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German Pages 414 [432] Year 2002
Michael Dorrmann Eduard Arnhold (1849-1925)
Michael Dorrmann
Eduard Arnhold (1849-1925) Eine biographische Studie zu Unternehmer- und Mäzenatentum im Deutschen Kaiserreich
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Abbildung auf dem Einband: Eduard Arnhold in seiner Gemäldegalerie. Im Hintergrund das Gemälde Altmännerhaus in Amsterdam von Max Liebermann.
ISBN 3-05-003748-2
© Akademie Verlag G m b H , Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D I N / I S O 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Dören + Köster, Berlin Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer" G m b H , Bad Langensalza Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Schleppach Gedruckt in Deutschland
Inhalt
Vorwort
7
Einleitung I. Von Dessau nach Berlin 1. Das väterliche Erbe 2. Vom Lehrling zum Chef
9 15 16 28
II.
37 38 38 43 46 49 55 55 59 64 67 71 79 79 87
Zwischen Metropole und Revier 1. Der oberschlesische Steinkohlenhandel 1.1. Die Entwicklung der Steinkohlenindustrie in Oberschlesien 1.2. Die Absatzverhältnisse des Reviers 1.3. Der Weg zum Monopolisten 1.4. Die Oberschlesische Kohlenkonvention 2. Unternehmer im „korporativen Kapitalismus" 2.1. Ältester der Kaufmannschaft von Berlin 2.2. Aufsichtsratsmitglied der Dresdner Bank 2.3. Mitglied des handeseisenbahnrates 2.4. Allianzen, Beteiligungen und Firmengründungen 3. Kohlennot und Antisemitismus 4. Am Rande und im Vorhof der Macht 4.1. „Aussichtsvolle Objekte kolonisatorischer Unternehmungen" 4.2. Staatliche Auszeichnungen und monarchische Gnadenbeweise
III. „Die Pflichten des Reichthums" 1. Mäzenatisches und gemeinnütziges Handeln 2. Philanthropie und soziale Frage 2.1. Jüdische Identität und Wohltätigkeit 2.2. Bürgerliche Sozialreform und großbürgerliche Spendenpraxis 3. Das johannaheim
95 96 100 101 108 115
IV.
121 121 123 129 140 142
Kunstförderung am „Regentenhof' 1. Die Sammlung Arnhold 1.1. Sammeln und Stiften: Der Aufbau der Sammlung Arnhold 1.2. Eduard Arnhold und seine Bilder 1.3. Bevorzugte Sujets 1.4. Die Präsentation der Sammlung
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V.
Inhalt 1.5. Die plastischen Arbeiten der Sammlung Arnhold 1.6. Eine jüdische Kunstsammlung? 2. Staatliche Kunstförderung und private Kunstmäzene 2.1. Museen und Museumsdirektoren 2.2. Private Künstlerunterstützung 3. Römische Rochaden: Die Gründung der Villa Massimo und die preußisch-deutsche Kulturpolitik in Italien 3.1. Florenz als Refugium 3.2. Ein „Künsderhaus" für Rom 3.3. Die Gründting der Bibliotheca Hert^ana
168 169 171 177
„Tagespraxis" und „hohe Wissenschaft"
183
1. Individuelle Wege der Wissenschaftsförderung 1.1. Förderung der jüdischen Wissenschaft 1.2. Im Umfeld des „Zeppelinismus" 2. "Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ^ur Förderung der Wissenschaften 2.1. Vorgeschichte und Gründung 2.2. Aufgaben und Ämter 3. Arnholds Mäzenatentum im Wilhelminismus. Eine Bilanz
183 184 185
VI. Lebensstil eines Großbürgers 1. Domizile 2. Soziale Verflechtung 2.1. Familiäre Beziehungen 2.2. Die Arnholds und die „bessere" Gesellschaft Berlins
VII. Verteidigung und Verlust 1. Eduard Arnhold im „Großen Krieg" 1.1. Im Dienste der Kriegswirtschaft 1.2. „Der Verhetzung im eigenen Hause Schranken ziehen" 2. Der Kampf gegen das Unvermeidliche: Die Teilung Oberschlesiens 3. Mäzenatentum unter veränderten Rahmenbedingungen
145 147 151 153 166
188 189 192 197
203 204 208 208 212
219 219 220 223 231 241
Schlußbetrachtung
251
Anmerkungen Anhang A Anhang Β Anhang C Quellen und Literatur I. Archivalien II. Mündliche und schriftliche Auskünfte III. Gedruckte Quellen und Literatur Abkürzungsverzeichnis Verzeichnis der Tabellen Personenregister Abbildungsnachweis
256 345 349 359 360 360 364 364 404 405 406 414
Vorwort
Dies ist die überarbeitete und leicht gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2001/2002 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Im Laufe der Arbeit habe ich von zahlreichen Seiten Unterstützung erhalten. An erster Stelle gilt mein Dank der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, die durch die Gewährung eines Stipendiums die Fertigstellung der Arbeit ermöglicht und ihre Drucklegung großzügig unterstützt hat. Zu besonderem Dank bin ich dem Erstgutