei Mörike also keineswegs immer die einsame Angelegenheit eines Einzelnen dar, sondern kann sich auch in der geselligen Unterhaltung entfalten. Erlangte das Gespräch in Lucie Gelmeroth schon eine gewichtige Bedeutung auf der inhaltlichen Ebene, so avanciert es in Mörikes zweiter Novelle darüber hinaus zum Strukturprinzip des Erzählens selbst. Das „dialogische Moment in Mörikes Erzählungen – 303 –
10. Die Erzählungen der dreissiger Jahre
erreicht hier einen seiner Gipfel und seine evidenteste Ausprägung“, schreibt Horst Steinmetz11, der mit Recht betont, dass dabei auch der Leser zur Teilnahme an dem „gesellige[n] Spiel“ eingeladen werde12: Wenn Arbogast sein Publikum auffordert, selbständig weiterzuerzählen und die eigene produktive Einbildungskraft walten zu lassen, richtet Mörikes Text implizit denselben Appell an seine Leserschaft. Dass Geselligkeit in Mörikes Leben von großer Bedeutung war, haben wir bereits in einem früheren Kapitel herausgestellt, um das einseitige Bild eines menschenscheuen, einsiedlerischen Dichters zu korrigieren. Und was er persönlich in der Runde vertrauter Freunde genoss, findet in manchen seiner Werke in einer buchstäblich herbeierzählten Geselligkeit ein stilisiertes und idealisiertes fiktives Pendant. Vor allem die Analyse von Mozart auf der Reise nach Prag wird auf dieses Thema zurückkommen. Es empfiehlt sich aber, das Phänomen der Geselligkeit schon jetzt etwas genauer zu charakterisieren, wobei wir eine Definition von Georg Simmel zugrunde legen, die an Prägnanz kaum zu überbieten ist und zudem den Vorzug hat, unmittelbar den Anschluss an die Kategorie des Spiels herzustellen. In seiner Schrift Soziologie der Geselligkeit bestimmt Simmel „Geselligkeit als die Spielform der Vergesellschaftung und als […] zu deren inhaltsbestimmter Konkretheit sich verhaltend, wie das Kunstwerk zur Realität“.13 Während zwischenmenschliche Beziehungen im gesellschaftlichen Alltag durch mancherlei Interessen und Zwänge geprägt sind, erscheinen sie in der Geselligkeit von solchen Einflüssen befreit und damit sozusagen in reiner Form. Demnach bedeutet die Geselligkeit für die sozialen Neigungen und Fähigkeiten des Menschen dasselbe wie das Spiel im Allgemeinen für seine Produktivität, seine schöpferischen Kräfte. In einem geselligen Kreis, wie Simmel ihn versteht, existieren weder soziale Hierarchien noch politische, berufliche oder ökonomische Notwendigkeiten. Geselligkeit ist eine autonome Erscheinung, da sie „in ihren reinen Gestaltungen keinen sachlichen Zweck hat, keinen Inhalt und kein Resultat, das sozusagen außerhalb des geselligen Augenblicks als solchen läge“.14 In ihrer Zweckfreiheit setzt sie, wie man hinzufügen darf, notwendigerweise Muße voraus. Da die Geselligkeit keinen disziplinierenden Druck und keine Sanktionsmechanismen kennt, ist sie für ihr Funktionieren ganz auf das feine Taktgefühl der Beteiligten angewiesen, das „die Selbstregulierung des Individuums in seinem persönlichen Verhältnis zu anderen leitet, wo keine äußeren oder unmittelbar egoistischen Interessen die Regulative übernehmen“.15 Simmel vergleicht die Geselligkeit mit einem kollektiv geschaffenen Kunstwerk, weil die Menschen ihren Umgang miteinander hier auf – 304 –
Ein „moralisches Mährchen“: Der B auer und sein Sohn
freiwilliger Basis nach selbstgewählten Regeln ordnen, indem sie gemeinsam den herrschenden ‚Ton‘ festlegen und aufrecht erhalten. Sie ist aber zugleich „die Spielform auch für die ethischen Kräfte der konkreten Gesellschaft“. Im rauen Alltagsleben, wo sich unweigerlich jene „egoistischen Interessen“ geltend machen, kann der Zustand konfliktfreier Harmonie, den ein geselliger Kreis im günstigsten Fall erreicht, niemals zustande kommen, so wünschenswert er auch erscheinen mag. Folglich beschwört allein die Geselligkeit „ein Miniaturbild des Gesellschaftsideales, das man die Freiheit der Bindung nennen könnte“16; sie trägt Züge eines utopischen Gelingens. Schließlich thematisiert Simmel auch die Rolle des Gesprächs im geselligen Miteinander. Reden wird dort zum „Selbstzweck“, zu einer Kunst des „Sich-Unterhaltens“ im doppelten Sinne des Wortes, die besonderen Gesetzen gehorcht. Der Gegenstand, über den gesprochen wird, muss zwar anziehend sein, ist aber letztlich zweitrangig, weil er bloß als Material des Rede-Spiels dient: „im rein geselligen Gespräch ist sein Stoff nur noch der unentbehrliche Träger der Reize, die der lebendige Wechseltausch der Rede als solcher entfaltet.“17 Man begreift jetzt, warum die gesellige Versammlung in Der Schatz sich ausgerechnet mit einem vergnüglichen Erzählspiel die Zeit vertreibt – dass „das eigentliche Spiel […] in der Geselligkeit aller Epochen einen breiten Raum einnimmt“, betont Simmel ausdrücklich.18 Indem sie auf Arbogasts „Geschichte“ eingehen, beweisen die Anwesenden, Cornelie voran, jenen Takt, ohne den Geselligkeit nicht bestehen könnte, während die einzige Ausnahme, der plumpe „treuherzige Schweizer“, folgerichtig zum Gespött der anderen wird. Und auch für Mörike ist die Geselligkeit trotz ihrer Distanz zu den Härten und Nöten des gesellschaftlichen Lebens weder belanglos noch unverbindlich, sondern vielmehr eine Sphäre, in der wahre Humanität gedeihen kann, weil sich der Mensch dort ohne Zwang und Entfremdung als soziales Wesen erlebt. In der Geselligkeit wird eben, um noch einmal mit Simmel zu sprechen, Vergesellschaftung gespielt, und diese beglückende Freiheit des Spiels war es, die sie dem Dichter ebenso angenehm machte wie die Kunst der Muße überhaupt.
Ein „moralisches Mährchen“: Der Bauer und sein Sohn Wie seine dritte Erzählung zustande kam, berichtete Mörike am 9. Februar 1838 dem Freund Mährlen: „So bat mich kürzlich Prof. Plieninger um einen unterhaltenden Beitrag für den wirtemb. Volkskalender aufs nächste – 305 –
10. Die Erzählungen der dreissiger Jahre
Jahr […] Ich wollte es ihm nicht abschlagen, ersann u. schrieb deßhalb ein moralisches Mährchen von etwa 1 ½ Bogen meines Manuscr.“ (12, S. 163). Mörike fühlte sich wohl verpflichtet, der Bitte zu entsprechen, weil er Wilhelm Heinrich Theodor Plieninger, der früher am Niederen theologischen Seminar in Urach Mathematik unterrichtet und erst vor kurzem die Redaktion des „Königlich Württembergischen Kalenders“ übernommen hatte, noch aus der Schulzeit kannte. Das kleine Werk, das er einreichte, provozierte jedoch das Veto der obersten Behörde für das Schul- und Bildungswesen: „Der Oberstudienrath hat (gegen den Vorschlag der KalenderRedaction) jenen moralischen Beitrag von mir refusirt weil die Erzählung den Aberglauben gewissermaßen begünstige“, schrieb der Dichter im April an Hermann Kurz (12, S. 189). Da auch das „Morgenblatt für gebildete Stände“ die Erzählung nicht zur Veröffentlichung annahm, konnte sie erst im folgenden Jahr in Mörikes „Iris“ erscheinen. Bei der Vorbereitung dieses Sammelbandes erwähnte der Autor „das für den VolksKalender bestimmt gewesene Mährchen“ noch unter dem Titel Arm-Frieder (13, S. 13), aber im Druck trug es bereits die Überschrift Der Bauer und sein Sohn. Im Wortlaut nur unwesentlich verändert, wurde es 1856 noch einmal in den „Vier Erzählungen“ publiziert. „Der Bauer und sein Sohn war ursprünglich für das Volk geschrieben und wollte dessenungeachtet hier nicht ausgeschlossen werden“, heißt es im „Iris“-Vorwort (7, S. 205). Diese Bemerkung belegt, wie sorgfältig Mörike zwischen verschiedenen Leserschichten differenzierte. Mit dem „Volk“ ist der damals zwar schon einigermaßen alphabetisierte, aber keineswegs literarisch gebildete Bauernstand gemeint, der in Württemberg nach wie vor das Gros der Bevölkerung ausmachte. Für ihn war der „Königlich Württembergische Kalender“ bestimmt, den die Obrigkeit als Instrument volkspädagogischer Bemühungen einsetzte: Er enthielt neben wichtigen kalendarischen Daten hauptsächlich allerlei praktische Ratschläge, wurde aber gerade ab dem Jahrgang 1839 auch um einen Teil mit Gedichten, Erzählungen und Illustrationen ergänzt. Dagegen richtete sich die „Iris“ an jene im Umgang mit dichterischen Werken versierten bürgerlichen Rezipienten, die Mörike normalerweise als Publikum im Auge hatte. Das „moralische Mährchen“ erschien also letztlich in einem Kontext, für den es eigentlich nicht gedacht gewesen war. Die eigenartige Gattungsbezeichnung, die Mörike in seinem Brief verwendet, passt sehr genau auf einen Text, der verschiedene Elemente des Wunderbaren einsetzt, um dem Leser eine bestimmte Lehre zu vermitteln, die am Ende sogar mit aller Deutlichkeit ausgesprochen wird: – 306 –
Ein „moralisches Mährchen“: Der B auer und sein Sohn
„Seit dieser Zeit hat sich im ganzen Dorf kein Mensch an einem Thier mehr versündigt“ (6.1, S. 106). Als Handlungsmuster treffen wir wieder das Schema des Glücksmärchens an, von dem bereits im Abschnitt zum Schatz die Rede war, wenn der warmherzige Tierfreund Frieder vor den Augen des Königspaares seine Probe besteht und mit Wohlstand und Ansehen belohnt wird. Diesen Aspekt der Erzählung akzentuierte der ursprüngliche Titel Arm-Frieder. Die endgültige Überschrift ist aber insofern treffender, als mit den Geschehnissen um Frieders Vater in der Tat noch ein gleichberechtigter zweiter Handlungsstrang hinzutritt, der die Moral des Märchens durch eine beispielhafte Besserungsgeschichte aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet. Der „grimmige Peter mit seinem rothen Kopf “ (S. 99) ist ein selbstsüchtiger, rüder Tierquäler, der sich erst nach einer ganzen Reihe schlimmer Erfahrungen bekehrt und dann als „braver, ehrsamer Mann“ doch noch reich und glücklich werden darf (S. 106). Mörike erhöht die Komplexität des nur wenige Druckseiten umfassenden Werkes aber noch weiter, indem er es mit Elementen der Legende, der Sage und des Volksaberglaubens anreichert, die eine kuriose Verbindung mit realistischen Details aus dem bäuerlichen Alltag eingehen. Wer „sein Vieh malträtirt, sey’s Stier, sey’s Esel oder Pferd, da schickt es seinem Peiniger bei Nacht die blauen Mäler zu“ (S. 99): Die Wahrheit dieser Behauptung erlebt Peter am eigenen Leibe. Später suchen ihn sogar die geschlachteten Ochsen persönlich heim, um Futter zu verlangen, bis sie sich von seiner Not erweichen lassen und damit ein Mitgefühl beweisen, das ihr Herr ihnen gegenüber nie an den Tag gelegt hat. Der geschundene Gaul Hansel erhält Hilfe von einem „Mädchen-Engel mit einem silberhellen Rock und einem Wiesenblumenkranz im gelben Haar“ (ebd.) und darf sich des Nachts heimlich auf einer verzauberten Wiese satt fressen, die sich tagsüber in einem nahen Wald vor unerwünschten Blicken verbirgt – aber wo solche Dinge ganz selbstverständlich erscheinen, kann doch zugleich ein angeblicher „Hexenbanner“ als betrügerischer „Erzspitzbube“ tituliert werden (S. 103)! Die Fülle unterschiedlicher und äußerst kunstvoll arrangierter Versatzstücke zeigt, dass Der Bauer und sein Sohn trotz des volkstümlich-biederen Tonfalls, den Mörike anschlägt, keineswegs als schlicht gelten darf. Horst Steinmetz nennt den Text denn auch „eine raffinierte Mischung aus einer Vielzahl von Ingredienzien“ und schreibt über den Dichter: „Er freut sich gewissermaßen seiner souveränen Beherrschung der verschiedenen Motive und Bausteine. Er spielt ein Spiel mit ihnen und mit dem Leser.“19 – 307 –
10. Die Erzählungen der dreissiger Jahre
Damit setzt das Märchen freilich ein literarisch gebildetes Publikum voraus, das dergleichen zu goutieren weiß, und die staatliche Behörde hatte wohl ihre Gründe, wenn sie es für das „Volk“ nicht passend fand. Zwar belegt die ausgeprägte didaktische Tendenz, die wir in Mörikes Schaffen sonst nirgends antreffen, dass er sich dem vorgesehenen Publikationsort anzupassen versuchte, aber unter der Hand scheint sich das Wohlgefallen am freien Spiel der Poesie eben doch auf Kosten des moralischen Zwecks durchgesetzt zu haben, der mit einfacheren Mitteln vermutlich besser erreicht worden wäre. Um den Abstand zu ‚professionellen‘ Volkserzählungen zu ermessen, muss man nur den Vergleich mit den populären Kalendergeschichten Johann Peter Hebels ziehen, von deren Knappheit und erzählerischer Stringenz Der Bauer und sein Sohn weit entfernt ist. In der „Iris“ und damit neben Werken wie Der Schatz und Lucie Gelmeroth war dieses Märchen gewiss eher am rechten Platz.
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Komik, Satire und Parodie
Groteske Phantasiegeschöpfe
W
ährend Mörike im Herbst 1837 zur Kur in Mergentheim weilte, machte ihm ein alter Bekannter seine Aufwartung, der sich „Herr Professor Sichéré“ nannte. Dem Freund Hartlaub beschrieb Mörike ausführlich die sonderbaren Manieren und Reden des Besuchers: Nachdem er mir mit dem bekannten Blinzeln und jenem Zwinkeln des ganzen Gesichts verschiedene ganz undenkbare „Plänchen zu Suffulcirung seiner Pecuniar-Subsistenz“ mit größter Unklarheit, in der beliebten desultorischen Manier entwīkelt, wies er mir ein Gedicht von nicht ganz einem Duzend Versen u. wünschte daß ich ihm einen Verleger hier ausfündig mache […]. Ich bat ihn, […] wenigstens auch noch ein Stücker zwölf oder vierzehn Lyrīken zu verfassen indem ein Einziges doch gar zu dürftig wäre. Er wollte dieses nicht sogleich begreifen, jedoch versprach ers mir zu lieb. Indessen bat ich ihn, jenen Erstling für Dich als einen HauptKenner, ins Reine zu schreiben, was denn auch gleich mit großen Vorbereitungen in Rücksicht auf die Feststellung des Tisches, Anschärfung des Gänserichs, Atramental-Mixtur &c geschah, (wobei er fragte, ob ich es rouge oder noir verlange?) […]. Beim Weggehen bat er mich um 12 Kreuzer, er wolle in des Adlerwirths Garten ein Boëm conskribirn, wozu er sich jedoch durch etwas HopfenMälzling aufreizen müsse. (12, S. 126)
Als der Professor anderntags noch einmal vorstellig wurde, konnte er wirklich schon ein weiteres „Boëm“ präsentieren, das unter dem Titel An Göth die Werke des Weimarer Klassikers heruntermachte. Mörike zitiert einige Verse, bevor er seine Schilderung mit den Worten schließt: „Doch, ich darf nicht fortfahren –, kurz, unverschämt was man nur sagen kann! Wir schieden übrigens als gute Freunde“ (S. 127). – 309 –
11. Komik, Satire und Parodie
Was wohl jeder Leser des kuriosen Briefes früher oder später ahnt, muss Hartlaub auf Anhieb durchschaut haben: Der Verfasser hatte die Geschichte frei erfunden, der Besucher war ein reines Phantasieprodukt. Professor Sichéré ist nämlich nur eine der vielen Identitäten jener Figur, die in Mörikes Werken und Briefen sonst für gewöhnlich Wispel genannt wird und die er, wie einige andere Geschöpfe ähnlichen Schlages, in der Tübinger Zeit mit Hilfe seines schauspielerischen und mimischen Talents zur Ergötzung der Kommilitonen ins Dasein gerufen hatte. Seither spukten diese Wesen durch die intime Kommunikation in Mörikes vertrautem Kreis. Wo immer er später mit einem seiner Freunde zusammentraf, konnten sie auf der Stelle zu neuem Leben erwachen, wie etwa Ludwig Bauer 1829 erzählte: „Es war, als wären wir nie getrennt gewesen, der Uchr. und Pr. flammten gleich wieder vor uns auf “1 – neben dem „Pr[ofessor]“ geht es hier um dessen groben Kumpan, der von Beruf „Uchr[ucker]“ (Buchdrucker) ist. Nach den Tübinger Jahren wurde die improvisierte Rollenfigur Wispel auch zur literarischen Gestalt. In Maler Nolten, wo sein Vorname Sigismund lautet, während er sich sonst, nicht minder klangvoll, Liebmund Maria nennt, hat Wispel gleich mehrere Auftritte: Er stiehlt als Noltens Bedienter einige Skizzen seines Herrn, den er damit unfreiwillig in Kontakt mit dem arrivierten Künstler Tillsen bringt, gibt sich dann auf dem königlichen Lustschloss Wetterswyl als italienischer Bildhauer aus, bis er von Nolten entlarvt wird, und führt den Maler später auf die Spur seines untergetauchten Freundes Larkens, was letztlich dessen Selbstmord zur Folge hat. Zudem spielen Wispel und der Buchdrucker Nebenrollen in Larkens’ Phantasmagorie Der lezte König von Orplid: Die beiden, die es als Schiff brüchige nach Orplid verschlagen hat, entdecken zufällig das heilige Buch, das den Schlüssel zu Ulmons Erlösung birgt. Wispel betätigte sich aber auch selbst als Poet, wie schon der eingangs zitierte Brief verrät. In seinem Namen schuf Mörike tatsächlich die „Stücker zwölf oder vierzehn Lyrīken“, von denen dort die Rede ist, und formte daraus eine eigene kleine Sammlung, der er den Titel Sommersprossen gab.2 Gewidmet – beziehungsweise „gebaichnet“ – ist das (Mach-)Werk Ludwig Bauer oder, mit Wispels eigenen Worten, „Sr. Wohlgebohren Herrn Prof. Ludwig v. (Luigi de) Bauer“ zu seinem Geburtstag am „XVten Weinmondes“ (dem 15. Oktober 1837). Voran steht das umfangreiche Prunkstück der Reihe, Der Sträfling, im Untertitel als „Elegische Balladière“ ausgewiesen; es folgen satirische, kritisch-weltanschauliche und Liebes gedichte sowie eine Übersetzung aus den „Chansons“ des Horaz, die sich – 310 –
Groteske Phantasiegeschöpfe
allerdings auf die ersten beiden Strophen der betreffenden Ode beschränkt, weil Wispel die übrigen „nicht für antique“ hält. Begleitet wird das absurde Ensemble von pseudo-gelehrten Anmerkungen, einer gestelzten Vorrede („Bevorwortendes“), einem Inhaltsverzeichnis („Inventar“) und einem „Avertissement“, in dem der fiktive Autor weitere lyrische Projekte für eine mögliche künftige „Nachgeburt“ skizziert, darunter Parodien auf Horaz, Novalis, Schiller und Theodor Körner. Bauer erhielt die Sommersprossen in einer mit großer kalligraphischer Sorgfalt gestalteten Handschrift, aber gedruckt wurden sie zu Lebzeiten ihres Schöpfers nicht. Neben ihnen sind unter Mörikes ‚Wispeliaden‘ noch ein fragmentarisches „Sendschreiben“ Wispels aus Orplid und eine kleine, von späteren Herausgebern Wispel auf Reisen überschriebene Erzählung zu nennen, in der ein Augenzeuge berichtet, wie sich Wispel und der Buchdrucker unterwegs auf der Landstraße und in einem Wirtshaus benehmen.3 Auch diese beiden Texte dürften aus den mittleren dreißiger Jahren stammen. Wispel ist ein windiger und halbverrückter Bursche, geckenhaft, eitel und geschwätzig, auf künstlerischem wie auf wissenschaftlichem Gebiet voller Ehrgeiz – daher auch der angemaßte Professorentitel –, aber auf beiden gleichermaßen unfähig, dazu noch hektisch, zappelig und konfus. Es ist typisch für ihn, dass er sich im Nolten fremde Identitäten und Schöpfungen borgen muss, um wenigstens vorübergehend als Künstler auftreten zu können. Mörike führt hier eine extreme und zugleich äußerst fragwürdige Facette der Auffassung von Kunst als Spiel vor, denn in der Person Wispels wird der Künstler zum reinen Falsch-Spieler und Hochstapler, der seine eigene Nichtigkeit mit den Verdiensten anderer zu kaschieren sucht. In der Tat dürfte die satirische Abrechnung mit Anmaßung und Überheblichkeit, die Mörike auf dem Feld der Kunst ebenso verabscheute wie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, ein wesentlicher Zweck der Wispel-Fiktion gewesen sein. Wispel zählt zweifellos zu jenen „Sehrmännern“, die in der Epistel An Longus attackiert werden. Wenn man aber bedenkt, dass Mörike selbst die Rolle Wispels zu spielen pflegte, und zwar über viele Jahre hinweg und stets mit offenkundigem Vergnügen, treten noch weitere Aspekte dieser Figur ins Blickfeld. Eine solche Maske, die das autonome Terrain des Rollenspiels von den Realitäten des alltäglichen Daseins abgrenzt, erlaubt es eben auch, vor dem Publikum der engen Freunde allerlei verbotene, unschickliche Regungen auszuleben, für die man ungern mit der eigenen Person einstehen würde, und dabei eine subversive Lust zu genießen. Zwar sind Mörikes spontane ‚Wispeleien‘ im unmittelbaren persönlichen Umgang – 311 –
11. Komik, Satire und Parodie
mit seinen Vertrauten für uns kaum mehr greifbar, doch die schriftlichen Zeugnisse für Wispels Treiben lassen diese Tendenz noch deutlich genug erkennen. In Maler Nolten scheint er geradezu das diebische Vergnügen des Autors zu verkörpern, jeden Höhenflug des Gedankens wie des Gefühls sogleich mit dem Lächerlichen und Absurden zu versetzen, dem Empfindsamen, Erhabenen oder Tragischen stets die grelle Narrheit und den blühenden Unsinn an die Seite zu stellen. Wispel agiert dort als eine Art Irrläufer, der ständig in Konstellationen auftritt, in die er eigentlich nicht hineinpasst und denen er Elemente des Komischen oder Grotesken beimischt, die die jeweils vorherrschende Stimmungslage empfindlich stören. So ist der Anfang des Romans zunächst ganz von einer weihevollen, klassizistisch angehauchten Kunstatmosphäre geprägt, wie schon die Schilderung von Tillsens Salon zeigt, „dessen antike Dekoration sich gar harmonisch mit den gewöhnlichen Gegenständen des Gebrauchs und der Mode ausnahm“ (3, S. 11). In diesem Hause ereignet sich wenig später auch die Begegnung von Tillsen und Nolten, die in dem feierlichen Freundschaftsbund der beiden Maler gipfelt. Als entscheidender Vermittler fungierte dabei aber kein anderer als Wispel, dessen von Tillsen beschriebene Erscheinung in einem extremen Gegensatz zu dem gesamten Kontext steht: „Es mag nun bald ein Jahr seyn, als mich eines Abends ein verwahrlos’ter Mensch von schwächlicher Gestalt und kränklichem Aussehen, eine spindeldünne Schneiderfigur, in meiner Werkstätte besuchte. […] Es übersteigt jedoch alle Beschreibung, in welch’ sonderbarem Gemische des fadesten und unsinnigsten Galimatias mit einzelnen äußerst pikanten Streiflichtern von Scharfsinn sich der Mensch in einer süßlich wispernden Sprache nun gegen mich vernehmen ließ. Dieß Alles zusammengenommen und das unpassende Kichern, womit er sich selber und mich gleichsam zu verhöhnen schien, ließ keinen Zweifel übrig, daß ich hier das seltenste Beispiel von Verrücktheit vor mir habe, welches mir je begegnet war. […] Bald zupfte er mit zierlichem Finger an seinem ziemlich ungewaschenen Hemdstrich, bald ließ er sein Bambusröhrchen auf dem schmalen Rücken tänzeln, indem er zugleich bemüht war, durch Einziehung der Arme mir die schmähliche Kürze des grünen Fräckchens zu verbergen […].“ (S. 18f.)
Nicht minder drastisch fallen die Kontraste in den späteren Wispel-Szenen aus, wo sich die Albernheiten dieser Gestalt mit den Liebesverwicklungen Theobalds und Constanzes, mit dem Pathos von Ulmons Leiden und Erlösung oder mit der Tragik von Larkens’ Untergang verbinden. Grenzüberschreitungen kennzeichnen Wispel aber auch noch in anderer – 312 –
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Hinsicht. Falls man Lörmers Darstellung im Roman Glauben schenken darf, trägt er wahrhaft monströse Züge, weil er „wirkliche Schwimmhäute“ an Händen und Füßen und womöglich gar „Stäbe von Fischbein“ anstelle der Knochen hat und somit menschliche und tierische Merkmale in seiner Person vereint (S. 320). Weitere ‚Verirrungen‘ betreffen die sexuellen Vorlieben, denn wenn Wispel seinem Zimmergenossen mit „tausend Liebkosungen und Gesten“ lästig fällt (ebd.), deuten sich recht unmissverständlich homoerotische Neigungen an, und in Wispel auf Reisen zieht er aus den körperlichen Misshandlungen durch den Buchdrucker offenbar einen masochistischen Genuss.4 In Wispel nimmt all das Gestalt an, was in der klassischen Kunst wie in der bürgerlichen Gesellschaft als unpassend, unerlaubt oder sinnwidrig aus den herrschenden Ordnungen des Denkens und Sprechens verbannt bleibt. So mag das wispelische Rollenspiel Mörike eine heilsame Entlastung verschafft haben, indem es ihm ein Ventil bot, über das er den permanenten Druck verschiedenster Autoritäten und disziplinierender sozialer Verhaltensnormen loswerden konnte. Ein lustvolles anarchisches Aufbegehren, das sich in der Wispel-Maske zugleich artikuliert und verbirgt, wird auch in den Sommersprossen greifbar, beispielsweise in der satirischen Attacke auf pietistische Frömmigkeit (Sarkasme wider den Pietism) oder im Spott über den Umgang der kirchlichen Orthodoxie mit den provozierenden Thesen von David Friedrich Strauß (Meine Bansicht). Dessen Leben Jesu hat Wispel zwar nicht gelesen, „[w]eil der Preis zu diffizil“, doch das hindert ihn keineswegs daran, sich wort- beziehungsweise phrasenreich zu äußern: Aber, schröcklich ist’s zu hören, Strauß will durch sein Teufelswerk Die Unsterblichkeit zerstören, Auch sogar in Würtemberg! Dieses zeigt doch mehr und minder Einen ganz verstockten Sünder!5
Das schon erwähnte Gedicht an Goethe findet sich ebenfalls in der Sammlung, wo es die Überschrift Sarkasme. An v. Goethe trägt. Hier spricht Wispel als enttäuschter Freund und Verehrer des großen Dichters: Du hast mich keiner AntiWort gewürdigt, Wohl weil mein Geist sich kühn dir ebenbürtigt? Deswegen, Sprödling! willt du mir mißgönnen Dich Freund zu nennen?
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11. Komik, Satire und Parodie
Ha! eitler Stolz! Man sah dich von der scharfen Kritik Bustkuchens schon vorlängst entlarven; Da zeigte sich’s, daß alle deine Verse Nur güldne Ärse!6
Sicherlich steckt hinter solchen Versen Mörikes Hohn über selbstgerechte Goethe-Kritiker wie den Pastor Johann Friedrich Wilhelm Pustkuchen, der eine umfangreiche parodistische Fortsetzung des Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre veröffentlicht hatte. Andererseits fungiert Wispel aber auch in diesem Fall wenigstens teilweise als Alter Ego seines Schöpfers, denn dessen Neigung, anerkannten Größen gelegentlich einen respektlosen Hieb zu versetzen, machte tatsächlich selbst vor Goethe nicht Halt, den er nicht nur als „alten DichterVater“ (11, S. 276), sondern auch als „Papa Goethe“ (19.1, S. 126) ansprach. Die letztere Wendung stammt zwar erst aus einem Brief von 1870, aber schon der junge Mörike empfand das unwillkürliche Bedürfnis, der hohen Würde der Weimarer Ästhetik von Fall zu Fall ein groteskes Gegenstück beizugesellen. Als er zum ersten Mal den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller las, der zu einem seiner Lieblingsbücher werden sollte, fühlte er sich von „heiliger klassischer Atmosphäre“ umgeben, doch gleich darauf geriet seine Phantasie auf ganz fremde Abwege; ich durchlief die benachbarten Zellen des Irrenhauses und wühlte in der nächtlichen Frazenwelt ihrer Träume; auf die schöne Tagesklarheit Deines Büchleins grinsten tausend Narrengesichter die mit ihren tief-pfiffigen Augen mich fast überredeten, die Philosophen liegen in einem entsezlichen Irrthum und nur sie, die Narren, wären hinter die Gardine des göttlichen Verstandes gekommen, wo man sehe und fast platze vor Lachen, wie HE. Schiller u. HE. Göthe sich mit wichtigen Mienen und Bücklingen über die Vergoldung von Nüssen und des mundus in nuce unterhalten. (11, S. 30)
Mörikes entspanntes Verhältnis zu der Autorität Goethes verdankte sich wohl nicht zuletzt seiner Fähigkeit, im Geiste bisweilen solche „Abwege“ einzuschlagen und damit die übermächtige Größe des Vorgängers spielerisch zu reduzieren. Ein besonders ergiebiges Feld für Wispels Komik stellt die Sprache selbst dar. Überhaupt scheint Mörike jede seiner skurrilen Phantasiefiguren aus einem spezifischen Sprachgestus heraus geschaffen zu haben, den sie dann gewissermaßen verkörperte. Bauer berichtet einmal, wie auf diese Weise spontan „eine neue Person“ geboren wurde, „die wir den – 314 –
Groteske Phantasiegeschöpfe
Pourquoi betitelten. Der Kerl kommt nemlich, so oft er Gründe anführen will, in ein solches Stocken, mit nemlich – ä – natürlich – und dergleichen, daß der Zuhörer kaum mehr zu athmen fähig ist; und dabey hat er die Caprice, gerade immer das erklären zu wollen, was sich platterdings von selbst versteht.“7 Und noch viele Jahre später unterhielt der Dichter die Familie Hartlaub in der Rolle des großmäuligen „Bambergers“ (auch „Bomberger“ oder „Bombeaga“), dessen Merkzeichen ein breiter fränkischer Dialekt war.8 Von Wispels eigentümlicher Redeweise haben die bisher angeführten Zitate bereits einen guten Eindruck vermittelt: Anklänge an das Schwäbische mischen sich mit preziösen Neologismen, unzähligen Verballhornungen und teils entstellten, teils missverstandenen Fremdwörtern, so dass sich in der Tat der „unsinnigste Galimatias“ (3, S. 19) ergibt. Die Diskrepanz zwischen hochgesteckten Ansprüchen und kläglicher Geistlosigkeit, die sich in dieser Sprache offenbart, steht gewiss im Dienst der entlarvenden Satire auf affektierten Geltungsdrang. Aber das dürfte wieder nur die halbe Wahrheit sein, denn Wispels Tiraden verschafften Mörike zugleich einen Genuss, der gar keiner höheren Legitimation durch satirische Zwecke bedurfte und allein dem ausgelassenen Spiel mit der Sprache entsprang. Der Dichter liebte es auch sonst, sich beim Sprachgebrauch Assoziationen zu überlassen, die auf lautlichen statt auf semantischen Verknüpfungen beruhten. Nur so ist zum Beispiel ein merkwürdiger, über weite Strecken ganz unverständlicher Brief zu deuten, den er 1823 dem Schulfreund Franz Baur schickte und der gegen Ende unvermittelt in trochäische Vierheber übergeht: „Denn diese lügen urplözlich und Du hast doch nicht das Fieber –. Schau so geht der Mund mir über, Gelt mein Lieber, gelt mein Lieber? Denn Du nimmst mirs niemals übel daß die lange Hypostase, wie im Mondlicht eine Spinne, leise heimlich kreuzend webe, daß sie Beute sich gewinne daß sie lebe, daß sie lebe!“ (10, S. 46) Hier emanzipieren sich Metrum und Reimklänge von jeglichem ‚Sinn‘ und treiben das Sprechen beziehungsweise Schreiben auf eigene Hand voran. Als Mörike einige Jahre später nach einem Pseudonym suchte, unter dem er den Roman Maler Nolten publizieren wollte, entwickelte er dabei einige ernsthafte Einfälle wie „Merow“, „Myrioth“ und „Mortekin“, kam zwischendurch aber, von Lautassoziationen verführt, auch auf „allerlei Dummheiten […] wie E. Meerschwein, Meerrettig, Mopsvesta u.s.w.“ (11, S. 302). Dieser Lust am selbstgenügsamen Jonglieren mit Wörtern und Klängen, das gegen die einschränkenden Regeln der ordentlichen, – 315 –
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‚anständigen‘ Rede aufbegehrte, konnte er in der Person Wispels hemmungslos frönen. Ihr verdanken zwei Texte ihre Entstehung, die den Abschluss der Sommersprossen bilden und deren erster hier angeführt sei: Der Kehlkopf
Der Kehlkopf, der im hohlen Bom Als Weidenschnuppe uns ergötzt, Dem kam man endlich auf das Trom, Und hat ihn säuberlich zerbäzt, Man kam von hinten angestiegen, Drauf ward er vorne ausgezwiegen.9
Seit Harry Maync fühlten sich die Leser solcher Verse immer wieder an Christian Morgenstern erinnert10, der die Loslösung der lyrischen Sprache von allen semantischen Zusammenhängen ins Extrem treibt und sie auch poetologisch reflektiert, wenn er etwa ein „Wiesel“ auf einem „Kiesel / inmitten Bachgeriesel“ sitzen lässt – und zwar nur „um des Reimes willen“.11 Tatsächlich erzeugt sich Morgensterns Gedicht über das „ästhetische Wiesel“ allein aus der fortlaufenden Verkettung der Reime. Die Sprache will hier nichts mehr aussagen oder bezeichnen und ordnet sich keinem äußeren Zweck unter; frei mit ihrem eigenen Wort- und Lautmaterial spielend, kreist sie lediglich um sich selbst. Doch dürfen wir Mörike – beziehungsweise Wispel – nicht so ohne weiteres als Geistesverwandten und Vorläufer Morgensterns in Anspruch nehmen. Renate von Heydebrand hat gezeigt, dass sich hinter dem scheinbaren Unfug des zitierten Gedichts durchaus so etwas wie ein Inhalt verbirgt, ein rudimentäres Geschehen nämlich, mag es auch noch so kurios und belanglos sein. Unter dem mysteriösen „Kehlkopf “ hat man demnach wohl einen Singvogel zu verstehen, der in einem hohlen Baum nistet, dann aber vertrieben wird, indem jemand zu ihm hinaufsteigt und ihn mit Hilfe eines Zweigs von seinem Sitz scheucht.12 Eingeweihten Adressaten wie Bauer dürfte Wispels absonderliche Diktion überdies noch verständlicher gewesen sein als uns heutigen Rezipienten. Und während Morgensterns Unsinnslyrik vor dem ernsten Hintergrund moderner Sprachskepsis zu sehen ist, die jede Möglichkeit, mit Worten eine Realität jenseits der Sprache zu erfassen, von Grund auf in Zweifel zieht, schreibt Mörike das Gedicht vom Kehlkopf und sein nicht minder geistreiches Pendant Die Streichkröte eben der Karikatur eines eitlen Möchtegern-Poeten zu, hinter der er seine eigene Autorschaft verbirgt. Trotzdem ist kaum zu bezweifeln, dass sich in solchen Werken in erster – 316 –
Groteske Phantasiegeschöpfe
Linie die pure Freude am spielerischen Sprachulk geltend macht – ein höchst artifizielles Vergnügen, das jedoch aus den tiefsten Quellen kindlich-kindischer Lust schöpft. Das Närrische und Verrückte, das Alberne und Abgeschmackte, das Nichtige und Triviale waren Phänomene, die Mörike zwar augenscheinlich großen Spaß bereiteten, aber in seiner Ästhetik des Schönen und Anmutigen keinen Platz fanden, weshalb er ihnen in seinen skurrilen Phantasiegeschöpfen gleichsam ein separates Residuum anwies. In diese Reihe gehören schließlich auch das Unanständige, Unappetitliche und Ekelerregende, vor allem die Bedürfnisse und Produkte des Leibes bis hin zu den Fäkalien. Mehr noch als Wispel, der ja am liebsten den feinsinnigen Schöngeist gibt, ist für solche Dinge der Buchdrucker zuständig. 1837 schrieb Mörike in der Maske dieser Gestalt einen Brief an Hermann Kurz, der damals schon in die Geheimnisse des alten Tübinger Freundeskreises eingeweiht war, und erklärte programmatisch: „Dann mein aiged liches Dichten und Drachten gaeht nicht auf das Ädle sondern auf das Unädle; ungesetzliche Schwängerung derer Weibsbilden, &c. und ich habe es an mir, Stank und Unflath allenthalben zu verbreiten“ (12, S. 141). Als Beleg folgt ein formgerechtes Sonett, in dem der Buchdrucker „den schönsten Kegel […] / Schwärzlich gesprenkt, von kerngesunder Bräune“ bedichtet, den er als prächtiges „Monumend verklungner Gastmahlsfreuden“ unter einem Baum im Wald hinterlassen hat und der wirklich sehr übel riecht … (S. 142).13 Eine weitere Figur, die es Mörike gestattete, obszönen, grobianischunflätigen Phantasien lustvoll Ausdruck zu verleihen, war der „sichere Mann“. Er lässt sich in Der lezte König von Orplid einmal flüchtig hören14 – zu sehen bekommt man ihn nicht –, muss aber älter gewesen sein als die Orplid-Welt, weil er schon in Briefen aus dem Sommer 1824 erwähnt wird.15 Einem Bericht aus Bauers Feder verdanken wir einen Eindruck davon, wie Mörike diesen ungeschlachten Riesen zu spielen pflegte: Er begann mit unmuthigen Reflexionen über die Gestirne, weil er diesen nichts anhaben kann, er nannte die Sonne eine Rauthstrunsel (rothe Strunsel), den Mond einen grünschissigen Blitz, einen unnaithigen (unnöthigen) Zinnteller. Sodann sang er einen Liedervers, den er einmal gehört hatte, während er das Wasser an einer Kirche abschlug, auf eine so infame, bäurisch trillernde, wasserorgelnde Weise, daß ich fast närrisch wurde. […] „Mein Glaub’ ist meines Lebens Ruh’, Und führt mich deinem Himmel“ – dui Staig’ von Nürtingen muß i au wider amol woiche (weich machen), dui brunz i voll, daß ’s pflatscht – „zu, O Gott, an den ich glaube.“16
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11. Komik, Satire und Parodie
Als Bauer im Herbst 1825 das Stift verließ, schenkte Mörike ihm zum Abschied zwei Zeichnungen des sicheren Mannes, „wie er 1.) mit verbissenem Lachen einen großen Wegzeiger abknikt u. 2.) wie er morgens um 3 Uhr bis an die Brust, (angekleidet), mitten in einem Sumpf steht und 1 Viertelstunde lang unverrückt auf eine Kröte hinglozt“ (10, S. 102). 1837/38 avancierte der polternde Gigant sogar zum Protagonisten eines komischen Versepos, auf das wir später ausführlicher zu sprechen kommen werden – in der ersten Auflage der Gedichte ist es mit einer Widmung „An Louis B[auer]“ versehen17 –, und noch 1846 erwähnt das Gedicht Erbauliche Betrachtung, das teilweise dem Andenken des kurz zuvor verstorbenen Bauer gewidmet ist, diesen „Urwelts-Göttersohn“ (1.1, S. 261) und einige seiner zweifelhaften Heldentaten. So wurden die scherzhaften Rollen, an denen sich die Tübinger Studenten einst delektiert hatten, mit der Zeit auch zu Medien von Mörikes nostalgischer Erinnerung an die zwanglose freundschaftliche Geselligkeit vergangener Tage.
Formen des Komischen in Mörikes Gedichten In der veröffentlichten Sammlung seiner Gedichte entwickelt Mörike einen beeindruckenden Reichtum von Facetten des Komischen, die sich mit den unterschiedlichsten lyrischen Formen verbinden. Da gibt es humorvolle Schilderungen von eigentümlichen Menschentypen, etwa der behaglichen schwäbischen „Sommerwesten“ in An meinen Vetter, aber auch die feine Selbstironie des Poeten in Der Petrefaktensammler und Die Visite; man findet mit Des Schloßküpers Geister zu Tübingen eine komische Ballade, Gedichte auf und an Tiere, beispielsweise Vogellied und MausfallenSprüchlein, daneben Spötteleien auf talentlose Poeten (Restauration), engstirnige Kritiker (Herr Dr. B. und der Dichter) und selbstgefällige Rezensenten (Abschied) sowie literarische Parodien, vor allem Lammwirths Klagelied, dessen Vorlage Schäfers Klagelied von Goethe ist. Zu den gelungensten dieser Werke zählen die reinen Scherzgedichte, virtuose Spiele einer übermütigen Laune, von denen hier eines zitiert sei, das auf sehr einleuchtende Weise eine uralte Streitfrage beantwortet: Auf ein Ei geschrieben
Ostern ist zwar schon vorbei, Also dieß kein Osterei; Doch wer sagt, es sei kein Segen, Wenn im Mai die Hasen legen?
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Formen des Komischen in Mörikes Gedichten
Aus der Pfanne, aus dem Schmalz Schmeckt ein Eilein jedenfalls, Und kurzum, mich thät’s gaudiren, Dir dieß Ei zu präsentiren, Und zugleich thät es mich kitzeln, Dir ein Räthsel drauf zu kritzeln. Die Sophisten und die Pfaffen Stritten sich mit viel Geschrei: Was hat Gott zuerst erschaffen, Wohl die Henne? wohl das Ei?
Wäre das so schwer zu lösen? Erstlich ward ein Ei erdacht: Doch weil noch kein Huhn gewesen, Schatz, so hat’s der Has’ gebracht. (1.1, S. 354)
Bei alledem repräsentiert der Band Gedichte nur einen begrenzten Ausschnitt aus den Erscheinungsformen von Mörikes Humor, denn seine vielen unpublizierten Gelegenheitspoeme und die Musterkärtchen für Freunde und Verwandte entfalten noch weitere Spielarten der Komik, mit denen sich ein anderes Kapitel näher befassen wird. Eine besondere Vorliebe hegte er für Form- und Stilparodien, für die oben mit dem Gedicht des Buchdruckers, das in der würdigen Gestalt des Sonetts den niedrigsten aller denkbaren Gegenstände behandelt, bereits ein erstes Beispiel angeführt wurde. Noch kunstvoller verfährt Mörike in An Philomele: Tonleiterähnlich steiget dein Klaggesang Vollschwellend auf, wie wenn man Bouteillen füllt: Es steigt und steigt im Hals der Flasche – Sieh, und das liebliche Naß schäumt über.
O Sängerin, dir möcht’ ich ein Liedchen weihn, Voll Lieb’ und Sehnsucht! aber ich stocke schon; Ach, mein unselig Gleichniß regt mir Plötzlich den Durst und mein Gaumen lechzet. Verzeih’! im Jägerschlößchen ist frisches Bier Und Kegelabend heut: ich versprach es halb Dem Oberamtsgerichtsverweser, Auch dem Notar und dem Oberförster. (1.1, S. 331)
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11. Komik, Satire und Parodie
„Das Komische“, so erläutert der Autor in einem Brief an Hartlaub mit Blick auf dieses Gedicht, „liegt theils in der poetischen Anwendung einer an sich treffenden, jedoch prosaischen Vergleichung, theils im Contrast der feierlichen Versart“ (13, S. 184). Komik entsteht also aus dem Widerspruch, aus der Vereinigung des Heterogenen. Die Nachtigall zählt in der literarischen Tradition nicht nur zu den poetischsten Vögeln überhaupt, sondern erscheint häufig sogar als Sinnbild des Dichters selbst, doch der Sprecher fühlt sich durch ihren wohlklingenden Gesang ganz „prosaisch“ an das Übersprudeln einer Flasche beim Abfüllen erinnert und wird dann auch noch von der suggestiven Kraft seines eigenen Vergleichs dermaßen überwältigt, dass er auf das „Liedchen“ für Philomele verzichtet, um statt dessen seine nur allzu gewöhnlichen körperlichen und geselligen Bedürfnisse zu befriedigen. Mörike parodiert damit den Vorgang der Inspiration durch einen plötzlichen intensiven Sinneseindruck, den er sonst oft ganz ohne Ironie gestaltet und zwar bisweilen ebenfalls unter Rückgriff auf das Nachtigallenmotiv. Neben Auf einer Wanderung, wo die Stimme einer einzigen Sängerin wie ein ganzer „Nachtigallenchor“ klingt (1.1, S. 157), kann man etwa Wald-Idylle zum Vergleich heranziehen, denn dort glaubt das entzückte lyrische Ich in dem „auf Einmal“ ertönenden herrlichen „Nachtigallschlag“ die unsichtbare Präsenz einer Göttin zu spüren (S. 160). Zu allem Überfluss wählt Mörike für An Philomele mit der alkäischen Odenstrophe auch noch eine der ältesten und anspruchsvollsten Formen, die die Geschichte der Lyrik kennt. Während er den Hexameter, das Distichon und den Senar seit der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre mit Vorliebe für seine Dichtungen nutzte, waren ihm die komplexen antiken Odenmaße augenscheinlich zu artifiziell und die für gewöhnlich mit ihnen assoziierten Themen und Stilarten zu pathetisch, als dass er sie noch ernsthaft hätte verwenden mögen. So blieb allein der parodistische Umgang mit ihnen übrig, der den Gegensatz von hohem Ton und alltäglichem Gehalt, von poetischem Gedankenflug und simplen leiblichen Genüssen für komische Effekte fruchtbar macht und auf befreiendes Gelächter statt auf krampfhaft aufrecht erhaltene Dichterwürde zielt. Die Wirkung des Verfahrens ist freilich eine doppelte, denn neben die komische Depotenzierung der ehrwürdigen Form tritt die poetische Auf wertung der schlichten bürgerlichen Lebenswelt und ihrer gemütlichen, etwas spießig angehauchten Geselligkeit. Wer hätte schon gedacht, das sich „frisches Bier“, ein „Kegelabend“ und sogar ein „Oberamtsgerichtsverweser“ so zwanglos in das metrische Schema der alkäischen Ode mit ihrer antikisierenden Aura einfügen ließen? – 320 –
Formen des Komischen in Mörikes Gedichten
Eine Art Stilparodie stellt auch das umfangreichere Gedicht Waldplage dar (1.1, S. 267f.), das wie An Philomele 1841 entstand. Hier wird nicht so sehr der verwendete Senar – der reimlose jambische Sechsheber – zum Anlass der Komik, obwohl Mörike die Wahl gerade dieses Versmaßes auf erheiternde Weise begründet: Im Sinne der idealen Kongruenz von Stoff und Form sei das sechsfüßige Metrum am besten geeignet, um sechs füßige Ungeheuer, nämlich stechende Insekten, „in Versen […] zu schmähen“. Den Dreh- und Angelpunkt des Gedichts bildet jedoch der Gegensatz zwischen den konventionellen Motiven und Sprachgesten der Dichterwelt und einem ganz banalen Ärgernis, das jeden Gefühlsaufschwung unterbindet. Wieder geht es in gewissem Sinne um Inspiration, aber an die Stelle der hochpoetischen Nachtigall treten die Schnaken, die nun auf ihre Weise die Geburt eines Gedichts fördern. Mörike arbeitet mit Versatzstücken der Idyllentradition, die er auch sonst gerne aufgreift: Wir treffen den Sprecher müßig in einer anmutigen Umgebung an, wo er sich den Freuden der Natur und einer schöngeistigen Lektüre hingeben will. Die Stilebene, die der Dichter von vornherein ein wenig niedriger ansetzt, als man es erwarten sollte, bereitet den Leser allerdings schon auf den parodistischen Bruch mit der Tradition vor: Im Walde däucht mir Alles miteinander schön, Und nichts Mißliebiges darin, so Vielerlei Er hegen mag; es krieche zwischen Gras und Moos Am Boden, oder jage reißend durch’s Gebüsch, Es singe oder kreische von den Gipfeln hoch, Und hacke mit dem Schnabel in der Fichte Stamm, Daß lieblich sie ertönet durch den ganzen Saal.
Hier gewinnt die Waldeinsamkeit mit ihren mannigfaltigen Geräuschen doch zu scharfe und realistische Konturen, als dass man noch von einem klassischen locus amoenus sprechen könnte. Und diese Diskrepanz verschärft sich, wenn das lyrische Ich auf das „einzig Übel“ zu sprechen kommt, das der Wald bereithält, indem es mit peinlicher Genauigkeit die Gestalt einer Schnake und schließlich sogar die Wirkung ihrer Stiche schildert: Und alsobald, entzündet von dem raschen Gift, Schwillt euch die Hand zum ungestalten Kissen auf, Und juckt und spannt und brennet zum Verzweifeln euch Viel’ Stunden, ja zuweilen noch den dritten Tag.
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11. Komik, Satire und Parodie
Solch krasse Körperlichkeit verträgt sich ebenso wenig mit der Gattungsnorm der Idylle wie die Flüche, die der gepeinigte Sprecher ausstößt und die ihm auch sogleich einen Verweis von dem „Zwillings-Nymphen-Paar des Fichtenbaums“ eintragen, unter dem er sich gelagert hat. Wenn er dann auf den Gedanken verfällt, sein Büchlein mit „Klopstocks Oden“ als Waffe für eine genüsslich betriebene Schnakenjagd einzusetzen, wird mit dem Kontrast zwischen der erhabenen Rede dieses Poeten und der „Grausamthat“ an dem lästigen Getier eine weitere Dimension des komischen Widerspruchs etabliert: Ich hielt geöffnet auf der flachen Hand das Buch, Das schwebende Geziefer, wie sich eines naht’, Mit raschem Klapp zu tödten. Ha! da kommt schon eins! „Du fliehst! o bleibe, eile nicht, Gedankenfreund!“ (Dem hohen Mond rief jener Dichter zu dieß Wort.) Patsch! Hab’ ich dich, Canaille, oder hab’ ich nicht?
Klopstock, aus dessen Ode Die frühen Gräber das leicht abgewandelte Zitat stammt, repräsentiert jenes emphatisch überhöhte Dichtungsverständnis und jene pathetisch gesteigerte lyrische Diktion, die Mörike nicht mehr ungebrochen weiterführen konnte. Die Parodie diente ihm somit auch dazu, sich spielerisch von der Last einer Tradition zu befreien, die ihm unzeitgemäß vorkam; in ihr manifestiert sich seine Souveränität im Umgang mit der literarischen Überlieferung. Zumindest erwähnt sei noch das mit kleinen ‚Regieanweisungen‘ durchsetzte Dialoggedicht Häusliche Scene, vielleicht die schönste von Mörikes Formparodien (1.1, S. 344–347). Das Bett- und Streitgespräch zwischen dem „Präceptor Ziborius“, der in seiner Freizeit allerlei Experimente mit der Produktion von Essig anstellt, und seiner Frau ist in Distichen abgefasst, wobei sich die Kontrahenten streckenweise Vers für Vers beim Sprechen abwechseln. Gegen Ende wird diese merkwürdige Art der Unterhaltung im Text auch ausdrücklich thematisiert: Heut, wie ich merke, gefällst du dir sehr, mir in Versen zu trumpfen. – „Waren es Verse denn nicht, was du gesprochen bisher?“ – Eine Schwäche des Mannes vom Fach, darfst du sie mißbrauchen? – „Unwillkürlich, wie du, red’ ich elegisches Maß.“ – Mühsam übt’ ich dir’s ein, harmlose Gespräche zu würzen. – „Freilich im bitteren Ernst nimmt es sich wunderlich aus.“ – Also verbitt’ ich es jetzt; sprich wie dir der Schnabel gewachsen. – „Gut; laß sehen, wie sich Prose mit Distichen mischt.“ –
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Formen des Komischen in Mörikes Gedichten
Unsinn! Brechen wir ab. Mit Weibern sich streiten ist fruchtlos. – „Fruchtlos nenn’ ich, im Schlot Essig bereiten, mein Schatz.“ – Daß noch zum Schlusse mir dein Pentameter tritt auf die Ferse! – „Dein Hexameter zieht unwiderstehlich ihn nach.“ –
Am Ende aber findet das Ehepaar Ziborius, der innigen Verbindung von Hexameter und Pentameter im Distichon entsprechend, zum harmonischen Einklang zurück. Ließ sich die humorvolle Parodie bestimmter literarischer Formen und Töne unschwer mit Mörikes Poetik des anmutigen Spiels vereinbaren, so galt dies nicht für die Angriffslust der satirischen Dichtungsart in ihrem strengen Sinne. Mörike war kein Spötter vom Range Heinrich Heines, und seine lyrischen Porträts missliebiger Personen oder Personengruppen sind in der Regel eher von feiner Ironie als von kritischer Aggressivität geprägt. Zu den Ausnahmen gehört die Epistel An Longus von 1841 (1.1, S. 262–265), Mörikes umfangreichste und bedeutendste Satire. Ob dieses Gedicht einem realen Adressaten gewidmet war, lässt sich nicht mehr sicher feststellen und ist für das Verständnis auch ohne Belang; mög licherweise verbirgt sich hinter dem angeredeten „Longus“ (Lang) kein anderer als der Freund Hermann Kurz. Gegenstand der satirischen Entlarvung ist der „Sehrmann“ oder genauer: die „Sehrheit“ selbst, denn es geht Mörike weniger um einen fest umschriebenen Typus als vielmehr um einen fatalen Charakterzug, der bei den verschiedensten Individuen in unterschiedlichen Ausprägungen auftritt. Deshalb entwirft das Gedicht eine ganze Revue von Sehrmännern, beginnend mit einem „Pärchen“, das der Sprecher „gestern in der alten Handelsstadt“ gesehen haben will: Im grünen, goldbeknöpften Frack ein junger Herr Mit einer hübschen Dame, modisch aufgepfauscht. Schnurrbartsbewußtsein trug und hob den ganzen Mann Und glattgespannter Hosen Sicherheitsgefühl, Kurz, von dem Hütchen bis hinab zum kleinen Sporn Belebet’ ihn vollendete Persönlichkeit.
Die vermeintliche „Persönlichkeit“ des Herrn erschöpft sich in Äußerlichkeiten, die Mörike mit Neologismen wie „Schnurrbartsbewußtsein“ der Lächerlichkeit preisgibt. So ist der „Sehrmann“ ein Mensch, der sich zwar gewandt zu präsentieren weiß, damit aber bloß seine innere Leere verdeckt. Er besteht eben nur aus dem „sehr“, aus der Steigerung und Erhöhung als solcher, während es ihm an einer Substanz fehlt, die gesteigert werden könnte: – 323 –
11. Komik, Satire und Parodie
Doch nicht die affektirte Fratze, nicht allein Den Gecken zeichnet dieses einz’ge Wort, vielmehr, Was sich mit Selbstgefälligkeit Bedeutung gibt, Amtliches Air, vornehm ablehnende Manier, Dieß und noch manches Andere begreifet es.
Sehrheit beobachtet der Sprecher bei eingebildeten Geistlichen, bei ehrversessenen und doch feigen Soldaten und Burschenschaftlern und bei großmäuligen Rezensenten, kurz: bei allen Leuten, die die große Geste und das pathetische Wort lieben, solange sie ihnen keine Taten folgen lassen müssen. Dass in An Longus trotz der Komik des Vokabulars und der Schilderungen durchaus kein versöhnlicher Humor waltet, sondern in tiefem Ernst eine fundamentale sittliche Verfehlung angeprangert wird, zeigt sich gegen Ende des Gedichts immer deutlicher, wo es von den Sehrmännern heißt: Denn wären sie nur lächerlich! sie sind zumeist Verrucht, abscheulich, wenn du sie bei’m Licht besiehst. […] Du schnöde Brut! Wo einer auftritt, jedes Edle ist sogleich Gelähmt, vernichtet neben ihnen, Nichts behält Den eignen, unbedingten Werth.
Und wenn der prototypische Sehrmann nach seinem Tod zu seiner großen Entrüstung am Himmelstor abgewiesen und unmittelbar auf den Weg zur Hölle geschickt wird, ahnt der Leser, dass sich hinter der Sehrheit letztlich die Ursünde der Hybris, der frevelhaften Überheblichkeit verbirgt. Dennoch gilt Mörikes Kritik nicht einfach einer zeitlosen menschlichen Verirrung. Auffallend ist nämlich, dass die in An Longus porträtierten ‚Sehrleute‘ vom „Principal“ im „Comptoir“ bis hin zur „Kellnerin“ durchweg dem städtischen Lebensraum und den entsprechenden gesellschaftlichen und beruflichen Gruppen entstammen. Auch wenn es im Text nirgends explizit gesagt wird, setzt sich die Epistel doch vornehmlich mit einer spezifischen Erscheinung der noch jungen bürgerlichen Gesellschaft auseinander, in der nicht mehr die althergebrachte ständische Ordnung den Rang des Einzelnen festlegt, sondern die Kunst der Selbstdarstellung, der Selbstinszenierung eine wachsende Bedeutung für den sozialen Status gewinnt. Dadurch kann sich umso leichter jene Spannung zwischen Schein und Sein einstellen, die Mörikes Verse polemisch als innere Hohlheit thematisieren. Dieser Tendenz bis in unsere Gegenwart hinein nachzuspüren, bleibe dem Leser überlassen! – 324 –
Formen des Komischen in Mörikes Gedichten
Die positive Norm, die jede moralische Satire voraussetzen muss, um von diesem festen Standpunkt aus verwerfliche Abweichungen diagnostizieren und verurteilen zu können, wird in An Longus nicht direkt formuliert. Indes lässt sich das Verhaltensideal, das Mörike vorschwebt, ohne Schwierigkeiten erschließen, zumal wir es schon aus anderen Zusammenhängen kennen: Echte, gediegene Bildung ohne Affektiertheit, Verfeinerung des Geschmacks, geselliger Takt und Anmut des Betragens sind die Leitbilder, gegen die der Sehrmann auf so unerfreuliche Weise verstößt. Diese Wertetafel ist einerseits von antiken Mustern wie Horaz inspiriert, auf dessen Werk übrigens auch die Gattung der Versepistel zurückweist, andererseits lehnt sie sich an Vorbilder aus dem 18. Jahrhundert an, beispielsweise an das Rokoko oder den Stil Christoph Martin Wielands. Und wie eng Mörike wiederum Ethik und Ästhetik, die persönliche „Modestia“ des Poeten und die Grazie seines Schaffens miteinander verknüpfte, wurde bereits an früherer Stelle erörtert. So enthält die programmatische Verhaltenskritik von An Longus zugleich eine implizite ästhetisch-poetologische Lehre, und damit gehört auch diese für ihn eher untypische angriffslustige Satire sehr wohl zum Kern von Mörikes dichterischem Werk. Zuletzt wenden wir uns dem Märchen vom sichern Mann zu, das als Mörikes gewichtigster Beitrag zur komischen Dichtung noch einmal in die Sphäre jener grotesken Figuren führt, die seine übersprudelnde Einbildungskraft hervorbrachte. Das kleine Epos wurde 1837/38 nieder geschrieben, aber seine Ursprünge reichen bis in die Tübinger Zeit zurück. Bereits in einem Brief an Kauffmann vom Sommer 1825 finden sich mit der Prophetenrolle des Helden, dem Gang in die „Schattenwelt“ und dem störenden Satan, der schließlich seinen Schwanz einbüßt, fast alle zentralen Motive des späteren Textes versammelt (10, S. 102), und im Jahr darauf drängte Bauer seinen Freund, ein Projekt aus der Orplid-Sphäre zu verwirklichen, in dem ein „sonderbare[r] Gott, der eine Art von Hanswurst der Götter ist“, agieren sollte18 – eine Anspielung auf den Himmelsboten Lolegrin, der im Märchen als „Lustigmacher“ bei den „seligen Göttern“ vorgestellt wird (1.1, S. 92). Auch Hartlaub gegenüber erwähnt Mörike, dass er die Geschehnisse, von denen dieses „heroische Gedicht“ handelt, „schon in Tübingen“ in ähnlicher Form erzählt habe (12, S. 167). Die Angewohnheit, reizvolle poetische Stoffe jahrelang mit sich herumzutragen und in Gedanken immer wieder umzubilden, bis sie in einem günstigen Augenblick endlich schriftlich fixiert wurden, ist bei ihm häufiger zu beobachten; für eine ganze Reihe seiner größeren Werke lässt sich eine solche ausgedehnte ‚Inkubationszeit‘ nachweisen. – 325 –
11. Komik, Satire und Parodie
Das Märchen vom sichern Mann ist ein Hexameterepos von knapp dreihundert Versen. Zu Beginn muss der Titelheld, auch Suckelborst genannt, ein hässlicher, gefräßiger und stets zu albernem Schabernack aufgelegter Gigant, der schon vor der Sintflut von einem „Halbgott“ mit einer „Riesenkröte“ gezeugt wurde (1.1, S. 92), Lolegrins Vorhaltungen wegen seines unwürdigen Lebenswandels anhören: […] Laß, Alter, mich offen Dir gestehen, so wie du es bisher getrieben, erscheinst du Weder ein Halbgott, noch ein Begeisteter, sondern ein Schweinpelz. Gräulichem Fraß nachtrachtest du nur und sinnest auf Unheil […]. (S. 93)
Statt so fortzufahren, solle er lieber sein lange verschüttetes Wissen über die Vergangenheit und die Zukunft der Welt aufzeichnen und es den Toten in der Unterwelt vortragen. Der sichere Mann folgt der Anweisung, wenn auch widerwillig, und steigt ins Schattenreich hinab. Dort kommt er nicht nur pflichtgetreu seinem Lehrauftrag nach, sondern reißt auch dem Teufel persönlich, der die Vorlesung mit allerlei Faxen stört, den Schwanz aus, woran er zu guter Letzt eine eschatologische Prophezeiung über „der Zeiten Vollendung“ und die völlige Vernichtung des Bösen knüpft (S. 100). Mörikes episches Märchen gehört in die Reihe der oben behandelten Formparodien, weil es einen guten Teil seiner erheiternden Wirkung aus der Persiflage der erhabenen homerischen Diktion bezieht, die in einen schroffen Kontrast zu den komisch-grotesken inhaltlichen Momenten tritt. Folgendes Zitat mag das verdeutlichen (Suckelborst hat soeben im Schutze der Nacht die Scheunentore des Dorfes Igelsloch entwendet, um daraus ein Schreibbuch für seine Aufzeichnungen herzustellen): „Unterdeß war aufschauernd vom Schlaf der schnarchenden Bauern / Einer erwacht und hörte des schwer Entwandelnden Fußtritt. / Hastig entrauscht er dem Lager […]“ (S. 95). Außerdem verwendet der Erzähler gerne stehende Beiwörter – die Wendung vom „sicheren Mann“ ist ein Beispiel dafür –, und wenn er zu berichten hat, wie der Protagonist sich das Material für sein Buch verschafft, ruft er die Muse um Beistand an: „Wie er Solches erreicht, o Muse, dieß hilf mir verkünden!“ (S. 94) Parodistische Effekte erzeugt Mörike aber auch durch die eigenwillige metrische Realisierung des Hexameters, indem er nämlich, entgegen den strengen Gepflogenheiten der antiken und neueren Verslehre, den fünften Takt – 326 –
Formen des Komischen in Mörikes Gedichten
bisweilen trochäisch statt daktylisch füllt oder den Vers mit einem einsilbigen Wort beschließt und so die gravitätische Schwerfälligkeit seines tapsigen Protagonisten förmlich hörbar macht: „Weg- und Meilenzeiger mit Einem gemessenen Tritt knickt“ (S. 91), „Suckelborst lehnet nunmehr sein mächtiges Manuscriptum“ (S. 98) oder „Faßt es unter den Arm, nimmt Hut und Stock und empfiehlt sich“ (S. 100). Komisch wirkt des Weiteren die Verbindung disparater Motivkomplexe, die ganz unterschiedlichen geistigen Welten und literarischen Traditionen entstammen. Da treten die bodenständigen Bauern von Igelsloch unmittelbar neben die Sphäre der „seligen Götter“, in der heidnischen Unterwelt erscheint unversehens der Teufel der christlichen Lehre, „das schwarze, gehörnete Scheusal“ (S. 99), und mittendrin hantiert, grummelt und flucht der sichere Mann, der verfressene „Schweinpelz“, der sich plötzlich in die ungewohnte Rolle eines Dozenten und Verkünders versetzt sieht. Es ist beachtlich, wie viele ehrwürdige Gedankengebäude Mörikes Epos auf seinem begrenzten Raum lustvoll aufs Korn nimmt. Mit der abschließenden Weissagung des Helden zieht es chiliastische Erwartungen ins Lächerliche, die im schwäbischen Pietismus weit verbreitet, aber auch noch in der idealistischen Geschichtsphilosophie und bei Hölderlin lebendig waren. Wenn Lolegrin als ‚Einbläser‘ des tumben Riesen auftritt und ihm seine vermeintlichen Weisheitslehren souffliert, macht sich das Märchen über das Dogma von der unmittelbaren göttlichen Inspiration der biblischen Schriften lustig, während in Suckelborsts ungefüger Person der in Mörikes Augen längst anachronistisch gewordene Topos des poeta vates, des begeisterten Dichterpropheten, verspottet wird. Der Abstieg ins Totenreich ist schließlich eine Parodie auf das Motiv der Nekyia, der Unterweltswanderung, das in der Odyssee wie in der Aeneis und später in abgewandelter Form auch in Dantes Commedia begegnet. Freilich suchen die antiken Helden die Verstorbenen auf, um von ihnen etwas über die Zukunft zu erfahren, während der sichere Mann die Aufgabe übernimmt, seinerseits die etwas hinterwäldlerischen Schattengeister zu belehren. Auf diese Weise schafft Mörike, wie Martin Stern schreibt, ein kurioses „Konglomerat aus Märchen, Mythos, Philosophie, Romantik, Biedermeier und Antike“, das durch den konsequent gewahrten „Ton närrischen Ernstes“ zusammengehalten wird.19 In kritischer Wendung gegen manche älteren Forschungsbeiträge hebt Stern überdies zu Recht hervor, dass jeder Versuch einer anspruchsvollen und tiefsinnigen Deutung den genuin komisch-parodistischen Charakter des kleinen Epos verfehlen muss. Die Eigenart des Märchens vom sichern Mann besteht gerade darin, literarische – 327 –
11. Komik, Satire und Parodie
Motive, religiöse Lehren und philosophische Spekulationen zu Gegenständen eines poetischen Spiels zu machen, das sie ihres Ernstes, ihres Gewichts und ihrer verbindlichen Ansprüche beraubt. Von vornherein wird dem Leser nahegelegt, Suckelborsts Prophetenrolle, die Mörike schon in jenem Brief von 1825 eine bloße „fixe Idee“ des Helden nannte (10, S. 102), mit amüsierter Skepsis zu betrachten. Dass dem Riesen bereits im Mutterleib „hohe Gesichte“ zuteil geworden seien, die ihm „der Schöpfung Heimliches“ und „den verborgenen Rath der ewigen Götter“ enthüllten (S. 92f.), redet ihm erst Lolegrin ein, dessen Worten er blind vertraut, denn „Götter“, so meint er, „werden nicht lügen“ (S. 94) – eine sehr zweifelhafte Auffassung angesichts eines himmlischen Sendboten, der nur „mit trüglichem Ernste“ zu ihm spricht und den der Erzähler obendrein ausdrücklich als „Lustigmacher“ (S. 92) und „schelmische[n] Gott“ (S. 94) vorstellt! Es wird dem sicheren Mann denn auch sauer, sich auf seine vermeintlichen Wissensschätze zu besinnen: Aber da däucht es ihm Nacht, dickfinstere; wo er umhertappt, Nirgend ist noch ein Halt und noch kein Nagel geschlagen, Anzuhängen die Wucht der wundersamen Gedanken, Welche der Gott ihm erregt in seiner erhabenen Seele; Und so kam er zu nichts und schwitzete wie ein Magister. (S. 94)
Endlich fasst Suckelborst den Plan, erst einmal ein geeignetes Notizbuch zusammenzustellen, das er aus den Scheunentoren der bedauernswerten Bewohner von Igelsloch verfertigt, und in dieses „stattlichen Werkes Betrachtung“ kommen ihm dann tatsächlich allerlei Einfälle, die er mit viel Gebrumm „in unnachsagbaren Sprachen“ niederschreibt (S. 97). Was von seinen angestrengten Bemühungen zu halten ist, bekräftigte Mörike viel später noch einmal in einem Brief an Moriz von Schwind, in dem er die Zeichnung, die der Freund von dem sicheren Mann angefertigt hatte, charakterisierte: „Im Vordergrund der Höhle liegt er auf seinem offenen SchreibBuch, verdrossen, dumpf und eigentlich rein mechanisch mit seiner unmöglichen Aufgabe beschäftigt (zu einem wirklichen Inhalt dessen, was er schreibt, wird ihm ja erst der Gott unmittelbar, eh er zu sprechen hat, durch Inspiration notdürftig verhelfen)“ (18, S. 168f.). Auch das Publikum, das er in der Unterwelt zu belehren trachtet, macht einen äußerst unseriösen Eindruck. Es sind nämlich gar nicht die „ruhmwürdige[n] Geister, / […] geschmückt mit ewigem Lorbeer“, vor denen er vorträgt, sondern der „unliebsame Kehricht / Niederen Volks“, der sich nahe dem – 328 –
Formen des Komischen in Mörikes Gedichten
Eingang versammelt, „trugsinnende Krämer und Kuppler und Metzen, / Lausige Dichter dabei und unzählbares Gesindel“ (1.1, S. 98) – eben der „sämmtliche Pöbel“ des Hades (S. 100). Und letztlich dienen Suckelborsts Abenteuer nur der spaßhaften Unterhaltung der Himmlischen: Aber Lolegrin hatte, der Gott, das ganze Spektakel Heimlich mit angesehn und gehört, in Gestalt der Cikade Auf dem hangenden Zweig der schwarzen Weide sich wiegend. Jetzo verließ er den Ort und schwang sich empor zu den Göttern, Ihnen treulich zu melden die Thaten des sicheren Mannes Und das himmlische Mahl mit süßem Gelächter zu würzen. (S. 101)
Dem Götterboten, der in seiner schwerelosen Grazie effektvoll mit dem tapsigen Riesen kontrastiert, fällt im Märchen die Rolle des Regisseurs zu: Mit überlegener Gewandtheit dirigiert er seinen schwerfälligen ‚Partner‘, schwatzt ihm die Prophetenrolle auf und leitet ihn dann „heimlich“ auf dem beschwerlichen Weg ins Schattenreich (S. 98). Mörike bezeichnete Lolegrin später treffend als eine leuchtende „Hermesgestalt“ und den „einzige[n] geistige[n] Lichtstrahl in dieser halbthierisch beschränkten elementarischen Suckelborstswelt“ (18, S. 169f.). Damit rückt die Figur auch gewisse poetologische Aspekte des Epos in den Blick. Lolegrin repräsentiert im Text gewissermaßen die dichterische Souveränität, die mit der fiktiven Welt nach Belieben schaltet und waltet, und somit ungefähr das, was Thomas Mann in seinem Roman Der Erwählte den „Geist der Erzählung“ nennt.20 Er erscheint geradezu als verkörpertes Sinnbild von Mörikes Poetik des heiteren Spiels, das die plumpe Materie der irdischen Wirklichkeit in einen leichten Stoff zu verwandeln weiß, so wie wir in den Göttern, zu deren Ergötzung Lolegrin das „ganze Spektakel“ mit Suckelborst in Gang setzt, unschwer das ideale Publikum erkennen können, das an einem solchen Spiel sein Vergnügen hat. In den Gestalten und Konstellationen einer scherzhaften Pseudo-Mythologie reflektiert das Märchen also Mörikes Auffassung von der Kunst als Spiel und von seiner eigenen Dichterrolle. Und es demonstriert überdies beispielhaft, wie eng seine Neigung zu den verschiedensten Formen der Komik mit seiner Ästhetik des Spielerischen verwandt war: Wie das Spiel, so gewährt auch der Sinn für das Komische dem Menschen jene schöpferische Freiheit, die ihn über die bedrückenden Zwänge der kruden Realität erhebt.
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12. Mörike und das Theater Dramatischer Ehrgeiz Seinen Ruhm verdankt Mörike hauptsächlich seinem lyrischen Werk und in zweiter Linie einigen Erzählungen, die eine gewisse Popularität erlangten. Mit dem Drama dagegen wird selbst der Literaturkenner seinen Namen schwerlich in Verbindung bringen, und in der Tat sind seine Arbeiten für das Theater weder sehr zahlreich noch von allzu großem Gewicht. Dennoch lohnt sich ein Blick auf seine Bemühungen auf diesem Gebiet, die zumindest in den zwanziger und dreißiger Jahren recht intensiv und überraschend vielseitig waren, denn auch wenn der Kontrast zu dem, was er schließlich erreichte und verwirklichte, stark ins Auge fällt, stoßen wir hier doch auf einen Teil seines Schaffens, der das Gesamtbild des Poeten um wichtige Züge bereichert. Schon in jungen Jahren besuchte Mörike gerne das Hoftheater in Stuttgart, so oft er Gelegenheit dazu hatte. Mit der Theatersphäre verbanden ihn seine ausgeprägte Neigung zum Spiel und zur Maskerade und eine vielfach bezeugte schauspielerische Ader. So erwähnte Vischer einmal das „treffliche mimische Talent“ des Freundes1, und Friedrich Notter bescheinigte ihm die Fähigkeit, „ganze dramatische Szenen aus dem Stegreif “ zu produzieren.2 Storm bekam eine Kostprobe davon, als er Mörike besuchte und sein Gastgeber „ein Blatt mit allerhand kolorierten Zeichnungen“ hervorkramte: So viel ich mich entsinne, sollte es von einem alten Zeichenlehrer aus dem vorigen Jahrhundert stammen; Mörike […] hatte selbstverständlich den Mann nicht gekannt; aber während er auf die verschiedenen altfränkischen Dinge aufmerksam machte, mit denen der Bogen bedeckt war, begann er, leise und behaglich redend, mit dramatischer Lebendigkeit die Figur des alten Herrn in immer deutlicheren Zügen vor uns hinzustellen, so daß ich
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Dramatischer Ehrgeiz
es zuletzt mit Augen vor mir sah, wie das fettige Zöpflein sich auf dem blanken Rockaufschlage hin und wider rieb.3
Wir wissen bereits, dass komische Phantasiefiguren wie Wispel und der sichere Mann in der Jugend des Dichters aus ähnlichen Improvisationen im Freundeskreis geboren wurden. Der junge Mörike scheute sich auch nicht, hin und wieder als Schauspieler auf die Theaterbühne zu treten. So beteiligte er sich in Urach an Inszenierungen der Seminaristen, und im Februar 1829 sprang er während eines Ferienaufenthalts in Oberschwaben ein, als einer Wandertruppe ein Mann für den Hofmarschall Kalb in Schillers Kabale und Liebe fehlte. Später gestatteten seine Öffentlichkeitsscheu und seine geistliche Würde dergleichen nicht mehr, doch kam ihm seine Begabung noch zugute, wenn er im Unterricht am Katharinenstift oder in seinen Damen-Vorlesungen literarische Texte rezitierte. Nun ist das Vergnügen am mimischen Ausdruck und am mehr oder weniger laienhaften Theaterspiel etwas ganz anderes als die Arbeit an einem eigenen dramatischen Werk, aber auch auf diesem Feld zeigten sich Mörikes Ambitionen schon sehr früh. Als besonders fruchtbar erwiesen sich dabei seine Studentenjahre, denn fast sämtliche Dramenprojekte, von denen wir Kenntnis haben, wurzeln in der Tübinger Zeit. Am 26. Januar 1824 schrieb er seiner Schwester Luise: „Ich habe gefunden, daß vor Allem eine weitläuftigere Dichtung noth thut, darin ich endlich mich niederlegen will – Aber nicht um drauf einzuschlafen – oder vielleicht auch das; In jedem Fall beginn ich ein Trauerspiel zu schreiben auf den Sommer, wozu mir fürs Erste die Fabel (mehr Nebensache) ziemlich klar geworden“ (10, S. 49). Wenn man einem Brief Ludwig Bauers an Luise Mörike Glauben schenken darf, sollten hier die Erlebnisse mit Maria Meyer poetisch gestaltet und damit wohl auch bewältigt werden: „So gebar sich endlich der Entschluß, dieses vo’m Schicksal in seine Tage gegrabne Gedicht abzuzeichnen und in ein Trauerspiel zu verwandeln.“4 Mehr ist über den Inhalt des Stückes nicht bekannt, weil sich nicht die mindeste Spur davon erhalten hat. Am 20. November ließ Mörike Bauer wissen: „ich habe mein Trauerspiel vollendet, aber bei’m ersten Durchlesen desselben schien es mir, als hätte ich nicht die ganze Höhe meiner Idee erreicht, deßwegen verbrannte ich es“ (10, S. 68). Immerhin las er dem Freund noch einige „zurück gebliebne Reste“ vor, die Bauer „zu dem Herrlichsten, was die Dichtkunst je geschaffen hat“, rechnete.5 Der schwärmerische Überschwang, der für die Freundschaften unter den Tübinger Studenten so charakteristisch war, mag allerdings einigen Anteil an diesem Urteil gehabt haben. – 331 –
12. Mörike und das Theater
Ein Stück ganz anderer Art entstand im Winter 1825/26 mit Schicksal oder Vorsehung, der Vorform jenes märchenhaften Erlösungsdramas, das als Intermezzo in Maler Nolten erscheint. Überliefert ist von der ursprünglichen Fassung nur ein bescheidenes Fragment in einer Abschrift, die Hermann Kurz vermutlich 1838 in Cleversulzbach angefertigt hat; sie trägt den Untertitel „Der Tragödie zweiter Theil“ und umfasst den Anfang des ersten Akts. Teils in Reimversen, teils in Prosa wird hier vorgeführt, wie der Teufel nächtens durch das Tübinger Stift schleicht, in dem er sich offenbar sehr wohl fühlt, und den unruhigen Ludwig Bauer dazu verleitet, heimlich auszubrechen, um „die Nacht wieder außerm Stift beim Mörike zu schwärmen“ (7, S. 66), der ja zeitweilig eine eigene Wohnung in der Stadt bezogen hatte. Das Fragment bricht ab, als es Bauer soeben gelungen ist, auf halsbrecherische Weise aus einem Fenster hinaus- und die Mauer hinabzuklettern. Schicksal oder Vorsehung war ein Geschenk für Bauer nach dessen Abgang vom Stift. Als Mörike das Manuskript im Frühjahr 1830 auf seine Bitte hin von dem Freund zurückerhielt, charakterisierte er es gegenüber seiner Braut Luise Rau – mit etwas ungenauer Datierung – als „ein komisch ernsthaftes Produkt von etwa 8 Bogen, das ich vor 5. Jahren eigens für ihn [Bauer] geschrieben hatte und worin unser phantastisches Orplider Leben, seine nächtlichen Eruptionen aus dem Stift u.s.w. verherrlicht werden sollten“ (11, S. 125). Er nahm sich das Stück dann noch einmal vor, um jene überarbeitete Version zu erstellen, die unter dem Titel Der lezte König von Orplid in den Roman einging. Im September teilte er Bauer mit: „Der Orplid-Guckkasten aus Schicksal u. Vorsehung wird Dir in veränderter Gestalt seine Aufwartung in dem Büchlein machen, ich habe die lezten Szenen hinzugefügt u.s.w.“ (S. 147). Die Bearbeitung muss in der Tat tiefgreifend gewesen sein, denn Der lezte König von Orplid spielt ausschließlich auf jener fiktiven Insel, lässt keine Bezüge zum Treiben der Stiftler mehr erkennen und kann überdies trotz der eingefügten Rüpelszene mit Wispel und dem Buchdrucker in seiner Gesamtheit schwerlich noch als „komisch ernsthaftes Produkt“ bezeichnet werden. Wie die in der Originalfassung verlorenen Orplid-Partien dort in den burlesken Studentenulk mit seinen parodistischen Anklängen an Goethes Faust und seinen zahlreichen Tübinger Insider-Anspielungen integriert waren, ist nicht mehr zuverlässig festzustellen. Vielleicht deutet aber die Wendung vom „Orplid-Guckkasten aus Schicksal u. Vorsehung“ auf eine Spiel-im-SpielKonstruktion hin, bei der die Vorgänge unter den Freunden im Stift den Rahmen und die märchenhaften Geschehnisse um König Ulmon und die Fee Thereile eine eingefügte Binnenhandlung bildeten. Jedenfalls gehörte – 332 –
Dramatischer Ehrgeiz
Schicksal oder Vorsehung in den Kontext von Mörikes privater Kommunikation mit dem Gefährten seiner orplidischen Phantasien und war in dieser Form sicherlich nie zur Veröffentlichung vorgesehen. Ein weiteres Stück von überwiegend possenhafter Natur scheint Mörike zwar erst um die Jahreswende 1826/27 und damit nach dem Abschluss seines Studiums begonnen zu haben, doch ist es gleichfalls im studentischen Milieu angesiedelt und auch in anderer Hinsicht eng an die Tübinger Zeit gebunden. Wir haben von ihm nur zwei Fragmente aus dem Nachlass des Dichters, und es bleibt ungewiss, ob die Arbeit jemals über diesen Stand hinaus gelangte. Mit der Idee, die württembergische Landesuniversität von Tübingen nach Stuttgart zu verpflanzen, griff das Werk ein damals aktuelles Thema auf. Protagonist der drei Szenen des einen Bruchstücks ist der Theologiestudent Spillner, der seit einigen Tagen im Karzer des Stifts einsitzt und seinen Gedanken nachhängt, bis er von einem Tumult in der Stadt aufgeschreckt wird und, eine Brandkatastrophe befürchtend, aus dem Fenster auf die Straße springt. Als er jedoch von einem vorbeikommenden Bürger erfährt, dass der Lärm lediglich von den Protesten gegen die geplante Universitätsverlegung herrührt, beschließt er, in den Karzer zurückzukehren und die Zeit dort zu nutzen, um diesen Gegenstand in einer gelehrten und mit möglichst vielen Fremdwörtern gespickten Schrift zu behandeln. In seinem großen Monolog, der den gesamten ersten Auftritt füllt, beschreibt Spillner im Rückblick auf die vergangene Nacht in geradezu idealtypischer Weise ein Inspirationsgeschehen, wie wir es im neunten Kapitel an anderen Beispielen aus Mörikes Werk erörtert haben. Die erzwungene Muße, die der Student im Karzer genießt, gewährt den Gedanken freies Spiel und schärft zugleich die Sinne für jede noch so feine Wahrnehmung. Fühlt sich Spillner zunächst dem „tollen Mühlwerk“ (7, S. 71) seiner sich verselbständigenden Assoziationen hilflos ausgeliefert und sogar dem Wahnsinn nahe, so erlöst ihn gleich darauf der „Naturlaut“ einer im Freien schlagenden Wachtel von dieser Beklemmung und lenkt seine aufs Äußerste gespannte Aufmerksamkeit auf „das Zittern der Luft, das so eigen ist, wenn die Nacht die ersten Berührungen des Morgens spürt“. Unter diesem Eindruck formen sich „unwillkührlich“ einige herrliche Verse (S. 72), die Mörike später in einer erweiterten Fassung in das Orplid-Spiel seines Romans übernahm und unter dem Titel Gesang zu Zweien in der Nacht auch in den gesammelten Gedichten abdruckte. Das unvermittelte Nebeneinander dieser hochpoetischen Partien und der ans Groteske streifenden Universitäts- und Philistersatire – 333 –
12. Mörike und das Theater
der weiteren Abschnitte verleiht den Spillner-Szenen eine auffallende Heterogenität. Zweifelhaft ist, ob das teils in Prosa, teils in Versen abgefasste zweite Fragment einen Auszug aus der Schrift darstellt, die Spillner geplant hat – seine Überlegungen zu diesem Projekt, die auf eine akademische Abhandlung deuten, wollen jedenfalls nicht recht zu dem allegorischen Spiel passen, das hier in wiederum drei Auftritten die Frage der Universitätsverlegung auf seine eigene Weise behandelt. Ein reicher Fruchthändler, der für die Stadt Stuttgart steht, und der „Herr vom Hause“, der die Tübinger Bürgerschaft repräsentiert, streiten um die Gunst der Dame Musa, der Verkörperung der Universität. Eingefügt ist ein „Zwischengespräch unter den Zuschauern“, lauter Professoren und Studenten, die das Bühnengeschehen und seine aktuellen Bezüge diskutieren. Mörike hatte also offenbar eine fiktionsbrechende Verschachtelung unterschiedlicher Spielebenen im Sinn, wie sie auch in manchen frühromantischen Komödien anzutreffen ist. Ludwigs Tiecks Die verkehrte Welt kannte er beispielsweise sehr gut, wie sein Maler Nolten beweist, wo eine Aufführung dieses Stückes geschildert wird. Während Musa als ehrwürdige Gestalt, ja als eine von den Menschen verkannte Göttin auftritt, ziehen sämtliche anderen Figuren beißenden Spott auf sich. Musas Söhne, Studenten der verschiedenen Fakultäten, sind ungezogene Kindsköpfe, die sich vor allem für Bier und Tabak interessieren und nebenher ebenso prahlerische wie verworrene Reden über politische Freiheit führen – ein satirischer Hieb auf die Burschenschaftler, deren Gehabe Mörike suspekt war. Aber auch die staatlichen Autoritäten bleiben nicht verschont, denn das Stück benennt unmissverständlich die politisch brisanten Hintergründe des Verlegungsplans in der Epoche der Restauration, der strengen Überwachung der Universitäten und der staatlichen ‚Demagogenverfolgung‘. In Stuttgart, so führt der Fruchthändler mit verstelltem Zynismus aus, habe der Minister „die Kinder auch mehr unter Aufsicht“ (7, S. 80), und später preist er als Vorzug der Residenzstadt nicht bloß den „Einfluß der Sitten, der gebildeten Gesellschaft, des Theaters“, sondern auch die „Unterdrückung des schädlichen Gemeingeistes“ sowie „die unmittelbare Nähe des Militairs, weil die Kinder doch manchmal unartig sind“ (S. 89). Ihm selbst geht es wie dem „Herrn vom Hause“ hauptsächlich um die ökonomischen Vorteile, die die Nähe der Universität mit sich bringt. Davon hat übrigens schon der Tübinger Bürger in seiner Unterhaltung mit Spillner gesprochen: „bleiben müssen Sie, wir müssen v. Ihnen zehren u. leben, wir haben Euch Herren so lieb, so lieb“ (S. 76). – 334 –
Dramatischer Ehrgeiz
Nach einem Monolog Musas über ihre bedrängte Lage zwischen den beiden Bewerbern bricht auch diese Szenenfolge unvermittelt ab. Wie Mörike die Handlung des Stückes auf der Spillner-Ebene und in der Dimension des allegorischen Spiels weiterzuführen gedachte, ist unklar. Wahrscheinlich wurde das Werk deshalb nicht vollendet, weil seine politische Aktualität nicht lange währte: Der lediglich in einer anonymen Publikation geäußerte Vorschlag zu einer Verlegung der Universität rief sowohl bei ihrem Kanzler als auch bei den Professoren heftige Proteste hervor, wurde von der Regierung gar nicht erst aufgegriffen und hatte sich noch vor dem Ende des Jahres 1826 erledigt. Mörikes Textbruchstücke blieben ungedruckt und waren allenfalls dem engsten Freundeskreis des Dichters zugänglich. Hohen Wert hat Mörike wohl weder der Verlegungsposse noch Schicksal oder Vorsehung beigemessen. Doch gegen Ende seiner Studienzeit muss er sich auch bereits mit anspruchsvolleren und ehrgeizigeren dramatischen Plänen beschäftigt haben, denn vom Sommer 1826 datiert der erste flüchtige Hinweis auf ein Projekt aus der Geschichte der Hohenstaufen6, das in den folgenden Jahren immer wieder durch seine Briefe geistert. Die staufische Dynastie erfreute sich damals bei Historikern und Dichtern außerordentlicher Beliebtheit, weil die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit angesichts der fortdauernden territorialen Zersplitterung Deutschlands eine ideale Projektionsfläche für Phantasien von nationaler Einheit und Größe abgab. Zwischen 1823 und 1825 publizierte Friedrich von Raumer seine sechsbändige Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit, und einige Jahre später begann Ernst Raupach mit der Arbeit an einem monumentalen Zyklus von Hohenstaufen-Dramen, der am Ende nicht weniger als sechzehn Stücke umfasste. In Württemberg wurde das Interesse an dem schwäbischen Herrschergeschlecht durch lokalpatriotische Motive zusätzlich beflügelt; Bauer und Waiblinger trugen sich ebenfalls mit entsprechenden Dramenplänen. Mörike wählte zu seinem Gegenstand einen unehelichen Sohn Kaiser Friedrichs II., Enzio (oder Enzius), der zeitweilig über die Insel Sardinien herrschte, später aber mehr als zwanzig Jahre als Gefangener in Bologna verbrachte, wo er auch starb. Wie weit das Stück je gedieh, können wir kaum einschätzen. 1828, also während seiner Bemühungen, sich von der geistlichen Laufbahn zu lösen, behielt Mörike das Vorhaben jedenfalls ständig im Auge. Der Enzio dürfte gemeint gewesen sein, wenn er damals verkündete: „Ich habe jezt etwas unter der Hand, das einen Übergang in einen völlig neuen Menschen hinsichtlich des Poëtischen bilden wird“ – 335 –
12. Mörike und das Theater
(10, S. 198), und auch in anderen Briefen ist von einem „Trauerspiel“ (S. 220), von einem „dramatischen Versuch“ die Rede (S. 221). Noch den Entschluss, seinen Vertrag mit dem Franckh-Verlag aufzukündigen und ins Vikariat zurückzukehren, begründete Mörike gegenüber Gustav Schwab mit dem Wunsch, von der unbefriedigenden Brotarbeit der Novellenproduktion erlöst zu werden und sich mit der würdigeren Gattung des Trauerspiels, mit den „Hohenstauffen“ (7, S. 318) und dem „König Enzius“ befassen zu können (S. 320). Dass er unter dem erneuerten Schutz der „Mutter Kirche“ sogleich „im Sturmschritt auf Die Hohenstauffen“ losgehen wolle (10, S. 260), beteuerte er auch in einem Brief an Mährlen. Im Mai 1829 berichtete er demselben Freund von einigen „Szenen, die bis jezt geschrieben sind“ und in denen er den „individuellen Charakter der Zeit […] sicher herausgefühlt zu haben“ meinte, musste aber zugleich gestehen, dass „seit einem Jahr“ nichts mehr an dem Stück getan worden sei (11, S. 32). Tatsächlich wurde es nie zu Ende geführt, und von den erwähnten Bruchstücken hat sich nichts erhalten. Das hohe Ansehen, das die Gattung Drama im ganzen 19. Jahrhundert genoss, war sicherlich einer der Gründe für Mörikes beharrliche Bemühungen um das großangelegte historische Schauspiel. Die Denker des deutschen Idealismus setzten das Drama in ihren systematischen Ent würfen einer Kunstphilosophie an die Spitze der Hierarchie literarischer Formen. So erblickte Schelling in der Tragödie, in der sich Freiheit und Notwendigkeit vereinten, die „höchste Erscheinung der Kunst“ und die „letzte Synthese aller Poesie“7, und für Friedrich Theodor Vischer verband das Drama als „Poesie der Poesie“ die lyrische Subjektivität mit der epischen Objektivität zu einer idealen Einheit8 – nicht von ungefähr appellierte er 1838 an Mörike, sein Talent künftig nicht mehr mit romantischen Märchenphantasien zu vergeuden, sondern lieber ein dramatisches Werk vorzunehmen, am besten mit einem „großen historischen Stoff“.9 Zu diesem Zeitpunkt hatte Mörike jedoch längst eingesehen, dass gerade das ambitionierte Ideen- und Geschichtsdrama mit seiner Poetik des anmutigen Spiels am allerwenigsten vereinbar war, und machte keine Anstalten mehr, dem Drängen des Freundes nachzugeben. Indes sollte man keinen pauschalen Widerspruch zwischen seiner eigentümlichen poetischen Begabung und der Gattung des Dramas unterstellen. Eine briefliche Äußerung von Hermann Kurz, der Mörike in diesem Punkt immerhin richtiger einschätzte als Vischer, führt an den Kern des Problems heran: „die dramatische Welt ist schwerlich die Deinige. Du bist nicht historisch […]. Das Drama stellt die einfache Tat schroff genug – 336 –
Dramatischer Ehrgeiz
hin, und ihre Motive sind mehr äußerlich (ich glaube, die meisten müßten Dir plump erscheinen), Du willst in die Tiefen der Tat steigen und sie an die feinsten letzten Nerven anknüpfen; […] im Drama würdest Du zu viel Unsichtbares geben und das Sichtbare darüber vernachlässigen“.10 Wenn Kurz das Drama in einen strikten Gegensatz zu jeder subtilen Psychologie bringt, orientiert er sich dabei – ebenso wie Vischer in dem eben erwähnten Brief – an Friedrich Schiller, auf den er sich auch ausdrücklich beruft. Ob er dessen Stücken mit seiner Charakteristik gerecht wird, bleibe dahingestellt, doch führt die durch Schillers Autorität bedingte Fixierung auf das an die „einfache Tat“ gebundene Drama jedenfalls zu einer bedenklichen Verengung der Perspektive, weil sie die Möglichkeit ausblendet, andere Spielarten der Gattung zu entwickeln, die sich vom Primat der äußeren Handlung emanzipieren und sehr wohl eine psychologische Verfeinerung zulassen. Gerhard Storz verweist zum Beispiel auf das spätere Kammerspiel, das Mörikes Eigenart entgegengekommen wäre11, und wenn man sich die märchenhafte Phantasmagorie Der lezte König von Orplid vergegenwärtigt, wo das nächtliche Feenreich geradezu die Tiefenregionen der menschlichen Seele symbolisiert, ließe sich auch an lyrische Dramen denken, wie sie gegen Ende des Jahrhunderts etwa Hugo von Hofmannsthal schrieb. Tatsächlich stellte Mörike bisweilen Überlegungen an, die in solche Richtungen wiesen. Ende 1828 tritt neben die Sehnsucht nach dem Hohenstaufen-Stoff unvermittelt eine ganz andere Idee: „Seit einiger Zeit aber schwebt mir mit heller Deutlichkeit eine Gattung von tragischen und komischen Schauspielen phantastischer Natur vor, welche meiner eigenen vielleicht auch näher steht als das historische. Ich habe eine Erfindung dieser Art im Kopf zur Probe angesponnen, die ich je eher je lieber zur Ausführung bringen möchte“ (10, S. 256). Und spätestens 1832 waren Enzio und das monumentale Geschichtsdrama im Allgemeinen für den Dichter offenkundig kein Thema mehr: Mein Augenmerk geht nun aber […] auf einen bedeutendern Stoff, der, (wie auch bisher), nicht sowohl den Menschen im großen Welt- u. Völkerleben, sondern, was mir nicht minder wichtig scheint, den Menschen in seinen innersten geistigsten Kreisen, zwischen Ernst u. Scherz, darstellt; nur aber, was mir zuverläßig größern Vortheil hinsichtlich des schlagenden Effekts bringen wird, – auf dem raschen dramatischen Wege. – Immer werde ich mich wohl, ich mag vornehmen was ich will, auf eigene Erfindung des Stoffes zurückgewiesen sehen, da von dem Vorhandenen selten etwas in meinen Kram taugt, und mir bei der willkührlichen Verarbeitung des Historischen
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12. Mörike und das Theater
von jeher ein difficiles Gewissen im Wege war, – dummer Weise, wie ich gerne zugebe –. Schon in Tübingen hat mir eine tragikomische Fabel vorgeschwebt, welche recht ins Gesicht zu fassen, mich stets eine Art Feigheit vor der Entwicklung des in ihr liegenden philosoph. und moralischen Sauertaig abhielt […]. Noch weiß ich nicht, wie das werden soll u. kann. Eilt aber auch nicht damit. (11, S. 289)
Leider hat Mörike die hier angedeuteten Wege letztlich nicht beschritten, so wie auch die gelegentlich erwähnten Einfälle für Lustspielstoffe zu keinem Zeitpunkt ernsthaft verfolgt wurden.12 Zwar sprach er im März 1835 wieder davon, vielleicht „Etwas fürs Theater“ zu schreiben (12, S. 76), und sogar acht Jahre später ist noch einmal beiläufig von einem solchen Plan die Rede13, doch inzwischen schlossen seine gesundheitliche Verfassung und seine strengen diätetischen Rücksichten literarische Großprojekte ohnehin aus, und von zukunftsweisenden Experimenten mit neuen dramatischen Genres konnte erst recht keine Rede mehr sein. Etwas überraschend kam 1841 trotzdem noch ein abgeschlossenes Stück zustande, das allerdings nur einen mäßigen Umfang aufweist und als panegyrisches Festspiel obendrein einer ganz konventionellen Gattung angehört. Das Fest im Gebirge zählt zu den wenigen Auftragsarbeiten, auf die Mörike sich einließ. Im Herbst des Jahres stand das 25. Regierungsjubiläum König Wilhelms I. von Württemberg an, das umso glanzvoller gefeiert werden sollte, als es fast genau mit dem sechzigsten Geburtstag des Monarchen zusammentraf. Als der Stuttgarter Regisseur und Schauspieler Heinrich Moritz Mörike Ende Juni um ein Festspiel für diesen Anlass bat, wollte der Dichter das Ansinnen zunächst diplomatisch ablehnen, fand dann aber zu seiner eigenen Überraschung plötzlich Gefallen an der Sache. Binnen weniger Wochen und damit in einer für seine Verhältnisse ungewöhnlich kurzen Zeit schrieb er den Text nieder, dessen Eignung „für den Theaterzweck“ er jedoch selbst skeptisch beurteilte (13, S. 198). In der Tat fiel das Stück immer noch zu ausladend und aufwändig aus und konnte deshalb bei den Jubiläumsfeiern nicht verwendet werden. Da auch verschiedene Versuche, einen Verleger dafür zu interessieren, fehlschlugen, wurde es zu Mörikes Lebzeiten nicht veröffentlicht. Das Fest im Gebirge ist überwiegend in Blankversen abgefasst, neben die hin und wieder Prosapartien sowie einige Gesangseinlagen treten. Von einer eigentlichen Handlung lässt sich kaum sprechen, zumal das Ganze in zwei nur sehr locker verbundene Teile zerfällt. Zuerst stimmen der ehrwürdige Bergfürst der Schwäbischen Alb, von einigen Nymphen umgeben, und zwei Vaterlandsgenien Lobreden auf den König und seine segensreiche – 338 –
Dramatischer Ehrgeiz
Regierung an. Im Rückblick auf die Feldzüge von 1814/15 werden die Taten des damaligen Kronprinzen im Kampf gegen Napoleon gepriesen, auf die Wilhelm zeitlebens stolz war, aber nicht weniger hell leuchtet die Glorie des milden Friedensfürsten, so dass in dieser einen Gestalt sämtliche Herrschertugenden vereint erscheinen. Bemerkenswert ist an dem ganzen Panegyrikus allenfalls die Hervorhebung der Landesverfassung von 1819, die aus einer Vereinbarung zwischen dem Monarchen und der Ständeversammlung hervorging und einen Meilenstein in der Geschichte Württembergs und des südwestdeutschen Liberalismus darstellte: Der Welt ein herrlich Zeugniß bleibe das, Wie einst ein Fürst vertrauensvoll und groß Zu einem guten Volke sich geneigt, Einträchtig festzustellen jedes Recht. Gleichwie dieß unvergänglich, ewig sey, So sey dess’ Name ewig, der’s gewährte. (7, S. 173)
In diesen Versen klingt auch Mörikes persönliche politische Überzeugung an, mit der wir uns an späterer Stelle befassen werden. Die anderen Szenen spielen in einer ländlichen Gegend unweit der Höhle des Bergfürsten unter der bäuerlichen Bevölkerung. Die Dorfleute wollen die Jubelfeier am Ehrentag des Königs dazu benutzen, ihren Mitbürger Joseph, einen Veteranen der napoleonischen Kriege, endlich zur Heirat zu überreden, denn der brave Mann, dem auf einem Feldzug einmal der Kronprinz Wilhelm persönlich die Hand geschüttelt hat, ist seither im patriotischen Überschwang entschlossen, diese Hand niemals einer Frau zu reichen. Sein Starrsinn wird jedoch überwunden, so dass er sich am Ende unter allgemeinem Beifall mit der jungen Verene verbinden kann. In einem Brief an Hartlaub versicherte Mörike mit Blick auf das kleine Festspiel: „Übrigens hätt’ ich mich der Arbeit nicht zu schämen, an welcher sich am wenigsten verbirgt, daß sie mit wahrer Theilnahme gemacht wurde“ (13, S. 227). Es fällt schwer, diesem Urteil beizupflichten, denn die heterogene Handlung des Stückes ist einerseits hochgradig konstruiert, andererseits ziemlich belanglos, und selbst die Versifikation wirkt mitunter in einer für Mörike ganz untypischen Weise angestrengt und rhetorisch. Das Fest im Gebirge bezeugt weniger die „wahre Theilnahme“ des Autors an seinem patriotischen Gegenstand als vielmehr die Tatsache, dass er sich mit einer solchen panegyrischen Dichtung zu einem offiziösen Anlass sehr weit von seinem ureigenen Gebiet entfernte. – 339 –
12. Mörike und das Theater
Mörike als Librettist: Die Regenbrüder Auch das Musiktheater zog in den zwanziger und dreißiger Jahren Mörikes Interesse auf sich. 1827 arbeitete er an einem Singspiel mit dem Titel Das blinde Mädchen, das sein Studienfreund Ludwig Hetsch vertonen sollte. Das Manuskript ist verloren gegangen, aber die Grundlinien der einfachen, halb gefühlvollen, halb komischen Handlung, die um die Liebe und die wundersame Heilung der Protagonistin kreiste, lassen sich rekonstruieren.14 Aufgrund von Unstimmigkeiten mit dem Komponisten wurde das Projekt nie abgeschlossen, obwohl Mörike noch Jahre später erwog, es wieder aufzunehmen.15 In dieselbe Zeit gehört der Plan zu einer Ahasver-Oper, von der wir lediglich ein lyrisches Fragment kennen, den Chor jüdischer Mädchen, der in die gesammelten Gedichte einging. Erst mit dem Libretto Die Regenbrüder schuf Mörike schließlich doch noch ein umfangreiches Werk für die Bühne des Musiktheaters – wenn auch nicht ganz aus eigener Kraft. „Im Februar hab ich auf die Bitte eines jungen Wiener Musikus, der am Stuttg. Theater componirt und dirigirt eine leichte Oper geschrieben, welche vielleicht im Herbst zur Aufführung kommt“, teilte er am 18. April 1834 ganz beiläufig seinem Freund Vischer mit (12, S. 64). Der „junge Wiener Musikus“, der in Wirklichkeit aus dem bayerischen Rain stammte und lediglich einige Jahre lang als Organist und Kapellmeister in Wien gewirkt hatte, war Ignaz Lachner, ein Bruder des berühmteren Komponisten Franz Lachner und seit 1831 Hofmusikdirektor in der württembergischen Residenzstadt. Wie der Dichter mit ihm in Kontakt kam und welche Absprachen zwischen ihnen getroffen wurden, wissen wir nicht; jedenfalls scheint Mörike völlig selbständig an dem Textbuch gearbeitet und Lachner die fertigen Partien zur Vertonung vorgelegt zu haben. Die Bemerkung in dem Brief an Vischer ist insofern etwas irreführend, als das Libretto der Regenbrüder damals noch keineswegs abgeschlossen war, und bis zur Uraufführung der Oper sollten sogar volle fünf Jahre vergehen. Im März 1835 sprach Mörike davon, dass zwei Akte fertig seien und er auch den dritten und letzten „in Kurzem“ beenden werde (12, S. 76), aber dann zwang ihn seine schwere Erkrankung, das Projekt beiseite zu legen. Da Lachner allmählich ungeduldig wurde, musste Anfang 1837 Hermann Kurz einspringen, der gerne bereit war, dem hochverehrten Dichterkollegen einen Dienst zu erweisen, und das Werk unter Verzicht auf einen eigenen dritten Akt zügig vollendete. Die Partien ab der achten Szene im zweiten Akt stammen im Wesentlichen von Kurz, wurden von Mörike jedoch noch einmal überarbeitet.16 – 340 –
Mörike als Librettist: Die R egenbrüder
Im Sommer 1837 suchte Lachner seinen Librettisten in Cleversulzbach auf, um letzte Details des Textes mit ihm zu erörtern17, aber der Abschluss der Komposition ließ bis gegen Ende des folgenden Jahres auf sich warten. Da Mörike damals gerade einige Wochen in Stuttgart verbrachte, konnte er sich nicht nur von Lachner Auszüge aus der Musik vorspielen lassen, sondern auch an einer Besprechung mit dem Komponisten, dem Schauspieler und Sänger Gustav Pezold und dem Theatermaler Johann Jakob Krämer teilnehmen, die sich um technische Fragen der Inszenierung drehte und von der er seiner Mutter und seiner Schwester ausführlich berichtete.18 Der Aufführungstermin verschob sich aus unbekannten Gründen mehrfach, so dass die Regenbrüder erst am 20. Mai 1839 über die Bühne gingen. Zwei Tage später wurde die Oper noch einmal gegeben, bevor sie auch schon wieder aus dem Programm verschwand. Der Dichter konnte bei beiden Aufführungen – den einzigen, die eines seiner Bühnenwerke je erlebte – nicht anwesend sein und musste sich bei den Stuttgarter Freunden nach deren Eindrücken erkundigen.19 Zur gleichen Zeit publizierte er das Libretto in seinem Sammelband „Iris“, wobei er nicht vergaß, im Vorwort auf die „glückliche Hand seines Freundes H. Kurtz“ hinzuweisen, der er die „Ausführung der lezten Scenen“ verdankte (7, S. 205). Da die Regenbrüder nicht durchkomponiert sind, sondern gesprochene Dialoge – teils in Prosa – mit Musik- und Gesangseinlagen verbinden, müsste man sie wohl eher ein Singspiel nennen. Der Sprachgebrauch der Zeitgenossen war in dieser Hinsicht aber recht inkonsequent, und auch wir verwenden hier lieber die Bezeichnung Oper, wie sie im Untertitel des Werkes steht. Inhaltlich betrachtet, handelt es sich um eine Märchen- und Zauberoper mit romantischen Motiven im Zeitgeschmack des Biedermeier. Zur Vorgeschichte gehört der verderbliche Zwist der Zauberer Thebar und Alrachnod, die mit den Elementargewalten, die ihnen zu Diensten standen, das Land verwüsteten. In der Handlungsgegenwart müssen die Kinder der beiden die Verfehlungen ihrer Väter sühnen. Thebars Söhne Viktor, Felix und Wendelin ziehen umher, um überall für Regen zu sorgen, wo die Landleute ihn brauchen, während Alrachnods Töchter an bestimmte Orte gebannt sind: Silvia haust in einem dichten Wald, Temire in einem kalten See, und Justine, die das angenehmste Los getroffen hat, wächst als Pflegetochter des Müllers Steffen auf. Erlösung kann nur die Liebe bringen, indem die Kinder der Magier sich miteinander verbinden. Justine erfährt von ihrer wahren Herkunft und ihrem Geschick erst, als die Regenbrüder in der Mühle erscheinen und um sie werben. Dank ihrer Klugheit und mit Hilfe von Alrachnods Zauberring, der es dem Träger – 341 –
12. Mörike und das Theater
gestattet, seine Gestalt zu wechseln, gelingt es ihr, mit Felix den richtigen Bräutigam zu wählen und die anderen Brüder in die Arme ihrer beiden Schwestern zu führen. Am Ende können die drei glücklichen Paare unter den Segenswünschen und dem Jubel der Bauern in ein prächtiges Feenschloss einziehen, und nebenher erlebt auch der aufgeklärte Dorfschulmeister Peterling, der die Geschichten über die Magie der Regenbrüder „physisch und barometrisch“ für Unfug erklärt hat (7, S. 95), eine Läuterung, denn ein unfreiwilliges Flugabenteuer auf einer Wolke belehrt ihn, dass es Mächte gibt, von denen sich seine rationalistische Schulweisheit nichts träumen lässt. Die überschaubare Handlungsstruktur basiert also auf den schlichten Mustern von Entzweiung und Versöhnung bzw. Prüfung und Belohnung und ist damit in ihren Grundzügen ebenso konventionell wie die Einsetzung der Liebe als Erlösungsmacht, die letztlich die umfassende Harmonie gewährleistet. Das Nebeneinander von Menschenwelt und Zauberreich erinnert an die romantische Oper, die gleichfalls magische Kräfte und Elementarwesen ins Spiel zu bringen pflegt, aber gerade wenn man die Regenbrüder etwa mit dem Undine-Stoff vergleicht, den E.T.A. Hoffmann (nach einer Erzählung und einem Libretto von Friedrich de la Motte Fouqué) und später Albert Lortzing in Opern verarbeitet haben, treten die biedermeierliche Dämpfung zum Heiter-Idyllischen und die sorgfältige Vermeidung aller tragischen Perspektiven sehr deutlich hervor. Bezeichnenderweise verlagert Mörike das zerstörerische Wüten der Elemente in die Vorgeschichte des Bühnengeschehens, während in der Gegenwart ein ungebrochener Einklang zwischen der Lebenswelt der bäuerlichen Landbevölkerung und der Sphäre der Zauberer, Geister und Feen herrscht. Zudem ist die Liebeshandlung, in deren Mittelpunkt Justine und Felix stehen, ausschließlich auf der ‚höheren‘ Ebene angesiedelt, womit das zentrale Konfliktpotenzial der Undine-Konstellation, die Beziehung zwischen Mensch und Elementargeschöpf, wegfällt. Auch wird die Probe der Liebeswahl, der sich Justine unterziehen muss, auf eine so spielerische, amüsante Weise behandelt, dass niemals ernstliche Zweifel am glücklichen Ausgang aufkommen. Generell tragen die humoristischen Elemente der Oper ihren Teil dazu bei, sämtlichen Vorgängen einen heiteren und leichten Charakter zu verleihen. Dazu gehört natürlich die Figur des Peterling mit ihren albernen, von lateinischen Brocken durchsetzten Phrasen, aber auch die Repräsentanten der Zauberwelt bleiben von der Komik nicht verschont, wenn sich zumindest zwei der von den Dorfleuten mit ehrfürchtiger Scheu betrachteten „Gebrüder Regen“ (7, S. 104) – 342 –
Mörike als Librettist: Die R egenbrüder
rasch als eitle und ein wenig geckenhafte Burschen erweisen oder die arme Temire in ihrem Teich ständig vor Kälte bibbert. Werfen wir schließlich noch einen Blick auf Justine, die eigentliche Heldin der Oper. Dass sie selbst übernatürliche Fähigkeiten besitzt, scheint ihr anfangs gar nicht bewusst zu sein, doch der Bauer Christel weiß davon zu erzählen: Sie spaziert zuweilen mutterseelenallein auf unsern Bergen herum, sezt sich auf den höchsten Felsen, singt ein fröhlich Lied, und wenn sie in der Abendsonne ihre prächtigen Zöpfe losbindet, darf man drauf zählen, es wird gut Wetter. Dann streift sie oft weit in der Gegend umher, und wo ihr Kleid hinweht, da trocknet’s Euch in Einem Umsehn im Feld und auf den Straßen. Sie bindet ihr rothes Tüchlein dem Windmüller an die Flügel, daß sie sich alsbald drehen müssen wie ein Hexenhaspel. (7, S. 98)
Justine entpuppt sich hier als eine Verwandte der Windhexe aus Mörikes Ballade Die schlimme Greth und der Königssohn, die ihren Wohnsitz ebenfalls in einer Mühle hat, also an einem Ort, den der Volksaberglaube ohnehin mit allerlei Zauberei und Geisterspuk in Verbindung bringt. Aber während die „schlimme Greth“ die todbringende Dämonie des Eros verkörpert, begegnen wir in Justine, die allenfalls einen charmanten Mutwillen an den Tag legt, einer gezähmten, mädchenhaft-häuslichen Vertreterin dieses Typus: Sie erzeigt sich den Menschen freundlich, leistet sogar beim Wäschetrocknen hilfreiche Dienste und sehnt als höchstes Glück die Vereinigung mit dem geliebten Mann herbei. Nicht umsonst hat sie in der Person des biederen Steffen einen zuverlässigen väterlichen Ratgeber an ihrer Seite. Wahrscheinlich war gerade der konsequente Verzicht auf dramatische Konflikte und echte Spannung der Wirkung der Regenbrüder abträglich. An poetischem Reiz, märchenhafter Farbigkeit und Humor mangelt es der Oper nicht, und mit einem zauberischen Regenbogen, der Justine Rosen und Goldmünzen in den Schoß wirft, mit dem Flug des Schulmeisters und verschiedenen Verwandlungskunststücken werden auch die spektakulären Möglichkeiten der Bühnentechnik fleißig genutzt, doch fragt es sich, ob das breit und behaglich dahinfließende Geschehen die Aufmerksamkeit des Publikums einen ganzen Abend lang zu fesseln vermochte. Mörike, der damals nur selten Operninszenierungen am Hoftheater besuchen konnte, war als Librettist im Grunde ein Dilettant und versäumte es, auf die notwendige Verknappung und Zuspitzung der Handlung zu achten. Aber auch die Qualität der Musik wurde angezweifelt. Der – 343 –
12. Mörike und das Theater
Dichter fand das, was er in Stuttgart von Lachner zu hören bekam, „in hohem Grade lieblich“ (12, S. 219), gestand jedoch später, sich „eigentl. kein Urtheil“ über die Originalität der Komposition erlauben zu können, weil er „zu wenig neuere Musik“ kenne (13, S. 31). Offenbar hatten ihn abfällige Urteile musikalisch gebildeter Freunde wie Kauffmann und Hetsch verunsichert: „Man fürchte, unter uns gesagt, sehr für den Erfolg der Musik“ (ebd.). Da die Kritiken nach der Aufführung aber durchaus günstig ausfielen20 und das Lob sich ziemlich gleichmäßig auf Text und Musik verteilte, muss die Frage nach den Gründen für die rasche Absetzung der Oper letztlich offen bleiben. Als die Regenbrüder am 27. und 28. September 1990 in zwei konzertanten Aufführungen bei den Herbstlichen Musiktagen Bad Urach eine Wiederentdeckung erlebten, wurden sie jedenfalls mit großem Beifall aufgenommen. Wer sich einen Eindruck von Lachners Musik verschaffen will, kann auf die Doppel-CD mit einem Mitschnitt dieser Darbietungen zurückgreifen. Einige Freunde Mörikes, die von Lachners Talent nicht überzeugt waren, hätten lieber Felix Mendelssohn Bartholdy als Komponisten der Regenbrüder gesehen. Mörike, der diesen Künstler ebenfalls schätzte, antwortete im Juni 1837 auf einen entsprechenden Vorschlag von Kurz: „für die Oper ist schon kein Mittel mehr: denn sie ist von der Intendanz fest angekauft. […] Was Mendelsson &c. betrifft so haben Sie natürlich ganz vollkommen Recht. Wir müssen aber stille seyn“ (12, S. 97). 1845 griff Johannes Mährlen die Idee einer solchen Zusammenarbeit noch einmal auf und knüpfte Kontakte zu Mendelssohn, der seinerseits auch von Mörikes Werken angetan war und sich zu einer Kooperation bereit erklärt haben soll.21 Mörike zeigte sich prinzipiell nicht abgeneigt, nannte Mährlens Initiative „interessant und dankenswerth“ und erklärte bei dieser Gelegenheit die Aufgabe des Librettisten für „eine der ersten u. schönsten […], die sich die Poesie überhaupt machen kann“ (14, S. 199). Ausgeführt wurde der Plan jedoch nie – es lässt sich denken, warum: „Allein bei der peinlichen Abhängigkeit, worin ich mich mit jeder auch leichteren Art von geistiger Arbeit von Seiten meines körperlichen Zustands befinde, kann ich mich zu dergl. mit Bestimmtheit leider nicht anheischig machen“ (ebd.). Tatsächlich unternahm Mörike nach den Regenbrüdern keine ernsthaften Versuche auf dem Gebiet des Musiktheaters mehr. Er war fortan damit zufrieden, Opern und Schauspiele als Zuschauer zu genießen, wozu es in seinen späteren Jahren, als er wieder in Stuttgart wohnte, auch zahlreiche Gelegenheiten gab. Und seinem erschütterndsten Theatererlebnis, dem Don Giovanni, setzte er 1855 in Mozart auf der Reise nach Prag ein literarisches Denkmal. – 344 –
13.
Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen
An den Grenzen der sichtbaren Welt Die Neigung des Dichters Mörike zum Märchenhaften, Phantastischen und Mystischen ist in seinem Werk allenthalben zu beobachten: Der Roman Maler Nolten, die meisten Erzählungen sowie viele Gedichte sind reich an rätselhaften Begebenheiten verschiedenster Art, an Wahrträumen, gespenstischen Erscheinungen und Elementargeistern, und Mörikes einzige Oper, Die Regenbrüder, behandelt einen Märchenstoff in romantischer Tradition. Aber das Reich des Wunderbaren bot ihm nicht nur einen schier unerschöpflichen Fundus an literarischen Motiven, sondern faszinierte ihn auch in der realen Welt. Zeitlebens brachte er den Grenzgebieten der Wirklichkeit und allen Phänomenen, die etwas Übernatürliches ahnen ließen, eine rege Neugier entgegen, die ihn bisweilen sogar zu Erkundungen von fast wissenschaftlichem Charakter anspornte. Aus heutiger Sicht gehört Mörikes okkulte Seite gewiss zu den sonderbarsten Aspekten seiner Persönlichkeit, doch sollte man sie weder leugnen noch als belanglose Skurrilität abtun. Vielmehr ist zu fragen, wie sie sich in das Gesamtbild dieses Autors einfügt und welche untergründige Verbindung zwischen dem Freund des Mysteriösen und dem Poeten bestand. Nach der Lektüre einer Novelle Vischers, in der sich eine Figur kritisch über somnambule Visionen und ähnliche Erscheinungen äußert, schrieb Mörike an den Freund, dem er offenbar dieselbe Haltung unterstellte: „Ich wünschte lieber mündlich mit Dir drüber zu debattiren, da wir denn aber leicht insoferne uneins blieben, als ich diese Dinge von vornherein reeller zu nehmen, geneigt bin“ (11, S. 281f.). Unzweifelhaft war bei ihm das weit ins 19. Jahrhundert ausstrahlende Erbe der romantischen Naturphilosophie wirksam, deren Vertreter sich intensiv mit Träumen – 345 –
13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen
und Ahnungen, mit Spiritismus, Somnambulismus und Mesmerismus befassten und an ein unsichtbares geistiges Fluidum glaubten, das die Welt durchdringe und durch Praktiken wie das magnetische Bestreichen gelenkt werden könne. Ob Mörike die populären Bücher Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft und Die Symbolik des Traumes von Gotthilf Heinrich Schubert, dessen Name in seinen Briefen einige Male beiläufig genannt wird, aus eigener Lektüre kannte, ist nicht sicher auszumachen. Sehr wahrscheinlich gab es jedoch Einflüsse von Seiten Schellings, seines wichtigsten Gewährsmannes in philosophischen Fragen, der seinerseits Schubert inspiriert hatte. Schelling fasste die Natur als sichtbare, aber bewusstlose Erscheinung des Geistes auf und lieferte damit die ideale Grundlage für eine spekulative Durchdringung dieser Sphäre und für die Annahme vielfältiger geheimer Korrespondenzen; außerdem stellte er Überlegungen zu einem Zwischen- oder Mittelreich der abgeschiedenen Seelen und zu möglichen Geistererscheinungen an. Weitergeführt wurden solche Gedanken unter anderem von dem Tübinger Professor für Medizin und Philosophie Adolf Karl August Eschenmayer, der sich viel mit Somnambulismus und Magnetismus abgab und dessen Vorlesungen Mörike als Student hörte.1 Eine weithin bekannte Autorität auf dem Feld der Geister und der somnambulen Ahnungen war auch Justinus Kerner in Weinsberg, der 1829 in Die Seherin von Prevorst seine Erfahrungen mit der visionär begabten Friederike Hauffe dokumentierte und später eine Zeitschrift „Magikon“ mit dem verheißungsvollen Untertitel „Archiv für Beobachtungen aus dem Gebiete der Geisterkunde und des magnetischen und magischen Lebens“ herausgab. Mörike stand schon lange in brieflichem Kontakt mit diesem Spezialisten für das Übersinnliche, bevor er ihn während seiner Cleversulzbacher Zeit persönlich kennenlernte und freundschaftlichen Umgang mit ihm pflegte. Kerner, der als studierter Mediziner in jüngeren Jahren immerhin eine balneologische Schrift über das Wildbad im Schwarzwald und eine bahnbrechende Untersuchung über die Wurstvergiftung, den Botulismus, vorgelegt hatte, verstand sich bei allen mystischen Neigungen doch als seriöser Naturforscher, der auf der Grundlage empirischer Beobachtungen arbeitete. Er musste zwar schon seinerzeit viel Spott über sich ergehen lassen – Karl Immermann beispielsweise machte ihn und Eschenmayer in seinem Münchhausen-Roman wegen ihrer spiritistischen Neigungen lächerlich –, aber insgesamt bewies diese Epoche noch eine beachtliche Aufgeschlossenheit für okkulte Phänomene, die erst im weiteren Verlauf des Jahrhunderts, als sich die modernen Naturwissenschaften endgültig – 346 –
An den Grenzen der sichtbaren Welt
etablierten, ganz in den Bezirk der Phantasie verwiesen oder als bloße Spinnerei belächelt wurden. Mörike griff die Anregungen seines schwäbischen Landsmannes jedenfalls frühzeitig auf, wie das Motiv des magnetischen Schlafs in dem vielleicht schon 1824 entstandenen Hochzeitsgedicht des Peregrina-Zyklus verrät, das einer Passage aus Kerners Reiseschatten nachgebildet sein dürfte.2 1827 sah er sich veranlasst, Kerner in einer außerliterarischen und durchaus ernsten Angelegenheit um Hilfe anzugehen, da die Mutter von Johannes Mährlen schwer erkrankt war und der verzweifelte Sohn sich allein „von der Befragung einer Somnambüle“ noch Auskunft über eine mögliche Heilung erhoffte (10, S. 170). Mörike, den sein Freund als Vermittler eingeschaltet hatte, schickte Kerner ein Band, das der Kranken gehörte und mit dessen Hilfe Friederike Hauffe befragt werden sollte. Die mit solchem Aufwand eingeleitete Aktion erbrachte keinen greifbaren Nutzen, soll aber sehr eindrucksvoll abgelaufen sein, wie Mörike bald darauf durch David Friedrich Strauß erfuhr: Das Unglück wollte daß Kerner der Frau Hauffe (die Somnambüle) das Band von Mährlens Mutter in die Hand gab, als selbige schon im Grabe lag (was Kerner erst den andern Tag aus der Zeitung ersah) wodurch nun die Frau außerordentlich angegriffen wurde. Sie kam ins schrecklichste Erbrechen, das nicht aufhörte, bis sie wie eine Leiche da lag. Nur durch Waschen der Hand, womit sie das Band berührt hatte und durch ein Blasenpflaster, das ihr auf den Magen gelegt wurde, konnte die Sache wieder gemildert werden. (S. 177)
Mörike selbst unterzog sich wegen seiner mannigfachen körperlichen Leiden mehrfach magnetischen Heilkuren. So besuchte er im Sommer 1848 auf einer Reise ins Schwarzwaldbad Teinach seinen Studienfreund Christoph Blumhardt, der als Pfarrer in Möttlingen durch zahlreiche Krankenheilungen Aufsehen erregt hatte, um sich von ihm behandeln zu lassen. Auf Mörikes Bitte legte Blumhardt ihm die Hand auf3, und der Patient glaubte seither eine „wunderbare Besserung“ seines Zustands zu verspüren (15, S. 270). Blumhardt hielt allerdings gar nichts vom Magnetisieren. Er scheint seine vom Konsistorium mit Argwohn betrachteten Heilerfolge eher durch eine Art Psychotherapie erzielt zu haben und führte auch mit Mörike lange vertrauliche Gespräche. Eines der wenigen programmatischen Zeugnisse für Mörikes Interesse an den geheimen Kräften der Natur stellt ein Gedicht aus dem Jahre 1837 dar, mit dem er sich als Bundesgenosse Kerners zu erkennen gab und dessen aufgeklärte Kritiker aufs Korn nahm: – 347 –
13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen
Die Anti-Sympathetiker An Justin Kerner
Von lauter Geiste die Natur durchdrungen, Wie würde sie nicht durch den Geist bezwungen? Wenn sich getrennte Kräfte wiederkennen, Auf ein Erinn’rungswort entbrennen, Die Krankheit weicht, das Blut sich plötzlich stillt: Sie läugnen’s, ob es gleich, du weißt, kein Wunder gilt. Laß die Schwachmatiker nur immer räsonniren, Und rechn’ es ihnen allzu hoch nicht an! Denn, wenn sie Gott und die Natur borniren – Es streckt sich Keiner länger als er kann. (1.1, S. 177)
Hier treten die den Lehren Schellings verpflichteten naturphilosophischen Grundlagen der mystischen Spekulation deutlich zutage: Da auch die Natursphäre vom „Geiste […] durchdrungen“ und folglich der Menschenseele wesensverwandt ist, zeigen sich in der Welt überall ‚Sympathien‘, verborgene Beziehungen, die sich auf ganz natürlichem Wege erklären lassen, ohne dass man dafür ein „Wunder“ bemühen müsste. Nur engstirniger Rationalismus kann sich dieser Einsicht verweigern und damit weite Teile der Wirklichkeit verleugnen, deren Existenz seinen beschränkten Prämissen widerspricht. Besonders fasziniert zeigte sich Mörike von dem Phänomen des Traums, in dem er offenkundig mehr als ein belangloses nächtliches Hirngespinst sah. Weil ihm klar war, dass er in seinen Träumen häufig persönliche Erfahrungen und Nöte verarbeitete, registrierte er sie mit großer Sorgfalt und teilte sie von Fall zu Fall auch Freunden und Verwandten mit. In einem Brief an die Schwester Luise von 1824 ist zu lesen: Wenn ich am Morgen mit einem schönen, halbtraurigen Traum aufstehe, so wird darnach die Stimmung meines ganzen Tags, und ich bin entweder über mäßig still und dabei unverträglich oder zu meinem eigenen Verdruß – ausgelassen. Und jene nächtliche Empfindung verfolgt mich bei jedem Tritt, weil ich sie nicht etwa durch Erzählung an einen andern oder durch ein freyes Spiel des Schmerzens u. der Leidenschaft, oder durch einen Gewaltstreich, von mir losschlagen mag. (10, S. 69)
Dieser Einleitung folgen ausführliche Traumberichte, die sich um die verlorene Jugendliebe Klara Neuffer und den wenige Monate zuvor verstorbenen Bruder August drehen. „So kommen unzählige Träume“, beschließt – 348 –
An den Grenzen der sichtbaren Welt
Mörike seine Schilderungen, „aber meist unbeschreiblich glückliche“ (S. 71). Weit weniger erfreulich waren nächtliche Visionen, die seinen hypochondrischen Sorgen sichtbare Gestalt verliehen und sich bis zu Todesängsten steigern konnten. Einmal erblickte er im Traum „einen scheußlichen Mann die Stufen heraufkommen. Der obre Leib war noch ziemlich menschlich, die Beine aber ein Gerippe mit Lumpen umwickelt; mir eckelte vor ihm. Er schien sich dienstfertig nähern zu wollen, aber sein hämisches Gesicht erschreckte mich, ich dachte unwillkührlich an den Tod u. erwachte“ (12, S. 239f.).4 Von der gewichtigen Rolle, die Träume in vielen seiner literarischen Werke spielen, war schon verschiedentlich die Rede, und in einer Aufzeichnung aus der Zeit in Ochsenwang heißt es sogar: „Ein ‚Buch der Träume‘ Erzählung wirklich geträumter so wie erdichteter T. (ohne anderen als rein poet. Zweck) zu schreiben, könnte mir wohl die Lust ankommen“ (7, S. 323). Einblicke in das spezifische Interesse des Poeten Mörike an dieser Erscheinung gewährt auch ein Blatt mit mehreren Texten und Zeichnungen, das er Hartlaub 1838 zukommen ließ.5 Über einer sechszeiligen Fassung seines Gedichts Scherz („Nächtlich erschien mir im Traum …“) ist hier eine bildliche Darstellung jenes halb erheiternden, halb alptraumhaften Erlebnisses platziert, von dem die Verse erzählen. Weiter unten auf der Seite findet sich dagegen eine Zeichnung, die auf ganz allgemeine Weise das Wesen des Traums festzuhalten sucht. Sie zeigt, der Beischrift zufolge, Morpheus, den Gott der Träume, als „Sannio“, als Hanswurst oder Gaukler, in ein buntscheckiges Kostüm gekleidet, auf einer Mohnkapsel tanzend und mit einem weiteren Mohnstängel sowie einem Spiegel in den Händen. Dazu zitiert Mörike auf Deutsch und Hebräisch aus den Sprüchen Salomonis (Spr 30,2): „Denn ich bin der Allernärrischte, u. Menschenverstand ist nicht bei mir“. Der im Harlekin personifizierte Traum repräsentiert demnach die Freiheit einer schöpferischen Kraft, die nicht den strengen Gesetzen der Alltagswirklichkeit und des nüchternen Denkens unterliegt. Damit erweist er sich als eng verwandt mit der Dichtung, zumal mit einer solchen, die sich dem müßigen Spiel verschreibt. Als „Morpheus-Sannio“ ist der Herr der Träume gewissermaßen ein Halbbruder des Gottes Lolegrin, der im Märchen vom sichern Mann als virtuoser „Lustigmacher und Gaukler“, ja als „Hanswurst“ agiert (18, S. 170), und wie dieser letztlich eine Art Schutzgeist von Mörikes eigener Poetik! Allerdings wissen wir bereits, dass Spiele nicht willkürlich ablaufen, sondern sehr wohl einer eigentümlichen Logik und eigenen Regeln folgen. Wenn Mörike seinen Träumen keinerlei Aussagekraft zugeschrieben hätte, – 349 –
13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen
wäre die Aufmerksamkeit, die er ihnen widmete, unverständlich, und die komplexe Bedeutung der Träume in Maler Nolten und in manchen Gedichten konnten wir im Rahmen der jeweiligen Textanalysen gleichfalls rekonstruieren. Gerade weil das Spiel der Traumbilder nicht dem gewöhnlichen „Menschenverstand“ gehorcht, erschließt es unter Umständen Sinnschichten, die dem Tagesbewusstsein verschlossen bleiben, so wie auch in dem zitierten Bibelspruch im Gewande des Narren eine höhere Weisheit auftritt. Und der Spiegel, den Morpheus-Sannio auf Mörikes Zeichnung mit sich führt, ist traditionell ein Symbol der (Selbst-)Erkenntnis. Einen Höhepunkt erreichte Mörikes Beschäftigung mit okkulten Phänomenen in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, einerseits aufgrund des engen Kontakts mit Kerner, andererseits wegen gewisser mysteriöser Geschehnisse im Pfarrhaus zu Cleversulzbach, von denen weiter unten noch die Rede sein wird. Aber auch später finden sich immer wieder Hinweise auf einschlägige Lektüren. 1841 studierte er Clemens Brentanos Bericht über die Visionen der Dülmener Nonne Anna Katharina Emmerick, denen er die „nächste Verwandtschaft zu dem Somnambulismus“ attestierte, und lieferte eine im buchstäblichen Sinne psychosomatische Diagnose für die Stigmata der verzückten Seherin: „Selbst das Hervorbrechen heiliger Zeichen am Leibe, die Kreuze, die Blutungen, haben nichts unglaubliches, wenn sie auch nur aus dem Zustande eines höchst gesteigerten Gemeinlebens von Seele u. Körper erklärt werden wollten, wobei der leztere durch die Übermacht des Geistigen und eine penetrante Sehnsucht dahin vermocht wurde, jene immerfort so dringend vorgehaltenen Bilder als leiblichen Aus- und Abdruck erscheinen zu lassen“ (13, S. 206). 1869 las er Eduard von Hartmanns soeben erschienene und alsbald ungemein populäre Philosophie des Unbewußten6 und spätestens 1870 Maximilian Pertys Buch Die mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur.7 Auch in Fragen der Gesundheit wollte man sich im Hause Mörike nach wie vor nicht nur auf die Schulmedizin verlassen. 1868 verwendete Klara ein von einer Somnambule empfohlenes Heilmittel gegen Beschwerden in der Brust8, das angeblich so gut anschlug, dass ihr Bruder erwog, das Rezept zu publizieren, um „eine so bedeutende Erfahrung zur öfftl. Kenntn[i]ß zu bringen“ (7, S. 278). In seinen Stuttgarter Jahren verfasste Mörike außerdem zwei Aufsätze über paranormale Erscheinungen. 1861 erschien in der Zeitschrift „Freya“ der knappe Bericht Zwei mystische Thatsachen, den er in einer späteren Abschrift als Ergänzung „zu den Studien des Herrn Prof. Max Perty“ deklarierte (7, S. 369). Im ersten Abschnitt geht es um einen prophetischen – 350 –
An den Grenzen der sichtbaren Welt
Traum, den der Verfasser fast dreißig Jahre zuvor gehabt haben will, während der zweite Teil ein sonderbares Erlebnis mit Margarethe Speeth aus der Mergentheimer Zeit schildert, das schon 1847 in einem Brief Mörikes an seine spätere Frau erwähnt wird9 und bei dem er offen lässt, ob man von einem „momentanen und unvollkommenen Fernsehen im Traume“ ausgehen oder „ein unbewußtes Magische[s] von der weiblichen Seite“ annehmen müsse (S. 370). Von ähnlich bescheidenem Umfang, aber noch weitaus aufschlussreicher ist das erst postum veröffentlichte Manuskript Doppelte Seelentätigkeit, denn es enthält, anknüpfend an ein kurioses Buchorakel aus der Tübinger Zeit, den einzigen überlieferten Versuch des Autors, wenigstens in Ansätzen eine Theorie solch mysteriöser Vorkommnisse zu entwickeln. Da er in diesem Zusammenhang jedoch von seiner „alten Hypothese von einer doppelten SeelenThätigkeit“ spricht, dürften die hier formulierten Überlegungen ihre Wurzeln in sehr viel früherer Zeit, vielleicht sogar in seinen jungen Erwachsenenjahren haben: Im Allgemeinen ist meine Voraussetzung diese: die Seele strahlt u. wirkt von ihrer Nacht- oder Traumseite aus in das wache Bewußtseyn herüber, indem sie innerhalb der dunkeln Region die Anschauung von Dingen hat, die ihr sonst völlig unbekannt blieben. Ihre Vorstellungen in der Tag u. Nachtsphäre wechseln in unendlich kleinen gedrängten Zeitmomenten mit äußerster Schnelligkeit ab, so daß die Stetigkeit des wachen Bewußtseyns nicht unterbrochen scheint. (S. 368)
Diese Annahme, die unter anderem „das Geistersehen, so wie die oft so erstaunlich treffenden Aussagen bei der Tischklopferei u.s.w. natürlich zu erklären“ sucht, geht unverkennbar auf die romantischen Spekulationen über unbewusste Fähigkeiten der menschlichen Psyche zurück, wie man sie etwa auch im Traum wirksam sah, und die Wendung von der ‚Nachtseite‘ der Seele nimmt möglicherweise direkt auf Schuberts berühmte Schrift Bezug. Charakteristisch für Mörike ist jedoch, wie zurückhaltend er den Verbindlichkeitsanspruch des skizzierten Modells behandelt, denn der kleine Aufsatz schließt mit einigen vorsichtig relativierenden Bemerkungen: „So fremd u. abenteuerlich das auch aussieht, warum sollte es geradezu unmöglich seyn? Und übrigens: ‚Eine falsche Hypothese ist besser als gar keine‘ sagt Göthe irgendwo in Bezug auf s. Farbenlehre“ (S. 368). Die treibende Kraft hinter Mörikes Streifzügen in die Region des Okkulten scheint seine unstillbare Neugier auf die verborgenen Winkel der seelischen Wirklichkeit gewesen zu sein. Dass man auf diesem Feld eigentlich gar keine klare Grenze zwischen Parapsychologie und Tiefen– 351 –
13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen
psychologie ziehen kann, veranschaulicht neben den eben zitierten Vermutungen über die „doppelte SeelenThätigkeit“ auch eine Passage aus der zweiten Fassung des Maler Nolten. Wenn Tillsen sich dort im Gespräch mit Larkens skeptisch über „gewiße Erscheinungen des mystischen Gebiets“, besonders über das „Fernsehen nach Zeit und Raum“, das „Vorgesicht“ oder „zweite Gesicht“ äußert, hält ihm der Schauspieler, der hier wohl als Sprachrohr Mörikes angesehen werden darf, entgegen: „wie viel begreifen wir denn eigentlich von alle dem was wir tagtäglich vor Augen haben, ja was wir selber sind? Wie weit kennen wir denn die menschliche Natur, um ihre Grenzen zu bestimmen? Wenn mir eine Menge sehr beglaubigter, vollkommen übereinstimmender Fälle vorliegen, unter denen der unsrige wahrlich nicht der geringste ist, wie soll sich mein Verstand diesen Dingen gegenüber verhalten? Ich nehme sie schlechthin wie sie sich geben, ohne mir die ungeheuren Schwierigkeiten zu verbergen, auf welche man in Ansehung der höchsten Fragen bei einigem Nachdenken zulezt nothwendig stößt.“ (4, S. 206)
Und in einem Paralipomenon zur Zweitfassung des Romans findet sich unter der Überschrift „Aus Larkens’ Tagebuch“ die Notiz: „Unsere schlechte Psychologie. Die größten Entdeckungen haben die Philosophen noch auf dem Gebiete der menschlichen Natur zu machen“ (S. 392f.). Mörikes Beschäftigung mit dem geheimnisvollen Reich der Träume, Ahnungen und somnambulen Visionen gehört in die Reihe der vielfältigen, von Literatur, Philosophie und wissenschaftlicher Forschung gemeinsam getragenen vorfreudianischen Versuche, die unbewussten Bezirke der menschlichen Psyche zu erkunden. Allerdings führen keineswegs von allen diesen Bemühungen geradlinige Wege zu den Konzepten der Psychoanalyse, die sich um 1900 herausbildeten. Während Sigmund Freud im Es eine Provinz des individuellen Seelenlebens erkannte, die durch die Triebstrukturen und die spezifischen Verdrängungsschicksale des Einzelnen geformt wird, zielten die Spekulationen im Umkreis und in der Tradition der Romantik in der Regel auf eine überpersönliche Sphäre der göttlichen All-Natur, der sich der Mensch durch den ‚Sündenfall‘ des Bewusstseins entfremdet habe, die ihm aber im Traum und im Zustand des Somnambulismus wieder zugänglich werden könne. So sind etwa die Lehren Schuberts eher naturphilosophisch und christlichmystisch als im modernen Sinne psychologisch fundiert, weshalb sie in Freuds Traumdeutung auch nur als kuriose Überbleibsel einer weit zur ückliegenden „intellektuellen Periode, da die Philosophie und nicht – 352 –
Geisterstudien
die exakten Naturwissenschaften die Geister beherrschte“, erwähnt werden: „Aussprüche, wie die von Schubert […], welche sämtlich den Traum als einen Aufschwung des Seelenlebens zu einer höheren Stufe darstellen, erscheinen uns heute kaum begreiflich“.10 Eduard von Hartmann, der an Schelling und an die Willensmetaphysik Schopenhauers anknüpfte, verstand das „Unbewußte“ ebenfalls noch als umfassendes Lebensprinzip der Welt beziehungsweise der Natur. In der Dichtung der Romantik, zumal bei Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann, lassen sich dagegen mitunter schon verblüffende Analogien zu den späteren Theoremen der Psychoanalyse aufdecken, und dasselbe gilt, wie wir bereits gesehen haben, für manche psychischen Mechanismen und Traumschilderungen in Mörikes literarischen Werken. Gerade der Verzicht auf alle Bestrebungen, mysteriöse Phänomene vollkommen schlüssig zu erklären und dogmatisch zu systematisieren, mag den Autor dazu befähigt haben, in seinem poetischen Schaffen Wege zu beschreiten, die über die Grenzen der zeitgenössischen Wissenschaft hinausführten.
Geisterstudien Die Welt der ruhelosen abgeschiedenen Seelen, der Justinus Kerner so eifrig nachforschte, war für Mörike zumindest zeitweilig kein rein akademisches Problem, sondern machte sich auch sehr handgreiflich bemerkbar – im Cleversulzbacher Pfarrhaus nämlich, in dem ein veritabler Poltergeist sein Unwesen trieb. Schon einige von Mörikes Amtsvorgängern hatten die unheimlichen Wirkungen am eigenen Leibe verspürt, und man glaubte zu wissen, dass deren Urheber um die Mitte des 18. Jahrhunderts ebenfalls als Pfarrer in der Gemeinde tätig gewesen war: Es soll sich um Eberhard Ludwig Rabausch gehandelt haben, der als unseliger Geist seinen gott losen Lebenswandel büßen musste. Kerner machte in Die Seherin von Prevorst auf die Vorkommnisse in Cleversulzbach aufmerksam und publizierte 1840 im ersten Jahrgang des „Magikon“ weiteres einschlägiges Material, das teilweise bereits auf Mitteilungen Mörikes beruhte. Anfang 1841 ersuchte er den Freund aber, seine Beobachtungen ausführlich und geordnet niederzuschreiben, was Mörike auch umgehend tat, obwohl diese Beschäftigung, wie er Hartlaub erklärte, für ihn „grade nicht das amüsanteste Stück Arbeit“ darstellte (13, S. 152). Am 1. Februar schickte er Kerner sein Manuskript, das er im Begleitbrief noch um zusätzliche Informationen ergänzte.11 – 353 –
13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen
Die im selben Jahr im „Magikon“ abgedruckten Aufzeichnungen Der Spuk im Pfarrhaus zu Cleversulzbach sind unsere wichtigste Quelle für Informationen über jene merkwürdigen Begebenheiten, mit denen sich verschiedene Bewohner des Gebäudes im Laufe der Zeit konfrontiert sahen. Sie bleiben ganz auf der Ebene der präzisen, nüchternen Empirie und enthalten weder Kommentare des Verfassers noch ‚geisterkundliche‘ Deutungen. Ihre Grundlage bilden tagebuchartige Notizen Mörikes, die von August bis November 1834 reichen, also aus den ersten Monaten seines Aufenthalts im Pfarrhaus stammen und neben seinen eigenen Erlebnissen auch sorgfältig protokollierte Aussagen anderer Zeugen umfassen; hinzu kommen Passagen aus einem auf das Jahr 1840 datierten Bericht Gottlieb Friedrich Sattlers, der dem kränklichen Pfarrer damals als Vikar zur Seite stand. Einige Ausschnitte mögen den eigentümlichen Charakter der kleinen Schrift veranschaulichen und zugleich illustrieren, wie der Geist von Cleversulzbach seine Anwesenheit kund zu tun pflegte: Zweierlei vorzüglich ist’s, was mir auffällt. Ein Fallen und Rollen, wie von einer kleinen Kugel unter meiner Bettstatt hervor, das ich bei hellem Wachen und völliger Gemüthsruhe mehrmals vernahm, und wovon ich bei Tage trotz allem Nachsuchen keine natürliche Ursache finden konnte. Sodann, daß ich einmal mitten in einem harmlosen, unbedeutenden Traum plötzlich mit einem sonderbaren Schrecken erweckt wurde, wobei mein Blick zugleich auf einen hellen, länglichten Schein unweit der Kammer thüre fiel, welcher nach einigen Sekunden verschwand. Weder der Mond, noch ein anderes Licht kann mich getäuscht haben. (7, S. 349) In einer der letzten Nächte sah Karl [Mörikes Bruder, der damals als Gast im Pfarrhaus wohnte] gerade über dem Fuße seines Bettes eine feurige Erscheinung, eben als beschriebe eine unsichtbare Hand mit weißglühender Kohle oder mit glühender Fingerspitze einen Zickzack mit langen Horizontalstrichen in der Luft. Der Schein sey ziemlich matt gewesen. Hierauf habe sich ein eigenthümliches Schnarren vernehmen lassen. (S. 354) Als ziemlich gewöhnliche Wahrnehmungen im Hause […] muß ich in der Kürze noch anführen: Ein sehr deutliches Athmen und Schnaufen in irgend einem Winkel des Zimmers, zuweilen dicht am Bette der Personen. Ein Tappen und Schlurfen durchs Haus, verschiedene Metalltöne: als ob man eine nicht sehr straff gespannte Stahlsaite durch ein spitzes Instrument zum Klingen oder Klirren brächte; als ob ein Stückchen Eisen, etwa ein Feuerstahl, etwas unsanft auf den Ofen gelegt würde. Ferner Töne, als führte Jemand zwei bis drei heftige Streiche mit einer dünnen Gerte auf
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Geisterstudien
den Tisch; auch ein gewisses Schnellen in der Luft, dann Töne, wie wenn ein dünnes Reis zerbrochen, oder besser, ein seidner Faden entzwei gerissen würde. (S. 357)
Der Spuk manifestierte sich vorwiegend in flüchtigen optischen und akustischen Sensationen, die sich manchmal zu Erscheinungen einer menschlichen Figur oder eines mysteriösen Hundes steigerten; vereinzelt fühlten sich die Hausbewohner aber, zumeist im Bett, auch einer gespenstischen körperlichen Berührung ausgesetzt. Als im Mai und Juni 1843, kurz vor Mörikes Pensionierung, die junge Marie von Hügel für einige Wochen bei ihm unterkam, um auf neutralem Boden ihre Scheidung abwarten und danach – sehr zum Unwillen des Vaters – Justinus’ Sohn Theobald Kerner heiraten zu können, machte sie ebenfalls die Bekanntschaft des hauseigenen Gespensts, das ihr mit Türenschlagen, Herumtappen, Pochen, Stöhnen und Seufzen lästig fiel und einmal gar in sichtbarer Menschengestalt vor sie hintrat. Auch ihr Bericht fand als Ergänzung der früheren seinen Weg ins „Magikon“.12 Abgerundet wird das Bild schließlich durch die verstreuten Erwähnungen des Spukwesens in den Briefen, die Mörike aus Cleversulzbach an Hartlaub schrieb, nachdem die beiden 1837 ihre Freundschaft aus Schul- und Universitätstagen erneuert hatten. Zumindest eine Passage, die vom 8. September 1841 stammt, sei hier vollständig angeführt: Gestern hatten wir ein somnambul (und besessen?) gewesenes, unstreitig noch jezt halb magnetisches, 11jähriges Mädchen, Caroline Simpfendörfer aus Brettach, im Hause […]. Sie will den HausGeist in Person und Amtstracht auf dem obern Gange vor der Kammerthür beim Registraturkasten gesehen haben. Ich und Clärchen standen dabei, wie sie, die Augen fest auf die Stelle gerichtet, in einer Entfernung von 3–4 Schritten, mit einem eigen gemischten Ausdruck von Verachtung und Mitleid im Gesicht ihn anredete (Was willst denn Du da? – – Du bist aber einmal rechter armer Tropf, ein Knützer! Wärst brav gewesen im Leben &c.) (13, S. 203)
Doch damit der Freund nun nicht etwa auf den Gedanken käme, künftig von Besuchen in Cleversulzbach abzusehen, wo man mit einem so unheimlichen Genossen unter einem Dach lebte, beeilte Mörike sich hinzuzufügen: „Laßt Euch das aber nicht anfechten. Wir wissen selbst noch gar nicht was wir von der Sache halten sollen und sie hat uns nicht im geringsten aus der Fassung gebracht. Jedenfalls ist in den untern Zimmern Nichts zu fürchten“, und so werde dort gewiss „kein Rabausch“ die freundschaftliche Geselligkeit stören. – 355 –
13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen
Es soll hier nicht darüber spekuliert werden, was damals wirklich im Cleversulzbacher Pfarrhaus vorgegangen sein mag. Unser Interesse muss sich statt dessen auf Mörikes persönliche Haltung zu den Phänomenen richten, die er in seinem Heim wahrzunehmen glaubte. Viele seiner Bemerkungen zeugen von dem Bemühen, kühle Sachlichkeit zu wahren und die Dinge unvoreingenommen zu betrachten. Sinnestäuschungen oder Einbildungen suchte er durch kritische Selbstprüfung auszuschließen, und die Schrift für das „Magikon“ berichtet von regelrechten Experimenten, mit denen man – vergeblich – möglichen natürlichen Ursachen der rätselhaften Vorfälle auf die Spur zu kommen trachtete. Im Dezember 1840 brach Mörike laut einem Brief an Hartlaub sogar „mit Stemmeisen und Hammer“ den Bretterboden im Zimmer seines Vikars auf, unter dem er die Quelle unerklärlicher Geräusche vermutete (13, S. 145)! Eine förmliche Theorie des Geisterreichs, wie sie Kerner anstrebte, entwickelte Mörike nicht einmal in Ansätzen, aber dafür machte sich bei ihm bisweilen ein geradezu spielerischer Umgang mit dem Gespenstischen bemerkbar. Im Verkehr mit dem Weinsberger Fachmann, der verwertbares Material für seine Studien erwartete, musste er solche Anwandlungen selbstverständlich unterdrücken und als seriöser Forscher auftreten, doch gegenüber Hartlaub, mit dem er das Thema vertraulicher erörtern konnte, schlug er des Öfteren humorvolle oder ironische Töne an, indem er etwa, Hamlet zitierend, von dem „alte[n] Maulwurf “ sprach, der sich in seinem Hause derzeit wieder rühre (13, S. 145), die Vermutung äußerte, dass Rabausch zu Lebzeiten ein „Sehrmann“ gewesen sein müsse, wie er in dem satirischen Gedicht An Longus beschrieben wird (S. 232), oder die Erscheinung des Spuks in Tiergestalt zum Anlass nahm, die neue Gattung des „Canis spectralis“, des Geisterhundes, einzuführen, zu der er offenbar auch seinen eigenen Spitz Joli rechnete (12, S. 125). Wie unterschiedlich Mörikes Äußerungen in Abhängigkeit vom jeweiligen Adressaten ausfielen, verdeutlicht beispielhaft eine Gespenstergeschichte, von der er Ende 1841 durch Hartlaubs Vermittlung Kenntnis erhielt und die er für Kerner aufzeichnete.13 Während ein launiger Brief an Hartlaub die ganze Angelegenheit, bei der es obendrein um die Hebung eines Schatzes ging, durch die man den Geist zu erlösen hoffte, eher als komisch-unterhaltsames Abenteuer behandelt, erhielt Kerner zur gleichen Zeit eine streng sachliche Mitteilung, in der die ‚technischen‘ Fragen des Falles detailliert erörtert werden.14 Die Geschichte war freilich derart mit abergläubischen Klischees gespickt – auch der obligatorische schwarze Höllenhund als Hüter der verborgenen Geldtruhe fehlte nicht! –, dass sie – 356 –
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selbst Kerner zu obskur vorkam, weshalb Mörikes Bericht ungedruckt blieb (und den verheißenen Schatz fand man am Ende leider auch nicht). Noch Isolde Kurz, die den Dichter in seinen letzten Jahren kennenlernte, war im Zweifel, ob er überhaupt ernsthaft an „jenseitige Manifestationen“ glaubte, „denn wenn Mörike geheimnisvolle Töne anschlug, so gingen sie aus dem feierlichen leicht ins spielende über, und man fühlte, dass er selbst die Grenze nicht festhielt“.15 Doch wäre es voreilig, ihm zu unterstellen, er habe vermeintliche Spukereien im Grunde lediglich als amüsanten Spaß betrachtet und sich insgeheim über echte Geistergläubige wie Kerner lustig gemacht. Plausibler ist es, die scherzhafte Leichtigkeit bei der Behandlung solcher Gegenstände als eine für Mörike typische Schutzmaßnahme zu interpretieren, mit der er sich gegen eine geahnte Realität wappnete, die ihn durchaus zu beunruhigen oder zu ängstigen vermochte: „bei Tage müssen wir uns Gewalt anthun, um uns nicht lustig darüber zu machen, bei Nacht gibt sich der Ernst von selbst“, heißt es in Der Spuk im Pfarrhaus zu Cleversulzbach (7, S. 350), und noch 1851 erzählte er Margarethe und Klara, wie ihn seine aufgeregte Phantasie nach der Lektüre einer gruseligen Gespenstergeschichte kaum habe schlafen lassen.16 Da bot es sich an, die Geisterwelt zumindest hin und wieder zum Gegenstand eines humorvollen Spiels zu machen, das seinem Urheber jene überlegene Souveränität zurückgab, die man in der Begegnung mit dem Unheimlichen so leicht einbüßt. Seiner Vorliebe für spukhafte Begebenheiten blieb Mörike – wie der Neigung zu Okkultismus und Parapsychologie insgesamt – bis ins hohe Alter treu. 1859 bestellte er Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde aus der Leihbibliothek 17, und Ende der sechziger Jahre studierte er das Buch Der Mystagog, in dem Georg Friedrich Daumer, unter anderem im Anschluss an Kerner, Geister als „eidolomagische Erscheinungen“ erklärte, in denen sich die menschliche Seele sinnlich greifbar darstelle (19.1, S. 76), sowie ein „Büchlein übers Tischrücken“, das er „höchst merkwürdig“ (im Sinne von ‚bemerkenswert‘) nannte und „in Einem Zug vollständig“ durchlas (S. 93). Besonders in Mährlen fand er in seiner Stuttgarter Zeit einen Gesprächspartner, mit dem er solche Materien ausgiebig diskutieren konnte.18 Nach dessen Tod erwähnte er in einem Brief an die Witwe einige Bücher aus dem Besitz des Freundes, die er in Händen habe, darunter Hartmanns Philosophie des Unbewußten, Pertys Die mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur und die Schrift Der Spiritismus von C. M. Rechenberg.19 Und noch ein Jahr vor seinem Tod verspürte er Lust, in dem Dorf Dettenhausen ein berüchtigtes Spukhaus zu inspizieren, dessen – 357 –
13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen
lutige Geschichte er sich berichten ließ.20 Völlig kritiklos scheint er im b Umgang mit diesen Dingen aber nie gewesen zu sein. Friedrich Notter, der mit ihm eine Tischrück-Séance bei einem angeblich besonders befähigten Medium absolvierte, staunte jedenfalls „über die Vorsicht und den Scharfsinn, mit welchem Mörike jeder Möglichkeit einer Täuschung zu begegnen suchte“.21 Hier finden wir jene nüchtern-empirische Haltung wieder, die er schon bei der Untersuchung der Vorgänge im Pfarrhaus von Cleversulzbach an den Tag gelegt hatte. Mörikes Verhältnis zu okkulten Phänomenen stellt sich in den verstreuten Zeugnissen nicht etwa als unklare, irrationale Schwärmerei, sondern als eine komplexe Mischung aus Aufgeschlossenheit, behutsamer Skepsis und kreativem Spiel dar. So hielt er offenbar eine Rückkehr abgeschiedener Seelen in die diesseitige Welt keineswegs für ausgeschlossen, wahrte aber Distanz gegenüber jedem Versuch, dieses heikle Gebiet einer strengen wissenschaftlichen Systematik zu unterwerfen. Das Gespräch über den „Glauben an Erscheinungen“, das Theobald Nolten und der Präsident von K* in seinem Roman führen, ist vermutlich nichts anderes als eine dialogische Inszenierung seiner eigenen offenen und zugleich vorsichtigen Haltung: „Der Maler fand es durchaus nicht wider die Natur, vielmehr vollkommen in der Ordnung, daß manche Verstorbene sich auf verschiedentliche sinnliche Weise den Lebenden zu erkennen geben sollten. Der Präsident schien dieser Meinung im Herzen weit weniger abhold zu seyn, als er gestehen wollte; vielleicht auch war ihm nur darum zu thun, das Interesse des Gesprächs durch Widerspruch zu steigern“ (3, S. 370) – er erzählt dann als Beispielfall eine mysteriöse Episode, die als ungelöstes Rätsel ebenso der kritischen Beurteilung des Lesers anheimgestellt bleibt wie etwas später die gespenstische Vision des jungen Henni, mit der Mörike die Vermutung nahelegt, dass gerade der Blinde die Gabe eines ‚zweiten Gesichts‘ besitze. Auch in Der Schatz fällt eine Bemerkung, die Rückschlüsse auf Mörikes Einstellung zum Übersinnlichen gestattet. Die Weigerung des Hofrats Arbogast, die Auflösung seiner Geschichte preiszugeben, die so reich an echten oder scheinbaren wundersamen und spukhaften Vorkommnissen ist, wird dort von Cornelie, einer Sachwalterin des freien Spiels der Poesie, folgendermaßen kommentiert: „so sehr mich selber die Neugierde plagt, es will mir doch zugleich gefallen, daß von den geisterhaften Dingen, die wir ahnen, der letzte Schleier nicht hinweggenommen werde. Sie würden einem hier, däucht mich, zu wirklich und zu nahe, und wären wenigstens mit einer heitern Darstellung, wie diese doch im Ganzen war, – 358 –
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kaum zu vereinigen“ (6.1, S. 92). Das Fallen des Schleiers würde unter Umständen allzu Beunruhigendes und Erschreckendes zutage fördern, zumindest aber den poetischen Reiz aufheben, der jedes Mysterium umgibt. Wenn es um „geisterhafte Dinge“ geht, bildet das geheimnisvolle, ahnungsreiche Dunkel kein störendes Hindernis für die klare Erkenntnis, sondern vielmehr jenen Freiraum, den das heitere poetische Spiel braucht, um sich ungestört entfalten zu können. So finden wir bestätigt, dass Mörike dem Reich des Okkulten stets mehr als Dichter denn als Wissenschaftler begegnete.
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14. Politik und Zeitgeschichte Verfassungsstaat und Repression: das Königreich Württemberg Kein anderes Klischee ist in der Rezeptionsgeschichte so eng mit Eduard Mörike verbunden gewesen wie das des weltfremden Poeten, der in idyllischer Abgeschiedenheit harmlose Märchen und Naturgedichte schreibt. Schon manche Zeitgenossen machten ihn deshalb zur Zielschreibe ihres Spotts. Der ehemalige Jungdeutsche Karl Gutzkow sprach verächtlich von einem Menschen „im Schlafrock und in Pantoffeln“, einem „Träumer mit seiner glücklichen Sprachfertigkeit, die Tausende haben“1, und Heinrich Heine, der über die vermeintliche provinzielle Beschränktheit der schwäbischen Dichter herzog, verschonte dabei auch Mörike nicht, obwohl er sich immerhin überreden ließ, dessen Namen in seinem satirischen Schwabenspiegel nicht ausdrücklich zu nennen: Ein ganz ausgezeichneter Dichter der schwäbischen Schule, versichert man mir, ist Herr *** – er sey erst kürzlich zum Bewußtseyn, aber noch nicht zur Erscheinung gekommen; er habe nemlich seine Gedichte noch nicht drucken lassen. Man sagt mir, er besinge nicht bloß Maykäfer, sondern sogar Lerchen und Wachteln, was gewiß sehr löblich ist. Lerchen und Wachteln sind wahrhaftig werth, daß man sie besinge, nemlich wenn sie gebraten sind.2
Im Grunde kaum anders, nur mit umgekehrten Vorzeichen urteilten wohlwollende Rezensenten, wenn sie Mörikes Distanz von der lärmenden Hektik des politischen Tagesgeschehens rühmten. Über die Idylle vom Bodensee, die 1846 mitten in der aufgewühlten, revolutionsträchtigen letzten Phase des Vormärz erschien, hieß es beispielsweise in einer Besprechung: „Ein so reiner Kunstgenuß in so trüb verworrener Zeit, ein so voller harmonischer Klang in dem schrillen Durcheinanderschreien der tausendstimmigen Gegenwart ist erquickendes Labsal, wie der – 360 –
Verfassungsstaat und Repression: das Königreich Württemberg
erfrischende Saft der goldglühenden Südfrucht am bleischwer lastenden Sciroccotage.“3 Ein weiterer Kritiker pries „die Poesie des Stilllebens, der Dorfwelt“ und resümierte: „dieses Württemberg, das bei dem Bau deutscher Eisenbahnen am spätesten sich betheiligte, scheint uns für den so späten Anschluß an die großen Verkehrsstraßen durch eine Gattung von Poesie entschädigen zu wollen, die sich allerdings nur in einer still umfriedeten Welt, weit ab von dem Gedränge der großen Heerstraßen und Weltmärkte, finden läßt.“4 Ganz so „still umfriedet“, wie sie in der verklärenden oder auch boshaft karikierenden Sicht vieler damaliger wie späterer Betrachter erscheinen mochte, war Mörikes Welt indes keineswegs. Wenngleich sein persönliches Leben ereignisarm blieb, spielte es sich doch zum größten Teil in äußerst unruhigen Zeiten ab, die tiefgreifende Umbrüche auf allen Feldern der Politik, der Gesellschaft, der Technik und der Ökonomie mit sich brachten und auch seine Heimat Württemberg nicht unberührt ließen. Zu Lebzeiten des Dichters, der wenige Monate vor Napoleons Kaiserkrönung geboren wurde und einige Jahre nach der Begründung des Deutschen Reiches durch Bismarcks Einigungskriege starb, vollzogen sich jene Geschehnisse und strukturellen Wandlungen, die der Historiker Hans-Ulrich Wehler mit dem Schlagwort von der „deutschen Doppelrevolution“, der politischen und der industriellen, belegt hat. Mörike konnte verfolgen, wie sich in Deutschland im Spannungsfeld zwischen Obrigkeitsstaat und liberaler Bewegung die moderne bürgerliche Gesellschaft herausbildete, er erlebte aber beispielsweise auch den Bau der ersten Eisenbahnlinien auf württembergischem Boden, die Erfindung der Daguerreotypie – einer frühen Form der Fotografie – und die Entwicklung der beschaulichen Residenz Stuttgart zu einer Großstadt. Offene Spuren dieser Vorgänge oder gar eines kämpferischen politischen Engagements sucht man in seinem literarischen Werk zwar tatsächlich weitgehend vergebens, aber es wird zu zeigen sein, dass das Stereotyp vom gemütlichen Biedermeierpoeten die Realität dennoch erheblich verfälscht. Mörikes politischer Horizont war im Wesentlichen durch das Königreich Württemberg und die soziale Schicht der bürgerlichen Ehrbarkeit bestimmt. Um den Blickwinkel zu rekonstruieren, unter dem er zeitgeschichtliche Ereignisse wahrnahm und beurteilte, müssen wir zunächst ein gutes Stück weit in die württembergische Vergangenheit zurückgehen. 1514 hatte das Land durch den Tübinger Vertrag zwischen Herzog Ulrich und der von der Ehrbarkeit dominierten Ständevertretung, der sogenannten „Landschaft“, eine Art Grundgesetz erhalten, das jahrhundertelang in – 361 –
14. Politik und Zeitgeschichte
Geltung blieb. So stellte Württemberg im absolutistischen Zeitalter eine Ausnahmeerscheinung in Europa dar, weil seine Stände ihren Einfluss auf die Politik behaupten konnten: Der konfliktreiche Dualismus von Herzog und Landschaft, noch 1770 durch den „Erbvergleich“ mit Herzog Karl Eugen aufs Neue bekräftigt, bildete bis in die napoleonische Ära hinein eine Konstante der württembergischen Geschichte. Die in jeder Hinsicht revolutionären Umwälzungen der Zeit um 1800 machten jedoch vor den Grenzen Württembergs nicht Halt. In den kriegerischen Verwicklungen dieser Epoche befand sich das zwischen Frankreich und Österreich eingeklemmte Land in einer prekären Lage. Herzog Friedrich II. (1797–1816) setzte nach einigem Schwanken klugerweise auf die französische Karte und profitierte deshalb von der großen territorialpolitischen Flurbereinigung, die Napoleon in Mitteleuropa in Gang setzte. Seit 1803 konnte Württemberg zahlreiche geistliche, reichsritterschaftliche und vorderösterreichische Gebiete sowie mehrere Reichsstädte in seinen Besitz bringen und sich damit unter anderem über die Donau nach Oberschwaben und bis an den Bodensee ausdehnen. Überdies legte sich der Landesherr mit Napoleons Billigung den Königstitel zu. Noch wichtiger war die französische Rückendeckung bei der 1805/6 vollzogenen Ausschaltung und Auflösung der Landschaft: Die mit Napoleon verbündeten Fürsten sollten politisch wie militärisch uneingeschränkt handlungsfähig sein, und das bröckelnde Heilige römische Reich deutscher Nation vermochte die Rechte der Ständevertretung nicht länger zu schützen. Mit diesem veritablen Staatsstreich verschaffte sich der König volle Souveränität nach innen – erst jetzt, zu später Stunde, war der monarchische Absolutismus also auch in Württemberg verwirklicht. Nach außen hin sah Friedrich seine Unabhängigkeit allerdings durch den Rheinbund, in dem der französische Kaiser seine deutschen Alliierten zusammenfasste, empfindlich eingeengt. So musste er 1812 für Napoleons verhängnisvollen Russlandfeldzug 15000 Soldaten stellen, von denen nur einige Hundert die Heimat wiedersahen. Nach der Völkerschlacht von Leipzig, die im folgenden Jahr der französischen Hegemonie in Deutschland ein Ende machte, wechselte Friedrich rechtzeitig auf die Seite der Preußen, Russen und Österreicher, die gegen Napoleon im Kampf standen, wodurch es ihm gelang, sich die Errungenschaften der jüngsten Vergangenheit auch über den Sturz des Kaisers hinaus zu sichern. Binnen weniger Jahre hatten sich Fläche und Bevölkerung des Landes mehr als verdoppelt; Württemberg zählte nun ungefähr 1,34 Millionen Einwohner. Der Preis für die Erweiterung bestand freilich in einer – 362 –
Verfassungsstaat und Repression: das Königreich Württemberg
eterogenität, die dem streng lutherischen alt-württembergischen HerH zogtum noch fremd gewesen war. Die neugewonnenen Territorien waren überwiegend katholisch und pflegten ihre eigenen Traditionen und ihre besondere Lebensart, die Mörike zum Beispiel während seines längeren Aufenthaltes in Oberschwaben im Jahre 1828 kennenlernte; daneben standen alte Reichsstädte wie Heilbronn, Esslingen, Rottweil und Ulm mit wiederum ganz eigentümlichen sozialen und politischen Strukturen. Aber König Friedrich meisterte diese Herausforderung und verwandelte das neue Württemberg trotz der unsicheren Zeitläufte durch die straffe Organisation von Verwaltung, Militärwesen, Post und Verkehr in einen relativ einheitlichen und für damalige Verhältnisse modernen Staat. Die Kirchen betrachtete der Monarch als Landeskirchen, die Geistlichen vorrangig als Staatsdiener. Große Sympathien erwarb sich Friedrich mit seinen Reformen jedoch nicht – zu schroff und selbstherrlich war sein Gebaren, zu ausgiebig wurden auch die Mittel polizeistaatlicher Überwachung und Zensur eingesetzt. Als der König dem Land 1815 eine Verfassung oktroyieren wollte, die als Krönung seines Lebenswerks und als eine weitere einigende Klammer für den so gewaltig angewachsenen Staat gedacht war, brach der Konflikt offen aus. Die eigens einberufene Ständeversammlung, die dieses Diktat entgegennehmen sollte, widersetzte sich nämlich, pochte auf das zehn Jahre zuvor suspendierte „Alte Recht“ und verlangte eine Verfassung, die auf einer vertraglichen Vereinbarung zwischen dem Monarchen und den Ständen beruhte. Mörikes Onkel Eberhard Friedrich von Georgii spielte dabei eine wichtige Rolle. Der angesehene Mann hatte schon 1806 dem frischgekrönten König den Treueid verweigert und seinen Abschied aus dem Staatsdienst genommen; später bekleidete er zwar wieder hohe Stellungen am Stuttgarter Obertribunal, bewährte sich aber im Widerstand gegen das Verfassungsdiktat auch erneut als kämpferischer Verfechter des „Alten Rechts“. Erst unter Friedrichs Sohn und Nachfolger Wilhelm I. (1816–1864) konnte 1819 nach langem und zähem Ringen endlich eine württembergische Landesverfassung verabschiedet werden. Sie basierte auf einem Vertrag, womit die ‚Altrechtler‘ ihr wichtigstes Anliegen durchgesetzt hatten. Württemberg wurde zur konstitutionellen Monarchie mit einem Zwei-Kammern-System: Neben ein aus Standesherren – ehemals reichsunmittelbaren Adligen – und vom König ernannten Mitgliedern zusammengesetztes Oberhaus trat die Abgeordnetenkammer der Volksvertreter, die überwiegend auf der Grundlage eines Zensuswahlrechts bestimmt wurden. – 363 –
14. Politik und Zeitgeschichte
Das ausgeprägte Selbstgefühl der bürgerlichen Ehrbarkeit, das sich im Kampf um die Verfassung noch einmal eindrucksvoll geltend machte, beruhte auf der jahrhundertealten Gewohnheit landständischer Mitregierung und erklärt auch die für diese Schicht typische Verbindung entschiedener politischer Liberalität mit einem etwas provinziell anmutenden Traditionsbewusstsein. Wer sich in Württemberg auf das „alte gute Recht“ aus vorrevolutionärer Zeit berief, meinte damit eben kein absolutistisches Ancien Régime, sondern den Tübinger Vertrag und die garantierte Teilhabe der Stände an der Politik. Im frühen 19. Jahrhundert gingen diese überlieferten Ideen in einem komplexen Prozess in die Gedankenwelt des modernen Konstitutionalismus über. Als eine beispielhafte Mittlergestalt sei Ludwig Uhland erwähnt, Dichter, Philologe und Politiker in einem, der jahrelang der Kammer in Stuttgart angehörte und später auch Abgeordneter in der Paulskirche wurde – gewiss kein Revolutionär, aber ein vom althergebrachten Vertragsdenken durchdrungener Verfechter bürgerlicher Freiheitsrechte und aufrechter Widersacher jeder Herrscherwillkür. Damit ist zugleich die politische Atmosphäre umschrieben, in der Mörike aufwuchs. Während er 1817/18 das Gymnasium illustre in Stuttgart besuchte, wohnte er in Georgiis Haus, wo sich jede Woche führende Repräsentanten der Ehrbarkeit zu einer geselligen Kegelrunde zusammenfanden. Und da dies gerade die heiße Phase des württembergischen Verfassungsstreits war, kam der Junge zweifellos unmittelbar mit den aktuellen Debatten und Auseinandersetzungen in Berührung. Davon zeugt ein Gedicht, das er in seinem zweiten Uracher Jahr verfertigte: Die Liebe zum Vaterlande. Auf den 31. Dezember 1819.5 Das umfangreiche, in prunkvollen Stanzen abgefasste und im wahrsten Sinne des Wortes schulgerechte Werk, das für den öffentlichen Vortrag im Seminar bestimmt war, verherrlicht in pathetischen Wendungen den „Freiheitskrieg“ der „teutsche[n] Mannen“ gegen die französische Fremdherrschaft und die Taten König Wilhelms, der die Feldzüge der Alliierten als General mitgemacht hatte. Doch bemerkenswerterweise stellt Mörike die erst wenige Monate zuvor in Kraft getretene Verfassung dem Triumph über den äußeren Feind gleichberechtigt an die Seite, weil sie allein die innere Befriedung des Landes gewährleisten könne. Schon in der zweiten Strophe liest man: In diesem Jahr ward uns ein Glück beschieden Durch einer Liebe segensvolle Macht, Durch sie ward unserm Volke neuer Frieden Und manches alte Recht zurückgebracht […].
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Verfassungsstaat und Repression: das Königreich Württemberg
Und später heißt es von Wilhelm: Nun, da er weiß daß sie darniederliege Des stolzen Feindes kriegerische Hand, Nun will er uns auch innern Frieden bringen: Den schönsten Lorbeer muß er sich erringen. […] Die alten Rechte gab er treu uns wieder, Wie sie die Väter hatten: deutsch und bieder.
Das Insistieren auf dem überlieferten Recht – „Wir aber schwören nie vom Recht zu lassen, / Und sollten wir im Kampf dafür erblassen“ – verleiht dem ansonsten ganz konventionellen Vaterlands- und Herrscherpanegyrikus eine besondere und gewissermaßen genuin württembergische Note. Man vergleiche damit die folgenden Verse aus Uhlands Prolog zu dem Trauerspiel „Ernst Herzog von Schwaben“, den der Dichter eigens für die Aufführung seines Stückes zur Feier der neuen Verfassung im Oktober 1819 schrieb: Ja! mitten in der wildverworrnen Zeit Ersteht ein Fürst, vom eignen Geist bewegt, Und reicht hochherzig seinem Volk die Hand Zum freien Bund der Ordnung und des Rechts.6
Ein Echo dieses eigentümlichen Verfassungspatriotismus vernimmt man noch in Mörikes Bühnenspiel Das Fest im Gebirge von 1841, das ganz der Verherrlichung Wilhelms I. gewidmet ist.7 Als Mörike am Tübinger Stift sein Theologiestudium absolvierte, sah er sich unweigerlich erneut mit politischen Aktivitäten und Konflikten konfrontiert, denn die württembergische Landesuniversität war in jenen Jahren eine Hochburg der Burschenschaft, die freiheitliche Ideale und insbesondere das Ziel eines geeinten deutschen Nationalstaats auf liberaler Grundlage verfocht. Um die Lage in Tübingen zu verstehen, muss man sich wieder die politischen Rahmenbedingungen im Lande und in ganz Deutschland vergegenwärtigen. Wilhelm I. hatte schon durch den Verfassungsvertrag beträchtliches Ansehen gewonnen, aber auch seine innenund außenpolitische Haltung fand anfangs durchaus die Zustimmung des liberalen Lagers. Württemberg war dem Deutschen Bund beigetreten, jenem lockeren Staatenverein unter Führung Österreichs und Preußens, in dem der Wiener Kongress nach Napoleons Sturz das deutschsprachige Mitteleuropa organisiert hatte. Gelenkt von dem österreichischen Staats– 365 –
14. Politik und Zeitgeschichte
kanzler Metternich, wurde der Bund sehr bald zum Werkzeug restaurativer Bestrebungen und einer rigorosen Bekämpfung der liberalen Bewegung. Doch König Wilhelm, nicht so prunkliebend und anmaßend wie sein Vater, aber um keinen Deut weniger selbstbewusst als dieser, war keineswegs gewillt, seine monarchische Souveränität beschränken zu lassen, und suchte den Einfluss der beiden Großmächte nach Möglichkeit einzudämmen. Deshalb setzte er auch die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse von 1819 mit ihren rigiden Maßnahmen gegen die Meinungsund Pressefreiheit, gegen die Universitäten und alle politischen Verbindungen zunächst nur sehr nachlässig um. So blieb etwa der Tübinger „Burschenverein“, dem ungefähr ein Viertel der rund achthundert Studenten angehörte, vorerst unbehelligt. Allerdings konnte Württemberg seinen Ruf als liberaler Musterstaat nur für kurze Zeit verteidigen, denn schon 1823/24 wurde der Druck von außen so stark, dass Wilhelm I. dem Drängen der Großmächte nachgeben und in der Innenpolitik das Ruder herumwerfen musste. Trotz des Protests der Liberalen verschärfte nun auch die württembergische Regierung ganz im Sinne der von Metternich initiierten ‚Demagogenverfolgung‘ die polizeistaatliche Repression und höhlte damit die Landesverfassung zunehmend aus. Das bekam besonders die Universität zu spüren. Sämt liche studentischen Vereinigungen wurden verboten und die Tübinger Mitglieder des konspirativen „Jünglingsbundes“, der eine revolutionäre Gesinnung kultivierte, verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Ende 1825 griff der König massiv in die Autonomie der Hochschule ein, indem er einen außerordentlichen staatlichen Kommissar ernannte: Der Oberjustizrat Karl Hofacker übernahm für mehrere Jahre die disziplinarische Aufsicht über die Universität und ging energisch gegen die Burschenschaft vor, um staatsgefährdende Ideen und umstürzlerische Umtriebe zu unterbinden. Den 1826 kurzfristig diskutierten radikalen Vorschlag, die Landesuniversität zwecks besserer Überwachung der Studenten sogar nach Stuttgart zu verlegen, nahm die Regierung freilich nicht auf. Dass Mörike diese Vorgänge aufmerksam verfolgte, beweist schon jenes um die Jahreswende 1826/27 entstandene fragmentarische Theaterstück, in dessen Mittelpunkt das eben erwähnte ephemere Verlegungsprojekt steht und von dem im Kapitel über seine dramatischen Versuche ausführlicher die Rede war. Unmissverständlich wird hier auf die unruhige Lage in Tübingen und auf die staatlichen Bemühungen um Kontrolle und Disziplin angespielt, wenn der Fruchthändler, der die Residenzstadt vertritt, von der notwendigen „Unterdrückung des schädlichen Gemein – 366 –
Verfassungsstaat und Repression: das Königreich Württemberg
geistes“ der Studenten spricht und als Argument für die Verlagerung der Hochschule die „unmittelbare Nähe des Militairs“ in Stuttgart anführt, „weil die Kinder doch manchmal unartig sind“ (7, S. 89). Aber auch diese „Kinder“, die burschenschaftlich organisierten Studenten nämlich, kommen in Mörikes Satire nicht ungeschoren davon, denn sie erweisen sich als alberne Gören, die ihre Zeit mit Trinken, Rauchen und nutzlosen Zänkereien vertändeln und in deren Mündern Schlagworte wie „Deutschlands Freiheit“, „VölkerRecht und Treue“ zu angeberischen Phrasen verkommen (S. 83). Der Zweizeiler „So haben wir noch Sächlein allerhand / Wir turnen, oder spielen auch mit – Sand“ (S. 82) deutet einerseits auf die von Friedrich Ludwig Jahn ins Leben gerufene Turnerbewegung, die unter den patriotischen Studenten großen Anklang fand, andererseits auf den jungen Karl Ludwig Sand, der 1819 den Schriftsteller August von Kotzebue als vermeintlichen reaktionären Volksfeind und Vaterlandsverräter ermordet hatte und seit seiner Hinrichtung in burschenschaftlichen Kreisen wie ein Freiheitsmärtyrer verehrt wurde (er war übrigens 1814/15 kurzfristig in Tübingen immatrikuliert gewesen). Es fragt sich jedoch, ob Mörike die liberalen Ideen als solche angreift, wenn er das politische Programm der Burschenschaft als kindische Spielerei abtut, oder ob sein Spott nicht eher dem äußeren Gehabe, gewissermaßen dem Stil der studentischen Verbindungen gilt. Über patriotische und freiheitliche Ideale äußerte sich schon der Siebzehnjährige in einem Brief an Waiblinger sehr differenziert und zwar wiederum mit Blick auf die Person Sands: Ich mußte den Sand von jeher wegen seiner ächten guten Gesinnung lieben, ich gesteh aber, daß so manch eisenfresserischer Studiosus mit seinem kindischen Geschrey oder vermeintlichen Enthusiasmus, wie er sich besonders in Stunden des Weins bey manchem Lümmel, der nicht weiß was er will, in Lobeserhebungen Sands zu äußern pflegt – mir das Gute u. Wahre, das ich an dergleichen Dingen fand, verkümmerte, so daß mir nicht selten ein eigener Widerwille aufsteigt wenn ich v. Sand rühmlich sprechen höre […]. (10, S. 33)
Während die „ächte gute Gesinnung“ des Kotzebue-Attentäters Mörikes Sympathie weckt, widert ihn das Lärmen prahlerischer ‚Eisenfresser‘ an – eine Haltung, wie sie von ihm kaum anders zu erwarten ist, wenn man seinen notorischen Abscheu vor jeder Form von Großtuerei bedenkt. Auch briefliche Äußerungen aus späterer Zeit lassen darauf schließen, dass der Dichter den inhaltlichen Zielen der liberal-patriotischen Bewegung – 367 –
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k eineswegs fern stand, auf den burschenschaftlichen Komment aber stets mit Unbehagen reagierte. Als er 1828 einen Besuch in Tübingen machte, wo gerade Semesterferien (die „Vacanz“) waren, schrieb er angesichts der gähnend leeren Kneipen an Ernst Friedrich Kauffmann: Ich dachte, es wäre nicht übel wenn ein Gesetz der Natur wäre, daß sich in der Vacanz Stühle und Bänke besaufften, statt der Studios und Commercelieder sängen, hohe patriotische Reden und Ehrensachen im Munde führten u.s.w. Ich bin überzeugt, Teutschland würde sich zwar um nichts besser aber auch um kein Haar schlimmer befinden, wenn dies das ganze Jahr hindurch der Fall wäre; ja, wer weiß, wenn es den 100 Stühlen, worauf die wildesten Burschenschäftler fluchten und tranken, einmal einfiele, nach beendigtem Türkenkriege nun auch den teutschen Fürsten die Köpfe zurecht zu setzen, ob nicht mehr dabei herauskäme, als wenn 5. Universitäten ihre Sande ausschickten. (10, S. 248)
In Maler Nolten überträgt Mörike seine eigene Einstellung auf den Schauspieler Larkens, der mit der Schilderung einer frei erfundenen, aber bedeutungsträchtigen allegorischen Maskerade den hohlen politischen Idealismus der Verbindungsstudenten verspottet und den Maulhelden ein Ende in philiströser Bürgerlichkeit prophezeit: „Ein Riese in altdeutscher Tracht, ohne Zweifel einen Studenten vorstellend“, wird von einem kleinen Kerlchen gefesselt, das nun mit Hilfe einer Leiter aus dem Kopf seines Opfers „einen ganzen Plunder symbolischer Ingredienzien herauszieht, z. B. einen täuschend nachgemachten Wurm von erstaunlicher Länge, ein seltsam gezeichnetes Kärtchen von Deutschland, eine ganze und dann mehrere zerbrochene Kronen, kleine Dolche, Biergläser, Bänder und dergleichen.“ Nach beendigter Operation macht der Riese eine verblüffende Metamorphose durch, denn da kriecht „ein ganz vergnügtes, beschei denes, rundes Pfäfflein aus der prahlerischen Hülle hervor“ (3, S. 32f.)! Später ist außerdem zu erfahren, dass Larkens zeitweilig mit einem geheimen Zirkel, der „gewissen politischen Freiheitsideen“ anhing, in Kontakt stand, sich aber nur einen Spaß daraus machte, die Verschworenen „hinter der Maske des feurigsten Enthusiasten […] zum Besten zu haben“, indem er ihnen „Briefe voll schwärmerischen Schwungs“ schrieb und „die absurdesten Vorschläge“ unterbreitete (S. 172f.) – ein Scherz, den sich Mörike gewiss auch gerne einmal erlaubt hätte. Doch obwohl ihm die Burschenschaft suspekt war, mied er nicht etwa generell den Umgang mit politisch aktiven Altersgenossen. Zu seinem Freundeskreis gehörten mehrere kämpferische Liberale, von denen – 368 –
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manche einen hohen Preis für ihre Überzeugungen zahlten. Rudolf Lohbauer, ein Vertrauter schon aus Ludwigsburger Kindertagen, wurde in Stuttgart Chefredakteur der liberalen Parteizeitung „Der Hochwächter“ und floh 1832 in die Schweiz, um der Verhaftung zu entgehen, während sein Schwager Kauffmann 1838/39 wegen seiner Verwicklung in eine revolutionäre Verschwörung im Staatsgefängnis auf dem Hohenasperg saß. Friedrich Theodor Vischer wurde 1848 wie Uhland in das PaulskirchenParlament gewählt, und Karl Mayer war ebenfalls ein profilierter Repräsentant des südwestdeutschen Liberalismus. Mörike hielt sich dagegen konsequent von der politischen Öffentlichkeit fern und konnte auch jener engagierten ‚Tendenzdichtung‘, die im vormärzlichen Deutschland Hochkonjunktur hatte, nichts abgewinnen. Als er Ende 1830 Gustav Schwab sein Projekt eines literarischen Almanachs vorstellte, das später in Gestalt des „Jahrbuchs schwäbischer Dichter und Novellisten“ in veränderter Form verwirklicht werden sollte, schrieb er in Anspielung auf die Pariser Juli-Revolution und die Erschütterungen, die sie auch jenseits der französischen Grenzen auslöste: Wenn gleich der gegenwärtige politische Horizont einem rein ästhetischen Zwecke, der mit jenem auch das Mindeste nicht zu thun hat, wenig günstig zu seyn scheint, so glaube ich doch, daß die poetische Muse unter allen Umständen ihr Recht und ihre Liebhaber behält, ja man sollte denken, sie müßte mitten in einer stürmischen Wirklichkeit nur um so willkommener seyn, wenn sie anders gemacht ist, daß man sich mit Lust an ihrem liebevollen Schein erhole. (11, S. 162)
Die Überzeugungen, die hier anklingen, sind uns wohlbekannt: Weil Dichtung Harmonie und freudige Erhebung stiften soll, steht das Vergnügen, das ihr schöner Schein bereitet, im strikten Gegensatz zu einer „stürmischen Wirklichkeit“. Parteipolitisch motivierte und damit dezidiert heteronome Lyrik ließ sich mit Mörikes Poetik des freien Spiels nicht vereinbaren, und überdies verstieß das rhetorische Pathos, das weite Teile der politischen Vormärz-Dichtung kennzeichnete, in seinen Augen massiv gegen das Leitbild der „Modestia“. So empfand er angesichts von „Heines politischem Wischiwaschi“ einen „großen Eckel“ (11, S. 98) und machte sich weidlich über Georg Herwegh lustig, dessen Gedichte eines Lebendigen damals enorme Auflagenhöhen erreichten.8 Einen spöttischen Kommentar zu der Forderung nach parteilicher Tendenzdichtung liefert das kleine Dialoggedicht Herr Dr. B. und der Dichter, das in die Zeit um 1840 gehört: – 369 –
14. Politik und Zeitgeschichte
„Recht hübsche Poesie; nein, ohne Schmeichelei! Aber Eins vermiss’ ich an Ihren Sachen.“ Nämlich? – „Eine Tendenz.“ – Tendenz! Ei, meiner Treu! – „Die kriegen Sie sich ja, mein Bester!“ – Bleib’s dabei! Will mir gleich einen Knopf an mein Sacktuch machen! (1.1, S. 368)
Mörike war, wie wir noch bestätigt finden werden, kein unpolitischer Mensch, verstand sich aber sehr wohl als unpolitischer Dichter, was den Vorteil mit sich brachte, dass ihm Scherereien mit der Zensur zeitlebens erspart blieben. Die wenigen Texte mit offenen politisch-satirischen Zügen, die er verfasste, sind eher als Nebenwerke anzusehen. Die dramatische Posse um die Verpflanzung der Landesuniversität führte er gar nicht erst zu Ende, und in der Lyriksammlung bildet das wohl in den frühen dreißiger Jahren entstandene Gedicht Bei Gelegenheit eines Kinderspielzeugs (1.1, S. 361–363) eine große Ausnahme: Hier wird der Plan eines Hanswursts, ein „neues Augenpulver“ unters Volk zu bringen, von einigen Bürgern sogleich als politisches Manöver gedeutet – „Da! Sand will man uns in die Augen streun!“ –, hinter dem sie Polignac vermuten, den Ministerpräsidenten König Karls X. von Frankreich, dessen reaktionäre Maßnahmen den Anlass für die Juli-Revolution lieferten. Der Spott dieser Verse trifft eher das überreizte Misstrauen der Bürger als die Regierung selbst, doch andererseits weist der abrupte Schluss mit den Worten „Aus jetzt – wem sein Kopf lieb ist!“ drastisch auf die Risiken hin, die damals mit verfänglichen politischen Äußerungen verknüpft waren. Erinnert sei auch an den Prozess wegen vermeintlicher Majestätsbeleidigung, in den Nolten und Larkens nach der Aufführung des Orplid-Spiels verwickelt werden: Der Autor des Maler Nolten war sich über den Druck, den die Obrigkeit mit ihrer Gesinnungsschnüffelei gerade auf die Künstler ausübte, voll und ganz im Klaren. Wenn er 1837 den Plan, jene fragmentarischen Szenen über die Universitätsverlegung als Zugabe zu seinen gesammelten Gedichten abdrucken zu lassen, „aus verschiednen Gründen […] (worunter das Nicht-Zeit-gemäße der geringste ist)“ wieder verwarf (12, S. 93), mag die Angst vor den möglichen Folgen seiner Seitenhiebe auf die staatliche Disziplinarmacht dabei eine gewichtige Rolle gespielt haben. Allerdings gibt es auch unter den herausragenden Werken Mörikes eines, das zumindest in einem erweiterten Sinne als politisch oder ‚kryptopolitisch‘ bezeichnet werden darf, nämlich die Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter, die eindrucksvoll demonstriert, wie vielschichtig eine poetische Reflexion zeitgeschichtlicher Ereignisse und Bewegungen jenseits – 370 –
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bloßer versifizierter Parteiparolen ausfallen kann. Die Ballade entstand nach Mörikes eigener, freilich sehr viel späterer Darstellung im Sommer 1824 in Tübingen „auf einem schönen Rasenplätzchen beim Philosophenbrunnen“ (13, S. 227). Überliefert sind die Strophen erstmals in einem Heft mit Gedichthandschriften aus dem Jahre 1828; der erste Druck erfolgte – ohne Titel – im Rahmen des Maler Nolten.9 Im Folgenden wird die Version aus den Gedichten von 1838 zugrunde gelegt: Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter.* Sehet ihr am Fensterlein Dort die rothe Mütze wieder? Muß nicht ganz geheuer seyn, Denn er geht schon auf und nieder; Und was für ein toll Gewühle Plötzlich auf den Gassen schwillt! Horch! das Jammerglöcklein grillt: Hinter’m Berg, hinter’m Berg Brennt’s in einer Mühle! Schaut! da sprengt er wüthend schier Durch das Thor, der Feuerreiter, Auf dem rippendürren Thier, Als auf einer Feuerleiter! Durch den Qualm und durch die Schwüle Rennt er schon wie Windesbraut! Aus der Stadt, da ruft es laut: Hinter’m Berg, hinter’m Berg Brennt’s in einer Mühle! Keine Stunde hielt es an, Bis die Mühle borst in Trümmer, Doch den wilden Reitersmann Sah man von der Stunde nimmer; Darauf stiller das Gewühle Kehret wiederum nach Haus; Auch das Glöcklein klinget aus: Hinter’m Berg, hinter’m Berg Brennt’s! – Nach der Zeit ein Müller fand Ein Gerippe sammt der Mützen Ruhig an der Kellerwand Auf der beinern’ Mähre sitzen:
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14. Politik und Zeitgeschichte
„Feuerreiter, wie so kühle Reitest du in deinem Grab!“ Husch! da fällt’s in Asche ab! Ruhe wohl! Ruhe wohl Drunten in der Mühle!
* Ist aus dem Roman: Maler Nolten. In einer alten Stadt, so wird erzählt, habe im Giebeldache eines kleinen Hauses ein junger fremder Mann gewohnt, von dessen Lebensweise Niemand näher wußte, der sich Jahr aus, Jahr ein auch niemals habe blicken lassen, außer – nach dem Volksglauben – regelmäßig vor dem Ausbruch einer Feuersbrunst. Dann sah man ihn in einer scharlachrothen, netzartigen Mütze unruhig am kleinen Fenster auf und nieder gehen, zum sichern Vorzeichen des nahe drohenden Unglücks. Mit dem ersten Feuerlärmen kam er auf einem magern Klepper unten aus dem Stalle hervorgesprengt und nahm pfeilschnell, unfehlbar seinen Lauf nach dem Orte des Brandes.10
Die umfangreiche Fußnote, ohnehin schon eine recht ungewöhnliche Zugabe zu einem Gedicht, steht von ihrem Sprachgestus her in auffälligem Kontrast zu den Strophen selbst. Nüchtern und distanziert wird der Leser hier über die Hintergründe der Handlung unterrichtet, und obendrein will sich der Sprecher, der nur aus anonymen Erzählungen und dem „Volksglauben“ schöpfen kann, nicht einmal für die Verlässlichkeit seiner Angaben verbürgen; die Geschichte des Feuerreiters mutet wie eine überlieferte Sage aus alter Zeit an. Ganz anders die eigentliche Ballade, die sofort medias in res einsetzt und den Rezipienten zunächst kaum zu Atem kommen lässt: er teilt die Perspektive eines mitten im Geschehen stehenden Beobachters, der geradezu hektisch wiedergibt, was er sieht oder hört. Das gilt zumindest für die ersten beiden Strophen, denn der in der Darstellung ausgesparte Tod des Reiters in der brennenden Mühle, den man sich im Zwischenraum nach der zweiten Strophe zu denken hat, bildet nicht nur den Höhe- und Wendepunkt der Handlungskurve, sondern lässt auch die Stimmung abrupt umschlagen. Die Schilderung wird jetzt ruhiger, das „Gewühle“ der Menge verläuft sich, die schrille Feuerglocke „klinget aus“, und eine Zeitdehnung tritt ein, die besonders in dem unbestimmten, aber offenbar beträchtlichen Abstand zwischen der Brandkatastrophe und den Ereignissen der Schlussstrophe spürbar wird. So bewegt sich die Ballade von der Suggestion spannungsgeladener Unmittelbarkeit hin zu der abgeklärten Gelassenheit, mit der man ein aufwühlendes Geschehen im Nachhinein betrachten kann. „Ruhig“ und „Ruhe“ sind denn auch Schlüsselwörter der letzten Strophe, wobei freilich nicht – 372 –
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übersehen werden sollte, dass die gedoppelte Formel „Ruhe wohl“ eben bloß einen Wunsch und keine Tatsache ausdrückt. Doch wer ist nun eigentlich dieser mysteriöse „wahnsinnige Feuerreiter“? Die zahlreichen Assoziationen, die sich an die titelgebende Gestalt knüpfen, führen auf abergläubisches Gedankengut und volkstümliche Überlieferungen, auf die zeitgenössische Brandschutzpraxis und auf die politische Symbolik der Epoche. Erzählungen von berittenen Gespenstern und feurigen Wiedergängern gibt es zuhauf, und ebenso weiß die Sage von zauberkundigen Männern zu berichten, die mit magischen Sprüchen ein Feuer bändigen konnten. Als „Feuerreiter“ bezeichnete man jedoch auch die feuerpolizeilichen Meldereiter, die die Nachricht von einem Brandfall weitertrugen und Hilfe mobilisierten. Außerdem sei erwähnt, dass gerade zu Mörikes Studienzeit in Tübingen innerhalb der Burschenschaft ein kleinerer Zirkel existierte, dessen Mitglieder wegen ihres Eifers in studentischen und politischen Angelegenheiten den Spitznamen „Feuerreiter“ erhielten, den sie dann auch selbst übernahmen. Wilhelm Hauff spielte in diesem Kreis eine führende Rolle. Das Wissen um solche Kontexte verringert die Probleme bei der Deutung der Ballade aber nicht unbedingt. Schon die Frage, ob wir in Mörikes Feuerreiter einen leibhaftigen Menschen oder einen gespenstischen Dämon vor uns haben, lässt sich nicht zweifelsfrei beantworten, obwohl das Attribut „wahnsinnig“ eher für die erstere Alternative spricht. Ein Bote der Gefahr kann er schwerlich sein, da er nicht vom Feuer weg-, sondern zu ihm hinreitet. Doch warum er das tut, wird weder in den Versen selbst noch in der Fußnote erklärt. Dass der Feuerreiter herbeieilt, um bei der Brandbekämpfung zu helfen, sagt der Text jedenfalls nicht; lediglich die „Feuerleiter“, die aber auch nur vergleichsweise genannt wird, könnte man als Indiz dafür anführen. So bildet die Motivation, die den Protagonisten zu seinem Handeln treibt, eine auffallende Leerstelle in dem Gedicht. Es sind sogar Zweifel erlaubt, ob ihm überhaupt eine bewusste Motivation unterstellt werden darf, denn sein rasender Ritt, der sich bei jedem Brandfall „regelmäßig“ und „unfehlbar“ wiederholt, trägt augenscheinlich zwanghafte, eben ‚wahnsinnige‘ Züge. Festzuhalten ist also vorerst nur, dass der Feuerreiter von der Gewalt des Elements, dem er seinen Namen verdankt, unwiderstehlich angezogen wird, bis sie ihn schließlich ins Verderben stürzt. Zu einem tieferen Verständnis der rätselhaften Ballade gelangt man am ehesten über die politische Deutungsebene, denn hier kommen einige Symbole ins Spiel, die für Mörikes Zeitgenossen Signalcharakter besessen – 373 –
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haben müssen. Die rote Mütze beispielsweise ist eindeutig politisch konnotiert – als Jakobinermütze verweist sie auf die radikale Fraktion im Konvent des revolutionären Frankreich, der Männer wie Danton und Robespierre angehörten. Das Feuer wiederum, die Urgewalt, die jegliche Ordnung zerstört, damit aber unter Umständen auch Platz für etwas Neues schaffen kann, war in der politischen Sprache der Epoche eine allgegenwärtige Metapher für den – positiv oder negativ gewerteten – revolutionären Umsturz, und das „toll Gewühle […] auf den Gassen“ erinnert daran, dass in der Französischen Revolution entfesselte Massen zu einem politischen Machtfaktor avancierten, was auf viele Zeitzeugen zutiefst verstörend wirkte. So verschmilzt in Mörikes „Jammerglöcklein“ die warnende Feuerglocke mit der Sturmglocke, die vom Aufruhr kündet, und hinter dem Motiv der Brandkatastrophe zeichnen sich die Konturen der Revolution ab, des wirkungsmächtigsten Ereignisses der jüngeren Zeitgeschichte, das in der Restaurationsära den maßgeblichen Bezugspunkt für das Denken und Handeln aller politischen Akteure bildete. Mörikes in die Bilder des Brandes und des stürmischen Rittes gekleidete poetische Gestaltung eines revolutionären Vorgangs bezieht sich jedoch offensichtlich nicht auf konkrete politische Forderungen und Ziele. Wie Herbert Bruch gezeigt hat 11, inszeniert die Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter die Revolution statt dessen als triebhaften Vorgang, als eine Freisetzung ungezügelter Affektregungen, die lustversprechend, aber auch angstbesetzt ist, weil der Einzelne dabei die Kontrolle über sich selbst zu verlieren droht und seine bürgerliche Identität als vernunftgesteuertes Individuum gefährdet sieht. Seinen in der magischen Anziehungskraft des Feuers symbolisierten triebhaften Impulsen hilflos ausgeliefert, muss der Feuerreiter zwangsläufig wahnsinnig erscheinen, denn der Wahnsinn repräsentiert als das ebenso verlockende wie bedrohliche ‚Andere der Vernunft‘ eine Sphäre, die der Herrschaft bürgerlicher Verhaltensnormen und internalisierter Selbstzwänge entzogen ist – in dieser Gestalt erscheint er beispielsweise auch in den Peregrina-Gedichten. So erklärt sich die auf den ersten Blick frappierende Nähe von Revolution und Sexualität, von politischem und erotischem Taumel, die Bruch im zeitgenössischen Diskurs wie auch anhand von Mörikes Ballade detailliert herausarbeitet. Unter diesem Blickwinkel entpuppt sich der Feuerreiter „als Darstellung einer unkontrollierten und entgrenzenden Affektentladung mit destruktiven wie selbstdestruktiven Folgen […], als lyrische Formulierung eines Affektausbruches, der […] unverkennbar sexuelle Züge trägt.“12 – 374 –
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Gerade das Feuer kennen wir schon als zentrales Motiv aus Mörikes Gedichten über Reiz und Gefahr der erotischen Versuchung, und aus demselben Themenkreis ist uns der typische Zwiespalt von Angst und Lust, von furchtsamer Abwehr und unterschwelliger Faszination vertraut. Im Feuerreiter schlägt sich diese Einheit der Gegensätze in der widersprüchlichen Gestaltung des Textes und der Leserperspektive nieder, von der eingangs die Rede war: Emotionale Nähe als leidenschaftliche Anteilnahme an dem Geschehen und ein spürbares Bemühen um nüchterne Distanz halten sich die Waage. Demnach scheint auch Mörikes Verhältnis zur Politik, genauer: zu revolutionären Bestrebungen, die auf einen gewaltsamen Umsturz zielten, von jener eigentümlichen Angstlust geprägt gewesen zu sein, die das Erhabene in jeder seiner Erscheinungsformen bei ihm hervorrief, denn der fulminante Ritt seines Balladenhelden ist zweifellos ein erhabener Vorgang. Doch geht es hierbei nicht nur um die ganz persönliche Gefühlslage eines Einzelnen. Mörikes poetische Diagnose der Revolution als eines ungebändigten Affektausbruchs, der den Betrachter zugleich fesselt und in Furcht versetzt, eröffnet vielmehr generelle Einblicke in die verborgenen psychischen Grundlagen jener ambivalenten Haltung, mit der viele bürgerliche Beobachter in Deutschland seit den Ereignissen von 1789 dem Phänomen Revolution begegneten. Wer dem Feuerbrand des revolutionären Aufruhrs und damit auch der Triebwelt seines eigenen Inneren verfällt, wird über kurz oder lang unweigerlich von diesen Mächten verschlungen: So ließe sich die Lehre der Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter formulieren. Aber ob der Protagonist am Ende tatsächlich dauerhaft seine „Ruhe“ findet, bleibt fraglich. Immerhin ist ausgerechnet die rote Mütze, die gleich zu Beginn als das ‚nicht ganz geheuere‘ Signal der bevorstehenden Katastrophe fungierte, unversehrt geblieben, und aus dem frommen Wunsch, der die Ballade beschließt, kann man durchaus auch einen ängstlich beschwörenden Unterton heraushören. Die Gefahr, die von revolutionären Tendenzen und von den unbewussten Regungen im Menschen selbst ausgeht, ist also wohl nicht dauerhaft zu bannen – eine These, die sowohl aus psychologischer Sicht als auch in Anbetracht der politischen Lage in den 1820er Jahren sehr plausibel klingt. Nicht politische Agitation oder Kritik, sondern die verdichtete Gestaltung seelischer Tiefendimensionen, in denen gewisse politische Hoffnungen und Ängste ihre Wurzeln haben, stellt das Spezifikum des Feuerreiters dar. Es kann daher kaum verwundern, dass diese Ballade ihrem Verfasser mit der Zeit offenbar ein ähnliches Unbehagen bereitete wie Maler Nolten und die Peregrina-Gedichte. Auch die Romanze vom wahnsinnigen Feuer– 375 –
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reiter erfuhr nämlich später eine Umgestaltung, die sie gerade ihrer brisanten und beunruhigenden Bedeutungsaspekte beraubte. 1841 schob der Dichter, wie er Hartlaub mitteilte, eine neue Strophe zwischen die zweite und die dritte ein, durch die der Text nun „ohne Note und ohne das Prädikat wahnsinnig in der Aufschrift verständlich“ sei (13, S. 228). In der zweiten Auflage von Mörikes Gedichten, die 1847 gedruckt wurde, finden wir in der Tat eine fünfstrophige Romanze vom Feuerreiter ohne beigefügte Prosaanmerkung, und seit der dritten Auflage trägt die Ballade den schlichten Titel Der Feuerreiter, unter dem sie auch in die späteren Werkausgaben eingegangen ist. Die Zusatzstrophe lautet: Der so oft den rothen Hahn Meilenweit von fern gerochen, Mit des heil’gen Kreuzes Spahn Freventlich die Gluth besprochen – Weh! dir grinst vom Dachgestühle Dort der Feind im Höllenschein. Gnade Gott der Seele dein! Hinter’m Berg, Hinter’m Berg Ras’t er in der Mühle! (1.1, S. 79f.)
Hier sind die Rätsel der früheren Fassung gelöst: Der ominöse Reiter wird als leidenschaftlicher Feuerbanner vorgestellt und zugleich als Reliquienfrevler denunziert, den endlich verdientermaßen der Teufel holt. Aber gerade die Konkretisierung von Figur und Geschehen unter Rückgriff auf religiöse beziehungsweise magische Vorstellungen, die sich mit einer unzweideutig negativen Wertung verbindet, blockiert jetzt den Weg zu einer politisch-zeitgeschichtlichen Lesart des Werkes – was der Feuerreiter an oberflächlicher Verständlichkeit und Kohärenz gewinnt, verliert er an Tiefenschärfe und Vielschichtigkeit. Wer den komplexesten literarischen Text des ‚politischen‘ Mörike kennenlernen will, muss sich an die ältere Version der Ballade halten.
Zwischen Revolution und Reichsgründung Hatte schon 1823/24 die Kehrtwende der württembergischen Innenpolitik zu einer merklichen Verschärfung der Lage im Land geführt, so wurden die Maßnahmen, mit denen die Regierung allen freiheitlichen Bestrebun– 376 –
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gen entgegentrat, nach der Juli-Revolution und der aufsehenerregenden liberalen Kundgebung auf dem Hambacher Fest von 1832 noch einmal ausgeweitet. Mörike, der als Vikar, Pfarrer und Pensionsempfänger beruflich wie finanziell ganz vom Staat abhängig war, musste unter diesen Umständen besondere Vorsicht walten lassen – seine Scheu vor öffentlichen politischen Stellungnahmen ist also nicht ausschließlich auf individuelle Eigenarten zurückzuführen! So erklärt sich auch das wenig rühmliche Verhalten des Dichters in der fatalen Affäre, die 1831 seinen Bruder Karl ins Unglück stürzte. Dieser hatte als Amtmann in Scheer revolutionäre Umtriebe in seinem Verwaltungsbezirk fingiert, um sich durch energisches Vorgehen in ein günstiges Licht setzen zu können. Als seine Machenschaften aufflogen und vor Gericht kamen, wurde auch Eduard kurzzeitig verdächtigt und musste sich einem Verhör unterziehen. In Briefen an Luise Rau, die nicht eben von ausgeprägter Zivilcourage zeugen, war er ängstlich darauf bedacht, sich von jeder Schuld reinzuwaschen: „Was meine eigene Person betrifft, so sag ich Dir zu allem Überfluß, ich habe, wenn je an der Sache etwas wahres seyn sollte nicht einmal als Mitwisser den geringsten Theil daran“ (11, S. 178).13 Und selbst nach erfolgtem Freispruch befürchtete er „endlose Schleppereyen und Hemmungen“ seiner geistlichen Karriere, die aus dem fortdauernden „Widerwillen“ und „Mistrauen“ des Königs gegen die ganze Familie Mörike erwachsen könnten, so dass er zeitweilig sogar erwog, sein Glück lieber im Ausland zu versuchen (S. 188). Konkrete Auswirkungen des Vorfalls auf seine weitere Laufbahn und auf die Haltung seines obersten Dienstherrn lassen sich allerdings nicht nachweisen. Wenn Mörike an hochgestellte Persönlichkeiten schrieb, bediente er sich selbstverständlich jener Floskeln, die bei derartigen Gelegenheiten üblich waren. „In tiefster Ehrfurcht verharrend Eurer Königlichen Majestät allerunterthänigst gehorsamer Eduard Möricke“, schließt ein Urlaubsgesuch des Vikars aus dem Jahre 1827 (10, S. 192), und „Ich ersterbe mit den Gesinnungen unbegränzter Ergebenheit und tiefster Ehrfurcht“ heißt es in einem Brief an Wilhelm I. von 1841 (13, S. 196). Unsinnig wäre es, aus solchen formelhaften Wendungen Rückschlüsse auf die politische Einstellung des Verfassers ziehen zu wollen, und in der Tat sprechen vertrauliche Bemerkungen gegenüber seinen Freunden bisweilen eine ganz andere Sprache. Man vergleiche nur den sorgfältig stilisierten Huldigungsbrief, mit dem Mörike 1844 eine handschriftliche Sammlung seiner Gedichte an Friedrich Wilhelm IV. von Preußen sandte14, mit seinem Hohn über den „dummen Hochmuth“ dieses Monarchen in einem Schreiben an die – 377 –
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Familie Hartlaub aus dem Revolutionsjahr 1848 (15, S. 234)! Und schon bei anderer Gelegenheit hatte er sich privatim sehr despektierlich über Friedrich Wilhelms Kinderlosigkeit geäußert.15 Seine Poetik des schönen, vergnüglichen Spiels schloss zwar unmittelbar parteilich engagierte Lyrik aus, stempelt Mörike aber keineswegs zu einem Mann, dem politische Angelegenheiten gleichgültig waren. Wir hörten bereits, wie er 1830 das Projekt eines literarischen Almanachs gerade aus dem Gegensatz von Dichtung und politischer Unruhe zu rechtfertigen suchte. Aus demselben Zeitraum stammt jedoch eine an Mährlen adressierte differenzierte Beurteilung der Juli-Revolution und der vereinzelten Versuche, ihr in Deutschland nachzueifern, die den Dichter als wachen Beobachter der aktuellen Lage zeigt: Du schreibst v. Deinem Enthusiasmus über die Revolutionen; die Begebenheiten in Frankreich haben mir mehr als Einmal den freudigen Schauder den Rücken hinaufgejagt – aber was ists daß mir die Sprünge in Braunschweig u.s.w. ganz brecherisch machten. Was jezt dergleichen in Deutschland geschehen könnte perhorrescire ich im voraus als Eitelkeit – u. wenn ich hierin zu weit gehe so hats das schwarzrothgoldne Band verschuldet, das denn aber doch meinen Patriotismus nicht ganz und gar stranguliren konnte. (11, S. 151)
Freudige Erregung angesichts des Sturzes der bourbonischen Monarchie verbindet sich hier mit tiefer Skepsis gegenüber entsprechenden Bestrebungen diesseits des Rheins, und wieder einmal sind es besonders die Burschenschaftler – das „schwarzrothgoldne Band“ war ihr Abzeichen –, die Mörike auf Distanz gehen lassen. Am Ende steht aber doch das vorsichtige Bekenntnis zum „Patriotismus“, womit in diesem Kontext nur der Gedanke eines liberalen deutschen Nationalstaats gemeint sein kann. Zeitlebens verfolgte Mörike, der sich noch in seinen Altersjahren einen „fleißige[n] Zeitungsleser“ nannte (19.1, S. 73), das politische Geschehen in Deutschland und Europa mit regem Interesse. Dabei war sein Blickwinkel ganz von den Grundsätzen des bürgerlichen Liberalismus geprägt. 1843 pflichtete er beispielsweise der polemischen Kritik bei, die David Friedrich Strauß an dem durch Friedrich Wilhelm IV. geförderten Weiterbau des Kölner Domes geübt hatte: Dieses Unternehmen sei nicht nur „die hohlste Verkehrtheit u. schändlichste Lüge im Angesicht der neuen Zeit“, sondern darüber hinaus auch „von Seiten der Fürsten […] ein Hokuspokus, die Deutschen einzuschläfern u. zu divertiren“ (14, S. 94). Förmlich mitgerissen wurde er dann von den revolutionären Ereignissen kurz vor der Jahrhundertmitte. – 378 –
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Mit Enthusiasmus nahm er schon den Sieg der liberalen Schweizer Kantone über ihre katholisch-konservativen Widersacher im Sonderbundskrieg von 1847 auf: „Seit vielen Jahren habe ich die Zeitungen nicht mit solcher Begierde erwartet als diese Wochen her. Gretchen [Margarethe Speeth] las sie mir jeden Morgen übers Frühstück an meinem Bette vor und an den freudigen Erschütterungen die mir diese Berichte stoßweis gaben, merkte ich daß mein Herz noch jung und gesund genug sey“ (15, S. 219). Bald darauf rückte wieder einmal Paris in den Fokus der europäischen Politik, wo im Februar 1848 König Louis-Philippe verjagt und die Republik ausgerufen wurde. Am 1. März schrieb Mörike an Hartlaub: „Die Nachrichten aus Frankreich aber verschlingen billig jedes andre Interesse und lassen einen selbst die Sorge um den eignen kranken Leib vergessen. Das geht doch Schlag auf Schlag wie man noch nichts erlebte“ (15, S. 231f.). Als die Revolution diesmal rasch auf die deutschen Länder übergriff, war bei ihm von der Zurückhaltung, die er achtzehn Jahre zuvor bekundet hatte, nichts mehr zu spüren. Unter dem Datum des 18. März notierte er in seinem Kalender einen Kommentar zu der halb erzwungenen Ehrenbezeugung des preußischen Monarchen vor den ‚Märzgefallenen‘: „Berlin zum König im Angesicht der gefallenen Bürger: ‚Mütze herab!‘ Schön und erhebend!“ (15, S. 707), und wenige Tage später setzte er seine beengte Existenz in Mergentheim, seine labile Gesundheit und den Kummer wegen einer gefährlichen Erkrankung der Mutter von Margarethe Speeth in eine aufschlussreiche Beziehung zu den Zeitereignissen: Unter allen diesen Schrecken, Sorgen und Erwägungen bin ich doch durch den Sturm der Weltbegebenheiten mit jeder Zeitung wieder völlig hingerissen, über die Noth des Augenblicks u. das Ängstliche meines eignen Daseyns bis zu der freudigsten Resignation erhoben worden. Wie wär es anders möglich! Wer hat sich in diesen paar Wochen nicht größer als sein ganzes Leben lang empfunden! Und doch überfällt mich zuweilen der Schmerz daß ich krank seyn soll u. bleiben werde jezt mit verdoppeltem Stachel! – Bedenkt man das Benehmen der Fürsten bis auf die lezte Zeit – (die ohnmächtige Wuth des Sachsen mit seinem Nein Nein Nein bei jener Deputation – den dummen Hochmuth des preuss. Königs, der ganz cavalièrement ‚nur im Conversationston‘ mit einer Abordnung sprechen zu können versicherte u.s.w.) so muß man sich freuen daß ihnen nicht einmal der Schein einiger Sympathie für das siegreiche Volk u. seinen Willen übrig blieb. Man könnte nur allenfalls sagen es sey Schad daß ihnen eben dadurch auch der Übergang zur wahren Liebe für dasselbe abgeschnitten sey. Habeant sibi! es kann doch nur gut hinauslaufen, und wer nicht lieben lernt, kann sich doch auch nimmermehr rächen. (15, S. 234)
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Das Vorurteil, Mörike sei „eine konservative Natur“ gewesen, „die jede Revolution verabscheut“ habe16, beruht schlicht auf mangelnder Sachkenntnis. Die Revolutionseuphorie hatte aber auch ihre Kehrseite, die in der Furcht vor sozialen Unruhen bestand. So ängstigten ihn Gerüchte, wonach „ein wilder Haufe von ungef. 800 Köpfen aus dem Badischen, dem Odenwald, im Anzug auf Mergenth. begriffen sey“, der bereits schwere Verwüstungen angerichtet habe und sich leicht mit den „heimlich Unzufriedenen der benachbarten Dörfer, ja der hiesigen Bevölkerung selbst“ zu „Plünderung und Mißhandlung der so genannten Vornehmen u. der Begüterten“ zusammentun könne (S. 232). Vorsichtshalber wurden die bescheidenen Wertgegenstände der Geschwister Mörike im Keller versteckt.17 Letztlich erlebte der Dichter in Mergentheim zwar keines der befürchteten Schrecknisse, aber die plakative Gegenüberstellung von marodierenden „Rotten“ und „guten Bürger[n]“ (ebd.) bezeugt, dass er auch in diesem Punkt die typische Haltung des bürgerlichen Liberalismus teilte: Die freiheitlichen und nationalen Hoffnungen gingen einher mit der Sorge vor einem Aufbegehren der unterbürgerlichen Schichten, vor einer gewaltsamen Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung – und der Besitzverhältnisse. Im Fortgang des Jahres 1848 konzentrierte sich Mörikes Aufmerk samkeit auf die Nationalversammlung, die in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat, um über die Verfassung eines künftigen deutschen Gesamtstaates zu beraten. Mergentheim und Umgebung wählten den Staatsrechtler Robert Mohl aus Heidelberg, der vor allem von katholischer Seite favorisiert wurde, zu ihrem Abgeordneten, sehr zum Ärger Mörikes, dem der Gegenkandidat Friedrich Bassermann lieber gewesen wäre.18 Das hielt ihn aber nicht davon ab, fortan regelmäßig die „stenographischen Berichte“ von den Sitzungen des Parlaments zu studieren (15, S. 263). Er bekundete seinen Respekt vor Heinrich von Gagern, der in der Paulskirche den Vorsitz führte, und begrüßte die Wahl des Erzherzogs Johann von Österreich zum Reichsverweser, dem die vorläufige Wahrnehmung der Zentralgewalt in Deutschland anvertraut wurde, als einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur nationalen Einheit.19 Und selbst wenn er sich gerade nicht in Zeitungen oder Protokolle vertiefte, ließ ihn die Politik nicht los. Für „alle schöne Leserei“ bringe er derzeit wenig Interesse auf, versicherte er Hartlaub: „Ich wenigstens kann neben den täglichen Zeitungen kaum mehr ein Buch in die Hand nehmen das keine polit. Verwandtschaft hat“ (S. 253). – 380 –
Zwischen Revolution und Reichsgründung
Sorgfältig registrierte Mörike alles, was ihm über die Chancen einer nationalen Einigung zu Ohren kam. Im Mai 1848 freute er sich, die „noch feuchte Zeitung“ in der Hand, über eine Niederlage der Dänen gegen preußische Truppen in der Provinz Schleswig und schimpfte zugleich über die Haltung der österreichischen Regierung in der deutschen Frage (15, S. 250), während er im September mit Unwillen und Besorgnis die Zustimmung der Nationalversammlung zu dem von den europäischen Großmächten erzwungenen Waffenstillstand von Malmö vermerkte.20 Generell wurde seine Stimmung seit dem Herbst, als sich allmählich das Scheitern der Revolution anbahnte, immer düsterer. Mitte Oktober las er zwar noch „mit warmem Kopf […] die Nachricht v. der neuen Wiener Revolution in der Zeitung“, die ihn für die nationale Sache hoffnungsvoll stimmte (S. 284), und im November schrieb er dem Jugendfreund Ferdinand Jung zuversichtlich: „Dein Leztes waren ein paar schwere Flüche über die herbe Geburt unsrer Freiheit. Verschütt Er aber nur nicht gar das Kindlein samt dem Bade; wir werden doch noch Freude dran erleben!“ (S. 287) Jedoch heißt es bereits im selben Monat mit Blick auf die militärischen Erfolge der Konterrevolution in Preußen wie in Österreich: „Von Berlin u. Wien will ich zu reden jezt nicht anfangen“ (S. 289). Die endgültige Absage der Habsburgermonarchie an einen deutschen Nationalstaat im Februar 1849 quittierte er mit der lapidaren Bemerkung: „Der Teufel ist halt auch eine Großmacht, wie schon der sel. Luther in seinem Lied bemerkte“ (S. 294). Als die mittlerweile merklich geschrumpfte Nationalversammlung im Juni schließlich von Frankfurt nach Stuttgart verlegt werden musste, machte der Abgeordnete Uhland auf der Reise in Mergentheim Station und besuchte dabei Mörike, dem er nach dessen Bericht „wenig Hoffnung zu einer erträglichen Lösung der Dinge“ geben konnte (S. 309), und eine Äußerung in einem Brief an Karl Mayer aus diesen Tagen ist schon ganz auf den Ton wehmütiger Klage gestimmt: „Mag immerhin die Poesie u. ihre Literatur noch eine Zeitlang ruhn, wenn es nur um die Interessen hinter welchen sie billig zurücksteht, jezt nicht so traurig stünde! Ich möchte wissen ob Sie für die deutsche Sache noch irgend eine andere Hoffnung sehn als die auf einer neuen Revolution beruht? Kaum!“ (S. 310f.) Angesichts des enttäuschenden Verlaufs der Revolution drohte Mörikes Interesse am Zeitgeschehen mitunter zu erlahmen: „Im Ganzen steht es in der Welt jezt so, daß man in keine Zeitung mehr hineinsehn möchte“ (15, S. 313). Aber noch im August 1849 beteuerte er, „das Wohl u. Weh des Vaterlandes“ bewege ihn „im Stillen so lebhaft […] als irgend einen – 381 –
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Andern“ (S. 315), und auch 1850 behielt er die Bühne der großen Politik unentwegt im Auge. Zorn und Resignation mischen sich in seinem Kommentar zu einem Aufruf Ernst Moritz Arndts, der im Konflikt mit Dänemark um Schleswig-Holstein an die nationale Einigkeit appelliert hatte: „Er sagt nur was ein Jeder weiß u. fühlt, und doch meint man, es müßte alle Welt aufrütteln u. das ganze verruchte Schachbret der Fürsten vom Tisch herabwerfen“ (S. 334). Bei anderer Gelegenheit liest man: „Kurhessen, Schleswig u. der Bundestag sind unser tägliches Gespräch“ (S. 340). Dabei wurde Mörikes Verdruss jedoch immer größer, bis er im Dezember einen Zeitungsbericht „über die Olmützer Friedensconferenz“, auf der Preußen unter russischem und österreichischem Druck einer Wiederherstellung des Deutschen Bundes zugestimmt hatte, „nach den ersten zwölf Zeilen“ beiseite warf und statt dessen lieber zu einer Biographie Friedrichs des Großen griff, die dessen entschlossenes Auftreten gegenüber Österreich schilderte (S. 355). Spätestens nach Olmütz hatten sich die von der revolutionären Bewegung aufgewühlten Wellen wieder geglättet. Für eine ganze Reihe von Jahren legte sich nun der bleierne Druck der Restauration über Deutschland. Am Silvestertag 1850 resümierte Mörike in einem Brief an Mährlen: „Du bist ein praktischer, industrieller Mann geworden, indeß Dein alter Kamerad von Hause aus auf einen engen subjektiven Fleck verwiesen ist; nur konnte es nicht fehlen, daß das Jahr 1848 meinen Blick begieriger, anhaltender als jemals in die Welt gerichtet hat“ (15, S. 357f.). Und auch später wurde der beschränkte Rahmen seines persönlichen Daseins immer wieder durch die Neugier auf den Gang der großen Politik erweitert, wenngleich die einschlägigen Briefzeugnisse in weniger turbulenten Zeiten naturgemäß spärlicher ausfielen. Zumindest in seinen ersten Stuttgarter Jahren besuchte der Dichter gelegentlich die öffentlichen Sitzungen der württembergischen Abgeordnetenkammer, doch seine wichtigste Informationsquelle blieben die Zeitungen, über die er beispielsweise 1859 „in steter Aufregung“ den Krieg zwischen Frankreich, Sardinien-Piemont und Österreich verfolgte (17, S. 78). Von Kaiser Napoleon III., der damals mit seinen politischen Ambitionen ganz Europa in Atem hielt, hatte er keine hohe Meinung. Napoleon I. war in Mörikes Jugend eines seiner Idole gewesen: Einen Brief vom 15. August 1825 datierte er auf den „Geburtstag eines großen Mannes“ (10, S. 106), den Deckel seiner Pfeife zierte ein Bild Napoleons21, und wenn es galt, seinen Heros, „dessen Genius die hölzerne Vogelscheuche der Moral nicht verträgt, dessen Thaten nur ein Gott mit seinem Stern zusammenhalten kann“, gegen – 382 –
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ritiker zu verteidigen, geriet er bisweilen in ungewöhnliche Hitze K (11, S. 68); sogar in Maler Nolten findet sich ein Echo solcher Debatten.22 Wie das Gedicht Nachtgesichte bezeugt, erblickte Mörike in Napoleon eine erhabene Gestalt, die, einer imposanten Naturgewalt vergleichbar, den wohligen Schauer der Angstlust bei ihm auslöste. Seine Faszination war also eher ästhetisch als politisch motiviert, und bei dem erwähnten Streitgespräch merkte er auch selbst, dass er „mehr nur auf poetischem Gluthboden agirte“ (ebd.). Den Neffen des „großen Mannes“, der 1851 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war, nannte er dagegen verächtlich einen „Kaiserling“, einen kläglichen Epigonen (17, S. 110). Als infolge der Bismarck’schen Politik endlich auch die deutschen Verhältnisse in Bewegung gerieten, gewannen die öffentlichen Angelegenheiten in Mörikes Briefen sogleich wieder breiteren Raum. Seit Ende 1863 richteten sich seine Blicke erneut auf Schleswig-Holstein; der dänische Krieg der beiden deutschen Großmächte rückte näher.23 Im Mai und Juni 1866 ist in Briefen und Kalendernotizen wiederholt von Kriegsfurcht die Rede24, und mehrfach erwähnt Mörike seine intensive Beschäftigung mit den aktuellen Zeitungen.25 Nach der österreichischen Niederlage in der Schlacht von Königgrätz machte seine bislang stets fühlbare Skepsis gegenüber Preußen allmählich vorsichtigen Hoffnungen Platz. Im März 1867 schrieb er an Hartlaub: „Nun aber soll Dir länger nicht verhohlen seyn, daß sich schon seit dem vor. Herbst mein Fähnlein stark nach Preussingen zu gedreht hat, daß ich über Bismarck anders denken lernte und mich einstweilen freue, daß doch einmal ein Deutschland nolens volens zusammenkommen soll. Was weiter Noth thut wissen wir, dieß aber muß u. wird ja nach u. nach auch werden!“ (18, S. 188f.) Mörike war demnach bereit, sich mit der Einigung der Nation unter Bismarcks Führung abzufinden, weil er darauf vertraute, dass ihr über kurz oder lang eine innere Umgestaltung im liberalen Sinne folgen werde – eine damals weit verbreitete Einstellung, die es bürgerlichen Kreisen erleichterte, sich mit dem Obrigkeitsstaat Preußen zu arrangieren. Sehr gefestigt scheinen die preußischen Sympathien des Dichters aber noch nicht gewesen zu sein, denn als er am 9. Dezember 1868 in der Maske der Titelfigur des Stuttgarter Hutzelmännleins einen scherzhaften Geburtstagsbrief an seine Schwester Klara verfasste, flocht er einen kritischen Seitenhieb auf die Ambitionen der Norddeutschen ein, sich möglichst bald auch das „Schwabenland“ unter den Nagel zu reißen (7, S. 380). 1867 nahm Mörike die preußisch-französischen Auseinandersetzungen um Luxemburg zur Kenntnis26 und verfolgte gespannt die „Londoner – 383 –
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Conferenz“ (18, S. 201), die diesen Streit beilegte. Anderthalb Jahre später begrüßte er die Revolution in Spanien und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie den Interessen Napoleons III. zuwiderlief: „Außerdem bin ich ein fleißiger Zeitungsleser, und freue mich wie alle Welt über das spanische Volk und die Unmacht des Kaiserlings“ (19.1, S. 73). Seit dem Juli 1870 nahm ihn schließlich der deutsch-französische Krieg völlig gefangen. An seiner patriotischen Parteinahme ließ er keinen Zweifel, wenn er beispielsweise in seinem Kalender die „SchreckensBotschaft […] von einer angeblichen Niederlage unserer Armee vor Metz“ notierte (S. 580). Unmittelbar nach der Schlacht von Sedan, die im September das Ende des französischen Kaiserreichs besiegelte, schrieb er: Ich lebte diese letzten Monate herein beinahe nur vom Krieg und hatte, um die Zeit von einer großen Post zur anderen herumzubringen, den Kopf in lauter alten KriegsGeschichten, las den Cäsar de bello gallico und viel dergleichen durch einander, mit solcher Gier und Ungeduld, daß ich mir oft selbst lächerlich dabei vorkam. […] Soeben, kurz vor Mittag trifft hier die Nachricht von MacMahons und Napoleons Gefangennehmung hier ein. Noch habe ich kaum das Herz daran zu glauben. (19.1, S. 142f.)
Einige Wochen später nannte er diese Zeit eine Epoche, „wo man mit seinem Denken und Empfinden leicht ganz in den Zeitungen aufgehen könnte“ (S. 145), und im April 1871 schilderte er einem Freund rückblickend, wie ihm die jüngsten Begebenheiten sogar über seine gesundheitlichen Nöte hinweggeholfen hätten: „Was mich nach innen lebendig erhielt war der Krieg, dieser ewig denkwürdige Krieg“ (S. 178). Den hohen Preis des deutschen Sieges konnte er freilich nicht übersehen, denn auch in seinem nächsten Umfeld forderten die militärischen Operationen ihre Opfer. So war unter den Gefallenen ein Sohn Mährlens, und der tief getroffene Vater, einer von Mörikes ältesten Vertrauten, überlebte diesen Schicksalsschlag nur um wenige Monate. „Erschüttert und entsetzt“ reagierte Mörike aber auch auf die Nachrichten von der Pariser Commune, deren (angebliche) „jüngste Greuelthaten“ ihm Ende Mai 1871 zu Ohren kamen (S. 189); in seinem Kalender vermerkte er damals ebenfalls „Greuelthaten der Aufständischen in Paris Mord u. Brand“ (S. 649). Noch einmal manifestierte sich darin sein Abscheu vor dem Chaos und dem gewaltsamen sozialen Umsturz, mit dem er sich ganz in den Bahnen des liberalen Denkens seiner Epoche bewegte. Mörike, so dürfen wir zusammenfassen, war kein weltfremder Einsiedler, der sich nur um Blumen und Käfer kümmerte, sondern ein – 384 –
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aufmerksamer und im Rahmen seiner Möglichkeiten gut informierter Beobachter des politischen Geschehens. Geprägt durch die ständische Tradition des „Alten Rechts“ in Württemberg und moderne liberal-konstitutionelle und nationale Auffassungen, vertrat er weder radikale noch anderweitig ungewöhnliche Ansichten. Wie repräsentativ seine Haltung war, erhellt aus dem Umstand, dass sie im Freundeskreis anscheinend allgemein geteilt wurde, denn nicht nur Mörikes Briefe an Hartlaub, sondern beispielsweise auch Äußerungen gegenüber Karl Mayer, Johannes Mährlen oder Karl Wolff setzen eine solche grundsätzliche Übereinstimmung in politischen Fragen voraus. Als Redner und Agitator oder gar mit einer Flinte in der Hand kann man sich den ewig kränkelnden Dichter mit seiner Öffentlichkeitsscheu und seinen hypochondrischen Anwandlungen allerdings beim besten Willen nicht vorstellen, und so blieb die Politik für ihn ein bloßer Gegenstand der distanzierten Betrachtung und privater Reflexionen. Die in einem der oben zitierten Briefe geschilderte Szene aus dem Spätjahr 1847 darf wohl als symptomatisch gelten: Im Bett liegend und begierig den Zeitungsberichten lauschend, die ihm seine Freundin Margarethe Speeth vorlas, so nahm Mörike am liebsten an den umwälzenden Zeitereignissen teil. Das Bewusstsein der eigenen Handlungsohnmacht bot sogar gewisse Vorteile, denn es tröstete ihn zum Beispiel über Meinungsverschiedenheiten mit Hartlaub hinweg, die die preußische Rolle bei der deutschen Einigung betrafen: „Hab ich Unrecht, so schadet es z. wenigsten der Sache nichts, da wir kein Haar dazu oder davon thun können“ (18, S. 189). Und wenn er anhand der Zeitungsmeldungen Revolutionen und Kriege aus sicherer Entfernung verfolgte, scheint Mörike, einmal abgesehen von dem aufrichtigen parteilichen Interesse, das man ihm keinesfalls absprechen darf, auch immer wieder jenen angenehmen Nervenkitzel, jenen „freudigen Schauder“ (11, S. 151) verspürt zu haben, den erhabene Schauspiele ihm stets bereiteten, solange sie ihm nicht zu nahe auf den Leib rückten – noch einmal sei hier an die balladeske Gestaltung der Katastrophe des Feuerreiters mit ihrem eigentümlichen Changieren zwischen emotionaler Unmittelbarkeit und vorsichtiger Distanznahme erinnert. In Mörikes literarischem Schaffen spielte die Politik, die sich mit seinen poetologischen Maximen schlecht vertrug, nur eine marginale Rolle, und es ist zumindest missverständlich, wenn man ihn als ‚politischen Dichter‘ apostrophiert.27 Die subtile Zeitdiagnose, die etwa der Roman Maler Nolten und die Feuerreiter-Ballade leisten, bewegt sich vorrangig in einer psychologischen Dimension, in der verdrängte seelische Konflikte – 385 –
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des bürgerlichen Individuums sichtbar werden, aber nicht auf der Ebene der politischen Kritik oder gar des unmittelbaren parteilichen Engagements. Politische Zwecklyrik, sei sie nun polemisch-satirischer oder affirmativer Art, blieb dem Dichter des Spiels und der Muße zeitlebens fremd, und noch im März 1871, nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges, brachte er seine Abneigung in ziemlich ruppiger Form zum Ausdruck: In Gedanken an unsere deutschen Krieger
Bei euren Taten, euren Siegen Wortlos, beschämt hat mein Gesang geschwiegen, Und manche, die mich darum schalten, Hätten auch besser den Mund gehalten.28
Das Gedicht wurde nicht nur mehrfach in handschriftlichen Fassungen verschenkt, sondern auch als Faksimile in einem Sammelwerk mit dem Titel Lieder zu Schutz und Trutz publiziert.29 Dem Herausgeber des Bandes, einem Berliner Verleger namens Franz Lipperheide, scheint völlig entgangen zu sein, dass Mörike ihm mit seinen wenigen Versen einen bissigen Kommentar zu schwülstig-patriotischen Unternehmungen eben dieser Art untergeschoben hatte.
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15.
Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Die Wendung zu antiken Formen in der Lyrik
„Üund Schmerzens-Pralerei unserer jezigen Poësie gegenüber mich brigens sage ich bei dieser Gelegenheit, daß ich der Kränklichkeit
(wenn ich je an eine neue Arbeit von mir denke) herzlich nach einem gesunden idealen Stoffe sehne, der sich eine antike Form assimilirte“, schrieb Mörike im Herbst 1833 an Vischer im Zusammenhang mit dem Roman Die Zerrissenen von Alexander von Ungern-Sternberg, den er lieber gar nicht erst gelesen hatte, weil ihm der Titel unmissverständlich auf jenes „moderne Unwesen“ hinzudeuten schien, das den schroffen Gegensatz zu der angestrebten Gesundheit repräsentierte (12, S. 46). Mit dem Kontrast zwischen antiker Ganzheitlichkeit und moderner Krisenerfahrung zitierte er ein Deutungsmuster, das seit Winckelmann und der Weimarer Klassik zum festen Topos geworden war und dem Goethe in seiner berühmten Identifikation des Klassischen mit dem Gesunden und des Romantischen mit dem Kranken einen besonders prägnanten Ausdruck verliehen hatte.1 Vor allem die griechische Kultur stieg in jener Zeit zum verklärten Leitbild des gebildeten deutschen Bürgertums auf. Dass Mörike diese Wertschätzung der Antike teilte, lässt sich unschwer mit weiteren Äußerungen aus seiner Feder belegen. Wollte er etwa einem literarischen Werk das höchste Lob erteilen, so wählte er Vergleichsmaßstäbe aus der Kunst des Altertums: Vor Einschlafen les ich gegenwärtig Wilhelm Meister wieder. Das Buch ist in der That unerschöpflich und was künstliche Composition betrifft unendlich lehrreich. So oft ich eben eine Seite lese wird es heller Sonnenschein vor meinem Geist und ich fühle mich zu Allem Schönen aufgelegt. Es sezt
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15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
mich wunderbar in Harmonie mit der Welt, mit mir selbst, mit Allem. Das, dünkt mich, ist das wahrste Kriterium eines Kunstwerks überhaupt. Das thut Homer auch und jede Antike Statue. (11, S. 239)
Als er das Atelier des klassizistischen Bildhauers Ludwig Mack in Stuttgart besichtigte, traten ihm „ein paarmal die hellen Freudethränen in’s Auge […] über der Herrlichkeit des griechischen Geistes“ (ebd.), und die Vorrede zu seiner Classischen Blumenlese, die Übersetzungen griechischer und römischer Lyrik enthält, bezeichnet die „Erzeugnisse antiker Poesie“ als eine „reine und gesunde Nahrung“, die dem lesenden Publikum mit diesem Band gereicht werden soll (8.1, S. 11). Die Leitmotive der Gesundheit und der Harmonie deuten bereits an, wie eng Mörikes Antikenbegeisterung mit seiner eigenen Poetik und seinen diätetischen und selbsttherapeutischen Maßregeln verbunden war. Dank der neuhumanistischen Ausrichtung seines Bildungsweges lernte schon der Heranwachsende die Kultur der Antike mitsamt ihren literarischen Zeugnissen sehr gut kennen. Obwohl seine Leistungen in der Schule und auf der Universität bestenfalls durchschnittlich ausfielen, wurde er in Ludwigsburg, Stuttgart, Urach und Tübingen doch mit den alten Sprachen und den Werken ausgewählter Dichter, Redner, Philosophen und Geschichtsschreiber der Griechen wie der Römer vertraut und verfügte damit auch über das nötige Rüstzeug, um in späteren Jahren selbständige Studien betreiben zu können. Erst 1828 stieß er beispielsweise auf den hellenistischen Poeten Theokrit, der sein besonderer Liebling werden sollte, und fand ihn „trefflich schön“, wie er Mährlen wissen ließ (10, S. 212). Gegenüber Kurz nannte er ihn zehn Jahre später seine „Leibspeise“ und setzte hinzu: „Fürwahr, dieß ist derjenige Poete, welchem, wenn vom Anmuthigen die Rede ist, uno excepto Homero [Homer allein ausgenommen], vor allen Andern jenes Weilheimer Epitheton zukommt“ (12, S. 188) – Kurz hatte in einem Brief den Weilheimer Dialektausdruck „aunmiglich schoean“ zitiert.2 Von der eminenten Bedeutung, die Mörike in seinen ästhetischen Überlegungen der Anmut zuschrieb, hörten wir bereits an früherer Stelle, und dass Theokrit diese Qualität in seinen Augen in höchstem Maße besaß, bestätigt ein Gedicht, das er ihm 1837 widmete: Theokrit
Sei, o Theokritos, mir, du Anmuthsvollster, gepriesen! Lieblich bist du zuerst, aber auch herrlich fürwahr. Wenn du die Chariten schickst in die Goldpaläste der Reichen, Unbeschenkt kehren sie dir, nackenden Fußes, zurück.
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Die Wendung zu antiken Formen in der Lyrik
Müßig sitzen sie wieder im ärmlichen Hause des Dichters, Auf die frierenden Knie’ traurig die Stirne gesenkt. Oder die Jungfrau führe mir vor, die, rasend in Liebe, Da ihr der Jüngling entfloh, Hekate’s Künste versucht. Oder besinge den jungen Herakles, welchem zur Wiege Dienet der eherne Schild, wo er die Schlangen erwürgt: Klangvoll fährst du dahin! dich kränzte Kalliope selber, Aber bescheiden, ein Hirt, kehrst du zur Flöte zurück. (1.1, S. 110)
Mörike reduziert den griechischen Dichter keineswegs auf das verbreitete Klischee des Schöpfers idyllischer Hirtenpoesie. Die Verse 3 bis 6 beziehen sich auf das Gedicht Die Chariten – Nr. I nach der Zählung der Classischen Blumenlese – und seine Klage über die Menschen, die vor lauter Habsucht die göttlichen Beschützerinnen des Anmutigen und Lieblichen nicht mehr gebührend achten. Das folgende Distichon spielt auf die nächtliche Liebesmagie von Die Zauberin (VII) an, ein weiteres auf die mythologische Dichtung Herakles als Kind (XI), und erst ganz am Schluss verweisen die Motive des Hirten und der Flöte auf Theokrits bukolische Idyllen. Anmut erlangt ein Poet für Mörike also offenkundig nicht durch die Wahl bestimmter Themen, sondern durch die vollendete Meisterschaft der künstlerischen Gestaltung. In dieselbe Richtung deutet die knappe Charakteristik Theokrits im entsprechenden Einleitungsabschnitt der Blumenlese, wo Mörike ihm „die reizendste Naivetät, heitere Ironie, kräftige Leidenschaft, selbst großartige Darstellung und die reichste Mannigfaltigkeit der Anschauungen“ bescheinigt und überdies noch einmal seine grundsätzliche Hochschätzung bekräftigt: „Seine Gedichte gehören gewiß zum Vollkommensten, was wir von classischer Literatur irgend besitzen“ (8.1, S. 95). In dem Spruch „Was anmuthig, ist werth, was nicht anmuthig, ist unwerth“, den Theognis den „Musen und Chariten“ in den Mund legt (8.1, S. 84), glaubte Mörike nach dem Kommentar der Blumenlese „den Geist des Hellenischen Lebens“ zu erkennen (S. 91), und in der Tat waren es vorwiegend Schönheit und Anmut, die er in der antiken Dichtung suchte und fand. Von diesem Geschmack zeugen auch seine übrigen Vorlieben auf dem Gebiet der griechischen und römischen Poesie und die ausdrücklichen Werturteile, die er gelegentlich in Briefen, Gedichten und anderen Schriften traf. Zu nennen sind vor allem Anakreon und die weitläufige anakreontische Tradition, deren überlieferte Zeugnisse Mörike später in einem eigenen Band in Übersetzungen herausgab. Außer Frage steht aber – 389 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
auch seine Bewunderung für Homer, den „göttlichen Alten“ (1.1, S. 174), dessen epische Heroenwelt schon wichtige Anregungen für die Tübinger Orplid-Phantasien lieferte. Zwei einschlägige Zitate wurden oben bereits angeführt. In dem Sonett Eberhard Wächter, das einem klassizistischen Maler gewidmet ist, steht der „reine Athem des Homer“ für den stärkenden und belebenden Einfluss des antiken Geistes insgesamt (S. 188), und das humoristisch getönte Epigramm Auf dem Grabe eines Künstlers behauptet sogar: „Tausende, die hier liegen, sie wußten von keinem Homerus; / Selig sind sie gleichwohl, aber nicht eben wie du“ (S. 168). Das zwanglose Miteinander von christlicher Religiosität und klassisch-humanistischem Bildungsideal, das hier zutage tritt, prägte das Selbstverständnis des Dichters ebenso wie das der meisten seiner studierten bürgerlichen Zeitgenossen. In Maler Nolten räsoniert auch der Schauspieler Larkens „über das Verhältniß des tief religiösen und namentlich des christlichen Künstlergemüths zum Geist der Antike und der poetischen Empfindungsweise des Alterthums“, wobei er die „Möglichkeit einer beinahe gleich liebevollen Ausbildung beider Richtungen in einem und demselben Subjekte“ andeutet (3, S. 230). Von den römischen Lyrikern sind in der Classischen Blumenlese Catull, Tibull und Horaz vertreten. Tibull, den Mörike auch in einem Gedicht feierte und an anderer Stelle „den herrlichen Tibullus“ nannte (12, S. 190), gilt ihm als der „liebenswürdigste Elegiker“ der augusteischen Zeit (8.1, S. 255), während er über Horaz weniger überschwänglich urteilt. Seinen „Oden und Epoden“ gesteht er zwar „eigenes Gefühl, […] feierlichen Ernst, überraschende Kühnheit des Ausdruck und sinnschwere Kürze“ sowie „einen höchst kunstreichen Organismus des Verses“ zu, doch wenn er sie dann „prächtige, aus starrem Erz getriebene Gebilde mit sorgfältiger Ornamentirung“ nennt, wird eine gewisse skeptische Distanz spürbar; zudem haben manche dieser Gedichte in Mörikes Augen „etwas Einförmiges, und andere etwas Gemachtes“ (S. 200). Für den Horaz-Teil seines Übersetzungswerkes traf er deshalb eine sorgfältige Auswahl, die das „Verhaltene, Idyllische und Musische“ im Werk des Römers in den Vordergrund rückt und dessen „hohen, erhabenen Stil“ nur ganz am Rande anklingen lässt.3 Nach Gerhard Rückert, dem wir eine exzellente Studie zu dem Thema verdanken, ist Mörikes Horaz-Rezeption, die sich auch im poetischen Werk in zahlreichen Zitaten und Anspielungen niederschlägt, generell durch diesen Fokus bestimmt: Während ihm „der feierliche Patriot, der offizielle Sänger edler Mannestugend und des süßen Todes fürs Vaterland, das hohe Pathos der Römeroden, der stolze Selbstruhm – 390 –
Die Wendung zu antiken Formen in der Lyrik
des als vates auftretenden Dichters und sein priesterlicher Anspruch“ suspekt waren, stand ihm „der private, der ‚hellenistische‘ Horaz“ mit seinem „Sinn für ein ländliches, einfaches Dasein, für die Idylle, die klare, heitere Welt von Freundschaft und Liebe“ und vor allem mit seinem „Sinn für ‚Maß‘“ sehr viel näher.4 Auch Catull, den er überaus schätzte, scheint Mörike unter einem recht eingeschränkten Blickwinkel, der seinen eigenen Vorlieben entsprach, gelesen und gewürdigt zu haben. In der Blumenlese findet er begeisterte Worte für diesen Autor, der neben „aller naiven Zartheit […] ein eigenes kräftiges Korn, eben so viel Humor als reine Schönheit“ besitze (S. 169), und in einem Brief an Hartlaub schreibt er über ihn: „Er hat bekanntl. zwischen vielem, was mit Bocaccios ausgelassenstem Humor wetteifert – ganz zum Entzücken Schönes“ (12, S. 176f.). Dieses einseitige Bild, das Catulls Neigung zu bissiger Aggressivität und scharfer Satire ausblendet, wird durch die Auswahl der übersetzten Gedichte in der Anthologie im Großen und Ganzen bestätigt: „Offensichtlich hat sich Mörike den Römer adaptiert, indem er ihn ins Liebenswürdige umbog.“5 Dass es auch Ausnahmen von dieser Regel gab, wird uns später die Betrachtung der Catull-Nachdichtung Zwiespalt lehren. Die eigentümlichen Schwerpunkte von Mörikes Antikenrezeption, die sich – abgesehen von Homer – auf die dichterischen Kleinformen konzentrierte und ganz im Zeichen von Heiterkeit, Grazie und gediegener Schönheit stand, treten noch deutlicher zutage, wenn man sie mit der Art und Weise vergleicht, in der sich sein älterer Landsmann Hölderlin mit antiker Kunst und Kultur befasste. Hölderlins Interesse galt nicht Theokrit und Anakreon, sondern Pindar und Sophokles, deren Pathos wiederum für Mörike wenig Anziehendes hatte: Von Pindars Hymnen waren zwar einige für den – letztlich nicht realisierten – zweiten Band der Classischen Blumenlese vorgesehen, aber die Bearbeitung dieser Texte gedachte der Herausgeber seinem Freund Karl Friedrich Schnitzer zu überlassen6, und mit den griechischen Tragikern scheint er sich allenfalls beiläufig auseinandergesetzt zu haben, sofern er sie nicht in späteren Jahren im Rahmen seines Literaturunterrichts am Katharinenstift behandeln musste, wo er zum Beispiel „Einiges aus der Antigone“ vortrug (18, S. 142). Obendrein trifft auch für Mörikes Verhältnis zur Antike zu, was wir für seinen Umgang mit der literarischen Überlieferung im Allgemeinen festgehalten haben: Es war weniger historisch oder gar geschichtsphilosophisch als vielmehr rein ästhetisch geprägt. Anders als Hölderlin sah er im griechischen Altertum kein entschwundenes Goldenes Zeitalter höchster menschlicher Entfaltung, in das er sich elegisch zurückträumte oder dessen – 391 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
künftige Wiederkehr er herbeiphantasierte. Die Werke antiker Autoren, die ihn ansprachen, waren ihm als wahlverwandte Muster des Anmutigen und Schönen ganz gegenwärtig, so dass er sich auch in seinem Schaffen ohne weiteres von ihnen inspirieren lassen konnte. Dieser grundlegende Unterschied dürfte für Mörikes ambivalente Einschätzung Hölderlins mitverantwortlich gewesen sein. In der Selbstrezension seiner Auswahlausgabe von Waiblingers Lyrik erwähnt er beiläufig die „tiefe elegische Schönheit“ von Hölderlins Dichtungen, tadelt aber im selben Atemzug dessen „krankhafte, man darf es wohl sagen, schon sehr frühzeitig beinahe zur fixen Idee gewordene Sehnsucht nach dem Griechenthum“ (7, S. 230f.). Eine ähnliche Mischung glaubte er in Hyperion zu beobachten, der ja gerade die Kluft zwischen einer idealen Antike und der modernen Gegenwart thematisiert. Mörikes Urteil über diesen Roman sei hier noch einmal zitiert: „Man fühlt sich ergriffen, wie mit Götterfingern plötzlich an der leisesten SeelFaser berührt, kräftig erhoben und dann wieder so krank, so pusillanim [kleinmütig], hypochondrisch u. elend, daß von dem, was eigentlich Beruf aller, auch der tragischsten Dichtung ist, jede Spur vertilgt wird“ (11, S. 286). Nach Mörikes Diagnose konnte die „reine und gesunde Nahrung“ der griechischen Poesie auf Hölderlin keine heilende Wirkung ausüben, weil er die pathologische Zerrissenheit der Moderne auch in seine Beschäftigung mit dem Altertum hineintrug. Zu den handgreiflichen Früchten von Mörikes Studium der griechischen und römischen Literatur zählen die drei Übersetzungsbände, die er im Laufe der Jahre vorlegte, nämlich die nun schon mehrfach erwähnte Anthologie Classische Blumenlese, die 1840 erschien, das 1855 gemeinsam mit Friedrich Notter herausgegebene Büchlein Theokritos, Bion und Moschos und schließlich Anakreon und die sogenannten Anakreontischen Lieder von 1864. Es war jedoch nicht etwa die Beschäftigung mit diesen Übersetzungen, die den Dichter dazu anregte, sich auch für seine eigene Lyrik antike Formen zunutze zu machen; das Bedingungsverhältnis dürfte vielmehr genau umgekehrt ausgesehen haben. Zu Beginn seiner poetischen Laufbahn hatte er nur in Einzelfällen mit einschlägigen Metren experimentiert: Spätestens 1828 wurde das teils in Hexametern, teils in Distichen abgefasste Traumgedicht Nachtgesichte geschrieben, 1829 folgten die Distichen Wald-Idylle. Ein grundsätzlicher Wandel bahnte sich erst um die Mitte der dreißiger Jahre an, als das Epigramm Auf das Grab von Schillers Mutter (1835) und die Gedichte An eine Lieblingsbuche meines Gartens und Alles mit Maß (1836) entstanden. 1837 wurde dann zu einem Schlüsseljahr in der Entwicklung von Mörikes Schaffen. Beflügelt und inspiriert durch – 392 –
Die Wendung zu antiken Formen in der Lyrik
die Vorbereitungen für die erste gedruckte Sammlung seiner Lyrik, verfasste er allein damals an die vierzig Gedichte, die noch Eingang in den Band fanden und die schon für sich genommen einen anschaulichen Eindruck von der Souveränität vermitteln, mit der dieser Autor über eine Fülle unterschiedlicher Gattungen, Töne und Formen gebot. Darunter waren noch einmal zahlreiche Texte – oft Rollenlieder – in Reimstrophen, beispielsweise das Gedicht Die Schwestern, das er den Freunden Hartlaub und Vischer als echtes Volksgut unterschob, um seine Wirkung zu erproben, des Weiteren humoristische Stücke wie An meinen Vetter und Pastoral-Erfahrung, sodann die Verslegende Erzengel Michaels Feder und nicht zuletzt eben viele antikisierende Gedichte, unter anderem mit Theokrit und Tibullus zwei Huldigungsepigramme auf große Dichtervorbilder aus dem Altertum. Mörike scheint in dieser Phase sogar ganz bewusst eine Schwerpunktverlagerung seiner lyrischen Produktion angestrebt zu haben, denn als er das soeben verfertigte Gedicht Suschens Vogel an Kurz sandte, fügte er den Kommentar bei: „Dieß soll nun aber auch das Lezte aus der naiv sentimentalen Gattung seyn“ (12, S. 119) – das letzte Lied in einem artifiziell geformten romantischen Volkston, wie man wohl paraphrasieren darf. Tatsächlich trat dieses Genre, das er in den vorangegangenen zehn Jahren mit Vorliebe gepflegt hatte, fortan deutlich zurück, während die Gedichte in klassischen Formen in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit rückten. Dementsprechend verschoben sich auch die Gewichte in den späteren Auflagen seiner Sammlung. Wir können den im fünften Kapitel begonnenen Überblick über die von Mörike bevorzugten Vers- und Strophenformen jetzt um das Feld der antiken Metren erweitern. Besonders schätzte er das Distichon, das den weit ausgreifenden Hexameter mit dem gedrängteren, stauenden Pentameter verbindet; dabei ist es in vielen Fällen weder möglich noch sinnvoll, eine klare Unterscheidung zwischen Elegien und Epigrammen durchzuführen, die sich im Altertum beide im Gewand des Distichons präsentierten. Daneben erlangte seit 1840 der Senar große Bedeutung, der im Deutschen für gewöhnlich als jambischer Sechsheber erscheint. Dieser relativ geräumige Vers bot sich für erzählende Gedichte in einem leicht stilisierten Plauderton an; „Lang, lang ists her!“, Erbauliche Betrachtung, Besuch in der Carthause, Göttliche Reminiscenz und An Moriz von Schwind sind Beispiele dafür. Mörike verwendete den Senar aber gelegentlich auch für Epigramme wie Auf eine Lampe und Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen. Dagegen war der Hexameter für ihn in erster Linie das klassische Metrum des Epos, das er im Märchen vom sichern Mann und in der Idylle vom – 393 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Bodensee gebrauchte, während kürzere Hexameter-Gedichte wie Im Weinberg, Epistel und Alles mit Maß Ausnahmen blieben. Dass Mörike die strengen Odenstrophen, die sich traditionell mit gewichtigen Themen und einem hohen Ton verbanden, im Gegensatz zu Autoren wie Klopstock, Hölderlin, Waiblinger oder Platen fast ausschließlich parodistisch einsetzte, hörten wir schon im Kapitel über die Spielarten der Komik in seiner Dichtung. Im Blick auf An Philomele und An einen Liebenden sprach er selbst von einer „Art unschuldiger Parodie des Horazischen Odentons“ (18, S. 175), und auch Wispel liefert in seinen Sommersprossen mit der Teilübersetzung einer Horaz-Ode – es ist die neunte des ersten Buches – eine (unfreiwillige) Persiflage. Etwas anders liegen die Dinge bei dem Gedicht Siehst du den schettergoldnen Mariendienst, in dem die anspruchsvolle alkäische Odenstrophe zu dem hohlen Pomp des katholischen Kultus und der Selbstgerechtigkeit seiner Repräsentanten passt, die hier polemisch attackiert werden. Schließlich ist noch zu erwähnen, dass manche freirhythmischen Gedichte Mörikes, die überdies zu seinen bedeutendsten lyrischen Werken zählen, zitathafte Anklänge an antike Odenmaße aufweisen; das gilt vor allem für An eine Äolsharfe und für Erinna an Sappho. Dieser Kunstgriff wurde erst sehr viel später wieder von Dichtern des 20. Jahrhunderts wie Rainer Maria Rilke und Paul Celan angewendet. Wie exakt die metrischen Vorgaben in antikisierenden Gedichten eingehalten werden mussten, war bei den Zeitgenossen umstritten, ganz abgesehen von den vieldiskutierten grundsätzlichen Problemen, die eine Übertragung metrischer Schemata aus der quantitierenden Poesie des Altertums, die lange und kurze Silben unterschied, in die akzentuierende, also nach betonten und unbetonten Silben differenzierende deutsche Sprache aufwarf. Auch Mörike, der die ‚technischen‘ Aspekte des dichterischen Handwerks ja keineswegs geringschätzte, befasste sich mit diesen Fragen. In der Vorrede zur Classischen Blumenlese bezog er eine liberale Position, wie es schon Goethe getan hatte, indem er auf dem Eigenrecht der poetischen Sprache gegenüber jeder rigiden verstechnischen Regulierung bestand, deren „strenge Beobachtung auch dem Geschicktesten unmöglich bliebe“ (8.1, S. 13). Solche metrischen Lizenzen hatte er vermutlich auch im Auge, wenn er Hermann Kurz 1837 empfahl, für ein neues versepisches Werk „ungestiefelte Hexameter“ zu verwenden (12, S. 102). Ganz wohl war ihm dabei aber nicht, wie schon die recht gewundenen und apologetischen Ausführungen in der besagten Vorrede verraten, und in den vierziger Jahren bequemte er sich allmählich strikteren – 394 –
Die Wendung zu antiken Formen in der Lyrik
Maßstäben an, wobei der Einfluss des metrischen Rigoristen Johann Heinrich Voß, dessen Übersetzungen er für die Blumenlese benutzt hatte, eine wichtige Rolle gespielt haben dürfte. So ging er jetzt dazu über, seine Hexameter und Pentameter stärker daktylisch zu gestalten und damit den „verpönten Trochäus“, den er zuvor noch halbherzig gerechtfertigt hatte (8.1, S. 13), zurückzudrängen. Für die 1847 veröffentlichte zweite Auflage der Gedichte wurden auch viele ältere Werke nach dieser Maßgabe „in prosodischer Hinsicht“ überarbeitet (15, S. 200).7 Mit der Anknüpfung an formale, stilistische und motivische Elemente der antiken Dichtung bezog Mörike seine lyrischen und kleinepischen Werke auf einen Fundus an kulturellem Wissen, der seinen gebildeten Rezipienten wohlvertraut war. Die Antike fungierte gleichsam als Medium, das eine gelingende Verständigung zwischen Autor und Leserschaft gewährleistete, und so können wir die Wendung, die sich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in Mörikes Schaffen abzeichnete, mit der ausgeprägten und im Laufe der Zeit sogar noch zunehmenden kommunikativen Publikumsorientierung seines Schreibens in Verbindung bringen. Anleihen bei Poesie und Kultur des Altertums erlaubten eine behutsame feierliche Stilisierung selbst alltäglicher Vorgänge ebenso wie ein heiteres Spiel, das bis zu den schon erwähnten komisch-parodistischen Form-Inhalt-Kontrasten reichen konnte. Als Beispiel für die vielfältigen Möglichkeiten, die sich hier boten, sei vorläufig nur ein eher unscheinbares Gedicht zitiert, das Mörike seinem Mergentheimer Hausarzt Friedrich Krauß widmete, dem er wenigstens „auf eine so leichte Art eine Ehre erweisen“ wollte (15, S. 210), weil Krauß sich beharrlich weigerte, Geld für seine Dienste anzunehmen: Herrn Hofrath Dr. Krauß Bad Mergentheim, Sommer 1847
Der jüngsten in dem weit gepries’nen Schwestern-Chor Heilkräft’ger Nymphen unsres lieben Vaterlands, Die wunderthätig im bescheidnen Tempel wohnt, Sich selber still weissagend einen herrlichern; In deren schon verlorne Gunst du leise mich An deiner priesterlichen Hand zurückgeführt: Heut in der frühsten Morgenstunde goß ich ihr Die Opfermilch, die reine, an der Schwelle aus, Und schenkte dankbar ein krystallen Weihgefäß. Sie aber, rauschend in der Tiefe, sprach dieß Wort: Bring’ meinem Diener, deinem Freunde, den Pokal,
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15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Mit jenes Gottes Feuergabe voll gefüllt, Der meinen Berg mit seinen heiligen Ranken schmückt, Obwohl er meine Lippen zu berühren scheut. (1.1, S. 276)
Der in diesen Versen im Metrum des Senars umschriebene Sachverhalt ist zwar eigentlich recht simpel, aber für den uneingeweihten Leser trotzdem gar nicht so einfach zu rekonstruieren. Dr. Krauß, der Mörikes Badekuren in Mergentheim ärztlich begleitete, erhielt zusammen mit dem Gedicht einen gläsernen Weinpokal – nach der Angabe des lyrischen Sprechers auf unmittelbare Weisung der heilkräftigen Quellnymphe selbst, der diese Gabe ursprünglich bestimmt war, die sich jedoch mit einem nach antiker Sitte dargebrachten Trankopfer des dankbaren Patienten begnügte. Die Eingangszeilen spielen darauf an, dass die Mergentheimer Heilquellen erst in jüngster Zeit für den Gebrauch von Kurgästen erschlossen worden waren und deshalb noch keine aufwändigen Badegebäude besaßen. Durch den Einsatz mythologischer Versatzstücke und des entsprechenden hochtönenden Vokabulars kleidet Mörike nicht nur die schlichte Begebenheit, von der hier die Rede ist, würdig ein, sondern bringt es auch fertig, dem an sich sehr bescheidenen Geschenk für seinen Arzt einen Wert zu verleihen, den es von der materiellen Seite her sicherlich nicht besaß. Aber am Ende wird das weihevolle Pathos der Verse, das sonst allzu leicht überzogen wirken könnte, zugunsten einer leisen humoristischen Brechung gemildert: Der Weingott Dionysos scheut begreiflicherweise davor zurück, seine „Feuergabe“ mit den „Lippen“ der Quellnymphe in Berührung zu bringen, den Wein also verwässern zu lassen! Antikisierende Lyrik knüpfte an ehrwürdige kulturelle Überlieferungen an und wies sich zugleich schon über ihre äußere Gestalt als artifizielles Produkt eines poeta doctus aus, als Schöpfung bewusster Kunstfertigkeit, die kaum Gefahr lief, mit einer spontanen Gefühlsäußerung des Autors verwechselt zu werden. Aus diesen Gründen gewährte sie dem Dichter auch gewisse Freiräume bei der Behandlung von Themen, die in der zeitgenössischen Gesellschaft normalerweise strengen Tabus unterlagen. Insbesondere für seine erotische Lyrik machte sich Mörike diese Lizenzen zunutze, denn im klassischen Gewand konnten sinnliche Freuden ohne Furcht und Scham verherrlicht und lustvolle Phantasien in epigrammatischer Zuspitzung oder in breiter erzählender Form kühn ausgesprochen werden. Ein 1844 entstandenes Gedicht, das mit den Erdbeeren und den Signalfarben Rot und Weiß traditionelle Symbole erotischer Genüsse zitiert, mag exemplarisch dafür stehen: – 396 –
Die Wendung zu antiken Formen in der Lyrik
Versuchung Wenn sie in silberner Schale mit Wein uns würzet die Erdbeer’n, Dicht mit Zucker noch erst streuet die Kinder des Walds: O wie schmacht’ ich hinauf zu den duftigern Lippen, wie dürstet Nach des gebogenen Arms schimmernder Weiße mein Mund! (1.1, S. 119)
Dabei schloss Mörike nicht nur unmittelbar an antike Vorbilder aus der Anthologia Graeca und der römischen Liebeselegie an, sondern auch an Strömungen der neueren Dichtung, die ihrerseits schon auf griechische und römische Muster zurückgegriffen hatten. Ein Gedicht wie Lose Waare, wo Amor als „verkleideter Schelm“ auftritt (S. 120), gehört unverkennbar in die Tradition des Rokoko und der deutschen Anakreontik, während Götterwink, eine größere Liebeselegie erzählenden Charakters, deren Sprecher im Voraus die „Wonne“ genießt, die er „noch heut“ im „verschloßnen Gemach“ der Geliebten zu erleben hofft (S. 126), an antikisierende Liebesgedichte Goethes wie die Römischen Elegien erinnert. Doch wäre es müßig, eine strikte Grenzlinie zwischen solchen Vermittlungen und Mörikes direkter Bezugnahme auf die Literatur des Altertums ziehen zu wollen. Götterwink lässt beispielsweise ebenso an Properz wie an Goethe denken, und Lose Waare hat auch ein Pendant in einem spätantiken anakreontischen Lied, das Mörike unter der Überschrift Besuch des Eros als Nr. 41 in seine Edition aufnahm. Das Gedicht Das Bildniß der Geliebten, in dem das lyrische Ich einen Maler belehrt, wie er seine Freundin darstellen solle, variiert gleichfalls ein schon in der griechischen Lyrik geläufiges Motiv – ein Text mit demselben Titel findet sich als Nr. 31 in dem Band Anakreon und die sogenannten Anakreontischen Lieder. Mörike gibt dem Sujet freilich eine außergewöhnliche Wendung, wenn der Sprecher nach längerem Zaudern darauf verfällt, die Geliebte gleich doppelt malen zu lassen, nämlich einmal von vorn und einmal im Profil, aber auch als Verkörperung zweier ganz unterschiedlicher Weiblichkeitsbilder: Und mich stell’ in die Mitte! Den Arm auf die Achsel der Einen Leg’ ich, aber den Blick feßle die Andere mir, Die mit hängenden Flechten im häuslichen Kleide dabei steht, Nieder zum Boden die lang schattende Wimper gesenkt, Indeß jene, geschmückt, und die fleißig geordneten Zöpfe Unter dem griechischen Netz, offenen Auges mir lacht. (S. 127)
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15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Züchtige Schamhaftigkeit und erotische Verlockung werden also spielerisch nebeneinandergestellt und doch – als zwiefache männliche Wunschphantasie – in ein und derselben Person zusammengedacht. Neben den heiteren Werken im Geiste des Rokoko und der Anakreontik schrieb Mörike auch antikisierende Liebesgedichte, die von feierlichem Ernst und der Würde eines gehobenen Tons getragen sind. Datura suaveolens, wo die süßduftende „Blume Diana’s […] den Hauch göttlicher Schöne“ in die irdische Liebe eines verzückten Paares mischt, gehört in diese Gruppe (S. 128). Besonderes Interesse verdienen aber jene Werke, die die Liebesthematik mit einer poetologischen Reflexion verbinden. Diese Verknüpfung stellt Mörike schon in Lose Waare her, indem er den verkappten Amor-Knaben als Tintenverkäufer auftreten lässt, der dem dichterischen Ich, scheinbar uneigennützig, das „Gefäß“ umsonst füllt. „Angeführt“ ist der Beschenkte aber trotzdem, wie er bald feststellt, „denn will ich was Nützliches schreiben, / Gleich wird ein Liebesbrief, gleich ein Erotikon draus“ (S. 120)! Um einiges pathetischer beschwört Tibullus die Liebesleidenschaft als Quelle der poetischen Produktivität, denn hier erscheint Amor nicht als spitzbübischer Junge, sondern als eine gewaltige Macht, die den Menschen unwiderstehlich mit sich reißt: Wie der wechselnde Wind nach allen Seiten die hohen Saaten im weichen Schwung niedergebogen durchwühlt: Liebekranker Tibull! so unstet fluthen, so reizend, Deine Gesänge dahin, während der Gott dich bestürmt. (S. 111) Einen besonders pointierten Ausdruck findet die innige Verwandtschaft von Dichtung und sinnlichem Verlangen in einem Monodistichon, das Mörike zwar 1846 in Cottas „Morgenblatt“ abdrucken ließ, aber aus unbekannten Gründen nicht in seine Sammlung aufnahm: Keine Rettung
Kunst! o in deine Arme wie gern entflöh ich dem Eros! Doch du Himmlische hegst selbst den Verräter im Schoß!8
Ein anderes Gedicht zieht in vollendeter formaler Ausgewogenheit eine Parallele zwischen dem Triumph des poetischen Genius und dem erfolgreichen Liebeswerben:
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Die Wendung zu antiken Formen in der Lyrik
Leichte Beute
Hat der Dichter im Geist ein köstliches Liedchen empfangen, Ruht und rastet er nicht, bis es vollendet ihn grüßt. Neulich so sah ich, o Schönste, dich erstmals flüchtig am Fenster, Und ich brannte: nun liegst heute du schon mir im Arm! (S. 122)
Selbstverständlich darf man auch solche Verse nicht als unmittelbare Selbstaussprache des Autors verstehen. Die Einheit von Poet und Liebendem stand in einer langen Tradition antiker und antikisierender Dichtung, die mindestens von Catull und Properz bis zu Goethes Römischen Elegien reichte und von Mörike, wie so viele andere überlieferte Topoi, kreativ weitergeführt wurde. In seiner Lebensrealität entsprang das künstlerische Schaffen eher der von der bürgerlichen Gesellschaft erzwungenen Sublimierung des sinnlichen Begehrens; gerade die „bedrängte und gezügelte Liebeskraft“ verwandelte sich, wie Gert Sautermeister treffend formuliert, in „ästhetische Produktivkraft“.9 Unter solchen Umständen konnte das bruchlose Miteinander von dichterischem Schöpfertum und freiem erotischem Genuss lediglich als utopisches Ideal beschworen werden – und für derartige Wunschbilder bot eine Dichtung, die sich antiker Formen und Motive bediente, genau das richtige Medium. Mit Mörikes Aufnahme der griechisch-römischen Gattung des Epigramms werden wir uns in dem Kapitel, das seiner späten Lyrik gewidmet ist, näher befassen. Ein weiterer Bereich, in dem Anregungen aus der antiken Literatur wirksam wurden, war das kunstvoll plaudernde Erzählgedicht, das kleine Begebenheiten schildert, scherzhafte oder spöttische Betrachtungen anstellt oder auch ohne systematischen Anspruch Themen von allgemeinerem Interesse erörtert. In diesem Genre, das im Laufe der Jahre eine immer größere Rolle für ihn spielte, tritt der gesellige und kommunikative Charakter von Mörikes Schreiben noch einmal besonders anschaulich hervor. Als Vorbilder dienten die auch unter der Bezeichnung sermones zusammengefassten Satiren und Episteln (Briefgedichte) des Horaz, an die einst schon Wieland angeknüpft hatte und denen Mörike in der Classischen Blumenlese im Gegensatz zu den Oden und Epoden des Römers ein uneingeschränktes Lob spendet: „Horaz steht als Dichter sehr hoch. Eigenthümliche Anmuth entwickelt er in einer Art von launigen Lehrgedichten, den Satiren und Briefen, die freilich ihrer Natur nach nicht poetisch im strengen Sinn des Worts seyn können“ (8.1, S. 200). – 399 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Ähnliche Versuche aus seiner eigenen Feder rechtfertigte er 1847 in einem Brief an Hartlaub mit fast denselben Worten, nachdem ein Rezensent die im „Norddeutschen Jahrbuch für Poesie und Prosa“ publizierten Gedichte Erbauliche Betrachtung, Der Petrefaktensammler und An Longus getadelt hatte, weil sie „leider mehr geistreich als poetisch“ seien10: „Sag mir doch ob man den Menschen je etwas zum Dank machen kann? Schlägt man einmal einen neuen Ton mit einer Gattung an, die ihrer Natur nach nicht eigentlich poetisch seyn kann und will (wie z. B. die Sermonen v Horaz) so kommt schon ein leider, als sey das ein bedauerliches Nachlassen, statt daß sie das Bestreben nach Mannigfaltigkeit erkennen sollten“ (15, S. 147). Mörike grenzte diese „Gattung“ also zwar wegen ihrer (stilisierten!) kolloquialen Redeweise und ihrer oft sehr alltäglichen Gegenstände von der ‚eigentlichen‘ lyrischen Poesie ab, gestand ihr aber im Sinne seiner zentralen ästhetischen Maxime der „Mannigfaltigkeit“ doch ein Eigenrecht zu, das den entsprechenden Texten auch Einlass in seine gedruckte Sammlung verschaffte. Noch 1862 zählte er Besuch in der Carthause, dessen Untertitel „Epistel an Paul Heyse“ lautet (1.1, S. 270), zu der „Art von Gedichten, die Horaz bekanntlich Sermoni propiora nennt“ und damit in die Nähe der mündlichen Alltagsrede rückt (17, S. 174).11 Hier wie auch in Dem Herrn Prior der Carthause I. oder An Longus ersetzte er den horazischen Hexameter freilich durch den bequemeren Senar, während die Episteln An meinen Vetter und An Denselben in reimlosen trochäischen Vierhebern abgefasst sind. Eine Ausnahme macht das Gedicht, das selbst den Titel Epistel trägt. Diese Abrechnung mit dem hohlen Pathos, das Mörike in der Kunst so unerträglich war, verlangt nach dem Hexameter, weil die Verse einen selbstgefälligen modernen Dichter aufs Korn nehmen, der gerade „ein griechisches Epos […], die Argo- / nauten, heroische Form, auf dem Ambos“ hat und für dessen krankhafte Eitelkeit der Sprecher ein parodistisches „Homerisches Gleichnis“ ersinnt (1.1, S. 174). Wahrscheinlich richteten sich alle bisher genannten Episteln an fiktive Gestalten, denn selbst in Besuch in der Carthause ist der Dichterkollege Heyse eher Widmungsempfänger als wirklicher textinterner Ansprechpartner. Aber auch Briefgedichte wie An Eberhard Lempp und An Moriz von Schwind – beide im Senar –, die für reale Adressaten geschrieben wurden und deutliche biographische Spuren aufweisen, zeigen dieselben sprachlich-stilistischen Merkmale. Sie lassen sich ihrerseits kaum mehr von den für bestimmte Personen und Anlässe verfassten Gelegenheitsgedichten trennen, von denen wir mit Herrn Hofrath Dr. Krauß schon eines kennengelernt haben. Wie die Episteln haben auch diese Werke eine – 400 –
Idyllendichtung
unmittelbare gesellig-gesellschaftliche Funktion, einen pragmatischen ‚Sitz im Leben‘. In beiden Fällen wird das Gedicht, eingebettet in den kommunikativen Austausch mit einem Gegenüber, gewissermaßen zu einer sozialen Geste – und die Briefgedichte an erfundene Partner bilden diesen Grundzug, der Mörikes späte Lyrik in zunehmendem Maße prägte, wenigstens in der Fiktion nach.
Idyllendichtung Unter allen literarischen Gattungen, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichen, übte die Idylle wohl die größte Anziehungskraft auf Mörike aus. Das kann nicht überraschen, wenn man seine poetologischen Grundsätze, seine persönlichen Vorlieben und sein diätetisches Programm mit den bestimmenden Merkmalen der Idyllentradition vergleicht, die hier in Anlehnung an das Standardwerk von Renate Böschenstein-Schäfer kurz zusammengefasst seien: Eine Idylle entwirft „einen abgegrenzten Raum […], in dem sich Grundformen menschlicher Existenz verwirklichen“, die dem Gang der Zeit und damit dem historischen Wandel enthoben zu sein scheinen.12 Gekennzeichnet ist dieser Raum durch den „Charakter des Abgeschirmten, Eingegrenzten, Geborgenen“; die „Kreisform“ bildet deshalb „die Grundfigur der Idylle“.13 Meist vor dem Hintergrund einer schönen und milden Natur in Gestalt des locus amoenus entfalten sich überschaubare und konfliktfreie soziale Beziehungen, die den Glauben „an eine vorgegebene Ordnung des menschlichen Daseins“ vermitteln.14 Den Tod schließt die Idylle zwar keineswegs aus, aber die Trauer um das Verlorene sprengt ihre harmonische Sphäre nicht. Ein literarischer Text, der eine solche stilisierte und idealisierte Gegenwelt schildert, kann in seiner Gesamtheit als Idylle gelten, doch begegnen vielfach auch bloß idyllische Einzelzüge oder Episoden im Kontext größerer Werke, wie das beispielsweise in Maler Nolten zu beobachten ist, wo die in Neuburg und Halmedorf spielenden Passagen unverkennbar das Muster der Idylle zitieren, auch wenn sie von dunklen Untertönen nicht frei sind. Es wäre kurzsichtig, wollte man die Idylle pauschal als eine Manifestation eskapistischer Tendenzen oder naiver Schwärmerei abstempeln. Zu ihrer Beliebtheit in den verschiedensten Epochen und Kulturkreisen des Abendlandes mögen Zivilisationsmüdigkeit und regressive Wirklichkeitsflucht nicht wenig beigetragen haben, aber hinzu kommen oft genug auch das ernstzunehmende zeitkritische Beharren auf einer unentfremdeten – 401 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
menschlichen Existenz und vor allem die Freude am freien, von den Zwängen der gesellschaftlichen Realität entlasteten poetischen Spiel. Schon bei Theokrit, der neben Vergil als das große maßstabsetzende Vorbild der europäischen Idyllentradition gilt, ist die Idylle ein komplexes Kunstgebilde und überdies, mit Schiller gesprochen, eine durch und durch sentimentalische Gattung. Der hellenistische Poet aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert schuf ein facettenreiches Werk, in dem die ländliche Hirtenpoesie neben mythologischen Themen und realistischen Alltagsschilderungen steht. Seine kurzen, teils episch erzählenden, teil szenisch-dialogisch gestalteten Hexameterdichtungen sind Erzeugnisse einer gelehrten, anspruchsvollen Kunstpoesie, die auch derbe Anspielungen nicht scheut und zudem allenthalben eine ironische Distanz zum Dargestellten erkennen lässt – von naiver Ursprünglichkeit kann hier nicht die Rede sein! Geschlossener präsentiert sich das Idyllenwerk Vergils, der in seinen zehn Hirtengedichten (Eklogen) das Traumland Arkadien erfand, wo glückliche Schäfer sich dem müßigen Leben ergeben und allenfalls mit Liebesklagen oder Sängerwettstreiten beschäftigt sind. Vergil unterschlägt jedoch nicht, dass die Sehnsucht nach einem solchen paradiesischen Dasein nur die Kehrseite äußerst bedrückender zeitgeschichtlicher Erfahrungen ist, denn die verheerenden Bürgerkriege, die den Untergang der römischen Republik herbeiführten, werden schon in der ersten Ekloge als sehr realer dunkler Hintergrund der Arkadien-Fiktion sichtbar. Am Anfang der neueren deutschsprachigen Idyllendichtung steht der Schweizer Salomon Gessner, dessen Idyllen von 1756 nicht zuletzt im Zeichen des Rousseauismus begeistert aufgenommen wurden und eine Flut von Nachahmungen und Übersetzungen nach sich zogen. Laut der Vorrede bietet das Bändchen „Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük“, die „aus der unverdorbenen Natur“ genommen sind.15 Der Kontrast zur neuzeitlichen städtischen Zivilisation wird dabei ausdrücklich hervorgehoben – auch für Gessner ist die Idylle ein kulturkritisch akzentuiertes Wunsch- und Sehnsuchtsbild. Seine kleinen erzählenden oder dialogisierten Prosatexte tauchen die idyllische Hirtenwelt, die schon das Rokoko liebte, in die Atmosphäre der Empfindsamkeit: In gefälliger ländlicher Natur geben sich harmonische und moralische Gefühle kund; es herrschen Liebe und Unschuld, wundersame Bedürfnislosigkeit und tugendhafte Schwärmerei. Von dieser ausgeprägten Stilisierung grenzten sich Autoren wie Johann Heinrich Voß und Johann Peter Hebel ab, indem sie der Gattung realistischere Züge zu geben versuchten. Voß bezog das bäuerliche und bürgerliche Alltagsleben stärker in die Idylle ein, die er – 402 –
Idyllendichtung
einerseits – etwa in Die Leibeigenen – für sozialkritische Stellungnahmen, andererseits für eine Verklärung der patriarchalischen Häuslichkeit nutzte. In seinem berühmten Kleinepos Luise, das 1795 erstmals vollständig publiziert wurde, verwendete er wie Theokrit den Hexameter, lehnte sich sprachlich aber eher an Homer an, um die private bürgerliche Existenz mit klassisch-antikischer Würde auszustatten. So ist auch trotz der Verlagerung des Geschehens aus dem fernen Arkadien in ein zeitgenössisches protestantisches Pfarrhaus eine Tendenz zur Typisierung, die aus den Figuren Repräsentanten idealer Humanität macht, nicht zu übersehen. Es spricht für den Reichtum von Theokrits Werk und mehr noch für die Bandbreite seiner späteren Rezeption, dass Voß sich ebenso wie Gessner auf den griechischen Dichter berufen konnte. Hebel siedelt seine Idyllen in den Alemannischen Gedichten (1803) ebenfalls in der eigenen Gegenwart an, die durch die Verwendung des Dialekts besonders plastische Konturen erhält. In Reimstrophen, in den größeren Stücken mit erzählendem Charakter aber auch in Hexametern beschwört er ein zufriedenes bäuerliches Leben, das von Fleiß, Sittsamkeit, christlichem Gottvertrauen und der Freude an der schönen Natur geprägt ist, warnt aber andererseits auch schon vor Geiz, Hartherzigkeit und Hochmut, die den Idyllenfrieden gefährden. Genannt seien des Weiteren neben den empfindsamen idyllischen Episoden in vielen Werken Jean Pauls zumindest noch Goethes bürgerliche Hexameter-Idylle Hermann und Dorothea (1797), wo die beschränkte idyllische Lebensform in einen Gegensatz zu den zerstörerischen Wirkungen der Französischen Revolution tritt, sowie als bedeutendster Beitrag zur Gattungstheorie Schillers Großessay Über naive und sentimentalische Dichtung (1795), der die Idylle in weitgespannter poetologischer und geschichtsphilosophischer Perspektive als eine besondere Ausprägung der sentimentalischen Dichtungsart definiert, weil sie das verlorene Ideal einer harmonischen Übereinstimmung des Menschen mit der Natur und mit sich selbst in der Fiktion wiederherstellt. Wie die Beispiele zeigen, erfreute sich die Idylle um 1800 in der poetischen Praxis wie in der ästhetischen Theorie noch allgemeiner Wertschätzung, und ihre Beliebtheit dauerte auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unvermindert an, bevor die Gattung in der Folgezeit zunehmend als rückwärtsgewandt, realitätsfern und trivial kritisiert und damit gleichsam unter Ideologieverdacht gestellt wurde. Die enorme Vielfalt und Vielgestaltigkeit des Idyllischen in der Literatur des Biedermeier ist kaum zu überblicken.16 Es konnte sich empfindsam rührend, christlich-religiös oder humoristisch gefärbt präsentieren; es erschien in hochgradiger Stilisierung – 403 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
wie auch mit stärker realistischen Zügen, in Arkadien wie im bürgerlichen Heim, in Prosa wie in Reimversen und Hexametern, in hochdeutscher Diktion wie im Dialekt und überdies in sämtlichen Gattungen und Genres: als idyllisches (Klein-)Epos, dramatisierte Idylle, lyrische Schäfer idylle oder Idyllen-Novelle. Die Vorliebe der Zeitgenossen für das Volkstümliche, das Überschaubare und Sinnlich-Konkrete und für liebevolle poetische Detailmalerei fand auf diesem Feld reiche Nahrung; die Übergänge zum Genrebild und zur Dorfgeschichte waren fließend. So konnte Mörike mit seiner Idyllendichtung einmal mehr an eine große Tradition anschließen und sie mit eigenen Akzenten weiterführen. Ihre wichtigsten Zeugnisse waren ihm bestens vertraut. Beispielsweise siedelte er seine Idylle vom Bodensee in einem Brief an den Cotta-Verlag „ungefähr in der Mitte zwischen den griechischen Mustern und Hebels erzählender Darstellungsweise“ an (14, S. 283) und empfahl seinem Vetter Karl Abraham Möricke die „Voßische Luise, als Vorgängerin des Götheschen Gedichts [Hermann und Dorothea], zur Vergleichung beider“ (S. 34); außerdem behandelte er Theokrit, Voß, Goethe und Hebel später im Unterricht am Katharinenstift.17 Im Blick auf die Gattungsdefinition orientierte er sich nicht an Schillers anspruchsvollem Modell, sondern an einer Überlieferung, die sich damals noch hartnäckig hielt, obwohl sie auf der etymologisch falschen Ableitung des Idyllenbegriffs vom griechischen „eidyllion“ (‚Bildchen‘) beruhte18: Nach einer Erläuterung in der Einleitung zum Theokrit-Teil der Classischen Blumenlese sind Idyllen „nicht allein ländliche Poesieen, sondern überhaupt kleine dichterische Gemälde“ (8.1, S. 95). In der Tat zeichnen sich Mörikes einschlägige Werke durch klare Begrenztheit und den Vorrang des Zuständlichen vor dem Geschehen aus. Noch die späten Bilder aus Bebenhausen kann man in diesem Sinne als einen Zyklus von Idyllen auffassen. Die Idylle kam Mörikes Neigungen in jeder Hinsicht entgegen, denn sie erlaubte es ihm, im poetischen Spiel abgegrenzte Rückzugsräume der Geborgenheit zu entwerfen, die sich wiederum mit der Freude an den Schönheiten der Natur und dem Genuss der Muße verbinden ließen. Das Zusammenspiel dieser Momente prägt bereits den ältesten von insgesamt lediglich drei Texten, die er bei ihrer Veröffentlichung ausdrücklich als Idyllen bezeichnete, nämlich die Distichen Wald-Idylle, die 1829 entstanden und dem Freund Johannes Mährlen („J. M.“) gewidmet sind. Hier begegnet uns ein müßiges lyrisches Ich, das an einem locus amoenus in die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm vertieft ist und sich dabei, offen für die sinnlichen Ein drücke aus der Umgebung, selbst in eine Märchenwelt versetzt fühlt: – 404 –
Idyllendichtung
Unter die Eiche gestreckt, im jung belaubten Gehölze Lag ich, ein Büchlein vor mir, das mir das lieblichste bleibt. Alle die Märchen erzählt’s, von der Gänsemagd und vom Machandel Baum und des Fischers Frau; wahrlich man wird sie nicht satt. Grünlicher Maienschein warf mir die geringelten Lichter Auf das beschattete Buch, neckische Bilder zum Text. Schläge der Holzaxt hört’ ich von fern, ich hörte den Kukuk, Und das Gelispel des Bachs wenige Schritte vor mir. Märchenhaft fühlt’ ich mich selbst, mit aufgeschlossenen Sinnen Sah ich, wie helle! den Wald, rief mir der Kukuk wie fremd! (1.1, S. 159)
Es erscheint dann freilich weder eine Märchenheldin noch ein verzaubertes Reh, sondern nur das „Nachbarskind aus dem Dorf “, dem der Sprecher von Schneewittchens Schicksalen erzählt, bis auch noch die ältere Schwester der Kleinen zu ihnen stößt, die dem mit der Holzaxt im Walde arbeitenden Vater Milch zur Erfrischung bringen will. Schon Wald-Idylle zeigt, wie wenig ‚naiv‘ Mörikes Idyllendichtungen sind. Das lyrische Ich schätzt die Märchen der Grimms deshalb so sehr, weil sie es in jene alte Zeit zurückführen, als die „Muse“ selbst „am Winterkamin, bei der Schnitzbank, oder am Webstuhl / Dichtendem Volkswitz oft köstliche Nahrung gereicht“ und solche Geschichten in bunter Fülle hervorgebracht hat (S. 160) – in eine poetische Welt also, in der Alltagsleben, Arbeit und (mündliches) Erzählen noch eine harmonische Einheit gebildet zu haben scheinen. Und angeregt von der Lektüre wie von der Nähe der reizvollen jungen Bauerntochter, verliert sich der Sprecher schließlich ganz in sehnsüchtigen Phantasien von einem solchen einfachen, tüchtigen und gesunden Dasein: Wär’ ich ein Jäger, ein Hirt, wär’ ich ein Bauer geboren, Trüg’ ich Knüttel und Beil, wärst, Margarete, mein Weib! Nie da beklagt’ ich die Hitze des Tags, ich wollte mich herzlich Auch der rauheren Kost, wenn du sie brächtest, erfreun. O wie herrlich begegnete jeglichen Morgen die Sonne Mir, und das Abendroth über dem reifenden Feld! Balsam würde mein Blut im frischen Kusse des Weibes, Kraftvoll blühte mein Haus, doppelt, in Kindern empor. Aber im Winter, zu Nacht, wenn es schneit und stöbert, am Ofen, Rief ’ ich, o Muse, dich auch, märchenerfindende, an! (S. 161)
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15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Augenscheinlich hat man sich unter dem Ich also weder einen Jäger noch einen Hirten oder Bauern zu denken, deren Dasein in Wahrheit ja auch keineswegs so beneidenswert war, wie es hier gezeichnet wird, sondern einen gebildeten Mann, der allein durch das Lesen und die eigene produktive Einbildungskraft noch den Zugang zu einer unentfremdeten, naturwüchsigen Existenz erlangt. Das Gedicht trägt damit nicht nur selbst Züge einer Idylle, es reflektiert vor allem auch den Ursprung idyllischer Träumereien in der Gebrochenheit eines sentimentalischen Bewusstseins. Das Unvermögen, literarische Fiktion und Biographie auseinanderzuhalten, hat viele spätere Betrachter dazu verführt, insbesondere Mörikes Jahre in Cleversulzbach, die doch von mannigfachen körperlichen Leiden und anderen Nöten überschattet waren, zu einer ländlichen Idylle zu verklären. Diese Sichtweise stützte sich insbesondere auf das populäre Gedicht Der alte Thurmhahn, das 1852 im „Kunst- und Unterhaltungsblatt für Stadt und Land“ erstmals gedruckt wurde und seit der dritten Auflage, mit dem Untertitel „Idylle“ versehen, auch in Mörikes Sammlung stand. Das Geschehen ist hier, der von Voß begründeten Traditionslinie folgend, in einem protestantischen Pfarrhaus angesiedelt, und gleich der Eingangsvers „Zu Cleversulzbach im Unterland“ (1.1, S. 228) scheint wahrhaftig unmissverständlich auf die Lebenswirklichkeit des Autors hinzuweisen. Indes hätte bereits die Entstehungsgeschichte vor einer simplen biographischen Deutung warnen müssen, denn nur die ersten Anfänge des Werkes gehen tatsächlich bis in die Cleversulzbacher Zeit zurück: 1840 schrieb Mörike gut zwanzig Verse nieder, als er den ausrangierten metallenen Turmhahn seiner Pfarrkirche an sich nahm, der seinen Platz dann allerdings auf dem Dach einer Scheune und nicht, wie im vollendeten Text, in der Stube des Hausherrn fand. Auf seinen endgültigen Umfang von knapp dreihundert Versen wurde das Gedicht erst mehr als zehn Jahre später in Stuttgart erweitert, wo sich der Hahn immer noch in Mörikes Besitz befand. Die „Sehnsucht nach dem ländlichpfarrlichen Leben“, die der Dichter in einem Brief an Storm als Quellgrund der Idylle bezeichnete, dürfte – wie etwa auch in Ach nur einmal noch im Leben! – weniger der Realität seiner Existenz in Cleversulzbach als vielmehr einem Wunschbild, einem poetischen Ideal davon gegolten haben, zumal er dem fiktiven Pfarrer sogar „Weib u. Kinder“ schenkte (16, S. 181). Die ‚altdeutsche‘ Atmosphäre der paargereimten Knittelverse und die leicht archaisierende Diktion illustrieren das stattliche Alter des Hahns, – 406 –
Idyllendichtung
der selbst als Sprecher auftritt. Von Wind und Wetter mitgenommen, verliert er nach über hundert ehrenvoll abgeleisteten Dienstjahren seinen Posten „als Zierath und Wetterfahn“ (1.1, S. 228) auf dem Kirchturm und kann noch von Glück sagen, dass der pietätvolle Pfarrer ihm wenigstens ein neues Domizil auf dem Ofen in seinem Studierzimmer anweist. So motiviert Mörike durch einen genialen Kunstgriff die idyllentypische Beschränkung auf einen abgeschlossenen Bezirk friedvoller Geborgenheit, indem er den begrenzten Raum seines Gedichts durch den Blick des immobilen Hahns erschließt, der beispielsweise am Sonntag verfolgt, wie der Strahl der Sonne langsam durch die Stube wandert, und dabei mit detailfreudiger Aufmerksamkeit die Gegenstände des täglichen Gebrauchs registriert: Die Sonne sich in’s Fenster schleicht, Zwischen die Cactusstöck’ hinstreicht Zum kleinen Pult von Nußbaumholz, Eines alten Schreinermeisters Stolz; Beschaut sich was da liegt umher, Concordanz und Kinderlehr’, Oblatenschachtel, Amtssigill, Im Dintenfaß sich spiegeln will, Zutheuerst Sand und Grus besicht, Sich an dem Federmesser sticht Und gleitet über’n Armstuhl frank Hinüber an den Bücherschrank. (S. 235)
Auch der Ofen, der Alters- und Ruhesitz des Hahns, wird in einer ausführlichen Ekphrasis geschildert, wie sie seit der Antike traditioneller Bestandteil literarischer Idyllen ist. Nicht von ungefähr sind seine Platten mit lauter warnenden Exempeln gottloser Hybris aus der jüdisch-christlichen Überlieferung geschmückt: Der tyrannische Bischof, der im Mäuseturm von Bingen ein grässliches Ende findet, der babylonische König Belsazer, der Jehovah lästert, und Sara, die Frau Abrahams, die Gottes Weissagung verlacht, mahnen den Sprecher wie den Leser zu Demut und Bescheidenheit. Charakteristisch für die Idylle ist überdies, analog zur räumlichen Geschlossenheit, der wohlgeordnete, an den zyklischen Tages- und Jahreslauf gebundene Zeitrhythmus, der das Erleben des Hahns bestimmt. Mörikes pensionierter Kirchturmwächter weiß die Vorzüge seiner neuen Lage durchaus zu schätzen, besonders in der kalten Jahreszeit, – 407 –
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wenn er des Nachts warm und geborgen auf seinem Ofen sitzt und sich genüsslich ausmalt, „wie im Wald da drüben […] / Der grimmig Winter sich erbost“ und die Gegend mit Frost überzieht (S. 233). Wunschlos glücklich ist er aber doch nicht, denn es kostet ihn einige Überwindung, auf die Freiheit unter dem offenen Himmel und die Teilhabe am Leben der großen weiten Welt zu verzichten: Ade, o Thal, du Berg und Thal! Rebhügel, Wälder allzumal! Herzlieber Thurn und Kirchendach, Kirchhof und Steglein über’n Bach! […] – Ihr Störch’ und Schwalben, grobe Spatzen, Euch soll ich nimmer hören schwatzen! Lieb däucht mir jedes Drecklein itzt, Damit ihr ehrlich mich beschmitzt. […] Aus ist, was mich gefreut so lang, Geläut’ und Orgel, Sang und Klang. (S. 228f.)
Ein bescheidener Ersatz wäre ihm daher sehr willkommen: „Im Sommer stünd’ ich gern da draus / Bisweilen auf dem Taubenhaus, / Wo dicht dabei der Garten blüht, / Man auch ein Stück vom Flecken sieht“ (S. 236), während er für den Winter mit einer neuen Aufgabe als Galionsfigur auf dem Schlitten der Pfarrersfamilie liebäugelt. Zwar ruft er sich am Ende energisch zur Ordnung: „Narr! denk’ ich wieder, du hast dein Theil!“, und: „Du alter Scherb, schämst du dich nicht, / Auf Eitelkeit zu sein erpicht? / Geh’ in dich, nimm dein Ende wahr! / Wirst nicht noch einmal hundert Jahr“ (ebd.), aber die Einsicht, dass die beschränkte Idylle mit Entsagung erkauft ist und Sicherheit immer auch Einengung bedeutet, wird dadurch nicht aufgehoben. Und bezeichnenderweise erreicht die Rede des Hahns ihren poetischen Höhepunkt, markiert durch einen wunderbaren Neologismus, ausgerechnet dann, wenn der Pfarrer in einer Winternacht einmal das Fenster öffnet und dadurch den Kontakt zu der sonst so sorgsam ausgesperrten Außenwelt herstellt: „Ah, Sternenlüfteschwall wie rein / Mit Haufen dringet zu mir ein!“ (S. 232) Ohnehin wird das biedermeierliche Behagen am „frommen Ofen“ in der warmen Stube „hinter Schloß und Riegel“ (S. 233) schon durch seine Übertragung auf die Figur eines Kirchturmhahns, der noch dazu von Selbstgefälligkeit nicht ganz frei ist, leicht ins Komische gezogen. Auch – 408 –
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seine eigene Neigung zum Rückzug und zur Abschließung dürfte Mörike auf diese Weise milde ironisiert haben: Das ganze Gedicht stellt eher ein subtiles Spiel mit klischeehaften idyllischen Sehnsüchten als deren ungebrochene poetische Verherrlichung dar. Dass solche Feinheiten den meisten Lesern entgingen, machte die fragwürdige Karriere des Protagonisten als „Paradehahn deutscher Gemütsinnigkeit“ erst möglich.19 Mit der Vanitas-Mahnung, die den Text beschließt, behielt der Cleversulzbacher Turmhahn übrigens nicht recht. Er kann noch heute im Schiller-Nationalmuseum in Marbach besichtigt werden und ist somit sehr viel älter geworden, als er es seinerzeit für möglich hielt. Mörikes bei weitem umfangreichstes Idyllenwerk ist die große Idylle vom Bodensee, die mit der Wahl des Hexameters auch formal an die antiken Vorbilder anschließt. Sie entstand 1845/46 und stellt, wie das Gedicht Am Rheinfall, die späte Frucht einer Reise dar, die den Dichter 1840 in die Bodensee-Region geführt hatte. Das für einen der beiden Handlungsstränge zentrale Motiv des Glockendiebstahls ist aber noch wesentlich älter, denn es begegnet schon 1828 im Zusammenhang mit Erinnerungen an die Tübinger Studentenzeit.20 Die Landschaft im oberschwäbischschweizerischen Grenzgebiet muss Mörike, der bis dahin kaum über das kleinräumige Alt-Württemberg hinausgekommen war, tief beeindruckt haben. Davon zeugt bereits der ausführliche Brief, in dem er den Verwandten und Freunden daheim seine Reiseerlebnisse mitteilte21, und auch die Idylle selbst beschwört mehrfach in poetischen Schilderungen den Blick auf den See und die Berge, zum Beispiel gleich im Eingangsabschnitt, der von einer verfallenen Kapelle in Ufernähe erzählt: Aber noch freut sich das Thürmchen in schlanker Höhe den weiten See zu beschauen den ganzen Tag und segelnde Schiffe, Und jenseits, am Ufer gestreckt, so Städte wie Dörfer, Fern, doch deutlich dem Aug’, im Glanz durchsichtiger Lüfte. Aber im Grund wie schimmern die Berge! wie hebet der Säntis Silberklar in himmlischer Ruh’ die gewaltigen Schultern! (7, S. 11)
Eine andere Passage beschreibt den See im Licht der sinkenden Sonne: Und schon wallt’, ein lebendiges Meer, rothglühend in ganzer Länge, hinunter der See, mit unendlichen Wellen erzitternd, Bis wo die feurige Fluth er gestadlos breit ausgießet In das Gewoge des tief entzündeten Abendhimmels. (S. 24f.)
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15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Vor diesem Hintergrund und von seiner lichten, heiteren Atmosphäre gleichsam durchtränkt, entfaltet sich eine „gedoppelte Fabel“, wie Mörike es selbst ausdrückte (16, S. 180), denn die Idylle vom Bodensee setzt sich aus einer Rahmen- und einer Binnenhandlung zusammen. Die ersten beiden Gesänge berichten davon, wie der listige alte Fischer Martin (oder Märte) den Schneider Wendel und seinen Kumpan Steffen auf den Gedanken bringt, die Glocke aus dem Turm der verlassenen Kapelle zu stehlen und zu Geld zu machen – in Wahrheit ist sie aber längst verschollen. Zu Ende geführt wird diese Intrige im siebten und letzten Gesang, in dem die beschämten Möchtegern-Diebe von dem Fischer ertappt werden und sein Schweigen mit drei Maß Wein erkaufen müssen. Eingefügt ist eine umfangreiche, vier Gesänge umfassende Rückblende, die einen noch weitaus gewagteren Streich aus der Jugend Märtes erzählt, „dem bei der Geburt schon / Jegliche Kunst und Gabe der scherzenden Muse geschenkt war“ (7, S. 49): Um seinen Freund Tone zu rächen, den die schöne Gertrud zugunsten eines reicheren Bewerbers schnöde verlassen hat, entwendet er im Bunde mit den anderen Dorfburschen am Abend ihrer Hochzeit den gesamten Hausrat der jungen Frau und drapiert ihn auf einer nahen Waldlichtung, ergänzt um zwei lebensgroße Puppen, die das Brautpaar darstellen, und ein aus Kuchenteig gebackenes Kind. Der brave Tone, der an dem rüden Spaß der Gesellen keinen Anteil nimmt, findet unterdessen sein verdientes Glück mit der Schäfertochter Margarete. Kunstvoll verknüpft Mörike in diesem Werk ganz verschiedene Tonlagen: Plastische epische Schilderungen, ländliche Genrebilder, humorvolle oder gar burleske Szenen und Partien von empfindsamer Gefühlsinnigkeit lösen einander ab und ergeben ein vielschichtiges und abwechslungsreiches Ganzes. Die unorganische Zweiteilung und das Übergewicht der Binnenhandlung stießen jedoch schon bei den ersten Rezensenten auf Kritik. Ursprünglich war die Idylle auch tatsächlich anders und vor allem in weitaus kleineren Dimensionen geplant gewesen. Im Juli 1845 teilte Mörike den Hartlaubs mit, dass die „Glocken-Idylle“ inzwischen „230 Hexameter“ umfasse und damit etwa zur Hälfte fertig sei (14, S. 261f.) – demnach sollte der Schwerpunkt offenbar noch auf dem Scherz liegen, den Märte sich mit Wendel und Steffen erlaubt. Im Oktober sprach er aber schon von einer „ausführlichere[n] Behandlung der episodischen Liebesgeschichte“, durch die er seinem epischen Gedicht „mehr gemüthliche Fülle, leidenschaftliche Bewegung u. Zartheit“ zu verleihen gedachte, und rechnete mit ungefähr siebenhundert Versen (S. 281). Dass es am Ende sogar mehr als doppelt so viele wurden, war also wohl in erster Linie einer immer weiter – 410 –
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fortschreitenden Aufschwellung des Handlungskomplexes um den Jugendstreich des Fischers und die aufkeimende Neigung zwischen Tone und Margarete geschuldet. Damit bestätigt die Entwicklung dieses Projekts einmal mehr Mörikes Vorliebe für eine lockere, episodische Erzählstruktur, wie wir sie schon von seinen Prosawerken her kennen. In dem Musenanruf, der am Ende des zweiten Gesangs zu der großen Rückblende überleitet, wird die mangelnde Stringenz der Handlungsführung sogar ausdrücklich gerechtfertigt: Ländliche Muse! nun hemme den Schritt und eile so rasch nicht Fort an das Ziel! Du liebest ja stets nach der Seite zu schweifen, Und ruhst wo dir’s gefällt. So wende dein offenes Antlitz Hinter dich, fern in die Zeit, wo dein Liebling [Märte], jung noch mit Andern, Kühnerer Thaten sich freute. Vergönn’ uns einen der Schwänke, Deren er jetzo gedenkt auf dem Heimweg dort nach dem Dorfe. Niemals-Alternde, du hast Alles gesehen mit Augen! Selbst auch hast du ihn Manches gelehrt, mithelfend am Werke, Und die roheren Kräfte mit deinem Geiste gemildert. Sing’! und reich’, die wir lang nicht übten, die Flöte dem Dichter! (7, S. 22)
Abgesehen von den Bedenken gegen die „äußere Oekonomie“ und die „etwas ungeschickte Anordnung“ der Idylle22, nahmen die Kritiker Mörikes neuestes Werk sehr günstig auf, wofür im vorigen Kapitel bereits einige Beispiele angeführt wurden. Sie begrüßten die Abkehr von der politisch engagierten und rhetorisch aufgeladenen Poesie des Vormärz, rühmten die Distanz zur Hektik und Zerrissenheit der Gegenwart sowie das völlige Fehlen „moderner, socialer oder politischer Tendenz“23 und fühlten sich durch das dörfliche Milieu und den ausgeprägten regionalen Bezug an Berthold Auerbachs beliebte Schwarzwälder Dorfgeschichten erinnert. Ihre Kommentare belegen zudem, wie lebendig die bis in die Antike zurückreichende und durch Voß, Goethe und viele andere wieder aufgefrischte Tradition der Versidylle im Bewusstsein der Leserschaft damals noch war. Später ließen allerdings gerade jene Momente harmlos-friedlicher Idyllik, die bei den Zeitgenossen so großen Anklang fanden, das Interesse an der Idylle vom Bodensee schwinden. In der Mörike-Forschung gehörte sie lange Zeit zu den weitgehend vernachlässigten Schöpfungen des Autors. Völlig konfliktfrei präsentiert sich die Welt dieser Dichtung aber keineswegs. Immerhin ist es – neben der Gestalt des listigen Märte – das gemeinsame Motiv der Habsucht, das den Zusammenhang zwischen – 411 –
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ahmen- und Binnenhandlung stiftet: Treibt den Schneider Wendel auf R seinem nächtlichen Raubzug zur Kapelle die Gier wie ein „giftiges Fieber“ an (S. 53), so lässt sich Gertrud, „die stets froh war des Besitzthums“ (S. 34), dazu verleiten, den redlichen Schiffer Tone „dem leidigen Mammon zu Liebe“ gegen den reichen Müller Peter, „den Erzdümmling mit flächsernen Haaren“ (S. 27), einzutauschen. In beiden Fällen wird das verderbliche Streben nach Geld, das den Frieden und die harmonischen Sozialbeziehungen innerhalb der dörflichen Gemeinschaft gefährdet, auf exemplarische Weise bestraft. Dies kann nun zugleich als eine kritische Reflexion auf die jüngere Entwicklung der Gattung Idylle gelesen werden, denn während bei Voß und Goethe wie bei ihren biedermeierlichen Epigonen die naturhafte Ordnung der idyllischen Sphäre und der besitzbürgerliche Stolz auf das wohlbestellte Heim noch eine unproblematische Einheit bilden, treten beide in Mörikes Werk auseinander und erzeugen eine bedrohliche Spannung.24 Förmlich inszeniert wird dieser Widerspruch, wenn Märte mit seinen Helfershelfern Gertruds Habseligkeiten in der freien Natur aufbaut und damit ein groteskes Zerrbild der gutbürgerlichen Wohnstube schafft. Zu nächtlicher Stunde befördert die übermütige Dorfjugend die ganze Ladung mit einem Wagen in den Wald hinaus: […] Die Stricke Machten sie los und warfen zuoberst die Betten herunter, Reichten die sauberen Stühle herab und die leichteren Tische (Alles mit strohernen Bäuschen geschützt, von wegen der Reibung); Rocken und Spinnrad auch, und im länglichen Kasten die Standuhr; Hoben die Wiege heraus und das hohe Gestelle des Eh’betts, Welches vom Urgroßvater noch da war: oben am Deckel Sah man den Traum Jakobs mit der himmlischen Leiter in hellen Farben gemalt, die geflügelten Engel hinauf und hinunter. Nächst dem Küchenbehälter erschien ein altes Clavierchen, Gar dünnleibig und schwach von Ton; ihm bangete jetzo Schon vor dem roheren Griff der spielunkundigen Jugend; Dann die Commode von Nußbaum und zwei kleinere Schränke. Endlich erhoben sie noch den verschlossenen Kasten mit Weißzeug, Den acht stämmige Arme zugleich von unten empfingen. Stück für Stück ward Alles, so wie es vom Wagen herabkam, Gleich an die schickliche Stelle gesetzt, und die grünenden Wände Schmückten sich wohnbarlich aus. Ein paar hell strahlende Spiegel Hingen an zwei dickstämmigen Birken vom Nagel herunter, Gegen einander gekehrt, an den längeren Seiten des Saales. (S. 46f.)
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Da fehlt wahrhaftig nur noch das Bild mit dem röhrenden Hirsch! Mörike ersetzt es durch eine Kuckucksuhr, die ebenso gut geeignet ist, um den schreienden Kontrast zwischen der häuslichen Ausstattung und dem Naturraum zu unterstreichen: Lustig ertönte der Gukukruf aus der Uhr, die der Fischer Aufgezogen, jedoch auf die Stunde zu richten vergessen: Neunmal rief sie, den herzerfreuenden Sänger des Frühlings Schlecht nachahmend im Walde, bei Nacht und wider die Jahrszeit. Nur erst zwei Uhr war es vorbei und ferne der Tag noch. (S. 48)
Die Idylle vom Bodensee attackiert demnach auf subtile Weise die selbstgefällige Verklärung der besitzbürgerlichen Existenz und damit jene philiströse Spießigkeit, die sich in vielen Dichtungen des 19. Jahrhunderts die höheren Weihen der Idylle, ihrer ehrwürdigen antiken Tradition und ihrer vermeintlichen Natürlichkeit anmaßte. Mörike scheinen die fruchtbaren wie die problematischen Möglichkeiten, die die Idyllendichtung zu seiner Zeit bot, vollauf bewusst gewesen zu sein. Das Konstanze Hartlaub gewidmete Gedicht Ländliche Kurzweil spielt ebenfalls, wenngleich in scherzhaftem Ton, auf die Unvereinbarkeit von Idylle und Gewinnstreben an. Hinzu kommt jedoch mit der Verknüpfung von Idyllik und „[p]laudernder Geselligkeit“ (1.1, S. 239) ein weiteres Element, das Mörikes Vorliebe für diese Gattung verständlich macht und das beispielsweise auch in Ach nur einmal noch im Leben! begegnet: Die von jedem äußeren Zwang befreite Sphäre der Idylle schafft Raum für das gesellige Gespräch, in dem sich ein ideales menschliches Miteinander ausdrückt. Häufiger aber führen die Werke, die idyllische Züge tragen, das wohlbekannte einsame Ich ein, das in freier Natur müßige Stunden genießt. Mit Waldplage haben wir in einem früheren Kapitel schon eine Parodie auf diese Spielart der Gattung kennengelernt, doch auch das Gedicht, das wohl den Gipfel von Mörikes Idyllenwerk darstellt und dessen ausführliche Erörterung dieses Unterkapitel beschließen soll, gehört hierher: Die schöne Buche
Ganz verborgen im Wald kenn’ ich ein Plätzchen, da stehet Eine Buche, man sieht schöner im Bilde sie nicht. Rein und glatt, in gediegenem Wuchs erhebt sie sich einzeln, Keiner der Nachbarn rührt ihr an den seidenen Schmuck.
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15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Rings, so weit sein Gezweig der stattliche Baum ausbreitet, Grünet der Rasen, das Aug’ still zu erquicken, umher; Gleich nach allen Seiten umzirkt er den Stamm in der Mitte; Kunstlos schuf die Natur selber dieß liebliche Rund. Zartes Gebüsch umkränzet es erst; hochstämmige Bäume, Folgend in dichtem Gedräng’, wehren dem himmlischen Blau. Neben der dunkleren Fülle des Eichbaums wieget die Birke Ihr jungfräuliches Haupt schüchtern im goldenen Licht. Nur wo, verdeckt vom Felsen, der Fußsteig jäh sich hinabschlingt, Lässet die Hellung mich ahnen das offene Feld. – Als ich unlängst einsam, von neuen Gestalten des Sommers Ab dem Pfade gelockt, dort im Gebüsch mich verlor, Führt’ ein freundlicher Geist, des Hains auflauschende Gottheit, Hier mich zum erstenmal, plötzlich, den Staunenden, ein. Welch Entzücken! Es war um die hohe Stunde des Mittags, Lautlos Alles, es schwieg selber der Vogel im Laub. Und ich zauderte noch, auf den zierlichen Teppich zu treten; Festlich empfing er den Fuß, leise beschritt ich ihn nur. Jetzo, gelehnt an den Stamm (er trägt sein breites Gewölbe Nicht zu hoch), ließ ich rundum die Augen ergehn, Wo den beschatteten Kreis die feurig strahlende Sonne, Fast gleich messend umher, säumte mit blendendem Rand. Aber ich stand und rührte mich nicht; dämonischer Stille, Unergründlicher Ruh’ lauschte mein innerer Sinn. Eingeschlossen mit dir in diesem sonnigen Zauber Gürtel, o Einsamkeit, fühlt’ ich und dachte nur dich! (1.1, S. 106)
Das Gedicht wurde im Sommer 1842 geschrieben und fünf Jahre später im „Norddeutschen Jahrbuch für Poesie und Prosa“ veröffentlicht; das siebte Distichon fügte Mörike aber erst für den Druck in der zweiten Auflage seiner Lyriksammlung hinzu. Nicht zu übersehen ist die Gliederung des Textes durch einen Einschnitt nach eben diesem siebten Verspaar, den der Gedankenstrich zu Beginn des achten auch graphisch hervorhebt. Wir haben es also mit zwei Gedichtteilen zu tun, die voneinander abgegrenzt und doch zugleich in komplexer Weise aufeinander bezogen sind. Deutlicher noch als etwa Wald-Idylle gibt Die schöne Buche zu erkennen, dass Mörike den locus amoenus in seinen Idyllen nicht nur als konventionelle Staffage nutzt, sondern das gefühlsmäßig vertiefte Verhältnis des lyrischen Ich zur Natur selbst zum Hauptthema der Dichtung macht. Dies ist nun ein ganz moderner Ansatz und weit entfernt von der Gedankenwelt – 414 –
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des Altertums. Der erste Teil des Gedichts, noch handlungslos, liefert eine detaillierte Beschreibung jenes verborgenen „Plätzchen[s]“, in dessen Mittelpunkt sich die Buche erhebt, und steht demgemäß im Präsens. Markant tritt das idyllentypische Kreismotiv als beherrschendes Muster der Raumordnung hervor, denn der Baum ist gleich von mehreren konzentrischen Kreisen umgeben, die in ihrer Abfolge von innen nach außen genannt werden: Ein „Rasen“, der den Stamm „umzirkt“, „Gebüsch“, das wiederum die Rasenfläche „umkränzet“, und dicht gedrängte „hochstämmige Bäume“ hegen das „liebliche Rund“ ein und schließen es gegen alles ab, was außerhalb liegt – das „himmlische Blau“ und das „offene Feld“ sind für den Betrachter nur zu erahnen. Der zweite Teil wird später mit dem „beschatteten Kreis“ und dem „sonnigen Zauber-/Gürtel“ noch weitere Ringe um den geschützten Binnenbezirk des Naturidylls legen. Keine Menschenhand hat die vollendete harmonische Ordnung dieses Ortes geschaffen, wie der Sprecher ausdrücklich betont. „Kunstlos“ ist hier „die Natur selber“ am Werk gewesen und hat etwas hervorgebracht, was den Vergleich mit den höchsten menschlichen Leistungen nicht zu scheuen braucht: „Eine Buche, man sieht / Schöner im Bilde sie nicht.“ Richtet man den Blick auf die zahlreichen Metaphern und anthropomorphisierenden Wendungen im Text, muss indes auffallen, dass die ganze Schilderung sehr stark kulturell überformt ist. So wird das Laub der Buche als „seidene[r] Schmuck“ bezeichnet und die schlanke Birke als schüchterne Jungfrau imaginiert, und ein „Rasen“ ist – im Gegensatz zu einer Wiese – eigentlich nur als Produkt gärtnerischer Pflege denkbar. Auch in dieser Hinsicht fügt der zweite Teil mit dem „zierlichen Teppich“ des Grases, dem „Gewölbe“ der Zweige und dem goldenen ‚Saum‘ des Sonnenlichts noch einige einschlägige Motive hinzu. Zudem werden den einzelnen Elementen der kunstlosen Naturschöpfung mehrfach Zweck und Absicht zugeschrieben: Der Rasen hat „das Aug’ still zu erquicken“, während die Bäume am Rande der Lichtung die Aufgabe übernehmen, die Unendlichkeit des Himmels fernzuhalten. Der Widerspruch zwischen behaupteter Natürlichkeit und kultureller Perspektive führt uns auf die Rolle des lyrischen Ich, das sich in diesem Teil des Gedichts, wo es lediglich im ersten und im letzten Vers explizit genannt wird, doch nur scheinbar bescheiden zurückhält. In Wahrheit steuert seine Wahrnehmung die gesamte Beschreibung; sie baut den wohlstrukturierten Naturraum förmlich vor den Augen des Lesers auf und sättigt ihn mit Attributen, die dem Reich der Kultur entstammen. Natur ist in Mörikes Gedicht also nicht einfach für sich da, sondern erscheint von – 415 –
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Anfang an als ein Gegenstand menschlicher Betrachtung, den der Sprecher keineswegs ‚objektiv‘ erfasst. Der zweite Teil akzentuiert diesen Sachverhalt noch entschiedener, denn nun schiebt sich das lyrische Ich offen in den Vordergrund, indem es in der Rückschau – und daher im Präteritum – von seiner ersten Begegnung mit dem idyllischen „Plätzchen“ erzählt. Seiner Bewegungsrichtung folgend, schreitet die Schilderung diesmal von außen nach innen voran, bis der Besucher, in der Mitte angekommen und an den Stamm der Buche gelehnt, „rundum die Augen ergehn“ lässt und damit nicht nur die dominierende Kreisform nachzeichnet, sondern auch ein weiteres Mal die Blickrichtung umkehrt. So wird der Schauplatz der Idylle gleich mehrfach durchmessen und dadurch in seiner räumlichen Erstreckung (und Begrenzung) plastisch vorgeführt. Mit gutem Grund nannte Mörike dieses Gedicht, das die Dimension des Raumes so sehr hervorhebt, ein „Naturbild in Distichen“ (14, S. 76). Stärker als zuvor macht sich im zweiten Teil auch die emotionale Anteilnahme des Sprechers geltend, die sich etwa in den beiden Ausrufen manifestiert. Die Schwerpunktverlagerung von optischen zu akustischen Eindrücken – wiederholt wird die herrschende Stille betont – deutet ebenfalls auf eine gewisse Verinnerlichung des Naturerlebnisses hin, auf eine seelische Tiefendimension, die im Schlussdistichon ihren prägnantesten Ausdruck findet. Vor allem aber etabliert Mörike jetzt über zahlreiche Anleihen bei antiken Vorstellungsmustern eine religiöse Motiv- und Anspielungsebene, die im ersten Teil noch nicht vorhanden war: Der Naturraum nimmt Züge eines Heiligtums an, das als sakrale Sphäre durch mehr als nur räumliche Grenzen von dem profanen Draußen geschieden ist. Der schlichte „Wald“ verwandelt sich in einen „Hain“, in dem ein „freundlicher Geist“, eine „auflauschende Gottheit“ als genius loci waltet und dessen „dämonische Stille“ man nicht im negativen, bedrohlichen Sinne, sondern als Zeichen der erschütternden Gegenwart numinoser Mächte zu verstehen hat. Und wenn diese „Gottheit“ selbst das lyrische Ich an dem Platz der Buche ‚einführt‘, ist das keine poetische Umschreibung für einen bloßen glücklichen Zufall; vielmehr geht es um eine förmliche Initiation, um eine Einweihung in die Geheimnisse des Kultbezirks, die nur dem Müßigen zuteil werden kann, der sich in der für Mörike typischen Weise allen Eindrücken der Natur hingibt und sich gerne „von neuen Gestalten des Sommers / Ab dem Pfade“ locken lässt, statt zielstrebig seinen Weg zu verfolgen. Nicht von ungefähr betritt der Sprecher den Hain gerade „um die hohe Stunde des Mittags“, die nach dem Glauben des Altertums die Stunde des Gottes Pan ist, in der sich – 416 –
Idyllendichtung
dem tiefer Blickenden die Mysterien der Natur enthüllen, eine dem gewöhnlichen Tageslauf enthobene „Niemandszeit“, die der räumlichen Abgeschlossenheit des Schauplatzes korrespondiert. Das Ich verhält sich ganz so, wie man es in einem Heiligtum erwarten sollte, wenn es, staunend und ehrfürchtig, den „zierlichen Teppich“ des Rasens nur „leise“ zu betreten wagt und schließlich in andächtigem Schweigen verharrt. „Entzücken“ ist gleichfalls ein Wort aus dem Umkreis des religiösen Erlebens, weil es ursprünglich ein Ergriffensein durch das Göttliche bezeichnet, das den Betroffenen buchstäblich aus seiner gewohnten irdischen Existenz herausreißt (in einem solchen Kontext begegnet es zum Beispiel in Mörikes Gedicht Im Weinberg); dazu passt die Plötzlichkeit, die der Sprecher seiner Erfahrung zuschreibt. Kontemplativ versenkt sich das lyrische Ich in die Atmosphäre des Ortes, geleitet von seinem „innere[n] Sinn“, der offenbar jenes Organ ist, das dem Menschen die Präsenz des Dämonischen erschließt. „Unergründliche Ruh’“ bedeutet hier mehr als nur das Fehlen störender Laute, so wie die „Einsamkeit“ kein bloßes Alleinsein meint – sie wird zu einer eigenen Wesenheit, die das Ich anreden kann und deren Gegenwart es in mystischer Verzückung genießt, wobei der kühne Zeilensprung im letzten Distichon die Intensität des Erlebnisses zusätzlich hervorhebt. Seit diesem Augenblick darf sich der Sprecher als Eingeweihter des Hains fühlen, und damit ist der Bogen zurück zum ersten Teil geschlagen, in dem er sich gleich anfangs als ein solcher vorgestellt hat: „Ganz verborgen im Wald kenn’ ich ein Plätzchen …“. Die im zweiten Teil des Gedichts geschilderte Erfahrung bildet mithin die Voraussetzung für die Beschreibung, die das Ich im ersten liefert. Was dem lyrischen Ich am Ende widerfährt, lässt an eine unio mystica denken, die den ‚ent-zückten‘ Gläubigen zur beseligenden Einheit mit Gott führt. Dennoch kann man den Unterschied zu den regressiven Phantasien, die in einigen früheren Werken des Dichters auszumachen waren, mit Händen greifen. Will der Sprecher etwa in den Wasserfallstrophen von Besuch in Urach oder in Mein Fluß die Grenze zwischen Mensch und Natur völlig aufheben, um eine Verschmelzung herbeizuführen, so bewahrt er in Die schöne Buche bis zum Schluss seine klaren Konturen als abgegrenztes Individuum. Nichts ist mehr zu spüren von dem fordernden Drängen, mit dem das Ich in den älteren Texten der Natur gegenübertritt; Ehrfurcht und Verehrung haben seine Stelle eingenommen. Die kunstvolle Form des Distichons, die gehobene Diktion und die Aufnahme antikisierender Vorstellungselemente bewirken eine klassische Dämpfung und Mäßigung des Sprechens wie des Erlebens, und folgerichtig wird jetzt das Wasser, jenes Element, das – 417 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
sich so gar nicht fassen und greifen lässt, als Gegenüber des Einzelnen durch einen plastisch entworfenen, überschaubaren Naturraum ersetzt, in dem er keine Entgrenzung phantasiert, sondern erst wirklich zu sich selbst findet. So führt uns das Buchen-Gedicht exemplarisch einen generellen Wandel in Mörikes Naturlyrik vor Augen, der mit der Anknüpfung an Formen und Motive aus der Kunst des Altertums einherging. In seiner Beschränkung auf die einsame Begegnung mit einem streng begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit gibt es freilich auch den Abstand zu erkennen, der den skeptischen und bescheidenen Mörike von Goethe trennt. „Goethe kann unbedenklich aus einer privaten Erfahrung eine allgemeingültige Summe ziehen; sein Ich ist ihm repräsentativ für die Menschheit, jedes Stück Natur für die AllNatur“, während Mörike für seine poetische Schilderung keine „allgemeine Verbindlichkeit“ mehr beansprucht: „eine solche Erfahrung kann nur jeder für sich machen und jeder für sich verbürgen“.25 Weit entfernt ist Die schöne Buche überdies von der emphatischen Unmittelbarkeitssuggestion einer scheinbar spontanen lyrischen Rede, die den Leser in ihren Bann zu schlagen sucht. Der artifizielle Charakter des Gedichts wird keineswegs kaschiert; der harmonische, in sich gerundete und schließlich gar zum Heiligtum überhöhte Naturbezirk erscheint als ein kunstvoll-künstlich entworfener und arrangierter Sprach-Raum. Deshalb signalisiert die Abschließung dieses verborgenen Platzes von der Außenwelt auch die Trennung einer Sphäre der Poesie, des souveränen künstlerischen Spiels, von allen Störfaktoren der stürmisch bewegten gesellschaftlichen Realität in den 1840er Jahren, die Mörike in seinen Versen geradezu demonstrativ ausblendet. Nur abseits der aktuellen sozialen und industriellen Entwicklungen und der sich zuspitzenden politischen Konflikte der VormärzÄra kann die Dichtung noch eine zeitenthobene Idylle als Rückzugs- und Besinnungsraum schaffen. Damit deutet Die schöne Buche schon auf jene stilisierten lyrischen Parklandschaften voraus, in denen später die ästhetizistische Poetik eines Stefan George ihr angemessenes Raumsymbol fand.
Übersetzungen Mörikes Betätigung als Übersetzer aus den alten Sprachen stand in engem Zusammenhang mit der ängstlich abgemessenen „geistige[n] Diät“ (12, S. 98), die er sich nach den schweren Krankheitsanfällen der dreißiger Jahre verordnete. Unter dem Druck seiner labilen gesundheitlichen Verfassung und eines permanenten Schwächegefühls war er entschlossen, – 418 –
Übersetzungen
alles zu meiden, „was einige Anstrengung und Nachdenken erfordert“ (S. 163), und wies deshalb den Gedanken an größere selbständige Dichtungen weit von sich. Um aber die „schreklich müssige Zeit – in welcher ich nichts Tüchtiges thun kann – einigermaßen nützlich auszufüllen“ (S. 184), verfiel er wohl Ende 1837 auf die Idee, ein Bändchen mit Verdeutschungen griechischer und römischer Gedichte herauszugeben. Dabei war freilich keine „eigene Übersetzung“ geplant, die er als „ein ebenso undankbares als schwieriges Geschäft“ bezeichnete (S. 162); statt dessen wollte er sich darauf beschränken, Übertragungen anderer Verfasser zu vergleichen und zu verbessern. Eine solche „kleine Zwischenarbeit, compilatorischer Natur“ (S. 206), die nur ein „geringe[s] Maas geistiger Selbstthätigkeit“ verlangte (13, S. 72), schien in seiner beengten Lage genau die richtige Beschäftigung zu sein. Gleichwohl kostete ihn die Classische Blumenlese schließlich mehr Zeit und Energie, als er anfangs geglaubt haben dürfte. Schon die Beschaffung der Textausgaben in der jeweiligen Ursprache, der Übersetzungen und der für die Erläuterungen benötigten Kommentare war nicht einfach; Freunde in Stuttgart und Tübingen wie Mährlen und Kurz leisteten hierbei wertvolle Hilfe. Die Cleversulzbacher Pfarrvikare Friedrich Schlaich und Wilhelm Haueisen unterstützten ihren Dienstherrn durch Abschreibarbeiten, während der frühere Studienkollege Karl Friedrich Schnitzer, inzwischen Gymnasialprofessor in Heilbronn, auch einige sachlichinhaltliche Ratschläge erteilte. Außerdem begnügte sich Mörike keineswegs mit einer rein mechanischen Kompilation. Im August 1838 erläuterte er Vischer sein Vorgehen folgendermaßen: „Ich treibe dies Geschäft […] nicht ohne innerliches Interesse, weil ich dadurch so Manches erst jezt kennen lerne. Die Auswahl der Stücke macht mir viel Unterhaltung; dann wird ein Übersetzer theils durch den andern korrigirt, theils Viel nach eignem Sinn geändert, um Alles so lesbar wie möglich zu machen, u. dabei lern ich wieder etwas Griechisch“ (12, S. 206). Auch die Vorrede des Bandes betont die Sorgfalt, mit der Mörike bei der Überprüfung, Verbindung und Bearbeitung der herangezogenen Übersetzungen verfuhr.26 In manchen Fällen folgte er einer einzigen Vorlage mit geringfügigen Änderungen, in anderen arbeitete er verschiedene deutsche Übertragungen ineinander, aber zusätzlich befasste er sich, wie aus einigen Briefäußerungen hervorgeht, auch stets mit dem Originaltext selbst.27 Dass er seine Tätigkeit geradezu als einen Lehrgang in sprachlicher Präzision auffasste, bezeugt die Feststellung, ein Übersetzer müsse „die Wörter auf die Goldwage legen“ (S. 177). Um den Originalen nahe zu bleiben, verzichtete er – 419 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
durchweg auf den Reim (die vier gereimten Horaz-Nachdichtungen, die als Zugabe abgedruckt wurden, stammten von Ludwig Bauer28). Meist behielt er überdies, wie schon die von ihm benutzten älteren Übertragungen, das Versmaß der Vorlage bei. Ausnahmen gestattete er sich nur da, wo das Metrum im Deutschen kaum adäquat nachzubilden war, etwa bei den Theokrit-Gedichten VIII und IX, für die er den Blankvers wählte. Die im Januar 1838 getroffene Vereinbarung mit der J.B. Metzlerschen Buchhandlung löste Mörike gegen Ende des Jahres, weil man über das Honorar nicht einig wurde; statt dessen kam ein Vertrag mit Schweizerbart, dem Verleger des Maler Nolten, zustande. Anfang 1840 dürfte das Manuskript abgeschlossen gewesen sein, und im Oktober lieferte der Verlag das Büchlein aus, dessen vollständiger Titel lautete: Classische Blumenlese. Eine Auswahl von Hymnen, Oden, Liedern, Elegien, Idyllen, Gnomen und Epigrammen der Griechen und Römer; nach den besten Verdeutschungen, theilweise neu bearbeitet, mit Erklärungen für alle gebildeten Leser. Mit dem zwar gebildeten, aber „nicht gelehrten Publicum“, das die Vorrede ausdrücklich anspricht (8.1, S. 11), hatte Mörike einen Kreis von Rezipienten im Auge, der über die intimen Kenner der alten Sprachen hinausging und vor allem die „Frauenwelt“ einschloss (12, S. 190), bei der keine humanistische Bildung vorausgesetzt werden konnte. Großer Erfolg war dem Unternehmen jedoch nicht beschieden. Der Absatz der Blumenlese ließ so sehr zu wünschen übrig, dass der geplante zweite Band – ursprünglich war sogar an drei gedacht gewesen – nicht mehr realisiert wurde; zu ihm sind lediglich umfangreiche Vorarbeiten erhalten.29 Welche Dichter in die Classische Blumenlese aufgenommen werden sollten, stand nicht von Anfang an fest, und Mörike änderte in diesem Punkt mehrfach seine Meinung. Zeitweilig waren beispielsweise auch Sappho, Anakreon und Texte aus der Anthologia Graeca vorgesehen30, die schließlich doch nicht berücksichtigt beziehungsweise für den zweiten Band aufgespart wurden. Die Kriterien für die endgültige Auswahl hat der Herausgeber nirgends explizit formuliert. Sie umfasst die dem Homer zugeschriebenen Hymnen auf mehrere olympische Götter, Lieder von Kallinos und Tyrtaios, Werke des Spruchdichters Theognis und Gedichte der hellenistischen Poeten Theokrit, Bion und Moschos für die Griechen sowie Catull, Horaz und Tibull für die Römer. Dass Theokrit mit dreizehn teils sehr umfangreichen Texten, die das ganze Spektrum seines Schaffens widerspiegeln, den größten Raum beansprucht, dokumentiert einmal mehr Mörikes außergewöhnliche Wertschätzung dieses Autors. Knappe Einleitungsabschnitte informieren den Leser über Person und – 420 –
Übersetzungen
Werk des jeweiligen Lyrikers, Anmerkungen mit Wort- und Sacherläuterungen schließen sich den Texten an. Trotz der Mühe, die Mörike auf das Projekt verwendete, zogen die Übersetzungen der Blumenlese in der Folgezeit Kritik auf sich: Zu sehr blieb der Verfasser letztlich doch seinen Vorlagen verhaftet, und die allzu lässige Versbehandlung führte mitunter zu störenden metrischen Unebenheiten. Wenn er sich einmal etwas freier bewegte und weitgehend selbständig vorging, gelangen ihm prompt bessere Nachdichtungen. Das war insbesondere bei drei Gedichten Catulls der Fall, deren Übertragungen er denn auch in seine eigene Lyriksammlung aufnahm: Akme und Septimius, Zwiespalt und Auf den Arrius (für das zuletzt genannte Werk ist überhaupt keine Übersetzungsvorlage nachweisbar). Anhand des überschaubarsten dieser Texte, des berühmten Monodistichons Zwiespalt, soll Mörikes Verfahren beim Übersetzen etwas näher betrachtet werden. Im lateinischen Original, das kein einziges Substantiv enthält, lauten die Verse folgendermaßen: Odi et amo. quare id faciam, fortasse requiris. nescio. sed fieri sentio et excrucior.31
Zur Erleichterung des Verständnisses möge eine deutsche Prosaversion dienen, die den Inhalt präzise wiedergibt, ohne den poetischen Qualitäten der Verse gerecht werden zu wollen: „Ich hasse und liebe. Warum ich das tue, fragst du vielleicht? / Ich weiß es nicht. Aber daß es geschieht, fühle ich, und ich leide Qualen.“32 Die lakonische Prägnanz, mit der Catull einen existenziellen Seelenzustand von quälender Widersprüchlichkeit in Sprache fasst, stellt gewissermaßen die ultimative Herausforderung für jeden Übersetzer dar, denn sie ist im Deutschen kaum angemessen nachzubilden. Mörike hatte offenbar zwei ältere Übertragungen vorliegen, von denen er sich inspirieren ließ. Karl Wilhelm Ramler dichtete: Von seiner Liebschaft
Hassen muß ich und lieben. Du fragst, warum ich es müsse. Weiß ich es selbst? ich fühl’s aber, und martere mich.33
Der andere Versuch stammt von Konrad Schwenck: Auf seine Liebe
Haß durchglüht mich, und Liebe zugleich. Weshalb? ja ich weiß nicht; Aber ich fühl’s, so ist’s, und ich empfinde die Qual.34
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15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
Die Classische Blumenlese liefert eine Version, die – wie der Zweizeiler Schwencks – den Anfang von Catulls Pentameter („nescio“) noch in den deutschen Hexameter hineinzieht, also die Versgrenzen gegenüber dem Original verschiebt, und zudem – nach dem Beispiel Ramlers – den Aspekt der Unfreiheit, des erlittenen Zwangs, der bei Catull erst im „fieri“ (‚es geschieht‘) zum Ausdruck kommt, in Gestalt des „muss“ gleich an den Anfang rückt und damit den gesamten Spannungsbogen des Distichons verändert: Zwiespalt
Hassen muss ich und lieben zugleich. Warum? – wenn ich’s wüßte! Aber ich fühl’s, und das Herz möchte zerreissen in mir. (8.1, S. 182)
In den Gedichten finden wir schließlich folgende leicht abgewandelte Fassung: Zwiespalt
Nach Catull
Hassen und lieben zugleich muß ich. – Wie das? – Wenn ich’s wüßte! Aber ich fühl’s, und das Herz möchte zerreißen in mir. (1.1, S. 166)
In seiner Studie zu Catulls Distichen, deren weitaus größter Teil diesem einen Gedicht gewidmet ist, erörtert Otto Weinreich Mörikes Text Wort für Wort im Vergleich mit der lateinischen Vorlage und zitiert außerdem eine lange Reihe weiterer Übersetzungen, die anschaulich vor Augen führt, wie Dichter und Philologen seit dem Barockzeitalter mit den beiden Zeilen gerungen haben.35 Vor allem findet sich weder für das unübertrefflich lapidare „Odi et amo“ zu Beginn noch für das ebenso knappe abschließende „excrucior“ im Deutschen ein echtes Pendant, und die weitläufigeren Umschreibungen, zu denen die Übersetzer greifen müssen, schmälern unweigerlich die Wucht, mit der das Original auf den Leser wirkt. So gelangt Weinreich zu dem Schluss, dass in diesem Fall nicht einmal ein Eduard Mörike imstande gewesen sei, eine kongeniale Verdeutschung zu liefern: „Die Grenzen aller Übersetzungskunst, ja streng genommen die Unmöglichkeit, ein Original durch irgendeine, und sei es die beste Übertragung wirklich lückenlos zu ersetzen, lassen sich wohl nicht schlagender aufzeigen als durch den hier vollzogenen Vergleich von Catull und Mörike.“36 Es fragt sich allerdings, ob Mörike je beabsichtigt haben kann, – 422 –
Übersetzungen
das Catull’sche Original „lückenlos zu ersetzen“. Ulrich Hötzer wählt sicherlich einen angemesseneren Blickwinkel, wenn er herausarbeitet, wie es dem späteren Poeten gelang, gerade in der freien Nachbildung seiner Vorlage unter den spezifischen Bedingungen der deutschen Sprache und Metrik ein aufs Äußerste verdichtetes Kunstwerk ganz eigener Art zu schaffen.37 Übrigens faszinierte ihn das Catull-Gedicht wohl nicht nur als Probierstein für die Kunst, „Wörter auf die Goldwage [zu] legen“, sondern auch aufgrund seines Themas. In den lateinischen Versen begegneten ihm jene gemischten Empfindungen, die einen so eigentümlichen Reiz auf ihn ausübten und die er in seinen eigenen Werken immer wieder gestaltete, in einer zur peinigenden Zerrissenheit gesteigerten Extremform. Kürzer fassen können wir uns im Blick auf Mörikes zweites Übersetzungswerk, den Band Theokritos, Bion und Moschos, den er 1855 gemeinsam mit Friedrich Notter herausgab. Den ersten Hinweis auf ein neues Projekt enthält ein Brief vom 23. März 1852, mit dem Mörike die Einladung der Hoffmann’schen Verlagsbuchhandlung zur Beteiligung an einer geplanten Folge von Übersetzungen aus den alten Sprachen beantwortete und sein Interesse an „Anakreon u. Theokrit oder Properz und Tibull“ bekundete (19.2, S. 30). Tatsächlich sollte das Bändchen mit Texten der drei hellenistischen Lyriker später ebenso in dieser Serie erscheinen wie Mörikes Anakreon-Edition. Bis dahin verging freilich noch geraume Zeit. Im April 1853 teilte der Dichter den Hartlaubs mit, dass er sich nun endgültig „zu einiger Theilnahme“ an der neuen Reihe habe „beschwätzen lassen“ (16, S. 134); er dachte jetzt aber an die Lustspieldichter Terenz und Plautus oder wieder an Anakreon. Erst im Herbst des Jahres legte er sich auf eine Theokrit-Übersetzung fest. Den größten Teil der Arbeit übernahm jedoch Notter, der in Stuttgart zu Mörikes engeren Freunden zählte. Er übersetzte nicht nur einen beträchtlichen Teil der Idyllen und sämtliche Epigramme Theokrits sowie die Gedichte von Bion und Moschos, die in der theokritischen Tradition stehen, sondern verfasste auch eine umfangreiche Einleitung für den Band und den gesamten Anmerkungsapparat. Mörike war lediglich für elf Idyllen Theokrits zuständig, zu denen er auch eine eigene kleine Vorrede beisteuerte. Sieben dieser Texte, die bereits in der Classischen Blumenlese vertreten waren, wurden nun noch einmal gründlich bearbeitet. Dem Verfahren, ältere Übertragungen zu prüfen und abzugleichen, blieb er aber treu, ganz im Gegensatz zu Notter, der sehr viel selbständiger verfuhr. Hatte Mörike sich in der Einleitung zur Blumenlese dagegen verwahrt, „das schon vorhandene Gute und Vortreffliche“ um jeden Preis „durch Neues […] überbieten“ zu wollen – 423 –
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(8.1, S. 11), so bekennt er sich auch diesmal zu der Maxime, „das durch Meisterhand bereits Gewonnene bei einer neuen Bearbeitung ganz unbefangen zu nutzen und den Werth desselben durch weitere Ausbildung und Ergänzung nach besten Kräften zu erhöhen“ (S. 288). Angestrebt wird dabei ein Kompromiss zwischen philologischer Korrektheit und Gemeinverständlichkeit für eine Leserschaft, die mit den klassischen Sprachen und ihren literarischen Zeugnissen nicht unbedingt vertraut ist: Zu einer guten Verdeutschung eines Dichters aber, wie der unsrige, gehört, vornehmlich bei dem gegenwärtigen, für das allgemeine Publikum bestimmten Unternehmen, neben der Richtigkeit und Treue, ohne Zweifel eine dem deutschen Sprachgeist homogene, gefällige Form, wobei man lieber an der äußersten Strenge der Metrik etwas nachläßt, als daß man den natürlichen Vortrag preisgibt und dazu regelrechte, aber harte und gezwungene Verse liefert. (S. 287)
Dieser Grundsatz, von dem Mörike bei seinen sämtlichen Übersetzungsarbeiten ausging, trug ihm später die Kritik strenger Philologen ein, wie sie etwa Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ebenso schroff wie ungerecht aussprach: „Mörike und Geibel taufen den griechischen Wein mit ihrem Zuckerwasser“!38 Die Krönung seiner Bemühungen um die Dichtung des Altertums bildet unbestreitbar der dritte einschlägige Band, der im Sommer 1864 publiziert wurde: Anakreon und die sogenannten Anakreontischen Lieder. Revision und Ergänzung der J. Fr. Degen’schen Übersetzung mit Erklärungen von Eduard Mörike. Mit Anakreon hatte sich Mörike schon früher gelegentlich befasst. Werke des griechischen Poeten waren zeitweilig für die Classische Blumenlese vorgesehen, und 1845 entstand das Gedicht Mit einem Anakreonskopf und einem Fläschchen Rosenöl, das den Versen dieses Lieblings der Aphrodite unsterbliche Wirkung zuschreibt. Über Mörikes Arbeit an der Übersetzung, die mitsamt den dazugehörigen Einleitungen und Anmerkungen einiges an Zeit und Mühe gekostet haben muss, ist jedoch wenig bekannt. Im März 1861 heißt es in einem Brief an Karl Mayer, die „Übersetzung des Anakreon“ sei „schon länger im Reinen“ – wahrscheinlich wurde sie Ende 1860 abgeschlossen –, „die Erklärung aber noch nicht angefangen“ (17, S. 137); Einführungstexte und Kommentare waren also noch zu schreiben. Bis Mörike sich dazu aufraffte, dauerte es eine ganze Weile, und erst im Dezember 1863 beendete der Dichter schließlich die Einleitung zu seinem „deutschen Anakreon“ (S. 309). Verbesserungen am Wortlaut der Übersetzung nahm er sogar noch im Zuge – 424 –
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der Fahnenkorrektur vor. Beistand leistete ihm dabei Julius Klaiber, mit dem Mörike damals Bekanntschaft schloss und dem er in einigen Briefen philologische Detailprobleme vortrug 39; überwiegend dürften ihre Besprechungen aber mündlich in Stuttgart abgehalten worden sein. Hin und wieder wurden auch andere Fachleute der Altertumswissenschaften um Rat gebeten.40 Der Lyriker Anakreon, von dessen Schaffen nur spärliche Fragmente überliefert sind, lebte im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Sein Name verband sich in der Rezeptionsgeschichte allerdings vorwiegend mit den sogenannten Anakreonteen, die man ihm lange irrtümlicherweise zuschrieb, während sie in Wahrheit erst aus der Zeit zwischen der hellenistischen Epoche und der Spätantike stammen. Als heitere, gesellige Trinkund Liebeslieder greifen sie zwar zentrale Themen Anakreons auf, erreichen jedoch bei weitem nicht die sprachliche und formale Komplexität, die ihr Vorbild ausgezeichnet zu haben scheint. Gleichwohl wurden sie seit der frühen Neuzeit in verschiedenen europäischen Nationalliteraturen begeistert aufgenommen und vielfach übersetzt und nachgeahmt. In dieser Tradition standen nicht zuletzt jene „deutschen Dichter des vorigen Jahrh.“, die Mörike in seiner Einleitung erwähnt (8.1, S. 348), also vornehmlich die eigentlichen Anakreontiker wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Peter Uz und Johann Nikolaus Götz. Aber auch jenseits dieses engeren Kreises stießen die Anakreonteen in Deutschland auf großes Interesse. Gottsched und Ramler legten umfangreiche Übersetzungen vor, während Lessing, Herder, Hölty und Goethe sowie später Platen und Geibel sich zumindest an einzelnen Texten aus dem überlieferten Korpus versuchten. Die erste Einleitung, die Mörike für seinen Band verfasste, behandelt „Lebensumstände und Schriften des Dichters“ Anakreon, die zweite, „Über Anakreons Poesie und die sog. Anakreontea“ betitelt, erörtert unter anderem den Dialekt der Anakreon-Fragmente und ihre metrischen Formen. In den Anmerkungen finden sich neben Sacherläuterungen auch Reflexionen über Echtheits- und Datierungsfragen sowie Hinweise zu textkritischen Details. Die Übersetzungen selbst gliedern sich in zwei Teile: Während der zweite eine Auswahl von 56 Anakreonteen präsentiert, bietet der erste mit vierzig Bruchstücken aus den authentischen Liedern Anakreons ungefähr die Hälfte der insgesamt erhaltenen Fragmente und darüber hinaus sechzehn Epigramme, die Anakreon zugerechnet wurden, obwohl sie, wie Mörike selbst anmerkt 41, wenigstens zum Teil sicherlich nicht von ihm stammen – es sind zumeist Grab- und Weiheinschriften im Umfang von ein bis zwei Distichen. Dass Mörike dem bis – 425 –
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dahin nur äußerst selten übersetzten echten Anakreon so breiten Raum zugesteht und ihn überdies klar von den Produkten seiner antiken Epigonen abhebt, ist in der Rezeptions-, Editions- und Übersetzungsgeschichte dieses Autors zwar nicht völlig neu, unterscheidet sein Werk aber doch von den meisten seiner Vorgänger. Er formuliert auch unmissverständliche Werturteile, wenn er die Anakreonteen „zierlich und gewissermaßen witzig“ nennt (8.1, S. 354) und sie etwas abschätzig mit „Niedlichkeiten der Porcellanmalerei“ vergleicht (S. 355); außerdem weist er darauf hin, dass diese Gedichte „fast ohne Ausnahme sehr kunstlos, arm und einförmig gegen Anakreons Formenreichthum“ seien (S. 357). Doch Mörike weiß zu differenzieren, denn während er manche Texte in den Anmerkungen als „dürftigste Nachahmung“ (S. 466 zu Nr. 15) oder „in jeder Hinsicht schwach“ (S. 476 zu Nr. 34) abqualifiziert, gilt ihm An die Cikade (Nr. 40) als „Kleinod dieser Sammlung“ (S. 480). Das Gedicht erhebt die Zikade zum Symbol des Poeten, den keine Erdenschwere bindet: Selig preis’ ich dich Cikade, Die du auf der Bäume Wipfeln, Durch ein wenig Thau geletzet, Singend, wie ein König, lebest. Dir gehöret eigen Alles Was du siehest auf den Fluren, Alles was die Horen bringen. Lieb und werth hält dich der Landmann, Denn du trachtest nicht zu schaden; Du den Sterblichen verehrte, Süße Heroldin des Sommers! Auch der Musen Liebling bist du, Bist der Liebling selbst Apollons, Der dir gab die Silberstimme. Nie versehret dich das Alter, Weise Tochter du der Erde, Liederfreundin, Leidenlose, Ohne Fleisch und Blut Geborne, Fast den Göttern zu vergleichen! (S. 438)42
Gefallen fand Mörike auch an lyrischen Beschwörungen eines idyllischen locus amoenus wie der folgenden (Nr. 5), die er in seinen Anmerkungen als „kleine[s] Naturgemälde“ bezeichnet, in dem die „süßeste Ruhe“ herrsche (S. 462): – 426 –
Übersetzungen
Ruheplatz
Hier im Schatten, o Bathyllos, Setze dich! Der schöne Baum läßt Ringsum seine zarten Haare Bis zum jüngsten Zweige beben.
Neben ihm mit sanftem Murmeln Rinnt der Quell und lockt so lieblich. Wer kann solches Ruheplätzchen Sehen und vorübergehen? (S. 397)
Von seiner persönlichen Leistung als Übersetzer und Kommentator sprach Mörike, wie üblich, mit großer Bescheidenheit, beispielsweise im Vorwort des Bandes, wo er gewissenhaft die von ihm konsultierten Textausgaben und wissenschaftlichen Untersuchungen aufführt und hinzufügt: „Was der Herausgeber da und dort von eigenen Bemerkungen eingemischt hat, kommt kaum in Betracht alle dem gegenüber, was er den eben genannten oder anderwärts namhaft gemachten Gelehrten […] schuldig ist“ (S. 340). Aber obwohl er sich in der Tat wieder auf ältere Übertragungen stützte und für die Erläuterungen fleißig die einschlägige Forschungsliteratur zu Rate zog, stellt der Anakreon-Band doch seine ambitionierteste Publikation auf dem Feld der Übersetzungen dar – und im Grunde die erste, die einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt. Zumindest streckenweise ist die Verdeutschung der Verse eigenständiger als je zuvor, und die Einleitungen und Anmerkungen fallen nicht nur sehr viel umfangreicher aus als in den beiden früheren Veröffentlichungen, sondern beruhen auch zum Teil auf eigenen Forschungen und Überlegungen. Wie bereits der Titel des Buches zu erkennen gibt, benutzte Mörike für seine Übersetzung hauptsächlich die 1821 erschienene Edition von Johann Friedrich Degen, die allerdings nur einen geringen Teil der echten Fragmente enthält. Bei vielen Anakreonteen begnügte er sich mit kleinen Veränderungen an Degens Text, die den Sinn kaum verändern, aber Präzision und Lebendigkeit der Darstellung oftmals beträchtlich erhöhen. Dem Beispiel der meisten Vorläufer folgend, verwendete er in diesem Teil schlichte, reimlose jambische oder trochäische Kurzverse, die den metrischen Formen der Originale nur annäherungsweise entsprechen. Anders sieht es bei den authentischen Anakreon-Fragmenten aus, bei deren Übersetzung er selbständiger vorging und zudem fast durchweg die komplizierten Versmaße des griechischen Dichters nachbildete. Auf diese Partie, – 427 –
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike
die „ächten Stücke (Fragmente u. Epigramme)“, die er „das Interessanteste an der ganzen Arbeit“ nannte, war er mit Recht ein wenig stolz, obwohl sie nur wenige Druckseiten umfasst, denn sie wurde, wie er Hartlaub versicherte, „mit vielem Fleiß und wegen der schwierigen, z. Theil zweifelhaften Metren, mit ziemlicher Mühe gemacht“ (17, S. 136). Als Beispiel für ein verhältnismäßig abgerundetes Dichtwerk sei das zweite Stück angeführt, in dem es um das Thema der Knabenliebe geht: An Dionysos
Herrscher! der du mit Eros’ Macht, Mit schwarzaugigen Nymphen und Ihr, der purpurnen Kypris, Fröhlich spielest und gern umher Auf hochgipfligen Bergen schweifst: Auf den Knieen dich fleh’ ich an, Sei mir hold, Dionysos, komm, Meinem Wunsche dich neigend. O sprich du Kleobulos selbst Zu mit göttlichem Rath, laß dir Meine Liebe gefallen! (S. 366)
In den Anmerkungen erläutert Mörike die Verbindung des Weingottes mit Eros und Aphrodite („Kypris“) folgendermaßen: „Die Gunst des Kleobulos zu gewinnen, ruft der Dichter den Dionysos um Hülfe an, in demselben Sinne, wie Athenäos, der Grammatiker, sagt: der Wein scheint eine Freundschaft-stiftende Kraft zu haben, indem er die Seele erwärmt und erheitert“ (S. 376). Das Fragment Nr. 33 erinnert von ferne an das oben erörterte Monodistichon Catulls, das Mörike in einer Anmerkung auch eigens zitiert 43: Ich lieb’, und liebe doch auch nicht, Verrückt bin ich, und nicht verrückt. (S. 371)
Die meisten Fragmente, die wir von Anakreons Schaffen kennen, sind freilich nur abgerissene Bruchstücke, deren Kontext oft kaum zu erschließen ist. Doch selbst bei solchen Textfetzen gelang es Mörike mitunter, seiner Übersetzung innere Geschlossenheit und eine gewisse ästhetische Wirkung zu verleihen, so etwa bei Nr. 31, wo er das – in seiner Bedeutung übrigens umstrittene – finite Verb des Originals durch ein Partizip – 428 –
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ersetzte, um das Fehlen des Subjekts auszugleichen: „Schwelgend in des dunkeln Lorbeers Schatten und des heitern Ölbaums“ (S. 371). Es lässt sich nicht einmal sagen, wer sich hier an einem nur flüchtig angedeuteten Lustort in freier Natur ergeht – Mörikes Anmerkung verweist auf die These eines anderen Anakreon-Übersetzers, wonach der Erosknabe gemeint sein könnte.44 Die einmalige Verbindung von wissenschaftlicher Sorgfalt und dichterischem Können, die Mörikes Edition Anakreons und der Anakreonteen auszeichnet, fand die verdiente Anerkennung, „denn wenn auch einzelne Stücke als weniger geglückt bezeichnet werden müssen, so ist doch ein großer Teil dieser Übersetzungen heute noch unerreicht und dürfte kaum zu übertreffen sein“.45 Auch in neueren Anthologien griechischer Lyrik werden immer wieder einige von ihnen berücksichtigt, und eine 1960 publizierte Auswahlausgabe von Mörikes Übertragungen aus den alten Sprachen druckt sie sogar vollständig ab.46 Wenn das Verhältnis des Dichters zu seinen antiken Lieblingsautoren von einem Gefühl der Wahlverwandtschaft, von selbsttherapeutischen Bestrebungen und von der Freude am subtilen philologischen Detail gleichermaßen geprägt war, so hat das Zusammenspiel dieser Faktoren mit dem Band Anakreon und die sogenannten Anakreontischen Lieder sein gelungenstes Produkt hervorgebracht.
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16. Ökonomie und Finanzen,
Verlage und Verleger
In dürftigen Umständen Nach seiner Pensionierung verbrachte Mörike mit seiner Schwester Klara einige Monate als Gast bei Familie Hartlaub im Pfarrhaus von Wermutshausen, bevor sich die Geschwister zunächst für ein halbes Jahr in Hall (heute Schwäbisch Hall) und im Herbst 1844 schließlich in Mergentheim an der Tauber niederließen, wo der Dichter 1837 schon einmal zur Kur gewesen war. Der treue Ludwig Bauer, der inzwischen an einem Stuttgarter Gymnasium unterrichtete, bemühte sich damals, dem Freund ebenfalls eine geeignete und halbwegs einträgliche Stellung in der Residenzstadt zu verschaffen. Im Gegenzug fühlte Mörike sich verpflichtet, ihm seine heikle materielle Situation rückhaltlos darzulegen. Der Brief kommt einem Offenbarungseid gleich: Ich habe mich die lezte Zeit, d. h. seitdem ich ohne Amt dastehe durch alle Rubriken meiner ohnehin sehr geringen Lebensbedürfnisse so knapp zusammengehalten, als, nach dem Zeugniß meiner Freunde irgend menschenmöglich ist u. hätte dennoch […] vermittelst meiner blosen Pension v. nicht vollen 300 f [= Gulden] das lezte Jahr nicht durchgebracht ohne ein Deficit von beinahe 200 f. […] Meine Schulden, welche sich in Wahrheit ursprüngl. ganz allein von übelbelohnten Opfern zu Gunsten meiner Brüder mit geleisteten Bürgschaften u. s. w. herschreiben belaufen sich noch auf 1500 f. Sie bestehen beinah ganz in verzinslichen CapitalAufnahmen. (14, S. 238)
Mit Geldknappheit und Schulden schlug sich Mörike viele Jahre lang herum. Im Folgenden wollen wir seine finanzielle Lage und im Zusammenhang damit auch die Umstände seiner Alltagsexistenz zumindest in – 430 –
In dürftigen Umständen
groben Zügen rekonstruieren, um uns ein Bild von den konkreten Bedingungen machen zu können, unter denen er seine Werke schuf. Anzumerken ist dabei, dass er stets in der Währung Gulden (abgekürzt „fl.“ oder „f.“) rechnete und ein Gulden sechzig Kreuzer („x“ oder „kr“) ausmachte. Ein Versuch, die Beträge in Euro umzurechnen, wäre wenig sinnvoll, da damals ganz andere Preisrelationen zwischen verschiedenen Warenkategorien bestanden als heute – Wohnraum war beispielsweise gerade in ländlichen Gegenden oder Kleinstädten sehr billig zu bekommen, während manche anderen Güter, die wir schwerlich noch als Luxus ansehen würden, unverhältnismäßig viel kosteten. Die im Folgenden aufgeführten Zahlen dürften aber jedenfalls eine Vorstellung vermitteln von den Bedrängnissen, mit denen Mörike sich konfrontiert sah, und von der Ärmlichkeit, die sein Dasein mindestens zeitweilig prägte. Da er zum Abschluss seines Studiums nur ein mittelmäßiges Zeugnis erhalten hatte, blieben ihm gut dotierte Pfarrstellen von vornherein verwehrt. Cleversulzbach, das er 1834 nach langen Jahren als Vikar endlich zugesprochen bekam, zählte sogar zu den ärmsten Gemeinden des Königreichs Württemberg, weshalb das Salär des Pfarrers mit 600 fl. pro Jahr im Landesvergleich auch außerordentlich niedrig ausfiel (dieselbe Summe hatte der Verleger Friedrich Gottlob Franckh dem jungen Mann 1828 als Einstiegsgehalt bei der „Damen-Zeitung“ bewilligt1). Allerdings kamen mit dem freien Logis im geräumigen Pfarrhaus sowie bestimmten Naturalienlieferungen noch einige Vergünstigungen hinzu, die nicht zu verachten waren. Als Mörike nach gerade einmal neun Dienstjahren sein Amt aufgab, verschlechterte sich die finanzielle Lage erheblich, denn seine Pension belief sich nur auf den mageren Mindestsatz von 280 fl. Von dieser Summe musste er fortan auch seine Miete bezahlen und überdies den Unterhalt für Klara bestreiten, die weiterhin in seinem Haushalt wohnte und über kein eigenes Einkommen verfügte. Zwar waren die Geschwister an einen bescheidenen Lebensstil gewöhnt, aber die Krankheiten und Kuren des Dichters belasteten ihre Kasse immer wieder, und noch schwerer fielen die Schulden ins Gewicht, die der oben zitierte Brief erwähnt und die in der Tat überwiegend auf das Konto von Mörikes Brüdern gingen: Um ihnen mit Geld und Bürgschaften beispringen zu können, hatte er sich mehrfach genötigt gesehen, seinerseits Darlehen aufzunehmen. Allein seine Verbindlichkeiten gegenüber Hartlaub, der ihm dabei behilflich gewesen war, bezifferte er 1840 auf „gegen 1000 F.“ (13, S. 98). Ein eindrucksvolles Zeugnis für die dürftige Ökonomie und die strikte Sparsamkeit der Geschwister Mörike nach dem Abschied von Cleversulz– 431 –
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bach ist in Gestalt ihres Haushaltungs-Buches überliefert, das vom 16. Oktober 1843 bis zum 27. April 1847, also von den Tagen in Wermutshausen bis weit in die Mergentheimer Zeit hinein geführt wurde. Die Eintragungen geben in ihrer trostlosen Gleichförmigkeit einen plastischeren Eindruck vom Alltagsleben der beiden, als es jede ausführliche Schilderung tun könnte, und dürften darüber hinaus halbwegs repräsentativ für die gesamte Schicht des einfachen Bürgertums jener Epoche sein, zumal in einem nicht gerade mit Wohlstand gesegneten Städtchen, wie es Mergentheim war. Hier folgt ein Auszug aus den ersten Februartagen des Jahres 1846 (angegeben werden in der Regel Kreuzerbeträge; wenn zwei Zahlen vermerkt sind, steht die erste für Gulden)2: 1 Weck Milch 2 Weck Milch 3 Weck Brot Seife 4 Weck Butter 5 Weck Allmosen 6 Weck Schwarzes Pflaster Faden Fink Ins Kameralamt Brod Rosine abschläglichen Lohn Schockolade Wachsstöckchen 7 Weck Sand Milchgeld vom Januar 8 Weck Schwarzes Pflaster Zündhölzchen Mehl Brod 9 Wichse Mandelkaffe
– 432 –
4 1 6 1 4 10½ 14 4 7½ 4 4 4 1 1 2 5 16 10½ 9 2 1 4 2 1 2 5 1 1 7 10½ 3 3
In dürftigen Umständen
Weck Bier 10 Weck Schwarzes Pflaster Porto, an Lottchen Porto Salat 11 Weck Öhl 12 Weck Briefobladen Brod
5 3 4 1 8 1 5 1 4 2 10½
Die Addition am Ende der Seite ergibt für diesen Zeitraum Aufwendungen in Höhe von 7 fl. 29½ x, während die Rubrik „Einnahme“ leer bleibt … Standardausgaben betreffen die Milch, den täglichen „Weck“ und das Brot; hinzu kommen gelegentlich Wurst und Eier, selten Salat und Obst, bisweilen Bier, Wein oder Kaffee, vereinzelt auch einmal eine Extraration Fleisch oder ein Fisch – das Mittagessen ließ man sich im Übrigen als bescheidenen Luxus täglich ins Haus bringen. In Ausnahmefällen gönnte sich das Geschwisterpaar einen Leckerbissen wie Schokolade, Lebkuchen oder Konfekt. Neben der Miete und dem Brennholz war der Lohn für die Magd, die unter dem 6. Februar erwähnte „Rosine“, zu bezahlen. Kleidungsstücke und Haushaltsgegenstände tauchen nur sehr selten auf. Ansonsten: Tabak, Schreibutensilien und Briefporto, Arzneimittel und Kurkosten (für Mörikes Heilbäder), Besorgung der Wäsche, Seife, Lichter, Nadeln und Stoffe. Auch bescheidene Almosen, Spenden und Trinkgelder wurden gewissenhaft notiert, und im „Kameralamt“ bezahlte Mörike seinen jährlichen Pflichtbeitrag für die Geistliche Witwen-Kasse. Ab und an gab es kleine Reisen, vor allem zu Hartlaubs im nahegelegenen Wermutshausen, oder Gaststättenbesuche sowie geringfügige Ausgaben für Dienstleistungen, etwa vom Buchbinder. Einen gewichtigen Posten machten schließlich mit 40 fl. im Jahr die Zinsen für die angehäuften Schulden aus. Demgegenüber bestanden die einzigen regelmäßigen Einkünfte in Mörikes Pension, die in Vierteljahresraten zu 70 fl. ausbezahlt wurde. Dass dieses Haushaltungs-Buch nicht nur ein tristes Dokument kleinbürgerlicher Misere ist, verdankt es Mörikes Talent zur Poetisierung des Alltags, das hier ein fruchtbares Betätigungsfeld fand. Angeregt wurde er in diesem Fall offenbar durch die wachsende Neigung zu Margarethe Speeth, die nach dem Tod ihres Vaters bei den Geschwistern einzog und – 433 –
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vom 1. Januar 1846 an auch weitgehend die Buchführung übernahm. Mörike, der die Sorge um die ökonomischen Angelegenheiten sicherlich gerne abtrat, verlegte sich fortan darauf, allerlei knappe Bemerkungen und Verse neben die nüchternen Zahlenkolonnen zu kritzeln und die Seiten darüber hinaus mit winzigen Zeichnungen von Gegenständen, Personen und Örtlichkeiten aus seinem Leben zu schmücken, meist in der den Einnahmen vorbehaltenen Spalte, die ja leider reichlich Platz bot. Zum 15. März 1846 finden wir beispielsweise die Eintragung „Die erste Nachtigall im Hofgarten von Eduard gehört“3, unter der eine Illustration platziert ist, die Eduard, Klara und Margarethe in einem Gartenlokal zeigt; anderswo stößt man auf ein Miniaturbild des Dorfes Löffelstelzen, das ein beliebtes Ziel gemeinsamer Spaziergänge war, auf ein Porträt von Margarethes streitsüchtigem Bruder Wilhelm oder auf Zeichnungen einer prächtig aufgeblühten Topfpflanze, eines gedecktes Tisches und eines soeben als Weihnachtsgeschenk eingetroffenen Kerzenleuchters. Auf diese Weise gestaltete Mörike das Haushaltungs-Buch zu einem regelrechten Kunstwerk ganz persönlicher Art, das uns einmal mehr vor Augen führt, wie er auf kritische Situationen zu reagieren pflegte – mit spielerischer Kreativität nämlich, die den bedrängenden äußeren Umständen ihr lastendes Gewicht nehmen sollte. Tatkräftiges Handeln im Kampf gegen die permanente Finanznot konnte man von ihm dagegen kaum erwarten. Allenfalls versuchte er, auf dem Gnadenwege seine kärgliche Pension aufbessern zu lassen. Bereits von Wermutshausen aus hatte er König Wilhelm I. unter Hinweis auf seine schwierige ökonomische Lage und seine Kränklichkeit „unterthänigst um allergnädigste Unterstützung“ gebeten (14, S. 138), die ihm aber abgeschlagen wurde. Parallel dazu unternahm er einen Vorstoß bei Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, der als Förderer der Künste und Wissenschaften bekannt war. Mit großer Sorgfalt fertigte Mörike eine aufwändige handschriftliche Sammlung seiner Gedichte an, die er im April 1844 mit einem formvollendeten Geleitbrief nach Berlin sandte4, doch zu seiner Enttäuschung dankte der Monarch nur mit wenigen unverbindlichen Worten. Gleichwohl blieb der Dichter nicht ganz ohne Protektion, denn nicht alle Angehörigen des württembergischen Königshauses zeigten ihm die kalte Schulter. Prinzessin Marie, eine Tochter Wilhelms I., die auf seine Gedichte aufmerksam geworden war, hatte ihn schon in der Cleversulzbacher Zeit mehrfach mit Geldgeschenken bedacht, und ein großes Ereignis im Hause Mörike war das Eintreffen eines wertvollen Brillantrings, mit dem sich Kronprinz Karl I. 1846 für die Widmung der Idylle vom – 434 –
In dürftigen Umständen
Bodensee revanchierte. Am 30. Dezember zeichnete der stolze Empfänger die kostbare Gabe im Haushaltungs-Buch5, und tags darauf lieferte er Hartlaub eine eingehende Beschreibung, die ebenfalls von einer Zeichnung, diesmal in Originalgröße, begleitet war: In der Mitte sizt ein ziemlich dicker länglicher Stein von weißlichgrüner Farbe, ganz durchsichtig und à jour gefaßt; oben tafelförmig geschliffen mit 2 Facetten an den vier oder eigentlich acht Seiten; unterhalb pyramidalisch mit vielen Facetten. Ich halte ihn einstweilen, bis Jemand mich eines Bessern belehrt, für einen Smaragd […]. Rings um ihn her stehn, gleichfalls ohne Folie, 14 Diamanten, nicht allzu kleine (dem Gretchen sagte ich in scherzhafter Anspielung auf ein gewöhnliches Schicksal solcher Präsente: Das seyen vermuthlich die vierzehn Nothhelfer (der Katholiken), das Ganze aber gewißermaßen ein Fischer-Ring.) Der Reif, etwas zu weit für meinen Zeigfinger, ist ziemlich einfach; wo er sich an die Fassung schließt an beiden Seiten theilt er sich dreimal. (15, S. 95)
Ein derartiges „Prachtstück“ (ebd.) an der Hand zu tragen, schien Mörike allerdings ganz undenkbar, und so verwendete er den Ring tatsächlich lieber im Sinne der vierzehn Nothelfer, indem er ihn bei einem Juwelier für den stattlichen Betrag von etwa zweihundert Gulden verkaufte (was durchaus den Absichten des großzügigen Gebers entsprochen haben dürfte).6 Um sein Glück vollkommen zu machen, dankte ihm auch die Kronprinzessin Olga mit einer namhaften Geldsumme für ein eigenes Exemplar der Idylle. Neben solchen außerordentlichen Geschenken, die ihm seine literarischen Arbeiten eintrugen, sind selbstverständlich die von den Verlegern überwiesenen Honorare zu berücksichtigen. In dem Zeitraum, den das Haushaltungs-Buch abdeckt, konnte man sich zweimal über größere Einkünfte aus dieser Quelle freuen: Am 28. Oktober 1843 leistete der Verleger Georg Heubel eine Abschlagszahlung für die von Mörike besorgte Ausgabe von Waiblingers Gedichten in Höhe von 97 fl. (zwei Jahre später folgten die restlichen 13 fl.), und am 5. Juli 1846 trafen 440 fl. für die Idylle vom Bodensee ein – bei einem regulären Jahreseinkommen von 280 fl. wahrlich ein hochwillkommener warmer Regen. An diesem Punkt sollten aber die Bedingungen, unter denen Mörike mit seinen Dichtungen Geld verdienen konnte, etwas genauer ins Auge gefasst werden. Wie wir wissen, kam das eigentliche Berufsschriftstellertum für ihn nicht in Betracht. Doch welche Möglichkeiten boten sich ihm grundsätzlich, die Haushaltskasse wenigstens nebenher durch zusätzliche Einnahmen aufzubessern? Und wie sah seine Position auf dem zeitgenössischen Literaturmarkt aus? – 435 –
16. Ökonomie und Finanzen, Verlage und Verleger
Der literarische Markt Um die Jahrhundertwende hatten Buchhandel und Verlagswesen die massiven Auswirkungen der kriegerischen Zeitumstände in der napoleonischen Ära zu spüren bekommen. Ab 1815 expandierte der Buchmarkt jedoch wieder stark, was sich an der rapide steigenden Zahl der pro Jahr veröffentlichten Titel ablesen lässt: Die vermehrte Kaufkraft breiter bürgerlicher Schichten, die zunehmende Alphabetisierung sowie technische Fortschritte, die Einsparungen bei der Papierherstellung und der Buchproduktion ermöglichten, machten sich bemerkbar. Trotzdem blieben Bücher ein teures Gut. Der zweibändige Roman Maler Nolten beispielsweise kostete in der gebundenen Ausgabe 5 fl. – als Pfarrer von Cleversulzbach hätte Mörike ein Zehntel seines Monatseinkommens dafür ausgeben müssen! –, die Erzählung Das Stuttgarter Hutzelmännlein immerhin 1 fl. 48 x. Vor diesem Hintergrund wird die bedeutsame Rolle der Leihbibliotheken und Lesegesellschaften verständlich, die dem Publikum auch ohne große Kosten einen Zugang zu literarischen Werken vermittelten. Mörike selbst scheint zeitlebens nicht allzu viele Bücher besessen zu haben, auch wenn der Bestand seiner Bibliothek nur noch teilweise zu rekonstruieren ist.7 Der Literaturmarkt war im 19. Jahrhundert ebenso dynamisch wie unübersichtlich. Seine zügige Ausweitung bot im Prinzip gute Chancen für die Autoren, die aber zugleich einem wachsenden Zwang zur Anpassung an den Publikumsgeschmack und die Erwartungen der Verleger ausgesetzt waren: Auch das Buch stellte eine Ware dar, die sich verkaufen musste. Den Schriftstellern fiel es oftmals nicht leicht, sich an die kapitalistischen Regeln der Branche zu gewöhnen, die rasch in einen Widerspruch zu ihrer Auffassung von der Würde des Dichterberufs geraten konnten. Dass gerade Mörike sich auf diesem Feld schwer tat, ist ohne weiteres zu begreifen.8 „[I]n Geldaffairen (wenn es nicht just aufs Durchbringen des Vorhandenen ankommt) und in Contrakten bin ich blizdumm“, gestand er Mährlen bereits 1828 während der Gespräche über seine Anstellung bei Franckh (10, S. 242), und mit treffender Selbstironie legte er Klara in dem Gedicht Ländliche Kurzweil die Feststellung in den Mund, dass ihr „theuerster Herr Bruder / Bei dem allerbesten Willen / Zum Capitalisten eben / Einmal nicht geboren“ sei (1.1, S. 241). Viele Jahre lang war er überdies schon rein räumlich weit von den Zentren der Literatur und des Verlagswesens, zu denen auch Stuttgart zählte, entfernt. Als Vikar in Owen schrieb er 1830: „von literarischen Novitäten gelangt gar – 436 –
Der literarische Markt
Weniges zu mir“ (11, S. 164), und in einem Brief aus Mergentheim beklagte er ausdrücklich die „allzu große Abgeschiedenheit vom literarischen Markte“ (15, S. 164). Diese Distanz schwand erst 1851, als Mörike seinen Wohnsitz in der Hauptstadt nahm. Bis dahin ließ er Verhandlungen mit den dortigen Verlegern meist durch Freunde wie Mährlen, Strauß, Bauer und Hardegg betreiben, die seine Interessen wohl auch energischer und gewandter vertraten, als es ihm selbst möglich gewesen wäre. Als äußerst vorteilhaft erwies sich schon seit den ausgehenden zwanziger Jahren die Bekanntschaft mit dem ebenso loyalen wie begeisterungsfähigen Gustav Schwab, der sich im Verlagswesen bestens auskannte und Mörike verschiedentlich in einschlägigen Fragen beriet. Schwab stellte insbesondere den Kontakt zu dem angesehenen Unternehmen Cottas her, das auch die Werke der Weimarer Klassik betreute und bis 1832 von Johann Friedrich Freiherr Cotta von Cottendorf, danach von seinem Sohn Georg und dessen Schwager geleitet wurde. In den Jahren 1828 und 1829 brachte Mörike zahlreiche Gedichte im Cotta’schen „Morgenblatt für gebildete Stände“ unter, in dem er auch später gelegentlich noch lyrische Texte publizierte. Außerdem erschienen bei Cotta die vier Auflagen seiner Lyriksammlung sowie 1855 die Novelle Mozart auf der Reise nach Prag, erst in Fortsetzungen im „Morgenblatt“, dann als separates Büchlein. Eine nicht geringere Bedeutung gewann für ihn der gleichfalls in Stuttgart ansässige Verlag Schweizerbart, der 1832 seinen Roman Maler Nolten veröffentlichte. Obwohl er eigentlich auf populäre historische und naturwissenschaftliche Werke spezialisiert war und nur ausnahmsweise belletristische Titel übernahm, vertraute Mörike ihm später mit den Sammelbänden „Iris“ und „Vier Erzählungen“, der Classischen Blumenlese, der Idylle vom Bodensee und dem Stuttgarter Hutzelmännlein noch eine stattliche Reihe weiterer literarischer Arbeiten an. Ein Grund dafür dürfte das gute persönliche Verhältnis zu Emanuel Schweizerbart gewesen sein. An Vischer schrieb Mörike 1832: „Mein Verleger Schweizerbart ist ein solider, sehr vermögender, und billiger Mann. Seine Drucke sind vorzüglich schön“ (11, S. 282). Auch als 1841 Emanuels Neffe Friedrich das Geschäft übernahm, blieben die Beziehungen zwischen Autor und Verlag ungetrübt. Es zeugt indes nicht gerade von einem sicheren Gespür für die Gesetze des Marktes, dass Mörike sich so eng an ein Haus band, in dessen Programm er einen Fremdkörper bildete. Vereinzelt publizierte Mörike auch noch bei anderen Verlagen: Das „Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten“, das er gemeinsam mit – 437 –
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Wilhelm Zimmermann herausgab, erschien in der P. Balzschen Buchhandlung, die Auswahl aus Waiblingers Gedichten bei Georg Heubel, die Theokrit-Übersetzung in der Hoffmannschen Verlags-Buchhandlung und das Bändchen Anakreon und die sogenannten Anakreontischen Lieder bei Krais & Hoffmann. Dass seine Werke nicht in einer Hand vereinigt waren, musste jedoch effektive verlegerische Vermarktungsstrategien von vornherein behindern. Eine Änderung trat in diesem Punkt erst 1868 ein, als Carl Grüninger zumindest die Rechte von Cotta und Schweizerbart mitsamt den restlichen Buchbeständen erwarb. Den Dichter stimmte die Transaktion anfangs hoffnungsvoll: „Zwei Hauptvortheile scheinen daraus hervorzugehn: ein rascher Vertrieb meiner Sachen und die Aussicht, daß sie früher oder später in Eine Ausgabe zu bringen sind“ (19.1, S. 80). Seine Erwartungen wurden aber bitter enttäuscht, denn mit Grüninger gab es bald erhebliche Spannungen – „Er klagt, so hörte ich erst kürzlich, fortwährend über den geringen Absatz meiner Bücher“ (S. 139) –, und auch die geplante Gesamtausgabe ließ auf sich warten. Anfang 1871 kaufte schließlich Ferdinand Weibert, der damals unter anderem Gottfried Keller verlegte, Grüningers Rechte an Mörikes Werken für seine Göschensche Verlagshandlung. Weibert stand mit dem Autor in gutem Einvernehmen, zumal er sich auch selbst als Lyriker versuchte und ihm seine Gedichte hin und wieder zur Begutachtung vorlegte. Bei Göschen erschien 1872 Mörikes letzte Buchveröffentlichung, eine prächtige, mit sieben Illustrationen nach Zeichnungen Moriz von Schwinds versehene Ausgabe der Historie von der Schönen Lau, die aus dem Stuttgarter Hutzelmännlein herausgelöst worden war. 1876, nach Mörikes Tod, druckte Weibert auch die von Julius Klaiber vollendete Zweitfassung des Maler Nolten, und zwei Jahre später brachte er mit den Gesammelten Schriften in vier Bänden endlich eine erste große Werkausgabe des Dichters heraus, in der freilich die Übersetzungsarbeiten und das Libretto der Regenbrüder fehlten. Bei Verlagsverhandlungen war Mörike meist in einer recht ungünstigen Position, denn da er keine besonders marktgängige Ware produzierte und mit seinen Arbeiten in der Regel allenfalls mäßige buchhändlerische Erfolge erzielte, besaß sein Name nur geringes pekuniäres Gewicht – und Geschenke konnten die Verleger, die sich ja ihrerseits auf einem hart umkämpften Terrain behaupten mussten, natürlich nicht verteilen: Vom unternehmerischen Standpunkt aus hatte Grüninger sicherlich gute Gründe, ungehalten zu sein. Lediglich in Ansätzen entwickelte Mörike spezifische Publikationsstrategien, die geeignet schienen, seine Werke – 438 –
Der literarische Markt
günstig auf dem Markt zu platzieren und den Absatz anzukurbeln. Als Maler Nolten gedruckt wurde, bemühte er sich immerhin mit einem gewissen Erfolg um Rezensionen von befreundeter Hand, die dem Roman eine günstige Aufnahme bei der Leserschaft sichern sollten, und das Bändchen „Iris“, das neben dem Dramolett Der lezte König von Orplid und den Erzählungen Der Schatz, Lucie Gelmeroth und Der Bauer und sein Sohn auch den Text der Regenbrüder enthielt, brachte er 1839 parallel zu der Inszenierung der Oper am Stuttgarter Hoftheater heraus, um dadurch den „Verkauf des Büchleins“ zu befördern (13, S. 13) – ob diese Absicht erreicht wurde, darf man angesichts des raschen Verschwindens der Regenbrüder von der Bühne allerdings bezweifeln. Als es 1855 um die Veröffentlichung der Mozart-Novelle ging, versäumte Mörike es nicht, Georg Cotta auf ein anstehendes Jubiläum aufmerksam zu machen, von dem er sich mit Recht eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Werk versprach: „Das Büchlein könnte als Vorläufer der im Januar 1856 einfallenden Feier des hundertjährigen GeburtsTags Mozarts betrachtet und angekündigt werden“ (16, S. 206). Doch hatte er die Erzählung keineswegs von vornherein im Hinblick auf dieses Datum geplant und geschrieben; er war vielmehr schon seit mehreren Jahren mit ihr beschäftigt, und nur die vielen Unterbrechungen der Arbeit führten am Ende das günstige Zusammentreffen herbei. Den Erfolg des Mozart versuchte Mörike dann aber etwas zielstrebiger auszubeuten: Mit den „Vier Erzählungen“ von 1856 wollte er die Gunst der Stunde nutzen und einem ungewöhnlich empfänglichen Publikum einige wenig beachtete ältere Arbeiten – Der Schatz, Lucie Gelmeroth, Der Bauer und sein Sohn sowie Die Hand der Jezerte – von neuem präsentieren. Auflagenhöhen und Honorare bewegten sich bei Mörikes Werken im zeitgenössischen Durchschnitt, und die Verkaufszahlen gaben für gewöhnlich wenig Anlass zur Euphorie. Für den umfangreichen Maler Nolten zahlte Schweizerbart mit 150 fl. einen „Spottpreis“, wie Mörike selbst meinte (11, S. 221). Über die Auflage wissen wir nichts, aber jedenfalls war der Roman auch sieben Jahre nach seinem Erscheinen „noch in Menge“ beim Verleger zu haben (13, S. 12), und selbst 1854, als man den Vertrag über eine revidierte zweite Fassung abschloss und ein Honorar von 500 fl. für tausend Stück vereinbarte, hatte Schweizerbart noch einen Teil der Erstauflage vorrätig. Von den Gedichten stellte Cotta pro Auflage ebenfalls tausend Exemplare her. Damit kam er seinem Autor weit entgegen, denn reißenden Absatz fand der Band von Anfang an nicht: Als 1847 die zweite Auflage in Druck ging, waren gerade erst sechshundert Stück – 439 –
16. Ökonomie und Finanzen, Verlage und Verleger
von der ersten abgesetzt, und die zweite war wiederum keineswegs vergriffen, als die dritte veranstaltet wurde. Von dieser dritten lagen immerhin nach gut zehn Jahren, als die vierte Auflage herauskam, fast keine Exemplare mehr bei Cotta; die langsam, aber stetig wachsende Reputation des Dichters Mörike schlug sich allmählich also doch in den Verkaufszahlen nieder. Wirklich populäre Lyriker seiner Zeit wie Georg Herwegh, Emanuel Geibel, Ferdinand Freiligrath und Ludwig Uhland schwebten allerdings in ganz anderen Sphären; so erschienen Uhlands Gedichte 1865 bereits in der 49. Auflage. Das Honorar für Mörikes Gedichte betrug 1838 übrigens 330 fl., für die zweite und die vierte Auflage setzte der Verlagsvertrag jeweils 400, für die dritte sogar 500 fl. fest. Die Classische Blumenlese honorierte Schweizerbart mit 225 fl., doch der Absatz der tausend Stück umfassenden Auflage war so gering, dass man auf das ursprünglich geplante zweite Bändchen der Anthologie lieber verzichtete; noch eine Aufstellung von 1869 weist 520 unverkaufte Exemplare aus!9 Von den 440 fl. für die Idylle vom Bodensee (1500 Stück) war weiter oben schon die Rede. Das kleine Versepos wurde von der Kritik beifällig aufgenommen, aber der Verkauf ließ dennoch zu wünschen übrig, weshalb bis zur zweiten Auflage volle zehn Jahre verstrichen. Wirkliche Erfolge feierte Mörike – für seine Verhältnisse – mit seinen beiden letzten und umfangreichsten Erzählungen. Das Stuttgarter Hutzelmännlein (zweitausend Exemplare, 440 fl. Honorar) erlebte schon zwei Jahre nach seinem Erscheinen eine – kleinere – zweite Auflage, die bei Mozart auf der Reise nach Prag (350 fl. für den Vorabdruck im „Morgenblatt“ und eine Buchausgabe von 1200 Stück) sogar bereits nach wenigen Monaten fällig war. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Mechanismen des Marktes und die Bedürfnisse des Publikums, dass der Dichter seinen größten Coup ausgerechnet mit einer bloßen Spielerei landete. Dem Gedicht Ein artig Lob, du wirst es nicht verwehren scheint er selbst keinen hohen Rang beigemessen zu haben, denn er nahm es nicht einmal in seine Sammlung auf. Doch kam er gemeinsam mit seinem Bruder Ludwig auf die Idee, den Text separat herauszubringen und ihn dabei seitenverkehrt drucken zu lassen, so dass man die verklausulierte Huldigung auf weibliche Schönheit sinnigerweise vor dem Spiegel lesen musste. Der von dem Zeichner Julius Nisle illustrierte Einblattdruck, der sich als galantes Geschenk anbot, erschien 1839, und Mörike meldete Hartlaub: „Für den SpiegelVers – wirst Du es glauben? – hat mir ein Junger Stuttgarter Buchhändler, Etzel, baare dreihundert Gulden Honorar bezahlt“ (13, S. 13), von denen Ludwig selbstverständlich einen Anteil erhielt. Aufwand und Ertrag einer literarischen – 440 –
Der literarische Markt
Arbeit konnten wohl in keinem glücklicheren Verhältnis stehen! Dagegen lernte Mörike die Schattenseiten des Publikumsgeschmacks kennen, als die Prachtausgabe der Historie von der Schönen Lau erschien, denn einige der Schwind’schen Zeichnungen wurden von braven Bürgersleuten offenbar als zu freizügig empfunden. Jedenfalls teilte Weibert seinem Autor mit: „Wegen dem hübschesten Bilde – wie die dicke Wirthin und der Abt am Brunnen sich ergözen – haben es hiesige Bücherliebhaber zurückgewiesen, mit dem Bemerken: sie könnten es ihren Frauen und Töchtern nicht als Geschenk geben! Wenn sich aber solche Ausgaben nicht zu Geschenken eignen, wer wird sie sonst kaufen?“10 In jüngeren Jahren scheint Mörike, unerfahren, wie er war, seine Erfolgsaussichten auf dem literarischen Markt mitunter zu hoch veranschlagt zu haben. So wollte er im Frühjahr 1832 mit einer Empfehlung von Vischers literarischen Arbeiten an Emanuel Schweizerbart warten, bis der Verleger „etwa sieht, was er mit dem Nolten gewinnt“. Dabei hoffte er auch selbst auf seine Kosten zu kommen, da das Honorar für den Roman offenbar zum Teil an den Verkaufserlös gekoppelt war: „Bis jezt hab ich (bedingungsweise auf den ungewissen Absatz meines Buchs) nicht mehr als 150 F. für den Nolten erhalten. Fällt mir auf den Juli nicht die gleiche Summe, als Nachzahlung, in die Tasche, so hole der Teufel alles Büchermachen“ (11, S. 283). Die Beute dürfte dem Leibhaftigen sicher gewesen sein, denn bei dem schleppenden Absatz des Werkes war an eine „Nachzahlung“ gar nicht zu denken. 1838 rechnete Mörike schon vor dem Erscheinen seiner Gedichte „mit ziemlicher Gewißheit auf eine baldige zweite Auflage, da sich denn überhaupt das Ganze erst vergüten soll“ (12, S. 164); er war überzeugt, dann bei den Verhandlungen mit Cotta „ganz andere Bedingungen machen zu können“ (S. 182). Solche Illusionen verflogen nach und nach, und spätere Äußerungen klingen eher resigniert, auch wenn man nicht gerade von Verbitterung sprechen kann. 1852, als seine größten Bucherfolge freilich noch vor ihm lagen, beklagte er „das im Ganzen sehr eingeschränkte Interesse des Publikums an meinen Produktionen“ (16, S. 122), und für die Novelle Mozart auf der Reise nach Prag erhoffte er sich, wie er seinem Verleger schrieb, in aller Bescheidenheit wenigstens „einen größern und raschern Absatz […] als ich sonst von meinen Arbeiten vorauszusetzen leider gewohnt bin“ (S. 206). Das Ansehen eines Dichters bei den Zeitgenossen war jedoch schon damals nicht unbedingt an den Verkaufszahlen seiner Werke abzulesen, und es wäre gewiss falsch, wollte man in Mörike ein zu Lebzeiten verkanntes Genie sehen. 1855 behauptete Johann Friedrich Faber in einer aus – 441 –
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Anlass der Mozart-Novelle publizierten Gesamtwürdigung des Autors in der „Allgemeinen Zeitung“ sogar: „Mörike ist gegenwärtig unbestritten der erste Repräsentant der Poesie in Schwaben“.11 Ob diese Tatsache wirklich so unbestritten war, bleibe dahingestellt, aber es ist zumindest bemerkenswert, dass ein Kenner der Literaturszene zu einem solchen Urteil gelangen konnte. Seit den dreißiger Jahren wurde Mörike auch immer wieder eingeladen, sich mit Beiträgen meist lyrischer Art an Jahrbüchern, Almanachen oder Zeitschriften zu beteiligen. Derartige Periodika und Sammelwerke spielten in der literarischen Landschaft des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche Rolle, obgleich viele von ihnen nur eine geringe Lebensdauer hatten. Einige der Herausgeber, die mit Mörike in Verbindung traten, saßen in Stuttgart, darunter die Redaktionen der „FrauenZeitung für Hauswesen, weibliche Arbeiten und Moden“ und ihres Beiblatts „Salon. Unterhaltungsblatt für Damen“, des „Kunst- und Unterhaltungsblatts“ und der Zeitschrift „Freya“, aber es kamen ebenso Briefe von Heinrich Pröhle, der um Beiträge für sein „Norddeutsches Jahrbuch für Poesie und Prosa“ warb, von Gottfried Kinkel, der in Bonn ein Jahrbuch „Vom Rhein“ plante, und von Wolfgang Müller von Königswinter, dem die Herausgabe des „Düsseldorfer Künstler-Albums“ oblag. Mörikes Renommee beschränkte sich also keineswegs auf seine engere Heimat. Spätestens seit der Erstauflage der Gedichte und der Idylle vom Bodensee muss er den literarisch Interessierten in ganz Deutschland ein Begriff gewesen sein, zumal sein Name nun auch in neueren Literaturgeschichten auftauchte und seine Lyrik Eingang in verschiedene Anthologien fand. 1867 nahm der Brockhaus einen Artikel über den Dichter auf. Gleichwohl dürfte ihm der zeitgenössische „Durchschnittsleser“, wie Siegbert Salomon Prawer in seinem Überblick über die Geschichte der Mörike-Rezeption schreibt, nur den Rang eines „schwäbischen Lokalpoeten“ zugebilligt haben.12 Manche der oben genannten Zeitschriften und Almanache und andere Periodika vergleichbarer Art wurden für die Druckgeschichte einzelner großer Gedichte Mörikes wichtig. So publizierte das „Norddeutsche Jahrbuch“ 1847 gleich eine ganze Reihe bedeutender lyrischer Werke zum ersten Mal, nämlich Die schöne Buche, Erbauliche Betrachtung, Der Petrefaktensammler, An Philomele, An Longus, Am Rheinfall und Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen; der Erstdruck von Denk’ es, o Seele! erfolgte 1852 – unter dem Titel Grabgedanken – in der „FrauenZeitung“ und der von Erinna an Sappho 1864 in dem von Ludwig Seeger herausgegebenen „Deutschen Dichterbuch aus Schwaben“. Dennoch – 442 –
Der literarische Markt
sollte man den Einfluss, den Mörikes vielfältige Kontakte in der deutschen Literaturszene auf sein poetisches Schaffen ausübten, nicht überschätzen. Da sie fast allesamt auf Initiative der jeweiligen Herausgeber oder Verleger zustande kamen, zeugen sie jedenfalls nicht von einem planmäßigen Bestreben des Dichters, seine Marktposition auszubauen, und überdies konnte er den Aufforderungen, die ihn erreichten, wegen seiner begrenzten Produktivität nur in sehr beschränktem Maße Folge leisten. Sofern er überhaupt reagierte, sandte er in der Mehrzahl der Fälle Gedichte ein, die bereits anderswo publiziert worden waren, oder solche, denen er keinen Platz in seiner Sammlung zugestand und die er demnach wohl für eher zweitrangig hielt. Charakteristisch ist folgende Passage aus einem Brief an Hartlaub vom 9. August 1846: Ein HE. Friedrich Hofmann in Hildburghaußen, Redacteur, ich weiß nicht welches encyklopädischen Werkes, daneben Herausgeber u. Mitarbeiter einer höchst unbedeutenden, jährl. unter dem Titel Weihnachtsbaum erscheinenden Sammlung v. Gedichten der verschiedensten Verf., womit er einen wohlthätigen Zweck verbindet, bat mich unter Beilegung eines gedruckten Jahrgangs, welcher bereits etwas v. mir enthält, um einen Beitrag f. den nächsten; ich schickte ihm einige halb verlegene Stücke […]. (15, S. 60f.)
Die Mörike-Texte, die in den einzelnen Bänden des Jahrbuchs „Weihnachtsbaum für arme Kinder. Gaben deutscher Dichter“ abgedruckt wurden, sind in der Tat ziemlich belanglose Nebenwerke, und selbst zu diesem bescheidenen Beitrag bewog den Autor eingestandenermaßen nicht allein der „wohlthätige Zweck“ des Unternehmens, sondern auch ein höchst eigennütziges „petrefaktologische[s] Interesse“ (S. 61) – er spekulierte nämlich darauf, über Hofmann einige interessante Versteinerungen aus Thüringen zu erhalten! Dass Mörike auf dem Gebiet der erzählenden Prosa, rein quantitativ betrachtet, ebenfalls recht wenig zu bieten hatte, wurde in wohlwollenden Kommentaren bisweilen ausdrücklich beklagt. Rezensenten der Novelle Mozart auf der Reise nach Prag bedauerten, wie „karg und zurückhaltend“ der Dichter „mit seinen Producten“ sei, sprachen – mit einer etwas unglücklichen bildhaften Wendung – von seiner „schweigsamen Feder“ oder stellten fest, dass er das Publikum „nur sparsam und nach langen Zwischenräumen mit einer literarischen Gabe“ erfreue.13 Zugleich priesen sie aber in schöner Eintracht seine Distanz vom geschäftigen Literaturbetrieb und seinen wohltuenden Abstand „von dem materiellen – 443 –
16. Ökonomie und Finanzen, Verlage und Verleger
Eilen und Treiben der meisten gegenwärtigen Poeten“, der „renommirte[n] Modeschriftsteller“.14 Gesundheitlich labil, stets auf die seltenen Augenblicke günstiger Stimmung und schöpferischer Muße angewiesen und daher gänzlich außerstande, seine Poesie „tagelöhnermäßig“ (10, S. 255) zu fabrizieren, verfügte Mörike gar nicht über die nötige Energie und Disziplin, um sich auf dem literarischen Markt eine beherrschende Stellung zu erobern, und seine Poetik des Spiels setzte auch der flexiblen Anpassung an den Geschmack des großen Publikums enge Grenzen. Schon an früherer Stelle haben wir seinen boshaften Seitenhieb auf den schwäbischen Landsmann Wilhelm Hauff zitiert, der ihm bei einem programmatischen Selbstentwurf als Kontrastfigur diente. Offenbar erblickte er in Hauff den typischen „Modeschriftsteller“, der sich „seine Copien aus Theezirkeln, Gesellschaften us.w. holen, den feinen Ton studieren, hinter jedem Stutzer und seiner Cravatte den Satyr spielen und das dann als Poesie drucken lassen“ muss – „allein eben deßwegen“, fügte Mörike süffisant hinzu, „wird er mehr Glück bey der eigentlichen Lesewelt machen“ (11, S. 96f.). Auch wenn man dieses abfällige Urteil nicht teilt, bleibt doch unbestreitbar, dass der um zwei Jahre ältere Hauff, der übrigens ebenfalls das Tübinger Stift besucht hatte, in vieler Hinsicht als Antipode Mörikes gelten kann. Ausgestattet mit einem ungewöhnlichen Gespür für die zeitgenössischen Medien der literarischen Kommunikation und für die Gattungen und Formen, die den Bedürfnissen der Leserschaft entgegenkamen, entfaltete Hauff in seinem kurzen Leben eine schier unglaubliche Produktivität und veröffentlichte binnen weniger Jahre neben den drei berühmten Märchenalmanachen noch zwei Romane, eine umfangreiche Zusammenstellung satirischer Texte unter dem Titel Memoiren des Satans, ein halbes Dutzend Novellen, viele literarische Skizzen, Aufsätze und Rezensionen und dazu eine Reihe von Gedichten. Daneben denke man sich nun einen Autor, der seine Kräfte für den Tag oft bereits erschöpft sah, wenn er „½–¾ Stunde Morgens nüchtern im Bett“ gearbeitet hatte (12, S. 163)! Unter diesen Umständen konnte Mörike von seiner Tätigkeit als Dichter bestenfalls unregelmäßige und insgesamt überschaubare Einkünfte erwarten, die immerhin als willkommenes Zubrot die angespannte Haushaltslage entschärften. Schon während des Vikariats hatte er geplant, die „Poëterey“ wenigstens „zu einem ökonomischen Nebenzweig“ zu machen (11, S. 16f.), aber von einer strikten Ausrichtung seines Schreibens auf Gesichtspunkte des Marktes und des Erwerbs war zu keiner Zeit die Rede. Wenn er dem Verleger Heubel versicherte, es sei ihm „bei literarischen – 444 –
Der literarische Markt
Arbeiten“ niemals vorrangig um den „pekuniären Vortheil“ gegangen (14, S. 25), darf man diesen Worten Glauben schenken, obwohl sie in ihrem Kontext, in dem Honorarfragen erörtert wurden, sicherlich auch taktisch motiviert waren. Wäre Mörike in erster Linie am Verdienst interessiert gewesen, hätte er wohl kaum so viel Zeit und Mühe auf die Beratung befreundeter Dichter wie Karl Mayer verwendet, die ihm nicht den mindesten Gewinn eintrug. 1851 vernimmt man in seinen Briefen aber plötzlich ganz neue Töne: „Ich muß mir jezt auf alle Weise Geld machen“, teilte er Vischer kurz und bündig mit (16, S. 38), und tatsächlich setzte nun mit einem Mal eine rege Suche nach möglichen Berufsfeldern und zusätzlichen Einkommensquellen ein, die schließlich zu der Entscheidung führte, das beschauliche Mergentheim zu verlassen und in die Residenzstadt Stuttgart überzusiedeln, wo Mörike sich bessere ökonomische Chancen ausrechnete. Die ungewöhnliche Betriebsamkeit entsprang einer tiefgreifenden Veränderung seiner privaten Verhältnisse: Er hatte beschlossen, Margarethe Speeth zu heiraten, und die Ehe setzte eine solidere materielle Basis voraus, als sie im Augenblick vorhanden war. Mit der Vorgeschichte und den Folgen dieses bedeutsamen Einschnitts in Mörikes Lebensweg werden wir uns im nächsten Kapitel befassen.
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17.
Von Mergentheim nach Stuttgart
Margarethe Speeth
N
ach der Trennung von Luise Rau trug Mörike sich noch mehrfach mit Heiratsgedanken. Zeitweilig scheint er mit einer gewissen Karoline Binder in Neuenstadt befreundet gewesen zu sein, und gegen Ende seines Aufenthalts in Cleversulzbach fasste er eine Neigung zu der zwölf Jahre jüngeren Friederike Faber, der Schwägerin des Pfarrers Otto Schmidlin im nahegelegenen Bürg, mit der er auch von Mergentheim aus noch für eine Weile über Schmidlin Kontakt hielt.1 Wir wissen jedoch kaum etwas über diese Beziehungen, und konkrete Ehepläne mussten schon an Mörikes dürftiger materieller Lage scheitern. Erst die Bekanntschaft mit Margarethe Speeth spornte den kränklichen Frühpensionär so sehr an, dass er sich wirklich energisch um neue Verdienstmöglichkeiten bemühte, die ihm schließlich die Gründung einer Familie gestatteten. Im März 1845 bezogen Eduard und Klara in Mergentheim eine neue, am Marktplatz gelegene Unterkunft. Der im gleichen Hause wohnende Vermieter Valentin von Speeth, ein ehemaliger württembergischer Offizier, der Napoleons Russlandfeldzug mitgemacht hatte, lag damals schwerkrank darnieder und wurde von seiner Frau Josephine und seiner Tochter aufopferungsvoll gepflegt. Mit der siebenundzwanzigjährigen Margarethe Speeth – nicht „von Speeth“, wie man häufig liest, denn der Vater hatte nur den persönlichen Adel erhalten – traten die Geschwister schon bald in engen freundschaftlichen Kontakt. Nach dem Tod ihres Vaters am 10. August und dem Wegzug der Mutter, die vorläufig bei Verwandten in Bamberg unterkam, bevor sie später wieder nach Mergentheim zurückkehrte, nahmen sie die von den Strapazen der letzten Zeit völlig erschöpfte junge Frau sogar in ihre Wohnung auf. – 446 –
Margarethe Speeth
Die neue Freundschaft muss den Dichter, allen Widrigkeiten seiner äußeren Lebensumstände und seiner gesundheitlichen Verfassung zum Trotz, ungemein beflügelt und poetisch angeregt haben. Davon zeugt nicht nur das Haushaltungs-Buch, von dessen Bildschmuck bereits die Rede war. Über das kleine Hexameterepos Idylle vom Bodensee, das 1845/46 geschrieben wurde, sagte Mörike im Rückblick: „Ach ja das war eine himmlische Zeit, da es entstand, vom Anfang bis zum Ende, – die Correktur mit eingerechnet. In meinem Leben hab ich Nichts unter so glücklichen, auch nur von Weitem ähnlichen Umständen gemacht, und es ginge nicht mit rechten Dingen zu wenn mans der Arbeit nicht ansähe“ (15, S. 153). Wohl nicht von ungefähr gab er der schönen Schäferin in diesem Werk den Namen Margarete, und ebenso bezeichnend ist es, dass er sich beim Schreiben dazu verleiten ließ, der „episodischen Liebesgeschichte“ (14, S. 281) um Margarete und Tone immer breiteren Raum zu widmen. Auf dem Feld des lyrischen Schaffens waren die Jahre 1845 und 1846 gleichfalls ungemein produktiv, wobei unter anderem zahlreiche Gedichte entstanden, die sich unmittelbar auf Margarethe bezogen. In einem Brief an Theodor Storm nannte Mörike in diesem Zusammenhang Margareta, Auf den Tod eines Vogels, An Clärchen und Aus der Ferne2, die er in der vierten Auflage seiner Sammlung auch zu einem kleinen Ensemble zusammenstellte, aber darüber hinaus wäre noch eine stattliche Reihe einschlägiger Gelegenheitsgedichte anzuführen, die zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurden. Mörikes Beziehung zu Margarethe weist einen eigentümlichen Charakter auf, bei dem wir etwas verweilen müssen. Zunächst hatte sich Margarethe vornehmlich mit Klara angefreundet. So erwähnt Mörike in einer späteren Aufzeichnung das „innigste Verhältniß“, das von Beginn an zwischen den Frauen bestanden habe, und fügt hinzu: „Mir war an dem täglichen Umgang der Beiden vorerst nur ein sehr bescheidener Antheil vergönnt“ (7, S. 369). Und auch als dieser Anteil mit der Zeit wuchs, scheint er Margarethe eher als eine weitere Schwester denn als Geliebte betrachtet zu haben. An einer exklusiven Zweierbindung war ihm jedenfalls nie gelegen, denn Klara blieb fest in die intime Gefühlsgemeinschaft integriert. „Ich hatte bis dahin den Glauben genährt und innig festgehalten“, heißt es in einem Brief Mörikes an Margarethe vom Frühjahr 1846, „wir Drei stünden wie Eines und hätten unsre Seele gleich getheilt zusammen, wie Geschwister im höheren Sinne des Worts –: wenigstens ging nach diesem Ideal mein Streben“ (15, S. 20). Er pflegte Margarethe „bestes Schwesterchen“ zu nennen (S. 53), unterzeichnete Briefe an die Freundin mit „Ihr – 447 –
17. Von Mergentheim nach Stuttgart
treuster Bruder Eduard“ (S. 142) und sprach sie und Klara gemeinsam als „Liebe Schwestern“ (S. 91) und „Geliebte Schwestern Beide“ (S. 240) an. Schon in einem auf den 12. August 1845 verfassten Gedicht mit dem Titel Zu Claras Namenstage liest man die Verse: Nur klarer noch, in frischbetauter Reine, Erscheinst du mir, dieselbige, die Meine, Seit sich ein Schwesterlicht zu dir gesellt. Kein Wunder ist’s, wenn sich in solchem Doppelscheine Mein Herz verjüngt und klärt, mein Tag sich neu erhellt!3
Dass dem Dichter im Grunde eine wohltuende Erweiterung der vertrauten Familiensphäre vorschwebte, bestätigen die folgenden Zeilen aus einem An Gretchen und Clärchen überschriebenen und auf den Martinstag 1845 datierten Gedicht: Ja, so ist’s! In diesen Zirkel Bin ich nun schon eingewiesen. Möcht ich es nur immer bleiben, Tage, Wochen, Mond’ und Jahre Immer so mich fortbewegen In demselben gar zu lieben, Goldnen Stunden-Zauberring!4
Der „Zirkel“ des Dreierbundes bildete einen jener umgrenzten Zufluchtsorte, die Mörike emotionale Sicherheit gewährten und ihm Schutz und Geborgenheit verhießen. Mehrere Jahre lang änderte sich nichts an dieser Konstellation. Im März 1847 schilderte Mörike der verreisten Freundin in einem Brief ein Gespräch mit Klara: „Gelt, sagt ich endlich […], zu Zweien seyn ist eben doch zu wenig, Drei ist die gute Zahl und dieses Dritte kann für uns doch nur die gute Bitze seyn“ (15, S. 132) – „Bitze“, auch „Schneckenbäzlein“ oder „Hirschlein“ waren Kosenamen Margarethes. Und selbst noch im Vorfeld der Eheschließung, im August 1851, schrieb er seinen ‚Schwestern‘ aus Stuttgart: „Lebt wohl und freuet Euch, Eins wie das Andere, ich kann Beide nicht in mir trennen. Euer getreuer Eduard“ (16, S. 64). Unter solchen Umständen musste er auch den romantischen Topos vom gemeinsamen Liebestod ein wenig modifizieren: „Stirbt Gretchen, gehn 2 Andere gleich mit“ (S. 83)! Es soll freilich nicht behauptet werden, dass in Mörikes Verhältnis zu Margarethe überhaupt keine sinnlich-erotische Anziehungskraft gewaltet – 448 –
Margarethe Speeth
habe. Die im Zusammenhang mit seiner aufkeimenden Neigung entstandenen Gedichte liefern hier einige bemerkenswerte Indizien. Das gilt besonders für die Verse Auf den Tod eines Vogels, die der Dichter am 30. August 1845 schrieb, als tatsächlich gerade ein gefiederter Hausgenosse das Zeitliche gesegnet hatte5: O Vogel, ist es aus mit dir? Krank übergab ich dich Barmherz’gen-Schwester-Händen, Ob sie vielleicht noch dein Verhängniß wenden; So war denn keine Hilfe hier? Zwei Augen, schwarz als wie die deinen, Sah ich mit deinem Blick sich einen, Und gleich erlosch sein schönes Licht. Hast du von ihnen Leids erfahren? Wohlan, wenn sie dir tödtlich waren, So war dein Tod so bitter nicht! (1.1, S. 252)
Das Motiv des bannenden und letztlich tödlichen Blicks der dunklen Augen begegnet schon im Peregrina-Zyklus, vor allem in der Stanze, wo es unmissverständlich in den Kontext der verhängnisvollen erotischen Verlockung gestellt wird. Der spätere Text greift in nur leicht verhüllter Form dasselbe Thema auf, wenn das lyrische Ich den Vogel in der Rolle des männlichen Opfers sieht, das beim Blick in die Augen der Frau jenen ‚süßen Tod‘ stirbt, der spätestens seit Petrarca zum festen Motivarsenal der europäischen Liebeslyrik gehört. Aber seinem Gegenüber werden eben nicht nur die zwiespältigen Attribute Peregrinas, sondern auch die Tugenden einer liebreichen pflegenden Schwester zugeschrieben. Diese Überblendung höchst unterschiedlicher Weiblichkeitsbilder lässt vermuten, dass sexuelle Leidenschaft für Mörike durch die Atmosphäre geschwisterlicher Vertrautheit nicht etwa tabuisiert und abgewehrt, sondern vielmehr in einer heilsamen, beruhigenden Weise gedämpft und gezügelt wurde. Das war eine für seine Epoche durchaus typische Art des Denkens und Empfindens, wie Friedrich Sengle betont, der in dem ausgeprägten biedermeierlichen Familienkult das Gegenstück zur Dämonisierung der Sexualität erkennt: Als eine Sphäre verlässlicher, empfindsam getönter zwischenmenschlicher Nahbeziehungen bricht die „heilige Familie“ die zerstörerische Kraft des „unheimliche[n] Eros“.6 Dagegen drückt Mörikes Gedicht Aus der Ferne von 1846 in einem Wechselgesang, der die räumliche Distanz zwischen zwei Liebenden überbrückt, erotische – 449 –
17. Von Mergentheim nach Stuttgart
Sehnsüchte ganz unverstellt aus. Hier schafft aber wiederum die exotische orientalische Einkleidung der lyrischen Rollenrede jenen Sicherheitsabstand, ohne den die kühne Artikulation derartiger Wünsche und Begierden vermutlich nicht möglich gewesen wäre. Gut sechs Jahre nach ihrer ersten Begegnung heirateten Eduard Mörike und Margarethe Speeth. Der Entschluss dazu war aber mit Klara gemeinsam gefasst worden und zwar in erster Linie deshalb, weil die kuriose Wohngemeinschaft der Geschwister mit ihrer Freundin und deren Mutter im Städtchen Mergentheim zunehmend Anstoß erregte und in dieser Form nicht weitergeführt werden konnte. Anfang Mai 1851 teilte Mörike Hartlaub mit, auf welchen Ausweg „man“ verfallen war: Wir alle sahen ein daß wir, sowohl in ökonomischer als in persönlicher Rücksicht, auf die bisherige Weise in Mergentheim unmöglich fortleben können. Für das einzige Mittel, die Gemüther zu befriedigen u. unsere Verhältnisse allseitig zu ordnen erkannte man die Ergreifung eines auf regelmäßigen Erwerb gerichteten Geschäfts u. eine Verbindung mit Gretchen auf ganz neuem Fuße – durch mich, sofern die äußerlichen Hindernisse nicht unüberwindlich seyn sollten. (16, S. 18)
Es fällt nicht leicht, aus diesen gewundenen Formulierungen den Plan zur Eheschließung herauszulesen, der dann auch noch hinter der angestrebten Verbesserung der ökonomischen Lage zurücktritt! Zwar ist zu berücksichtigen, dass Mörike im Verkehr mit Hartlaub damals besondere Vorsicht walten lassen musste, weil dieser nie ein rechtes Verhältnis zu Margarethe gefunden hatte und die Verbindung seines Freundes mit einer katholischen Frau zudem prinzipiell missbilligte, aber Vischer wurde etwas später in einem ganz ähnlichen Sinne unterrichtet: „Ein ferneres Zusammenseyn mit der Familie nemlich, mit welcher ich und meine Schwester nun 5 Jahre vertraut in Einem Hause wohnten, ist einzig unter der Bedingung möglich daß ich mich mit der Tochter des Hauses verbinde“ (S. 36). Da die Ehe also hauptsächlich dem Zweck diente, den gewohnten freundschaftlich-intimen Umgang aufrecht zu erhalten, verwundert es nicht, dass Mörike am 9. August eigentlich im Namen beider Geschwister bei Josephine Speeth um die Hand ihrer Tochter anhielt: Es handelt sich also nicht blos um die Bedingung für ein Zusammenbleiben überhaupt und auf dem bisherigen Fuße, sondern um die Möglichkeit, in einer weit entschiedenern, und deßhalb sicherlich für Alle viel glücklicheren Weise vereinigt zu werden. Hierüber sind wir Geschwister und Gretchen seit Kurzem vollkommen einverstanden; und sollte es Ihnen, verehrte Frau,
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Margarethe Speeth
denn nun wohl ganz befremdlich seyn wenn ich hiermit offen die innige Bitte um Ihre Zustimmung zu unserer Absicht, die Bitte um die Hand Ihrer guten Tochter ausspreche? (S. 56)
Als Motive für seinen Antrag nannte er gleich darauf sowohl die „herzliche Neigung zu Gretchen“ als auch den „Wunsch die beiden Freundinnen niemals getrennt zu sehn“ (S. 57), und seiner zukünftigen Frau schrieb er im Oktober: „Je rascher die Zeit herbeikommt da Du uns völlig angehörst, mit desto froherer Gewißheit, obgleich stets aufs Neue darüber verwundert, empfind ich dieß Glück! Doch, weiß ich es denn nicht daß Du uns liebst?“ (S. 77) Die Trauung fand am 25. November 1851 in der Schlosskirche von Mergentheim statt, übrigens in Abwesenheit der Familie Hartlaub. Wenige Tage später bezogen Eduard, Margarethe und Klara in Stuttgart eine gemeinsame Wohnung. Mörike, der in seinen Briefen fortan die Anrede „Geliebteste“ unterschiedslos für beide Frauen gebrauchte7, schien selig zu sein. Vor allem in den ersten Jahren vermisste er die eine wie die andere schmerzlich, wenn sie vorübergehend abwesend waren, und wünschte die jeweils Entfernte sehnsüchtig zurück. Liebevoll kümmerte er sich auch um die beiden Töchter, die Margarethe zur Welt brachte: Am 12. April 1855 wurde Franziska (Fanny) geboren, am 28. Januar 1857 folgte ihr eine Schwester mit Namen Marie. Die traute Eintracht der drei Erwachsenen zeigte aber schon bald erste Risse. Margarethe, eine recht verschlossene, zur Schwermut neigende und mitunter reizbare Persönlichkeit, störte sich mehr und mehr an dem außerordentlich engen Verhältnis der Geschwister, während Klara wie selbstverständlich auf ihren ‚älteren Rechten‘ beharrte. Bereits in der Mergentheimer Zeit hatte es Spannungen gegeben8, und unmittelbar vor der Hochzeit musste Mörike seine Braut wegen gewisser „Besorgnisse darüber […], wie wir die Gegenwart u. Zukunft, sofern sie durch unsere Dreiheit bedingt ist – ansehn“, beruhigen (16, S. 92). Margarethes Skepsis erwies sich leider als wohlbegründet, denn in Stuttgart entwickelte sich zwischen den Frauen endgültig ein Verhältnis der Rivalität und der Eifersucht, in dem Mörike das hilflose und weitgehend passive Objekt bildete. Erwartungsgemäß erwies er sich als unfähig, die immer wieder aufflammenden Konflikte zu schlichten, die jetzt das Familienleben vergifteten, oder gar ein Machtwort zur Klärung der Lage zu sprechen. Er konnte allenfalls besänftigen, flehentlich an die Kontrahentinnen appellieren und sich, wo das nicht mehr half, in Schweigen hüllen oder in Krankheiten flüchten. Zumindest einige der Stationen auf dem fatalen Weg, der – 451 –
17. Von Mergentheim nach Stuttgart
schließlich zum Zerbrechen seiner Ehe – wenn auch nicht zur Scheidung – führte, sollen an späterer Stelle noch erwähnt werden. Kehren wir aber vorerst in das Jahr 1851 zurück! Schon im Brief an Hartlaub nannte Mörike die „Ergreifung eines auf regelmäßigen Erwerb gerichteten Geschäfts“ als notwendige Voraussetzung für seine Ehe (16, S. 18). Dabei kam ihm wieder einmal die Hilfe treuer Freunde zustatten. Bereits 1843 hatte man sich in seinem Kreise bemüht, ihm durch eine Verbesserung seiner ökonomischen Verhältnisse größere Unabhängigkeit zu verschaffen und geeignete Gönner und Mäzene zu finden. Justinus Kerner war daran maßgeblich beteiligt gewesen, aber sogar Alexander von Humboldt und Ludwig Tieck in Berlin wurden in Bewegung gesetzt, um Mitglieder der württembergischen Regierung für den Dichter zu interessieren. Der wusste allerdings selbst nicht recht, worauf er seine Wünsche eigentlich richten sollte, und verfiel am Ende nur auf eine „PensionsZulage“ (14, S. 98), die ihm letztlich aber doch nicht gewährt wurde. Zwei Jahre später versuchte der unermüdliche Ludwig Bauer, ihn in die Hauptstadt zu locken, schlug ihm Literaturvorlesungen für ein gebildetes (weibliches) Publikum vor und bot an, ihm einige leichte buchhändlerische Arbeiten abzutreten, die ihm einen anständigen Verdienst sichern würden.9 In seinem Antwortschreiben erklärte sich Mörike „nach reifer Überlegung mit einer Übersiedlung nach Stuttgart völlig einverstanden“ (14, S. 236) und formulierte seinerseits ein paar Vorschläge für denkbare berufliche Tätigkeiten, von denen er glaubte, sie mit seiner schwachen Konstitution und der „Eigenthümlichkeit [s]eines NervenLeidens“ vereinbaren zu können: „Bei den in Stutg. aufgestellten wissenschaftl. Sammlungen, den Bibliotheken, dem Münz- Medaillen- Kunst u. Alterthümer und NaturalienCabinet sind zuverläßig einzelne untergeordnete Geschäfte, für welche eine weitere Hand erwünscht seyn würde. Mit Freuden könnte ich die meinige dazu anbieten“; besonders seine Leidenschaft für Versteinerungen hoffte er hier einmal nutzbringend zu verwerten (S. 237). Das Projekt zerschlug sich, weil kein geeigneter Posten frei war. Aber immerhin ist Bauers Brief zu entnehmen, dass es in der Residenz damals neben manchen alten Freunden aus Mörikes Studienzeit auch schon eine Gemeinde von enthusiastischen Verehrern seiner Dichtung gab, deren Unterstützung gegebenenfalls in Rechnung gestellt werden konnte. Und wie wir wissen, genoss Mörike inzwischen sogar den Respekt einiger Angehörigen des Königshauses. 1851 musste nun ernst gemacht werden. Die Familie Speeth war zwar einst wohlhabend gewesen, befand sich jedoch in wirtschaftlicher Hinsicht seit geraumer Zeit auf dem absteigenden Ast, woran nicht zuletzt – 452 –
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Margarethes Bruder Wilhelm schuld war, ein großspuriger Verschwender und Herumtreiber, mit dessen Ansprüchen sich das Ehepaar Mörike später noch lange – teilweise vor Gericht – herumzuschlagen hatte. Dem Dichter blieb also keine andere Wahl, als aufs Neue nach zusätzlichen Einnahmequellen zu suchen. Er verfiel zuerst auf den merkwürdigen Gedanken, gemeinsam mit Klara „ein kleines Pensionat von ganz familiärem Charakter für höchstens ein Duzend Mädchen von 6–14 Jahre an einem günstig gelegenen Orte, wie Constanz, zu errichten“ (16, S. 36), und unternahm deshalb im Frühjahr eine Reise in die Bodensee-Region, um sich an Ort und Stelle vorläufig umzuschauen. Aber zum Glück ließ er diesen Plan, dem seine Fähigkeiten und seine Energie zweifellos nicht im Entferntesten gewachsen gewesen wären, rasch wieder fallen und konzentrierte seine Überlegungen ganz auf Stuttgart. Nach einigem Zögern ging er schließlich auf das Angebot ein, eine Lehrstelle am Katharinenstift, einer höheren Töchterschule, zu übernehmen: Am 10. August ließ er Klara und Margarethe wissen, dass er dem Rektor Karl Wolff „die Lektion im KatharinenInstitut“ fest zugesagt habe (S. 59), und am 15. Oktober erteilte er seine erste Unterrichtsstunde. Darüber hinaus beabsichtigte er, Bauers früheren Vorschlag aufgreifend, für die bessere Stuttgarter Gesellschaft „Damen-Vorlesungen“ über Literatur abzuhalten, die Anfang 1852 auch wirklich zustande kamen. Damit war das Fundament für eine bescheidene, aber auskömmliche Existenz in der Hauptstadt gelegt.
Stuttgart auf dem Weg in die Moderne Am 12. Juni 1851 gestand Mörike, der noch am Bodensee weilte, seiner zukünftigen Frau: „unter uns gesagt – vor Stuttgart graut mir ins geheim“ (16, S. 32). Der Wechsel von dem beschaulichen Mergentheim in die Residenzstadt war für einen Mann wie ihn tatsächlich keine Kleinigkeit, bedeutete er doch den Schritt aus der provinziellen Abgeschiedenheit in ein regionales Zentrum der Modernisierung und des Fortschritts. Bis dahin hatte der Dichter jene Umgestaltungen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts so tief in die Lebenswelt fast aller Menschen in Europa eingriffen, höchstens flüchtig oder indirekt kennengelernt. Württemberg, weder mit Rohstoffen noch mit günstigen Verkehrswegen gesegnet, war nach wie vor überwiegend ein Agrarstaat, in dem sich Gewerbe und Industrie nur langsam entwickelten, und zur Erweiterung seines Horizonts durch größere Reisen hatte Mörike zeitlebens weder Lust noch Gelegenheit: Fast sein gesamtes – 453 –
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Dasein blieb auf den schwäbischen und fränkischen Raum beschränkt. Im Juli 1828, während des Urlaubs vom Vikariat, verbrachte er in Begleitung seines Onkels Gottlieb Johann Mörike immerhin zwei Tage in München, doch musste er später bekennen, die Stadt bei diesem „sehr kurzen Aufenthalt […] so gut wie gar nicht gesehen“ zu haben (11, S. 313). Dreimal, nämlich 1840, 1851 und 1857, reiste er an den Bodensee; 1848 und 1862 fuhr er zu Badekuren in den Schwarzwald, 1850 nach Regensburg, von wo er über Nürnberg, Bamberg und Würzburg nach Mergentheim zurückkehrte, und 1866 war er, wieder einmal zur Kur, in Wemding bei Nördlingen. Die Grenzen des deutschen Sprachraums hat er nie überschritten. Von grundsätzlicher Skepsis gegenüber fortschrittlichen Errungenschaften oder gar von Furcht vor den technischen Neuerungen seiner Epoche konnte bei Mörike aber keine Rede sein. So äußerte er sich schon 1839 begeistert über das soeben erst entwickelte Verfahren der Daguerreotypie: „Man hat mir kürzlich auf mein dringendes Verlangen eine Probe der Daguerreschen Lichtbilder vom Optikus Geiger in Stuttgart zur Ansicht verschafft. Eine Ansicht der Hintergebäude seines Hauses, Hof, Stallung &c nicht größer als die Hälfte eines Kartenblatts. Es ist nur einer seiner ersten Versuche. Aber ich sage Dir man kann nichts Zierlichers u. Wunderbarers sehen. Man preißt sich glücklich, so eine Erfindung in seiner Zeit zu erleben“ (13, S. 76). Später nutzte er häufig die Möglichkeit, Kunstwerke und Baudenkmäler in fotografischen Reproduktionen zu betrachten, und veranlasste 1866 überdies eine Aufnahme des ausgedienten Turmhahns von Cleversulzbach, dem er seine populäre Versidylle gewidmet hatte, um das Bild fortan als Geschenk verwenden zu können. Dass er sich selbst nur ungern ablichten ließ und den Wunsch verschiedener Verleger, Publikationen mit seinem Bildnis auszustatten, mit Unbehagen aufnahm, lag einzig und allein an der bekannten Scheu, mit seiner Person in die Öffentlichkeit zu treten. Das galt für Stiche, Zeichnungen und Fotografien gleichermaßen: „Wenn mir die aufgeschlagenen Titelbilder hinter den Fenstern der BuchhändlerLäden einfallen, die Herrn Boz, Herweghs Ronge’s u.s.w. mit den schönen Bärten in Stahlstich, u. ich denke mir daß so ein geschlecktes halbfremdes Gesicht, mit meinem Namen versehn, eines Tags auch da heraus koketire, so sag ich Dir, schäme ich mich schon jezt und werde roth bis an den Nabel“ (15, S. 128f.). Obendrein hielt er sich ganz und gar nicht für fotogen. 1855 ließ er sich zwar einmal „daguerreotypisiren“ – „aber Affenschande! Ein uralter grämlicher Kanzleirathskopf mit halboffnem latschigem Maul […] kam zum Vorschein“ (16, S. 221). Und als Cotta für die vierte Auflage der Gedichte dringend ein Porträt des Autors verlangte, waren – 454 –
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ebenfalls erst einige Hemmungen zu überwinden, bevor der Stuttgarter Fotograf Hermann Kayser die Aufnahme anfertigen konnte – „sehr gegen meinen Willen“, wie Mörike erklärte, „doch war es endlich nicht wohl abzulehnen“ (18, S. 190). Auch gegenüber der Eisenbahn, dem zeitgenössischen Sinnbild des Fortschritts schlechthin, kannte er keine Berührungsängste. Die erste Bahnlinie in Württemberg verband 1845 Cannstatt mit Untertürkheim. Mörike lernte das neue Verkehrsmittel drei Jahre später kennen, als er auf dem Weg in das Schwarzwaldbad Teinach die kurz zuvor eröffnete Strecke von Heilbronn nach Stuttgart benutzte. Das Erlebnis muss ihm gefallen haben, denn vor der Rückfahrt auf der gleichen Route äußerte er in einem Brief an Margarethe Speeth: „Ich freu mich auf die Eisenbahn die ich mir, Ihrer Anweisung gemäß, genauer als es in Heilbronn u. Stuttgart möglich war betrachten will“ (15, S. 276). Als 1853 eine Reise nach München geplant wurde, die dann doch nicht zustande kam, sah er der „Eisenbahnrutsch“ wieder mit Vergnügen entgegen (16, S. 157), und überhaupt bediente er sich bei seinen seltenen Reisen und größeren Ausflügen der Bahn, wo immer es möglich war. Mit der Verlegung des Lebensmittelpunktes in eine große Stadt, die Veränderungen in seiner ganzen Existenzweise nach sich ziehen musste, konnten solche begrenzten abenteuerlichen Begegnungen mit der modernen Welt indes kaum verglichen werden. Natürlich kannte Mörike Stuttgart gut. Nach dem Tod seines Vaters hatte er dort 1817/18 bei seinem Onkel Georgii Aufnahme gefunden und das Gymnasium besucht, und kurz darauf siedelte seine Mutter mit den jüngeren Geschwistern von Ludwigsburg nach Stuttgart über, wo die Familie bis zu ihrem Umzug nach Nürtingen 1826 wohnen blieb und der Seminarist und Student Mörike daher in der Regel seine Ferien verbrachte. Später war er beispielsweise im Frühjahr und Sommer 1831 drei Monate lang zur Kur in der Residenz, und gegen Ende des Jahres 1838 hielt er sich wieder für mehrere Wochen in Stuttgart auf, das auch eine Hochburg der Kunst, der Kultur und insbesondere des Verlagswesens war, um mit Verlegern zu verhandeln und an den Vorbereitungen für die Aufführung seiner Oper Die Regenbrüder am Hoftheater teilzunehmen. Doch Stuttgart veränderte sich damals mit fast unheimlicher Geschwindigkeit. Ein Blick auf die Entwicklung der Einwohnerzahl vermittelt einen ersten Eindruck von diesem Wandel: Als Mörike bei Georgii unterkam, lebten in Stuttgart kaum mehr als 25000 Menschen; als er sich 1851 dauerhaft dort niederließ, waren es etwa 50000 und bei seinem – 455 –
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Tod 1875 bereits mehr als doppelt so viele. Zum Vergleich: das Pfarrdorf Cleversulzbach zählte nicht einmal siebenhundert Einwohner, das Städtchen Mergentheim weniger als dreitausend. Der junge Mörike hatte eine Hauptstadt kennengelernt, die mit ihren zahlreichen Obst- und Weinbauern noch fast ländlich wirkte, aber schon damals drängte die Bebauung in verschiedenen Richtungen über den alten Stadtkern hinaus, und unter Friedrich I. war der Ausbau der Königstraße zu einer klassizistischen Prachtstraße mit repräsentativen Zügen begonnen worden. Im Hinblick auf die Industrialisierung konnte Stuttgart freilich wegen seiner ungünstigen verkehrstechnischen Lage lange Zeit nicht mit anderen württembergischen Standorten wie Göppingen und Esslingen konkurrieren, ganz zu schweigen von manchen industriellen Zentren im deutschen Ausland. Das soziale Gefüge war maßgeblich vom Hof, von den Beamten, den bürgerlichen Honoratioren und der Handwerkerschaft geprägt; die namenlose „Residenzstadt“ in Mörikes Maler Nolten (3, S. 11) lässt ihr reales Vorbild deutlich erkennen. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebten Handel, Gewerbe und Industrie einen spürbaren und immer schnelleren Aufschwung. 1844/46 wurde der Stuttgarter Bahnhof errichtet, den man zwanzig Jahre später beträchtlich erweitern musste. 1845 hielt die Gasbeleuchtung auf den Straßen Einzug, 1868 nahm eine Pferdeeisenbahn als Vorläufer der Straßenbahn ihren Dienst auf. Trotz der rasanten Bevölkerungszunahme und der stürmischen Erweiterung des bebauten Gebiets blieb Stuttgart zu Mörikes Zeit noch auf den Grund seines Talkessels beschränkt, den die Weinberge und Obstgärten der umliegenden Hänge einrahmten – die herrliche Lage der Residenz wurde weithin gerühmt. In der Stadt selbst sorgte die Dynamik der Entwicklung jedoch für schwer überschaubare Verhältnisse. So gab es keine klare Trennung von Wohn-, Geschäfts- und Industrievierteln, und kleine Fabriken, die mit Maschinen arbeiteten, fanden sich überall. Obwohl unablässig gebaut wurde, fehlte es immer wieder an Wohnraum. Die Mobilität der Bevölkerung war beträchtlich, weil die Mieten extremen Schwankungen unterworfen waren, die Ansprüche an den Wohnkomfort rasch stiegen und ganze Stadtviertel binnen kurzem ihren Charakter veränderten. Dass Mörike in Stuttgart so häufig umzog und dort insgesamt zehn verschiedene Wohnungen hatte – teils in der sogenannten „Reichen Vorstadt“, teils in neueren Stadtvierteln, die weiter außerhalb lagen10 –, war daher keineswegs ganz ungewöhnlich und darf jedenfalls nicht ohne weiteres als Indiz für persönliche Rastlosigkeit gewertet werden. Mehrfach wurde die Familie durch störende Bauprojekte in nächster Nähe oder – 456 –
Stuttgart auf dem Weg in die Moderne
durch die Ansiedlung industrieller Unternehmen, die Lärm und Unruhe befürchten ließ, zu dem Entschluss bewogen, ihr Quartier zu wechseln. Da eigener Immobilienbesitz bei seiner wirtschaftlichen Lage nicht in Betracht kam, musste Mörike mit Mietwohnungen von mäßiger Größe vorlieb nehmen, die keinen Vergleich mit dem stattlichen Pfarrhaus von Cleversulzbach aushielten, in dem neben dem Pfarrer, seiner Mutter und seiner Schwester auch noch ein Vikar, gelegentliche Übernachtungsgäste, ein Star, ein Distelfink, ein Igel, ein Hund, eine Katze, ein Poltergeist sowie zeitweilig eine kleine Schildkröte ohne Schwierigkeiten Platz gefunden hatten.11 An eine wesentlich beengtere Wohnsituation, wie sie für die städtische Bevölkerung damals gang und gäbe war, hatte sich Mörike allerdings schon in Hall und Mergentheim gewöhnen müssen. Immerhin erwarb er 1859 als willkommenen Rückzugsort ein Gartengrundstück vor der Stadt, das elf Jahre später mit beträchtlichem Gewinn wieder veräußert wurde. Aufgrund der sehr gemischten und schnell wechselnden Nachbarschaftsverhältnisse konnte es nicht ausbleiben, dass Mörike in seiner Stuttgarter Zeit mit Vertretern unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen und Berufsrichtungen in Berührung kam. Auf diese Weise erhielt er sicherlich gewisse Einblicke in die sozialen Umschichtungen, die mit dem Wachstum der Stadt und den einschneidenden ökonomischen Veränderungen auf dem Weg in die Moderne einhergingen: Neben die traditionellen bürgerlichen Honoratioren trat ein neuer gehobener Mittelstand, der sich aus Unternehmern, Kaufleuten und Angehörigen technischer Berufe zusammensetzte, während andererseits auch die Arbeiterklasse sprunghaft anwuchs. Mörikes näherer persönlicher Umgang konzentrierte sich aber weiterhin auf die alte ‚ehrbare‘ Elite und damit meist auf Männer seines eigenen Bildungsgrades, die Lehrberufe ausübten, als Künstler, Schriftsteller, Verleger und Redakteure tätig waren oder in öffentlichen Ämtern standen. Mit jenen Bevölkerungsgruppen, die den wirtschaftlichen Aufschwung und die anlaufende Industrialisierung in Württemberg trugen, hatte er dagegen kaum intensiveren Kontakt. Eine Ausnahme in seinem fast ausschließlich der literarisch-ästhetischen Kultur verpflichteten Freundeskreis bildete lediglich Johannes Mährlen, der Vertraute aus Uracher und Tübinger Tagen, mit dem Mörike in Stuttgart wieder eine enge Verbindung knüpfte. Mährlens Karriere war für einen ‚Stiftler‘ recht untypisch verlaufen. Er hatte nach dem Studium zwar zeitweilig als Korrektor bei Cotta und als Professor für Sprache und Literatur gearbeitet, seine Aufmerksamkeit dann – 457 –
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aber zunehmend auf wirtschaftliche und technische Fragen gerichtet. Von 1847 an leitete er einige Jahre lang ein Bergwerksunternehmen im Schwarzwald, bevor er in die Residenz zurückkehrte, wo er am Polytechnikum Nationalökonomie und Gewerbestatistik lehrte und als Sekretär der Handelskammer wirkte. Ob Mörike ein nennenswertes Interesse für die Angelegenheiten aufbrachte, mit denen dieser „praktische, industrielle Mann“ (15, S. 357) beruflich beschäftigt war, ist jedoch äußerst fraglich.
Leben in der Hauptstadt Für die strengen Vorsichtsmaßregeln des Dichters, die seine körperliche und seelische Gesundheit schützen und sein fragiles inneres Gleichgewicht bewahren sollten, bedeutete Stuttgart eine gewaltige Herausforderung. Schon im Juni 1851, als er eben erst angelangt war, klagte er über „diese umtreibende Stadt“ (16, S. 42), und in einem Brief an Elise Mährlen vom 5. August fragte er sich besorgt, wie sich die Fülle neuer Eindrücke und Anregungen mit seiner „physischen und geistigen Gebundenheit“ und seiner „ängstlich abgemessenen Diät“ vertragen werde (S. 55). Vor dem Beginn seiner Unterrichtstätigkeit und der Hochzeit mit Margarethe hielt er noch größtmögliche Distanz zum sozialen Leben in der Residenz, doch sehr bald war es mit dieser „wohlthätigen Stille u. Verborgenheit“ endgültig vorbei (S. 68). „Besuch, Geläufe, Geschwätz“ stellten seine Nerven auf eine harte Probe (S. 82), und gegenüber Hartlaub beschwerte er sich, dass ihm unablässig „die Zeit verschlungen, verzettelt u. gestohlen“ werde (S. 104). Bedrängt durch „fremde Leute“ und „kleine unabweisliche Geschäfte die doch zusammen Stunde um Stunde Kraft und Lust aufzehren“ (S. 281), konnte er zunächst kaum die nötige Ruhe für einen längeren Brief oder gar für literarische Arbeiten finden. An seinem gespannten Verhältnis zu der hektischen großstädtischen Lebensweise änderte sich auch später wenig, wie zahlreiche Äußerungen belegen. Um die Mitte der fünfziger Jahre ist zum Beispiel vom „Stuttgarter Getriebe“ die Rede (16, S. 168), und ein Urlaub bei Familie Hartlaub im ländlichen Wimsheim wird wie eine Erlösung herbeigesehnt, denn: „Hier ist gar keine Ruhe, man verdurstet innerlich“ (S. 217). Im folgenden Jahrzehnt spricht Mörike vom „Stuttgarter Strudel“ (18, S. 49) oder konstatiert einmal mehr: „Hier kommt man nicht zur Ruh; es ist des Geschwirres von außen im Hause zu viel“ (S. 207). Auch das Klima im „schwüligen Thalkessel“ behagte ihm nicht, schon gar nicht in den Sommermonaten (19.1, S. 276). Umgekehrt – 458 –
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pries er 1867 nach dem Umzug ins abgelegene Lorch die gute Luft und „die lang ersehnte absolute Ruh u. Stille“ (18, S. 222). In Mergentheim hatte Mörike allenfalls flüchtig an dem geselligen Leben der gebildeten bürgerlichen Kreise teilgenommen, das sich in Institutionen wie dem „Museum“ – einer Lesegesellschaft –, dem „Wissenschaftlichen Verein“ und dem „Historischen Verein für das fränkische Wirtemberg“ organisierte, und schon in dieser Zeit bekundete er eine entschiedene Abneigung gegen gesellschaftliche Verpflichtungen wie das Spiel der Besuche und Gegenbesuche, dem er sich am liebsten ganz entzog. In Stuttgart war es aber kaum mehr möglich, sich zu verstecken, zumal der Dichter aufgrund seiner steigenden Bekanntheit mehr und mehr zu einer öffentlichen Person wurde. Die wachsende Intensität seiner sozialen Kontakte spiegelt sich in der Vielzahl seiner Korrespondenzpartner in den Jahren nach 1851 und in der Fülle der Themen seiner Briefe. Oft schickten ihm Autoren oder Verleger Manuskripte mit der Bitte um Begutachtung zu. Besonders Cotta trat wiederholt mit solchen Anliegen an ihn heran, belohnte seine Mühe aber immerhin mit wertvollen Buchgeschenken, zu denen die Prachtausgabe von Uhlands Gedichten und das Nibelungenlied mit den Illustrationen von Julius Schnorr von Carolsfeld zählten.12 Zuschriften von fremder Seite versuchte Mörike nach besten Kräften zu beantworten, wobei er nicht mit deutlichen Worten sparte und manch einem poetischen Dilettanten dringend empfahl, seine Werke zumindest vorerst lieber nicht zu publizieren und sie statt dessen mit einigen Jahren Abstand noch einmal kritisch zu prüfen.13 Mit der Zeit fiel ihm diese Arbeit aber zunehmend lästig, so dass er 1863 erwog, der Plage mit einer diplomatisch formulierten Zeitungsannonce zu begegnen: „Dem Unterzeichneten werden häufig Manuscripte und Bücher zur Einsicht von den Verfassern zugesendet. Je ehrenwerther ein solches Vertrauen und je erfreulicher nicht selten das Mitgetheilte selber ist, desto aufrichtiger bedauert er, sich zu der Erklärung genöthigt zu sehen, daß er dergleichen ferner nicht annehmen kann“ (17, S. 246). Ob diese Anzeige jemals gedruckt wurde, ist allerdings unbekannt. Wie wir wissen, liebte Mörike die Geselligkeit im Kreis vertrauter Freunde, aber die für das 19. Jahrhundert so typische bürgerliche Vereinskultur mit ihrer strafferen Organisation, ihren festen Satzungen und Zielen war nicht nach seinem Geschmack, weil er hier gerade jene spielerische Freiheit vermisste, die ihm den rein informellen geselligen Austausch zu einem Vergnügen machte. Völlig fernhalten konnte er sich von solchen Zusammenschlüssen jedoch nicht. Beispielsweise wurde er Mitglied – 459 –
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beziehungsweise Ehrenmitglied der Stuttgarter Museumsgesellschaft, des Liederkranzes und der Künstlervereinigung „Bergwerk“ und wirkte in einem Komitee mit, das die Schillerfeiern des Jahres 1859 vorbereitete. Doch im Ganzen scheint er sein gesellschaftliches Engagement so weit begrenzt zu haben, wie es die Rücksicht auf seinen Ruf und seine Stellung nur erlaubte. Das reiche kulturelle Leben in Stuttgart zog ihn zwar zweifellos an, und er besuchte häufiger öffentliche Konzerte, Theater- und Opernaufführungen sowie musikalische Darbietungen im kleineren häuslichen Rahmen; auch wurde er mit einigen Schauspielern näher bekannt, darunter Karl Grunert, der zu den ersten Kräften am Hoftheater zählte und den Mörike unter anderem in Stücken von Schiller und Shakespeare auf der Bühne sah. Aber schon 1857 ließ er die Hartlaubs wissen: „Die regelmäßigen Ausgänge mit der Fanny sind gegenwärtig mein bestes u. einziges Vergnügen. So einsam und gesellschaftsflüchtig habe ich hier kaum je gelebt“ (17, S. 29). Unter den Bedingungen der städtischen Existenz lernte er den Wert einer abgeschlossenen Privatsphäre besonders schätzen, sofern ihm dieses Refugium nicht durch familiäre Querelen verleidet wurde: „Im Übrigen geh ich so meinen zufriedenen Trott in einem ziemlich engen Kreise fort. Mein bestes Glück liegt innerhalb des Hauses“ (S. 170). Äußere Störungen suchte er abzuwehren, so gut es sich machen ließ, weil ihm schon die „kleinste Abweichung von dem gewohnten Taglauf […] zum wirklichen Exceß“ wurde (S. 230). Ein lyrisches Zeugnis für seine Zurückhaltung, die er mit leichter Übertreibung als „hypochondrische Absonderung von aller Welt“ charakterisierte (18, S. 16), ist das Gedicht An Eberhard Lempp von 1855 (1.1, S. 277), das sich an einen entfernten Verwandten richtete, mit dem Mörike damals freundschaftlichen Umgang pflegte. Den Anlass für die Verse bildete, wie die Erläuterung unter dem Titel verrät, die „Einladung zu einer Abendgesellschaft“. Seit das lyrische Ich, in dessen Maske hier kaum verhüllt Mörike selbst spricht, diese Einladung unvorsichtigerweise angenommen hat, zieht ihm die bloße Aussicht auf ein solches gesellschaftliches Ereignis eine Furie auf den Hals, von der bislang noch kein „Dichter“ und kein „Mythograph“ zu sprechen gewagt hat, „Agrypnia“ nämlich, die personifizierte Schlaflosigkeit, deren Schrecknisse bildkräftig ausgemalt werden. Mörike beschwört diese pseudo-mythologische Figur halb im Scherz, halb im Ernst, um am Ende durch den Mund des lyrischen Sprechers an den Adressaten zu appellieren, ihm seine voreilige Zusage zurückzugeben. Die Scheu vor jeder Form von sozialer Öffentlichkeit konnte also beträchtliche poetische Energien entbinden! – 460 –
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Dokumente wie An Eberhard Lempp bestätigen, was Wilhelm Raabe, der von 1862 bis 1870 ebenfalls in der württembergischen Residenz wohnte, später im Rückblick auf Mörikes Stuttgarter Zeit schrieb: „Er führte ein so hypochondrisch-zurückgezogenes Leben, daß wahrscheinlich nur älteste schwäbische Freunde in vertrautem Verkehr mit ihm waren. Aus der Fremdenkolonie weiß ich keinen Einzigen.“14 Seiner Gesundheit war das Leben in Stuttgart aber keineswegs so abträglich, wie er zeitweilig fürchtete. Zwar achtete er nach wie vor peinlich genau darauf, seine schwachen Kräfte nicht über Gebühr zu beanspruchen: „An eine neue selbständige Arbeit von mir ist gegenwärtig nicht zu denken“, versicherte er Vischer im Sommer 1851 (16, S. 38), und gegenüber Mährlen verwies er auf das geringe „Maas meiner physischen Kräfte, von dem die Freunde immer keine rechte Vorstellung haben; sie wissen nicht, wie wenige Stunden des Tages ich mich strenger an irgend eine Arbeit halten darf ohne Schwindel u. dergl. zu haben“ (S. 47). Sein Befinden blieb jedoch über Jahre hin offenbar recht stabil, obwohl ihm bisweilen Erkältungen und Gliederschmerzen zu schaffen machten, und 1859 musste er selbst eingestehen, dass sein Zustand „erträglich“ sei (17, S. 78). Ende 1862 begann allerdings wieder eine längere Krankheitsperiode, unter anderem mit Mumps und einer Lungenentzündung, so dass er seinen Unterricht für einige Monate ausfallen lassen musste. Und auch nach einem längeren Erholungsurlaub in Bebenhausen im Spätsommer und Herbst 1863 wurde er nicht mehr richtig gesund. Fortan war immer wieder von einem hartnäckigen Husten, von fiebrigen Erkrankungen, Katarrhen und Verdauungsbeschwerden, Kopfschmerzen und einem allgemeinen Schwächegefühl die Rede. Er bedauerte, als „ein gar zu immobiler Mensch“ einer Einladung Moriz von Schwinds nach München nicht Folge leisten zu können (18, S. 14), und klagte über „die mangelnde Gesundheit, die mich nichts Rechtes tun und treiben läßt“ (S. 236). In den ersten Stuttgarter Jahren entfaltete der Dichter trotz aller diätetischen Maßnahmen und Bedenken eine für seine Verhältnisse ungewöhnliche literarisch-publizistische Betriebsamkeit. Innerhalb kurzer Zeit wurden mit Die Hand der Jezerte, Das Stuttgarter Hutzelmännlein und Mozart auf der Reise nach Prag nicht weniger als drei Erzählungen vollendet. Des weiteren fasste Mörike die Überarbeitung des Maler Nolten ins Auge, über die er 1854 einen Vertrag mit Schweizerbart schloss, vollendete das umfangreiche Gedicht Der alte Thurmhahn und veröffentlichte 1855 gemeinsam mit Friedrich Notter das Übersetzungsbändchen Theokritos, Bion und Moschos, an dem sein Mitherausgeber freilich den größeren Anteil hatte. Das Jahr 1856 bildete schließlich mit Neuauflagen der – 461 –
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Mozart-Novelle und der Idylle vom Bodensee, der dritten Ausgabe der Gedichte und dem Band „Vier Erzählungen“ einen Höhepunkt in der Publikationsgeschichte seiner Werke. Nebenher übernahm er allerlei kleinere Aufgaben im Stuttgarter Literaturbetrieb, vor allem für den befreundeten Verleger Friedrich Krais und seine illustrierte Familienzeitschrift „Freya“, der er mehrfach Beiträge vermittelte und in der auch eine ganze Reihe seiner eigenen Gedichte erschien. Einiges an Zeit und Mühe beanspruchte außerdem sein Lehrdeputat am Katharinenstift, das anfangs nur eine, später aber drei bis vier Wochenstunden umfasste. Die Bildungseinrichtung für Töchter der gehobenen Stände benannte sich nach der früh verstorbenen zweiten Gemahlin Wilhelms I., von der sie 1818 ins Leben gerufen worden war. Hier hatten schon Ludwig Bauer und Gustav Schwab gewirkt, und später schickte Mörike seine eigenen Töchter auf diese Schule. Er selbst unterrichtete in den obersten Klassen 7 und 8 die etwa sechszehn- bis achtzehnjährigen Schülerinnen in den Fächern Deutsche Literatur, Deutsche Sprache und Aufsatz, was auch die Verpflichtung einschloss, schriftliche Arbeiten zu korrigieren und Fragen für die jährlichen Abschlussprüfungen vorzulegen. Am 18. Oktober 1851 konnte er Hartlaub mitteilen, dass seine neue Tätigkeit, in die ihn der Rektor Karl Wolff persönlich einführte, vielversprechend begonnen habe: […] lezten Mitwoch hielt ich die erste Lektion im KatharinenStift. Der liebe Wolf kam mir verabredetermaßen etwas vor 11. Uhr in der Fridrichstraße entgegen u. führte mich zuerst auf das Versammlungszimmer der Lehrer um einen Theil derselben zu begrüßen, alsdann ward ich durch ihn mit einer kleinen Anrede den schon beisammen sitzenden Mädchen – einer Schaar v. wenigstens 50 lauter großen Fräuleins – vorgestellt. Es ging mir körperl. sehr leicht da ich mein Zehnebrot zur rechten Zeit genommen u. verdaut hatte. Auch sollen die Schülerinen, wie man mir wenigstens von mehrern Seiten lebhaft versichert hat, ausnehmend gut von meinem „Schwatz“ erbaut seyn. (16, S. 82)
Ein knapper Stoffplan zum Fach Deutsche Literatur von Mörikes Hand, der aus dem Jahre 1865 stammt (7, S. 275f.), gewährt einen Einblick in die Themen des Unterrichts. In der siebten Klasse wurde „die Theorie der verschiedenen Dichtungsarten“ behandelt: „Als Einleitung die nöthigen ästhet. Vorbegriffe. Erklärung über Wesen und Sprache der Poesie. Rhythmus; antike und andere Versmaße. Übergang zu den einzelnen Zweigen der Dichtkunst.“ In diesem Zusammenhang zog Mörike auch Beispiele aus der – 462 –
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Dichtung des Altertums heran. In der achten Klasse stand dann die „Geschichte der deutschen Literatur; von der ältesten bis in die neuere Zeit“ auf dem Programm, dessen Aufbau sich an der monumentalen Geschichte der Deutschen Dichtung von Georg Gottfried Gervinus orientierte. Im Stoffplan heißt es dazu: „Bei Darstellung des Einzelnen wird das Wesentliche vom Leben und der Persönlichkeit der bedeutendsten Schriftsteller, sodann eine Auswahl charakteristischer Proben ihrer Erzeugnisse und eine Würdigung derselben gegeben.“ Hier ging Mörike bis zu den mittelalterlichen Anfängen der deutschsprachigen Dichtung zurück, wobei etwa das Nibelungenlied und Wolframs Parzival zur Sprache kamen. Die Stunden liefen in Form von Vorlesungen ab; der Stoffplan spricht von „freiem Vortrag“. Mörike wollte nicht nur Sachkenntnisse vermitteln, sondern auch das ästhetische Urteilsvermögen schärfen, indem er „an Mittelmäßigem und Scheinbarem mehrfältige Kritik“ übte, um bei den jungen Damen „einem falschen ModeGeschmack in der künftigen Wahl ihrer Lectüre entgegenzuwirken“. Wegen der strengen Sittlichkeit (oder Prüderie) seiner Schützlinge gestaltete sich seine Aufgabe aber nicht immer ganz einfach. Goethes Werther erregte zum Beispiel bei der Tante einer Schülerin Anstoß, weshalb Mörike die Besprechung des Textes vorsichtshalber abkürzte15, und beim „Tristan des Gottfried v. Strasburg“ geriet er so sehr in „Verlegenheit auch nur das Allgemeinste vom Inhalt anzugeben“, dass er erwog, dieses Werk lieber „ganz bei Seite zu lassen“ (17, S. 258). Obwohl der Umfang seiner Lehrverpflichtung sehr überschaubar war, wurde sie ihm rasch zur Last, und immer häufiger musste er sich krankheitshalber von Wolff vertreten lassen. Nach fünfzehn Jahren ging er schließlich in den Ruhestand, „wegen zunehmender körperlicher Beschwerden“, wie er am 14. November 1866 in seinem Entlassungsgesuch an König Karl I. schrieb (18, S. 149). Sehr viel kurzlebiger war das andere große Projekt, das anfangs seine Existenz in Stuttgart sichern sollte, nämlich die Reihe der Literaturvorlesungen, die gegen Eintrittsgeld von Damen aus der höheren Gesellschaft besucht werden konnten. Immerhin kamen zwei Vortragszyklen zustande und zwar jeweils in den ersten Monaten der Jahre 1852 und 1853. Schauplatz war das Obere Museum, eine Einrichtung der den städtischen Honoratioren vorbehaltenen Museumsgesellschaft, die sich der Pflege von Bildung, Kunst und Wissenschaft verschrieben hatte. Seine ursprüngliche Absicht, antike und deutsche Dichtungen im Vergleich zu präsentieren16, gab Mörike bald auf, um statt dessen einige Dramen Shakespeares und Werke von Goethe vorzutragen und zu erläutern; daneben las er deutsche Gedichte sowie Partien aus dem – 463 –
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damals noch unveröffentlichten Stuttgarter Hutzelmännlein. Wie ernst er die Sache nahm, bezeugen die zahlreichen Notizen und Bearbeitungsansätze in den Shakespeare-Übersetzungen, die er benutzte.17 Aber trotz des großen Anklangs, den die Vorträge fanden, verlor er, wie kaum anders zu erwarten, bald die Lust an dem Unternehmen, das ihn anstrengte und ihm einen unbequemen Zwang auferlegte. „Wie will ich froh seyn wenn ich das Museum vollends abgestoßen habe“, vertraute er den Hartlaubs am 2. April 1853 an. Die sechzehnte und letzte Sitzung der zweiten Veranstaltungsreihe wurde immer wieder verschoben und fand am Ende vermutlich gar nicht mehr statt. Nicht zuletzt dem Katharinenstift und den „Damen-Vorlesungen“ war es zu verdanken, dass sich die wirtschaftliche Lage der Familie mit der Zeit merklich entspannte. Noch für den Umzug nach Stuttgart und die erste Einrichtung dort musste Mörike Geld aufnehmen; Mayer und Mährlen halfen mit großzügigen Darlehen aus. Danach ging es jedoch stetig bergauf. Sein Lehrergehalt betrug zwar zunächst nur 50 fl. im Jahr, wurde aber schon 1854 verdoppelt, 1856 gar auf 350 fl. erhöht und als Ausdruck besonderer königlicher Gunst auch nach Mörikes Ausscheiden aus dem Amt weitergezahlt. Vor allem bis 1856 flossen beträchtliche Honorare für seine neuesten Publikationen, und die Deutsche Schillerstiftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Dichtern in materieller Bedrängnis beizustehen, billigte ihm nicht nur 1862 eine Ehrengabe von 300 Talern zu, was 525 fl. entsprach, sondern gewährte ihm ab 1864 auch dieselbe Summe als regelmäßige jährliche Unterstützung auf Lebenszeit. 1867 bezifferte Mörike sein Jahreseinkommen in einer tabellarischen Aufstellung auf stattliche 1955 fl.: Auf 280 fl. belief sich sein „QuiescenzGehalt als Pfarrer a.D. durch das K. Cameral-Amt“, auf 350 fl. die „jährl. GnadenPension von Sr Maj. dem Könige, aus der OberhofCasse seit dem Ausscheiden aus meiner Lehrstelle am K. Katharinenstift“, und auf 525 fl. die „jährliche Pension“ aus der „CentralCasse der deutschen Schillerstiftung in Weimar“; außerdem sind 400 fl. angeführt, die Mörike seit 1858 noch zusätzlich als „jährliche Subvention aus dem Dispositionsfonds des Departements des Kirchen u. Schulwesens“ erhielt, sowie ein Betrag in gleicher Höhe als „Honorar für eine literarische Arbeit“.18 Von Wohlstand konnte dennoch schwerlich die Rede sein, zumal die Lebenshaltungskosten in Stuttgart deutlich höher lagen als in Mergentheim oder gar im ländlichen Raum. Als Mörike 1867 mit seiner Frau für längere Zeit nach Lorch übersiedelte, gleichzeitig aber wegen des Schulbesuchs der Töchter eine Wohnung in Stuttgart beibehielt, brachte dieser – 464 –
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„getheilte, doppelte Haushalt“ den „Finanz Etat“ der Familie sofort wieder durcheinander (19.1, S. 36), bis man das kostspielige Arrangement schließlich aufgab. Übrigens scheint für ökonomische Fragen vornehmlich die Ehefrau des Dichters zuständig gewesen zu sein – wir erinnern uns an die charakteristische Rollenverteilung bei der Führung des Mergentheimer Haushaltungs-Buches! Mörikes Reputation in Stuttgart wurde durch den kleinbürgerlichen Zuschnitt seiner äußeren Existenz nicht geschmälert. In den Kreisen der Ehrbarkeit und des gebildeten Bürgertums war das Geld weder der einzige noch der wichtigste Maßstab des Prestiges, und ein ‚Stiftler‘, pensionierter Pfarrer und namhafter Schriftsteller musste sich um sein gesellschaft liches Ansehen keine Sorgen machen. Dass Mörikes Bekanntheitsgrad in der literarischen Welt schon zu seinen Lebzeiten kontinuierlich anstieg, auch wenn er aus verschiedenen Gründen nicht zum Bestsellerautor taugte, wissen wir bereits aus dem vorigen Kapitel. In der Stuttgarter Zeit stellten sich außerdem verschiedene Titel und Auszeichnungen ein, die die wachsende öffentliche Anerkennung augenfällig demonstrierten. Durch die Vermittlung Vischers, der damals selbst an der Philosophischen Fakultät lehrte, wurde dem Dichter 1852 die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen zuteil, und vier Jahre später erhielt er in seiner Eigenschaft als Lehrer am Katharinenstift auch den Professorentitel. 1862 folgte die Aufnahme in den bayrischen Königlichen Maximilians-Orden für Wissenschaft und Kunst, wo Mörike an die Stelle des jüngst verstorbenen Justinus Kerner trat. Emanuel Geibel hatte sich bei Maximilian II. für den hochgeschätzten Kollegen verwendet, der mit gewohnter Bescheidenheit reagierte und sogar geneigt war, an einen „seltsame[n] Irrthum“ zu glauben: „Wenn ich das Wenige was von mir ausgegangen ist ansehe so weiß ich wirklich nicht, wie ich zu dieser Auszeichnung komme“ (17, S. 241). Dass der schwäbische Poet zuerst von einem ausländischen Monarchen in dieser Form geehrt wurde, mag für das württembergische Königshaus ein wenig peinlich gewesen sein. Jedenfalls zog Karl I., gerade erst auf den Thron gelangt, 1864 nach, indem er Mörike das Ritterkreuz des Friedrichs-Ordens verlieh. Zudem wurde der Dichter mehrfach zu Audienzen am Hof geladen, und 1865 besuchte Königin Olga, von zwei Damen aus ihrem Gefolge und einem Hündchen begleitet, eine seiner Unterrichtsstunden am Katharinenstift, wobei sie sich nach seinem Bericht „recht freundlich“ betrug (18, S. 114). Dass Mörike von diesen Ehrungen nicht viele Worte machte, versteht sich fast von selbst; gleichgültig werden sie ihm trotzdem nicht gewesen sein. – 465 –
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Künstlerfreunde Neben Mörikes alte Freunde wie Hartlaub und Mährlen traten nach der Jahrhundertmitte neue, meist jüngere, die in der Regel selbst in der einen oder anderen Weise literarisch aktiv waren. Die Dichter Johann Georg Fischer und Georg Scherer gehörten dazu, des Weiteren Karl Wolff, als Rektor des Katharinenstifts Mörikes unmittelbarer Vorgesetzter, Bernhard Gugler, Mathematiker und Musikwissenschaftler am Polytechnikum, und der Journalist und Schriftsteller Friedrich Notter, den Mörike zwar schon aus Ludwigsburger Kindertagen kannte, der aber erst viel später zu einem engen Vertrauten wurde. Einen aufrichtigen Verehrer gewann er in der Person Wilhelm Hemsens, eines Neffen von Friedrich Theodor Vischer, der in Köln als Sekretär des Kunstvereins wirkte, bevor er 1869 in Stuttgart eine Stelle als Hofbibliothekar antrat. Zu erwähnen sind außerdem Wolffs Stieftochter Luise Walther, geb. von Breitschwert, eine begabte Scherenschnittkünstlerin, die unter anderem das Stuttgarter Hutzelmännlein als Vorlage für ihre Produktionen wählte, und ihr Mann, der Oberjustizrat Franz Walther, sowie der schon mehrfach genannte Julius Klaiber, der als Autor, Redakteur und Literarhistoriker tätig war, 1866 Mörikes Nachfolge am Katharinenstift antrat und später die fragmentarische Zweitfassung des Maler Nolten vollendete. Wir wollen unsere Aufmerksamkeit aber vor allem auf einige Bekanntschaften lenken, die weit über den engeren Raum von Mörikes schwäbischer Heimat hinausreichten und damit noch einmal die Ausbreitung seines Rufs dokumentieren. Hier ist zuerst von Theodor Storm zu sprechen, der sich am 20. November 1850 mit einem Brief voll aufrichtiger Verehrung an den Dichter wandte und ihn im Sommer 1855 auch persönlich aufsuchte. Mörike reagierte jedoch ausgesprochen zurückhaltend, ließ sich gleich zu Beginn zweieinhalb Jahre Zeit für seine Antwort, ging in seinen wenigen Schreiben nur recht flüchtig auf Storms Werke ein und verstummte nach jenem Treffen in Stuttgart sogar fast völlig. Wie heikel er in zwischenmenschlichen Beziehungen sein konnte, wissen wir bereits, aber was ihn in diesem besonderen Fall so deutlich auf Distanz gehen ließ, kann nur vermutet werden. Vielleicht empfand er den überschwänglichen Enthusiasmus und die redselige Attitüde seines Briefpartners als peinlich, und er mag sich bedrängt und überfordert gefühlt haben, wenn Storm, der sehr offenherzig über sein Gefühls- und Privatleben sprach, von ihm augenscheinlich Ähnliches erwartete: „Und nun – dürfen auch wir, so weit Sie es uns vergönnen mögen, etwas Näheres von Ihnen erfahren?“19 In seiner Entgegnung deutete Mörike – 466 –
Künstlerfreunde
sein Unbehagen auf zarte Weise an, indem er Storm auf die postum veröffentlichten Schriften Bauers verwies, in denen auch mehrere seiner eigenen Briefe an diesen Freund abgedruckt waren: „so könnte es mir schon lieb seyn, daß Ihnen ein Stück Leben von mir u. meinem Kreis damit vorgelegt wird, da ich so schwer dazu komme Ihren liebreichen Wunsch in dieser Hinsicht selber zu befriedigen. Ich glaube, die Versuchung, mehr zu sagen, als wir Beide wollen, ist es vornemlich was ich dabei fürchte“ (16, S. 180). Unangenehm berührt war er wahrscheinlich erst recht, als Storm auf die selbsttherapeutischen Aspekte des Maler Nolten zu sprechen kam.20 Seine Eindrücke von der ersten und einzigen Begegnung mit dem bewunderten Dichter hielt Storm in einem kleinen Aufsatz fest, der nach Mörikes Tod gedruckt wurde.21 Wenn er versicherte, dass dieser „kurze Tag“ in Stuttgart fortan zu seinen „theuersten Erinnerungen gehören“ werde22, war das gewiss aufrichtig gemeint, aber umgekehrt scheint die persönliche Bekanntschaft Mörike keinen Anlass gegeben zu haben, seine Skepsis gegenüber Storm zu revidieren, denn in der Folgezeit blieb ein halbes Dutzend Briefe aus Norddeutschland ohne jede Resonanz. 1862 redete Storm seinen Adressaten bereits mit „Lieber schweigsamer Mann“ an und schloss mit den Worten: „Indessen reden oder schweigen Sie, ich bleibe unter allen Umständen in alter Liebe und Verehrung Ihr Th Storm“.23 Erst als er drei Jahre später den Tod seiner Frau Konstanze anzeigte, raffte Mörike sich wenigstens zu einem knappen Kondolenzschreiben auf. Zwar erwähnte er darin auch die „Reihe unbegreiflicher Versäumniße“, deren er sich dem Kollegen gegenüber schuldig gemacht habe, und versprach: „ich komme sicherlich in nächster Zeit wieder“ (18, S. 89f.), aber daraus wurde nichts, denn obwohl Storm sich danach noch zweimal meldete – zuletzt 1870 –, erhielt er keine Antwort mehr. Trotzdem bewahrte er Mörike seine Anhänglichkeit und hielt nach dessen Ableben auch noch mit seiner Witwe Kontakt. Bis in Storms Todesjahr 1888 gingen Briefe zwischen ihnen hin und her, und es ist bezeichnend, dass diese Korrespondenz jene der beiden Dichter sogar an Umfang übertrifft. Um die „innigste Künstlerfreundschaft“, die Harry Maync hier sehen wollte24, handelte es sich bei Storms äußerst einseitiger Beziehung zu Mörike sicherlich nicht. Enger gestaltete sich dessen Verbindung mit dem Münchner Literatenkreis um den kunstsinnigen Monarchen Maximilian II. von Bayern. Männer wie Emanuel Geibel und Paul Heyse, mit denen er sich im Hinblick auf die Popularität beim zeitgenössischen Lesepublikum nicht im Entferntesten messen konnte, hielten große Stücke auf Mörike, suchten ihn in Stuttgart auf und bemühten sich sogar – natürlich vergeblich –, ihn – 467 –
17. Von Mergentheim nach Stuttgart
gleichfalls nach München zu ziehen. Insbesondere mit Heyse ergab sich ein von wechselseitiger Anerkennung und Sympathie getragener Austausch. Der 1830 geborene Dichter, der im hohen Alter noch den Nobelpreis erhielt, heute aber fast in Vergessenheit geraten ist, gehörte schon in jungen Jahren zu den Starautoren deutscher Sprache und wurde 1854 auf Betreiben seines Mentors Geibel vom König in die bayrische Hauptstadt berufen. Ungemein produktiv, verfasste er neben Gedichten und Übersetzungen eine Vielzahl von Novellen und Dramen; er war mit Storm, Fontane, Keller und Heinrich Kurz bekannt. Nachdem er Anfang 1854 eine euphorische Würdigung Mörikes publiziert hatte, eröffnete er gegen Ende des Jahres den Briefwechsel mit dem „hochverehrte[n] Meister“.25 Heyse verstand es, Bewunderung und Zurückhaltung auf eine Art zu verbinden, die Mörikes Wesen entgegenkam: Seine Briefe fielen deutlich knapper aus als diejenigen Storms und breiteten vor allem nicht so viele private Details vor dem Adressaten aus. Er schickte dem Freund, den er seine „oberste Instanz bei allen dichterischen Gewissensfragen“ nannte26, einige Arbeiten zur Begutachtung, und Mörike, der bei der Lektüre „ein Gefühl der Verwandtschaft“ empfand (16, S. 230), reagierte mit Kommentaren und Verbesserungsvorschlägen.27 Die Zeit, die er darauf verwendete, reute ihn nicht, denn in seinen Augen war Heyse, wie er Hartlaub anvertraute, „einer von den Wenigen bei welchen sich eine solche Theilnahme verlohnt“ (17, S. 34). 1856 widmete Heyse ihm seine Versnovelle Die Braut von Cypern, wofür sich der Geehrte später mit der Zueignung des Gedichts Besuch in der Carthause revanchierte. Im Laufe der sechziger Jahre lockerte sich der Kontakt zwischen den beiden. Die letzten Briefe wechselten sie 1870 im Zusammenhang mit dem „Deutschen Novellenschatz“, den Heyse gemeinsam mit Kurz herausgab und in dessen vierten Band auch Mozart auf der Reise nach Prag aufgenommen wurde. Storm, Geibel und Heyse waren keineswegs die einzigen Angehörigen der jüngeren Dichtergeneration, die Mörike hochschätzten und zu ihren Vorbildern zählten. Zu den Bewunderern, die zu ihm nach Stuttgart kamen, gehörten beispielsweise auch Berthold Auerbach, der Verfasser der erfolgreichen Schwarzwälder Dorfgeschichten, und der Russe Iwan Turgenjew, „ein vielgerühmte[r] Novellist, von dem ich aber noch nichts las“, wie Mörike den Hartlaubs gestand (18, S. 76). Theodor Fontane schickte dem schwäbischen Kollegen 1860 seine druckfrischen Balladen, doch blieb es bei dieser flüchtigen Berührung. Dagegen erschien Friedrich Hebbel zweimal persönlich bei Mörike, der zu seiner Überraschung einen günstigen Eindruck von dem selbstbewussten und in mancherlei literarische Fehden ver– 468 –
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wickelten Dramatiker gewann: „Dieser Hebbel ist ein Gluthmensch durch u. durch, zugleich von einem schneidenden Verstand, und wo er Liebe, Anerkennung spürt wie bei mir, nichts weniger als herb u. verletzend wofür er insgemein gilt, vielmehr recht gut und menschlich; äußerst beredt, auf alles Mögliche mit gleicher Lebhaftigkeit eingehend“ (17, S. 205). Hebbels Nibelungen nannte Mörike gegenüber Karl Mayer ein „außerordentl[iches] Werk“ (S. 198), und auch im Gespräch mit dem Autor scheint er nicht mit Anerkennung gespart zu haben, wie dessen Tagebuch von 1862 zu entnehmen ist: „Eduard Mörike, dem ich die Nibelungen zugeschickt hatte, sagte mir buchstäblich: ‚Mir war bei Ihren Nibelungen, als ob plötzlich ein Felsblock durchs Dach gefallen sei. Dort ist der Sofa, dort lag ich, dort empfand ich die Schauer, die allein das Große hervorruft, das zugleich schön ist […].‘“28 Höflichkeit und diplomatische Rücksichtnahme mögen hierbei zwar eine gewisse Rolle gespielt haben, denn in einem Brief an den Literaturhistoriker Emil Kuh äußerte sich Mörike später differenzierter und deutlich weniger enthusiastisch über dieses „merkwürdige Werk“ (19.1, S. 132). Doch das von Hebbel wiedergegebene Urteil deutet immerhin an, dass Mörike dessen monumentale dramatische Schöpfung nach einem Muster rezipierte, das uns schon aus anderen Kontexten vertraut ist: als eine gewaltige Erscheinung nämlich, deren beängstigende Ausstrahlung durch künstlerische Meisterschaft, eben durch Schönheit, gemildert wird, weshalb sie vom Betrachter mit einem reizvollen „Schauer“ als ästhetischer Genuss erlebt werden kann. Werfen wir zuletzt noch einen Blick auf zwei bedeutende Vertreter der bildenden Kunst, mit denen Mörike in vorgerücktem Alter in Verbindung stand! Der Dichter besaß auf diesem Gebiet keine systematischen Kenntnisse und formulierte erst recht keine einschlägigen theoretischen Reflexionen. Was ihm an Bildern und Stichen vor Augen kam oder etwa auch geschenkt wurde, beurteilte er nach seinem persönlichen Geschmack. Einer seiner Favoriten war seit jeher der klassizistische Stuttgarter Maler Eberhard Wächter, den er als Schüler und Student gerne in seinem Atelier aufsuchte. Ihm ist ein mit seinem Namen überschriebenes Sonett von 1828 gewidmet, das ihn in seiner Werkstatt zeigt, „[g]estärkt am reinen Athem des Homer, / Von Goldgewölken Attikas umflossen“ (1.1, S. 188). Im Übrigen hatte Mörike aber lange Zeit nur begrenzte Möglichkeiten, Werke der bildenden Kunst im Original zu betrachten, und sah sich daher überwiegend auf Reproduktionen verwiesen. Als 1847 eine Gruppe von Dresdner Künstlern ihrer Begeisterung über die Idylle vom Bodensee Ausdruck verlieh, musste er seinen Verehrern gestehen, dass ihm ihre Namen kaum – 469 –
17. Von Mergentheim nach Stuttgart
etwas sagten, „weil ich, seit vielen Jahren, leider, wo nicht von allem, doch von einem vielseitigeren Kunstgenusse abgeschnitten, Journalberichte über die Erscheinungen auf diesen Gebieten nicht mehr fleißig las u. drum das Trefflichste, sammt seinen Urhebern für mich so gut wie nicht vorhanden war“ (15, S. 134). Das änderte sich erst in den Stuttgarter Jahren, als er in der Residenz das Museum der bildenden Künste und die Ausstellungen des Kunstvereins besuchen konnte. Zu dem erwähnten Kreis in Dresden gehörte auch Ludwig Richter, der 1855 ein halbes Dutzend Holzschnitte zur Illustration des Alten Thurmhahns schuf. Mörike nahm seinerseits eine Lithographie Richters zum Anlass für das Gedicht L. Richters Kinder-Symphonie, das er dem Künstler am 15. Oktober 1862 mit einem respektvollen Schreiben zuschickte. Auch für Der Hirtenknabe und Zum fünften Februar 1863 dienten ihm Werke von Richters Hand als Vorlage. Begegnet sind sich die beiden jedoch nie; die „gemeinschaftliche Reise“, von der die Kinder-Symphonie erzählt, nannte Mörike in seinem Brief ausdrücklich eine „kühne Fiktion“ (17, S. 226). Noch um einiges produktiver wurde das Zusammenwirken von Dichtung und bildender Kunst in Mörikes Beziehung zu dem Münchner Maler Moriz von Schwind, die überdies zu einer echten Freundschaft gedieh. Mörike ergriff hier ausnahmsweise einmal die Initiative, indem er Schwind am 9. November 1863 um eine Illustration zu seinem Gedicht Erinna an Sappho bat, die mit dem Text in der „Freya“ abgedruckt werden sollte.29 Schwind ging zwar nicht auf den Vorschlag ein – und in der Tat ist gerade Erinna an Sappho ein denkbar ungeeignetes Sujet für eine bildliche Darstellung –, aber es entwickelte sich ein reger Briefwechsel, der bis zum Tod des Malers im Jahre 1871 andauerte. Mehrfach kam Schwind auch selbst nach Stuttgart, Lorch und Nürtingen, um Mörike zu besuchen. Das gute und allezeit gänzlich ungetrübte Einvernehmen zwischen den beiden Männern beweist, dass Mörike seine üblichen Antipathien und Bedenken in Einzelfällen durchaus zu überwinden vermochte, denn Schwind war keine Persönlichkeit, wie er sie normalerweise schätzte. „Er ist allerdings ein unruhiger Gast, der einen auch ziemlich in Athem erhält“, schrieb er 1868 aus Lorch, wo der Münchner Freund sich gerade für eine Weile aufgehalten hatte, an Hartlaub. „In seinem Wesen liegt eine gewiße Gewaltthätigkeit, vor welcher die Meisten wohl scheu zurückweichen. Das Genialische an einem Menschen aber hab ich nicht leicht so wie bei ihm empfunden“ (19.1, S. 80). Schwind teilte überdies Mörikes Vorliebe für das Märchenhafte und Wunderbare ebenso wie seinen verspielten Humor, der alle Schattierungen von der subtilen bis zur grotesken Komik umfasste. – 470 –
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Sicherlich empfand Mörike auch das Interesse des Malers an seinen Dichtungen als schmeichelhaft: Schwind fertigte Zeichnungen zu den Erzählungen Lucie Gelmeroth, Der Bauer und sein Sohn und Historie von der schönen Lau sowie zu mehreren lyrischen Texten an. Geradezu erschlagen von all diesen künstlerischen Wohltaten, beschloss Mörike endlich, dem Freund als Dank „in Form einer poet. Epistel etwas Verbindliches zu sagen“ (19.1, S. 24), und verfasste das Gedicht An Moriz von Schwind30, das der Adressat mit einem Brief vom 26. Februar 1868 erhielt.31 Beginnend mit der Zeile „Ich sah mir deine Bilder einmal wieder an“, beschreiben die Verse zunächst ausführlich die Illustrationen zum Grimm’schen Märchen von den sieben Raben, die Schwind dem Dichter schon anderthalb Jahre zuvor geschickt hatte32, bevor sie auf eine „zweite Sendung“ des Künstlers zu sprechen kommen, die im Januar 1867 eingetroffen war und aus Arbeiten zu Mörikes eigenen Werken bestand.33 Es handelte sich um drei Blätter, von denen eines dem Märchen vom sichern Mann und ein anderes der Legendendichtung Erzengel Michaels Feder galt, während das letzte mehrere Motive aus verschiedenen Gedichten kombinierte. Ich knüpfte seufzend endlich meine Mappe zu, Saß da und hing den Kopf. Warum? Gesteh ich dir Die große Torheit? Jene alte Grille war’s, Die lebenslang mir mit der Klage liegt im Ohr, Daß ich nicht Maler werden durfte. Maler, ja! Und freilich keinen gar viel schlechteren als dich Dacht ich dabei: Du lachst mit Recht. Doch wisse nun: Aus solchem Traumwahn freundlich mich zu schütteln, traf, O Wunder, deine zweite Sendung unversehns Am gleichen Morgen bei mir ein! – Du lässest mich, O Freund, was mir für mein bescheiden Teil an Kunst Gegeben ward, in deinem reinen Spiegel sehn: Und wie! – Davon schweig ich für heut. Nur dieses noch: Den alten Sparren bin ich los für alle Zeit, So dünkt es mich – es wäre denn, daß mir sofort Der böse Geist einflüsterte, dies Neuste hier Sei meine Arbeit lediglich: die Knospe brach Mit einemmal zur vollen Rose auf – man ist Der großen Künstler einer worden über Nacht.
Diese Schlusspartie des Gedichts treibt ein vertracktes Spiel mit der Beziehung zwischen bildender Kunst und Poesie. Ausgangspunkt der anfangs stark melancholisch getönten Reflexion ist der in die Bewunderung ge– 471 –
17. Von Mergentheim nach Stuttgart
mischte Neid des Dichters, der selbst am liebsten Maler geworden wäre. Von einer solchen Sehnsucht spricht Mörike auch in seinem Brief an den Dresdner Künstlerverein von 1847: „War ich doch lang mit meinem Schicksal darüber unzufrieden daß es nicht einen Maler aus mir machen wollte, und äußert sich der ursprüngliche Trieb doch heut noch unwillkührlich mit der Schreibfeder auf jeder Concept-Unterlage!“ (15, S. 134) In der Tat zeichnete er sehr gerne – rund 450 Blätter sind überliefert, teils mit Alltagsmotiven, teils mit satirisch verzerrten oder phantastischen Figuren.34 Ob diese meist ganz spontan ausbrechende Lust aber wirklich der kärgliche Ersatz für einen unerfüllten Lebenstraum war, ist schwer zu sagen. Im Blick auf das Gedicht sollte man jedenfalls bedenken, dass das lyrische Ich trotz aller autobiographischen Züge, die es zweifellos aufweist, doch nicht mit seinem Schöpfer identisch ist und dass sein latentes Konkurrenzverhältnis zu dem Empfänger der Epistel in erster Linie eben um jenes Spieles willen aufgebaut wird. Denn in den letzten Versen rächt sich der Sprecher für den widerwilligen Verzicht auf seinen „alten Sparren“, indem er den Maler gegenüber dem Dichter zurücksetzt: Ohne dessen Poesie wären die Bilder, die sie nachschaffen, ja nie zustande gekommen, und ein Spiegel, sei er auch noch so „rein“, kann bekanntlich nichts zeigen, was nicht auch im Original vorhanden ist! Gleicht die Kunst des Zeichners einer prächtig aufgeblühten „Rose“, so führt sie doch lediglich in organischer Folgerichtigkeit aus, was in der „Knospe“ der Dichtung bereits angelegt war, und demnach kann sich der Poet mit einem gewissen Recht auch für den wahren Urheber der Bilder halten. Diesen Gedanken, in dem der unterschwellige Neid seinen höchsten Triumph feiert, führt das lyrische Ich freilich nur im Konjunktiv als bloße Möglichkeit ein. Zudem könnte er ihm, wie es selbst sagt, allenfalls vom „böse[n] Geist“ suggeriert werden; damit ist er als ein Produkt frevelhafter Hybris von vornherein in seiner Geltung relativiert. So liegt die Pointe der Epistel darin, dass sie eine klare Stellungnahme zur Hierarchie der Künste verweigert und letztlich beide in ihrem Eigenrecht, zugleich aber in ihrer fruchtbaren Wechselwirkung bestehen lässt. Gerade hier ist wohl auch der Gewinn zu suchen, den Mörike aus der Freundschaft mit Schwind zog: Er genoss den schöpferischen Austausch mit einem Künstler, der einem ganz anderen Fach angehörte und den er in seinem Schaffen und seinen Vorlieben dennoch als wahlverwandt erkannte.
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18. Das späte Erzählwerk M
örikes späte Erzählungen erschienen in rascher Folge: 1853 wurden Die Hand der Jezerte und Das Stuttgarter Hutzelmännlein publiziert, zwei Jahre später kam Mozart auf der Reise nach Prag heraus. Aus diesen Daten könnte man den Eindruck gewinnen, als hätte die Übersiedlung nach Stuttgart bei dem Dichter einen mächtigen Produktivitätsschub ausgelöst, aber die Dinge liegen doch etwas komplizierter, denn die Ursprünge der genannten Werke reichen durchweg weit zurück. So datiert eine frühe Fassung von Die Hand der Jezerte aus dem Jahre 1839, die erste Konzeption für das Stuttgarter Hutzelmännlein entstand vielleicht bereits während der Arbeit an der Novelle Der Schatz, und Überlegungen zu einer Erzählung über Mozart muss es spätestens 1847 gegeben haben. Von Mörikes Angewohnheit, gewisse Stoffe und Ideen über Jahre mit sich herumzutragen, war schon des Öfteren die Rede. Anlässlich eines Lustspielprojekts, das am Ende gar nicht verwirklicht wurde, schrieb er 1832 sehr treffend an Vischer: „Leider aber bin ich in dergl. weitergreifenden Vorsätzen einer von den ärgsten Prokrastinateuren“ (11, S. 264), ein Mensch also, der alles auf die lange Bank zu schieben pflegt. Und da er zum Schreiben der rechten Stimmung und der Augenblicke echter Muße bedurfte, konnte es jederzeit vorkommen, dass er auch die Ausarbeitung eines bereits begonnenen Werkes für geraume Zeit unterbrach. Mörike war nicht der Mann, irgendetwas zu erzwingen, und die Herren Cotta oder Schweizerbart mussten sich eben in Geduld üben, wenn ein längst angekündigtes Manuskript ihres Autors auf sich warten ließ. Der Umzug in die Residenzstadt 1851 brachte den Dichter demnach keineswegs dazu, völlig neue literarische Pläne auszuhecken, vermittelte ihm aber zumindest die nötige Energie, um einige Unternehmungen, die schon länger reiften, endlich abzuschließen. Entstehungsgeschichtlich sind die Erzählwerke der fünfziger Jahre nicht allzu weit von denen der dreißiger entfernt, und dieser Umstand liefert auch eine Erklärung für die – 473 –
18. Das späte Erzählwerk
auffallende Kontinuität, die sich in Mörikes Schaffen auf dem Gebiet der Prosa beobachten lässt. Denn obwohl jede seiner Erzählungen einen ganz eigentümlichen Charakter aufweist, kann man im Hinblick auf Gattungsvorlieben, Themenschwerpunkte und ästhetische Konzepte keinen prinzipiellen Bruch zwischen den frühen und den späten Schöpfungen feststellen. Von den aktuellen literarischen Tendenzen, die sich im deutschen wie im europäischen Raum um die Jahrhundertmitte abzeichneten, blieb Mörike jedenfalls unberührt, und es ist sehr fraglich, ob er sie überhaupt zur Kenntnis nahm. Das gilt beispielsweise für die realistische Programmatik, die Julian Schmidt und Gustav Freytag in der Zeitschrift „Die Grenzboten“ entfalteten, und für die Großstadtliteratur, mit der Autoren wie Charles Dickens und Eugène Sue auf die tiefgreifenden Umbrüche im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung reagierten. Mörikes späte Erzählungen bewegen sich noch ganz im geistigen und literarischen Horizont der Biedermeierzeit und demonstrieren dadurch augenfällig, wie fragwürdig es ist, bestimmte Daten zu festen Grenzscheiden zwischen einzelnen Epochen der Literaturgeschichte zu erheben.
Ein Bild der Unschuld: Die Hand der Jezerte Am 31. März 1839 schickte Mörike seinem Freund Hartlaub den nur wenige Seiten umfassenden Anfang einer Erzählung mit dem Titel Arete und schrieb dazu: „Was hälst Du von beiliegendem Fragment? Ich habe es aus dem Lateinischen des Äneas Sylvius übersezt. In dem hier fehlenden Schluß ist zur Entdeckung des Verbrechens ein Motiv gebraucht, das mir nicht recht gefällt. Wärs wohl der Mühe werth, daß ich auf eine Auskunft dächte und das Geschichtchen etwa im Morgenblatt gelegentl. abdrucken ließe?“ (13, S. 28) Der Hinweis auf den Humanisten Enea Silvio Piccolomini, der 1458 zum Papst gewählt wurde und sich als solcher Pius II. nannte, ist eine jener scherzhaften Masken, hinter denen Mörike sich so gerne verbarg, denn in Wirklichkeit findet sich in den Schriften dieses Autors nichts, was auch nur von weitem an Mörikes „Geschichtchen“ erinnert, und Hartlaub fiel offenbar auch nicht auf die spielerische Irreführung herein. Der Titel des Fragments leitet sich von der Figur der Gärtnerstochter her, die von Mörike erst später Jezerte getauft wurde und hier eben noch Arete heißt, was im Griechischen so viel wie „Tugend“ oder „Vortrefflichkeit“ bedeutet. Der Text bricht mitten im Satz ab, als Jedanja soeben auf Geheiß seiner Geliebten das trügerische – 474 –
Ein Bild der Unschuld: Die H and der Jezerte
Geständnis abgelegt hat: „Wie nun dem Könige gemeldet ward wessen der Jüngling sich schuldig bekannte, wüthete er und zerriß sein Gewand und“. Es folgt, vom Übrigen abgesetzt, noch ein knapper Ausblick auf den geplanten Fortgang der Handlung: „Die Wahrheit kommt an Tag, der Jüngling wird begnadigt, der Naira die Hand abgehauen und sie selber als Bettlerin in die weite Welt hinaus gestoßen. Aretes marmorne Hand aber behält für immer einen Veilchen Duft, der den ganzen Tempel erfüllt“ (6.2, S. 89). Danach erwähnte Mörike das Werk jahrelang nicht mehr. Unklar ist, wann er das Fragment wieder vornahm, um es zu überarbeiten und die Geschichte fortzusetzen, wobei er die archaische Grausamkeit des ursprünglich vorgesehenen Schlusses zugunsten einer versöhnlicheren Version abmilderte. Jedenfalls erschien Die Hand der Jezerte 1853 im Stuttgarter „Kunst- und Unterhaltungsblatt für Stadt und Land“, und drei Jahre später fand der Text, nochmals leicht revidiert und mit dem Untertitel „Märchen“ versehen, Aufnahme in Mörikes Sammelband „Vier Erzählungen“. Die Gattungsbezeichnung dürfte eine Verlegenheitslösung gewesen sein; in einem Brief von 1855 nannte der Dichter die Jezerte vorsichtiger „eine Art Märchen in alterthümlichem Styl“ (16, S. 209). Die Forschung wusste mit dieser Erzählung seit jeher wenig anzufangen, und es ist durchaus symptomatisch, wenn Gerhard Storz sie in seiner Mörike-Monographie als bloße „Stilübung“ abtut.1 Die Hand der Jezerte scheint einen Fremdkörper in Mörikes Prosaschaffen zu bilden, der sich schwer einordnen und interpretieren lässt. Das subtile Spiel mit dem Leser durch humorvolle oder ironische Brechungen, wie sie uns in anderen Werken des Autors begegnen, fehlt hier ebenso wie der Aspekt des geselligen Gesprächs, und an die Stelle der bei Mörike sonst so beliebten episodischen Einschübe und Rückblenden tritt ausnahmsweise eine straffe, klar strukturierte Handlungsführung. Regionale Bezüge sucht man gleichfalls vergebens: Die fiktive Welt, in der Jezerte und Athmas, Naïra und Jedanja agieren, schwebt in einer unbestimmten Ferne, in der griechisch-antike, christliche und orientalische Elemente miteinander verschmelzen; dazu passt eine Sprache, die mit ihren Anklängen an die Diktion der Bibel in der Tat höchst „alterthümlich“ wirkt. Biblischen Vorbildern sind auch einige Figurennamen verpflichtet, denn im Alten Testament gibt es einen Jedaja (!) (Neh 3,10) und einen Eldad (Num 11,26f.). Athmas heißt dagegen eine Gestalt aus der griechischen Sage. Diese Anleihen verweisen jedoch nicht auf tiefere intertextuelle Bezüge und dienen wohl nur dazu, die zugleich archaische und exotische Atmosphäre zu verstärken. – 475 –
18. Das späte Erzählwerk
Die Sonderstellung der Erzählung in Mörikes Werk relativiert sich aber sogleich, wenn man ihr fremdartiges Gewand einmal beiseite lässt und den Blick allein auf die Kernthemen richtet, denn mit der Frage nach Treue und Aufrichtigkeit in der Liebe, nach Lüge, Täuschung und Verrat in zwischenmenschlichen Beziehungen bewegen wir uns in einer ganz vertrauten Sphäre. Anhand dieser Schwerpunkte und unter sorgfältiger Beachtung der narrativen Binnenstruktur kann die Geschichte sehr wohl interpretierend erschlossen werden. Sie erweist sich dann als eine kunstvolle Variation gewisser Lebensthemen des Dichters Mörike. Die kurze Eingangssequenz, die bis zu Jezertes Tod reicht, beschwört mit der Schilderung einer wundersamen Harmonie von Mensch und beseelter Natur in „des Königes Garten“ (6.1, S. 109) Assoziationen an das Paradies herauf. In ihrer Schönheit und Reinheit verkörpert Jezerte, die begreiflicherweise kaum individuelle Konturen gewinnt, den Menschen vor dem Sündenfall. Nicht von ungefähr wird dieser Inbegriff der Unschuld im Text mehrfach als „Kind“ bezeichnet, und ebenso konsequent ist es, dass Jezerte selbst nie in wörtlicher Rede spricht, denn wo nicht geredet wird, gibt es auch keine Lüge. Einen tiefen Einschnitt bedeutet aber der Beginn der Liebesbeziehung zu Athmas, die mit dem Übertritt in die gesellschaftliche Ordnung und der Erfahrung der Sexualität schon aus dem Paradies hinausführt. Jezerte, die „keinen Mann gekannt, bis sie der König gefunden“ (S. 112), kommt fortan „nicht mehr von seiner Seite Tag und Nacht“ (S. 109). Jetzt macht sich auch sogleich die Verbindung von Eros und Tod geltend, die aus der Tradition des christlichen Denkens stammt und bei Mörike etwa in den Peregrina-Gedichten eine große Rolle spielt. Sie allein vermag Jezertes frühes Ende zu erklären, das die Erzählung auf der expliziten Ebene nicht näher motiviert: „Über’s Jahr aber wurde Jezerte krank, und half ihr nichts, sie starb in ihrer Jugend“ (S. 109). Doch im Tode wird die Protagonistin, die nun allen irdischen Gebrechen entrückt ist, vollends zur Heiligen: Ihrem Quell schreibt man heilende Kräfte zu, ein Duftwunder bestätigt ihre unwandelbare Treue, und schließlich erscheint sie auf der öden Insel, um die Sünderin Naïra zu entsühnen. Und was nach dem Ende des paradiesischen Ursprungszustands im Leben nicht dauerhaft bewahrt werden kann, nämlich Unschuld und Reinheit, rettet sich nun in die Kunst, denn Athmas lässt in dem über Jezertes Grab errichteten Tempel ihr „Bildniß“ aufstellen, gefertigt „aus weißem Marmor, ihre ganze Gestalt, wie sie lebte, ein Wunderwerk der Kunst“ (S. 110). Nach der abrupten Wendung, die Jezertes Hinscheiden markiert, tauchen wir in eine ganz andersartige Welt ein, in der Intrigen, Verrat und – 476 –
Ein Bild der Unschuld: Die H and der Jezerte
Täuschung herrschen. Hier tritt Naïra auf den Plan, von der bis dahin bezeichnenderweise gar nicht die Rede war, „eine andere Buhle“ des Königs (S. 110), von Eifersucht auf die verstorbene Rivalin getrieben und auch sonst in jeder Hinsicht Jezertes Widerpart: „keck und sehr verschlagen“ (S. 111), zeigt sie Willensstärke und Zielstrebigkeit und weiß die Menschen mit trügerischen Reden zu manipulieren; ihre Welt ist nicht der Garten, sondern der Palast. Dass Naïra einen Anschlag auf die Statue im Tempel ausheckt, um Athmas das „Bild“ Jezertes zu ‚verderben‘ (S. 110), bestätigt die symbolische Bedeutung dieses Kunstwerks, denn mit dem „Bild“ ist hier in wohlkalkulierter Doppeldeutigkeit sowohl das marmorne Standbild als auch die von ihm repräsentierte ideale Vorstellung des Königs von seiner toten Geliebten gemeint. Ebenso folgerichtig ist Naïras Anweisung an Jedanja, ausgerechnet die Hand der Statue abzubrechen, hatte doch Jezerte Athmas zu Lebzeiten geschworen, dass er ihr erster und einziger Geliebter und sie somit ‚rein‘ sei – und einen Eid pflegt man bekanntlich mit erhobener Hand zu bekräftigen. Athmas, durch Jedanjas Aussage über seine angebliche Liebschaft mit Jezerte verunsichert, sieht deren „Bild“ tatsächlich unwiderruflich versehrt und beschließt, mit dem „Bildniß“ im Tempel entsprechend zu verfahren: „Wann jetzt die Zeit der heiligen fünf Nächte kommt, will ich’s versenken in das Meer, nicht allzu fern der Stadt. Es sollen sich ergötzen an seiner Schönheit holde Geister in der Tiefe, und der Mond mit täuschendem Schein wird es vom Grund herauf heben. Dann werden die Schiffer dieß Trugbild sehn und werden sich des Anblicks freuen“ (S. 113). Hier offenbart sich der Doppelsinn der Rede vom schönen Schein der Kunst: Was zuvor als Abbild und mithin als sinnlich greifbare Erscheinung von Jezertes Reinheit galt, hat sich für den König in eine Täuschung, ein bloßes „Trugbild“ verwandelt. Das Mirakel im Tempel, das die Unschuld der Verstorbenen bezeugt, belehrt ihn aber rechtzeitig eines Besseren, und so ist Jezertes „Bild“ wieder intakt – auf beiden Bedeutungsebenen, denn inzwischen hat „der Grieche“ (S. 112), der bildende Künstler par excellence, auf Athmas’ Befehl auch „das abgebrochene Glied […] mit einer goldenen Spange wieder wohl befestigt […], daß Niemand einen Mangel hätte finden können, der es nicht wußte“ (S. 113). Naïra dagegen ereilt die verdiente Strafe; ihre schwarz verfärbte Hand ist das unübersehbare Stigma der Lüge und der Schuld. Zwar fühlt die Übeltäterin aufrichtige Reue, doch eine Rückkehr in den Stand der Unschuld ist augenscheinlich nur im Tode denkbar: Erst an der verstorbenen Naïra findet man „die Hände […] alle beide weiß wie der Schnee“ (S. 116). Die erzählte Handlung folgt also – 477 –
18. Das späte Erzählwerk
einem Dreischritt, der von dem paradiesischen Ursprungszustand durch eine Welt des Trugs zur wiedergewonnenen Reinheit des Todes führt. Deshalb gestaltet Athmas auch die Umgebung von Naïras Grab auf der Insel so um, dass sie an die Szenerie des Anfangs erinnert, indem er „die Wildniß lichten und Gärten anlegen“ lässt (S. 117). Will man Die Hand der Jezerte einer bestimmten Gattung zuordnen, so kommt am ehesten die Legende in Betracht, die von dem wunderbaren Wirken eines verstorbenen tugendhaften Heiligen unter den sündigen Menschen berichtet. Als wichtiger für das Verständnis des Werkes erweist sich indes das zentrale Themenfeld von Treue und Liebesverrat, Wahrheit und Betrug, das Mörike zeitlebens so intensiv beschäftigt hat. Die Geschichte kreist um das Ideal der Unschuld und Reinheit, das in einer von Leidenschaften und Intrigen verwirrten Welt nicht überdauern kann, aber im schönen Schein der Kunst aufbewahrt bleibt, um das Leiden an der Unvollkommenheit menschlicher Beziehungen und die Sehnsucht nach Erlösung. Die Hand der Jezerte ist in mancher Hinsicht Mörikes eigenwilligste und am wenigsten ‚typische‘ Erzählung, andererseits jedoch durch eine ganze Reihe thematischer und motivischer Bezüge aufs engste mit dem Kontext seines Gesamtwerks verknüpft.
Märchenhafte Reifungsgeschichten: Das Stuttgarter Hutzelmännlein „Die gegenwärtige Erzählung“, schreibt Mörike im Vorwort zum Stuttgarter Hutzelmännlein, „war schon längst, als Seitenstück zu einer ähnlichen, entworfen und blieb unausgeführt, bis dem Verfasser neuerdings die Skizze wieder in die Hände fiel und ihn zur guten Stunde an eine fast vergessene kleine Schuld erinnerte“ (6.1, S. 121). Das Pendant, auf das er hier anspielt, wird in einer Fußnote ausdrücklich genannt: Es ist die Märchennovelle Der Schatz, die 1835 publiziert worden war. In der Tat muss Mörike das Hutzelmännlein-Projekt schon lange im Kopf gehabt haben; Hermann Kurz wusste jedenfalls bereits um 1840 von dem zentralen Motiv der Glücksschuhe und offenbar auch von der für die Schlusspartie vorgesehenen Seiltanz-Szene.2 Die frühe „Skizze“ ist zwar nicht überliefert, aber sie könnte gemeint gewesen sein, als Mörike im Juni 1851 „die Entwürfe zweier ältern Geschichten“ erwähnte und hinzufügte, er habe nun „den unganzen Plan zu der Einen vollends rund u. ins Detail“ ausgestaltet (16, S. 29). Einige Wochen später sprach er ebenfalls von dem – 478 –
Märchenhafte Reifungsgeschichten: Das Stuttgarter Hutzelmännlein
neuerdings vollendeten „alten wiedervorgesuchten Plan zu einer heitern Erzählung in Prosa“, bei der es sich wahrscheinlich um das Hutzelmännlein handelte (S. 45). Im Blick auf die Ausarbeitung gab sich der Dichter zwar skeptisch, „denn hier in Stuttg. ist für so etwas wenig Aussicht“ (S. 45), aber diesmal unterschätzte er ausnahmsweise seine Energie: Obwohl wegen „Unwohlseyn“ und mangelnder produktiver Stimmung noch einige Unterbrechungen eintraten (S. 131), wurde Mörikes umfangreichste Erzählung im Laufe des Jahres 1852 abgeschlossen und im Mai 1853 veröffentlicht. Die Rezensionen, die übereinstimmend den volkstümlichen Charakter des Werkes, seine heitere Naivität und ganz besonders den starken regionalen Bezug hervorhoben, fielen fast durchweg positiv aus, und auch der Verkaufserfolg, der schon 1855 eine zweite Auflage notwendig machte, konnte sich sehen lassen. Weniger Anklang fand eine prachtvolle Teilausgabe unter dem Titel Die Historie von der Schönen Lau, die 1872 (mit dem Datum des Folgejahres) erschien und mit sieben Radierungen von Julius Naue nach Umrisszeichnungen seines inzwischen verstorbenen Lehrers Moriz von Schwind ausgestattet war.3 Der Tenor der zeitgenössischen Besprechungen ist von dem schon damals in der Mörike-Rezeption weit verbreiteten Klischee der gemütvollen Harmlosigkeit geprägt, das gerade diese Erzählung mit ihrem treuherzigen, dialektal gefärbten Plauderton und den vielen eingestreuten Sprichwörtern und stehenden Redewendungen auf den ersten Blick auch tatsächlich zu bestätigen scheint. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die lockere Struktur des Märchens, in dem jene episodischen Einschübe und Abschweifungen, die wir in Die Hand der Jezerte vermissten, in großer Zahl zu finden sind, so dass man das Stuttgarter Hutzelmännlein leicht für das Erzeugnis einer übersprudelnden, aber um ästhetische Maßstäbe unbekümmerten Fabulierfreude halten könnte. David Friedrich Strauß, der von dichterischen Schöpfungen eine strengere Organisation forderte, schimpfte denn auch über das „mißlungene Produkt einer verwilderten oder besser vergrillten Phantasie“ und tadelte vor allem „den Mangel an Einheit – es ist ein wahres Mausnest von Fabeleien, die durch einander krabbeln, ohne Plan, ohne Schürzung und Lösung eines Knotens“.4 Die neuere wissenschaftliche Forschung ist allerdings zu differenzierteren Einsichten gelangt, die sowohl die erzählerische Komplexität des Werkes als auch seine psychologische Tiefendimension betreffen. Verwiesen sei vor allem auf die Studie von Frank Vögele, die sich auch detailliert mit den älteren Beiträgen zum Hutzelmännlein auseinandersetzt.5 – 479 –
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Bei näherer Prüfung entpuppt sich bereits die sprachliche Gestaltung als erstaunlich kunstvoll. Von schlichter Volkstümlichkeit der Diktion kann in Wahrheit keine Rede sein, denn Mörike bezog sich mit seinen Anleihen beim Schwäbischen nicht einfach auf die gesprochene Mundart, sondern benutzte auch das im Vorwort erwähnte Schwäbische Wörterbuch von Johann Christoph Schmid, ein Produkt gelehrten Fleißes also. Überdies ließ er neben den dialektalen Zügen noch allerlei altertümliche Wendungen, die bisweilen an die Lutherbibel erinnern, in sein Märchen einfließen und schuf damit eine hochgradig artifizielle Kunstsprache, die später sogar bei Thomas Mann Neid und Bewunderung hervorrief.6 Wir haben es im Hutzelmännlein demnach mit einer jener vielen Sprachmasken zu tun, die Mörike so souverän zu handhaben verstand – man denke nur an Die Hand der Jezerte, die im selben Jahr erschien und doch einen ganz anderen Ton aufweist! Die Freude am kreativen Spiel mit der Sprache dürfte eine wichtige Antriebskraft bei der Entstehung von Mörikes Märchen gewesen sein, dessen Figuren in ähnlichem Maße durch die eigentümliche ‚Physiognomie‘ ihrer Rede, ihrer Sprachgebärde geprägt sind wie die älteren Gestalten Wispels oder des Buchdruckers. Die spezifische Sprachgestalt verbindet sich zudem aufs engste mit Zeit und Raum der Erzählung, denn während der altdeutsche Einschlag auf die Epoche des Spätmittelalters verweist, in der die Handlung spielt, unterstreicht das dialektale Kolorit den regionalen Bezug des Textes, eben seinen „schwäbischen Charakter“, von dem schon das Vorwort spricht (6.1, S. 121). Gerade auf die geographische Verankerung des Geschehens und die Wiedererkennungseffekte, die sie bei seinen württembergischen Lesern hervorrufen musste, legte Mörike großen Wert: „Ich habe so viel Lokalitäten u. Namen als möglich gebraucht“, betonte er in einem Brief (16, S. 130). Dabei ist zum einen an die Ortschaften zwischen Stuttgart und Ulm zu denken, die der Schustergeselle Seppe auf seiner Wanderung passiert, zum anderen aber an einige Schauplätze in Stuttgart selbst, die in der Realität verwurzelt sind. Das gilt zum Beispiel für jenes „merkwürdige alte Haus“ am Marktplatz, das Seppe vom Grafen als Geschenk erhält (6.1, S. 207) und das bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wirklich existierte: „Gestern auf einem kurzen Spaziergang durch die Stadt stand ich […] einen Augenblick auf dem Markt vor dem alten Erkerhaus, welches am Schluß der Geschichte vorkommt u. sah mir die 2 Heiligenbilder an den Ecken an (St. Christoph u. Maria mit dem Kind u. Johannes)“ (16, S. 129f.). Auf die Bedeutung Stuttgarts und Schwabens als Inbegriff der Heimat für den wandernden Gesellen werden wir noch zurückkommen. – 480 –
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Dass der Leser das Märchen keineswegs für eine einfache volkstümliche Geschichte halten soll, beweist der Anhang, dessen Worterklärungen und Erläuterungen – teils mit Quellenangabe! – den reflektierten Umgang des Verfassers mit der Sprache wie auch mit verschiedenen lokalen Eigenarten und Überlieferungen belegen. Doch dieser Anhang leistet noch mehr, da er den Haupttext bisweilen sogar korrigiert, etwa durch den Hinweis, die Opfergaben, die man früher in den Blautopf geworfen habe, seien in der historischen Realität „keiner Nymphe“ dargebracht worden (6.1, S. 211), oder durch die Feststellung, dass der See, an dem Vrone ihre Wäsche reinigt, „[i]n Wirklichkeit“ erst 1393 und folglich mehrere Jahrzehnte nach dem Zeitraum der erzählten Handlung angelegt wurde (S. 215). Solche Spannungen zwischen Märchenerzählung und gelehrtem Kommentar bewirken eine massive Fiktionsbrechung, oder anders ausgedrückt: Sie legen die Freiheiten offen, die sich der Dichter des Hutzelmännleins genommen hat, und unterstreichen damit den Charakter des Werkes als eines künstlerischen Spiels, das nicht an die Gesetze der Realität gebunden ist. Die von Mörike ausdrücklich hervorgehobene Parallele zum Schatz ist am leichtesten in der Geschichte Seppes zu greifen, in der man unschwer das vertraute Verlaufsmuster des Glücksmärchens wiedererkennt. Aber anders als in der älteren Erzählung übernimmt der Autor in seinem späteren „Seitenstück“ auch die für das Volksmärchen charakteristische Selbstverständlichkeit des Wunderbaren, wenn Kobolde und Wasserfrauen, wahrsagende Papageien, unsichtbar machende Krakenzähne und nachwachsende Hutzelbrote von den Figuren ohne jedes Erstaunen hingenommen werden und sich bruchlos in die Welt des spätmittelalterlichen Schwaben einfügen. Volksmärchenhaft muten des Weiteren manche Einzelmotive an, zum Beispiel die Wanderschaft des Helden oder die hilfreichen Zauberdinge, mit denen er beschenkt wird. Und doch hat Mörikes Werk, aufs Ganze gesehen, mit dem Volksmärchen, das er dank seiner eifrigen Lektüre der Grimm’schen Sammlung sehr genau kannte, wenig gemein. Fiktionsbrechungen wären dort beispielsweise ebenso undenkbar wie die Ansiedlung des Geschehens in einer historischen Zeit und an realen Schauplätzen oder auch das relativ differenzierte Seelen- und Gefühlsleben der Protagonisten. Gänzlich untypisch für ein Volksmärchen ist außerdem der komplexe Aufbau des Hutzelmännleins mit seinen unterschiedlichen Handlungsebenen. Damit der Leser nicht den Überblick verliert, empfiehlt es sich, vor einer näheren inhaltlichen Analyse zunächst einmal das In- und Nebeneinander der einzelnen Erzählstränge und deren zeitliche Schichtung zu skizzieren. – 481 –
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Die Haupthandlung um Seppe und Vrone, „vor fünfhundert und mehr Jahren“ (6.1, S. 125) in der Spätphase der Regierung des Grafen Eberhard angesiedelt, spielt in einer Epoche, die für die württembergischen Geschichte von großer Bedeutung war, denn Eberhard I., später „der Erlauchte“ genannt, der von 1279 bis 1325 herrschte, baute in zahlreichen kriegerischen Unternehmungen, die die Erzählung auch gleich im ersten Satz erwähnt, sein Territorium beträchtlich aus; obendrein war er es, der Stuttgart zur Residenzstadt erhob. Die Seppe-Vrone-Handlung gliedert sich in mehrere Abschnitte: Verfolgt der Erzähler zuerst Seppes Weg bis nach Ulm, so wendet er sich anschließend der im heimischen Stuttgart zurückgebliebenen Vrone zu, in deren Erlebnisse wiederum die weitgehend selbständigen Episoden um den Schuster Bläse eingelagert sind; später richtet sich der Blick von Neuem auf Seppe, der schließlich in die Heimat zurückkehrt und sich dort mit Vrone verlobt. Die glückliche Vereinigung des Paares geht also mit der Zusammenführung zweier Teilhandlungsstränge einher. Aber schon wenige Seiten nach dem Beginn des Märchens verlässt der Erzähler diese Ebene der Geschichte unvermittelt, um die „Historie von der schönen Lau“ einzuschalten, die mehr als ein Viertel des Gesamtumfangs beansprucht (wenn man den Anhang abrechnet). Sie gehört in eine ferne Vergangenheit, denn den Enkel von Mutter Betha, den die Lau noch im Hemdchen auf dem Nachttopf sitzen sieht, trifft Seppe im Nonnenhof als „Greis von achtzig Jahr“ an (S. 153). Noch weiter zurück und damit in die tiefste Zeitschicht des Hutzelmännleins führen die beiden Geschichten, die mit der Gestalt des Doktor Veylland verbunden sind, dessen Namen man daher auch als sprechend ansehen darf: In „Veylland“ klingt ‚weiland‘ (einstmals, vor langer Zeit) an. Innerhalb der Lau-Historie wird berichtet, wie Veylland den wundertätigen Krakenzahn fand und wie dieser samt dem Bleilot in den Blautopf gelangte; von Veyllands verzaubertem Stiefelknecht und den kuriosen Abenteuern des Narren Bernd Jobst erzählt dagegen Seppe seiner Meisterin in Ulm. Bemerkenswerterweise platziert Mörike diese Episoden ebenfalls in einer wichtigen Phase der Geschichte seines Vaterlandes. Veyllands Herr ist nämlich ein gewisser „Conrad von Wirtemberg“ (S. 142), der um 1100 lebte und zum Stammvater des württembergischen Grafen-, Herzogs- und Königsgeschlechts wurde, und außerdem wird die Errichtung jener „Stuterei“ im Neckartal berührt, „daher nachmals die Stadt Stutgarten hieß“ (S. 173). Historisch lässt sich dieser Synchronismus freilich nicht halten; umso eher können wir in ihm wieder die Absicht des Dichters erkennen, im Hutzelmännlein auch einen – 482 –
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„Gründungsmythos“7 jenes Landes und jener Stadt zu entwerfen, die in der Haupthandlung Seppes weitere und engere Heimat darstellen. Betrachten wir nun zuerst die Seppe-Vrone-Handlung in ihrem inneren Zusammenhang! Der Schustergeselle ist, wie schon erwähnt, ein Verwandter des Franz Arbogast aus Mörikes Schatz, ein jugendlicher „Malefizglücksspitzbub“ (S. 194), der als ein verhältnismäßig schlichtes Gemüt nicht durch Klugheit oder Tapferkeit, sondern lediglich dank einer günstigen Fügung sämtliche Fährnisse übersteht und als Ehegatte, „wohlhabender Mann und achtbarer Ratsherr, mit Kindern gesegnet“, das Ziel aller Wünsche erreicht (S. 208). Als Verkörperung dieses freundlichen Schicksals und zuverlässiger Schutzgeist erfüllt das Hutzelmännlein für Seppe dieselbe Funktion wie die Freifrau von Rochen für den jungen Arbogast, und was im einen Fall das „Schatzkästlein“ mit seinen klugen Anweisungen leistet, das tun im anderen die Glücksschuhe, mit denen Seppe ausstaffiert wird. Das Grundgerüst des Geschehens liefert im Hutzelmännlein – wie im Schatz – das Motiv der Reise. An deren Sinn könnte man in diesem Falle allerdings zweifeln, da Seppe ja lediglich eine große Kreisbewegung beschreibt und am Ende zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt. Hätte er also nicht ebenso gut gleich zuhause bleiben können? Aber es geht bei dieser Wanderung gar nicht vorrangig darum, ein bestimmtes Ziel in Zeit und Raum zu erreichen. Bedeutung erlangt sie vielmehr als große Metapher für die Reifung und Selbstfindung des Protagonisten – der Weg als solcher ist hier bereits das Ziel. Von einer Reifung darf man dabei durchaus im psychosexuellen Sinne sprechen, denn wie die fatale Verwechslung der Glücksschuhe erahnen lässt, ist Seppes männliche Identität keineswegs von Anfang an gesichert; der Schustergeselle ist mit sich selbst zunächst noch nicht im Reinen. Der ‚weibliche‘ Schuh, den er versehentlich anzieht, leitet ihn wiederholt im wörtlichen wie im übertragenen Sinne auf Abwege, bis er am Ende glücklich gegen den richtigen ausgetauscht wird und Seppe und Vrone als liebendes Paar zueinander finden können. Die männlichen beziehungsweise weiblichen Schuhe stehen mithin symbolisch für die geschlechtsspezifischen Rollen, in die die Figuren erst hineinwachsen müssen. Aber auch der äußere Verlauf von Seppes Wanderung ist nicht bedeutungslos. Das Abenteuer, das der Geselle bestehen muss, liegt nämlich in der Begegnung mit der Fremde, die als unbekannte und gefahrvolle Gegensphäre zur vertrauten Heimatregion erscheint, und diese Konstellation bildet sich exakt in den Raumstrukturen der Erzählung ab. Mörikes – 483 –
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Zeitgenossen müssen noch sehr gut gewusst haben, dass Ulm, der äußerste Punkt von Seppes Weg, erst seit 1810 zu Württemberg gehörte, zur Handlungszeit des Märchens jedoch eine unabhängige Freie Reichsstadt und somit Ausland gewesen war. Seppe begibt sich sogar auf feindliches Gebiet, denn Ulm zählte zu jenen „Städten“, mit denen Eberhard I. so lange in Fehde lag (S. 125). Daher ist es ganz folgerichtig, wenn der Protagonist dort den Höhepunkt einer Verirrung und Selbstentfremdung erlebt, die ihn um ein Haar das Leben kostet. Die mörderische Ulmer Meisterin, die schon zwei Ehegatten beiseite geschafft hat, lässt sich als „eine ins negative Extrem gesteigerte Peregrina-Variante“ interpretieren8, weil sie die Verknüpfung von Eros und Tod, von sexueller Leidenschaft und existenzieller Bedrohung in radikaler Form verkörpert. Die Fremde ist im Hutzelmännlein der Ort der potenziell tödlichen erotischen Verlockung; fremd und gefährlich mutet demnach nicht zuletzt die dunkle Region der eigenen triebhaften Begierden an. Der Text illustriert Seppes sinnliche Erregung, die ihn der dämonischen Frau verfallen lässt, durch unmissverständliche Symbolik, besonders in der Szene, in der der Geselle, während er im Rauchfang steckt und Würste aufhängt, einen gewundenen Liebesdialog mit seiner Herzensdame führt, bis sie ihm endlich ihr Einverständnis andeutet: „Dem Seppe schossen bei dem Wort die Flammen in die Backen, als wollten sie oben zum Schornstein ausschlagen!“ (S. 169) Gerade noch rechtzeitig erfährt er die Wahrheit über seine Braut, und nicht zufällig stammt die Warnung von einem „ehrlichen Sindelfinger“, einem schwäbischen Landsmann also (S. 180). Daraufhin überkommt ihn eine tiefe Melancholie: „allein die Welt, so weit es in der Fremde heißt, kam ihm jetzt giftig, gräulich vor, so öd und traurig wie das Ulmer Elend, das er dort unten in den Gärten liegen sah“ – es ist das städtische Hospital für auswärtige Wanderer (S. 181). Mit dem Motiv der Fremde, der Heimatferne, verbinden sich hier auch noch Einsamkeit und Isolation, bei Mörike typische Gefährdungen der humanen Existenz, und so kann es nicht verwundern, dass Seppe sich umgehend zur Rückkehr entschließt: „Darum, es koste was es wolle, heim ging sein Weg, nur Stuttgart zu!“ (S. 181f.) Wieder in vertrauten Gefilden angelangt, sieht er die Schönheit seines Heimatlandes in voller Pracht vor sich ausgebreitet: Allhie beschaute sich der Seppe noch einmal die ausgestreckte blaue Alb, den Breitenstein, den Teckberg mit der großen Burg der Herzoge, so einer Stadt beinah gleich kam, und Hohen-Neuffen, dessen Fenster er von
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eitem hell her blinken sah. Er hielt dafür, in allen deutschen Landen W möge wohl Herrlicheres nicht viel zu finden seyn, als dieß Gebirg, zur Sommerszeit, und diese weite gesegnete Gegend. (S. 191)
Die Heimat bildet einen Raum der Geborgenheit, wo das wahre Glück in Gestalt von Liebe, beruflichem Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung winkt und Seppe, „jetzt Meister Joseph geheißen“ (S. 208), die ihm zukommende männliche Rolle als Handwerker, Bürger und Familienvater einzunehmen vermag. Aber eine solche Selbstfindung setzt augenscheinlich die überstandene Konfrontation mit der Fremde voraus, denn vor dem Aufbruch zu seiner Wanderschaft befand sich der Protagonist in keiner beneidenswerten Lage: Da er „nicht Eltern, noch Geschwister“ hat und mit seinem Meister unzufrieden ist (S. 125), treffen wir ihn am Beginn der Erzählung einsam und in einer recht trübseligen Verfassung an, und von einer Neigung zu Vrone ist an dieser Stelle noch mit keinem Wort die Rede. Damit liegt der Seppe-Handlung mit ihren Stationen ‚Heimat‘, ‚Fremde‘ und ‚wiedergewonnene Heimat‘ eine dreiteilige Verlaufsstruktur zugrunde, wie sie auch in Die Hand der Jezerte zu beobachten war, ein Schema ähnlich dem bekannten triadischen Modell der romantischen Geschichtsphilosophie, die den Durchgang durch das Stadium der Entfremdung ebenfalls als Bedingung für die Wiedererlangung der Ausgangsposition auf einer höheren Ebene betrachtete. Mörike entwirft die Geschichte seines Helden also unter Rückgriff auf Vorstellungen der romantischen Philosophie und Dichtung, die er kunstvoll mit den plastischen Konturen der heimatlichen Landschaft und einem biederen Handwerkermilieu verknüpft. Vrone, eine harmlose, mädchenhafte Gestalt und damit zur bürgerlichen Haus- und Ehefrau geradezu prädestiniert, fungiert als positives Gegenbild zu der todbringenden Ulmer Witwe. Dass sie Stuttgart gar nicht erst verlässt und der Radius ihrer Erlebnisse sehr viel beschränkter bleibt als bei Seppe, erklärt sich aus den zeittypischen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen: Allein der Mann muss, um mit Schiller zu sprechen, hinaus ins feindliche Leben, während der Ort der Frau das umgrenzte Zuhause ist. Tatsächlich tastet Mörikes Hutzelmännlein die stereotypen bürgerlichen Rollenklischees nicht an. Beispielsweise resultiert Seppes fixe Idee, die Schusterei an den Nagel zu hängen und fortan als Scherenschleifer ein Rad zu treten, bloß aus der unseligen Schuhvertauschung, „denn einer seiner Schuhe war für ein Mädchen gefeit und gesegnet“ und sehnt sich deshalb in Wirklichkeit nach einem „Spinnrad“ (S. 128), wo ein weibliches Wesen offenkundig hingehört. – 485 –
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Seppe und Vrone treffen sich schließlich auf einem Hochseil über dem Marktplatz von Stuttgart. Sobald nur erst die vertauschten Schuhe ausgewechselt sind, wird aus dem waghalsigen Balanceakt ein Kunststück von wundersamer Leichtigkeit: „Die vier Füße begannen sich gleich nach dem Zeitmaß zu regen, nicht schrittweis wie zuvor und bedächtig, vielmehr im kunstgerechten Tanz, als hätten sie von kleinauf mit dem Seil verkehrt“ (S. 204). Hier nimmt die Wunschphantasie, in traumwandlerischer Sicherheit über alle Abgründe des Lebens hinwegtanzen zu können, szenische Gestalt an – ein herrliches poetisches Sinnbild märchenhaft gelingender Daseinsbewältigung! Dabei ist das glückliche Paar aber keineswegs vom Rest der Gesellschaft getrennt und isoliert, denn die Begegnung, die in Seppes und Vrones Verlobung gipfelt, findet ja unter den Augen der Öffentlichkeit statt. Indem er Liebe und Identitätsfindung der Prota gonisten unmittelbar mit ihrer sozialen Integration verknüpft, gesteht Mörike seinen Märchenhelden in vollem Umfang zu, was den Hauptfiguren des Maler Nolten verwehrt bleibt. Mit dem großen Fest, das Volk und Hof harmonisch zusammenführt, entwirft er das Idealbild einer Gesellschaft, die einer erweiterten, von einem echten ‚Landesvater‘ beschirmten Familie gleicht. So lässt Seppe denn auch unter dem Jubel des Volkes die „gnädigsten Herrschaften“ hochleben (S. 205), und dass das Bleilot mit dem magischen Krakenzahn dem Grafen als der obersten Vaterinstanz gebührt, bedarf im Text gar keiner expliziten Begründung – Jahrhunderte zuvor hatte schon Doktor Veylland seinem Herrn Conrad „als einem weisen und wohldenkenden Gebieter“ einen solchen Zahn anvertraut (S. 143). Im Gegenzug gewährt der Graf dem Schuster Seppe seine „besondere Gnade“ (S. 207) und schenkt ihm das Haus am Marktplatz. Erwiesen sich im Nolten sämtliche Vaterfiguren als schwach und hilflos, so garantiert im Hutzelmännlein die intakte patriarchalische Ordnung im Staat wie in der Familie eine stabile Harmonie des rechten Lebens. Im Verein mit der Geborgenheit der Heimat bildet sie das feste Fundament des Märchenglücks, das Seppe und Vrone zuteil wird. Mit diesem Handlungsstrang ist die „Historie von der schönen Lau“, wie es scheint, nur sehr locker verknüpft: Im Grunde stellen einzig Bleilot und Krakenzahn eine Verbindung zwischen den beiden auch zeitlich weit voneinander getrennten Ebenen her. Berücksichtigt man jedoch die psychologische Dimension der Geschehnisse, so treten Analogien zutage, die über derartige Details hinausgehen, denn auch die Binnengeschichte erzählt von einer Reifung, ja sogar von einer Heilung, die in eine gelingende soziale Integration mündet, in diesem Falle freilich am Beispiel – 486 –
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einer weiblichen Hauptfigur. Mit der Gestalt der Wasserfrau nimmt Mörike ein Motiv auf, das in Märchen und Sagen und auch in der neueren Dichtung eine große Rolle spielte; an Goethes Ballade Der Fischer wäre hier ebenso zu denken wie an Fouqués Erzählung Undine oder an die zahlreichen Nixen und Sirenen bei Eichendorff. In den volkstümlichen wie in den hochliterarischen Variationen des Stoffes gehen die Macht des Elements und die gefährliche sexuelle Verlockung durch das Weibliche oftmals eine Verbindung ein, die Faszination und Furcht gleichermaßen weckt, und dass Mörike mit dieser Tradition wohlvertraut war, bezeugen mehrere Stücke aus dem balladesken Zyklus Schiffer- und Nixen-Märchen sowie das Gemälde, das zu Beginn des Romans Maler Nolten beschrieben wird. In der Geschichte von der schönen Lau finden sich solche Aspekte dagegen allenfalls angedeutet. Zwar können „Stadt und Kloster in Gefahr“ geraten, wenn die Lau einmal „im Unmuth den Gumpen übergehen“ lässt, wie es gleich im zweiten Abschnitt heißt (S. 131), aber im Handlungsverlauf erlangt diese Bedrohung keine sonderliche Bedeutung, und die erotische Anziehungskraft der Wasserfrau kommt, noch dazu humoristisch gebrochen, eigentlich nur in der Kussszene zur Geltung, die das fünfte und letzte Lachen bewirkt und dem wackeren Klosterkoch ein paar tüchtige Ohrfeigen einträgt. Im Ganzen erscheint die Nixe im Hutzelmännlein weitgehend entdämonisiert. Als verstoßenes und hilfsbedürftiges Wesen weckt sie eher Mitgefühl als Ehrfurcht oder Schrecken. Die Gründe für ihre Gemütskrankheit bleiben im Dunkeln: Sie ist „stets traurig […], ohn’ einige besondere Ursach“, bringt deshalb „nur todte Kinder“ zur Welt und wird schließlich von ihrem Mann, einem „alten Donau-Nix am schwarzen Meer“, in den Blautopf verbannt (S. 132). Vielleicht hat die chronische Melancholie – ähnlich wie bei der Zigeunerin Elisabeth in Maler Nolten – etwas mit ihrer eigentümlichen Stellung zwischen zwei Welten zu tun, denn die Lau ist „von Mutter Seiten her halbmenschlichen Geblüts“ (ebd.) und gehört folglich nur teilweise dem Elementarreich der Wasserwesen an. Für diese Hypothese spricht jedenfalls der Umstand, dass später gerade die nähere Bekanntschaft mit der Sphäre der Menschen, die dann als Überwindung ihrer inneren Zerrissenheit zu deuten wäre, den Weg zur Heilung ebnet. Zunächst ist die Lau in ihrem Teich allerdings in einem Zustand völliger Isolation, Stagnation und Langeweile gefangen, getrennt von ihrem Mann und noch ohne Zugang zur Menschenwelt. In dem feindlichen Gegensatz zwischen dem Blautopf und dem benachbarten Kloster manifestiert sich dabei die Kluft zwischen dem weiblich konnotierten heidnischen Naturbezirk und einer patriarchalisch – 487 –
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geordneten christlichen Kultur. Doch Mörike ergänzt diesen schroffen Kontrast durch ein vermittelndes Element, den Nonnenhof, der die erstarrten Verhältnisse und damit auch die Handlung in Bewegung bringt, weil er als buchstäblicher Zwischen-Raum Gelegenheit für eine Annäherung von Mensch und Elementargeschöpf, Kultur und Natur bietet. Wie bereits der Name andeutet, ist dieses Gasthaus ein Bereich, in dem das Weibliche dominiert. Hier waltet „eine dicke Wirthin, Frau Betha Seysolffin, ein frohes Biederweib, christlich, leutselig, gütig“, eine „rechte Fremdenmutter“ (S. 134), deren Ehemann bezeichnenderweise nie erwähnt wird. Gegenüber der Lau schlüpft Betha in die Rolle einer Mentorin, ja einer mütterlichen Erlöserin, und so erklärt sich auch die Merkwürdigkeit, dass sie von der Wasserfrau, die als unsterbliches Elementarwesen doch zweifellos um einige hundert Jahre älter ist, als „Frau Ahne“ angesprochen wird (S. 140). Unter ihren Fittichen lernt die Lau das Lachen und gewinnt damit das Heilmittel gegen ihre undefinierbare Trauer. Der Heilungsvorgang, von dem die „Historie“ erzählt, vollzieht sich auf dem Wege einer fortschreitenden sozialen und kommunikativen Integration, wie wir sie etwa schon aus Lucie Gelmeroth kennen. Darüber hinaus kann man hier aber auch einen nachgeholten Sozialisationsprozess gestaltet sehen, in dem die Lau zur Reife gelangt und damit zu guter Letzt doch noch fähig wird, ihre Rolle als Ehefrau und Mutter auszufüllen. Unter diesem Blickwinkel kommt ihr Aufstieg durch den Brunnenschacht in die Räume des Nonnenhofs einer Wiedergeburt gleich, und der ungewohnte Blick in den Spiegel, der sie für eine Weile „betroffen und erstockt“ dastehen lässt (S. 138), verweist auf eine Begegnung mit sich selbst, auf ein Erwachen zur Selbsterkenntnis. Sicherlich ist es auch kein Zufall, dass sich die fünf Lachanlässe durchweg auf Phänomene beziehen, die man aus der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen kennt. Da geht es um die komischen und grotesken Aspekte der Leiblichkeit, wenn die Lau beim Anblick des kleinen Jungen auf dem Topf die Situation zuerst missversteht und dadurch allgemeine Heiterkeit auslöst, es geht um das Vergnügen am spielerischen Umgang mit der Sprache, wenn sich die gesellige Runde in der Spinnstube mit dem vertrackten Klötzlein-Spruch amüsiert, und immer wieder geht es um Sexualität: ganz offensichtlich in dem Traum der Lau von Betha und dem Abt sowie bei dem Kuss des Kochs und dessen Bestrafung, unterschwellig aber auch in der Komödie, die derselbe Koch mit der „Bettscheer“ spielt, wobei er sich angesichts des Zorns der Lau, der den Blautopf aufwühlt, „mit Worten und Gebärden als einen viel getreuen Diener an[stellt], der – 488 –
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mächtig Ängsten hätte, daß seine Herrschaft aus dem Bette fallen und etwa Schaden nehmen möchte“ (S. 140). Besondere Aufmerksamkeit verdient der Traum der schönen Lau, der unverkennbar auf den Mythos vom Sündenfall Bezug nimmt. Die sexuellen Bilder und Anspielungen sind kaum zu übersehen – zu dem Kuss des Abtes und der Wirtin kommen noch das Käpplein, das dem Geistlichen versehentlich in den Blautopf fällt, und die verräterische Schwindelei des Ertappten, als ihn der Herrgott persönlich zur Rede stellt: „Es ist mir ein Wildschwein am Wald verkommen, / Vor dem hab’ ich Reißaus genommen“ (S. 139). Ungeschickter hätte er sich kaum herausreden können, steht doch das Wildschwein in der Symbollehre seit jeher für eben jene triebhaften, ‚wilden‘ Begierden, die ihn in der Tat verfolgt haben! Psychologisch betrachtet, stellt der Traum überdies eine nur unzureichend verhüllte sexuelle Wunschphantasie der Lau dar, da sie sich offenkundig selbst mit der Wirtin Betha identifiziert, die „als eine dicke Wasserfrau mit langen Haaren in dem Topf “ sitzt, wenn sie den Kuss empfängt (S. 138). Von Angst und Bedrohlichkeit ist die Atmosphäre aber gänzlich frei, denn sogar der Herrgott straft hier nicht das sexuelle Begehren als solches, sondern wird nur „unwirs“ (S. 139), weil der Abt sich nicht dazu bekennen will. So verliert die Sexualität in dem Traum, der das Sündenfall-Motiv komisch verfremdet, das Odium des Sündhaften und Verhängnisvollen und kann dadurch zu einem neuen Anlass für befreiendes Gelächter werden. Nach dem fünften Lachen nimmt der Donau-Nix seine Frau wieder in Ehren auf, und man darf erwarten, dass sie künftig auch ihre Bestimmung, Kinder zu gebären, erfüllen wird. Sie selbst fühlt sich durch diese Wendung der Dinge auf den Gipfel der Glückseligkeit versetzt: „Die Lau begrüßte sie wie sonst vom Brunnen aus, nur war ihr Gesicht von der Freude verschönt, und ihre Augen glänzten, wie man es nie an ihr gesehen“, weil ihr Mann ihr nun wieder „hold und gnädig“ ist (S. 150). Der heutige Rezipient der Erzählung muss indes nicht einmal einen radikalfeministischen Standpunkt einnehmen, um die uneingeschränkte Unterwerfung der Protagonistin unter ihren tyrannischen Gatten anstößig und das Happy End der „Historie“ ein wenig zweifelhaft zu finden. Die Reifung der Lau bedeutet jedenfalls keine Emanzipation von der patriarchalischen Gesellschaftsordnung, die offensichtlich auch das Leben in der Wasserwelt bestimmt, und von der in diesem Rahmen vorgegebenen Frauenrolle. Die Sphäre der Freiheit, die sich ihr mit der weiblich geprägten Welt des Nonnenhofs eröffnet, erweist sich zuletzt als bloße Durchgangsstation auf dem Weg in ein Dasein im Schatten der männlichen Autorität. – 489 –
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Dennoch legt der Text in diesem Punkt gewisse Einschränkungen nahe. So lässt sich die Gabe des Lachens, die die Lau im Kontakt mit den Menschen erworben hat, als ein subversives Element auffassen, das auch in Zukunft nicht verloren gehen wird: „Durch die Fähigkeit zu lachen hat sich die Lau einen Frei- oder Schutzraum in einer von Männern dominierten Gemeinschaft erkämpft“.9 Und dass die geschilderten Lachanlässe ihrerseits keineswegs harmlos sind, wurde bereits dargelegt – immerhin macht die verheiratete Lau teils im Traum, teils in der Wirklichkeit sexuelle Erfahrungen mit anderen Männern! Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang der Zusatz in der Prophezeiung ihrer Schwiegermutter, die das fünfmalige Lachen als Voraussetzung für die Heilung der Lau deklariert hat: „Bei’m fünften Male müßte etwas seyn, das dürfe sie nicht wissen, noch auch der alte Nix“ (S. 132). Tatsächlich küsst der Klosterkoch Xaver die Lau, während sie im „Ohnmachtsschlaf “ liegt (S. 149), und damit ist, wie der Erzähler ausdrücklich festhält, „Jegliches erfüllt, zusammt dem Fünften, so der alte Nix und sie nicht wissen durfte“ (S. 150). Die Befreiung der Lau von ihrer Gemütskrankheit vollzieht sich also nicht zuletzt gerade durch die heiklen außerehelichen Erlebnisse, die sich freilich unterhalb der Ebene des wachen Bewusstseins abspielen müssen, weil sie in der patriarchalischen Gesellschaft unmöglich geduldet werden könnten. Die Eingliederung der Protagonistin in das Gefüge einer männer beherrschten Familien- und Sozialordnung fällt demnach nicht ganz so umfassend und bedingungslos aus, wie es zunächst scheinen mag. Gleichwohl dürfte, wie auch im Falle der Seppe-Vrone-Handlung, das Urteil der Leser und erst recht der Leserinnen über das glückliche Ende letztlich davon abhängen, inwieweit sie imstande sind, die patriarchalische Ehe und Familie wenigstens in der Märchenfiktion noch als möglichen Rahmen eines gelingenden Lebens gelten zu lassen, wie Mörike es offenkundig voraussetzte. Wer sich dazu nicht bereitfindet, kann den Sozialisations- und Genesungsprozess, von dem die Binnengeschichte des Stuttgarter Hutzelmännleins handelt, allenfalls ideologiekritisch sezieren.10 Bei unserer Interpretation der beiden wesentlichen Handlungsebenen von Mörikes Märchen haben wir bislang ausgerechnet die Titelgestalt ein wenig vernachlässigt. Weiter oben wurde das Hutzelmännlein als märchentypische Helferfigur eingeordnet, und zugleich lässt sich der „Tröster“ (S. 125), im Einklang mit dem patriarchalischen Gestus der Geschichte, psychologisch als ideale beschützende Vater-Imago deuten. Darüber hinaus aber kommt mit diesem skurrilen Kobold auch die poetologische – 490 –
Märchenhafte Reifungsgeschichten: Das Stuttgarter Hutzelmännlein
Dimension des Werkes in den Blick. Ganz wie der Götterbote Lolegrin im Märchen vom sichern Mann fungiert das Hutzelmännlein nämlich als verborgener Regisseur des Geschehens und damit als verkörperter ‚Geist der Erzählung‘, der Seppe und Vrone mit dem Geschenk der Glücksschuhe ihren Weg bis zur Eheschließung vorzeichnet. In der Tat wird im Hutzelmännlein wie schon im Schatz, wenn auch mit weniger auffälligen Mitteln, immer wieder das Erzählen selbst zum Thema gemacht. Besonders die Schlusspartie enthält zahlreiche entsprechende Hinweise in Form von Motiven, deren einschlägigen Bedeutungsgehalt wir bereits in anderen Zusammenhängen kennengelernt haben. Das gilt zumal für den Tanz, der in den Gedichten Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen und Corinna die Kunst des leichten Spiels versinnbildlicht. Als wahrer Meister des Seiltanzes vollbringt das Hutzelmännlein auf dem Volksfest in Stuttgart „so wunderwürdige und gewaltige Dinge“, dass die Darbietungen der berufsmäßigen Gaukler daneben wie „Stümperarbeit“ wirken (S. 201), und auch der „kunstgerechte“ Tanz von Seppe und Vrone stellt unter poetologischer Perspektive ein Symbol künstlerischen Gelingens dar, mit dem Mörikes Märchen gleichsam seine eigene Vollendung feiert: Da „schien ihr ganzes Thun nur wie ein liebliches Gewebe, das sie mit der Musik zu Stand zu bringen hätten“ (S. 204) – eine ebenso gängige wie sinnfällige Metapher für den literarischen Text (lat. textum: das Gewebe), zu der auch das spätere Bekenntnis des Erzählers passt, dass seine „Spule abgelaufen sey“ und er nichts mehr zu berichten habe (S. 207). Natürlich darf das Wort „Anmuth“ (S. 204) als Schlüsselbegriff von Mörikes Ästhetik in der Seiltanz-Episode ebenfalls nicht fehlen. So manifestiert sich im Tanz auf dem Hochseil nicht nur das Liebes- und Lebensglück des jungen Paares, sondern auch der Triumph des souveränen künstlerischen Spiels, dem dieses Glück und die ganze Welt des Hutzelmännleins ihr Dasein verdanken. Damit kennzeichnet der Dichter die vergnügliche, tröstliche Märchenharmonie einmal mehr als Produkt der schöpferischen Einbildungskraft und eines fiktionalen Erzählspiels. Zudem häufen sich gegen Ende die unmittelbaren Anreden des Erzählers an sein Publikum. Die Wendung „Begehrte nun der Leser noch Weiteres zu wissen …“ eröffnet den kurzen Ausblick auf das Eheleben von Seppe und Vrone (S. 207), und am Schluss wird ausdrücklich Abschied genommen: „Und nun, mein Leser, liebe Leserin, leb’ wohl!“ (S. 208) Hier verschmilzt der Erzähler sogar mit dem realen Autor der Geschichte, indem er darüber reflektiert, welche literarische Ware er als nächstes „zu Markte […] bringen“ solle (S. 209). Illusionsbrechend unterstreicht er aufs – 491 –
18. Das späte Erzählwerk
Neue den Fiktionscharakter des Märchens und zwar in augenzwinkernder Verständigung mit dem Leser, den er dialogisch in sein Spiel einbezieht. So finden wir bestätigt, dass Geselligkeit und Gespräch in Mörikes Prosa nicht nur auf der inhaltlichen Ebene von außerordentlicher Bedeutung sind, sondern oftmals auch das Gefüge des Erzählens selbst strukturieren. Noch deutlicher tritt dieser Sachverhalt in seiner letzten und berühmtesten Novelle hervor.
Genie und Geselligkeit: Mozart auf der Reise nach Prag Zu Mörikes stärksten Eindrücken gehörten Musikerlebnisse, die ihn tief bewegen, aber auch seine Vorstellungskraft anregen konnten. Davon wusste schon der Siebzehnjährige in einem Brief an Waiblinger zu berichten: Wirklich thut die Musik eine unbeschreibliche Wirkung auf mich – oft ists wie eine Krankheit, aber nur periodisch. Ich sage Dir, eine bewegliche, nicht gerade traurige Musik – oft eine fröhliche, kann mir manchmal mein Innerstes lößen, da versink ich in die wehmüthigsten Phantasieen, wo ich die ganze Welt küssend voll Liebe umfassen möchte, wo mir das Kleinliche u Schlimme in seiner ganzen Nichtigkeit u. wo mir Alles in einem andern verklärten Lichte erscheint. Wenn die Musik dann abbricht, möcht ich in meiner Empfindung v. einer hohen Mauer herabstürzen, möcht ich sterben […]. (10, S. 30)
1838 hörte er in Stuttgart Beethovens fünfte Symphonie, die er „hinreissend“ fand und die ihm die kühne Vision einer Kosmogonie vor das innere Auge rief: „Ich dachte mir, ganz unwillkührlich, schöpferische GeisterChöre, welche zusammenkommen, eine Welt zu erschaffen; sie sausen und schweifen, einzeln u. in Massen, oft wider einander in seligem Kampf und gießen Ströme von Licht vor sich her, ganze Meere!“ (12, S. 228) Von der ergreifenden und zugleich inspirierenden Wirkung der Musik sprechen auch manche lyrischen Werke, von denen hier mit Josephine, Auf einer Wanderung, An eine Äolsharfe, An Wilhelm Hartlaub und Ach nur einmal noch im Leben! lediglich die wichtigsten genannt seien. Mörike hatte allerdings kein Instrument erlernt – nur auf der Maultrommel versuchte er sich gelegentlich – und war nicht einmal imstande, „Noten zu schreiben“ (11, S. 253), weshalb er eine Liedmelodie, die er Hartlaub übermitteln wollte, „wie ein Simpel“ rein mechanisch von der Vorlage abzeichnen musste (12, S. 201). Umso zahlreicher waren die – 492 –
Genie und Geselligkeit: Moz art auf der R eise nach P r ag
ausübenden Musiker in seinem engeren persönlichen Umfeld. In der Familie Mörike gab es eine ganze Reihe musikalischer Begabungen, darunter den älteren Bruder Karl, der ausgezeichnet Klavier spielte und zudem komponierte. Talentierte Pianisten waren auch Hartlaub, von dessen Klavierspiel in An Wilhelm Hartlaub die Rede ist, sowie Bauer, und mit Ludwig (Louis) Hetsch und Ernst Friedrich Kauffmann, denen Mörike die Buchausgabe der Mozart-Novelle widmete, gehörten zwei Komponisten zum Kreis seiner Jugendfreunde, die zahlreiche Gedichte von ihm vertonten. Zumindest vor seinem Umzug nach Stuttgart 1851 hatte er jedoch nur selten Gelegenheit, Musikstücke größeren Formats zu hören. Seine musikalische Bildung bezog er hauptsächlich aus der von begabten Dilettanten getragenen bürgerlichen Hausmusik, die im Biedermeier eine Blütezeit erlebte: Einzelne oder kleine Gruppen boten im intimen Rahmen kammermusikalische oder Solo-Werke dar, wobei Klavierspiel und Gesang den Schwerpunkt bildeten – gesellige Vergnügungen, die Mörikes Vorlieben entgegenkamen und deren Echo wir in seiner Novelle vernehmen werden. Auf diese Weise lernte er auch Klavierauszüge verschiedener Opern kennen. Seinem Bruder Karl berichtete er zum Beispiel im September 1837 aus Mergentheim: „Ferner: daß ich eine Composition v. Dir (den Mummelsee) in einem guten Haus […] von einer Person, die mich nicht kannte mit einer angenehmen Singstimme zum Claviere vortragen und höchlich loben hörte: Ferner daß mir die Mozartischen Opern Cosi fan tutte, Figaro & Don Juan von kunstgeübter Hand vollständig im Clavierauszug zum Besten gegeben wurden“ (12, S. 132). Mörikes musikalischer Horizont lässt sich aus Bemerkungen in seinen Briefen und vereinzelten Hinweisen im literarischen Werk rekonstruieren. Wenn Storm einmal behauptete, sein schwäbischer Kollege sei „über Haydn und Mozart nicht hinaus“ gekommen11, so ist das zwar übertrieben, trifft aber doch etwas Wahres, denn tatsächlich verwies ihn sein Musikgeschmack, in dem er von Hartlaub nach Kräften bestärkt wurde, vorrangig auf das 18. Jahrhundert und die Wiener Klassik. In einem Brief an Luise Rau rühmt er „die goldgediegene Kunst eines Gluck, Händel und Mozart“ (11, S. 235), in Maler Nolten wird Händels Messias „eines der herrlichsten Tonstücke“ genannt (3, S. 358), und das kleine Epigramm Joseph Haydn charakterisiert die Werke dieses Künstlers als altmodisch und reizvoll-verspielt zugleich. Während Mörike Beethoven zumindest in seiner Jugend kaum erwähnte, maß er Mozart von früh an eine überragende Bedeutung bei. Abgesehen von Klavierkompositionen kannte er jedenfalls auch sämtliche großen Opern, von denen einige sogar Spuren in seiner – 493 –
18. Das späte Erzählwerk
Lyrik hinterließen: In dem Gedicht Ach nur einmal noch im Leben! bezieht er sich auf Titus, und das Sonett Seltsamer Traum knüpft an eine Aufführung von Figaros Hochzeit an. Mit neueren Komponisten konnte er sich dagegen nur schwer anfreunden, weil er ihnen sehr leicht falsches Pathos und pure Effekthascherei unterstellte, die ihm auf musikalischem Gebiet ebenso zuwider waren wie in der Dichtung. Deshalb gefiel ihm schon Schuberts Erlkönig-Vertonung nicht recht – „bei wahrhaften Schönheiten ein grelles, den Charakter des Gedichts gewisermaßen aufhebendes Prachtirstück. Das Schreien des Kinds wie es angefaßt wird könnte Spiegel und Fenster zersprengen“ (14, S. 93) –, und 1851 berichtete er Margarethe Speeth von einem Konzert in Stuttgart, in dem man „fast nur Ärger von schrecklich moderner Musik“ gehabt habe (16, S. 72); auf dem Programm standen unter anderem Werke von Schubert und Meyerbeer.12 Bei Donizettis Oper Lucia di Lammermoor, die er zwei Jahre später hörte, kam ihm die Sängerin der Titelrolle vor „wie eine Person auf der Folter, wo sie nur je und je ein wenig ausruhn darf, um sich dann auf natürliche Weise zu äußern“ (S. 163). Und auch wenn es um seine eigenen Gedichte ging, waren ihm schlichte, melodische Vertonungen eher traditioneller Art, wie sie beispielsweise Kauffmann vorlegte, am liebsten. Wollte er einer Liedkomposition hohes Lob zollen, nannte er sie „[ü]ber alles Sagen lieblich“ und pries ihre „Volksmäßigkeit“ (13, S. 46), oder er schrieb: „Sie schien mir durchaus im edeln Styl, nichts übertrieben weder im Weichen noch im Starken“ (18, S. 122). An Hugo Wolfs berühmten Mörike-Liedern, die erst Jahre nach seinem Tod entstanden und seiner Lyrik mit der Zeit zu großer Popularität verhalfen, hätte er wohl kaum Gefallen gefunden. Dass Mörike eine starke Aversion gegen Richard Wagner hegte, ist unter diesen Umständen sehr begreiflich. In Mozart auf der Reise nach Prag versetzt er ihm einen versteckten Seitenhieb, indem er seinen Protagonisten sinnieren lässt: „Je nun, im Lauf der nächsten sechzig, siebzig Jahre, nachdem ich lang fort bin, wird mancher falsche Prophet aufstehen“ (6.1, S. 282). Wenn er aber im Zusammenhang mit einem Angriff auf Wagners „unsinnige Neuerungen im Opernwesen“ (18, S. 97) die Erläuterung einschiebt: „Telramund ist eine Personnage in R. Wagners Oper Tristan“ (S. 101), gewinnt man keinen vorteilhaften Eindruck von seiner Sachkenntnis, denn selbstverständlich stammt diese Figur in Wirklichkeit aus Lohengrin! In der Tat kannte Mörike Wagners Werke gar nicht aus eigener Erfahrung. Sein Gewährsmann war der befreundete Musikkenner Bernhard Gugler, ein Mozart-Verehrer und entschiedener Anti-Wagnerianer, – 494 –
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der 1858 beziehungsweise 1869 auch neue Übersetzungen der Textbücher von Così fan tutte und Don Giovanni vorlegte, an deren Entstehung Mörike regen Anteil nahm.13 Noch 1871 fällt in einem Brief an Gugler eine Bemerkung über den „Wagnerischen Wahnwitz“ (19.1, S. 174). Grundfalsch wäre jedoch die Unterstellung, Mörike habe in musikalischen Dingen ausschließlich das Sanfte und Gefällige geschätzt. Dagegen spricht nicht nur seine Bewunderung für Beethovens fünfte Symphonie, sondern vor allem auch die Faszination, die die tragische Wucht des Don Juan zeit seines Lebens auf ihn ausübte (die spanische Namensform war damals als Titel von Don Giovanni ganz geläufig und wird auch von Mörike verwendet, weshalb wir sie im Folgenden ebenfalls gebrauchen wollen). Diese Schöpfung Mozarts galt schon den Romantikern als die Oper aller Opern und wurde im 19. Jahrhundert generell als ein, wenn nicht das Hauptwerk des Komponisten angesehen. Mörike hatte mit Don Juan aber auch ein persönliches Schlüsselerlebnis, das in den Sommer 1824 fiel, als der Student in seiner durch Maria Meyer ausgelösten Gefühlsverwirrung bei der Familie in Stuttgart Zuflucht suchte. Am 15. August sah er im Theater der Residenzstadt in Begleitung seiner Geschwister August und Luise und der Freunde Ludwig Bauer und Hermann Hardegg eine Don Juan-Inszenierung, doch nur vier Tage später folgte mit Augusts plötzlichem Tod ein schrecklicher Schicksalsschlag – möglicherweise starb der Sechzehnjährige sogar durch eigene Hand. Seit diesem fatalen Sommer verband sich für Mörike mit der Oper ein ganzer Komplex aufwühlender Empfindungen, die ihn beispielsweise einige Monate später äußerst verstört reagieren ließen, als er auf seinem Pult im Tübinger Stift einen Theaterzettel von jener Stuttgarter Aufführung fand, dessen Herkunft er sich nicht erklären konnte.14 Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis für seine ambivalente Einstellung zu Don Juan stammt aus dem Jahr 1843, als in seiner Gegenwart im Hause von David Friedrich Strauß bei Heilbronn eine Darbietung aus diesem Werk improvisiert wurde. Kauffmann saß am Klavier, und Agnese Strauß, geb. Schebest, die vor ihrer Heirat eine gefeierte Opernsängerin gewesen war, „sang stellenweise, ungebunden, aus der Erinnerung mit“. Hartlaub erhielt einen ausführlichen Bericht von der Begebenheit: Solche zufällige Concertstreifereien, wobei der Spieler unversehens wärmer, der Vortrag bald ganz ernsthaft u. die Aufmerksamkeit der Gesellschaft ungetheilt wird, sind ganz vorzüglich reizend. (Ist gar der Gegenstand von so besonders ergreifender Art, daß man sich vor einer angekündigten vollständigen Aufführung fürchtet, wie mirs bei dieser Oper
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immer geht, weil sie zu viele subjektive Elemente für mich hat und einen Überschwall von altem Dufte, Schmerz u. Schönheit (August – meine Schwester Luise – Rud. Lohbauer &c.) über mich herwälzt, dermaßen, daß ich ohne den Halt an einem sichtbaren gegenwärtigen Freund und Consorten mich nicht damit einlassen mag, so muß man einem solchen Anlaß der uns gelegentl. mitfortreißt u. zu rechter Zeit auch wiederlosläßt, doppelt danken, – wie oft ist mir dieß Glück bei Dir geworden! Da man aus lauter Feigheit u. Hypochondrie sonst gar zu Nichts käme. (14, S. 96)
Der vielfach verschachtelte und doch gleichsam atemlos fortlaufende Satz, mit dem Mörike seine Haltung umschreibt, lässt sogar noch in der Distanz der rückblickenden Schilderung die Erregung spüren, in die ihn die brisante Materie versetzte. Und mit der Bemerkung, dass nun ja ohnehin schon „von einer Nolimetangere-Vergangenheit die Rede“ sei, kommt er unmittelbar anschließend auch auf Maria Meyer zu sprechen, über deren Vergangenheit ihm Strauß anhand einer autobiographischen Schrift von Ernst Münch einigen Aufschluss geben konnte – es handelt sich um die einzige explizite Äußerung zu diesem Thema, die aus späteren Zeiten von ihm überliefert ist. Während Mörike also für gewöhnlich aus „Feigheit u. Hypochondrie“ vor der Konfrontation mit der Oper Don Juan und den Erinnerungen und Emotionen, die sich mit ihr verbanden, zurückschreckte, war er umso dankbarer für eine Gelegenheit wie diese, die ihn unvermutet ergriff und doch auch „zu rechter Zeit“ wieder losließ, zumal dabei der gesellige Kreis vertrauter Freunde Schutz und Rückhalt bot. Sein üblicher Umgang mit erhabenen Eindrücken und seine behutsamen diätetischen Vorsichtsmaßregeln sind hier nicht zu verkennen. Zumindest im vorgerückten Alter zeigte er sich aber auch richtigen Opernabenden mit Mozarts Werk wieder gewachsen und war sehr wohl in der Lage, die Qualität der jeweiligen Inszenierung nüchtern zu beurteilen. Als Mozart auf der Reise nach Prag kurz vor der Vollendung stand, hörte der Dichter am 10. Juni 1855 Don Juan im Stuttgarter Hoftheater und lieferte Hartlaub anschließend eine kleine Aufführungskritik, in der er zwar die Darstellerin der Donna Anna rühmte, den Rest der Vorstellung aber „theils mittelmäßig, theils gemein“ nannte und spöttisch feststellte, Don Juan habe in den entscheidenden Szenen „wie eine in den Boden gespickte Gabel“ dagestanden. Gleichwohl lautete sein Resümee, die Oper sei doch wieder „zum Brustkastensprengen“ gewesen (16, S. 221)! Und noch 1869 beschwor die Beschäftigung mit Guglers Übersetzung des Librettos bei ihm „eine starke Sehnsucht nach diesem Element und einen Schwall – 496 –
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von glücklichen Erinnerungen (an L. Bauer, Kauffmann, Hardegg, Lohbauers pp)“ herauf (19.1, S. 89). Wann Mörike auf die Idee verfiel, seinen Lieblingskomponisten zum Gegenstand einer Erzählung zu machen, ist nicht bekannt.15 Der erste Hinweis auf einen solchen Plan findet sich in einem Brief Hartlaubs vom 8. Juni 1847, in dem er Mörike an „ein Fragment Dichtung“ aus Mozarts Leben erinnerte, das der Freund „einmal im Sinn“ gehabt habe.16 Der Abfassung der Novelle muss demnach eine lange Inkubationszeit vorausgegangen sein, denn die frühesten Zeugnisse von der konkreten Arbeit an dem Text datieren erst aus dem Jahre 1852, als der Dichter offenbar gleichzeitig mit dem Stuttgarter Hutzelmännlein und diesem neuen Vorhaben beschäftigt war. Die Fertigstellung des Mozart zog sich jedoch hin, und im Rückblick erklärte Mörike: „Übrigens ist es ein Glück und nur der starken Anziehungskraft des Gegenstandes zuzuschreiben daß man dieser kleinen Arbeit die öftern u. langen Unterbrechungen, während welcher sie mehrmals beinahe schon aufgegeben war, nicht anspürt“ (16, S. 219). Auf die Einzelheiten des Schreibprozesses werfen seine Briefe bloß spärliche Streiflichter, die aber immerhin erkennen lassen, dass er sich mit den verschiedenen Teilen der Erzählung nicht in der Reihenfolge befasste, in der sie dann im fertigen Werk erschienen. Im Juli 1852 berichtete er Margarethe und den Hartlaubs von einer Reise in Begleitung seiner Schwester: „Im Angesicht von Rutemsheim gerieth ich auf der Spur meiner Novelle stark in Mozartischer Phantasien hinein, wovon ich Clärchen Einiges mittheilte, das Ihr künftig beim Lesen an den ‚silbernen Posaunen‘ erkennen und mit jenem Platz zusammen denken sollt“ (16, S. 112). Während es damals also um die Episode ging, in deren Mittelpunkt das Don Juan-Finale steht17, schrieb Mörike ein Jahr später gerade an der „Parthie von dem italienischen Kunststück mit den Orangen“ (S. 148), die im Handlungsablauf sehr viel weiter vorne platziert ist. Hatte der Dichter im Dezember 1852 gehofft, die Erzählung schon „gegen das Frühjahr“ abschließen zu können (16, S. 132), so verschob er den Termin im Juni 1853 auf den September.18 Bald darauf häuften sich Klagen über den langsamen Fortgang der Arbeit. Zwar war Mörike im Herbst überzeugt, dass ihm für die Vollendung des Werkes „nur ein paar völlig klare und ungestörte Tage“ fehlten (S. 163), doch wenig später scheint er es für längere Zeit ganz beiseite gelegt zu haben. Erst im Dezember 1854 wird Mozart auf der Reise nach Prag wieder erwähnt, wobei nun auch von „weggeworfenen Parthien“, also von größeren Streichungen die Rede ist (S. 197). Am 6. Mai 1855 schickte Mörike dem Verleger Georg Cotta endlich das – 497 –
18. Das späte Erzählwerk
„bis auf wenige Blätter vollständige Manuscript“ (S. 205). Später nahm er allerdings offenbar noch einige gewichtige Ergänzungen vor, denn die fertige Version, die er am 21. Juni einsandte, hatte nach seinen eigenen Worten „an Umfang nicht unbeträchtlich gewonnen“ (S. 218). Seine hohe Honorarforderung begleitete er übrigens mit der Versicherung, „auf die prosaische Form der Darstellung nicht weniger und einen gewißermaßen ähnlichen Fleiß verwendet zu haben als eine rhythmische Arbeit erfordert“ (S. 210). Cotta druckte die Novelle zwischen dem 22. Juli und dem 12. August in vier Fortsetzungen im „Morgenblatt“ ab, bevor er sie im Herbst in Buchform publizierte. Mörikes kurioser, aber für seinen Hang zum Spiel mit dem Leser bezeichnender Vorschlag, dem Werk eine Komposition jenes fiktiven Kanons beizulegen, der auf dem Verlobungsfest angestimmt wird19, und sie für eine Originalschöpfung Mozarts auszugeben, ließ sich letztlich nicht verwirklichen, weil sich begreiflicherweise kein Musiker aus seinem Bekanntenkreis zutraute, eine Melodie zu schaffen, „in welcher sich etwas specifisch Mozartisches erkennen ließe“ (16, S. 237). Dem Erfolg der Erzählung beim Publikum tat das keinen Abbruch: Der Tenor der Rezensionen war durchweg zustimmend, teils sogar überschwänglich, und bereits im Januar 1856 konnte der Verlag eine zweite Auflage des Büchleins herausbringen. Nicht nur Mörikes Bekannte zeigten sich begeistert, auch von völlig fremden Menschen erreichten ihn diesmal enthusiastische Reaktionen – Theodor Storm übermittelte ihm beispielsweise den Brief eines Herrn von Wussow, seines Zeichens Landrat im fernen Heiligenstadt, der über Mozart auf der Reise nach Prag Tränen der Rührung vergossen hatte.20 Einen ersten Schritt auf dem Weg zur Kanonisierung bedeutete 1872 die Aufnahme der Erzählung in den von Paul Heyse und Hermann Kurz herausgegebenen „Deutschen Novellenschatz“. Ein „Fragment Dichtung“, wie Hartlaub es nannte, war genau die richtige Textsorte für Mörike, der aufgrund seiner begrenzten Leistungsfähigkeit und des Mangels an speziellem Fachwissen natürlich nie daran denken konnte, eine großangelegte Mozart-Monographie zu schreiben. Dennoch verzichtete er keineswegs auf Quellenstudien und verschaffte sich eine recht beachtliche Kenntnis des einschlägigen Materials. Die erste Lebensbeschreibung des Komponisten von wissenschaftlichem Rang, die aus der Feder von Otto Jahn stammt, erschien freilich erst kurz nach seiner Novelle. Frühere biographische Arbeiten, zum Teil noch von Zeitzeugen oder im unmittelbaren Rückgriff auf sie verfasst, sind dagegen vorwiegend als Kompilationen von Anekdoten anzusehen – 498 –
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und kolportieren zahlreiche Legenden, von denen manche bis heute das populäre Mozartbild prägen. Der Dichter kannte wahrscheinlich das 1798 veröffentlichte Werk von Franz Niemetschek Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, während er Georg Nikolaus von Nissens Biographie W. A. Mozart’s von 1828, „ein faustdickes Buch, mit Bildern, Noten u. allem Möglichen durcheinander ausgestopft“, nach eigener Auskunft erst nach der Fertigstellung seiner Erzählung zur Hand nahm (16, S. 219). Sein wichtigster Gewährsmann war der Russe Alexander Oulibicheff, auf dessen Studie Mozart’s Leben, nebst einer Übersicht der allgemeinen Geschichte der Musik und einer Analyse der Hauptwerke Mozart’s er sich schon 1847 „begierig“ zeigte, als sie soeben, vier Jahre nach ihrer Erstpublikation in französischer Sprache, in einer deutschen Übersetzung erschienen war (15, S. 172). Von Oulibicheff übernahm er neben gewissen inhaltlichen Details sogar einzelne Formulierungen fast wortgetreu. Eine größere Rolle als die gedruckten Quellen spielte für die Novelle aber vermutlich Mörikes jahrzehntelanger geistiger Umgang mit dem Komponisten Mozart, von dessen Persönlichkeit er sich im Laufe der Zeit eine feste Vorstellung gebildet haben muss. Wie er Hartlaub erklärte, beschaffte er sich Nissens Schrift ganz bewusst erst nachträglich, weil er fürchtete, sich sonst sein „innerl. Concept dadurch zu verrücken“ (16, S. 219) – und mit diesem „Concept“ meinte er gewiss nicht das Handlungsgerüst der Erzählung, sondern das Bild ihres Protagonisten, das ihm vorschwebte. Nur scheinbar widerspricht Mozart auf der Reise nach Prag daher Mörikes bekannter Abneigung gegen die Verwendung geschichtlicher Personen und Ereignisse in seinen Dichtungen, denn auch wenn er hoffte, seine Schilderung möge „wahr“ sein (S. 211), stellte die Gestalt Mozarts für ihn doch eher ein ‚innerliches‘ Erlebnis als ein fernes historisches Sujet dar. Auf dieser Grundlage schuf er eine der bedeutendsten Künstlernovellen der deutschen Literatur, die zugleich in jeder Hinsicht den krönenden Höhepunkt seines Prosawerks bildet. Seinem Verleger schrieb Mörike bei der Übersendung der noch unvollständigen Textfassung: „Meine Aufgabe bei dieser Erzählung war, ein kleines Charaktergemälde Mozarts (das erste seiner Art so viel ich weiß) aufzustellen, wobei, mit Zugrundlegung frei erfundener Situationen vorzüglich die heitere Seite zu lebendiger concentrirter Anschauung gebracht werden sollte“ (16, S. 205f.). In der Tat lässt sich für Mozart auf der Reise nach Prag schwerlich eine passendere Gattungsbezeichnung als der Ausdruck „Charaktergemälde“ finden, der bereits das weitgehende Zurücktreten des Handlungsaspekts zugunsten eines facettenreichen Porträts der – 499 –
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Titelfigur andeutet. Einen klaren, straffen Aufbau sucht man in der Novelle vergebens; die überquellende Fülle von szenischen Partien, Erzählerkommentaren und eingelagerten Binnenerzählungen wird im Grunde allein durch die Person Mozarts zusammengehalten, die gleichsam im Kreuzungspunkt der unablässig wechselnden Perspektiven steht. Zwar fehlte es zumal in der frühen Mörike-Forschung nicht an Versuchen, unter der bunten Oberfläche des Textes doch noch ein verborgenes Strukturgesetz ausfindig zu machen, aber weder die Spekulationen über vermeintliche Analogien zu musikalischen Formprinzipien noch Karl Konrad Polheims Bemühungen, eine symmetrische Anlage der Episodenkette nachzuweisen21, haben zu tragfähigen Ergebnissen geführt. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass es dem Werk gänzlich an strukturierenden Merkmalen mangele. So unterliegt das erzählte Geschehen, im Wesentlichen also der von Mörike frei erfundene Aufenthalt der Eheleute Mozart auf Schloss Schinzberg auf der Reise von Wien nach Prag im Herbst 1787, einer strengen zeitlichen und räumlichen Begrenzung: Mit der Anreise des Paares „gegen eilf Uhr Morgens“ einsetzend (6.1, S. 225) und mit seiner Abfahrt „[d]en andern Tag […] um zehn Uhr“ abschließend (S. 282), umfasst es ziemlich exakt einen Tageslauf von 24 Stunden und spielt zudem beinahe ausschließlich in dem eng umschriebenen Bezirk des gräflichen Schlosses und seiner umliegenden Gärten. Diese Beschränkung kombiniert Mörike jedoch mit einer gewaltigen Ausweitung des Blickwinkels, die durch die eingefügten Episoden bewerkstelligt wird: Sie führen uns in die Welt der antiken Götter und an den Hof Ludwigs XIV., an die Bucht von Neapel wie nach Berlin und nicht zuletzt an die Stätten von Mozarts Alltagsexistenz in der Kaiserstadt Wien. Dadurch bettet die Novelle den knappen Ausschnitt aus dem Leben des Komponisten in einen umfassenden Horizont ein, der die unterschiedlichsten Epochen und Räume der abendländischen Kultur geschichte umschließt, und ergänzt zugleich den fast anekdotischen Rahmen der Haupthandlung zu einem breiten Lebens- und Charakterbild Mozarts. Außerdem sei schon hier darauf aufmerksam gemacht, dass diese Haupthandlung ihrerseits zwei deutlich markierte Höhepunkte aufweist, die einander kontrastierend gegenüberstehen, nämlich zum einen den „Gipfel geselliger Lust“ (S. 263) auf dem Verlobungsfest und zum anderen die Begegnung mit dem Finale des Don Juan, die bei der versammelten Gesellschaft Erschütterung und tiefes Schweigen hervorruft – wir werden später noch auf beide Passagen zurückkommen. Die für Mörikes Erzählkunst typische episodische Offenheit verträgt sich also auch in – 500 –
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Mozart auf der Reise nach Prag durchaus mit subtilen strukturellen Ordnungsmustern, die freilich nicht in ein ausgeklügeltes mathematisches Schema gepresst werden können. Gewissermaßen als Moderator der Episodenfülle fungiert der auktoriale Erzähler, der seinen Standpunkt offenkundig in der Gegenwart des Autors Mörike und seiner zeitgenössischen Leser hat und daher auch deren Wissensstand teilt; Mozarts früher Tod ist ihm beispielsweise nicht verborgen. Immer wieder schaltet er sich ausdrücklich als vermittelnde Instanz zwischen der erzählten Welt und den Rezipienten ein, indem er um Verständnis und Sympathie für Mozart wirbt, der wiederholt als „Meister“ oder gar als „unser Meister“ angesprochen wird. Und das Publikum sieht sich wie selbstverständlich als eine Schar von Kennern und Verehrern des Don Juan vereinnahmt, wenn der Erzähler diese Oper als „ein uns von Jugend auf völlig zu eigen gewordenes Werk“ bezeichnet (S. 276) oder jedem Leser ohne weiteres zutraut, sie schon über einen „einzeln abgerissene[n], aus einem Fenster bei’m Vorübergehen an unser Ohr getragene[n] Accord“ zu identifizieren (S. 275). Auf diese Weise wird die Leserschaft förmlich in den geselligen Kreis der Bewunderer hineingezogen, der sich auf Schloss Schinzberg um Mozart versammelt, und teilt sein Interesse an der Person und dem Schicksal des Künstlers. Die Präsenz des Erzählers ist jedoch nicht überall so augenfällig, denn mehr als einmal gibt er das Wort an einzelne Personen der Novelle ab und tritt damit selbst für eine Weile in den Hintergrund. Die gewichtigsten Beispiele sind Mozarts Schilderung seiner Kindheitserlebnisse in Italien und der teilweise von Constanze vorgetragene Bericht vom Erwerb der nutzlosen Gartengerätschaften in Wien, aber auch schon ganz zu Beginn kommt dieses Verfahren zur Anwendung, wenn Mörike beziehungsweise sein Erzähler die Beschreibung der Reisekutsche des Ehepaares Mozart ohne ersichtlichen Grund an eine gewisse „Baronesse von T.“ delegiert, die im weiteren Verlauf der Geschichte gar nicht mehr erwähnt wird (S. 225). In ihrer Vielstimmigkeit erhebt die Novelle, wie Horst Steinmetz schreibt, die Konversationsformen einer geselligen Gesprächsrunde zu ihrem eigenen „Struktur- und Kompositionsgesetz“22, womit auch die lockere episodische Fügung des Ganzen eine zusätzliche Erklärung und Rechtfertigung erhält. Auf inhaltlicher Ebene ist Mozart auf der Reise nach Prag ebenfalls zutiefst durch das Phänomen der Geselligkeit geprägt, das wir bereits am Beispiel von Mörikes Schatz ausführlich erörtert haben, denn im Mittelpunkt der Erzählung steht die (vorübergehende) Integration des Künstler– 501 –
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genies in einen aufgeschlossenen geselligen Kreis. Wie prekär sich Mozarts Verhältnis zur Gesellschaft gestaltet, macht die Novelle in ausführlichen Exkursen über sein Leben in Wien und seine angespannte finanzielle Lage sichtbar: Sogenannte Freunde missbrauchen seine Gutmütigkeit und seine bedenkenlose „Großmuth“ (S. 232), der „verwünschte giftige, schwarzgelbe Salieri“ und seine „Helfershelfer“ intrigieren gegen ihn (S. 237), und der „Geschmack des Publikums“ ist „noch weit davon entfernt […], sich entschieden für Mozarts Musik zu erklären“ (S. 232). So muss er kostbare Zeit mit Unterrichtsstunden vergeuden, um das Nötigste zu verdienen, und lebt in einer dauernden Hast und Unruhe, die seiner Gesundheit abträglich ist. Wie anders dagegen der Tag unter seinen Bewunderern auf Schloss Schinzberg! Hier walten keine materiellen Zwänge oder Sorgen, hier gibt es weder Feindseligkeit noch tückische Konkurrenten, und das einzige Gesetz, das die gesellige Runde kennt, ist jenes, das sie sich selbst auferlegt: das Gesetz des guten Tons, des rücksichtsvollen Umgangs und der gebildeten Konversation. Am deutlichsten offenbart sich dieses Gesetz, wenn nach und nach verschiedene Anwesende ihre Bemerkungen und Einfälle zu Mozarts Abenteuer im Park vortragen, so dass eine ganze Reihe von spielerischen Interpretationen des Zwischenfalls mit der Pomeranze zustande kommt. Die äußerste Intensität erreicht die angeregte Atmosphäre schließlich, als Mozart, der Graf und Max dazu übergehen, das gesellige Gespräch sogar in improvisierten Versen fortzuführen. Freilich gibt der Erzähler zu bedenken, dass die Essenz eines derartigen Genusses nur erlebt, aber nicht im Bericht vermittelt werden kann: „Doch solche Dinge lassen sich für die Erzählung kaum festhalten, sie wollen eigentlich nicht wiederholt seyn, weil eben das, was sie an ihrem Ort unwiderstehlich macht, die allgemein erhöhte Stimmung, der Glanz, die Jovialität des persönlichen Ausdrucks in Wort und Blick fehlt“ (S. 261). Gesellige Vergnügungen bleiben an den lebendigen Augenblick und die unmittelbare Präsenz gebunden. Obwohl es Mozarts unvermutete Anwesenheit ist, die dem Tag auf dem Schloss seinen besonderen Glanz verleiht, legt Mörike Wert darauf, die übrigen Mitglieder des Zirkels nicht zur bloßen Staffage des gefeierten Genies zu degradieren. Er versteht es, mehreren von ihnen mit wenigen Strichen ganz individuelle Konturen zu verleihen – so dem Grafen, seinem Sohn und Franziska –, und selbst die Kunstausübung, die der Verschönerung des Festes dient, stellt keine alleinige Domäne Mozarts dar. Die überragende Bedeutung Eugenies wird schon durch ihren Namen – ‚die Wohlgeborene‘ – signalisiert; sie erscheint als kongeniale Partnerin des Meisters, – 502 –
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die sein Werk und seine Wesensart am tiefsten versteht. Eine etwas unglückliche Rolle spielt lediglich ihr Verlobter, der notwendigerweise zurücktreten muss, um die bedeutungsvolle geistige Beziehung zwischen Eugenie und Mozart nicht zu stören. Zwar ist Mörike bemüht, den jungen Baron durch einige explizite Erzählerbemerkungen als würdigen Partner der Braut vorzustellen, aber die Figur bleibt doch zwangsläufig blass. Die Geselligkeit in der Novelle trägt unverkennbar Züge des Rokoko, ist jedoch im Ganzen eher bürgerlich-biedermeierlich als aristokratisch geprägt. Daher sollte man diese intime Runde, die sich in der privaten Sphäre an Geplauder, Hausmusik und Tanz ergötzt, nicht mit der höfischen Kultur des Ancien Régime verwechseln, die durch die Erzählung von der Herkunft des Pomeranzenbäumchens ins Blickfeld rückt, und folglich lässt sich auch die vom Erzähler beiläufig vorweggenommene „unheilvolle Zukunft“ der Französischen Revolution, die diesem „beinahe vergötterten Zeitalter“ bald ein Ende setzen wird (S. 257), nicht als Bedrohung jener Geselligkeitsform auffassen, die uns der Dichter auf Schloss Schinzberg schildert. In Mozart auf der Reise nach Prag entwirft Mörike die von jedem äußeren Druck befreite Geselligkeit nicht nur als Rahmen für eine ideale Begegnung des großen Künstlers mit einem empfänglichen Publikum, sondern darüber hinaus als utopische Erscheinungsform wahrer gebildeter Humanität, die nichts mit beschränkter Gemütlichkeit zu tun hat. Zeit und Raum des Geschehens fügen sich in dieses Bild ein, denn das Fest von Eugenies Verlobung ist bereits als solches aus dem Alltag herausgehoben und eigenen Gesetzen unterstellt, und das Schloss mit seinem Park mutet geradezu wie ein heiterer Abglanz Arkadiens an, wie ein idyllischer, ja paradiesischer Ort, an dem man weder Zwang noch Mangel kennt. Unterstrichen wird auf diese Weise allerdings auch, dass die in der Novelle geschilderten Erlebnisse Mozarts eine absolute Ausnahme darstellen, die mit seinem gewöhnlichen Leben in Wien schroff kontrastiert. Wie vielschichtig das Mozart-Bild der Erzählung ausfällt, haben wir oben bereits angedeutet. Eindimensionalität vermeidet Mörike schon dadurch, dass er seinen Protagonisten von ganz unterschiedlichen Seiten beleuchtet: durch sein eigenes Reden und Agieren in den szenischen Partien, durch ausdrückliche Erläuterungen des Erzählers und nicht zuletzt durch die Eindrücke und Schilderungen anderer Figuren, etwa in Con stanzes Bericht von den Begebenheiten in Wien. Das Bestreben, ein komplexes „Charaktergemälde“ Mozarts zu liefern, das den Menschen wie den Künstler einschließt und insbesondere auch den Zusammenhang beider verständlich macht, bildet gewissermaßen den Einheitsgrund der Novelle. – 503 –
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Damit lässt sich Mörike auf ein heikles Unterfangen ein, das die Frage aufwirft, inwieweit ein solcher Zusammenhang beim künstlerischen Genie überhaupt erfasst und nachgezeichnet werden kann. Noch mehr als hundert Jahre später hat Wolfgang Hildesheimer dasselbe Problem in den Mittelpunkt seiner umfangreichen Mozart-Studie gerückt und die schöpferische Persönlichkeit zu einem undurchschaubaren Rätsel, einem „Ainigma“ erklärt.23 Für Hildesheimer repräsentieren die äußeren Daten von Mozarts Leben, seine inneren seelischen Vorgänge und sein künstlerisches Schaffen drei verschiedene Dimensionen, deren Verknüpfung sich dem analysierenden Blick entzieht, und daher umkreist sein Buch, das die Geschlossenheit der konventionellen chronologischen Darstellung zugunsten einer essayistisch-fragmentarischen Struktur aufgibt, in entschiedener Abgrenzung von der „Trivialbiographie“24 in immer neuen Anläufen gerade die Unmöglichkeit, Mozarts Persönlichkeit zu ‚verstehen‘, jenes verborgene „Element, das ihr Kreatives und ihr Äußeres zusammenhält“, ans Tageslicht zu ziehen25 und die Werke des Komponisten aus ihrem Stellenwert in seiner Lebensgeschichte zu deuten. In erstaunlicher Nähe zu solchen Überlegungen bewegt sich ein Brief Wilhelm Hartlaubs an Mörike, aus dem schon an früherer Stelle zitiert wurde. Hartlaub würdigt dort Oulibicheffs Mozart-Studie, spricht aber auch von den Grenzen, die der Gattung Biographie in diesem besonderen Falle gesetzt seien: „Ich glaube auch gar nicht, daß man eine wahrhaft genußreiche Biographie von Mozart machen kann. Ja, ein Fragment Dichtung aus seinem Leben, wie Du einmal im Sinn hattest, würde tausendmal befriedigender sein. Die Lebensereignisse, Verbindungen, Reisen, die zu berichten sind, sodann die Züge seines Charakters – in welchem Mißverhältniß steht doch alles zu der unendlichen Größe des Künstlers!“26 Tatsächlich nutzt Mörike in der Mozart-Novelle die spezifischen Möglichkeiten der Dichtung, um auf seine Weise zu erreichen, was dem nüchternen Biographen verwehrt bleiben muss. Der Poet ist nicht gezwungen, nach systematischer Vollständigkeit zu streben und dabei die Verknüpfung von äußeren Erlebnissen und kreativen Vorgängen auf einen präzisen Begriff zu bringen; er kann statt dessen mit Bildern arbeiten, die den Kern einer Persönlichkeit und den Ursprung des Schöpferischen anschaulich werden lassen, ohne sie ihrer Rätselhaftigkeit zu berauben. Das geschieht etwa in der folgenden Passage, die eine eingehende Schilderung von Mozarts täglichen Sorgen und Nöten durch den Erzähler beschließt: „Doch wissen wir, auch diese Schmerzen rannen abgeklärt und rein in jenem tiefen Quell zusammen, der aus hundert – 504 –
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goldenen Röhren springend, im Wechsel seiner Melodien unerschöpflich, alle Qual und alle Seligkeit der Menschenbrust ausströmte“ (6.1, S. 231). Ähnlich verhält es sich, wenn der Erzähler Mozarts Vorliebe für banale Zerstreuungen erwähnt und hinzufügt, dass auch solche Erlebnisse dazu beitrugen, dem empfänglichen Geist des Künstlers „nebenher auf den geheimnißvollen Wegen, auf welchen das Genie sein Spiel bewußtlos treibt, die feinen flüchtigen Eindrücke mitzutheilen, wodurch es sich gelegentlich befruchtet“ (S. 230). Die Metapher von dem inneren Quell, dem Mozarts Melodien entspringen, gehört zu einer ganzen Kette verwandter, symbolisch bedeutsamer Motive, die die Novelle durchzieht. Ein erstes Beispiel findet sich ganz zu Beginn, wo der Meister im Reisewagen versehentlich „ein kleines Unheil“ anrichtet: „Durch seine Achtlosigkeit war ein Flacon mit kostbarem Riechwasser aufgegangen und hatte seinen Inhalt unvermerkt in die Kleider und Polster ergossen“ (S. 226). Neben den Bildkomplex des Fließens und Ausströmens, der die Existenz des Protagonisten charakterisiert, tritt in Mozart auf der Reise nach Prag noch ein zweiter, nämlich der des Brennens, des Sich-Verzehrens im Feuer: Wenn Mozart, dieser „feurige“ Mensch (S. 229), von der Leidenschaft seines Berufs gepackt wird, komponiert er sogar mitten in der Nacht ununterbrochen „in Einer Hitze fort“ (S. 280), so wie man ihn zu Constanzes Verdruss auch nur schwer vom Klavier fortlocken kann, wenn er erst einmal „im Feuer ist“ (S. 265). Der Epilog der Erzählung führt schließlich in Eugenies ahnungsvollen Gedanken beide Motivfelder zusammen: „Es ward ihr so gewiß, so ganz gewiß, daß dieser Mann sich schnell und unaufhaltsam in seiner eigenen Gluth verzehre, daß er nur eine flüchtige Erscheinung auf der Erde seyn könne, weil sie den Überfluß, den er verströmen würde, in Wahrheit nicht ertrüge“ (S. 283f.). Was schon diese Leitmotive über den Künstler verraten, fasst der Erzähler mit der Bemerkung „Genießend oder schaffend kannte Mozart gleich wenig Maß und Ziel“ (S. 231) pointiert zusammen: Verschwendung macht den Kern seines Wesens aus, in dem auch die Einheit von Mensch und Künstler, von Leben und Werk fassbar wird; sie stellt bei Mörike „Mozarts Lebens- und Kunstprinzip“ dar.27 Bezeichnenderweise nimmt er das Malheur mit dem wertvollen Riechwasser im Gegensatz zu seiner haushälterischen Gemahlin von der besten Seite, indem er die wunderbare Erfrischung rühmt, die es ihnen während der Fahrt verschafft habe, und auch sonst pflegt Mozart sämtliche Erwägungen der Sparsamkeit und der Zukunftsplanung dem vollen Genuss des Augenblicks unterzuordnen, – 505 –
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denn wenn es gilt, einen „glücklichen Moment bis auf die Neige auszuschöpfen“, kommt für ihn „eine andere Rücksicht, es sey nun der Klugheit oder der Pflicht, der Selbsterhaltung wie der Häuslichkeit, nicht in Betracht“ (S. 231). Weder mit seiner Zeit und seinen Kräften noch mit dem Geld versteht er ökonomisch umzugehen, und deshalb sind keineswegs nur die Ungunst der Umstände und die Intrigen der Neider für seine finanzielle Dauermisere verantwortlich: „Genug, es wirkte eben alles, Schicksal und Naturell und eigene Schuld zusammen, den einzigen Mann nicht gedeihen zu lassen“ (S. 232). Die hektische Umtriebigkeit, zu der ihn Veranlagung und materielle Not gleichermaßen drängen, verzehrt seine körperlichen Kräfte: „Seine Gesundheit wurde heimlich angegriffen, ein je und je wiederkehrender Zustand von Schwermuth wurde, wo nicht erzeugt, doch sicherlich genährt an eben diesem Punkt, und so die Ahnung eines frühzeitigen Todes, die ihn zuletzt auf Schritt und Tritt begleitete, unvermeidlich erfüllt“ (S. 231). Von solchen düsteren Anwandlungen ist auch an anderer Stelle die Rede, wenn es heißt, dass Mozart oft „stumm in einem Winkel vor sich hin, den Einen traurigen Gedanken, zu sterben, wie eine endlose Schraube verfolgte“ (S. 233). Indem der Dichter seinen Helden durch diese expliziten Hinweise sowie durch zahlreiche einschlägige Symbole mit der Melancholie in Verbindung bringt28, reiht er sich in eine große Tradition des abendländischen Denkens ein, die Künstlergenies generell als Melancholiker auffasste und insbesondere Melancholie und Musik eng miteinander verknüpft sah. In der Deutung der Novelle ist Mozarts Künstlertum nicht von seinem frühen Tod zu trennen, da die hemmungslose und letztlich selbstzerstörerische Verausgabung eben auch den Ursprung seiner unvergleichlichen Produktivität bildet. Aus diesem Dilemma gibt es für ihn keinen Ausweg – so lautet zumindest die behutsam formulierte Vermutung des Erzählers: „Man war versucht zu glauben, es habe anders nicht in seiner Macht gestanden und eine völlig veränderte Ordnung nach unsern Begriffen von dem, was allen Menschen ziemt und frommt, ihm irgendwie gewaltsam aufgedrungen, müßte das wunderbare Wesen geradezu selbst aufgehoben haben“ (S. 233). Übersprudelnde Lebenslust und dunkle Todesnähe stellen die beiden gegensätzlichen und doch untrennbar miteinander verbundenen Seiten dar, aus denen sich Mozarts widersprüchliche Persönlichkeit zusammensetzt. Sie korrespondieren seinem eigentümlichen Verhältnis zur Zeit, das zum einen vom gierigen Augenblicksgenuss, zum anderen von einem ausgeprägten Bewusstsein der Vergänglichkeit bestimmt ist: „Allmittelst – 506 –
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geht und rennt und saust das Leben hin – Herr Gott! bedenkt man’s recht, es möcht’ einem der Angstschweiß ausbrechen!“ (S. 229) Es kann nicht verwundern, dass dieser Mann, dem jedes In-sich-Ruhen fremd ist, „ein stetiges und rein befriedigtes Gefühl seiner selbst […] lebenslang entbehrte“ (ebd.). Zwar überkommt ihn mitunter die Sehnsucht nach einer „unschuldige[n], einfache[n] Existenz“ auf dem Lande, die ihn auch dazu bewegt, die Gartengeräte für seine Frau zu kaufen, doch solche Phantasien gelangen nie über einen flüchtigen „idyllischen Anflug“ hinaus (S. 269) – Mozart weiß nicht einmal, dass Constanze den gepachteten Garten längst wieder abgegeben hat und ihr ganzes Gemüse vom Markt bezieht! Auch sein Versuch, sich den Habitus eines bürgerlichen Philisters zuzulegen, indem er zur Förderung seiner Gesundheit wie andere „gesetzte Männer“ regelmäßig mit einem Stock spazieren geht (S. 264), scheitert nur zu bald. Allenfalls kann er ersatzweise dem jungen Liebespaar, von dessen Nöten er auf einem seiner Gänge erfährt, zu einem beschaulichen häus lichen Glück verhelfen. Mozart lebt und produziert in einem permanenten Rausch und damit aus dem strikten Gegensatz zur bürgerlichen Ökonomie, die im weitesten Sinne des Wortes alles Planen und Rechnen, alles Vorausdenken und Haushalten umfasst. Das Gesetz seines Daseins spiegelt sich bis zu einem gewissen Grade in Don Juan, der sich ebenso bedenkenlos auslebt, ohne auch nur die einfachsten Rücksichten der Selbsterhaltung zu kennen – und nicht von ungefähr taucht im Zusammenhang mit diesem „Höllenbrand“ (S. 275), dessen Untergang an den „Brand eines herrlichen Schiffes“ erinnert (S. 280), wieder das Leitmotiv des Feuers auf. Mit dem fiktiven Mozart der Novelle schuf Mörike einen radikalen Gegenentwurf zu seinem eigenen Selbstverständnis als Künstler. Die in der älteren Forschung gelegentlich vertretene These, Mozart sei für ihn „zum Sinnbild seiner selbst“ geworden und die Erzählung mithin als „Selbstdeutung und Selbstdarstellung“ ihres Verfassers zu verstehen29, ist abwegig. Zwar entziehen sich beide den Zwängen und Normierungen der bürgerlichen Ordnung, aber sie tun es auf ganz unterschiedliche Weise: der eine durch Verweigerung, Kränklichkeit und den Rückzug in die Muße des Spiels, der andere dagegen durch rückhaltlose Verausgabung und Verschwendung. Behagliche schöpferische Muße und ängstliche diätetische Selbstbeschränkung sind dem lebenshungrigen Mozart, dessen produktive Kräfte sich gerade an der unaufhörlichen Hektik seines Alltags entzünden, unbekannt, und die Worte von Mörikes Gebet: „Wollest mit Freuden / Und wollest mit Leiden / Mich nicht überschütten! / Doch in der Mitten / – 507 –
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Liegt holdes Bescheiden“ (1.1, S. 210) kämen ihm gewiss nie über die Lippen. Besser passen auf ihn einige Spruchverse des jungen Goethe: „Alles gaben Götter die unendlichen / Ihren Lieblingen ganz / Alle Freuden die unendlichen / Alle Schmerzen die unendlichen ganz“.30 Haben wir bisher die Konturen von Mozarts Persönlichkeit im Allgemeinen nachgezeichnet, so ist jetzt auf einige Textpassagen einzugehen, die an konkreten Beispielen Phänomene der Inspiration gestalten oder einzelne Werke des Komponisten und ihre Wirkung thematisieren und damit das Künstlerbild der Novelle um entscheidende Nuancen bereichern. Berühmt wurde vor allem die Episode im gräflichen Park mit ihrer Schilderung eines kreativen Prozesses, aus dem am Ende das Hochzeitslied für die Oper Don Juan hervorgeht. Mörike präsentiert die Vorgänge gleich zweimal, zuerst aus dem Blickwinkel des Erzählers, der sich weitgehend auf die beschreibende Außenperspektive beschränkt, und später aus Mozarts eigener Sicht, wenn er in der geselligen Runde von seinem Erlebnis berichtet. Zu einem Raum der Inspiration wird der Schlossgarten hier nicht nur im Sinne eines bloßen Schauplatzes. Das Nebeneinander der „schöne[n] dunkle[n] Piniengruppen“ und der „lichteren Partien“ verbildlicht vielmehr symbolisch die Wechselwirkung unbewusster und bewusster Anteile des künstlerischen Schaffens, während das gleichförmige „Geplätscher des Wassers“ im Springbrunnen auf das träumerische Versinken in den Tiefen der Erinnerung verweist (S. 239). Und so wie Mozart anfangs ziellos durch den Park schlendert, schweift auch seine Einbildungskraft zunächst frei umher, bis er, endlich am Brunnen angekommen, „von einem Gedanken ergriffen“ wird, „den er sogleich eifrig verfolgt“ (ebd.). Der schöpferische Akt stellt sich als Abfolge und letztlich als Synthese mehrerer gegensätzlicher Momente dar: Zerstreute Geistesabwesenheit und Konzentration, passives Ergriffensein und zielstrebiges Verfolgen eines Einfalls, Gegenwart und erinnerte Vergangenheit, Trennen und Vereinigen wirken im Inspirationsgeschehen zusammen – das bildet sich in Mozarts versonnenem Spiel mit der Pomeranze ab, die er zerschneidet, um ihre Hälften dann wieder zu vereinigen. Auch sämtliche Sinne haben in synästhetischer Verschränkung an dem Vorgang teil, wenn der südländisch anmutende Anblick der Gartenszenerie, das Plätschern des Wassers, die im Gedächtnis aufsteigenden Bilder und Klänge aus Italien, Berührung und Duft der Pomeranze und schließlich „ein dunkles Durstgefühl“ (S. 239) gemeinsam die produktive Kraft des Künstlers stimulieren. Aber damit sind die sinnlichen Aspekte des Schaffensprozesses noch – 508 –
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keineswegs erschöpft, denn Mörike führt ihn auch als Resultat einer fortschreitenden Sublimierung sexueller Regungen vor. Die von fröhlicher Musik begleiteten neapolitanischen Wasserspiele, die Mozart seinen Zuhörern im Schloss so plastisch schildert, inszenieren in einem erotischen Spiel der Verführung und des Begehrens nichts anderes als den Liebeskampf der Geschlechter. Goldene Äpfel, wie sie sich die Jünglinge und Mädchen zuwerfen, galten schon in der Antike als Sinnbilder für Liebe und Verlangen; in dem quecksilbrigen Fisch lässt sich unschwer ein Phallussymbol ausmachen, und am Ende entpuppt sich Amor, „ein rosiger Knabe […] mit silbernen Schwingen, mit Bogen, Pfeil und Köcher“ (S. 252), als Genius der ganzen Veranstaltung. Nicht zufällig wird der dreizehnjährige Mozart bei dieser Gelegenheit auf die „jüngere Princeß, ein holdes unbefangenes Geschöpf “, aufmerksam, die die Vorführung ebenfalls verfolgt (S. 251). Verwandelten schon die Darbietungen in der Bucht von Neapel sinn liches Verlangen in ein kunstvolles Spiel, so führt Mozart die Metamorphose in der Handlungsgegenwart noch weiter, indem er aus der lebhaften Erinnerung an diesen Anblick ein neues Kunstwerk schafft, das als Hochzeitslied wiederum dem Bereich der Erotik verbunden bleibt. Angesichts solch vielfältiger Bezüge zwischen Kunst und Eros ist es nur folgerichtig, wenn der Komponist das Erlebnis im Park in seinem Entschuldigungsbrief an die Gräfin in die Nähe des Sündenfalls rückt und sich selbst mit Adam vergleicht, „nachdem er den Apfel gekostet“ hat (S. 241)! Den entscheidenden Augenblick in der Genese des Liedes beschreibt er aber im Nachhinein folgendermaßen: „Ich glaubte wieder dieselbe Musik in den Ohren zu haben, ein ganzer Rosenkranz von fröhlichen Melodien zog innerlich an mir vorbei, Fremdes und Eigenes, Crethi und Plethi, eines immer das andre ablösend. Von ungefähr springt ein Tanzliedchen hervor, Sechsachtelstact, mir völlig neu. – Halt, dacht’ ich, was gibt’s hier? Das scheint ein ganz verteufelt niedliches Ding!“ (S. 253) An dieser Stelle zeigt sich noch einmal, wie behutsam Mörike die Spur der Inspiration verfolgt, ohne sie plump ihrer letzten Geheimnisse berauben zu wollen. Die günstigen Bedingungen, die auf den Künstler und seine schöpferische Disposition einwirken, legt er ausführlich dar, doch der glückliche Moment der Eingebung als solcher bleibt dem Zugriff entzogen: Als plötzlicher ‚Sprung‘, der sich „[v]on ungefähr“ ereignet, kann er weder erklärt noch etwa willkürlich herbeigeführt werden. Mit diesem Augenblick ist das Werk allerdings noch nicht abgeschlossen, wie Mozart in bildhafter Sprache erläutert: „der Vogel hatte nur den Kopf erst aus dem Ei, und auf der – 509 –
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Stelle fing ich an, ihn vollends rein herauszuschälen“ (S. 253). Die Abfolge zweier kreativer Phasen, der unverfügbaren Inspiration und der konzentrierten künstlerischen Ausarbeitung, entspricht Mörikes eigenen Erfahrungen, die wir in einem früheren Kapitel erläutert haben. Die fröhliche Atmosphäre der Italien-Schilderung, die auch das Hochzeitsliedchen durchdringt, in das „die lachende Landschaft am Golf von Neapel“ hineinspielt (S. 254), scheint zugleich Mozarts Kunst im Ganzen auszuzeichnen: „Mir däucht“, sagt Eugenie über seinen Erinnerungsbericht, „wir haben hier eine gemalte Symphonie von Anfang bis zu Ende gehabt, und ein vollkommenes Gleichniß überdieß des Mozartischen Geistes selbst in seiner ganzen Heiterkeit! Hab’ ich nicht Recht? ist nicht die ganze Anmuth Figaro’s darin?“ (S. 252) Tatsächlich fügt sich Mozarts Musik harmonisch in die geselligen Vergnügungen auf Schloss Schinzberg ein; gemeinsam mit Eugenie trägt er das eben erst im Park entstandene „köstliche Stück“ sofort der ganzen Gesellschaft vor (S. 262). Aber die Bandbreite von Mozarts Schaffen lässt sich nicht auf die „Heiterkeit“ solcher und ähnlicher Werke reduzieren, denn es gibt ja auch noch das düstere Don Juan-Finale, das in eine ganz andere Sphäre führt. Die heitere, lebensfrohe Musik, die außer dem Hochzeitslied beispielsweise auch der improvisierte Kanon repräsentiert, besitzt keinen autonomen Rang, da sie nicht Selbstzweck, sondern integraler Bestandteil des festlichen Genusses ist: Auf dem „Gipfel geselliger Lust“ kommt „die Musik an und für sich nicht weiter in Betracht“ (S. 263) und wird deshalb durch den Tanz und später durch das vertrauliche Gespräch abgelöst. Das Finale des Don Juan beansprucht hingegen die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden und duldet nichts anderes neben sich. Man hat die beiden Seiten von Mozarts Kunst, wie sie Mörike in seiner Novelle entwirft, daher auch mit dem Gegensatz zwischen der geselligen Musikästhetik des Biedermeier und der romantischen Konzeption einer ‚absoluten Musik‘ in Verbindung gebracht.31 Der Text selbst ordnet sie den Kategorien der „Anmuth“ (S. 252) beziehungsweise der „Erhabenheit“ (S. 279f.) zu. Der erhabenen, erschütternden Dimension von Mozarts Musik widmet der Dichter gleichfalls eine Passage, die den Meister beim Komponieren zeigt: Wie gebannt sitzt er über Da Pontes umgearbeitetem Libretto, dessen frühzeitiges Eintreffen in diesem Fall den entscheidenden Schaffensimpuls ausgelöst hat, und schreibt das Finale der Oper bis zum Ende „in Einer Hitze“ nieder (S. 280). Eine weitere Inspirationsszene also, die Mörike konsequent in Kontrast zu der ersten setzt: Das Hochzeitslied entsteht am helllichten Tage im Freien aus der Erinnerung an die erotisch – 510 –
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getönten Spiele unter südlichem Himmel, der Schluss des Don Juan dagegen zu nächtlicher Stunde in der tiefen Einsamkeit von Mozarts Zimmer, und beide Musikstücke werden der Gesellschaft im gräflichen Schloss auch zu der entsprechenden Tageszeit präsentiert. Lebensfreude und die Schrecken des Untergangs stehen einander gegenüber – nach dem Abschluss der geradezu zwanghaften Beschäftigung mit seiner Oper überkommen den Komponisten wieder einmal Ahnungen des nahen Todes: „wenn du noch diese Nacht wegstürbest“ … (S. 280) –, und so schlägt sich Mozarts widersprüchliches Daseinsgefühl auch in seiner Kunst nieder. Vom Inhalt des Don Juan erfahren wir in der Erzählung auffallend wenig. Gewiss konnte Mörike in diesem Punkt auf das Vorwissen seiner Leser vertrauen, aber die Schwerpunkte der Darstellung im Text deuten doch auch darauf hin, dass sein Interesse hier erneut weniger der differenzierten Werkanalyse als den Wirkungen der Kunst galt, die er teils durch ausdrückliche Erzählerkommentare, teils durch die szenische Schilderung detailliert und anschaulich thematisiert. Unzweifelhaft stellen die dem Don Juan gewidmeten Abschnitte den grandiosen Höhepunkt der Novelle dar. Das zeigen schon die ausführlichen Vorbemerkungen, mit denen der Erzähler sein Publikum auf das Kommende einstimmt, und seine mitunter pathetisch gesteigerte Diktion, die sich merklich von der souveränen Leichtigkeit des Plaudertons abhebt, den er sonst meist anschlägt. Die Begegnung mit einem „erhabenen tragischen Kunstwerk“, um das „ein Schauer der ewigen Schönheit“ schwebt, weckt in jedem Zuschauer oder Hörer „süße Bangigkeit“ und vermittelt ihm zugleich ein Gefühl der Erfüllung, wie es tiefer und umfassender gar nicht vorstellbar ist: „Die Ehrfurcht vor der vollendeten Kunst tritt hinzu; der Gedanke, ein göttliches Wunder genießen, es als ein Verwandtes in sich aufnehmen zu dürfen, zu können, führt eine Art von Rührung, ja von Stolz mit sich, vielleicht den glücklichsten und reinsten, dessen wir fähig sind“ (S. 276). Hier legt Mörike dem Erzähler seine ureigenen Überzeugungen in den Mund, die er in ganz ähnlichen Worten beispielsweise in einem Brief an Schwind ausspricht, in dem er „jene rein schöne, hohe mit keinem andern Glück zu vergleichende Lust“ preist, „die wir immer empfinden, wo die Kunst einmal wieder ihren Gipfel erreicht, wo uns der Genius selber anlacht“ (18, S. 168). Die höchsten Leistungen der Kunst versetzen den Menschen in einen Zustand seliger Harmonie. Gleichwohl haftet diesem Erlebnis im Falle des Don Juan etwas Zwiespältiges an. Auch das nimmt der Erzähler schon in seinen einleitenden – 511 –
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Bemerkungen vorweg: „Der Mensch verlangt und scheut zugleich aus seinem gewöhnlichen Selbst vertrieben zu werden, er fühlt, das Unendliche wird ihn berühren, das seine Brust zusammenzieht, indem es sie ausdehnen und den Geist gewaltsam an sich reißen will“ (6.1, S. 276). Weiter entfaltet wird diese Wirkungsästhetik einer ebenso faszinierenden wie beängstigenden, im Medium der Kunst vermittelten Grenzerfahrung in jenen Partien, die direkt dem Finale der Oper und der Konfrontation des Helden mit seinem gespenstischen Widersacher gewidmet sind: „Es folgte nun der ganze lange, entsetzenvolle Dialog, durch welchen auch der Nüchternste bis an die Grenze menschlichen Vorstellens, ja über sie hinaus gerissen wird, wo wir das Übersinnliche schauen und hören, und innerhalb der eigenen Brust von einem Äußersten zum andern willenlos uns hin und her geschleudert fühlen“ (S. 279). Und angesichts von Don Juans Ende bringt Mörike schließlich noch einmal das Stichwort des Erhabenen ins Spiel: Und wenn nun Don Juan, im ungeheuren Eigenwillen den ewigen Ordnungen trotzend, unter dem wachsenden Andrang der höllischen Mächte, rathlos ringt, sich sträubt und windet, und endlich untergeht, noch mit dem vollen Ausdruck der Erhabenheit in jeder Geberde – wem zitterten nicht Herz und Nieren vor Lust und Angst zugleich? Es ist ein Gefühl, ähnlich dem, womit man das prächtige Schauspiel einer unbändigen Naturkraft, den Brand eines herrlichen Schiffes anstaunt. Wir nehmen wider Willen gleichsam Partei für diese blinde Größe und theilen knirschend ihren Schmerz im reißenden Verlauf ihrer Selbstvernichtung. (S. 279f.)
Erhaben ist Don Juan, weil er sich dem äußeren Zwang nicht beugt und lieber zugrunde geht, als seinem „Eigenwillen“ zu entsagen. Erhabenheit in einem anderen Sinne kennzeichnet aber auch den Eindruck, den der Zuhörer davonträgt, wenn er die Katastrophe des Helden in einer Mischung aus „Lust und Angst“ als intensiven ästhetischen Reiz genießt. Dergleichen kennen wir schon aus verschiedenen Zusammenhängen, beispielsweise von Mörikes auffallender Leidenschaft für Gewitter, deren Anblick bei ihm dieselben Empfindungen weckte. Die Metapher des Schauspiels ist uns von dorther ebenfalls vertraut, und bezeichnenderweise wird Don Juans Sturz in der Novelle mit dem Wirken einer „unbändigen Naturkraft“ verglichen. Jedes Mal ist die Konstellation in ihren Grundzügen die gleiche: Selbst physisch in Sicherheit, kann sich der Betrachter getrost dem erschütternden Spektakel eines erhabenen Vorgangs und dem affektiven Ausnahmezustand wohliger Angstlust hingeben. Moralische Kategorien bleiben – 512 –
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dabei ausgespart, und so spielt das Verlaufsschema von Schuld und Strafe, das Da Pontes Libretto strukturiert, bei Mörike keine nennenswerte Rolle – der Nervenkitzel des Erhabenen ist für ihn eine Frage der Ästhetik, nicht der Sittlichkeit. Einem Urteil der Moral unterliegt Don Juan in der Erzählung ebenso wenig wie die „unbändige Naturkraft“ oder der „Brand eines herrlichen Schiffes“. Wie bei der heiteren Seite von Mozarts Kunst wird auch bei deren tragisch-erhabener Dimension die tiefe und umfassende Wirkung auf die Sinne der Rezipienten hervorgehoben, die synästhetisch über das bloße Hören hinausgeht. Aber während etwa die von Eugenie vorgetragene Arie Susannas aus der Gartenszene des Figaro die Hörer „den Geist der süßen Leidenschaft stromweise, wie die gewürzte sommerliche Abendluft, einathmen“ lässt (S. 245), stellen sich beim Don Juan-Finale beklemmende Empfindungen von Kälte und Dunkelheit ein: „Wie von entlegenen Sternenkreisen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, Mark und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht“ (S. 279). Als Instrumente des Jüngsten Gerichts signalisieren die Posaunen den Einbruch des Unendlichen, Jenseitigen in die irdische Welt und damit eine Erfahrung des Absoluten, die als Erhabenheit erlebt wird. Und wenn das Hochzeitslied, das Mozart im Park des gräflichen Schlosses komponiert hat, auf den „Gipfel geselliger Lust“ führt (S. 263), so ist mit dem Schluss der Oper Don Juan das andere Extrem künstlerischer Wirkungen erreicht, nämlich die völlige Vereinzelung der Zuhörer, die das Band der Geselligkeit zerschneidet. Angesichts des Erhabenen ist jeder mit sich selbst allein: „Der Componist war am Ziele. Eine Zeitlang wagte niemand, das allgemeine Schweigen zuerst zu brechen“ (S. 280). Dabei kann es bei Mörike freilich nicht bleiben, und so wird der ungeheure Eindruck schließlich doch noch Schritt für Schritt in die Sphäre des geselligen Gesprächs zurückgeholt, das den schauerlichen Reiz durch muntere Scherze mildert. Ähnlich wie in Mozarts Persönlichkeit und in seiner Musik mischen sich auch in Mörikes Erzählung helle und dunkle Töne. Dem Verleger Cotta erklärte der Dichter zwar, dass das Mozart-Porträt seiner Novelle „vorzüglich die heitere Seite zu lebendiger concentrirter Anschauung“ bringen solle (16, S. 205f.), doch als ein Freund ihm gestand, er sei bei der Lektüre, „ungeachtet der vorherrschenden Heiterkeit, oder vielmehr durch die Art derselben, aus einer wehmüthigen Rührung gar nicht herausgekommen“, kommentierte er zufrieden: „Das ist es aber eigentlich was ich bezweckte“ (S. 216). Schon wegen der zahlreichen Vorausdeutungen auf – 513 –
18. Das späte Erzählwerk
Mozarts Tod und dessen notwendige Verknüpfung mit dem Lebens- und Schaffensprinzip der Verschwendung, die den Text leitmotivisch durchziehen, ist die idyllische Stimmung keineswegs alleinherrschend, und erst in diesem Zusammenhang erhält auch der Titel des Werkes seine volle Berechtigung, denn er erinnert an den Topos der Lebensreise, die den Menschen unaufhaltsam dem Tod entgegenträgt – ursprünglich wollte Mörike seine Novelle sogar „Mozart auf seiner lezten Reise nach Prag“ nennen (S. 132). Zwar spielt sich fast die gesamte Handlung während einer kurzen Unterbrechung der Fahrt ab, aber vor der dunklen Folie des Vergänglichkeitsgedankens und der unterschwellig stets gegenwärtigen Todesdrohung gewinnen die Freuden des Aufenthalts in der arkadischen Sphäre von Schloss Schinzberg und die Anmut der geselligen Vergnügungen einen ganz eigentümlichen Charakter. Dieser eine Tag, der die Integration des überragenden Künstlers in den Kreis einer idealen Geselligkeit ermöglicht, muss eine seltene Ausnahme bleiben; das Glück des Gelingens ist ein ebenso unverhofftes wie zerbrechliches Geschenk. Vor allem der kleine Epilog, der auf die Abreise des Ehepaares folgt und dessen Fokus auf Eugenie gerichtet ist, stellt sicher, dass dem Leser die dunkle Unterströmung des Ganzen nicht entgeht. Mit ihren trüben Zukunftsahnungen gibt Mozarts kongeniale Partnerin bereits jene „wehmüthige Rührung“ vor, die sich auf das Publikum übertragen soll. Sie beherrscht auch das abschließende Gedicht, das hier als „böhmische[s] Volksliedchen“ (6.1, S. 284) ausgegeben wird und das in Mörikes Sammlung den Titel Denk’ es, o Seele! trägt. Die Verse artikulieren weder Klage noch Verzweiflung, sie bilden vielmehr ein eindringliches memento mori im präzisesten Sinne dieses Ausdrucks. Immer und überall steht das menschliche Leben im Zeichen der Vergänglichkeit und des unabwendbaren Todes – in dieser Hinsicht ist Mozarts Existenz nur ein Beispiel für die conditio humana schlechthin.
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19. Späte Lyrik Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge Am 20. November 1856 schrieb Mörike dem Freund Paul Heyse, der ihm seine Versnovelle Die Braut von Cypern gewidmet hatte, ebenso dankbar wie resigniert: „Lieber Heyse! Wenn ich so Etwas je verdiene, so ist es ganz gewiß darum, weil ich mit reiner Freude zusehen kann, wie Andre, Jüngere, mit vollen Segeln fahren und das erwünschte Ziel erreichen, während ich, früh auf den Sand gelegt, dahinten bleiben muß“ (16, S. 284). Die Mörike-Forschung hat lange Zeit ein ganz ähnliches Bild des alternden Dichters gezeichnet, das von nachlassender Produktivität und einem allmählichen Verstummen geprägt war. Von „Jahren des Schweigens und Tändelns“, in denen es allenfalls vereinzelte Augenblicke echter Inspiration gegeben habe, spricht beispielsweise Gerhard Storz, der hier stellvertretend für viele zitiert werden kann.1 Ein Blick auf die Werkchronologie scheint diese Auffassung zu bestätigen. Mörikes letzte Erzählungen erschienen 1853 und 1855, während die Zweitfassung des Maler Nolten, mit der er sich bis kurz vor seinem Tod beschäftigte, als Fragment liegenblieb. Nachdem er sich in Stuttgart niedergelassen hatte, entstanden überdies nur noch wenige Gedichte, die 1856 und 1867 Eingang in die neuen Auflagen seiner Sammlung fanden, und die weithin anerkannten gewichtigen lyrischen Werke der Spätzeit lassen sich sogar fast an den Fingern einer Hand abzählen: Neben Denk es, o Seele! (1851), Der alte Thurmhahn (1852 vollendet), Erinna an Sappho und Bilder aus Bebenhausen (beide 1863), die unbestreitbar dazugehören, wären höchstens noch Besuch in der Carthause (1861) und „Lang, lang ist’s her“ (1866) zu nennen – für ein volles Vierteljahrhundert gewiss eine magere Ausbeute. Richtet man den Blick aber nicht allein auf den veröffentlichten Gedichtband, sondern auf sämtliche lyrischen Werke aus Mörikes Feder, – 515 –
19. Späte Lyrik
so gewinnt man einen etwas anderen Eindruck von seinem schöpferischen Vermögen in diesem letzten Lebensabschnitt, denn zumindest bis zum Ende der sechziger Jahre entstand sehr wohl noch eine stattliche Reihe von Texten. Es handelt sich jedoch überwiegend um Arbeiten von einer Art, die sich in der Literaturwissenschaft in der Regel keines großen Ansehens erfreut. Ein paar einschlägige Titel mögen das verdeutlichen: An Frau Luise Walther, geb. v. Breitschwert, Der Frau Generalin v. Varnbühler, In das Album einer Schülerin, An Tante Neuffer, Mit einem Riechflakon, Frau Dr. Menzel mit Orangen, Auf eine chinesische Vase, An Carl Künzel in Heilbronn. Wie man sieht, verlegte Mörike sich mehr und mehr auf sogenannte Gelegenheitsgedichte an Verwandte, Freunde und Bekannte, von denen nur eine relativ kleine Anzahl in die Sammlung gelangte oder anderswo einzeln publiziert wurde, während die weitaus meisten lediglich handschriftlich überliefert sind. Es ist das Verdienst Renate von Heydebrands, nachdrücklich auf den Rang und die eigentümliche Bedeutung dieser Werke und auf ihr wachsendes Gewicht in den mittleren und späten Schaffensphasen des Autors aufmerksam gemacht zu haben. Sie konstatiert, dass „nach 1847 überhaupt kaum noch Gedichte ohne häuslichen oder geselligen Anlaß“ entstanden seien, und fügt hinzu: „Nach 1863 gibt es, bis zum Tode des Dichters, kein einziges Gedicht mehr, das nicht an eine lebende Person gerichtet wäre.“2 Statt von einem Schwinden der produktiven Kräfte wäre also eher von einer Akzentverschiebung in Mörikes Schreiben zu sprechen. Er selbst teilte Vischer am 22. Dezember 1861 mit: „Ich komme selten mehr und meistens nur auf äußere Anforderung dazu, etwas zu machen“ (17, S. 170) – ein unmissverständlicher Hinweis auf das Genre der Gelegenheitsdichtung, wobei jedoch anzumerken ist, dass solche ‚äußeren Anforderungen‘ um einiges häufiger eintraten, als hier suggeriert wird. Tatsächlich muss man Mörikes Gelegenheitslyrik ernst nehmen und in ihrer Eigenart würdigen, wenn das Gesamtbild des Dichters nicht unvollständig bleiben soll. Zudem fügt sich die eifrige Pflege dieser Gattung zwanglos in seine Poetik der Geselligkeit und des anmutigen Spiels ein. Definieren können wir Gelegenheitslyrik vorläufig als das Ensemble all jener lyrischen Texte, die, meist eng an inhaltlichen, sprachlichen und formalen Konventionen orientiert, gezielt zu bestimmten festlichen oder anderweitig bedeutsamen Anlässen geschrieben wurden. In der Biedermeierzeit und teilweise auch darüber hinaus war sie ein integraler Bestandteil der bürgerlichen Geselligkeitskultur und ihrer gefühlvollen oder scherzhaft-geistreichen Kommunikation. Sie bezeugte die allgemeine – 516 –
Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge
Achtung vor literarischer Bildung ebenso wie die damals weit verbreitete Fähigkeit, Verse zu machen, die vielleicht nicht unbedingt höchsten ästhetischen Ansprüchen genügten, aber jedenfalls geeignet waren, gesellschaftlichen oder familiären Ereignissen zu besonderem Schmuck zu dienen. Auch in Mörikes Mozart-Novelle verfasst der schöngeistige Offizier Max ein mit mythologischen Anspielungen gespicktes Gedicht auf die Verlobung seiner Cousine, das während der Feier zur allgemeinen Ergötzung vorgetragen wird.3 Fest in pragmatischen Funktions- und Gebrauchszusammenhängen verankert, knüpften die Casualcarmina des Biedermeier, wenn auch in einer oft stark ins Private und Intime verschobenen Ausprägung, an Literaturtraditionen des 17. und 18. Jahrhunderts an, ohne sich um das vergleichsweise junge klassisch-romantische Programm von der Autonomie der Kunst zu kümmern. Erst eine stark an eben diese Autonomievorstellung gebundene Germanistik hat solche dezidiert heteronomen literarischen Erzeugnisse später mit einer Geringschätzung behandelt, die Mörike und seinen Zeitgenossen noch fern lag. Einige Texte, von denen schon an anderer Stelle die Rede war, belegen Mörikes frühzeitige Vertrautheit mit den Traditionen und Regeln des Casualcarmens. Bereits zu seinem elften Geburtstag widmete er „den besten Eltern“ das umfangreiche Gedicht Ein Wort der Liebe4, und aus den Jahren im Niederen theologischen Seminar, wo die Verfertigung feierlicher, in Ton und Form angemessener Gelegenheitsgedichte zum Stoff des Unterrichts gehörte, stammen Die Liebe zum Vaterlande, ein Poem auf den Silvestertag 1819, sowie die Epicedien Württembergs Trauer seit dem 9ten Januar 1819 und Auf Erlenmayers Tod. Später mied Mörike, wie wir wissen, die Sphäre der Politik und der pompösen Festakte und ließ sich nur noch ausnahmsweise auf ein Projekt wie die Cantate bei Enthüllung der Statue Schillers ein, die ihm denn auch mehr Ärger als Freude bereitete. Umso bereitwilliger nutzte er sein Talent für Gelegenheitsdichtungen, die in den Umkreis der häuslichen oder freundschaftlichen Geselligkeit gehörten. So sind zahlreiche Geburtstagsgratulationen in Versform erhalten, die sich an die Schwester Klara, an Margarethe, die Freundin und spätere Ehefrau des Dichters, oder auch an verschiedene Mitglieder der Familie Hartlaub richten. Dank-, Widmungs- und Entschuldigungsgedichte, Stammbucheinträge und Albumverse bilden weitere Untergruppen, wie sie damals auch sonst gang und gäbe waren. Als Beispiele, die einen Platz in der Sammlung fanden, seien folgende Werke genannt: das an einen Freund adressierte Gedicht An O.H. Schönhuth, das aus Anlass der „Geburt seines ersten Töchterchens“ entstand (1.1, S. 247), ein Geburtstagsgedicht für – 517 –
19. Späte Lyrik
Klara mit dem Titel Zum zehnten December, das für Wilhelm Hartlaub bestimmte An den Vater meines Pathchens, mit dem Mörike einen Spielzeugsäbel, der noch aus seiner eigenen Kindheit stammte, als Geschenk für den kleinen Eduard Hartlaub übersandte, die zerknirschten Verse Herrn Bibliothekar Adelb. v. Keller, die die um „nahezu zwei Jährchen“ verspätete Rückgabe einer Catull-Ausgabe begleiteten (S. 275), das Gedicht An Fräulein Luise v. Breitschwert mit dem Dank für die Scherenschnitte der Freundin zum Stuttgarter Hutzelmännlein sowie das Doppelgedicht Zwei Brüdern in’s Album. Einzig die (vergebliche) Hoffnung auf materielle Förderung bewog Mörike 1844, das kunstvolle Sonett Widmung zu verfassen, in dem er die „kleine Welt“ des bescheidenen Dichters mit den „Sternenhöhn“ der großen Politik kontrastierte5 und das eine eigens für den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. angefertigte Prachthandschrift seiner gesammelten Gedichte eröffnete. Wohler fühlte er sich sicherlich, wenn er etwa seinem besonderen Liebling Agnes Hartlaub Verse wie die folgenden zukommen lassen konnte: An Agnes Bonpland zum 14. November 1843
Wie wir unter muntern Schritten Zwischen Stein und Kluft und Dorn Manchen schönen Enkriniten Fanden, manches Ammonshorn: Trete dir auf deinen Wegen Immer neues Glück entgegen! Doch wirst du, was dein Geschick Liebliches dir zugemessen, Auch im allerhöchsten Glück Deines Bonpland nicht vergessen.6
Nur der engere Freundeskreis vermochte dieses Gedicht zu schätzen, weil er über Mörikes Leidenschaft für das Sammeln von Versteinerungen Bescheid wusste, die ihn mit der damals neunjährigen Agnes verband – daher auch die scherzhafte Umbenennung der Adressatin in Anspielung auf den berühmten französischen Naturforscher Aimé Bonpland. An Agnes Bonpland ist sicherlich kein großes Kunstwerk, das zu tiefsinnigen Deutungen und Reflexionen herausfordert. Aber die als Aufmerksamkeit für nahestehende Personen gedachte biedermeierliche Gelegenheitslyrik, die freundschaftliche Beziehungen ästhetisch überhöhte und in poetischen – 518 –
Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge
Erinnerungszeichen verewigte, sollte auch gar nicht vielschichtig und ‚dunkel‘ sein; ihre Qualitäten lagen vielmehr in einer gewissen reizvollen Originalität und Prägnanz des Gedankens und ganz besonders in der menschlichen Wärme und Anteilnahme, die sie zum Ausdruck brachte. Als ‚soziale Geste‘ öffnete sich das Gelegenheitsgedicht zum Adressaten hin, statt sich hermetisch zu verschließen, und diente so als Medium einer geselligen Verständigung, in der sich alle Beteiligten ihrer wechselseitigen Verbundenheit versicherten. Man begreift leicht, warum Mörike solchen dichterischen Übungen nicht abgeneigt war, und es ist bemerkenswert, welch hohes Maß an Kunstfertigkeit er auf sie verwendete. Das zeigt schon der verblüffende Formenreichtum seiner Gelegenheitslyrik, die von einfachsten Metren bis zu anspruchsvollen antiken Mustern kaum eine Möglichkeit auslässt und sich damit entschieden von der zeitgenössischen Massenproduktion auf diesem Gebiet abhebt. Gerne benutzte Mörike den Senar, aber es finden sich auch Distichen, Hexameter, Blankverse, Alexandriner, vierzeilige Strophen und unstrophisch gereihte Reimverse. Genauso breit ist das Spektrum der lyrischen Töne in diesem Textkorpus, das muntere Scherze und heitere Vertraulichkeit ebenso kennt wie die maßvolle feierliche Stilisierung und die sentenziöse Belehrung. Dabei waren Form und Sprachgestus jedes Gedichts natürlich sorgsam auf den Adressaten und die jeweilige Gelegenheit abgestimmt. Wegen der Situationsgebundenheit, die für das Genre konstitutiv ist, verweisen die Gelegenheitsdichtungen außerdem – sei es im Titel, sei es im Text oder in beigefügten Erläuterungen – stets ausdrücklich auf den Anlass und die betreffenden Personen und oft auch auf weitere Umstände, ohne deren Kenntnis sie gar nicht in allen Details verständlich wären. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren schrieb Mörike vermehrt Gelegenheitsgedichte, die über den Kreis der Familie und der engen Freunde hinausgingen und ihren Platz in einer zumindest halb-öffentlichen Sphäre fanden. Das war hauptsächlich den äußeren Bedingungen seiner Existenz in Stuttgart geschuldet, da er als Lehrer am Katharinenstift und namhafter Poet jetzt nicht mehr umhin konnte, stärker als zuvor am sozialen Leben teilzunehmen. Im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit entstanden mehrere Gedichte von geradezu offiziösem Charakter. Hermippus wurde 1859 für „Karl Wolff, Rector des Katharinenstifts“ verfasst (1.1, S. 291), den Mörike hier mit einem legendären römischen Weisen vergleicht, der dank des stärkenden Umgangs mit seinen jungen Schülerinnen in ungeschwächter Gesundheit weit über hundert – 519 –
19. Späte Lyrik
Jahre alt geworden sein soll; Der Frau Generalin v. Varnbüler von 1853 ist der „Vorsteherin des Katharinenstifts“ gewidmet (S. 315), und An Eduard Weigelin richtete sich 1865 an einen Kollegen „[b]ei seinem Austritt aus der Anstalt“ (S. 318). Vermutlich wegen des Ranges der Adressaten, der im Untertitel jeweils ausdrücklich vermerkt ist, nahm Mörike diese Werke in seine Sammlung auf, wo sie zugleich die gesellschaftliche und berufliche Position ihres Schöpfers dokumentieren. Ein anderes Gedicht hielt er dagegen absichtlich so allgemein, dass er es bequem mehrfach verwenden konnte, wenn Schülerinnen ihm ihre Alben mit der Bitte um einen Eintrag vorlegten. Es sei hier zitiert als Paradebeispiel für die konventionelle erbauliche Gebrauchspoesie der gebildeten bürgerlichen Welt, wie sie von dem dichtenden Literaturprofessor Mörike in ganz besonderem Maße erwartet wurde: Mit hundert Fenstern steht ein stattlich Haus, Da blüht ein Jugendflor, der wallet ein und aus, Darin auch du, ein lieber Gast, Gern eine Zeit gesessen hast. Eins räumet seinen Platz dem andern, Ein ewig Kommen ist’s und Wandern; Das Haus allein bleibt fest am Ort. – Doch, was du trägst als eigen fort An Lehre, Sitte, mannigfachem Segen, Der ersten Freundschaft Glück und was dich freuen mögen, Es bleibt, es fruchtet allerwegen Und wuchert dir, ein unerschöpfter Hort.7
Die Entscheidung, ob ein Gedicht aus dem Bereich der Gelegenheitslyrik in die Sammlung aufgenommen werden sollte, wo die einschlägigen Werke dann lockere Gruppen bildeten, traf Mörike nicht nur und wohl nicht einmal in erster Linie nach ästhetischen Gesichtspunkten. Ausschlaggebend war vielmehr die Frage nach der Eignung des Textes für ein größeres, anonymes Publikum. Gedichte an Personen des öffentlichen Lebens hatten folglich bessere Chancen, berücksichtigt zu werden, als solche, die sich an Freunde und Verwandte richteten; die Repräsentativität des Anlasses und der künstlerischen Gestaltung dürfte ein weiteres Auswahlkriterium gebildet haben. Jedenfalls legte Mörike Wert darauf, dass alle Gedichte, die er zum Druck beförderte, auch für Leser zugänglich waren, die nicht von vornherein über die angesprochenen Personen und ihre Verhältnisse Bescheid wussten. Diesen Zweck erfüllen etwa die – 520 –
Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge
erwähnten Hinweise auf die berufliche Stellung der Adressaten, die am Katharinenstift tätig waren, aber auch in dem oben genannten Gedicht An O.H. Schönhuth ist die dem Titel beigefügte Erläuterung „Herausgeber des Nibelungenliedes und verschiedener Volksbücher“ nötig, damit das Publikum die Anspielungen des Textes auf die „Haimonskinder“, auf „Melusine“, „Chriemhilde“ und den „hörnen Siegfried“ entschlüsseln kann (1.1, S. 247f.). Hier manifestiert sich einmal mehr die kommunikative Orientierung von Mörikes poetischem Schaffen, sein Bemühen um Verständnis und Verständigung, das die Leser gleichsam in eine imaginäre Sphäre geselliger Vertraulichkeit integriert. Auf der anderen Seite folgt aus diesen Überlegungen, dass er Gedichte, denen er einen Platz in der Sammlung verweigerte, damit keineswegs eindeutig als belanglos oder künstlerisch unbedeutend abstempelte. Viele von ihnen waren einfach so beschaffen, dass sie ihre Wirkung allein im ganz intimen privaten Umgang entfalten konnten. Eine weitere umfangreiche Gruppe von lyrischen Werken, die in einem etwas anderen Sinne als Gelegenheitsprodukte angesprochen werden können, fand in dem Band Gedichte dagegen überhaupt keine Berücksichtigung, obwohl sie für Mörikes Kunstverständnis womöglich noch bezeichnender ist als die der Casualcarmina. Wir haben es hier mit Texten zu tun, die nicht im Voraus für eine bestimmte Gelegenheit verfasst wurden, sondern mehr oder weniger spontan aus einer meist sehr alltäglichen Gelegenheit hervorgingen, die sie dann festhielten und gegebenenfalls noch durch Kommentare, humoristische Reflexionen oder phantasievolle Ergänzungen erweiterten. Solche Gedichte knüpften in der Regel an Vorfälle in der Familie oder im weiteren Umfeld des Verfassers an, verliehen ihnen eine bescheidene künstlerische Weihe und leisteten damit eine spielerische Poetisierung des gewöhnlichen Lebens. Oft handelt es sich um Verse an oder über Mörikes zahlreiche Haustiere, die er geradezu als gleichberechtigte Familienmitglieder betrachtete. So setzte er 1837 seinem Hund mit folgenden Zeilen ein Denkmal: Impromptu an Joli als er, nach einer Edeltat der Bescheidenheit, von mir, von Clärchen u. Mutter wechselweise auf den Arm genommen und, bis zu seinem Überdruß, geliebkost wurde
Die ganz Welt ist in dich verliebt Und läßt dir keine Ruh, Und wenn’s im Himmel Hundle gibt So sind sie grad wie du!8
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19. Späte Lyrik
In derartigen ‚Hausversen‘ verklärte der Poet seine persönliche Lebenswelt zu einem Reich des Schönen, des Anmutigen oder auch des HeiterSkurrilen und erhob den privaten, familiären Bezirk, der ihm als Schutzund Schonraum diente, zu einem wahren Idyll, das freilich durch die humoristische Färbung auch immer wieder mit milder Ironie bedacht wird. Gedichte dieses Genres hatten den Vorteil, dass sie wenig Aufwand erforderten und deshalb weder hypochondrische Sorgen weckten noch Mörikes therapeutische Maßregeln unterliefen. Sie kursierten in handschriftlicher Form in der Familie und unter den nächsten Freunden und erfüllten damit, ähnlich wie die Casualcarmina, auch eine wichtige soziale Funktion, indem sie die emotionalen Bindungen zwischen den Beteiligten unterstrichen und festigten. Hier ein Beispiel aus den Stuttgarter Jahren, als Mörike bereits Familienvater geworden war – in einem Brief an Hartlaub vom Juli 1862 berichtet er von einem Spaziergang mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern Fanny und Marie: Die Kinder wollten schlechterdings in einem Fiaker fahren. Zu Beschwichtigung ihres endlosen Gewäses auf dem Weg in die Anlagen wurden Verse gemacht wie folgt: Nur nicht wie die Unken, Die da wassertrunken Klagen aus dem Teich! Sondern wie die Vögel, Die doch in der Regel Fröhlich singen von dem Zweig. (17, S. 200f.)
1867 nahm er ein kleines häusliches Missgeschick zum Anlass für einige Alexandriner „im Geist des alten Brockes“, die er Hartlaub gleichfalls mit einer für das Verständnis unentbehrlichen Prosaeinleitung vorlegte: Im Unwillen über eines der Kinder (die Fanny war verdrießlich, ihre Übungen am Clavier zu machen) hatte ich meinen kleinen Spiegel durch einen heftigen Stoß beschädigt. Der Treff ging gerade auf den untern Theil beim Rahmen u. zwar genau auf d. Mitte, so daß von diesem Punkt aus sieben Sprünge radienförmig nach allen Seiten liefen. Um das Glas zusammen zuhalten klebte ich unten, hart am Rand, ein halbirtes Scheibchen Papier darauf, von dessen Peripherie nun die schönen Strahlen ausgehen.
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Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge
Der Spiegel an seinen Besitzer:
Hier sieht man eine Sonn mit wunderbaren Strahlen Doch steht es dir nicht an, mit diesem Werk zu prahlen. Mein ganz unschuldig Glas, das du im Zorn zerschellt, Weis’t dir nun dein Gesicht zum Lasterbild entstellt. Darum bedenk, o Mensch, so oft du dich rasirst, Wie du mit Sanftmuth dich im Lauf des Tages zierst. (18, S. 177)
Erhebt Mörike gelegentlich Tiere zu Sprechern seiner Gelegenheits gedichte – zum Beispiel den schon erwähnten Hund in den Geburtstags versen für Klara mit dem Titel Joli gratuliert zum 10. Dez. 1840 –, so erteilt er hier sogar einem leblosen Gegenstand das Wort. Die Komik, die durch diesen Kunstgriff wie auch durch die altmodische Form und Diktion der Verse erzeugt wird, sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mahnung in ihrem Kern durchaus ernst zu nehmen ist! Begreiflicherweise dachte Mörike nicht daran, solche „Gelegenheitsscherze der leichtesten Art“, die „nicht einmal allgemein verständlich“ waren, zu veröffentlichen (18, S. 108); der Rezipientenkreis blieb im Prinzip auf Leute beschränkt, die aus eigener Anschauung mit den betreffenden Personen und ihren Eigenarten vertraut waren. Allerdings ließ der Dichter vereinzelt auch Männer aus seiner erweiterten Bekanntschaft, die genügend Humor besaßen, an diesen Texten teilhaben. So sandte er 1867 eine Auswahl davon an Friedrich Köstlin, den Rektor der Lateinschule in Nürtingen, mit dem er im Briefwechsel stand, weil er in ihm einen „Freund von jener Art GelegenheitsGedichte“ sah, „welche wir HausVerse nennen und deren immer viele in Scherz und Ernst bei mir entstehn, geschriebene und ungeschriebene“ (18, S. 185); im Jahr darauf erhielt Köstlin noch einmal ein paar „neueste Hausverslein“ als Briefbeilage (19.1, S. 55). Auch Karl Wolff, Mörikes Freund und sein Vorgesetzter am Katharinenstift, wurde mit einem „Duzend versiculi familiares zur Kurzweil“ beschenkt (S. 14), ebenso wie Wilhelm Hemsen, dem Mörike 1872 ein – heute verschollenes – „Potpourri verlorener Verslein“ schickte.9 Die bei den Hausversen häufig anzutreffende Kombination mit einem knappen begleitenden Prosabericht, der die Umstände umreißt, aus denen das Werk hervorgegangen ist, rückt dieses Genre in die Nähe der „Musterkärtchen“, einer verwandten, aber rein erzählenden Gattung, die Mörike ebenfalls hingebungsvoll kultivierte. 1837 gab er Vischer eine präzise Definition: „Zwischen mir und meinen Freunden war und ist zum – 523 –
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Theil noch die Einrichtung, daß wir einander ‚Musterkärtchen‘ schicken. Dieß sind kleine, selbsterlebte Anekdoten, hauptsächl. charakteristische Züge aus unserer nächsten Umgebung, ohne viel Witz, wenn sie nur lustig oder bezeichnend sind“ (12, S. 147). Auch die Musterkärtchen setzten demnach eine wache Aufmerksamkeit für die oft unauffälligen unterhaltsamen und heiteren Momente des Alltags voraus. Besonders beliebt waren Vorfälle mit Kindern oder Tieren, die Anlässe für naive Komik und harmlose Belustigung boten. Schon im Herbst 1833 teilte Mörike Vischer eine solche Episode aus Ochsenwang mit: Soeben bewegt sich ein großer Nebelschweif vom Hügel herunter ins Dorf herein. Ein Kind springt über die Gasse und zugleich stößt ein alter Mann im nächsten Haus das Guckfenster zurück indem er ruft: Schieb Stein’ in Sak, Bub! Schieb Stein’ in Sak! (ist sprüchwörtlich hier u. heißt: man soll sich schwer machen, sonst nehme einen die Wolke mit fort) Ein kleineres Mädchen im bloßen Hemd springt dem Brüderchen nach, es lacht herzlich zwischen Furcht u. Spaß. (12, S. 47)
In Stuttgart lieferten dann die eigenen Töchter dem Dichter reichlichen Stoff für solche Musterkärtchen, mit denen er Hartlaub und andere Freunde großzügig versorgte. Wenigstens zwei Anekdoten, die aus den Jahren 1857 und 1862 stammen, seien hier wiedergegeben. Sie zeugen von Mörikes Vergnügen an der plastischen mimischen und gestischen Vergegenwärtigung einer Situation, das ihn mitunter auch zu szenisch-dialogischen Formen greifen ließ: Noch ein Musterkärtchen: Ed. liegt nach Mittags auf dem Sopha in s. Schlafzimmer u. hat die Geschichte Europas (vom J. 1807) mit aufgeschlagenen Charten vor sich. Fanny in höchster Langeweile neben ihm hin u. her bohrzend fragt alle Augenblick „no net brause?“ (kannst Du mich noch nicht brauchen?) worauf öfter gar keine Antwort erfolgt. Das Gesicht in die Ecke der Kissen gesteckt seufzt sie nach einer langen Stille halblaut für sich: Aß Dott! (Ach Gott!) und dieß zu wiederholten Malen, so daß es mich zulezt erbarmt. Sie merkt an meinem Athem daß ich nach ihr umsehe, dreht schnell den Kopf herum u. fragt mit unwiderstehlichem Ton: „jetzt brause?“ Ich kündigte ihr dann einen Spaziergang an. Aber Mama geht vielleicht auch – mit Wem willst Du lieber? Verlegen freundlich den Finger am Mund, indem sie beide drum ansieht, nach kurzem Besinnen: „Mit de Mama u. de Papa, is eineley.“ (zum erstenmal von ihr gehörtes Wort das sie ganz selbst auffaßte) (17, S. 25)
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Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge
Musterkärtchen von den Kindern. Wir stehen am Fenster u. sehen auf die Straße. Ich: Das Haus des HE. Heck ist innen doch recht nett. Fanny: Ja. Alles eigentlich nobel. Aber klein! besonders der Abtritt zu klein, ganz wunzig! Ich. So? Das ist ein Fehler. Marie. (mit Nachdruck) I bin überzeugt daß net Vier Menschen nei’ könnten. Wenn Du, Papa, und d’ Mutter und Tante und der Herr Kösting nei gienge, man könnt kei Nadel mehr dazwischen stecken, die Tante und der Herr Kösting müßten wieder raus! (S. 204)
Mörikes Musterkärtchen dienten, wie man sieht, nicht der Übermittlung bedeutsamer Nachrichten, sondern allein der Aufrechterhaltung einer freundschaftlichen geselligen Kommunikation, die amüsante private Vorkommnisse als willkommene Anknüpfungspunkte nutzte. Ein an Hartlaub gerichtetes Gedicht von 1842 spricht das explizit aus: Ist von wichtigen Geschichten Eben nicht viel zu berichten, Tunkt man doch die Feder ein; Sollt’ es auch von Lust und Scherzen Unter drei zufriednen Herzen Nur ein Musterkärtchen seyn. (14, S. 28)
Die im Alter noch zunehmende liebevolle Hinwendung zu den kleinen und unscheinbaren Begebenheiten des Alltags bildete gewissermaßen das Pendant zu Mörikes bekannter Neigung, sich in überschaubare, begrenzte Räume der Geborgenheit zurückzuziehen. In diesen Zusammenhang gehörte auch sein reges Interesse an der Welt der Dinge, an den greifbaren Gegenständen in seiner nächsten Umgebung, das ebenfalls poetisch fruchtbar wurde. Ein Beispiel dafür ist die bereits mehrfach erwähnte Vorliebe für Versteinerungen, die er vor allem um die Mitte der vierziger Jahre an den Tag legte.10 Die Petrefaktenkunde war damals außerordentlich populär, zumal die Grenze zwischen bloßer Liebhaberei und ernster fachwissenschaftlicher Forschung noch nicht so streng gezogen wurde, wie es heute normalerweise geschieht. Intensiv diskutierte man zu Mörikes Zeit über das Alter der Fossilien und damit zugleich über das der Erde selbst, doch neben der wissenschaftlichen Neugier kamen auch ästhetische Gesichtspunkte und die pure Lust an Kuriositäten zu ihrem Recht. Mörike hatte sich schon in seiner Kindheit mit Versteinerungen beschäftigt und – 525 –
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ließ dieses Hobby wieder aufleben, als er nach seiner Pensionierung einige Monate bei Familie Hartlaub in Wermutshausen verbrachte. Von dort schrieb er Anfang 1844 dem Freund Otto Schmidlin: „Auch fand ich hier Gelegenheit, einer alten, seit meiner Knabenzeit vergessenen Liebhaberei nachzugehen, von der Du weißt. Unsere Gegend nämlich bietet ziemlich interessante Petrefakten dar“ (14, S. 136). Wie seine Exkursionen für gewöhnlich abliefen, illustriert ein Brief an die Hartlaubs aus Hall vom September desselben Jahres: Ich konnte bis jezt täglich meine Gänge von 2–4 Uhr machen. Vorgestern stand ich während eines Gewitters im Schutz der steinernen Wasserleitung bei der Schlucht am Kirchhof und schlug so lang es regnete, ruhig die Steine zu, die ich noch neulich mit Clärchen bei Seite gethan. Unter der hochgesprengten Wölbung däuchte mir der starke Donner noch einmal so schön. Nachher erschien die gelbe Sonne wieder und ich stieg die steinigte Kluft zwischen herbstlichem Gesträuch, mit meinem Abendbrot in d. Tasche, langsam hinauf. Das sind meine köstlichsten Stunden. Gestern fand ich hinter der Kirchhof-Capelle, wo viele Felstrümmer den Berg herabgestürzt liegen eine mir unbekannte merkwürdige Versteinerung, deren einer dickerer Theil (daumenstark), wie ein Geisfuß gestaltet in einen schmalen Stiel ausläuft; eine feine, glatte knochenähnliche Masse, ohne Zweifel aber ein Meergeschöpf; es steckt halb eingeschlossen in einem Block des härtesten Muschelkalks, von tausend und aber tausend Schaalthierresten umgeben; man kann ihm nur mit dem Meisel beikommen. – Ich schreibe dieser Tage an den Prof. Kurr in Stuttgart, den neulich selber zu besuchen, wie ich willens war, mich nur die Kürze der Zeit abhielt. (S. 172)
Tatsächlich nahm Mörike Kontakt mit Johann Gottlieb Kurr auf, der in Stuttgart Naturgeschichte lehrte, und korrespondierte etwas später auch mit dem bedeutenden Tübinger Geologen und Paläontologen Friedrich August Quenstedt über die Bestimmung einzelner Fundstücke. Noch weitaus reger war der Austausch mit Freunden und Bekannten, von denen er sich Steingeschenke erhoffte, um die eigenen Entdeckungen ergänzen zu können. Bis in die frühe Mergentheimer Zeit hinein bildeten Fossilien einen Hauptgegenstand seiner Briefe, und nach und nach brachte er eine Sammlung von einigen hundert Exemplaren zusammen. Gegen Ende der vierziger Jahre ließ seine Begeisterung nach, ohne jedoch ganz zu erlöschen: Noch 1856 verfasste er für den Quenstedt-Schüler Albert Oppel, der ihn „um eine poetische Etikette zu einem Exemplar von Chirotherium Kaupii aus den Heßberger Sandsteinbrüchen bei Hildburghausen“ – 526 –
Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge
gebeten hatte, das scherzhafte Gedicht Ob Riesenfrosch, ob Beutelthier, das hinter dem unbekannten Urheber dieser steinzeitlichen Fährte einen Frosch vermutet, den es mit dem Versmaß des Jambus in Verbindung bringt, was wiederum Gelegenheit zu einem Seitenhieb auf übereifrige zeitgenössische Poeten gibt.11 Als typischer Zeitvertreib der Muße eröffnete die Petrefaktenleidenschaft dem kränklichen Pensionär ein selbstgewähltes Betätigungsfeld, auf dem er sich ohne äußeren Zwang bewegen konnte und das seine schwachen Kräfte nicht über Gebühr beanspruchte. Dabei trug sein Umgang mit den Fossilien die Züge eines durchaus anspruchsvollen Dilettantismus. Mörike studierte Fachliteratur, bemühte sich intensiv um Zeichnung, Beschreibung und Klassifizierung seiner angehäuften Schätze und hoffte zeitweilig sogar auf eine Anstellung beim königlichen „NaturalienCabinet“ in Stuttgart (14, S. 237). Aber alles in allem hatte er bei der Anlage und Ordnung seiner Sammlung doch weniger die wissenschaftliche Systematik als vielmehr die „ästhetischen Qualitäten“ der Stücke im Auge12, und dass er sein Hobby auch mit humoristischer Distanz zu betrachten vermochte, belegen die Bruchstücke des Erzählprojekts Der Kupferschmied von Rotenburg, mit dem er sich wahrscheinlich in Hall und Mergentheim beschäftigte. In dieser Geschichte, die nie über flüchtige Entwürfe hinausgelangte, sollte nämlich ein pensionierter Steuereinnehmer namens Knisel auftreten, der sich fleißig mit Petrefakten abgibt und in seiner harmlosen Pedanterie und Skurrilität wie ein selbstironisch gezeichnetes Alter Ego seines Schöpfers wirkt. Wenn Mörike Knisel ein „Steckenpferd mit dem Ansehn einer ernsten wissenschaftl. Beschäftigung“ zuschreibt und ausdrücklich die „Freude an der Katalogirung u. zierlichen Schrift der Etiqueten“ als wichtigen Faktor hervorhebt, trifft er damit wohl recht genau seine eigene Haltung. Dasselbe dürfte für folgende Aufzeichnungen gelten, die für die Charakterisierung der fiktiven Figur verwendet werden sollten: Natur seiner Liebhaberei für Fossiliensammlung ist zunächst Curiosität – bezieht sich ferner auf Schönheit der Formen. Appetitlichkeit der Massen, Farbe pp. Die Räthselhaftigkeit mancher Gebilde, Ahnung des sinnvollen Organismus. Respekt vor dem Alter; vormenschlich. Lang fortgeseztes nachdenkliches Begucken. – Genuß der stärkenden Luft während des Sammelns, gesunde Bewegung, Hunger. Wohlgefühl des Stubenaufenthalts im Gegensatz. – Saubere Aufbewahrung in glattgehobelten Holz fächern u. PappSchächtelchen. (6.1, S. 354)
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Die Bemerkungen zur „Räthselhaftigkeit mancher Gebilde“ und zum „Respekt vor dem Alter“ solcher Überbleibsel aus entlegenen Epochen der Erdgeschichte deuten allerdings auch auf ernsthaftere, tiefgründige Aspekte von Mörikes Interesse an den Petrefakten hin. Als dinglich fassbare Repräsentanten einer ungeheuren Vergangenheit konnten diese scheinbar geringfügigen und abseitigen Objekte dem einsichtigen Betrachter ungeahnte Perspektiven eröffnen, seine Einbildungskraft anregen und sogar buchstäblich erhabene Eindrücke evozieren – alle diese Dimensionen der Fossilienkunde sind uns bereits in dem Gedicht Göttliche Reminiscenz begegnet, das 1845 auf dem Höhepunkt von Mörikes Sammeleifer entstand. Im selben Jahr schrieb der Dichter folgende Verse nieder: Der Petrefaktensammler An zwei Freundinnen
Einmal noch an eurer Seite, Meinen Hammer im Geleite, Jene Frickenhauser Pfade, Links und rechts und krumm und grade, An dem Bächlein hin zu scherzen, Dieß verlangte mich von Herzen. Aber dann mit tausend Freuden Gleich den Hügel auf zu weiden, Drin die goldnen Ammoniten, Lias-Terebratuliten, Pentakrinen auch, die zarten, Alle sich zusammenschaarten, – Den uns gar nicht ungelegen Just ein warmer Sommerregen Ausgefurcht und abgewaschen, Denn so füllt man sich die Taschen. Auf dem Boden Hand und Knie, Kriecht man fort, o süße Müh’! Und dazwischen mit Entzücken Nach der Alb hinauf zu blicken, Deren burggekrönte Wände Unser sonnig Thalgelände, Rebengrün und Wald und Wiesen Streng mit dunkeln Schatten schließen! Welche liebliche Magie, Uns im Rücken, übten sie!
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Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge
Eben noch in Sonne glimmend Und in leichtem Dufte schwimmend, Sieht man schwarz empor sie steigen, Wie die blaue Nacht am Tag! Blau, wie nur ein Traum es zeigen, Doch kein Maler tuschen mag. Seht, sie scheinen nah’ zu rücken, Immer näher, immer dichter, Und die gelben Regenlichter All’ in unser Thal zu drücken! Wahrlich, Schön’res sah ich nie. Wenn man nur an solcher Stätte Zeit genug zum Schauen hätte! Wißt ihr was? genießt ihr Beiden Gründlich diese Herrlichkeiten, Auch für mich genießet sie! Denn mich fickt’ es allerdinge, Wenn das rein verloren ginge. Doch, den Zweck nicht zu verlieren, Will ich jetzt auf allen Vieren Nach besagten Terebrateln Noch ein Stückchen weiter kratteln; Das ist auch wohl Poesie. (1.1, S. 328f.)
Hinter den angesprochenen „Freundinnen“ verbergen sich Mörikes Schwester Klara und die Cousine Charlotte Krehl, mit der die Geschwister engen Kontakt hielten. Gemeinsam hatte man bei Frickenhausen in der Nähe von Nürtingen den versteinerten Schätzen der Schwäbischen Alb nachgespürt; Muße und Geselligkeit gingen hier wieder einmal Hand in Hand. Der Petrefaktensammler ist also ein typisches Gelegenheitsgedicht, das mit seiner schlichten, unstrophischen Form, seinem heiteren Plauderton und einigen nachlässigen syntaktischen Fügungen auch einen recht bescheidenen Kunstanspruch signalisiert. Überdies zeugt die Darstellung der Fossiliensuche von derselben milden Selbstironie, wie sie Mörikes Porträt des braven Herrn Knisel in Der Kupferschmied von Rotenburg auszeichnet. Und doch geht das Werk weit über eine anspruchslose Gelegenheitsreimerei hinaus, denn es lässt sich als förmliches Programmgedicht der Hinwendung zu den nahen Dingen und als lyrischer Entwurf einer Poetik der greifbaren Gegenständlichkeit lesen. Strukturbildend ist der Kontrast – 529 –
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zwischen der romantischen Schwärmerei für die Schönheiten der großen Natur und dem Detailrealismus des Kleinen und Fasslichen. Der Sprecher muss sich notgedrungen entscheiden, weil man nun einmal nicht gleichzeitig nach Versteinerungen wühlen und den grandiosen Ausblick auf die „Herrlichkeiten“ der mächtigen Albwände genießen kann. Der Gegensatz zwischen den beiden Alternativen schlägt sich auch auf der stilistischen Ebene nieder: Humor und Ironie reserviert das Gedicht ausschließlich für die Jagd auf Fossilien, während der mittlere Teil, der den atmosphärischen Farbenzauber des Gebirges beschreibt, in einem höheren Ton gehalten und von spielerischen Brechungen gänzlich frei ist. Bemerkenswert sind außerdem die unterschiedlichen Körperhaltungen und Blickrichtungen, denn dem erhabenen „Schauen“ in die Weite, zum Horizont steht das Herumkrabbeln „auf allen Vieren“ gegenüber, das ‚Abweiden‘ des Hanges, das eher einem Tier gemäß wäre. Die Pointe von Der Petrefaktensammler fällt vor diesem Hintergrund aber nur umso wirkungsvoller aus: Der Sprecher delegiert die staunende Betrachtung des Albpanoramas an seine beiden Gefährtinnen, um selber „den Zweck nicht zu verlieren“ und weiter nach lohnenden Fundstücken stöbern zu können. Der Rang des großartigen Naturschauspiels, das keinesfalls „rein verloren“ gehen soll, bleibt also unbestritten, doch die Petrefakten treten ihm gleichberechtigt zur Seite. Von wissenschaftlichen Ambitionen und einem höheren Erkenntnisdrang ist dabei übrigens nicht die Rede. Im Mittelpunkt stehen statt dessen – neben dem Finderglück des passionierten Sammlers („Denn so füllt man sich die Taschen“) – die ästhetischen Reize, die auch die Fossilien sehr wohl aufzuweisen haben, wie die Wendungen „goldne Ammoniten“ und „Pentakrinen […], die zarten“ andeuten, sowie ihr Wert als faszinierende Kuriositäten, der in den genüsslich deklamierten exotischen Fachtermini zelebriert wird. Das Schöne und Wundersame findet sich demnach nicht nur in jenen Naturphänomenen, die die Dichtung seit der Romantik zu feiern nicht müde wurde, sondern ebenso in Dingen unscheinbarster Art, die man, auf dem Boden kriechend, erst einmal hervorscharren muss. „Das ist auch wohl Poesie“, lautet das gleichermaßen bescheidene wie selbstbewusste Fazit des lyrischen Ich, und Mörikes Gedicht will den Leser lehren, diese eigentümliche Spielart des Poetischen zu erkennen und zu würdigen. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts betrieb vielfach geradezu einen Kult der Dinge und des Sammelns, der auch in der Literatur seinen Niederschlag fand; die Achtung und Bewahrung kostbarer Artefakte, die bei Adalbert Stifter eine so bedeutsame Rolle spielt, und die absonderlichen – 530 –
Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge
Sammelinteressen vieler Figuren Wilhelm Raabes sind nur die augenfälligsten Beispiele dafür. Mit dieser Neigung zur Welt der kleinen Gegenstände, die man mit rührender Sorgfalt hegte und ordnete oder auch in Museen ausstellte, suchten die Zeitgenossen der beunruhigenden Dynamik der beginnenden Moderne zu begegnen. Die Pflege schöner, seltener, altehrwürdiger oder einfach nur merkwürdiger Dinge in ihrer handfesten Gegenwärtigkeit bildete ein Gegengewicht zu den Abstraktionstendenzen der neuen Epoche und widersetzte sich den Anfängen der industriellen Massenfertigung ebenso wie der Degradierung des Produzierten zur bloßen Ware, während der Trend zur Musealisierung in einer durch zunehmende Schnelllebigkeit geprägten Zeit den Sinn für Geschichte und Tradition stärkte. Der Dichter Mörike nahm an dieser Bewegung auf mancherlei Weise Anteil. Eine Facette seiner Haltung zur Welt der dinglichen Objekte haben wir bereits im neunten Kapitel kennengelernt, das sich mit seiner Poetik und Ästhetik befasste: In der Fähigkeit zur spielerischen Überhöhung und Verklärung der Realität und ihrer einzelnen Gegenstände erkannte er ein produktives Vermögen, das den echten Künstler auszeichnete. Indem er Ereignisse und Erinnerungen, die ihm wichtig waren, mit Vorliebe an bestimmte Dinge knüpfte, schuf er „private Gedenkmonumente des Alltags“13, die sein Leben und insbesondere seine Freundschafts- und Liebesbeziehungen mit einem ganzen Netz bedeutungsvoller Verweisungen überzogen. Erst später freilich ging er dazu über, auch Gedichte auf Gegenstände zu schreiben. Dazu gehören zunächst die recht konventionellen Widmungsverse, mit denen er Freunden und Bekannten Exemplare seiner eigenen Werke oder andere Geschenke zukommen ließ. So erhielt Therese Krauß, die Frau seines Mergentheimer Arztes, das Bändchen „Iris“ mit dem kleinen Gedicht An Madame K. mit Übersendung meiner Iris, und An J.G. Fischer, versehen mit dem Vermerk „Mit Übersendung einer alabasternen Blumenvase, als er zum Ehrenmitglied und Meister des freien deutschen Hochstifts in Frankfurt a. M. ernannt wurde“, ist einem Dichterkollegen aus der Stuttgarter Zeit zugeeignet. Beide Texte sprechen ausdrücklich ihre Funktion an, dem Autor und Schenker einen Platz im Gedächtnis des Empfängers zu sichern. Zitiert sei hier der Vierzeiler an Fischer, der seine Aufnahme in Mörikes Sammlung sicherlich nicht zuletzt dem öffentlichen Rang und Namen des Adressaten verdankte. Für die feierliche Anrede des befreundeten Lyrikers wählte der Verfasser das würdige Metrum des Distichons, das sich bruchlos mit einer Anspielung auf die griechischen Göttinnen der Anmut verbinden ließ: – 531 –
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Künftig, so oft man dem „Meister“ den wohlerworbenen Lorbeer Neu um die Schläfe, den zwiefältig gewundenen legt, Oder im Lenz auch, wenn er die frühesten Rosen zum Opfer Seinen Chariten weiht, denk’ er des Freundes dabei. (1.1, S. 311)
Das Gedicht erhebt die Vase zu einem dinglichen Medium der geselligsozialen Beziehung zwischen den beiden Männern und zu ihrem unverrückbaren, die Zeit überdauernden Merkzeichen. Aber auch ganz andere Dinge, darunter bisweilen gewöhnliche Utensilien des Alltags, konnte Mörike zum Anlass nehmen, um in schöpferischer Freiheit eine poetische Gegenständlichkeit zu schaffen. Er stellte sich damit in die Tradition des antiken Epigramms, für das die Anthologia Graeca Beispiele in Hülle und Fülle bereit hielt, einer Gattung, die – ursprünglich im wörtlichen Sinne einer ‚Aufschrift‘ – die tiefere Bedeutsamkeit eines Artefakts oder eines Ortes erläuterte und der Nachwelt überlieferte. Ein frühes Epigramm Mörikes, das 1835 entstand, zählt zu den ersten Gedichten, für die er klassische Metren verwendete: Auf das Grab von Schillers Mutter Cleversulzbach, im Mai
Nach der Seite des Dorfs, wo jener alternde Zaun dort Ländliche Gräber umschließt, wall’ ich in Einsamkeit oft. Sieh den gesunkenen Hügel; es kennen die ältesten Greise Kaum ihn noch, und es ahnt Niemand ein Heiligthum hier. Jegliche Zierde gebricht und jedes deutende Zeichen; Dürftig breitet ein Baum schützende Arme umher. Wilde Rose! dich find’ ich allein statt anderer Blumen; Ja, beschäme sie nur, brich als ein Wunder hervor! Tausendblättrig eröffne dein Herz! entzünde dich herrlich Am begeisternden Duft, den aus der Tiefe du ziehst! Eines Unsterblichen Mutter liegt hier bestattet; es richten Deutschlands Männer und Frau’n eben den Marmor ihm auf. (1.1, S. 108)
Die Schlusswendung spielt auf die Pläne zur Errichtung eines Schillerdenkmals in Stuttgart an, die einige Jahre später verwirklicht wurden. Für die feierliche Einweihung des Monuments am 8. Mai 1839 schrieb Mörike auf Bestellung seine Cantate bei Enthüllung der Statue Schillers, aber die poetische und praktische Pflege des Grabes der Dichtermutter – 532 –
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im heimischen Cleversulzbach dürfte als eine eigentümliche Art des persönlichen Gedenkens seinen Neigungen weit mehr entsprochen haben. Nicht erst der etwas später gesetzte Grabstein, den Mörike eigenhändig mit den eingemeißelten Worten „Schillers Mutter“ versah14, sondern schon das Epigramm als solches bildet jenes „deutende Zeichen“, das dem Grab bisher gefehlt hat, um vor dem Vergessen geschützt zu sein. Während die Form des Distichons zu der griechisch-römischen Tradition des Grabepigramms passt, entstammen die einzelnen Motive des Textes und die Stimmung, die über dem Ganzen liegt, eher dem elegischen Gräber- und Friedhofskult der Empfindsamkeit. Tatsächlich scheint Mörike von einem modernen Epigramm eine solche gemütvolle Vertiefung und Sublimierung der Gattung gefordert zu haben. 1841 pries er die Gedichte seines Freundes Karl Mayer mit folgenden Worten: „Manchmal wird ein Gemälde ganz objektiv hingestellt, so doch, daß die Seele des Dichters – Empfindung und Reflexion – wie ein leichter Widerschein darüber webt und ruht. (Was ja bei den griechischen Epigrammen fast durchaus der Fall ist; nur daß sie oft noch nüchterner drein sehn.)“ (13, S. 148). In einer anderen an Mayer gerichteten Bemerkung wird die behutsame Abgrenzung von den Vorbildern aus dem Altertum noch deutlicher: „Von Anfang an war ich, mit Anderen, der Meinung, daß Sie ein jedes Ding in seinem eigensten Air aufzufassen und auch dem Todten, Unlebendigen (was man so nennt) Augen Seele u. Sprache zu geben den genialen Trieb und eine außerordentliche Gabe besäßen, der Meinung, daß Ihr eignes Individuum in jenen Gegenständen abgespiegelt an allen Ecken und Enden in tausendfältiger Bewegung vor uns webe und leuchte“ (14, S. 73f.). Gegenständlichkeit und Konkretheit, wie Mörike sie von allen lyrischen Werken verlangte, sind demnach auch auf dem Feld des Epigramms nicht mit der kühlen Objektivität einer beschreibenden, malenden Dichtung zu verwechseln. Sein Ideal war vielmehr die poetische Steigerung der wahrgenommenen Realität durch die persönliche Sichtweise, die Empfindungen und die Sprache des Dichters, ihre lyrische Beseelung also, die über den vergleichsweise ‚nüchternen‘ Duktus der antiken Epigrammatik hinausging. Vertreten die Verse auf die Ruhestätte von Elisabetha Dorothea Schiller den Typus des Grabepigramms, so lieferte Mörike mit dem in der Sammlung unmittelbar folgenden Gedicht An eine Lieblingsbuche meines Gartens (1.1, S. 109), das ebenfalls sechs Distichen umfasst, seine Variante des im Altertum nicht minder beliebten Weiheepigramms. Das lyrische Ich, das den Namen des verehrten Dichters Hölty in den Stamm der – 533 –
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Buche schneidet, vollzieht einen feierlichen, geradezu magisch-kultisch anmutenden Akt der Bedeutungsstiftung, den der Text kommentierend und erläuternd begleitet. Auch hier herrscht trotz der antikischen Form und der Anrede an die „Dryas“, die Nymphe des Baums, eine empfindsame Atmosphäre, die durch die Person des Geehrten noch zusätzlich verstärkt und legitimiert wird. Berühmte Epigramme wie Auf eine Lampe oder Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen belegen schließlich erst recht, dass Mörikes Gedichte auf Dinge nicht als bloße Nebenwerke abgetan werden dürfen. Sie illustrieren zudem seine besondere Vorliebe für Objekte, die ihrerseits bereits künstlerisch gestaltet waren, also von Geist und ästhetischem Sinn zeugten und damit den Tendenzen seiner eigenen Dichtung entgegenkamen. Bei der Analyse der Bilder aus Bebenhausen werden wir diesen Punkt wieder aufgreifen. Gegenstände erweisen sich im Fluss der Zeit als beständig, sie bewahren Vergangenheit in sich auf und werden damit zu Fixpunkten einer privaten oder freundschaftlich-geselligen Erinnerungskultur. Sie schmücken und zieren, regen aber auch zum Nachdenken an und können von der Phantasie des Poeten buchstäblich verzaubert werden, indem er sie im schöpferischen Akt anspricht oder gar selbst mit Verstand und Sprache begabt, wie es etwa dem alten Turmhahn in Mörikes großer PfarrhausIdylle widerfährt. Auf diese Weise löst der Dichter die Dinge aus ihren alltäglichen Funktionszusammenhängen und hebt sie in die Sphäre des ästhetischen Spiels und der zweckfreien Kontemplation. Noch den unscheinbarsten Artefakten verschaffte Mörike so eine unverwechselbare Aura und gewissermaßen eine individuelle Physiognomie. Zu Recht hat Susanne Fliegner diese poetische Strategie mit der zeitgenössischen Konjunktur des Kunstgewerbes in Verbindung gebracht, das in kritischer Wendung gegen die sich ausbreitende industrielle Massenproduktion von Gebrauchs- und Modeartikeln ganz ähnliche Ziele verfolgte.15 In Lorch besann sich Mörike sogar wieder unmittelbar auf die historischen Ursprünge des Epigramms und ritzte Sinnsprüche und scherzhafte Reime in Tongefäße, die dann als Geschenke verwendet wurden. Am 27. Oktober 1867 berichtete er Schwind von dieser neuen Beschäftigung, die seine müßigen Stunden füllte: „Wir sahen im Vorbeigehen hier bei einem ehrlichen Hafnermeister zum erstenmal auf der Scheibe drehn. Da bestellte ich mir ein paar Vasen nach meiner Zeichnung, um sie, so lang die Masse noch gehörig weich, mit Gravierungen zu verzieren. In Ermanglung eines bessern Instruments tat eine Schusterspfrieme den Dienst“ (18, S. 237). So wurde ein für die Gattin von Rektor Wolff – 534 –
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bestimmter Topf mit folgender Inschrift versehen, die auf Uhlands bekannte Ballade Das Glück von Edenhall anspielt: Ich bin ein schlecht Gefäß aus Erden; Was hätt ich können Bessers werden? Ich bin kein seltsamer Kristall Wie jener Becher von Edenhall. Drum, sollt ich heut in Scherben gehn, Dein Glück wird immerfort bestehn.16
Ein ironisches Spiel mit dem geringen materiellen Wert des beschrifteten Objekts treiben auch die Verse, die das Hochzeitsgeschenk für Marie von Schwind, die Tochter des Malers, begleiteten: Wie mag ich armer Topf aus Erden Am Hochzeitstisch empfangen werden?! – Doch Freunde, lacht, soviel Ihr wollt; Ihr werdet Wunder noch erfahren: Denn wißt, von heut in fünfzig Jahren Verwandl’ ich mich in pures Gold. (18, S. 238)17
In Wahrheit waren es natürlich einzig und allein die individuelle ‚Handschrift‘ und der Geist des Dichters, die einer solchen Gabe ihren einmaligen Rang verliehen. Dass Mörike in Lorch auch selbst getöpfert habe, wie gelegentlich behauptet wurde, ist wohl eine Legende. Anderen kunsthandwerklichen Betätigungen oblag er jedoch mit großem Eifer: Er gab sich zeitlebens gerne mit allerlei Bastelarbeiten ab, schuf in den Mergentheimer Jahren einige kleine Elfenbeinmalereien18 und liebte es vor allem, Orte, Personen und Dinge seiner Umgebung spontan in charakteristischen oder humorvollen Skizzen festzuhalten. Solche Zeichnungen dienten ebenso wie die Gedichte auf Gegenstände und die zahlreichen Gelegenheitsverse der Poetisierung des gewohnten Alltags, der spielerischen Überformung seiner persönlichen Umwelt mit den Mitteln der Kunst. Auf diese ungewöhnliche Art machte Mörike sich eine Wirklichkeit zu eigen, die ihn unter pragmatischen Gesichtspunkten oft bedrängte und überforderte. Erinnern wir uns an jene Notiz, in der er seine Scheu vor „Menschenwerke[n]“, die „etwas Tüchtiges, Festes, Massiges“ an sich haben und dabei „geistlos und gemein. materieller Art sind“, zum Ausdruck brachte und ihnen Artefakte gegenüberstellte, deren Schönheit und Leichtigkeit „Geist u. Herz“ erfreut – 535 –
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(7, S. 286)! Mit Hilfe seiner Poesie schuf er sich im privaten Lebensraum ein heiteres Reich des Schönen oder auch des skurrilen Humors, das er der einschüchternden Welt der Zwänge und der Zwecke, dem rein Verstandesmäßigen wie auch dem Sinnlos-Zufälligen entgegensetzen konnte – im Sprachgebrauch der Epoche eine Sphäre des Gemüts, also des Gefühls und der Innerlichkeit. So dürfen die Hausverse und die Lyrik der Dinge, denen er vor allem im vorgerückten Alter viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete, als spezifische Zeugnisse seiner Poetik des freien, anmutigen Spiels gelten.
Vergänglichkeitsgedanken: die großen Gedichte der Spätzeit Wie fließend bisweilen die Übergänge zwischen Mörikes Gelegenheitsversen und den ‚großen‘ lyrischen Werken seiner letzten Schaffensphase sind, zeigen folgende Distichen aus dem Jahre 1864: An Gretchen
Jüngst, als unsere Mädchen, zur Fastnacht beide verkleidet, Im Halbdunkel sich scheu erst an der Thüre gezeigt, Dann sich die Blonde als Schäferin dir, mir aber die kleine Mohrin mit Lachen zumal warf in den offenen Arm, Und du, Liebste, von fern mein Gefühl nicht ahnend, in’s Ohr mir (Der ich verblüfft da saß) flüstertest „lobe sie doch“ –: O wie gedacht’ ich der Zeit, da diese nicht waren, und wir uns Beide noch fremd, ja du selber noch hießest ein Kind. Einst und Jetzt im Wechsel – ein fliegender Blitz der Gedanken Machte mich stumm, und hoch wallte vor Freuden mein Herz. (1.1, S. 290)
Den Anlass des Gedichts bildet eine nicht sonderlich spektakuläre Familienszene, deren konkrete biographische Bezüge sich unschwer herstellen lassen: Die vertraulich mit „Gretchen“ angeredete Adressatin ist Mörikes Frau Margarethe, die beiden „Mädchen“ sind seine Töchter Fanny und Marie, die damals neun und sieben Jahre alt waren. Allerdings erweisen sich bei näherem Hinsehen schon der innere Aufbau und die sprachliche Gestaltung des Textes als auffallend kunstvoll und komplex. Nachdem ein sechs Zeilen füllendes, verschachteltes syntaktisches Gefüge die Ausgangssituation entworfen hat, gewähren die letzten vier Verse einen Einblick in das Erleben des lyrischen Ich, dem „ein fliegender Blitz der – 536 –
Vergänglichkeitsgedanken: die grossen Gedichte der Spätzeit
Gedanken“ diesen Moment wie ein rätselhaftes und beglückendes Wunder erscheinen lässt, wobei der Höhepunkt seiner Gemütsbewegung prägnant mit dem Hebungsprall in der Mitte des abschließenden Pentameters zusammenfällt („… hóch | wállte …“). „Einst und Jetzt im Wechsel“ – im Gedenken an eine Vergangenheit, in der die Kinder noch gar nicht geboren und selbst die Eltern einander „noch fremd“ waren, gewinnt der gegenwärtige Augenblick für den Sprecher plötzlich eine überwältigende Strahlkraft, die ihm die Sprache verschlägt. Wie in einer Epiphanie wird ihm schlagartig das Ausmaß seiner Seligkeit im Kreise der geliebten Menschen bewusst, und in derselben Sekunde zündet der Funke der Inspiration für die poetische Rede des Gedichts, das die Sprachlosigkeit überwindet und die innere Erfahrung mitteilbar macht. Über eine bloße private Anekdote weit hinausgehend, greift diese Gelegenheitsdichtung mit der Intensität des erlebten Augenblicks und der schwindelerregenden Einsicht in das Geheimnis der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins Themen auf, die nicht nur von höchster und grundsätzlicher Bedeutung sind, sondern auch in Mörikes literarischem Werk von den Anfängen an eine zentrale Rolle spielen. Ebenso vertraut wie der Gedankenflug in die Vergangenheit scheint ihm das Abschweifen in die Zukunft gewesen zu sein, das den gegenwärtigen Moment mit einem möglichen künftigen kontrastiert. Im Juni 1855 beispielsweise, ungefähr zwei Monate nach Fannys Geburt, schrieb er an Hartlaub: „Neulich fand ich ein frischgeschriebenes Recept für sie auf dem Tische liegen das ich las. Mit einer ganz wunderbaren Herzbewegung sah ich unter dem Detur signetur pp am Schlusse zum erstenmal die beiden Namen gepaart: Fanny – Mörike. Mir war dabei ungefähr wie damals bei der Taufe, und flüchtig dazwischen wie ein Wetterleuchten die Ahnung einer 10–14 jährigen Fanny –! Erleb ich das?“ (16, S. 220) Er sollte es wirklich noch erleben, denn Fanny war bereits zwanzig Jahre alt, als ihr Vater starb. Immer wieder umkreist Mörikes Altersdichtung den kostbaren Augenblick und die Flucht der Zeit, die Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Vergänglichkeit des Menschen und dessen Fähigkeit, ihr dennoch etwas Bleibendes abzuringen. „Lang, lang ist’s her“ (1.1, S. 304f.), 1866 zur Hochzeit von Mährlens Tochter Auguste geschrieben und somit von seinem Ursprung her ein typisches Kasualgedicht, kann geradezu als Gegenstück zu An Gretchen gelesen werden. Der Titel zitiert ein „altes Liebeslied“, das „süße Wehmuth“ weckt, indem es die Gedanken auf „vergangne Zeiten“ lenkt, und so verliert sich das lyrische Ich beim Hochzeitsfest der angeredeten jungen Frau in Erinnerungen an – 537 –
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die Vergangenheit, die es mit dem Brautvater teilt – beide Freunde sind in ihrer Geistesabwesenheit „wie der Gegenwart entrückt“. Zwei weitere Versabschnitte bringen aber eine neue Wendung, denn sie malen eine Zukunft aus, in der auch der jetzige Moment nur noch ein Objekt des Gedenkens unter der Devise „Lang, lang ist’s her“ sein wird: Noch steht die Sonne dieses Tags am Himmel und Noch heißt es Heute; wenn dieß Heute Gestern heißt, Wie anders liegt die Welt bereits vor deinem Blick! – Und Jahr um Jahr vergeht gemach mit Eile so. Ihr Inhalt ist zur Hälfte kaum des Menschen Wahl, Die andre ruht in ewiger Mächte Liebesrath. Wenn du an des Geliebten Seite künftighin Des heutigen Fests Gedächtniß ohne uns begehst, Wenn ihr in diesen gästereichen, heitern Saal Euch einmal wieder ganz versetzt im Geist, und all’ Die freundlichen Gesichter hier sich neu vor euch Beleben zwischen Blumenschmuck und Gläserklang: Dann laß zur stillen Abendstunde kerzenhell Dein Zimmer sein und hell erleuchtet dein Clavier. Sing’ ihm das alte Liedchen, das sich nie verlernt: Lang, lang ist’s her. […]
„Und Jahr um Jahr vergeht gemach mit Eile so“ – treffender lässt sich die Widersprüchlichkeit des menschlichen Zeitempfindens kaum in Worte fassen. Und während der aktuelle Augenblick in An Gretchen durch den Gedanken an den Wechsel der Zeiten nur noch intensiviert wird, erlangt er für den Sprecher in „Lang, lang ist’s her“ im Grunde lediglich als Gegenstand wehmütiger Erinnerungen in einer vorweggenommenen Zukunft Bedeutung und plastische Konturen. In ihrer lebendigen Gegenwärtigkeit spielt die festliche Versammlung mit dem „lauten Schwarm / Entzückter Gäste“, die doch den Anlass und Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet, für das lyrische Ich, dem sich seine Existenz offenkundig allein im Modus des Erinnerns erschließt, gar keine Rolle. So trägt das Vermögen der Erinnerung, das einerseits dem flüchtigen Moment imaginäre Dauer verleiht, andererseits aber dessen unmittelbares Erleben im Hier und Jetzt verdrängt, ein Janusgesicht. Vor dem Hintergrund solch elegischer Reflexionen mutet die abschließende Beteuerung, „[d]aß unveraltet Liebe doch und Treue bleibt, / Was auch der Zeiten Wandel sonst hinnehmen mag“, wie eine verblasste Formel an, die das Gedicht zu guter Letzt mehr – 538 –
Vergänglichkeitsgedanken: die grossen Gedichte der Spätzeit
schlecht als recht in die Bahnen eines konventionellen Hochzeitscarmens zurücklenkt, von denen es sich zuvor so weit entfernt hat. Eine vergleichbare Zeitstruktur wie in „Lang, lang ist’s her“ wird übrigens schon in dem gut zwanzig Jahre früher entstandenen Gedicht Ach nur einmal noch im Leben! entworfen, wo dem Ich die Gegenwart auf ähnliche Weise entgleitet. Freilich mildert der Dichter den Ernst des Themas dort durch idyllische Elemente und einen Anflug von Humor. Der Gedanke der Vergänglichkeit ist traditionell eng mit dem Motiv des memento mori verknüpft, das bei Mörike ebenfalls häufiger begegnet. Auf das Gedicht Denk’ es, o Seele! (1851), das er am Ende von Mozart auf der Reise nach Prag platzierte, aber auch separat in seiner Sammlung drucken ließ, wurde im Zusammenhang mit der Novelle bereits hingewiesen. Was die knappen Bilder und Mahnungen dieser Verse dem Leser in äußerster lyrischer Verdichtung vorhalten, entwickelte der Autor zehn Jahre später in Besuch in der Carthause (1.1, S. 270–274) in behaglicher Breite und einem leicht dahinfließenden Erzählton. Rückblickend schildert das lyrische Ich das entschwundene Idyll eines Kartäuserklosters, in dem das horazische Ideal maßvoller, kultivierter Lebensfreude verwirklicht wurde. Der weise Prior – eine fiktive Gestalt, die Mörike bereits 1845 in Dem Herrn Prior der Carthause I. eingeführt hatte – pflegte in heiterer Muße die Kunstschätze der heidnischen Antike neben denen des Christentums, „Geweihtes und Profanes ohne Unterschied“, und war auch dem Wein und einem guten Essen nicht abgeneigt. Zugleich blieb aber das Bewusstsein der Vergänglichkeit und des unausweichlichen Todes allezeit präsent und zwar in Gestalt einer Uhr mit der Aufschrift „Una ex illis ultima“ – ‚eine von diesen Stunden ist die letzte‘. Für den Prior, der nun „auch / In seiner Ecke dort im Chor“ begraben liegt, hat sich dieser Spruch inzwischen ebenso bewahrheitet wie für das gesamte geistlich-weltliche Idyll. „Ein jedes Ding währt seine Zeit“, konstatiert der Sprecher in gelassener Resignation, als er Jahre später in den Gebäuden des ehemaligen Klosters eine lärmende Wirtschaft samt Bierbrauerei antrifft. Im Gasthaus findet er jedoch zu seiner Überraschung immer noch die besagte Uhr vor, die vom Prior über den Pater Schaffner schließlich an den Brauer vererbt wurde. Die ernste Erinnerung an die Endlichkeit des menschlichen Daseins behauptet also auch angesichts der fabrikmäßigen Betriebsamkeit einer neuen, materialistischen Epoche hartnäckig ihre Geltung. Ein elegisch-melancholisches Sujet durch Ton und Darstellungsweise humoristisch einzufärben, wie es in Besuch in der Carthause geschieht, ist – 539 –
19. Späte Lyrik
eine typische Strategie Mörikes zur poetischen Bewältigung des Vergänglichkeitsthemas. Eine andere und noch weitaus komplexere begegnet in einem Gedicht, das ohne Zweifel zu den überragenden Schöpfungen seiner Spätzeit gehört. Er schickte es am 21. Juni 1863 an Hartlaub und fügte die Erläuterung bei: „Der Hauptsache nach ist das obige Stück schon vor 12 Jahren […] entstanden, aber nicht ausgemacht [fertiggestellt] worden“ (17, S. 264). Die reimlosen Verse sind freirhythmisch, umspielen aber immer wieder antike Metren wie den Hendekasyllabus aus der Sapphischen Odenstrophe und den Hexameter: Erinna an Sappho
(Erinna, eine hochgepriesene junge Dichterin des griechischen Alter thums, um 600 v. Chr., Freundin und Schülerin Sappho’s zu Mitylene auf Lesbos. Sie starb als Mädchen mit neunzehn Jahren. Ihr berühmtestes Werk war ein episches Gedicht, „die Spindel“, von dem man jedoch nichts Näheres weiß. Überhaupt haben sich von ihren Poesien nur einige Bruchstücke von wenigen Zeilen und drei Epigramme erhalten. Es wurden ihr zwei Statuen errichtet, und die Anthologie hat mehrere Epigramme zu ihrem Ruhme von verschiedenen Verfassern.) „Vielfach sind zum Hades die Pfade“, heißt ein Altes Liedchen – „und Einen gehst du selber, Zweifle nicht!“ Wer, süßeste Sappho, zweifelt? Sagt es nicht jeglicher Tag? Doch den Lebenden haftet nur leicht im Busen Solch ein Wort, und dem Meer anwohnend ein Fischer von Kind auf Hört im stumpferen Ohr der Wogen Geräusch nicht mehr. – Wundersam aber erschrak mir heute das Herz. Vernimm! Sonniger Morgenglanz im Garten, Ergossen um der Bäume Wipfel, Lockte die Langschläferin (denn so schaltest du jüngst Erinna!) Früh vom schwüligen Lager hinweg. Stille war mein Gemüth; in den Adern aber Unstet klopfte das Blut bei der Wangen Blässe.
Als ich am Putztisch jetzo die Flechten lös’te, Dann mit Nardeduftendem Kamm vor der Stirn den HaarSchleier theilte, – seltsam betraf mich im Spiegel Blick in Blick. Augen, sagt’ ich, ihr Augen, was wollt ihr? Du, mein Geist, heute noch sicher behaus’t da drinne, Lebendigen Sinnen traulich vermählt, Wie mit fremdendem Ernst, lächelnd halb, ein Dämon,
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Vergänglichkeitsgedanken: die grossen Gedichte der Spätzeit
Nickst du mich an, Tod weissagend! – Ha, da mit Eins durchzuckt’ es mich Wie Wetterschein! wie wenn schwarzgefiedert ein tödtlicher Pfeil Streifte die Schläfe hart vorbei, Daß ich, die Hände gedeckt auf ’s Antlitz, lange Staunend blieb, in die nachtschaurige Kluft schwindelnd hinab. Und das eigene Todesgeschick erwog ich; Trockenen Augs noch erst, Bis da ich dein, o Sappho, dachte, Und der Freundinnen all’, Und anmuthiger Musenkunst, Gleich da quollen die Thränen mir.
Und dort blinkte vom Tisch das schöne Kopfnetz, dein Geschenk, Köstliches Byssosgeweb, von goldnen Bienlein schwärmend. Dieses, wenn wir demnächst das blumige Fest Feiern der herrlichen Tochter Demeters, Möcht’ ich ihr weihn, für meinen Theil und deinen; Daß sie hold uns bleibe (denn Viel vermag sie), Daß du zu früh dir nicht die braune Locke mögest Für Erinna vom lieben Haupte trennen. (1.1, S. 133f.)
Mit Mörikes Vorliebe für die Gattung der Epistel sind wir bereits vertraut, aber als fiktiver Brief einer historischen Person an eine andere – als ‚Heroide‘ in der Terminologie der älteren Poetik – stellt Erinna an Sappho einen Sonderfall in seinem lyrischen Werk dar. Die Informationen für die einleitende Prosaanmerkung entnahm der Autor größtenteils dem Kommentar einer zeitgenössischen deutschen Übersetzung der Anthologia Graeca.19 Sie entsprachen demnach dem historischen und philologischen Wissensstand seiner Epoche, der inzwischen freilich überholt ist. Während man heute annimmt, dass Erinna im vierten vorchristlichen Jahrhundert und damit lange nach der berühmten Dichterin Sappho lebte, rechnete Mörike sie noch zu den jungen Mädchen aus adligen Familien, die von Sappho auf der Insel Lesbos in musischen Fertigkeiten unterrichtet wurden und enge freundschaftliche Beziehungen zu ihrer Lehrerin unterhielten. Wie so viele lyrische Werke Mörikes kreist auch Erinna an Sappho um einen Moment der Einsicht, der sich blitzartig – „[w]ie Wetterschein“ – einstellt und zum Kristallisationspunkt des ganzen Gedichts wird. In diesem Fall handelt es sich allerdings um einen Moment des Entsetzens, der Erinna schockartig mit dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit – 541 –
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konfrontiert. Zwar weiß natürlich jeder Mensch, dass er sterben muss, doch in der Regel ist er, wie die Sprecherin gleich eingangs feststellt, für diese allbekannte Tatsache ebenso abgestumpft, wie ein Fischer am Meer im Laufe der Jahre für das Rauschen der Wellen taub wird. An jenem verhängnisvollen Morgen, von dem die Epistel erzählt, fällt diese Stumpfheit mit einem Mal von Erinna ab. Ihr Körper scheint schon im Voraus zu ahnen, was kommen wird: „Stille war mein Gemüth; in den Adern aber / Unstet klopfte das Blut bei der Wangen Blässe.“ Bedeutungsvoll ist dann die Situation „am Putztisch“, die die Verse so plastisch heraufbeschwören, denn der Blick in den Spiegel ist eine geläufige Metapher für Selbsterkenntnis, und auch das durch den auffälligen Zeilensprung hervorgehobene Motiv des geteilten (Haar-)Schleiers fügt sich in diesen Zusammenhang. Mörikes Gedicht gestaltet folglich einen erschütternden Augen-Blick im doppelten Sinne, und auch von Reflexion kann man hier in beiderlei Bedeutungen des Wortes sprechen, weil es die Begegnung mit dem eigenen Abbild im Spiegel ist, die bei Erinna das Nachgrübeln über sich selbst und ihr Schicksal in Gang setzt. Dabei geht Selbsterkenntnis in scheinbar paradoxer Weise mit Selbstentfremdung einher, wenn die Betrachterin sich im Spiegel wie ein anderes Wesen, wie einen Unheil weissagenden „Dämon“ wahrnimmt. Aber erst diese ungewohnte Perspektive, erst diese Außensicht, die ihr normalerweise verwehrt bleibt, öffnet den Weg zu der „mit Eins“ hereinbrechenden Erkenntnis, dass das eigene Ich endlich und sterblich ist. Nicht von ungefähr fasst der Volksaberglaube das Erscheinen eines Doppelgängers als Ankündigung des nahen Todes auf. Der bestürzende Moment der Einsicht, der Erinna „durchzuckt“ und sie buchstäblich bis ins Mark trifft, steht nicht nur im übertragenen Sinne im Zentrum der Epistel. Seine Schilderung füllt den dritten und umfangreichsten von insgesamt fünf Versblöcken und fungiert damit als Mittelachse in einer symmetrischen Bauform, die sich aus acht, sechs, dreizehn, sechs und noch einmal acht Zeilen zusammensetzt. Erinna tastet sich in ihrer erzählenden Rede also erst langsam an den Augenblick vor dem Spiegel heran, um ihn dann allmählich wieder hinter sich zu lassen, und in der Tat ist der Text ganz von dem Bemühen geprägt, das Schreckenerregende einzuhegen und zu bändigen. Einen ersten Versuch der Bewältigung stellt schon Erinnas Entschluss dar, das Geschehene in Worte zu fassen und der Freundin mitzuteilen. Die plötzliche Erfahrung jenes Morgens war eine einsame, da jeder Mensch dem „eigene[n] Todesgeschick“ zunächst einmal allein gegenübersteht. Indem Erinna dieses existenzielle Erlebnis aber in die Epistel überführt, die uns hier vorliegt, hebt – 542 –
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sie ihre Isolation auf und findet in die Sphäre des Sozialen und des Gesprächs zurück, die Mörike zeitlebens für so wichtig erachtete. Bezeichnenderweise enthält jeder Abschnitt des Gedichts mit Ausnahme gerade des mittleren mindestens eine ausdrückliche Wendung an die Adressatin Sappho! Außerdem besinnt sich Erinna auf die mannigfachen Freuden, die ihr Dasein bereithält und die vor der dunklen Folie des Todes nur umso heller glänzen, auf die Liebe im Kreis der „Freundinnen all’“ und auf die „anmuthige Musenkunst“. Zwar treibt der Gedanke an den unvermeidlichen Abschied von diesen Genüssen sogleich Tränen hervor, doch bedeutet auch das Weinen einen heilsamen Schritt zur Überwindung jener Erstarrung, in die sie vor dem Spiegel, „in die nachtschaurige Kluft schwindelnd hinab“, noch verfallen war, einen Schritt vom blanken Entsetzen zur milderen Wehmut. Und am Ende scheint ihr die schöne Gegenständlichkeit des prachtvoll geschmückten Haarnetzes angesichts der lastenden Vergänglichkeitsdrohung einen festen Halt zu versprechen. Folgerichtig will sie dieses Kunstwerk der Unterweltsgöttin Persephone, der „herrlichen Tochter Demeters“, weihen, um ihr „Todesgeschick“ wenigstens aufzuschieben und damit auch den Augenblick hinauszuzögern, in dem Sappho sich, antiker Sitte gemäß, als Zeichen der Trauer um die verstorbene Gefährtin eine Locke abschneiden wird. Noch einmal tritt der hohe Wert der Freundschaft zutage, wenn Erinna in den Schlussversen nicht das eigene Sterben, sondern die Vorstellung von dem Schmerz der zurückbleibenden Geliebten in den Vordergrund rückt. In Erinnas Namen beschwört Mörike von den geselligen Bindungen bis zum Kult der schönen Dinge all jene Gegenkräfte, mit denen er auch sonst der Vergänglichkeit und dem Fluss der Zeit zu begegnen pflegt – aber nicht, um die Schatten des Endes zu verdecken, sondern um beide Seiten gerade in ihrem Kontrast zu inszenieren und dadurch die Grundspannung des Gedichts zu schaffen. Die Freuden des Lebens und die Unausweichlichkeit des Todes behalten gleichermaßen ihre Rechte, und das Bewusstsein der Sterblichkeit vermag die Intensität des Daseins gefühls sogar noch zu erhöhen, sofern man sich nicht gänzlich von ihm überwältigen und lähmen lässt. Die wohltuende Dämpfung des Todesgedankens, die keinesfalls mit dessen Verdrängung verwechselt werden darf, deutet sich übrigens schon in den ersten Versen an, in denen Erinna mit ihrer Berufung auf das überlieferte „Liedchen“ und dem weit ausholenden epischen Vergleich eine objektivierende Distanz zu der ganz individuellen Erfahrung herstellt, die sie im Folgenden zu schildern unternimmt. Und – 543 –
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in dieselbe Richtung zielen gewisse Aspekte des Werkes, die jenseits der Rede des lyrischen Ich auf der Ebene des Textes und des Autors angesiedelt sind, nämlich das vertraute Gattungsmuster der Heroide, auf das Mörike zurückgreift, die gesamte antikisierende Einkleidung des Themas und nicht zuletzt der vorausgeschickte trockene historisch-philologische Kommentar. Dessen Wirkung ist allerdings eine ambivalente: Unterstreicht er einerseits den Abstand zu der in eine ferne Vergangenheit entrückten lyrischen Rede Erinnas, so konfrontiert er den Leser andererseits mit dem erschütternden Faktum, dass sich die Todesahnungen der Sprecherin nur allzu bald bewahrheitet haben: „Sie starb als Mädchen mit neunzehn Jahren.“ Von der kunstvollen Balance zwischen emotionaler Nähe und Distanz, zwischen existenzieller Betroffenheit und Souveränität der ästhetischen Gestaltung lebt das ganze Gedicht. Aus demselben Jahr wie Erinna an Sappho stammt ein weiteres großes lyrisches Alterswerk Mörikes, das auf seine Art ebenfalls das Thema der Vergänglichkeit umkreist und zugleich von der poetischen Aufmerksamkeit für das fassliche gegenständliche Detail zeugt. Der Zyklus der Bilder aus Bebenhausen verdankte seine Entstehung einem Erholungsaufenthalt des kränkelnden Dichters in dem ehemaligen Zister zienserkloster, der vom 28. August bis zum 15. Oktober 1863 dauerte. Die Abtei Bebenhausen, wenige Kilometer von Tübingen entfernt am Rande des Schönbuchs gelegen, war im 12. Jahrhundert gegründet und im Zeitalter der Reformation aufgehoben worden; später diente sie lange als Niederes theologisches Seminar, danach nutzte man einzelne Gebäude als königliches Jagdschloss und als Sitz eines Oberforstamts, während andere in Verfall gerieten (erst in neuerer Zeit wurde der gesamte Komplex aufwändig restauriert). Mörike wohnte mit Klara und seiner jüngeren Tochter in einem Haus beim Kloster, das Karl Wolff und seiner Frau Marie gehörte. Zwischendurch kamen auch Margarethe und Fanny für einige Tage zu Besuch. Mörike fühlte sich in diesem „unvergleichlichen refugio monastico“ (17, S. 288) ausgesprochen wohl, genoss die Stille und die Natur, las viel – unter anderem über „die Geschichte des Klosters u. s. architekton. Merkwürdigkeiten“ (S. 284) –, unternahm Spaziergänge und erkundete die Gebäude der Abtei. Ein gleich zu Beginn des Aufenthalts geschriebener umfangreicher Brief an seine Frau und die Familie Wolff schildert ausführlich „das ganze Glück so eines Bebenhauser Taglaufs“ (S. 277). Und wieder einmal wurde die Zeit ungestörter Muße für den Dichter auch literarisch fruchtbar, denn die meisten Stücke des Zyklus, den er als – 544 –
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„dankbares Denkzeichen meines glücklichen Bebenhäuser Lebens“ bezeichnete (S. 288), entstanden im Laufe des September an Ort und Stelle. Insgesamt handelt es sich um elf kurze Texte in Distichen, die in der Tat jeweils ein klar abgegrenztes „Bild“ bieten – es sind also Idyllen, sofern man darunter, mit Mörikes Worten, „kleine dichterische Gemälde“ versteht (8.1, S. 95). Aber da diese lyrischen Bilder fast durchweg aus der Perspektive eines Sprecher-Ich entworfen sind, dessen Empfindungen und Reflexionen in die Darstellung einfließen, könnte man ebenso gut von einzelnen Situationen sprechen, in denen sich der Betrachter immer einem bestimmten Ort oder Realitätsausschnitt innerhalb des Klosterbezirks gegenübersieht. Der Zyklus scheint geradezu einen Rundgang widerzuspiegeln, der den Sprecher – und mit ihm den Leser – nach und nach zu allen markanten Plätzen und Sehenswürdigkeiten der Anlage und ihrer näheren Umgebung führt. Einen zentralen Motivkomplex des Werkes benennt schon der Titel des ersten Gedichts: Kunst und Natur
Heute dein einsames Thal durchstreifend, o trautestes Kloster, Fand ich im Walde zunächst jenen verödeten Grund, Dem du die mächtigen Quader verdankst und was dir zum Schmucke Deines gegliederten Thurms alles der Meister verliehn. Ganz ein Gebild des fühlenden Geistes verläugnest du dennoch Nimmer den Mutter-Schooß drüben am felsigen Hang. Spielend ahmst du den schlanken Krystall und die rankende Pflanze Nach und so manches Gethier, das in den Klüften sich birgt. (1.1, S. 293)
Das Ideal einer Kunst, die ihre Gesetzmäßigkeiten von den organischen Schöpfungen der Natur ableitet, erinnert an die Ästhetik der Weimarer Klassik. Die Klostergebäude sind Menschenwerk und als „ein Gebild des fühlenden Geistes“ aus dem Zusammenwirken von Empfindung und Verstand hervorgegangen, aber nicht nur ihr Material entstammt dem „Mutter-Schooß“ der Erde, auch ihr künstlerischer Schmuck nimmt sich natürliche Gegebenheiten zum Vorbild, indem er mit dem „schlanken Krystall“, der „rankende[n] Pflanze“ und „so manche[m] Gethier“ alle drei ‚Reiche‘ der Natur nachahmt. Wahre Kunst wächst also gleichsam aus der Natur hervor und hebt deren Trennung von der Kultursphäre in einer vollendeten Synthese auf. Einen solchen harmonischen Einklang rühmt auch das fünfte Stück des Zyklus, in dem der Sprecher das „Sommer-Refectorium“ – 545 –
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beschreibt, den Speisesaal des Klosters, der mit seiner gotischen Architektur und seinen malerischen Verzierungen einen Wald nachbildet: […] Ha, wie entzückt aufsteiget das Aug’ im Flug mit den schlanken Pfeilern! Der Palme vergleicht fast sich ihr luftiger Bau. Denn vielstrahlig umher aus dem Büschel verlaufen die Rippen Oben und knüpfen, geschweift, jenes unendliche Netz, Dessen Felder phantastisch mit grünenden Ranken der Maler Leicht ausfüllte; da lebt was nur im Walde sich nährt: Frei in der Luft ein springender Eber, der Hirsch und das Eichhorn; Habicht und Kauz und Fasan schaukeln sich auf dem Gezweig. […] (S. 297)
Und im „Gang zwischen den Schlafzellen“, im sechsten Gedicht, schmücken Naturelemente den Fußboden: „Rebengewinde mit grüner Glasur und bläuliche Trauben“ sind dort zu sehen, „Täubchen dabei, paarweis, rings in die Ecken vertheilt“, aber auch „Chelidonium“, das Schöllkraut, von dem das Ich ausdrücklich bemerkt, dass sein „lebendig / Wucherndes Muster noch heut draußen die Pfeiler begrünt“ (S. 298). Folgt die Kunst im Kloster einerseits dem Vorbild der Natur, so zeichnet sie sich andererseits durch ihren Spielcharakter aus, indem sie das bloß Stoffliche oder Verstandesmäßige ästhetischen Gesichtspunkten unterwirft. Als „[s]pielend“ und somit zweckfrei bezeichnet schon das Eingangsgedicht die Nachahmung der natürlichen Welt in den Gebäuden von Bebenhausen (S. 293), und die ersten beiden Distichen von Capitelsaal lauten: Wieder und wieder bestaun’ ich die Pracht der romanischen Halle, Herrliche Bogen, auf kurzstämmige Säulen gestellt. Rauh von Korn ist der Stein, doch nahm er willig die Zierde Auch zu der Großheit auf, welche die Massen beseelt. (S. 296)
Das Gedicht Sommer-Refectorium schließlich beginnt mit den Zeilen: „Sommerlich hell empfängt dich ein Saal; man glaubt sich in einem / Dom; doch ein heiterer Geist spricht im Erhabnen dich an“ (S. 297). Erst die künstlerische Gestaltung macht vertraut und angenehm, was sonst aufgrund der „Großheit“ seiner puren „Massen“ widrige Empfindungen wecken oder durch Erhabenheit einschüchtern würde; die „Zierde“, mit – 546 –
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der sie versehen sind, „beseelt“ die imposanten Räumlichkeiten und erfüllt sie mit einem „heitere[n] Geist“, der den Besucher anlockt, statt ihn zurückzustoßen. Solche Vorstellungen kennen wir längst – noch einmal sei an Mörikes Reflexionen über die „drückende Wirkung“ von Artefakten, die „finster u. plump“ oder „geistlos und gemein. materieller Art sind“, und über die beseligende Aura des Schönen und Leichten erinnert (7, S. 286). Die Bilder aus Bebenhausen präsentieren die Klostergebäude als mustergültige Zeugnisse einer Kunst des anmutigen Spiels, eben als „ein Gebild des fühlenden Geistes“ (1.1, S. 293), das, wie es in Mörikes Aufzeichnungen heißt, wiederum „Geist u. Herz“ des Betrachters „anspricht“ und deshalb „zugänglich, verwandt u. freundl.“ wirkt (7, S. 286). Diese Kunst hatte ihren Sitz ursprünglich mitten im Alltag des Klosters, denn die beschriebenen Räumlichkeiten besaßen ja jeweils bestimmte Funktionen im Leben der Mönche, die von den Überschriften Brunnen-Capelle am Kreuzgang, Capitelsaal, Sommer-Refectorium und Gang zwischen den Schlafzellen auch präzise angegeben werden. Gerade das Notwendige und Zweckgebundene hat man in Bebenhausen demnach „mit Sinn und Geschmack“ spielerisch ausgestaltet und geschmückt, ist doch sogar der „Estrich“ auf dem Flur vor den Schlafkammern mit seinen vielgestaltigen Bildern „zierlich gemodelt“ (1.1, S. 298). Hier wird eine heitere künstlerische Überformung des gewöhnlichen Daseins erkennbar, wie sie Mörike auch selbst – im Rahmen seiner Möglichkeiten – etwa mit seinen Hausversen und seiner Dichtung der Dinge zu verwirklichen suchte. In der Gegenwart des Sprechers künden davon freilich neben einem alten Bild in der Kirche der Abtei, das, „so hell von Farben, so kindlich“ (S. 300), einen Ausschnitt aus dem idyllischen Klosterleben festhält, nur noch architektonische Überbleibsel, die teilweise schon zu Ruinen geworden sind. Folgendes Distichon beschließt das Gedicht Gang zwischen den Schlafzellen: „Alles mit Sinn und Geschmack, zur Bewunderung! aber auch Alles / Fast in Trümmern, und nur seufzend verließ ich den Ort“ (S. 298). Noch deutlicher arbeitet das zweite Stück den Gegensatz von Einst und Jetzt, von Schönheit und Vergänglichkeit heraus, der dem gesamten Zyklus seine elegische Grundstimmung verleiht: Brunnen-Capelle am Kreuzgang
Hier einst sah man die Scheiben gemalt, und Fenster an Fenster Strahlte der dämmernde Raum, welcher ein Brünnlein umschloß, Daß auf der thauenden Fläche die farbigen Lichter sich wiegten, Zauberisch, wenn du wie heut, herbstliche Sonne, geglänzt.
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Jetzo schattest du nur gleichgültig das steinerne Schmuckwerk Ab am Boden, und längst füllt sich die Schale nicht mehr. Aber du zeigst mir tröstlich im Garten ein blühendes Leben, Das dein wonniger Strahl locket aus Moder und Schutt. (S. 294)
Die Phantasie des Betrachters beschwört eingangs noch einmal das Spiel der Farben auf der Wasserfläche des Brunnens herauf, das dann im dritten Distichon umso wirkungsvoller mit dem traurigen Verfall der Kapelle kontrastiert wird: Wo Natur und Kunst, der Glanz der Sonne und die Fensterscheiben des Raumes früher gemeinsam ein wunderbares sinn liches Erlebnis gewährten, wirft das leere „steinerne Schmuckwerk“ jetzt bloß einen trostlosen Schatten auf den Boden. Das abschließende Vers paar bringt jedoch ein neues Motiv ins Spiel, indem es den Blick auf das „blühende Leben“ lenkt, das im benachbarten Garten „aus Moder und Schutt“ hervorkeimt. Die Schöpfungen des Menschen dauern nur ihre begrenzte Zeit, aber die Natur erneuert sich unaufhörlich – eine Einsicht, die das lyrische Ich als „tröstlich“ empfindet. Auch auf andere Weise ist Mörike bemüht, die wehmütige Atmosphäre seiner Bilder aus Bebenhausen wenigstens stellenweise aufzuhellen. Drei der Gedichte, nämlich die Nummern 3, 7 und 9, tragen ausgesprochen humoristische Züge. Eine steinerne Eulenspiegelfigur, die am Kreuzgang als „Gurtträger“ angebracht ist und einem „entrüsteten Mönch“ lachend einen Spiegel vorhält (S. 295), zeugt von der Fähigkeit der Ordensleute, den strengen Ernst des klösterlichen Lebens mit heiterer Selbstironie zu relativieren; komisch wirkt die Stimme einer Glocke aus dem Turm, die eifrig beteuert, als einzige ihrer Schwestern trotz der Reformation „gut katholisch“ geblieben zu sein (S. 299), und schließlich wird in einem dezenten Erotikon angedeutet, dass inmitten der Relikte der Vergangenheit inzwischen auch wieder sinnliche Freuden ihren Platz finden: Aus dem Leben
Mädchen am Waschtrog, du blondhaariges, zeige die Arme Nicht und die Schultern so bloß unter dem Fenster des Abts! Der zwar sieht dich zum Glück nicht mehr, doch dem artigen Forstmann Dort bei den Acten bereits störst du sein stilles Concept. (S. 301)
Das eigentliche Gegengewicht gegen die Melancholie der Vergänglichkeit und des Verfalls bildet aber die Rede des lyrischen Ich selbst und damit – 548 –
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letztlich die Kunst des Poeten, der sie geschaffen hat: Die Bilder aus Bebenhausen bewahren die ästhetischen Reize des Klosterbezirks in einer zeitlosen Form auf und lehren den Leser, sie mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu sehen und zu würdigen. Im Schlussgedicht tritt die poetologische Dimension des Zyklus besonders markant hervor: Verzicht
Bleistift nahmen wir mit und Zeichenpapier und das Reißbrett; Aber wie schön ist der Tag! und wir verdürben ihn so? Beinah dächt’ ich, wir ließen es gar, wir schaun und genießen! Wenig verliert ihr, und nichts wahrlich verlieret die Kunst. Hätt’ ich auch endlich mein Blatt vom Gasthaus an und der Kirche Bis zur Mühle herab fertig gekritzelt – was ist’s? Hinter den licht durchbrochenen Thurm, wer malt mir dieß süße, Schimmernde Blau, und wer rundum das warme Gebirg? – Nein! wo ich künftig auch sei, fürwahr mit geschlossenen Augen Seh’ ich dieß Ganze vor mir, wie es kein Bildchen uns gibt. (1.1, S. 303)
Verzicht geleistet wird hier auf das künstlerische Schaffen und zwar zugunsten des unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmens und Erlebens: „wir schaun und genießen!“ Für die künftige Reproduktion der gesammelten Eindrücke vertraut das Ich allein auf die Erinnerung, die ihm das herrliche Panorama – „dieß Ganze“ – jederzeit wieder vor das geistige Auge rufen kann. Indes wäre es verfehlt, die Verse, die ja ihrerseits künstlerisch geformt sind, als radikale Absage an jede Form von Kunst zu verstehen. Auch wenn der Sprecher lieber davon absieht, eine mehr oder weniger dilettantische Zeichnung anzufertigen, so entsteht statt dessen doch eben das Gedicht als poetisches Erinnerungsbild. Verzicht thematisiert also – implizit – das Konkurrenzverhältnis zwischen Dichtung und bildender Kunst, das im Grunde schon im Titel des Zyklus berührt wird. Und während Mörike es etwa in seiner Epistel An Moriz von Schwind sorgsam vermeidet, den Wettstreit zwischen dem Poeten und dem Maler beziehungsweise Zeichner zu entscheiden, postulieren diese Distichen unmissverständlich die Überlegenheit des Ersteren. Der bildende Künstler ist nämlich außerstande, den Anblick von Kloster, Gebirge und Himmel in seinem lebendigen Glanz und Schimmer festzuhalten, wobei die rhetorische Frage „wer malt mir …?“ klarstellt, dass hier nicht nur das Sprecher-Ich mit seinen bescheidenen individuellen Fähigkeiten scheitern müsste, sondern die Malkunst als solche an ihre Grenzen stößt. Die Poesie – 549 –
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dagegen, die viel weniger an materielle Hilfsmittel gebunden und daher weitaus enger mit der Einbildungskraft (und der Erinnerung) verschwistert ist, beschwört kraft ihrer Wortmagie ein leuchtendes ‚Bild‘ herauf, gerade indem sie der Malerei eine Absage erteilt: „Hinter den licht durchbrochenen Thurm, wer malt mir dieß süße, / Schimmernde Blau, und wer rundum das warme Gebirg?“ Denken wir kurz an Der Petrefaktensammler zurück, wo dasselbe Problem angesprochen wird, wenn es über die Hänge der Schwäbischen Alb heißt: Eben noch in Sonne glimmend Und in leichtem Dufte schwimmend, Sieht man schwarz empor sie steigen, Wie die blaue Nacht am Tag! Blau, wie nur ein Traum es zeigen, Doch kein Maler tuschen mag. (S. 328f.)
Das Distichon aus Verzicht intensiviert die Sinneswahrnehmung zusätzlich durch den Einsatz der Synästhesie und überschreitet damit endgültig das Gebiet des visuell unmittelbar Wahrnehmbaren, auf das die Malerei notwendigerweise beschränkt bleibt. Derartige Bilder vermag allein die produktive Imagination zu schaffen – ob sie nun erinnerte Eindrücke wiederbelebt oder an die suggestiven Worte eines Poeten anknüpft –, und die Dichtkunst ist das Medium, das ihr dabei zu Hilfe kommt. Das Schlussgedicht bietet demnach auch eine poetologische Selbstrechtfertigung der elf lyrischen Situations-„Bilder“ aus Bebenhausen, die als zeitüberdauernde Gedenk- und Erinnerungsminiaturen an die plastische Vorstellungskraft des Lesers appellieren. Mit der unaufhaltsamen Flucht der Zeit nimmt der Zyklus ebenso ein Generalthema von Mörikes Schaffen auf wie mit dem Gedanken, dass Dichtkunst und Erinnerung in ihrem Zusammenwirken dem Sog der Vergänglichkeit etwas Dauerndes und einen wehmütigen Genuss abgewinnen können. Diesen Leitideen ist der Autor seit dem Gedicht Erinnerung von 1822 treu geblieben.
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20. Schluss A
ls Mörike seiner Pflichten am Katharinenstift ledig war, konnte er sich endlich eine längere Erholung von der betriebsamen Großstadt gönnen: Im Juni 1867 zog er mit Margarethe, die ebenfalls eine Luftveränderung nötig hatte, nach Lorch im Remstal. Klara blieb zunächst mit den schulpflichtigen Kindern in Stuttgart, später tauschten die beiden Frauen mehrfach ihre Aufenthaltsorte. Die Gesundheit des Dichters profitierte von der ländlichen Stille und der guten Luft von Lorch, und dar über hinaus scheint das beschauliche Leben zu zweit eine fühlbare Entspannung in den ehelichen Beziehungen bewirkt zu haben – ein Indiz dafür, dass die permanenten Konflikte, die die Atmosphäre im Hause Mörike trübten, wohl nicht einer einzigen unter den betroffenen Personen, sondern vielmehr der prekären Dreierkonstellation als solcher und der daraus entspringenden Dauerrivalität zwischen Klara und Margarethe anzulasten waren. So dehnte sich die Lorcher Episode, die anfangs bloß als Sommerurlaub geplant gewesen war, schließlich auf mehr als zwei Jahre aus. Vorsichtshalber teilte Mörike seine neue Adresse nur ausgewählten Freunden und Korrespondenzpartnern mit, um nicht von Besuchern überlaufen zu werden. Als er Silvester und Neujahr 1867/68 in Stuttgart verbrachte, fühlte er sich dort gleich wieder unbehaglich und empfand „Sehnsucht nach meiner ländlichen Stille“ (19.1, S. 16). Sorgen bereitete allerdings der „Finanz Etat: der ziemlich starke Ausfall, welchen wesentlich der getheilte, doppelte Haushalt mit sich brachte“ (S. 36). Und die Abgelegenheit von Lorch hatte auch ihre Kehrseite, denn man vermisste „auf die Länge doch etwas von humanioribus, von Umgang, Büchern u.s.w.“ (S. 54), also das kulturelle und gesellige Leben der Hauptstadt. Um den Jahreswechsel 1869/70 zog Mörike die Konsequenzen, gab sowohl Lorch als auch die Stuttgarter Wohnung auf und übersiedelte mit der ganzen Familie nach Nürtingen. In dem Städtchen am Neckar hoffte – 551 –
20. Schluss
er, wie er Schwind schrieb, einen „ruhigeren, gesunderen und hauptsächlich wohlfeilern“ Wohnsitz zu finden als in der umtriebigen Residenz. Derselbe Brief rühmt einige weitere Vorzüge Nürtingens: „Der Ort ist mir halb heimatlich, meine Mutter lebte längere Zeit als Witwe dort, und ich selbst an verschiedenen Punkten der Gegend, die durch die nahe Alb ihre besonderen Reize hat. Die Stadt besitzt vorzüglich gute Lehranstalten, und eine Eisenbahn, auf welcher man in 1 ½ Stunden nach Stuttgart, in zweien nach Tübingen fährt“ (19.1, S. 122). Trotzdem erwies sich die Entscheidung bald als Missgriff, vor allem wegen des Nürtinger Klimas, das weder dem Dichter noch der lungenkranken Marie bekam. Man war also gezwungen, sich noch einmal neu zu orientieren, und kehrte, nachdem der für Mörike sehr verlockende Gedanke an Ludwigsburg verworfen worden war, im Sommer 1871 schließlich nach Stuttgart zurück. In einem wichtigen Punkt trat jedoch auch danach keine Besserung ein, denn die gravierendsten Probleme verursachte gerade das „ungetheilte Familien leben“ (S. 110), auf das Mörike sich gefreut hatte, das aber in Nürtingen wie in Stuttgart sogleich wieder Verstimmungen zwischen Margarethe und Klara provozierte. Letztere wohnte in dieser Phase zeitweilig getrennt von den anderen, was ihren Bruder nicht weniger betrübte. In seinen Briefen werden die häuslichen Querelen kaum berührt; immerhin erwähnt er gegenüber den Hartlaubs einmal eine „lang anhaltende häusliche Störung“ (S. 142). Dagegen sind einige Einträge in seinen Kalendern aus den Jahren 1871 und 1872, für die er sicherheitshalber die lateinische Sprache verwendete, in ihrer lakonischen Kürze äußerst beredt: „Perturb[atio] domest[ica]“ – häusliche Unruhe – wird da vermerkt (S. 667), und einmal ist von „Dies tristissimae“ – sehr traurigen Tagen – die Rede (S. 677). Aus diesen und anderen Gründen fielen seit der Wende zu den siebziger Jahren tiefe Schatten auf Mörikes Existenz, und erst von da an ließ auch seine literarische Produktivität – unter Einschluss der Gelegenheitsdichtung – wirklich erkennbar nach. Sein Befinden verschlechterte sich wieder; Klagen über Kopfweh, Husten, rheumatische Schmerzen und Lähmungserscheinungen häuften sich, und mehr als einmal musste er für längere Zeit das Bett hüten. Hinzu kamen Jahr um Jahr Todesfälle, die die Reihen seiner Vertrauten zusehends lichteten. Hermann Hardegg und Ernst Friedrich Kauffmann waren schon in den fünfziger, Justinus Kerner und Ludwig Uhland in den frühen sechziger Jahren verstorben, jetzt folgten ihnen Karl Wolff (1869), Karl Mayer (1870), Moriz von Schwind und Johannes Mährlen (1871), Ludwig Hetsch (1872), Hermann Kurz (1873) und David Friedrich Strauß (1874). Die Hartlaubs und Vischer blieben ihm – 552 –
20. Schluss
jedoch erhalten, und neuerworbene, jüngere Freunde wie Julius Klaiber und Wilhelm Hemsen sorgten ebenfalls dafür, dass es in Mörikes letzten Jahren nicht einsam um ihn wurde. Neuerdings war es nun Margarethe, die auf Wochen oder gar Monate die Familie verließ, um anderswo unterzukommen. Im August 1873 rang Mörike sich endlich zu einer Entscheidung durch, die allerdings wiederum halbherzig ausfiel, indem er seiner Frau eröffnete: „wir müssen uns auf eine Zeitlang trennen“ – eine Erklärung, die er ausdrücklich in einem „noch immer liebevollen Sinn“ verstanden wissen wollte (19.1, S. 248). Margarethe reagierte indes schroff und kompromisslos und scheint die Beziehung zu ihrem Ehemann als beendet betrachtet zu haben. Von Scheidung war dennoch nicht die Rede. Fanny blieb bei der Mutter, während Mörike mit Klara und Marie zuerst zu Familie Hartlaub nach Stöckenburg reiste, bevor er sich noch einmal für kurze Zeit nach Lorch und dann nach Fellbach begab – in die „Verbannung“, wie er sagte (S. 243 und 244). Aus Rücksicht auf Maries schwankende Gesundheit nahm er im November aber wieder eine Wohnung in Stuttgart. Margarethe ließ sich unterdessen in Mergentheim nieder und erhielt vereinbarungsgemäß jährlich 700 Gulden Unterhalt ausbezahlt. Die faktische Auflösung der ehelichen Gemeinschaft setzte Mörike schwer zu. „[D]er traurigste aller Landfährer“ sei er, schrieb er an Luise Walther (S. 252), und in einem Brief an Vischer liest man: „Ich lebe eben und fühle mich wie ein Flüchtling oder Exilirter“ (S. 253). Für einen letzten Lichtschimmer sorgten einige Wochen, die er im Sommer 1874 auf Einladung des Ehepaares Walther in Bebenhausen verbrachte, denn dieser Ort hatte für ihn nichts von seinem Zauber verloren: So säß ich denn zum erstenmale wieder seit 11 Jahren hier, im Angesicht des Klosters, dessen schöner Thurm mir auf zwei hundert Schritte in das Fenster sieht, höre die alten Glocken wieder schlagen, den Gukukruf vom nahen Buchenwald herüber, und komme eben aus dem Garten, auf dessen oberster Terrasse ein langer schmaler Weg an einem niedern Mäuerchen hingeht, das seiner ganzen Länge nach mit Pfingstnelken bewachsen ist, welche die frische Morgenluft durchwürzen. Es ist halt einzig hier! (S. 268)
Schon im Herbst war der Dichter, von einem „höllische[n] Rheumatismus zwischen den Rippen“ und einem „Magenübel“ gequält (S. 287), fast ununterbrochen bettlägerig. An seinem Krankenlager kam es am 21. Mai 1875 noch einmal zu einer versöhnlichen Begegnung mit Margarethe. Am – 553 –
20. Schluss
4. Juni starb Mörike; zwei Tage später fand die Beerdigung auf dem Stuttgarter Pragfriedhof statt, wo sein Grab bis heute zu sehen ist. Marie, die an Schwindsucht litt, verstarb bereits im Jahr darauf, während ihre Schwester Fanny, die 1882 den Uhrmacher Georg Hildebrand heiratete und nach Neu-Ulm zog, bis 1930 lebte. Auch Mörikes Frau und seine Schwester erreichten ein hohes Alter: Beide starben 1903 mit über achtzig Jahren. „Wenn sein Tod nun seine Werke nicht unter die Leute bringt, so ist ihnen nicht zu helfen, nämlich den Leuten!“, schrieb Gottfried Keller an Vischer, als er von Mörikes Ableben erfuhr.1 Aber was würde „den Leuten“ entgehen, wenn die Werke dieses Autors heute oder in Zukunft ungelesen blieben? Vischer selbst hatte sich schon 1839 in seiner Rezension der Gedichte des Freundes um eine zusammenfassende Würdigung bemüht, wobei er von der Feststellung ausging, dass „die Physiognomie der Zeit“ für die Poesie generell nicht günstig sei: Die Revolution, der Liberalismus, die Technik, die materiellen Tendenzen, die Cultur, die Alles beleckt, die Philosophie, die den letzten Rest des Unmittelbaren in die Vermittlung des Denkens hereinzuziehen systematisch fortfuhr, der Geschäftsdrang, der uns von Morgen bis Abend an den Arbeitsstuhl fesselt und der zehnten Muse, der langen Weile, ihr bischen Lebenslust vollends zu erdrücken droht: Alles dieß verschwor sich gegen die poëtische Stimmung und stellte vor die letzte Wiese, auf der ein Dichter schlendern mochte, den Schlagbaum der Sorge.
Angesichts dieser „Hast, Verwirrung und Unmuße“ könne der bedrängte Zeitgenosse bei Mörike die lange vermisste Erholung finden: „Wo sprudelt sie denn noch, die klare Waldquelle mit ihren frischen Wassern? Wo duftet die reine Erdbeere in kühlen, unbetretenen Gründen, auf der noch der Duft der Naivetät liegt? Gewiß, hier, in diesen Gedichten sprudelt der frische Quell, duftet die kühle Frucht!“2 Diese Ausführungen kommen dem Klischee von der weltflüchtigen biedermeierlichen Idylle, die das Leiden an der modernen Wirklichkeit kompensieren soll, gefährlich nahe, und dass die Kategorie der „Naivetät“ Mörikes Eigenart gänzlich verfehlt, muss wohl nicht mehr eigens betont werden. Aber andererseits lässt sich Vischers Zweckbestimmung der Dichtung durchaus mit Mörikes Poetik des heiteren Spiels und mit seiner vielfach dokumentierten Überzeugung von der harmonischen, beglückenden Wirkung wahrer Kunst verknüpfen. Auch wird man die tröstende und heilende Kraft, die eine Poesie, wie Mörike sie schuf, in der Tat – 554 –
20. Schluss
ausstrahlen kann, nicht in Abrede stellen wollen. So erlebte Hans Carossa nach eigenem Zeugnis in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, „daß ein zartes lyrisches Gebilde Mörikes mitten im Kriegsgetöse seinen Klang behielt, während manche sehr laute oder sehr geistreiche Dichtung darin unhörbar wurde.“3 In den Schrecken der ‚Urkatastrophe‘ des modernen Europas scheint Mörikes Werk demnach gewissermaßen seine Feuerprobe bestanden zu haben. Und die Schriftstellerin Sigrid Damm hielt sogar noch nach den Gräueln des Nationalsozialismus daran fest, dass „Dichtung als therapeutischer Versuch“ ebenso legitim wie notwendig sei. In kritischer Wendung gegen Adornos berühmt-berüchtigtes Diktum von der Unmöglichkeit, nach Auschwitz weiterhin Gedichte zu schreiben, formulierte sie in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Mörike-Preises der Stadt Fellbach: „Mörike sprach davon, daß Dichtung einzig dazu da sei, Harmonie zu erzeugen, einen Zustand, den es in der Welt nicht gäbe; auch bei ihm Sich-Berufen auf das älteste ästhetische Anliegen. Nehmen wir seine vollkommenen Verse, um in der pausenlos ins Nichts zerfallenden Welt zu leben: weiterleben.“4 Mörike war zwar kein bloßer Sänger der heilen Idylle und befasste sich in seinen Werken nicht etwa nur mit angenehmen Dingen wie den Schönheiten der Natur und den Freuden der Liebe, der Geselligkeit oder des heiteren Scherzes – seelische Abgründe und innere Zerrissenheit, Wehmut und Melancholie, der Gedanke der Vergänglichkeit und die Drohung des Todes bilden nicht minder bedeutsame Schwerpunkte seines Schreibens. Aber auch sie werden durch souveräne künstlerische Gestaltung in die Sphäre spielerischer Freiheit erhoben: Nicht die Wahl seiner Themen, sondern die Meisterschaft des poetischen Spiels in Vers und Prosa begründet Mörikes Rang als Dichter und die Faszination, die immer noch von seinen Werken ausgeht. Wenn dieses Spiel ihm das Vergnügen des Gelingens verschaffte, weil er darin seine schöpferischen Fähigkeiten ungehemmt entfalten konnte, so überträgt sich etwas davon auch auf jeden, der sich heute auf seine Texte einlässt, denn die Empfindung von Freiheit und ein intensiver sinnlicher wie geistiger Genuss sind genuine Bestandteile der ästhetischen Erfahrung. Sie weckt, um ein letztes Mal Mörike zu zitieren, „jene rein schöne, hohe mit keinem andern Glück zu vergleichende Lust, die wir immer empfinden, wo die Kunst einmal wieder ihren Gipfel erreicht, wo uns der Genius selber anlacht, eine freudige Rührung und selbstlose[n] Dank“ (18, S. 168). Mörikes Bescheidenheit hätte es ihm schwerlich erlaubt, diese Worte auf seine eigenen Dichtungen anzuwenden, aber wir als seine Leser dürfen es gewiss tun. – 555 –
Anmerkungen 1. Einleitung: Mörike-Bilder 1
Adolf Frey: Erinnerungen an Gottfried Keller. Leipzig 31919, S. 31; Lohbauer zitiert nach: Eduard Mörike und seine Freunde. Eine Ausstellung aus der Mörike-Sammlung Dr. Fritz Kauffmann. Stuttgart 1965, S. 102; Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike. Hrsg. von Heinz Kindermann. Stuttgart 1919, S. 68; Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 8: Nachgelassene Fragmente 1875–1879. München 1980, S. 128; Georg Lukács: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts. In: ders.: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten (Werke, Bd. 7). Neuwied u. a. 1964, S. 185–498, hier S. 332. 2 Siegbert Salomon Prawer: Mörike und seine Leser. Versuch einer Wirkungsgeschichte. Stuttgart 1960, S. 112. 3 Vgl. dazu auch die Zeittafel im Anhang. 4 Hermann Hesse: Eduard Mörike [1904]. In: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 12: Schriften zur Literatur 2. Eine Literaturgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1970, S. 271–278, hier S. 273. 5 Vgl. Hermann Pongs: Ein Beitrag zum Dämonischen im Biedermeier. In: Dichtung und Volkstum 36 (1935), S. 241–261.
6 Vgl. Walter Höllerer: Mörike. In: ders.: Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit. Stuttgart 1958, S. 321–356. 7 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3: Die Dichter. Stuttgart 1980, S. 729f. 8 Vgl. dazu die Rubrik „Biographien“ in der Auswahlbibliographie. 9 Vgl. Gerhard Storz: Eduard Mörike. Stuttgart 1967. 10 Vgl.: Mörike-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Inge und Reiner Wild unter Mitarbeit von Ulrich Kittstein. Stuttgart u. a. 2004. 11 Theodor Fontane: Was soll ich lesen? [1894] In: ders.: Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen. Bd. 1: Aufsätze und Aufzeichnungen. München 1969, S. 570–572, hier S. 570. 12 Die Auswahlbibliographie enthält eine detaillierte Liste der bisher erschienenen Bände.
2. Kindheitsheimat und Familienbande 1 Justinus Kerner: Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit [1849]. In: ders.: Sämtliche poetische Werke. Bd. 4. Leipzig 1905, S. 5–282, hier S. 8.
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Anmerkungen
2 Ebd., S. 101f. 3 Carl Theodor Griesinger: Humoristische Bilder aus Schwaben. Heilbronn 1839, S. 127. 4 Justinus Kerner: Die Reiseschatten [1811]. In: ders.: Sämtliche poetische Werke. Bd. 3. Leipzig 1905, S. 89–275, hier S. 174. 5 Vgl. 12, S. 51, und 15, S. 248. 6 Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Darmstadt 1999, S. 273. 7 Vgl. 11, S. 335f., und 15, S. 136. – Auch Eduard Mörike schrieb seinen Nachnamen in jungen Jahren bisweilen noch mit „ck“. 8 Vgl. dazu Mörikes eigene Hinweise in 19.1, S. 30. 9 SW II, S. 397f. 10 Zitiert nach Peter Lahnstein: Eduard Mörike. Leben und Milieu eines Dichters. München 1986, S. 27. 11 Vgl. 11, S. 548. 12 Vgl. 12, S. 60 und 372, bzw. 12, S. 65 und 380 (jeweils mit Auszügen aus dem Beibericht des zuständigen Dekans). 13 Vgl. dazu ausführlicher Thomas Wolf: Brüder, Geister und Fossilien. Eduard Mörikes Erfahrungen der Umwelt. Tübingen 2001, S. 5–48. 14 Vgl. Mörikes eigenen Bericht über das traurige Ereignis in 10, S. 62f. 15 Vgl. 17, S. 238f. 16 Zitiert nach: Eduard Mörike: 1804 – 1875 – 1975. Gedenkausstellung zum 100. Todestag im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. vom 21. März – 10. November 1975. Texte und Dokumente. Hrsg. von Bernhard Zeller. Marbach a.N. 21990, S. 118. 17 SW II, S. 414. 18 Vgl. 10, S. 435.
3. Urach, Tübingen und Orplid: Bildungswege und Freundschaftsbünde 1 Zitiert nach: „Im Locus antwortet er verwirrt“. Eduard Mörike im Evangelischen Stift in Tübingen 1822–1826. Eine Dokumentation. Hrsg. von Alexander Köhrer und Cordula Ressing. Tübingen 2004, S. 19. 2 Zitiert nach: Eduard Mörike: 1804 – 1875 – 1975. Gedenkausstellung zum 100. Todestag im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. vom 21. März – 10. November 1975. Texte und Dokumente. Hrsg. von Bernhard Zeller. Marbach a.N. 21990, S. 55. 3 Vgl. 17, S. 605. 4 Vgl. 19.1, S. 260. 5 Dieses Gedicht, das sich nicht in SW findet, ist abgedruckt bei Hans-Henrik Krummacher: Der junge Mörike und die Tradition des Epicediums. Mit einem unbekannten Gedicht auf den Tod der württembergischen Königin Katharina. In: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Gabriela Scherer und Beatrice Wehrli. Bern u. a. 1996, S. 267–289, hier S. 270f. 6 Vgl. 10, S. 31f. 7 Emil Staiger: Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger. In: ders.: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Zürich 1967, S. 34–49, hier S. 39. 8 Vgl. etwa 17, S. 83–85 und 90f. 9 Vgl. 19.2, S. 31. 10 Vgl. 10, S. 29. 11 Vgl. 12, S. 20f. 12 Vgl. 10, S. 83f. und 249. 13 Vgl. 10, S. 51. 14 Vgl. 10, S. 154, und 11, S. 286. 15 Vgl. 7, S. 321, und 12, S. 189. 16 Vgl. 7, S. 217–226. 17 Vgl. 19.1, S. 118 und 177.
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Anmerkungen
18 Vgl. zum Beispiel 17, S. 310. 19 Vgl. 10, S. 85 und 124. 20 Staiger: Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger, S. 39. 21 Vgl. 17, S. 78. 22 Vgl. 19.1, S. 152 und 155. 23 Vgl. 13, S. 227. 24 Die Lutherbibel wird nach folgender Ausgabe zitiert: Biblia das ist / die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Die Luther-Bibel von 1534. Vollständiger Nachdruck. Köln 2002. 25 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Stuttgarter Privatvorlesungen. In: ders.: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Friedrich August Schelling. Bd. 7. Stuttgart u. a. 1860, S. 417–484, hier S. 474 und 482. 26 Ebd., S. 482. 27 Außer Betracht bleiben im Folgenden die Überlegungen, die Gerhart von Graevenitz in seinem Buch Eduard Mörike: Die Kunst der Sünde. Zur Geschichte des literarischen Individuums (Tübingen 1978) zur Psychodynamik und zum künstlerischen Selbstverständnis der Tübinger Freundesgruppen anstellt (S. 87–156) – sie können bestenfalls als phantasievolle Spekulationen gelten. 28 Wilhelm Waiblinger: Tagebücher 1821– 1826. 2 Bde. Hrsg. von Hans Königer. Bd. 2: Akademische Jahre. Erster und zweiter Teil. Stuttgart 1993, S. 874. 29 Vgl. 10, S. 90–92. 30 Vgl.: Eduard Mörike und Wilhelm Waiblinger. Eine poetische Jugend in Briefen, Tagebüchern und Gedichten. Hrsg. von Heinz Schlaffer. Stuttgart 1994, S. 74–80. 31 Vgl. 11, S. 81. 32 Waiblinger: Tagebücher 1821–1826. Bd. 1: Hugo Thorwalds Lehrjahre. Erster bis achter Teil. Stuttgart 1993, S. 557. 33 Ebd., S. 570.
34 Waiblinger: Tagebücher 1821–1826. Bd. 2, S. 873. 35 Ebd., S. 1024 und 1067. 36 Zitiert nach Harry Maync: Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten. Stuttgart u. a. 3/4 1927 , S. 32. 37 David Friedrich Strauß: Ludwig Bauer [1847]. In: ders.: Kleine Schriften biographischen, literar- und kunstgeschichtlichen Inhalts. Leipzig 1862, S. 246–273, hier S. 250f. 38 Abgebildet ist sie unter anderem bei Manfred Koschlig: Mörike in seiner Welt. Stuttgart 1954, S. 53. 39 Ludwig Amandus Bauer: Briefe an Eduard Mörike. Hrsg. von Bernhard Zeller und Hans-Ulrich Simon. Marbach 1976, S. 36 und 38. 40 Zitiert nach: Eduard Mörike: 1804 – 1875 – 1975, S. 118. 41 Theodor Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike [1876/77]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 4: Märchen. Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 470–487, hier S. 483. 42 Bauer: Briefe an Eduard Mörike, S. 57. 43 Ebd., S. 175. 44 Vgl. ebd., S. 57 und 62, sowie 10, S. 104 (zu Homer), und 10, S. 247f. (zu Shakespeare). 45 Vgl. 4, S. 92f. 46 Vgl. Bauer: Briefe an Eduard Mörike, S. 62. 47 Vgl. ebd., S. 49 und 80. 48 Vgl. 6.1, S. 299f. 49 Vgl. 7, S. 61–70. 50 Bauer: Briefe an Eduard Mörike, S. 58. 51 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1959, S. 108. 52 Gottfried Benn: Briefe an F.W. Oelze. 1932–1945. Wiesbaden u. a. 1977, S. 371. 53 Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung
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Anmerkungen
mit Ilse Benn hrsg. von Gerhard Schuster. Bd. I: Gedichte 1. Stuttgart 1986, S. 294f.
4. Der Kampf um die „Oeconomia interior“: Konturen eines schwierigen Charakters 1 2 3
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Vgl. 14, S. 202. Vgl. 10, S. 94–98. Vgl. dazu die umsichtigen Darlegungen von Klaus D. Mörike: Eduard Mörike als Patient. Versuch einer Pathographie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 32 (1988), S. 191–213. Q. Horatius Flaccus: Oden und Epoden. Hrsg. und übersetzt von Gerhard Fink. Düsseldorf u. a. 2002, S. 104 (Oden 2,10, V. 5). SW II, S. 407. Publius Ovidius Naso: Briefe aus der Verbannung. Tristia – Epistulae ex Ponto. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. München u. a. 1990, S. 126f. (Tristia III,4, V. 25). – Die Zeichnung ist wiedergegeben in Eduard Mörike: Eine phantastische Sudelei. Ausgewählte Zeichnungen. Hrsg. von Alexander Reck. Stuttgart 2004, S. 32. Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800–1832 (Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 2). Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1988, S. 395. Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972, S. 293. Vgl. 10, S. 103–105. Vgl. 13, S. 32. Vgl. 10, S. 154, und 11, S. 286. Vgl. 10, S. 173f.
13 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3: Die Dichter. Stuttgart 1980, S. 697. 14 Vgl. 19.1, S. 183–185. 15 Vgl. 11, S. 220. 16 Vgl. 15, S. 217. 17 SW II, S. 417.
5. Grundzüge des lyrischen Schaffens 1
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Jost Schillemeit: Licht- und Klangmetaphorik in Mörikes Lyrik. In: ders.: Studien zur Goethezeit. Hrsg. von Rosemarie Schillemeit. Göttingen 2006, S. 476–491, hier S. 476. Friedrich Theodor Vischer: Gedichte von Eduard Moerike [1839]. In: Eduard Mörike. Wege der Forschung. Hrsg. von Victor G. Doerksen. Darmstadt 1975, S. 3–32, hier S. 21 und 23. Ebd., S. 11. Vgl. Heinz Schlaffer: Lyrik im Realismus. Studien über Raum und Zeit in den Gedichten Mörikes, der Droste und Liliencrons. Bonn 1966, S. 17–70. Vgl. Dagmar Barnouw: Entzückte Anschauung. Sprache und Realität in der Lyrik Eduard Mörikes. München 1971. Vgl. Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972. Udo Pillokat: Verskunstprobleme bei Eduard Mörike. Hamburg 1969, S. 8. Vgl. dazu Inge Wild: „Auch ich trug einst der Liebe Müh’ und Lasten“. Petrarkistisches Liebesideal und erotische Vielstimmigkeit – Mörike Sonette an Luise Rau vor dem Hintergrund von Goethes Sonettzyklus. In: Die Poesie der Liebe. Aufsätze zur deutschen Lie-
Anmerkungen
beslyrik. Hrsg. von Ulrich Kittstein. Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 203–234. 9 Vgl. auch 1.1, S. 75 (Die Schwestern). 10 Vgl. 12, S. 148–150. 11 Vgl. 12, S. 485. 12 Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer. Hrsg. von Robert Vischer. München 1926, S. 149. 13 Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1974, S. 49–68, hier S. 63. 14 Theodor Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike [1876/77]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 4: Märchen. Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 470–487, hier S. 480. 15 Ulrich Hötzer: Mörikes heimliche Modernität. Hrsg. von Eva Bannmüller. Tübingen 1998, S. 286. 16 Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike, S. 482. 17 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 3: Die Dichter. Stuttgart 1980, S. 733. 18 Vgl. 11, S. 238. 19 Hans-Henrik Krummacher: Die Überlieferung der Gedichte. In: MörikeHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Inge und Reiner Wild unter Mitarbeit von Ulrich Kittstein. Stuttgart u. a. 2004, S. 68–74, hier S. 72. 20 Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen bei Hans-Henrik Krummacher: Zu Mörikes Gedichten. Ausgaben und Überlieferung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 267–344, hier S. 273–303. 21 Vgl. die vorige Anmerkung sowie Hans-Henrik Krummacher: Mitteilungen zur Chronologie und Textge-
schichte von Mörikes Gedichten. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 6 (1962), S. 253–310.
6. Die frühen Gedichte 1
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Joseph von Eichendorff: Werke in sechs Bänden. Bd. 1: Gedichte. Versepen. Hrsg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a. M. 1987, S. 328. Novalis: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe. Darmstadt 1999, S. 395. Ulrich Hötzer: Mörikes heimliche Modernität. Hrsg. von Eva Bannmüller. Tübingen 1998, S. 16. Werner Kohlschmidt: Wehmut, Erinnerung, Sehnsucht in Mörikes Gedicht. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des romantischen Zeitbewußtseins. In: ders.: Form und Innerlichkeit. Beiträge zur Geschichte und Wirkung der deutschen Klassik und Romantik. München 1955, S. 233–247 und 263f., hier S. 245. Vgl. dazu die Interpretation dieses Gedichts in meinem Band: Deutsche Naturlyrik. Ihre Geschichte in Einzelanalysen. Darmstadt 22012, S. 148–156. Q. Horatius Flaccus: Oden und Epoden. Hrsg. und übersetzt von Gerhard Fink. Düsseldorf u. a. 2002, S. 103. Gerhard Rückert: Mörike und Horaz. Nürnberg 1970, S. 115. Vgl. ebd., S. 108. Peter von Matt: Dichten in der Niemandszeit. Die Aufhebung der bürgerlichen Ordnung in Mörikes Gedicht. In: ders.: Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. München 2007, S. 162–179, hier S. 172. Vgl. SW II, S. 437f. Vgl. auch 10, S. 67f. und 87.
Anmerkungen
12 Vgl. 10, S. 269. 13 Hötzer: Mörikes heimliche Modernität, S. 286. 14 Vgl. Paul Corrodi: Das Urbild von Mörikes Peregrina [1923]. Kirchheim/ Teck 1976. 15 Vgl. Ernst Münch: Erinnerungen, Lebensbilder und Studien aus den ersten sieben und dreißig Jahren eines teutschen Gelehrten, mit Rückblicken auf das öffentliche, politische, intellektuelle und sittliche Leben von 1815 bis 1835 in der Schweiz, in Teutschland und den Niederlanden. Bd. 1. Karlsruhe 1836, S. 347–355. 16 Der Text wurde erst postum in der Sammlung von Bauers Schriften publiziert (Stuttgart 1847, S. 384f.). Mörike hat ihn dafür noch einmal bearbeitet (vgl. 9.3, S. 55f. und 59–61). Abgedruckt ist er auch in: Ludwig Amandus Bauer: Briefe an Eduard Mörike. Hrsg. von Bernhard Zeller und Hans-Ulrich Simon. Marbach 1976, S. 19–21. 17 10, S. 274. 18 Vgl. Bauer: Briefe an Eduard Mörike, S. 171–175. 19 Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München u. a. 1989, S. 171. – Die jüngste Arbeit zu diesem Thema stammt von Mathias Mayer: Mörike und Peregrina. Geheimnis einer Liebe. München 2004. Sie fügt dem schon Bekannten allerdings nichts Neues hinzu und bleibt besonders in ihren Textanalysen oberflächlich. 20 Die Textanalysen orientieren sich streckenweise an der ausführlicheren Interpretation, die ich in meiner Dissertation vorgelegt habe. Vgl. Ulrich Kittstein: Zivilisation und Kunst. Eine Untersuchung zu Eduard Mörikes Maler Nolten. St. Ingbert 2001, S. 201–251. 21 Friedrich Theodor Vischer: Gedichte von Eduard Moerike [1839]. In: Eduard
Mörike. Wege der Forschung. Hrsg. von Victor G. Doerksen. Darmstadt 1975, S. 3–32, hier S. 27.
7. Seelische Abgründe und die Ursprünge der Kunst: Maler Nolten 1 2 3 4 5
Vgl. 10, S. 196. Vgl. 11, S. 232. Vgl. 11, S. 156 und 263. Vgl. unter anderem 12, S. 25, 44 und 66. Ludwig Amandus Bauer: Briefe an Eduard Mörike. Hrsg. von Bernhard Zeller und Hans-Ulrich Simon. Marbach 1976, S. 89. 6 Abgedruckt sind ihre Beiträge in 5, S. 33–79. 7 Vgl. Benno von Wiese: Eduard Mörike. Tübingen u. a. 1950, S. 170–210. 8 Vgl. 3, S. 407f. 9 Vgl. 3, S. 70. 10 Vgl. Herbert Bruch: Faszination und Abwehr. Historisch-psychologische Studien zu Eduard Mörikes Roman Maler Nolten. Stuttgart 1992. 11 Die Grundlage der Interpretation bilden meine Dissertation: Zivilisation und Kunst. Eine Untersuchung zu Eduard Mörikes Maler Nolten. St. Ingbert 2001, sowie mein Artikel zu Maler Nolten aus dem Mörike-Handbuch (hrsg. von Inge und Reiner Wild unter Mitarbeit von Ulrich Kittstein. Stuttgart u. a. 2004, S. 157–178). 12 Vgl. 3, S. 257. 13 So Claudia Liebrand: Identität und Authentizität in Mörikes Maler Nolten. In: Aurora 51 (1991), S. 105–119, hier S. 115. 14 Vgl. 3, S. 71. 15 Vgl. dazu die eingehende Analyse der einzelnen Vaterinstanzen bei Bruch: Faszination und Abwehr, S. 294–347. 16 Adolf Beck: Peregrina. Zur Berichtigung und Ergänzung des Buches von
– 561 –
Anmerkungen
Hildegard Emmel: Mörikes Peregrinadichtung und ihre Beziehung zum Noltenroman. In: Euphorion 47 (1953), S. 194– 217, hier S. 217. 17 Vgl. 3, S. 214. 18 Vgl. 3, S. 215f. 19 Vgl. 3, S. 196. 20 Vgl. 3, S. 249. 21 Vgl. 3, S. 266f. 22 Vgl. 7, S. 61–70. 23 Bruch: Faszination und Abwehr, S. 249f. 24 Heide Eilert: Eduard Mörike: Maler Nolten. In: Romane des 19. Jahrhunderts. Interpretationen. Stuttgart 1992, S. 250–279, hier S. 261 und 264. 25 Vgl. 3, S. 389–392. 26 Theodor Storm – Eduard Mörike / Theodor Storm – Margarethe Mörike. Briefwechsel. Hrsg. von Hildburg und Werner Kohlschmidt. Berlin 1978, S. 59. 27 Gerhard Storz: Eduard Mörike. Stuttgart 1967, S. 161. 28 Vgl. 5, S. 19. 29 Theodor Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike [1876/77]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 4: Märchen. Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 470–487, hier S. 484. 30 Vgl. 19.1, S. 246 und 257. 31 Vgl. 4, S. 385–393, und 5, S. 104–144. 32 Vgl. 4, S. 30–35. 33 Vgl. 4, S. 153–157. 34 Vgl. die Paralipomena R und S in 4, S. 392f., und die Erläuterungen dazu in 5, S. 254. 35 Vgl. 4, S. 81. 36 Vgl. 5, S. 144. 37 Vgl. 4, S. 205–209. 38 Vgl. zum Beispiel 4, S. 110f. 39 Vgl. 4, S. 96. 40 Vgl. 5, S. 140. 41 Vgl. 5, S. 140. 42 Vgl. zum Beispiel Storz: Eduard Mörike, S. 137.
8. Mörike und die Religion 1 Zitiert nach: Eduard Mörike: 1804 – 1875 – 1975. Gedenkausstellung zum 100. Todestag im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. vom 21. März – 10. November 1975. Texte und Dokumente. Hrsg. von Bernhard Zeller. Marbach a.N. 21990, S. 240. 2 Zitiert nach: „Im Locus antwortet er verwirrt“. Eduard Mörike im Evangelischen Stift in Tübingen 1822–1826. Eine Dokumentation. Hrsg. von Alexander Köhrer und Cordula Ressing. Tübingen 2004, S. 82. 3 Vgl. dazu 14, S. 452. 4 Vgl. 11, S. 251. 5 Ludwig Amandus Bauer: Briefe an Eduard Mörike. Hrsg. von Bernhard Zeller und Hans-Ulrich Simon. Marbach 1976, S. 181. 6 Gert Sautermeister: Die Geburt des Gedichts aus dem Geiste des Eros. Zur Liebeslyrik Mörikes. In: „Nicht allein mit den Worten“. Festschrift für Joachim Dyck zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Thomas Müller, Johannes G. Pankau und Gert Ueding. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 156–166, hier S. 158. 7 Vgl. dazu 12, S. 262 und 356. 8 Vgl. 7, S. 333. 9 Vgl. 7, S. 339–346. Im Erläuterungsteil dieses Bandes ist auch eine deutsche Übersetzung des lateinischen Textes abgedruckt (S. 731–734). Vgl. zu beiden Schriften Hans Peter Köpf: Zwei theologische Aufsätze Eduard Mörikes. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 103–129. 10 Vgl. Köpf: Zwei theologische Aufsätze Eduard Mörikes, S. 110. 11 SW II, S. 432f. 12 Nur ein einziges Schreiben Mörikes an diesen Freund hat sich erhalten (vgl. 10, S. 128). Umso eindrucksvoller ist die Liste der Briefe aus den Jahren 1826 bis
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Anmerkungen
1828, deren Existenz aus verschiedenen Hinweisen erschlossen werden kann (vgl. S. 537f.). 13 Vgl. Theodor Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike [1876/77]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 4: Märchen. Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 470–487, hier S. 482. 14 Vgl. 3, S. 230f. 15 Vgl. 15, S. 150. 16 Theodor Storm – Eduard Mörike / Theodor Storm – Margarethe Mörike. Briefwechsel. Hrsg. von Hildburg und Werner Kohlschmidt. Berlin 1978, S. 108. 17 Vgl. 12, S. 518f. 18 SW II, S. 434. 19 Vgl. 12, S. 167. 20 Vgl. dazu auch das Gedicht „Siehst du den schettergoldnen Mariendienst …“ (SW II, S. 446). 21 Vgl. 12, S. 48. 22 Diese Wendung taucht allerdings nur in einigen Briefen von Mörikes Freunden auf. Vgl. zum Beispiel: Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike. Hrsg. von Heinz Kindermann. Stuttgart 1919, S. 43. 23 Vgl. 13, S. 224f.
9. Von der Anmut des müßigen Spiels: Poetik und Ästhetik 1
Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972, S. 283f. 2 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 14). Hrsg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1986, S. 631.
3 Eduard Mörike: Gedichte. Stuttgart u. a. 1838, S. 9. 4 SW II, S. 436. 5 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren [1908]. In: ders.: Bildende Kunst und Literatur (Studienausgabe, Bd. 10). Frankfurt a. M. 2000, S. 169– 179, hier S. 171. 6 Johan Huizinga: Homo ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur. Amsterdam 21940, S. 192. 7 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M. 1992, S. 556–676, hier S. 614. 8 Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer. Hrsg. von Robert Vischer. München 1926, S. 130. 9 Ebd., S. 154. 10 Ebd., S. 162f. 11 Ebd., S. 148. 12 Ebd., S. 149. 13 So Strauß in einem Brief an Vischer (Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer. 2 Bde. Hrsg. von Adolf Rapp. Bd. 1: 1836–1851. Stuttgart 1952, S. 50). 14 Vgl. 11, S. 315 und 213. 15 Vgl. Emil Staiger: Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger. In: ders.: Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. Zürich 1967, S. 34–49, hier S. 37. 16 Vgl. Albrecht Holschuh: Wem leuchtet Mörikes „Lampe“? In: Zeitschrift für deutsche Philologie 110 (1991), S. 574– 593. 17 Staiger: Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger, S. 35. 18 SW II, S. 389.
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Anmerkungen
19 Ulrich Hötzer: Mörikes heimliche Modernität. Hrsg. von Eva Bannmüller. Tübingen 1998, S. 42. 20 Die Grundsätze, nach denen er bei der Publikation von Waiblingers Gedichten zu verfahren gedachte, formulierte Mörike auch schon im Vorfeld in seinen Briefen an Georg Heubel, in dessen Verlag der Band herauskam (vgl. 14, S. 12–14 und 24f.). 21 Theodor Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike [1876/77]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 4: Märchen. Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 470–487, hier S. 480f. 22 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil I: Von 1823 bis zum Tode Carl Augusts 1828 (Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 10). Hrsg. von Horst Fleig. Frankfurt a. M. 1993, S. 334. 23 Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike, S. 480. 24 Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht u. a. Bd. 12: Gedichte 2. Sammlungen 1938– 1956. Frankfurt a. M. u. a. 1988, S. 97. 25 Vgl. 12, S. 232f. und 240. 26 Vgl. 6.1, S. 289–296. 27 Zitiert nach Harry Maync: Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten. Stuttgart u. a. 3/4 1927 , S. 198. 28 Wilhelm Raabe: Gespräche. Ein Lebensbild in Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen (Sämtliche Werke, Ergänzungsband 4). Hrsg. von Rosemarie Schillemeit. Göttingen 1983, S. 46. 29 Karl Fischer: Eduard Mörikes Leben und Werke. Berlin 1901, S. 140.
30 Hans-Henrik Krummacher: Die Überlieferung der Gedichte. In: MörikeHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Inge und Reiner Wild unter Mitarbeit von Ulrich Kittstein. Stuttgart u. a. 2004, S. 68–74, hier S. 70. 31 Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike, S. 485. Vgl. dazu etwa auch 19.1, S. 47. 32 Heinrich Heine: Der Schwabenspiegel [1838]. In: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 10: Shakespeares Mädchen und Frauen und Kleinere literaturkritische Schriften. Hamburg 1993, S. 266–278, hier S. 269.
10. Die Erzählungen der dreißiger Jahre 1 6.2, S. 26. 2 Vgl. dazu die Lesarten in 6.2, S. 37f. 3 Horst Steinmetz: Eduard Mörikes Erzählungen. Stuttgart 1969, S. 19. 4 Vgl. zu diesem Thema auch Silke Arnold: „Ich ward, was des Mädchens Vergehen betrifft, aus dem Gespräch der Herren nicht klug“. Eduard Mörike und das Rätsel der Lucie Gelmeroth. In: „Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüthe offen“. Neue Studien zum Werk Eduard Mörikes. Hrsg. von Reiner Wild. St. Ingbert 1997, S. 91–118, hier S. 105–111. 5 Ebd., S. 103. 6 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1933]. In: ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge (Studienausgabe, Bd. 1). Frankfurt a. M. 2000, S. 447– 608, hier S. 514. 7 6.2, S. 26. 8 Vgl. 6.2, S. 313f. 9 Vgl. 6.2, S. 329.
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Anmerkungen
10 Ludwig Völker: „Daß das Wunderbare nur scheinbar ist und bloßes Spiel“. Form und Geist des Erzählens in Mörikes Der Schatz. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 324–342, hier S. 340. 11 Steinmetz: Eduard Mörikes Erzählungen, S. 52. 12 Ebd., S. 59. 13 Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit [1910]. In: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 12: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Teil 1. Hrsg. von Rüdiger Kramme. Frankfurt a. M. 2001, S. 177– 193, hier S. 180. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 180f. 16 Ebd., S. 189f. 17 Ebd., S. 187f. 18 Ebd., S. 185. 19 Steinmetz: Eduard Mörikes Erzählungen, S. 29.
Humoristische Lyrik. Hrsg. von Maurice Cureau. Stuttgart 1990, S. 69. 12 Vgl. Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972, S. 279. 13 Das Gedicht parodiert übrigens ein an Justinus Kerner gerichtetes Sonett Ludwig Uhlands (vgl. 12, S. 488). 14 Vgl. 3, S. 118. 15 Vgl. 10, S. 61, und Bauer: Briefe an Eduard Mörike, S. 22. 16 Bauer: Briefe an Eduard Mörike, S. 182f. 17 Eduard Mörike: Gedichte. Stuttgart u. a. 1838, S. 175. 18 Bauer: Briefe an Eduard Mörike, S. 63. 19 Martin Stern: Mörikes Märchen vom sichern Mann [1966]. In: Eduard Mörike. Hrsg. von Victor G. Doerksen. Darmstadt 1975, S. 357–379, hier S. 374. 20 Thomas Mann: Der Erwählte. Roman. Frankfurt a. M. 1980, S. 8.
11. Komik, Satire und Parodie
12. Mörike und das Theater
1 Ludwig Amandus Bauer: Briefe an Eduard Mörike. Hrsg. von Bernhard Zeller und Hans-Ulrich Simon. Marbach 1976, S. 181. 2 Vgl. SW I, S. 923–933. 3 Vgl. 6.1, S. 333 bzw. 335–338. 4 Vgl. 6.1, S. 338. 5 SW I, S. 930. 6 SW I, S. 931. 7 Bauer: Briefe an Eduard Mörike, S. 182. 8 Vgl. unter anderem 16, S. 196 und 240, 19.1, S. 266, und 19.2, S. 27. 9 SW I, S. 932. 10 Vgl. Harry Maync: Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten. Stuttgart u. a. 3/4 1927, S. 212. 11 Christian Morgenstern: Das ästhetische Wiesel. In: ders.: Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe. Bd. 3:
1 Friedrich Theodor Vischer: Gedichte von Eduard Moerike [1839]. In: Eduard Mörike. Wege der Forschung. Hrsg. von Victor G. Doerksen. Darmstadt 1975, S. 3–32, hier S. 23. 2 Friedrich Notter: Eduard Mörike [1875]. In: ders.: Eduard Mörike und andere Essays. Marbach a.N. 1966, S. 50–117, S. 51. 3 Theodor Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike [1876/77]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 4: Märchen. Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 470–487, hier S. 485f. 4 Ludwig Amandus Bauer: Briefe an Eduard Mörike. Hrsg. von Bernhard Zeller und Hans-Ulrich Simon. Marbach 1976, S. 172.
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Anmerkungen
5 10, S. 402. 6 Vgl. 10, S. 288. 7 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Philosophie der Kunst. In: ders.: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl Friedrich August Schelling. Bd. 5. Stuttgart u. a. 1859, S. 353–736, hier S. 690 und 692. 8 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Hrsg. von Robert Vischer. Sechster Band. München 21923, S. 262. 9 Briefwechsel zwischen Eduard Mörike und Friedrich Theodor Vischer. Hrsg. von Robert Vischer. München 1926, S. 148. 10 Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike. Hrsg. von Heinz Kindermann. Stuttgart 1919, S. 176f. 11 Vgl. Gerhard Storz: Eduard Mörike. Stuttgart 1967, S. 195f. 12 Vgl. 11, S. 264 und 289f. 13 Vgl. 14, S. 91. 14 Vgl. 10, S. 303f. 15 Vgl. 11, S. 230 und 262f. 16 Vgl. 7, S. 469f. 17 Vgl. 12, S. 119. 18 Vgl. 12, S. 237f. 19 Vgl. 13, S. 46, 48 und 51. 20 Eine Auswahl ist abgedruckt in 7, S. 477–481. 21 Vgl. 12, S. 427, und 14, S. 627.
13. Mystische Tatsachen: Geister, Träume, Ahnungen 1 2
Vgl. 7, S. 333. Vgl. Justinus Kerner: Die Reiseschatten [1811]. In: ders.: Sämtliche poetische Werke. Bd. 3. Leipzig 1905, S. 89–275, hier S. 266. Die geheimnisvolle weibliche Gestalt, die solche magnetischen Künste ausübt, wird bei Kerner als „fremdes Mädchen“ bezeichnet. Der von Mörike gebrauchte Name „Pere-
grina“ überträgt diese Wendung ins Lateinische. 3 Vgl. 15, S. 752, mit einem Auszug aus einem Brief von Klara Mörike an Wilhelm Hartlaub. 4 Für weitere Traumberichte vgl. etwa 10, S. 112, 11, S. 112f., 12, S. 180f., sowie 13, S. 168 und 239f. 5 Vgl. 12, S. 179, mit dem Hinweis auf die „Zeichnung des grammatischen Gespenstes“. Das Blatt selbst ist wiedergegeben in: Eduard Mörike: Eine phantastische Sudelei. Ausgewählte Zeichnungen. Hrsg. von Alexander Reck. Stuttgart 2004, S. 44. 6 Vgl. 19.1, S. 139 und 575f. 7 Vgl. 19.1, S. 181 und 634. 8 Vgl. 19.1, S. 19 und 359. 9 Vgl. 15, S. 153f. 10 Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1899] (Studienausgabe, Bd. 2). Frankfurt a. M. 2000, S. 85f. 11 Vgl. 13, S. 153–155. 12 Vgl. 7, S. 742–744. 13 Vgl. 7, S. 361–366. 14 Vgl. 13, S. 231f. und 233f. 15 Isolde Kurz: Hermann Kurz. Ein Beitrag zu seiner Lebensgeschichte. München u. a. 1906, S. 109. 16 Vgl. 16, S. 62f. 17 Vgl. 17, S. 65. 18 Vgl. dazu 19.1, S. 634. 19 Vgl. 19.1, S. 181. 20 Vgl. 19.1, S. 277f. 21 Friedrich Notter: Eduard Mörike [zuerst 1875]. In: ders.: Eduard Mörike und andere Essays. Marbach a.N. 1966, S. 50–117, hier S. 106.
14. Politik und Zeitgeschichte 1 Karl Ferdinand Gutzkow: Dionysius Longinus. Oder: Über den ästhetischen Schwulst in der neuern deutschen Lite-
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Anmerkungen
ratur [1878]. In: ders.: Schriften. Bd. 2: Literat u rk r it isch-P ubl izist isches. Autobiographisch-Itinerarisches. Hrsg. von Adrian Hummel. Frankfurt a. M. 1998, S. 1345–1440, hier S. 1368. 2 Heinrich Heine: Der Schwabenspiegel [1838]. In: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 10: Shakespeares Mädchen und Frauen und Kleinere literaturkritische Schriften. Hamburg 1993, S. 266–278, hier S. 270. 3 7, S. 405. 4 7, S. 412. 5 SW II, S. 400–403. 6 Ludwig Uhland: Werke. Hrsg. von Hartmut Fröschle und Walter Scheffler. Bd. 1: Sämtliche Gedichte. München 1980, S. 77. 7 Vgl. 7, S. 173. 8 Vgl. 15, S. 251. 9 Zu der verwickelten Genese des Werkes und seinen unterschiedlichen Fassungen vgl. Rainer Pohl: Zur Textgeschichte von Mörikes Feuerreiter. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 223–240. 10 Eduard Mörike: Gedichte. Stuttgart u. a. 1838, S. 85f. 11 Vgl. Herbert Bruch: Faszination und Abwehr. Historisch-psychologische Studien zu Eduard Mörikes Roman Maler Nolten. Stuttgart 1992, S. 5–112. 12 Ebd., S. 86. 13 Vgl. auch 11, S. 182f. 14 Vgl. 14, S. 142f. 15 Vgl. 15, S. 144, und die Erläuterung dazu auf S. 592. 16 So Helmut Koopmann: Freiheitssonne und Revolutionsgewitter. Reflexe der Französischen Revolution im literarischen Deutschland zwischen 1789 und 1840. Tübingen 1989, S. 139. 17 Vgl. 15, S. 704. 18 Vgl. dazu 15, S. 237f., 241, 244f. und 250.
19 Vgl. 15, S. 263 und 257 (mit der dazugehörigen Erläuterung S. 738). 20 Vgl. 15, S. 281, 283 und 767. 21 Vgl. 10, S. 125. 22 Vgl. 3, S. 281f. 23 Vgl. 17, S. 314, und 18, S. 17. 24 Vgl. 18, S. 135, 137 und 536f. 25 Vgl. 18, S. 140, 141 und 188. 26 Vgl. 18, S. 194 und 196. 27 Vgl. Fredy Meyer: Eduard Mörike als politischer Dichter. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 75 (2001), S. 387–421. 28 SW II, S. 475f. 29 Vgl. dazu: „Ihr Interesse und das Unsrige …“. Mörike im Spiegel seiner Briefe von Verlegern, Herausgebern und Redakteuren. Hrsg. von Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1997, S. 221–224.
15. Eine „reine und gesunde Nahrung“: Mörike und die Antike 1
2 3 4 5 6 7
– 567 –
Vgl. beispielsweise Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. II. Abteilung: Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 12). Hrsg. von Christoph Michel. Frankfurt a. M. 1999, S. 324. Vgl. 12, S. 547. Gerhard Rückert: Mörike und Horaz. Nürnberg 1970, S. 42f. und 38. Ebd., S. 197f. Gerhard Storz: Eduard Mörike. Stuttgart 1967, S. 315. Vgl. 12, S. 163, und 13, S. 53, 106, 117 und 179. Vgl. dazu im Einzelnen die Ausführungen von Udo Pillokat: Verskunstprobleme bei Eduard Mörike. Hamburg 1969, S. 109–126, die sich auf detaillierte statistische Auswertungen stützen.
Anmerkungen
8 SW II, S. 386. 9 Gert Sautermeister: Die Geburt des Gedichts aus dem Geiste des Eros. Zur Liebeslyrik Mörikes. In: „Nicht allein mit den Worten“. Festschrift für Joachim Dyck zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Thomas Müller, Johannes G. Pankau und Gert Ueding. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 156–166, hier S. 156. 10 Vgl. 15, S. 594. 11 Die zitierte Wendung stammt aus dem vierten Gedicht im ersten Buch der Satiren (V. 42). 12 Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. Stuttgart 1967, S. 12. 13 Ebd., S. 8f. 14 Ebd., S. 13. 15 Salomon Gessner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hrsg. von E. Theodor Voss. Stuttgart 1973, S. 15. 16 Vgl. dazu Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 2: Die Formenwelt. Stuttgart 1972, S. 743–802. 17 Vgl. 18, S. 64. 18 Vgl. etwa Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Hrsg. von Robert Vischer. Sechster Band. München 21923, S. 160, der das griechische Wort in seinen Ausführungen zur Idylle mit „(Sitten-)Bildchen“ übersetzt. 19 Robert Minder: Das Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Gottfried Benn. In: ders.: Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays. Frankfurt a. M. 1962, S. 44–72, hier S. 52. 20 Vgl. 10, S. 248. 21 Vgl. 13, S. 125–128. 22 Vgl. 7, S. 411. 23 Vgl. 7, S. 405. 24 Ansätze zu einer solchen Deutung finden sich bereits bei Helmut J. Schneider: Dingwelt und Arkadien. Mörikes
Idylle vom Bodensee und sein Anschluß an die bukolische Gattungstradition. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978), Sonderheft, S. 24–51. 25 Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972, S. 220. 26 Vgl. 8.1, S. 11f. 27 Vgl. 12, S. 160, und 13, S. 62f. 28 Vgl. 8.1, S. 12. 29 Vgl. 8.2, S. 84–234. – Für jede intensivere Beschäftigung mit Mörikes Übersetzungen sei generell auf die vorbildlichen Materialien, Kommentare und Erläuterungen von Ulrich Hötzer in den drei Teilen des achten Bandes der historisch-kritischen Werkausgabe verwiesen. 30 Vgl. etwa 12, S. 168. 31 C. Valerius Catullus: Carmina – Gedichte. Lateinisch – deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg. Düsseldorf 2009, S. 174. 32 Ebd., S. 175. 33 8.3, S. 222. 34 Ebd. 35 Vgl. Otto Weinreich: Die Distichen des Catull. Tübingen 1926, S. 35–43 und 95–98. 36 Ebd., S. 42. 37 Vgl. Ulrich Hötzer: Mörikes heimliche Modernität. Hrsg. von Eva Bannmüller. Tübingen 1998, S. 32–34. 38 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Was ist übersetzen? In: ders.: Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin 4 1925, S. 1–36, hier S. 8. 39 Vgl. unter anderem 18, S. 24f. und 36f. 40 Vgl. 17, S. 174f., 184 und 225. 41 Vgl. 8.1, S. 386f. 42 Gerda Rupprecht: Mörikes Leistung als Übersetzer aus den klassischen Sprachen. Gezeigt durch Vergleich mit anderen Übersetzungen, besonders mit den von ihm neu gestalteten Überset-
– 568 –
Anmerkungen
zungen. München 1958, S. 188–206, analysiert Mörikes Übertragung im Vergleich mit anderen Verdeutschungen, unter denen sich auch eine aus der Feder Goethes findet. 43 Vgl. 8.1, S. 385. 44 Vgl. ebd. 45 Rupprecht: Mörikes Leistung als Übersetzer aus den klassischen Sprachen, S. 104. 46 Vgl.: Griechische Lyrik. Übertragen von Eduard Mörike. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Uvo Hölscher. Frankfurt a. M. 1960, S. 48–84.
16. Ökonomie und Finanzen, Verlage und Verleger 1 Vgl. 10, S. 245. 2 Eduard Mörikes Haushaltungs-Buch. Wermutshausen – Hall – Mergentheim. 16. Oktober 1843 – 27. April 1847. Faksimile der Handschrift. Erläutert und eingeführt von Hans-Ulrich Simon. Vorwort von Hermann Bausinger. Marbach a.N. 1994, S. 116f. 3 Ebd., S. 128f. 4 Vgl. 14, S. 142f. 5 Vgl.: Eduard Mörikes HaushaltungsBuch, S. 194. 6 Vgl. 15, S. 534. 7 Vgl. dazu die Auflistung bei Hal H. Rennert: Eduard Mörike’s Reading and the Reconstruction of his Extant Library. New York u. a. 1985, S. 141–156. 8 Wichtige Dokumente zu dem Thema finden sich, kommentiert und erläutert, in dem Band: „Ihr Interesse und das Unsrige …“. Mörike im Spiegel seiner Briefe von Verlegern, Herausgebern und Redakteuren. Hrsg. von HansUlrich Simon. Stuttgart 1997. 9 Vgl. ebd., S. 215. 10 6.2, S. 119.
11 6.2, S. 229. 12 Siegbert Salomon Prawer: Mörike und seine Leser. Versuch einer Wirkungsgeschichte. Stuttgart 1960, S. 28. 13 6.2, S. 222, 232 und 233. 14 6.2, S. 222 und 233.
17. Von Mergentheim nach Stuttgart 1 Vgl. 14, S. 220f., 226–228, 233–235 und 252–256. 2 Vgl. 16, S. 181. 3 SW II, S. 487. 4 SW II, S. 500. 5 Vgl. 14, S. 271. 6 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. 1: Allgemeine Voraussetzungen – Richtungen – Darstellungsmittel. Stuttgart 1971, S. 56. 7 Vgl. beispielsweise 16, S. 149 und 166. 8 Vgl. dazu etwa 15, S. 752f. 9 Vgl. Ludwig Amandus Bauer: Briefe an Eduard Mörike. Hrsg. von Bernhard Zeller und Hans-Ulrich Simon. Marbach 1976, S. 98–100. 10 Vgl. dazu Hans-Ulrich Simon: MörikeHäuser. Wohnen in Stuttgart zwischen 1851 und 1875. Stuttgart 1996. 11 Vgl. zu Mörikes Menagerie 13, S. 132, und 14, S. 119. 12 Vgl. 18, S. 127 und 238. 13 Vgl. 16, S. 161, 17, S. 12f., 45f., 60–62, 115f. und 245, 18, S. 28f., 53f. und 198, 19.1, S. 97 und 253f., sowie 19.2, S. 30. 14 Wilhelm Raabe: Briefe (Sämtliche Werke, Ergänzungsband 2). Bearbeitet von Karl Hoppe unter Mitarbeit von Hans-Werner Peter. Göttingen 1975, S. 419. 15 Vgl. 16, S. 115 und 121. 16 Vgl. dazu 16, S. 81. 17 Vgl. 8.2, S. 425–448.
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Anmerkungen
18 Zitiert nach: Eduard Mörike: 1804 – 1875 – 1975. Gedenkausstellung zum 100. Todestag im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. vom 21. März – 10. November 1975. Texte und Dokumente. Hrsg. von Bernhard Zeller. Marbach a.N. 21990, S. 335. 19 Theodor Storm – Eduard Mörike / Theodor Storm – Margarethe Mörike. Briefwechsel. Hrsg. von Hildburg und Werner Kohlschmidt. Berlin 1978, S. 31. 20 Vgl. ebd., S. 59. 21 Vgl. Theodor Storm: Meine Erinnerungen an Eduard Mörike [1876/77]. In: ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Bd. 4: Märchen. Kleine Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 470–487. 22 Vgl. Theodor Storm – Eduard Mörike / Theodor Storm – Margarethe Mörike. Briefwechsel, S. 58. 23 Ebd., S. 71. 24 Harry Maync: Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten. Stuttgart u. a. 3/4 1927 , S. 366. 25 Ein Gefühl der Verwandtschaft. Paul Heyses Briefwechsel mit Eduard Mörike. Hrsg. von Rainer Hillenbrand. Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 23. 26 Ebd., S. 35. 27 Vgl. 9.3, S. 205–241. 28 Friedrich Hebbel: Werke. Fünfter Band. München 1967, S. 331. 29 Vgl. 17, S. 305f. 30 SW II, S. 395f. 31 Vgl. 19.1, S. 25. 32 Vgl. 18, S. 146. 33 Vgl. dazu 18, S. 168–171, wo Mörike den Eindruck wiederzugeben versucht, den diese Bilder auf ihn machten. Das an Schwind gerichtete Schreiben blieb freilich Fragment, ebenso wie einige Verse, die er aus demselben Anlass niederschrieb (vgl. 19.1, S. 103f.). 34 Vgl. dazu Eduard Mörike: Eine phantastische Sudelei. Ausgewählte Zeich-
nungen. Hrsg. von Alexander Reck. Stuttgart 2004.
18. Das späte Erzählwerk 1
Gerhard Storz: Eduard Mörike. Stuttgart 1967, S. 268. 2 Vgl.: Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike. Hrsg. von Heinz Kindermann. Stuttgart 1919, S. 172–174. 3 Wiedergegeben sind die Bilder in einem Bändchen des Insel-Verlags: Eduard Mörike: Die Historie von der schönen Lau. Mit Illustrationen von Moritz von Schwind und einem Nachwort von Traude Dienel. Frankfurt a. M. u. a. 1974. 4 Briefwechsel zwischen Strauß und Vischer. 2 Bde. Hrsg. von Adolf Rapp. Bd. 2: 1851–1873. Stuttgart 1953, S. 48. 5 Vgl. Frank Vögele: Leben als Hochseilakt. Studien zu Eduard Mörikes Erzählung Das Stuttgarter Hutzelmännlein. St. Ingbert 2005. 6 Vgl. Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. Frankfurt a. M. 1966, S. 162. 7 Vögele: Leben als Hochseilakt, S. 59. 8 Ebd., S. 162. 9 Ebd., S. 138. 10 Vgl. den Aufsatz von Dörte Fuchs und Andrea Günter: Lachend in die OhnMacht. Eduard Mörikes Historie von der schönen Lau: Archäologie eines Textes. In: Sehnsucht und Sirene. Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Hrsg. von Irmgard Roebling. Pfaffenweiler 1992, S. 131–143, die von einer „Sozialisation in die Ohnmacht“ sprechen (S. 142). 11 Theodor Storm: Briefe. Bd. 1. Berlin u. a. 21984, S. 287. 12 Vgl. die Erläuterung in 16, S. 425.
– 570 –
Anmerkungen
13 Zu der Così fan tutte-Übertragung verfasste er sogar eine Rezension, die freilich nie publiziert wurde und nur fragmentarisch erhalten ist (vgl. 7, S. 248–250); zum deutschen Text von Don Giovanni ließ er Gugler eine Reihe von Anmerkungen und Verbesserungsvorschlägen zukommen (vgl. 18, S. 86, 91 und 189, sowie 19.1, S. 89f.). 14 Vgl. 10, S. 82 und 85. 15 Die folgenden Ausführungen zur Mozart-Novelle greifen teilweise auf meinen einschlägigen Artikel im Mörike-Handbuch zurück (hrsg. von Inge und Reiner Wild unter Mitarbeit von Ulrich Kittstein. Stuttgart u. a. 2004, S. 192–202). 16 6.2, S. 199. 17 Zu den „silbernen Posaunen“ vgl. 6.1, S. 279. 18 Vgl. 16, S. 145. 19 Vgl. 6.1, S. 262. 20 Vgl.: Theodor Storm – Eduard Mörike / Theodor Storm – Margarethe Mörike. Briefwechsel. Hrsg. von Hildburg und Werner Kohlschmidt. Berlin 1978, S. 69–71. 21 Vgl. Karl Konrad Polheim: Der künstlerische Aufbau von Mörikes MozartNovelle. In: Euphorion 48 (1954), S. 41–70. Einleitend werden hier auch die älteren Forschungsbeiträge diskutiert, die sich mit der Form der Erzählung befassen. 22 Horst Steinmetz: Eduard Mörikes Erzählungen. Stuttgart 1969, S. 99. Wolfgang Hildesheimer: Mozart 23 [1977]. In: ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Christiaan Lucas Hart Nibbrig und Volker Jehle. Bd. III: Essayistische Prosa. Frankfurt a. M. 1991, S. 7–425, hier S. 18. 24 Ebd., S. 13. 25 Ebd., S. 292. 26 6.2, S. 199.
27 Wolfgang Braungart: Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Ökonomie – Melancholie – Auslegung und Gespräch. In: Interpretationen: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart 1990, S. 133–202, hier S. 142. 28 Vgl. dazu ebd., S. 152–169. 29 Benno von Wiese: Eduard Mörike. Tübingen u. a. 1950, S. 272. 30 Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1756–1799 (Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Bd. 1). Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1987, S. 250. 31 Vgl. Thorsten Valk: Vom Hochzeitslied zum Höllenbrand. Mörikes Novelle Mozart auf der Reise nach Prag im Interferenzbereich zwischen biedermeierlicher Musikkultur und romantischer Musikästhetik. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006), S. 536–560.
19. Späte Lyrik 1 2
3 4 5 6 7 8 9 10
11
– 571 –
Gerhard Storz: Eduard Mörike. Stuttgart 1967, S. 36. Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972, S. 178f. Vgl. 6.1, S. 258f. SW II, S. 397. SW II, S. 383. SW II, S. 510. SW II, S. 455. SW II, S. 435. Vgl. dazu 19.1, S. 209 und 681f. Vgl. dazu im Einzelnen Thomas Wolf: Brüder, Geister und Fossilien. Eduard Mörikes Erfahrungen der Umwelt. Tübingen 2001, S. 115–159. Abgedruckt ist der Text bei Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk,
Anmerkungen
12 13
14 15 16 17 18 19
S. 161f. Dagegen bietet SW II nur die ersten vier Verse (S. 443), die in den Anmerkungen zudem irrtümlicherweise auf 1843 datiert werden (S. 964). Wolf: Brüder, Geister und Fossilien, S. 148. Susanne Fliegner: Der Dichter und die Dilettanten. Eduard Mörike und die bürgerliche Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991, S. 73. Vgl. dazu 12, S. 107. Vgl. Fliegner: Der Dichter und die Dilettanten, S. 179–206. SW II, S. 472. Vgl. dazu 18, S. 226. Vgl. zu diesem Geschenk auch 19.1, S. 17f. und 23. Vgl. dazu 15, S. 305. Vgl.: Griechische Anthologie. Metrisch übersetzt von W. E. Weber. Erstes Bändchen. Stuttgart 1838, S. 122.
20. Schluss 1
Gottfried Keller: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Carl Helbling. Bern 1952. Bd. 3.1, S. 138. 2 Friedrich Theodor Vischer: Gedichte von Eduard Moerike [1839]. In: Eduard Mörike. Wege der Forschung. Hrsg. von Victor G. Doerksen. Darmstadt 1975, S. 3–32, hier S. 6f. 3 Hans Carossa: Führung und Geleit. Ein Lebensgedenkbuch. Leipzig 1934, S. 154. 4 Sigrid Damm: „… und möchte mein Schicksal mit Füßen zertreten“. In: Sinn und Form 46 (1994), S. 478–484, hier S. 484.
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Zeittafel 1804 8. September: Eduard Mörike wird in Ludwigsburg geboren. 1815 Sein Vater, Karl Friedrich Mörike, kann nach einem Schlaganfall seinen Beruf als Arzt nicht mehr ausüben. 1817 22. September: Tod des Vaters. Mörike zieht zu seinem Onkel Eberhard Friedrich von Georgii nach Stuttgart und besucht dort das Gymnasium illustre. 1818 Er erreicht beim Landexamen nur ein mäßiges Ergebnis, wird aber trotzdem in das Niedere theologische Seminar in Urach aufgenommen. 1822 Mörike wechselt zum Studium der Theologie auf das Tübinger Stift. 1823 In den Osterferien lernt er in Ludwigsburg Maria Meyer kennen. 1824 Im Sommer Höhepunkt der Krise wegen der Beziehung zu Maria Meyer; Mörike fährt zu seiner Familie nach Stuttgart. 19. August: Der jüngere Bruder August stirbt unter ungeklärten Umständen. 1825 Gemeinsam mit dem Studienfreund Ludwig Bauer erfindet Mörike die Märcheninsel Orplid. 1826 Im Herbst legt Mörike sein Examen ab und tritt das Vikariat an, das ihn in der Folgezeit in verschiedene Ortschaften meist im näheren Umkreis der Schwäbischen Alb führt. 1827 31. März: Mörikes ältere Schwester Luise stirbt. Gegen Ende des Jahres lässt er sich vom Vikariat beurlauben, um andere berufliche Möglichkeiten auszuloten. 1828 Im „Morgenblatt für gebildete Stände“ werden erste Gedichte Mörikes gedruckt. Im Herbst einigt er sich mit dem Verlag der Brüder Franckh auf eine Beschäftigung bei der „Damen-Zeitung“, die er aber noch vor Jahres ende wieder aufkündigt. – 573 –
Zeittafel
1829 Rückkehr ins Vikariat. In Plattenhardt lernt Mörike im Mai Luise Rau kennen, mit der er sich am 14. August verlobt. 1832 Der Roman Maler Nolten erscheint. 1833 In „Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1834“ wird Miß Jenny Harrower, die erste Fassung der Erzählung Lucie Gelmeroth, veröffentlicht. Im November löst Mörike die Verlobung mit Luise Rau. 1834 3. Juli: Mit der offiziellen Übernahme der Pfarrei Cleversulzbach endet Mörikes Vikariatszeit. Auch seine Mutter Charlotte Dorothea und die unverheiratete Schwester Klara ziehen im Pfarrhaus ein. 1835 Erste schwere Erkrankung; Mörike kann seinen Amtspflichten fortan kaum noch nachkommen. Das von ihm mitherausgegebene „Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten“, das unter anderem die Erzählung Der Schatz enthält, erscheint. 1838 Die erste Ausgabe der gesammelten Gedichte wird publiziert. 1839 20. Mai: Uraufführung der Oper Die Regenbrüder am Stuttgarter Hoftheater. Mörikes Sammelband „Iris“ erscheint; er bringt das Libretto der Oper, das dramatische Spiel Der lezte König von Orplid (aus Maler Nolten) sowie die Erzählungen Der Schatz, Lucie Gelmeroth und Der Bauer und sein Sohn. 1840 Die Übersetzungsanthologie Classische Blumenlese wird veröffentlicht. 1841 26. April: Mörikes Mutter stirbt. 1843 17. Juli: Mörike wird pensioniert. Im September verlässt er Cleversulzbach und zieht mit Klara zu Familie Hartlaub nach Wermutshausen. 1844 Im April nimmt das Geschwisterpaar seinen Wohnsitz in Schwäbisch Hall, im November erfolgt der Umzug nach Mergentheim. 1845 Im März wird in Mergentheim eine neue Wohnung bezogen. Mörike lernt Margarethe Speeth, die Tochter des Hausbesitzers, kennen. 1846 Die Idylle vom Bodensee wird publiziert. 1847 Die zweite Auflage der Gedichte erscheint. 1848 7. September: Mörikes älterer Bruder Karl stirbt. 1851 Mörike zieht nach Stuttgart und wird Lehrer am Katharinenstift. 25. November: Heirat mit Margarethe Speeth. Klara Mörike bleibt im Haushalt des Ehepaares wohnen. 1852 Mörike erhält die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen. – 574 –
Zeittafel
1853 Im „Kunst- und Unterhaltungsblatt für Stadt und Land“ wird Die Hand der Jezerte gedruckt; außerdem erscheint Das Stuttgarter Hutzelmännlein. 1855 12. April: Die Tochter Franziska (Fanny) wird geboren. Gemeinsam mit Friedrich Notter gibt Mörike den Übersetzungsband Theokritos, Bion und Moschos heraus. Das „Morgenblatt“ bringt Mozart auf der Reise nach Prag in Fortsetzungen, etwas später wird die Buchausgabe der Erzählung publiziert. 1856 In seiner Eigenschaft als Lehrer am Katharinenstift wird Mörike der Professorentitel verliehen. Die dritte Auflage der Gedichte erscheint. Außerdem wird der Band „Vier Erzählungen“ veröffentlicht; er enthält Der Schatz, Lucie Gelmeroth, Der Bauer und sein Sohn und Die Hand der Jezerte. 1857 28. Januar: Mörikes Tochter Marie kommt zur Welt. 1862 Aufnahme in den bayrischen Königlichen Maximilians-Orden für Wissenschaft und Kunst. 1864 Mörike erhält vom württembergischen König das Ritterkreuz des Friedrichs-Ordens. Der Übersetzungsband Anakreon und die sogenannten Anakreontischen Lieder erscheint. 1866 Mörike gibt seine Lehrtätigkeit am Katharinenstift auf. 1867 Das Ehepaar lässt sich in Lorch nieder. Die vierte Auflage der Gedichte wird gedruckt. 1869 Mörike und seine Frau kehren nach Stuttgart zurück. 1870 Umzug nach Nürtingen. 1871 Umzug nach Stuttgart. 1872 Die Historie von der Schönen Lau (aus dem Stuttgarter Hutzelmännlein) erscheint als Separatausgabe mit Illustrationen nach Zeichnungen Moriz von Schwinds. 1873 Im Sommer trennen sich Eduard und Margarethe; Klara und Marie bleiben bei ihm, Fanny zieht zur Mutter. Mörike wohnt kurzfristig wieder in Lorch und in Fellbach, bevor er endgültig nach Stuttgart zurückkehrt. 1875 4. Juni: Mörike stirbt in Stuttgart. 6. Juni: Bei der Beisetzung auf dem Pragfriedhof hält Friedrich Theodor Vischer die Trauerrede. 1876 Die von Julius Klaiber vollendete zweite Fassung des Maler Nolten wird publiziert. – 575 –
Auswahlbibliographie 1. Werkausgaben Mörike, Eduard: Die schönsten Gedichte. Ausgewählt von Hermann Hesse. Frankfurt a. M. u. a. 1999 (insel taschenbuch). Mörike, Eduard: Gedichte. Hrsg. von Bernhard Zeller. Stuttgart 1994 (Reclam UB). Mörike, Eduard: Maler Nolten. Novelle in zwei Teilen. Hrsg. von Heide Eilert. Stuttgart 1987 (Reclam UB). Mörike, Eduard: Maler Nolten. Novelle in zwei Teilen. Erste Fassung. Frankfurt a. M. u. a. 1979 (insel taschenbuch). Mörike, Eduard: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. von Wolfgang Braungart. Stuttgart 2004 (Reclam UB). Mörike, Eduard: Sämtliche Werke. Briefe. Hrsg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse. 3 Bde. Stuttgart 1959/1961. Mörike, Eduard: Sämtliche Werke in zwei Bänden. München 1967/1970. Mörike, Eduard: Werke. Hrsg. von Harry Maync. 3 Bde. Leipzig u. a. 21914. Mörike, Eduard: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Hubert Arbogast, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer und Bernhard Zeller. Bd. 1.1: Gedichte. Ausgabe von 1867. Text. Hrsg. von Hans-Henrik Krummacher. Stuttgart 2003. Bd. 3: Maler Nolten. Hrsg. von Herbert Meyer. Stuttgart 1967. Bd. 4: Maler Nolten. Bearbeitung. Hrsg. von Herbert Meyer. Stuttgart 1968. Bd. 5: Maler Nolten. Lesarten und Erläuterungen. Hrsg. von Herbert Meyer. Stuttgart 1971. Bd. 6.1: Erzählungen. Teil 1: Text. Hrsg. von Mathias Mayer. Stuttgart 2005. Bd. 6.2: Erzählungen. Teil 2: Lesarten und Erläuterungen. Hrsg. von Mathias Mayer. Stuttgart 2008. – 576 –
Auswahlbibliographie
Bd. 7: Idylle vom Bodensee. Dramatische Schriften. Vermischte Schriften. Hrsg. von Albrecht Bergold. Stuttgart 2009. Bd. 8.1: Übersetzungen. Teil 1: Text. Hrsg. von Ulrich Hötzer. Stuttgart 1976. Bd. 8.2: Übersetzungen. Teil 2: Lesarten und Erläuterungen. Nachlese. Hrsg. von Ulrich Hötzer. Stuttgart 1993. Bd. 8.3: Übersetzungen. Teil 3: Bearbeitungsanalysen. Hrsg. von Ulrich Hötzer. Stuttgart 1981. Bd. 9.1: Bearbeitung fremder Werke. Kritische Beratungen. Teil 1: Bearbeitung von Gedichten Wilhelm Waiblingers. Hrsg. von Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1995. Bd. 9.2: Bearbeitung fremder Werke. Kritische Beratungen. Teil 2: Beratung Karl Mayers. Hrsg. von Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 2000. Bd. 9.3: Bearbeitung fremder Werke. Kritische Beratungen. Teil 3: Zu einzelnen Autoren. Hrsg. von Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 2008. Bd. 10: Briefe 1811–1828. Hrsg. von Bernhard Zeller und Anneliese Hofmann. Stuttgart 1982. Bd. 11: Briefe 1829–1832. Hrsg. von Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1985. Bd. 12: Briefe 1833–1838. Hrsg. von Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1986. Bd. 13: Briefe 1839–1841. Hrsg. von Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 1988. Bd. 14: Briefe 1842–1845. Hrsg. von Bernhard Zeller und Albrecht Bergold. Stuttgart 1994. Bd. 15: Briefe 1846–1850. Hrsg. von Albrecht Bergold und Bernhard Zeller. Stuttgart 2000. Bd. 16: Briefe 1851–1856. Hrsg. von Bernhard Thurn. Stuttgart 2000. Bd. 17: Briefe 1857–1863. Hrsg. von Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 2002. Bd. 18: Briefe 1864–1867. Hrsg. von Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 2006. Bd. 19.1: Briefe 1868–1875. Hrsg. von Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 2006. Bd. 19.2: Briefe. Nachträge, Ergänzungen und Berichtigungen, Gesamtverzeichnisse. Hrsg. von Regina Cerfontaine und Hans-Ulrich Simon. Stuttgart 2006.
2. Zur Biographie Beci, Veronika: Eduard Mörike. Die gestörte Idylle. Biographie. Düsseldorf u. a. 2004. – 577 –
Auswahlbibliographie
Eduard Mörike: 1804 – 1875 – 1975. Gedenkausstellung zum 100. Todestag im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. vom 21. März – 10. November 1975. Texte und Dokumente. Hrsg. von Bernhard Zeller. Marbach a. N. 2 1990. Holthusen, Hans Egon: Eduard Mörike. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1971. Kluckert, Ehrenfried: Eduard Mörike. Sein Leben und Werk. Köln 2004. Lahnstein, Peter: Eduard Mörike. Leben und Milieu eines Dichters. München 1986. Maync, Harry: Eduard Mörike. Sein Leben und Dichten. Stuttgart 51944. Quak, Udo: Eduard Mörike. Reines Gold der Phantasie. Eine Biographie. Berlin 2004. Simon, Hans-Ulrich: Mörike-Chronik. Stuttgart 1981. Strunk, Reiner: Eduard Mörike. Pfarrer und Poet. Stuttgart 2004.
3. Sammelbände „Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüthe offen“. Neue Studien zum Werk Eduard Mörikes. Hrsg. von Reiner Wild. St. Ingbert 1997. Eduard Mörike. Hrsg. von Victor G. Doerksen. Darmstadt 1975. Eduard Mörike. Ästhetik und Geselligkeit. Hrsg. von Wolfgang Braungart und Ralf Simon. Tübingen 2004. Gedichte von Eduard Mörike. Interpretationen. Hrsg. von Mathias Mayer. Stuttgart 1999. Mörike-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Inge und Reiner Wild unter Mitarbeit von Ulrich Kittstein. Stuttgart u. a. 2004.
4. Zum Epochenhintergrund Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Stuttgart 1971– 1980. Zwischen Restauration und Revolution. 1815–1848. Hrsg. von Gert Sautermeister und Ulrich Schmid. München u. a. 1998 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 5).
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Auswahlbibliographie
5. Gesamtdarstellungen Mayer, Mathias: Eduard Mörike. Stuttgart 1998. Meyer, Herbert: Eduard Mörike. Stuttgart 1950. Storz, Gerhard: Eduard Mörike. Stuttgart 1967. Wiese, Benno von: Eduard Mörike. Tübingen u. a. 1950.
6. Spezielle Aspekte Fliegner, Susanne: Der Dichter und die Dilettanten. Eduard Mörike und die bürgerliche Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991. Hart Nibbrig, Christiaan L.: Verlorene Unmittelbarkeit. Zeiterfahrung und Zeitgestaltung bei Eduard Mörike. Bonn 1973. Prawer, Siegbert Salomon: Mörike und seine Leser. Versuch einer Wirkungsgeschichte. Stuttgart 1960. Rheinwald, Kristin: Eduard Mörikes Briefe. Werkstatt der Poesie. Stuttgart u. a. 1994. Rückert, Gerhard: Mörike und Horaz. Nürnberg 1970. Wolf, Thomas: Brüder, Geister und Fossilien. Eduard Mörikes Erfahrungen der Umwelt. Tübingen 2001.
7. Zu Einzelwerken und Werkgruppen 7.1 Lyrik Barnouw, Dagmar: Entzückte Anschauung. Sprache und Realität in der Lyrik Eduard Mörikes. München 1971. Heydebrand, Renate von: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972. Hötzer, Ulrich: Mörikes heimliche Modernität. Hrsg. von Eva Bannmüller. Tübingen 1998. Krummacher, Hans-Henrik: Zu Mörikes Gedichten. Ausgaben und Überlieferung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5 (1961), S. 267–344. Krummacher, Hans-Henrik: Mitteilungen zur Chronologie und Textgeschichte von Mörikes Gedichten. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller gesellschaft 6 (1962), S. 253–310.
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Auswahlbibliographie
Wild, Inge und Reiner: „Sohn des Horaz und einer feinen Schwäbin“. Beiträge zur Lyrik Eduard Mörikes. St. Ingbert 2014. 7.2 Erzählprosa Braungart, Wolfgang: Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Ökonomie – Melancholie – Auslegung und Gespräch. In: Interpretationen: Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart 1990, S. 133–202. Bruch, Herbert: Faszination und Abwehr. Historisch-psychologische Studien zu Eduard Mörikes Roman Maler Nolten. Stuttgart 1992. Eilert, Heide: Eduard Mörike: Maler Nolten. In: Romane des 19. Jahrhunderts. Interpretationen. Stuttgart 1992, S. 250–279. Kittstein, Ulrich: Zivilisation und Kunst. Eine Untersuchung zu Eduard Mörikes Maler Nolten. St. Ingbert 2001. Steinmetz, Horst: Eduard Mörikes Erzählungen. Stuttgart 1969. Vögele, Frank: Leben als Hochseilakt. Studien zu Eduard Mörikes Erzählung Das Stuttgarter Hutzelmännlein. St. Ingbert 2005. 7.3 Sonstiges Meyer-Guyer, Katharina: Eduard Mörikes Idyllendichtung. Zürich 1977. Rupprecht, Gerda: Mörikes Leistung als Übersetzer aus den klassischen Sprachen. Gezeigt durch Vergleich mit anderen Übersetzungen, besonders mit den von ihm neu gestalteten Übersetzungen. München 1958.
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Register 1. Personenregister Adorno, Theodor W. 103, 555 Albani, Francesco 243 Anakreon 389, 391, 420, 423–429, 438 Aristoteles 68 Arndt, Ernst Moritz 382 Athenaios 428 Auerbach, Berthold 290, 411, 468 Barnouw, Dagmar 95 Bassermann, Friedrich 380 Bauer, Ludwig Amandus 16, 34, 40, 49f., 52–59, 70, 79, 82, 146f., 169f., 215, 222, 279, 310f., 314, 317f., 325, 331f., 335, 420, 430, 437, 452f., 462, 466, 493, 495, 497 Baur, Ferdinand 229 Baur, Franz 315 Beck, Adolf 189 Beethoven, Ludwig van 492f., 495 Benn, Gottfried 59 Binder, Auguste 446 Bion 420, 423 Bismarck, Otto von 361, 383 Bloch, Ernst 59 Blumhardt, Christoph 65, 231, 347 Boccaccio, Giovanni 391 Bonpland, Aimé 518 Bort, Johanne 99 Böschenstein-Schäfer, Renate 401 Boz: siehe Dickens, Charles Brecht, Bertolt 275 Brentano, Clemens 94, 350 Brockes, Barthold Heinrich 522 Bruch, Herbert 174, 199, 374 Bulwer-Lytton, Edward 269 Busch, Wilhelm 286 Buttersack, Ludwig 48 Byron, George Gordon 269 Caesar, Gaius Julius 384
Carossa, Hans 555 Catull 390f., 399, 420–423, 428, 518 Celan, Paul 394 Christoph, Herzog von Württemberg 30 Conz, Karl Philipp 39 Corrodi, Paul 145 Cotta von Cottendorf, Johann Friedrich Freiherr 37, 279, 437 Cotta von Cottendorf, Johann Georg Freiherr 437, 439, 497f., 513 Da Ponte, Lorenzo 513 Damm, Sigrid 555 Dante Alighieri 98, 327 Danton, Georges 374 Daumer, Georg Friedrich 357 Degen, Johann Friedrich 424, 427 Dettinger, Christian 32 Dickens, Charles (Boz) 454, 474 Donizetti, Gaetano 494 Dürer, Albrecht 75 Eberhard I., Graf von Württemberg 482, 484 Eberhard Ludwig, Herzog von Württemberg 17 Eichendorff, Joseph von 39, 94, 117f., 290, 353, 487 Emmerick, Anna Katharina 350 Enzio 335 Epikur 73 Erinna 540f. Eschenmayer, Adolf Karl August 44, 346 Etzel, Friedrich 440 Faber, Friederike 446 Faber, Johann Friedrich 441 Fischer, Johann Georg 466, 531 Flad, Rudolf 147, 231 Fliegner, Susanne 534 Fontane, Theodor 13, 468 Fouqué, Friedrich Baron de la Motte 342, 487
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Register Franckh, Friedrich Gottlob 279f., 431, 436 Freiligrath, Ferdinand 440 Freud, Sigmund 54, 152, 187, 194, 251, 295, 352 Freytag, Gustav 474 Friedrich I., König von Württemberg 362f., 456 Friedrich II. (Kaiser) 335 Friedrich II., Herzog von Württemberg: siehe Friedrich I., König von Württemberg Friedrich II., König von Preußen 382 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 377–379, 434, 518 Gagern, Heinrich Freiherr von 380 Geibel, Emanuel 424f., 440, 465, 467f. Geiger, Karl Christoph Friedrich 454 George, Stefan 94, 418 Georgii, Eberhard Friedrich von 22, 25, 29, 31, 39, 43, 363f., 455 Gerhardt, Paul 159 Gervinus, Georg Gottfried 463 Gessner, Salomon 402f. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 425 Gluck, Christoph Willibald Ritter von 493 Goethe, Johann Wolfgang 9, 14, 36–38, 41, 77f., 84, 96, 98, 144, 159, 165, 169, 171, 203f., 248f., 272, 289, 309, 313f., 318, 332, 351, 387, 394, 397, 399, 403f., 411f., 418, 425, 463, 487, 508 Goldsmith, Oliver 36 Gottfried von Straßburg 463 Gottsched, Johann Christoph 425 Götz, Johann Nikolaus 425 Griesinger, Carl Theodor 18 Grimm, Jacob und Wilhelm 39, 404f., 471, 481 Grüneisen, Karl 279 Grunert, Karl 460 Grüninger, Carl 438 Gugler, Bernhard 267, 466, 494–496 Gutzkow, Karl 360 Händel, Georg Friedrich 493 Hardegg, Hermann 79, 82f., 437, 495, 497, 552 Hartlaub, Agnes 518 Hartlaub, Eduard 518 Hartlaub, Konstanze 84, 113, 413 Hartlaub, Wilhelm 26, 33, 50f., 53, 67, 79, 81–86, 99f., 110, 112f., 120f., 136, 148, 168, 212, 219f., 222, 228, 236, 239f., 253, 259, 273,
277, 282, 284, 287f., 309f., 320, 325, 339, 349, 353, 355f., 376, 379f., 383, 385, 391, 393, 400, 428, 431, 435, 440, 443, 450, 452, 458, 462, 466, 468, 470, 474, 493, 495–499, 504, 518, 522, 524f., 537, 540 Härtling, Peter 147 Hartmann, Eduard von 350, 353, 357 Haueisen, Wilhelm 419 Hauff, Wilhelm 78, 373, 444 Hauffe, Friederike 346f. Haug, Johann Christoph Friedrich 39, 49 Haydn, Joseph 493 Hebbel, Friedrich 468f. Hebel, Johann Peter 308, 402–404 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 42f., 232, 263 Heidegger, Martin 263f. Heine, Heinrich 9, 39, 69, 269, 284, 323, 360, 369 Hemsen, Wilhelm 466, 523, 553 Herder, Johann Gottfried 144, 425 Herwegh, Georg 369, 440, 454 Hesse, Hermann 11, 35 Hetsch, Ludwig 168, 340, 344, 493, 552 Heubel, Georg 435, 438, 444 Heydebrand, Renate von 95, 98, 247, 316, 516 Heyse, Paul 86, 269, 290, 400, 467f., 498, 515 Hildebrand, Georg 554 Hildesheimer, Wolfgang 504 Hofacker, Karl 366 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 39, 342, 353 Hofmann, Friedrich 443 Hofmannsthal, Hugo von 337 Hölderlin, Friedrich 14, 39f., 49, 83, 249, 268, 284, 327, 391f., 394 Höllerer, Walter 11 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 41f., 258, 425, 533 Homer 14, 37, 55, 249, 388, 390f., 402, 420 Horaz 9, 68, 73, 127f., 310f., 325, 390f., 394, 399f., 420 Hötzer, Ulrich 108, 144, 266, 423 Hügel, Marie Freifrau von 355 Huizinga, Johan 252 Humboldt, Alexander von 452 Immermann, Karl 346 Jahn, Friedrich Ludwig 367 Jahn, Otto 498 Jean Paul 36, 39, 403
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1. Personenregister Johann, Erzherzog von Österreich 380 Jung, Ferdinand 381 Jung-Stilling, Johann Heinrich 357 Kallinos 420 Karl I., König von Württemberg 434, 463, 465 Karl, Kronprinz von Württemberg: siehe Karl I., König von Württemberg Karl X., König von Frankreich 370 Karl Eugen, Herzog von Württemberg 17, 33, 362 Katharina, Königin von Württemberg 33, 462 Kauffmann, Ernst Friedrich 68, 82, 162, 325, 344, 368f., 493f., 497, 552 Kayser, Hermann 455 Keller, Gottfried 9, 438, 468, 554 Kerner, Justinus 11, 17f., 39, 63, 71, 81, 109, 220, 232, 269, 275, 284f., 346–348, 350, 353, 355–357, 452, 465, 552 Kerner, Theobald 269, 355 Kinkel, Gottfried 442 Klaiber, Julius 205, 207f., 425, 438, 466, 553 Klopstock, Friedrich Gottlieb 14, 41, 96, 224, 268, 322, 394 Kohler, Andreas 147 Konrad I. von Württemberg 482 Körner, Theodor 311 Köster, Christian Philipp 146 Köstlin, Friedrich 523 Kotzebue, August von 367 Krais, Friedrich 462 Krämer, Johann Jakob 341 Krauß, Friedrich 395f., 531 Krauß, Therese 531 Krehl, Charlotte 529 Krüdener, Juliane von 145 Krummacher, Hans-Henrik 114 Kuh, Emil 469 Kurr, Johann Gottlieb 526 Kurz, Hermann 9, 38, 70, 78, 85f., 111f., 276, 306, 317, 323, 332, 336f., 340f., 344, 388, 393f., 419, 468, 478, 498, 552 Kurz, Isolde 357 Lachner, Franz 340 Lachner, Ignaz 340f., 344 Lempp, Eberhard 460 Lenau, Nikolaus 69, 81 Lenz, Hermann 147 Lessing, Gotthold Ephraim 41, 425 Lichtenberg, Georg Christoph 42
Lindpaintner, Peter 278 Lipperheide, Franz 386 Lohbauer, Marie 162 Lohbauer, Rudolf 9, 29, 47, 52, 146, 228, 369, 496f. Lortzing, Albert 342 Louis-Philippe, König von Frankreich 379 Ludwig XIV., König von Frankreich 500 Lukács, Georg 9, 11 Luther, Martin 45f., 381 Mack, Ludwig 388 Mac-Mahon, Patrice de 384 Mährlen, Auguste 537 Mährlen, Elise 458 Mährlen, Johannes 32–34, 37, 44, 50, 64, 79–81, 83, 86, 89, 111f., 120, 147, 161, 170f., 211, 214–216, 221, 230, 248, 253, 259, 279f., 305, 336, 344, 347, 357, 378, 382, 385, 388, 404, 419, 436f., 457f., 461, 464, 466, 537, 552 Mann, Thomas 329, 480 Marie, Prinzessin von Württemberg 434 Matt, Peter von 130, 148, 272 Matthisson, Friedrich von 41f., 49 Maximilian II., König von Bayern 465, 467 Mayer, Karl 68, 86, 90, 284–287, 369, 381, 385, 424, 445, 464, 469, 533, 552 Maync, Harry 12, 114, 316, 467 Mendelssohn Bartholdy, Felix 344 Menzel, Wolfgang 170f. Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 366 Meyer, Conrad Ferdinand 94 Meyer, Maria 10, 28f., 73, 135–137, 140, 145–148, 161, 204, 331, 495f. Meyerbeer, Giacomo 494 Michaelis, Julie 49 Miller, Johann Martin 36 Mohl, Robert 380 Morgenstern, Christian 316 Möricke, Bartholomäus 21 Möricke, Johann Gottlieb 21 Möricke, Karl Abraham 21, 404 Möricke, Marie 21, 133, 244 Mörike, Adolph 24, 26f. Mörike, August 24f., 121, 129, 348, 495f. Mörike, Charlotte Dorothea 21, 24f., 28f., 38, 66, 79, 212, 215, 217f., 221, 236, 277, 455, 521, 552 Mörike, Franziska (Fanny) 10, 451, 460, 462, 522, 524f., 536f., 544, 551, 553f. Mörike, Gottlieb Johann 454
– 583 –
Register Mörike, Karl 24, 26f., 80, 168, 227, 235, 258, 354, 377, 493 Mörike, Karl Friedrich 21, 24, 29, 455 Mörike, Klara 10, 19, 24f., 28, 66, 73, 79, 84, 217–219, 235, 239f., 282, 350, 357, 383f., 430, 434, 436, 446–448, 450f., 453, 497, 517f., 521, 523, 526, 529, 544, 551–554 Mörike, Ludwig 24, 27, 440 Mörike, Luise 24, 28f., 39, 49, 52, 73, 82, 121, 136, 146f., 221, 231, 331, 348, 495f. Mörike, Margarethe (geb. Speeth) 10, 28, 83f., 91f., 109, 113, 236, 351, 357, 379, 385, 433f., 445–451, 453, 455, 458, 464f., 467, 494, 497, 517, 522, 536, 544, 551–554 Mörike, Marie 10, 451, 462, 522, 524, 536, 544, 551–554 Moritz, Heinrich 338 Morus, Thomas 55 Moschos 420, 423 Mozart, Wolfgang Amadeus 89, 93, 259, 439, 493–499, 504 Müller von Königswinter, Wolfgang 442 Münch, Ernst 145, 496 Napoleon I., Kaiser von Frankreich 90, 339, 361f., 382f. Napoleon III., Kaiser von Frankreich 382– 384 Naue, Julius 107, 479 Neuffer, Christoph Friedrich Ludwig 29, 220, 279 Neuffer, Klara 135–137, 140, 145, 148, 161, 348 Niemetschek, Franz 499 Nietzsche, Friedrich 9 Nisle, Julius 440 Nissen, Georg Nikolaus von 499 Notter, Friedrich 170, 330, 358, 423, 461, 466 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 20, 39, 72, 117, 258, 311 Olga, Königin von Württemberg 435, 465 Olga, Kronprinzessin von Württemberg: siehe Olga, Königin von Württemberg Oppel, Albert 526 Ossian 55 Ostertag, Friedrich 106, 269 Oulibicheff, Alexander 499, 504 Ovid 73 Paulus 45 Perty, Maximilian 350, 357 Petrarca, Francesco 98, 226, 449 Pezold, Gustav 341 Piccolomini, Enea Silvio (Pius II.) 259, 474
Pillokat, Udo 96 Pindar 391 Platen, August von 69, 96, 394, 425 Platon 55, 159 Plautus 423 Plieninger, Wilhelm Heinrich Theodor 305f. Polheim, Karl Konrad 500 Polignac, Jules de 370 Pongs, Hermann 11 Prawer, Siegbert Salomon 9, 442 Pröhle, Heinrich 442 Properz 399, 423 Pustkuchen, Johann Friedrich Wilhelm 314 Quenstedt, Friedrich August 526 Raabe, Wilhelm 281, 461, 531 Rabausch, Eberhard Ludwig 353, 355f. Ramler, Karl Wilhelm 421f., 425 Rau, Friederike 227 Rau, Gottlieb Friedrich 220 Rau, Luise 10, 18f., 65, 73, 78, 80, 82, 88f., 98, 109, 119, 129, 217, 220–228, 234, 250, 258f., 270, 275, 277, 332, 377, 446, 493 Raumer, Friedrich von 335 Raupach, Ernst 335 Rechenberg, C.M. 357 Richter, Ludwig 470 Rilke, Rainer Maria 394 Robespierre, Maximilien de 374 Ronge, Johannes 454 Roth, Karl Ludwig 33 Rückert, Friedrich 96 Rückert, Gerhard 390 Sachs, Hanns 54, 187 Sand, Karl Ludwig 367f. Sappho 420, 540f. Sattler, Gottlieb Friedrich 354 Sautermeister, Gert 399 Schall, Ernst Heinrich 228 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 43–46, 124, 336, 346, 348, 353 Scherer, Georg 466 Schillemeit, Jost 94 Schiller, Elisabetha Dorothea 38, 532f. Schiller, Friedrich 17, 37f., 84, 91f., 249, 252f., 311, 314, 331, 337, 402–404, 460 Schlaffer, Heinz 95 Schlaich, Friedrich 419 Schlegel, August Wilhelm 97 Schmid, Christian August 136f. Schmid, Johann Christoph 480 Schmidlin, Otto 446, 526
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1. Personenregister Schmidt, Julian 474 Schnabel, Johann Gottfried 55 Schnitzer, Karl Friedrich 391, 419 Schnorr von Carolsfeld, Julius 459 Schönhuth, Ottmar Friedrich Heinrich 517, 521 Schopenhauer, Arthur 43, 353 Schubert, Franz 494 Schubert, Gotthilf Heinrich 346, 351–353 Schwab, Christoph Theodor 40 Schwab, Gustav 39, 49, 109, 170f., 173, 279, 290, 336, 369, 437, 462 Schweizerbart, Emanuel 38, 420, 439–441 Schweizerbart, Friedrich 276, 437, 461 Schwenck, Konrad 421f. Schwind, Marie von 535 Schwind, Moriz von 19, 43, 87, 107, 249, 281, 328, 438, 441, 461, 470–472, 479, 534f., 552 Seeger, Ludwig 442 Sengle, Friedrich 11f., 84, 108, 449 Shakespeare, William 32, 36, 55, 159, 218, 259, 293, 460, 463f. Simmel, Georg 304f. Simpfendörfer, Caroline 355 Sokrates 159 Sophokles 391 Speeth, Josephine 446, 450 Speeth, Margarethe: siehe Mörike, Margarethe Speeth, Valentin von 446 Speeth, Wilhelm 434, 453 Spindler, Karl 279 Spinoza, Baruch de 43 Staiger, Emil 38, 42, 263f. Steinmetz, Horst 292, 304, 307, 501 Stern, Martin 327 Steudel, Johann Christian Friedrich 229 Stifter, Adalbert 530 Storm, Konstanze 467 Storm, Theodor 52f., 66, 86, 94, 107f., 170, 203f., 232, 236, 269, 273, 283, 290, 330, 406, 447, 466–468, 493, 498 Storr, Gottlob Christian 230f. Storz, Gerhard 13, 204, 337, 475, 515 Strauß, Agnese (geb. Schebest) 495 Strauß, David Friedrich 50–52, 69, 145, 229, 232–234, 256f., 281, 313, 347, 378, 437, 479, 495f., 552 Sue, Eugène 474 Terenz 423 Theognis 266, 389, 420
Theokrit 14, 265f., 388f., 391, 402–404, 420, 423 Tibull 390, 420, 423 Tieck, Ludwig 39, 70f., 290, 334, 353, 452 Turgenjew, Iwan 468 Tyrtaios 420 Uhland, Ludwig 11, 39, 49, 100, 284, 364f., 369, 381, 440, 459, 535, 552 Ulrich, Herzog von Württemberg 361 Ungern-Sternberg, Alexander von 69, 387 Uz, Johann Peter 425 Varnbüler von und zu Hemmingen, Luise Freifrau 520 Vergil 402 Vischer, Augusta Maria 21 Vischer, Friedrich Theodor 34, 42f., 50, 64, 68f., 85–87, 95, 100, 150, 169–171, 217, 228, 233, 249f., 253–257, 259, 270, 281, 289, 298, 330, 336f., 340, 345, 369, 387, 393, 419, 437, 441, 445, 450, 461, 465f., 473, 516, 523f., 552–554 Vischer, Robert 40 Vögele, Frank 479 Voß, Johann Heinrich 41, 283, 395, 402–404, 406, 411f. Wächter, Eberhard 469 Wagner, Richard 494f. Waiblinger, Wilhelm 33, 36, 39f., 47–51, 53, 66, 70, 72, 76, 83, 85, 87f., 136f., 248, 267f., 335, 367, 392, 394, 435, 438, 492 Walther, Franz 466 Walther, Luise (geb. von Breitschwert) 209, 466, 553 Wehler, Hans-Ulrich 361 Weibert, Ferdinand 205, 209, 438, 441 Weigelin, Eduard 520 Weinheber, Josef 59 Weinreich, Otto 422 Wieland, Christoph Martin 325, 399 Wiese, Benno von 171 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 424 Wilhelm I., König von Württemberg 25, 212, 218f., 278, 338f., 363–366, 377, 434, 462 Winckelmann, Johann Joachim 387 Wolf, Hugo 494 Wolff, Karl 79, 385, 453, 462f., 466, 519, 523, 534, 544, 552 Wolff, Marie 534, 544 Wolfram von Eschenbach 463 Zimmer, Ernst 40 Zimmermann, Wilhelm 67, 109, 298, 438
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Register
2. Werkregister Gedichttitel und -anfänge Abreise 97 Abschied 112f., 318 Ach, muß der Gram mit dunkelm Kranz 447 Ach nur einmal noch im Leben! 19, 406, 413, 492, 494, 539 Ach wie liebreich warst du der Welt 28 Agnes 113, 143 Akme, seine Geliebte, auf dem Schooße 421 Akme und Septimius 421 Albumgedicht 440 Alles mit Maß 392, 394 Als der Winter die Rosen geraubt 424 Als Junggesell, du weißt ja 393, 400, 468, 515, 539 Als wie im Forst ein Jäger 318, 393, 400, 442 Am langsamsten von allen Göttern wandeln wir 112, 265–267, 393, 442, 491, 534 Am Rheinfall 92f., 409, 442 Am schwarzen Berg da steht der Riese 44–46, 110, 113 Am Walde 270–273, 275, 281, 283 Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage 270–273, 275, 281, 283 An – – 236 An Agnes Bonpland 518 An Carl Künzel in Heilbronn 516 An Clärchen 113, 447 An den Schlaf 113 An den Vater meines Pathchens 518 An Denselben 400 An die Geliebte 224–226, 248 An Dieselbe 28 An Eberhard Lempp 400, 460f. An Eduard Weigelin 520 An eine Äolsharfe 19, 34, 96, 113, 127–130, 394, 492 An eine Lieblingsbuche meines Gartens 41, 258, 392, 533f. An eine Sängerin 112 An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang 108, 111f., 115–119, 130, 137, 144, 250 An einen Liebenden 113, 394 An Emma von Niendorf 251 An euch noch glaubt ich 41, 90, 92, 96 An Frau Luise Walther, geb. von Breitschwert 516
An Fräulein Luise v. Breitschwert 518 An Gretchen 536–538 An Gretchen und Clärchen 448 An Hermann 82f. An J.G. Fischer 531f. An Karl Mayer 97 An L. 182, 203 An Longus 268f., 311, 323–325, 356, 400, 442 An Madame K. 531 An meine Mutter 28 An meinen Vetter 97, 113, 318, 393, 400 An Moriz von Schwind 393, 400, 471f., 549 An O.H. Schönhuth 517, 521 An Philomele 113, 276f., 281, 319–321, 394, 442 An Tante Neuffer 516 An Wilhelm Hartlaub 84, 97, 113, 492f. An X und Y 269 Angelehnt an die Epheuwand 19, 34, 96, 113, 127–130, 394, 492 Aninka tanzte 259 Antike Poesie 37, 98 Apostrophe 96 Armseligster Repräsentant 236 Auf das Grab von Schillers Mutter 38, 392, 532 Auf dem Grabe eines Künstlers 390 Auf dem Krankenbette 64 Auf den Arrius 421 Auf den Tod eines Vogels 447, 449 Auf die Nürtinger Schule 44 Auf ein altes Bild 97, 113, 243 Auf ein Ei geschrieben 318f. Auf eine chinesische Vase 516 Auf eine Christblume 21, 239–243, 246, 258 Auf eine Lampe 46, 107, 112, 260–265, 273, 393, 534 Auf einem Familienspaziergang 522 Auf einer Wanderung 106, 133–135, 283, 320, 492 Auf Erlenmayers Tod 32, 97, 517 Auf ihrem Leibrößlein 101, 163f. Auf! im traubenschwersten Thale 112, 298 Auf zwei Sängerinnen 133 Aufgeschmückt ist der Freudensaal 96, 106, 148–154, 157, 160, 347 Aus dem Leben 548 Aus der Ferne 447, 449 Begegnung 162, 164 Bei euren Taten, euren Siegen 386 Bei Gelegenheit eines Kinderspielzeugs 370
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2. Werkregister Besuch in der Carthause 393, 400, 468, 515, 539 Besuch in Urach 90, 92, 97, 113, 121–127, 130, 274, 417 Bilder aus Bebenhausen 107, 112, 242, 274, 404, 515, 534, 544–550 Bin jung gewesen 113 Blauen See und wilde Täler 251 Bleistift nahmen wir mit und Zeichenpapier 549f. Brunnen-Capelle am Kreuzgang 547f. Cantate bei Enthüllung der Statue Schillers 38, 278, 517, 532 Capitelsaal 546f. Charwoche 182, 229 Chor jüdischer Mädchen 340 Corinna 265, 491 Corona Christi 239 Crux fidelis 239 Da bin ich endlich! 518 Da droben auf dem Markte 318 Das Bacchusfest: siehe Die Herbstfeier Das Bildniß der Geliebten 397f. Das edle, das geliebte Angesicht 97, 516, 520 Das Hochamt war. Der Morgensonne Blick 97, 162, 235, 492 Das süße Zeug ohne Saft und Kraft 102f., 318 Das verlassene Mägdlein 101, 107, 109, 113, 143–145 Datura suaveolens 398 Dein Liebesfeuer 80, 113, 239 Dem gefangenen, betrübten Manne 97 Dem heitern Himmel ew’ger Kunst entstiegen 38, 278, 517, 532 Dem Herrn Prior der Carthause I. 400, 539 Denk’ es, o Seele! 442, 514f., 539 Der alte Thurmhahn 218, 406–409, 461, 470, 515, 534 Der Feuerreiter 97, 100f., 109f., 370–376, 385 Der Frau Generalin v. Varnbüler 97, 516, 520 Der Gärtner 101, 163f. Der Hirtenknabe 470 Der Jäger 101, 113 Der junge Dichter 251 Der jüngsten in dem weit gepries’nen Schwestern-Chor 395f., 400 Der Kehlkopf 316 Der Kehlkopf, der im hohlen Bom 316
Der Knabe, der zehn Jahre später dir ein Freund 518 Der Knabe und das Immlein 113 Der Mutter eigen von dem Sohne 239 Der Petrefaktensammler 97, 318, 400, 442, 528–530, 550 Der Schatten 100, 299 Der Spiegel an seinen Besitzer 523 Der Spiegel dieser treuen braunen Augen 97, 153f., 157, 160, 230 Der Sträfling 310 Derweil ich schlafend lag 113, 143 Des Schäfers sein Haus 113 Des Schloßküpers Geister zu Tübingen 100, 318 Des Vtus Horazius Flakkus … ersten Buches der Oden die neunte 310f. Die Anti-Sympathetiker 348 Die Elemente 44–46, 110, 113 Die Freundin immer neu zu schmücken 113, 447 Die ganz Welt ist in dich verliebt 521 Die Geister am Mummelsee 100 Die Herbstfeier 112, 298 Die Hochzeit 96, 106, 148–154, 157, 160, 347 Die kleine Welt, mit deren Glanzgestalten 518 Die Kröte, die einst mutig strich 316 Die Liebe zum Vaterlande 33, 97, 364, 517 Die Mährchen seyn halt Nürnberger Waar 256 Die schlimme Greth und der Königssohn 100, 110, 113, 161, 343 Die schöne Buche 274, 413–418, 442 Die Schwestern 99f., 253, 259, 281, 393 Die Streichkröte 316 Die Tochter der Heide 143 Die traurige Krönung 100, 298 Die treuste Liebe steht am Pfahl gebunden 98, 158–160 Die Visite 73, 273, 318 Dieses Morgens sanfte Stille 22f., 517 Dieweil ich noch leibhaftig nicht 516 Drei Tage Regen fort und fort 101, 113 Drei Uhr schlägt es im Kloster 274 Droben im Weinberg 239, 243, 274, 394, 417 Du bist Orplid, mein Land! 57–59 Du hast mich keiner AntiWort gewürdigt 313f. Du klagst mir, Freund 113, 394
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Register Durch’s Fenster schien der helle Mond herein 84, 97, 113, 492f. Ebendaselbst 548 Eberhard Wächter 98, 390 Ein artig Lob, du wirst es nicht verwehren 440 Ein ernstes Jahr ist uns dahingeschwunden 33, 97, 364, 517 Ein farbenheller Regenbogen 531 Ein ganzes Heft Autographa 516 Ein Irrsal kam in die Mondscheinsgärten 96, 147f., 154–161, 201 Ein Stündlein wohl vor Tag 113, 143 Ein Tännlein grünet wo 442, 514f., 539 Ein Wort der Liebe den besten Eltern 22f., 517 Eine Liebe kenn’ ich, die ist treu 239 Einen Genius hast du der Welt 44 Einen Morgengruß ihr früh zu bringen 162f. Einmal noch an eurer Seite 97, 318, 400, 442, 528–530, 550 Epistel 394, 400 Er ist’s 97, 107, 113 Erbauliche Betrachtung 318, 393, 400, 442 Erinna an Sappho 96, 107, 112, 394, 442, 470, 515, 540–544 Erinnerung 71f., 97, 120, 137–140, 148, 550 Erstes Liebeslied eines Mädchens 162, 164, 298 Erzengel Michaels Feder 97, 229, 393, 471 Es gibt ein altes Liebeslied 132, 393, 515, 537–539 Es graut vom Morgenreif 77, 108 Es ist zwar sonsten nicht der Brauch 318 Es war ein König Milesint 100, 298 Es war in liablichen Septembers-Tagen 317 Eulenspiegel am Kreuzgang 548 Fertig schon zur Abfahrt steht der Wagen 97 Fort mit diesem Geruch, dem zauberhaften 137 Frau Dr. Menzel mit Orangen 516 Freund! dein heiterer Blick 520 Früh im Wagen 77, 108 Früh, wann die Hähne krähn 101, 107, 109, 113, 143–145 Frühling läßt sein blaues Band 97, 107, 113 Gang zwischen den Schlafzellen 546f. Ganz verborgen im Wald kenn’ ich ein Plätzchen 274, 413–418, 442
Gebet 67f., 70, 74, 248, 507f. Geistreich seid ihr, glänzend 269 Gelassen stieg die Nacht an’s Land 112, 130– 132, 259 Gesang Weyla’s 57–59 Gesang zu Zweien in der Nacht 333 Gestern entschlief ich im Wald 112, 258 Gleichwie ein Vogel am Fenster vorbei 64 Gönnt, o ihr Gastlichen, mir ein bescheidenes Plätzchen 516 Gott grüß’ dich, junge Müllerin 100, 110, 113, 161, 343 Götterwink 397 Göttliche Reminiscenz 34, 243–246, 393, 528 Grabgedanken: siehe Denk’ es, o Seele! Halte dein Herz, o Wanderer, fest 92f., 409, 442 Hassen und lieben zugleich muß ich 421– 423 Hat der Dichter im Geist 283, 399 Häusliche Scene 322f. Heiligs Kreuz! vor allen Bäumen 239 Hermippus 519 Herr Dr. B. und der Dichter 318, 369f. Herr! schicke was du willt 67f., 70, 74, 248, 507f. Herr Vater, gebt Euch nur zufrieden 517, 521 Herrn Bibliothekar Adelb. v. Keller 518 Herrn Hofrath Dr. Krauß 395f., 400 Heut lehr’ ich euch die Regel 98 Heut regnet’s tausendfach mit Wünschen 516 Heute dein einsames Thal durchstreifend 545f. Hier einst sah man die Scheiben gemalt 547f. Hier, Liebwertheste, seht Ihr einen kleinen 470 Hier lieg’ ich auf dem Frühlingshügel 107, 109, 113, 143, 274 Hier sieht man eine Sonn 523 Holdeste Dryas, halte mir still! 41, 258, 392, 533f. Hör’ Er nur einmal, Herr Vetter 400 Horch, was tönen dort für Klag-Gesänge 32, 517 Hörst du die Winde nicht rasen 90, 383, 392 Hundertfach wechseln die Formen 546f. Ich bin ein schlecht Gefäß aus Erden 535
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2. Werkregister Ich hatt’ ein Vöglein, ach wie fein 113, 143, 281, 393 Ich sah den Helikon in Wolkendunst 37, 98 Ich sah eben ein jugendlich Paar 398 Ich sah mir deine Bilder einmal wieder an 393, 400, 471f., 549 Ich sahe nächtlich hinter Traumgardinen 98, 494 Ich stand am Morgen jüngst im Garten 113, 162 Ich von den Schwestern allein 548 Ideale Wahrheit 112, 258 Ihr mehr als tausendjährigen 96 Im Fenster jenes alt verblich’nen Gartensaals 19, 406, 413, 492, 494, 539 Im Freien 41, 90, 92, 96 Im Frühling 107, 109, 113, 143, 274 Im Nebel ruhet noch die Welt 103–108 Im Walde däucht mir Alles miteinander schön 41, 274, 321f., 413 Im Weinberg 239, 243, 274, 394, 417 Im Weinberg auf der Höhe 113 Impromptu an Joli 521 In das Album einer Schülerin 516 In das Stammbuch von Theodor Buttersack (Nach seines Vaters Tod) 97 In der Char-Woche: siehe Charwoche In der Frühe 108 In der Hütte am Berg 72, 75 In des Zwingers Mißgerüchen 310 In ein freundliches Städtchen tret’ ich ein 106, 133–135, 283, 320, 492 In Gedanken an unsere deutschen Krieger 386 In grüner Landschaft Sommerflor 97, 113, 243 In seine hohen Wände eingeschlossen 98, 390 In’s alten Schloßwirths Garten 100, 318 Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen 112, 265–267, 393, 442, 491, 534 Ist von wichtigen Geschichten 525 Ja, mein Glück, das lang gewohnte 74, 79 Jägerlied 113 Jedem das Seine 259 Jenes Gebet, das, Erd und Himmel umfassend 470 Jenes war zum letztenmale 71f., 97, 120, 137–140, 148, 550 Joli gratuliert zum 10. Dez. 1840 523
Joseph Haydn 493 Josephine 97, 162, 235, 492 Jung Volker 113 Jung Volker, das ist unser Räuberhauptmann 113 Jung Volkers Lied 113 Jüngst, als unsere Mädchen 536–538 Jüngst im Traum ward ich getragen 97, 140–143, 148, 159 Kann auch ein Mensch des andern auf der Erde 223, 229 Kastor und Pollux heißen ein Paar Ammoniten 518 Katholischer Gottesdienst 394 Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir 108 Keine Rettung 398 Kennst du der Furien schlimmste, Freund 400, 460f. Kleine Gäste, kleines Haus 318 Künftig, so oft man dem „Meister“ 531f. Kunst! o in deine Arme 398 Kunst und Natur 545f. L. Richters Kinder-Symphonie 470 Lammwirths Klagelied 318 Ländliche Kurzweil 97, 113, 413, 436 „Lang, lang ist’s her“ 132, 393, 515, 537–539 Laß, o Welt, o laß mich sein 74–77, 79 Leichte Beute 283, 399 Lieber Vetter! Er ist eine 97, 113, 318, 393, 400 Liebesvorzeichen 113, 162 Lied vom Winde 143 Lose Waare 397f. Mädchen am Waschtrog 548 Maler, du zweifelst mit Recht 397f. Manche Nacht im Mondenscheine 161 Mancherlei sind es der Gaben 392, 394 Manchmal ist sein Humor altfränkisch 493 Märchen vom sichern Mann 318, 325–329, 349, 393, 471, 491 Margareta 447 Mausfallen-Sprüchlein 318 Mein Fluß 125, 417 Mein Wappen ist nicht adelig 254 Meine Bansicht 313 Meine guten Bauern freuen mich sehr 218, 393 „Meine werthen Herrn Kollegen 231 Mir ein liebes SchauGerichte 20, 97 Mit einem Anakreonskopf und einem Fläschchen Rosenöl 424
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Register Mit einem Riechflakon 516 Mit einem Teller wilder Kastanien 20, 97 Mit hundert Fenstern steht ein stattlich Haus 516, 520 Müssen Sinne und Gedanken 448 Nach der ich früh und spät die Augen gläubig richte 448 Nach der Seite des Dorfs, wo jener alternde Zaun dort 38, 392, 532 Nachklang 28 Nachmittags 274 Nachtgesichte 90, 383, 392 Nächtlich erschien mir im Traum 32, 349 Nächtliche Fahrt 97, 140–143, 148, 159 Nachts auf einsamer Bank saß ich 397 Neue Liebe 223, 229 Nimm, wenn man Frühlingsblumen dir bringt 516 Nimmersatte Liebe 162 Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du 46, 107, 112, 260–265, 273, 393, 534 Nur fast so wie im Traum ist mir’s geschehen 90, 92, 97, 113, 121–127, 130, 274, 417 Nur nicht wie die Unken 522 O eine kleine Welt voll Leben 518 O flaumenleichte Zeit der dunkeln Frühe 108, 111f., 115–119, 130, 137, 144, 250 O Fluß, mein Fluß im Morgenstrahl 125, 417 O Vogel, ist es aus mit dir 447, 449 O Woche, Zeugin heiliger Beschwerde 182, 229 Ob Riesenfrosch, ob Beutelthier 527 Ordnunk sagte mein trefflicher Arrius 421 Ostern ist zwar schon vorbei 318f. Pastoral-Erfahrung 218, 393 Peregrina (Zyklus) 109, 111f., 147–161, 177, 201–204, 208f., 374f., 449, 476 Peregrina I: siehe Warnung Peregrina II: siehe Die Hochzeit Peregrina III: siehe Scheiden von ihr Peregrina IV 97, 149, 160 Peregrina V: siehe Und wieder Philister kommen angezogen 73, 273, 318 Rath einer Alten 113 „Recht hübsche Poesie; nein, ohne Schmeichelei 318, 369f. Restauration 102f., 318 Ritterliche Werbung 32
Romanze vom wahnsinnigen Feuerreiter: siehe Der Feuerreiter Rosenzeit! wie schnell vorbei 113, 143 Sarkasme. An v. Goethe 313f. Sarkasme wider den Pietism 313 Sausewind, Brausewind 143 Schau, wie, an Altersweisheit ein Sokrates 310f. Schauen’s gefälligst, meine Lieben 370 Scheiden von ihr 96, 147f., 154–161, 201 Scherz (Einen Morgengruß ihr früh zu bringen) 162f. Scherz (Nächtlich erschien mir im Traum) 32, 349 Schiffer- und Nixen-Märchen 100, 112, 161, 487 Schlaf! süßer Schlaf 113 Schlafendes Jesuskind 113, 243 Schläfst du schon, Rike? 322f. Schlank und schön ein Mohrenknabe 113 Schön-Rohtraut 100, 281f. Sehet ihr am Fensterlein 97, 100f., 109f., 370–376, 385 Sei, o Theokritos, mir, du Anmuthsvollster, gepriesen 388f., 393 Seltsamer Traum 98, 494 Seltsames wird von Hermippus 519 Septembermorgen 103–108 Seufzer 80, 113, 239 Sie haben goldne Verse mir 400, 539 „Sie ist mündig!“ Sagt mir, Leute 518 Siehe, von allen den Liedern 28 Siehst du den schettergoldnen Mariendienst 394 So ist die Lieb’! So ist die Lieb’! 162 So ist es wahr! er ist dahingegangen 32, 97, 517 Sohn der Jungfrau, Himmelskind 113, 243 Soll auf der Jungfrau Mund die begeisterte Rede 112 Soll ich lang nach Wünschen suchen 523 Soll ich vom sichern Mann ein Märchen erzählen 318, 325–329, 349, 393, 471, 491 Sommerlich hell empfängt dich ein Saal 545–547 Sommer-Refectorium 545–547 Sommersprossen 310f., 313, 316, 394 Stimme aus dem Glockenthurm 548 Storchenbotschaft 113 Suschens Vogel 113, 143, 281, 393 Tag und Nacht 113
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2. Werkregister Tausende, die hier liegen, sie wußten von keinem Homerus 390 Theokrit 388f., 393 Tibullus 393, 398 „Tinte! Tinte, wer braucht! 397f. Tochter des Walds, du Lilienverwandte 21, 239–243, 246, 258 Tonleiterähnlich steiget dein Klaggesang 113, 276f., 281, 319–321, 394, 442 Trost 74, 79 Um die Herbstzeit, wenn man Abends 97, 113, 413, 436 Um Mitternacht 112, 130–132, 259 Unangeklopft ein Herr tritt Abends bei mir ein 112f., 318 Und die mich trug in Mutterleib 113 Und wieder 98, 158–160 Unter die Eiche gestreckt, im jung belaubten Gehölze 39, 218, 274, 320, 392, 404–406, 414 Unter Thränen rissest du dich von meinem Halse 82f. Verborgenheit 74–77, 79 Versuchung 397 Verzicht 549f. Vesperzeit, Betgeläut 470 Vicia faba minor 137 „Vielfach sind zum Hades die Pfade“ 96, 107, 112, 394, 442, 470, 515, 540–544 Vogellied 318 Vom Berge was kommt dort um Mitternacht spät 100 Vom Sieben-Nixen-Chor 161 Von Dienern wimmelt’s früh vor Tag 100, 299 Von lauter Geiste die Natur durchdrungen 348 Von Widerwarten eine Sorte kennen wir 268f., 311, 323–325, 356, 400, 442 Vorlängst sah ich ein wundersames Bild 34, 243–246, 393, 528 Wald-Idylle 39, 218, 274, 320, 392, 404–406, 414 Waldplage 41, 274, 321f., 413 Warnung 97, 153f., 157, 160, 230 Warum, Geliebte, denk’ ich dein 97, 149, 160 Was doch heut Nacht ein Sturm gewesen 162, 164 Was ich lieb und was ich bitte 72, 75 Was im Netze? Schau einmal 162, 164, 298
Wasch’ dich, mein Schwesterchen 143 Weht, o wehet, liebe Morgenwinde 447, 449 Weil schon vor vielen hundert Jahren 97, 229, 393, 471 Wenn der Schönheit sonst 251 Wenn ich dich, du schöne Schwester sehe 28 Wenn ich, von deinem Anschaun tief gestillt 224–226, 248 Wenn sie in silberner Schale mit Wein 397 Wenn unsereiner sieht ein junges Leben 97 Wer aus reinem Wahrheitseifer 313 Wer wissen will, wie baigen 313 Widmung 518 Wie der wechselnde Wind nach allen Seiten 393, 398 Wie heimlicher Weise 229 Wie heißt Königs Ringangs Töchterlein 100, 281f. Wie mag ich armer Topf aus Erden 535 Wie manchen Morgen, frisch und wohlgemuth 516 Wie sich dein neuer Poet in unserem Kreise gefalle 394, 400 Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift 333 Wie wir unter muntern Schritten 518 Wieder und wieder bestaun’ ich die Pracht 546f. Wir fürchten uns nicht in des Königes Saale 340 Wir sahn dich im geschwisterlichen Reigen 265, 491 Wir Schwestern zwei, wir schönen 99f., 253, 259, 281, 393 Wo find’ ich Trost? 239 Wo gehst du hin, du schönes Kind 32 Württembergs Trauer seit dem 9ten Januar 1819 32, 517 Zierlich ist des Vogels Tritt im Schnee 113 Zu Claras Namenstage 448 Zu Cleversulzbach im Unterland 218, 406– 409, 461, 470, 515, 534 Zum fünften Februar 1863 470 Zum neuen Jahr 229 Zum zehnten December 518 Zwei Brüdern in’s Album 518 Zwei dichterischen Schwestern 98 Zwei Wandrer hab ich einmal gesehn 133 Zwiespalt 421–423
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Register
Sonstige Werke Ahasverus 340 Anakreon und die sogenannten Anakreontischen Lieder 392, 397, 424–429, 438 Arete: siehe Die Hand der Jezerte Arm-Frieder: siehe Der Bauer und sein Sohn Beschreibung von Orplid 56 Classische Blumenlese 266, 388–392, 394f., 399, 404, 419–424, 437, 440 Das blinde Mädchen 340 Das Fest im Gebirge 278, 338f., 365 Das Stuttgarter Hutzelmännlein 276, 288f., 436–438, 440, 461, 464, 466, 473, 478–492, 497, 518 Der Bauer und sein Sohn 288f., 305–308, 439, 471 Der Kupferschmied von Rotenburg 527–529 Der lezte König von Orplid 16, 19, 55–58, 169, 172, 177, 198–201, 204–206, 208, 289, 310, 317, 332f., 337, 370, 439 Der Schatz 288f., 298–305, 307f., 358f., 439, 473, 478, 481, 483, 491, 501 Der Spuk im Pfarrhaus zu Cleversulzbach 354–357 Die geheilte Phantastin 237–239, 288, 290, 298 Die Hand der Jezerte 259, 288f., 439, 461, 473–480, 485 Die Historie von der Schönen Lau 438, 441, 471, 479 Die Regenbrüder 231, 289, 340–345, 438f., 455 Die umworbene Musa: siehe Fragmente einer Verlegungsposse Doppelte Seelentätigkeit 351 Ein Dampfschiff 279 Ein Sendschreiben Wispels 311 Enzio / Enzius 335–337 Fragmente einer Verlegungsposse 333–335, 366f., 370 Fragmente eines religiösen Romans: siehe Die geheilte Phantastin Gedichte 109–114, 150, 160, 271, 318f., 437, 439f., 441f., 462, 521, 554 Haushaltungs-Buch 432–435, 447, 465 Hutzelmann-Brief 383
Idylle vom Bodensee 107, 360, 393f., 404, 409–413, 434f., 437, 440, 442, 447, 462, 469 Iris 289, 291, 298, 306, 308, 341, 437, 439, 531 Ist dem Christen erlaubt, zu schwören? 230 Jahrbuch schwäbischer Dichter und Novellisten (Herausgabe) 109, 255, 298, 369, 437f. Lucie Gelmeroth 19, 289–297, 303, 308, 439, 471, 488 Maler Nolten (erste Fassung) 12, 16, 19, 39, 53, 56f., 72, 76, 90, 106, 109, 123, 148f., 160f., 166–204, 207, 209f., 225f., 235, 237–239, 247, 255, 257f., 260, 267, 271, 278, 289f., 293, 299, 310–313, 315, 332–334, 345, 350, 358, 368, 370–372, 375, 383, 385, 390, 401, 420, 436f., 439, 441, 456, 466, 486f., 493 Maler Nolten (zweite Fassung) 55, 204–210, 282, 352, 438f., 461, 466, 515 Miß Jenny Harrower: siehe Lucie Gelmeroth Mozart auf der Reise nach Prag 53, 77, 85f., 93, 259, 283, 289, 304, 344, 437, 439–443, 461f., 468, 473, 492–514, 517, 539 Okkulte Erlebnisse des Georg Michael Ebert 356f. Quid ex Nov. Testamenti effatis statuendum sit … 230 Rezension von Bernhard Guglers Cosi fan tutte-Übersetzung 267 Schicksal oder Vorsehung 56, 199, 332f., 335 Schiller: Familienbriefe (Herausgabe) 38 Spillner: siehe Fragmente einer Verlegungsposse Stoffplan zum Fach Deutsche Literatur 462f. Theokritos, Bion und Moschos 392, 423f., 438, 461 Vier Erzählungen 291, 298, 306, 437, 439, 462, 475 Vortreffliches Mittel gegen Drüsenverhärtungen in der Brust 350 Wilhelm Waiblinger 267f., 270, 392 Wilhelm Waiblinger: Gedichte (Bearbeitung und Herausgabe) 50, 267f., 438 Wispel auf Reisen 311, 313 Zu meiner Investitur als Pfarrer in Cleversulzbach 23, 31, 33, 35, 44, 231, 258 Zwei mystische Thatsachen 350f.
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Über den Autor Ulrich Kittstein, geb. 1973, ist apl. Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. In seiner Dissertation mit dem Titel »Zivilisation und Kunst. Eine Untersuchung von Eduard Mörikes ›Maler Nolten‹« beschäftigte er sich umfassend mit dem deutschen Lyriker Mörike. Für seine Habilitation wurde er 2006 mit dem Preis der Universität Mannheim für Sprache und Wissenschaft ausgezeichnet.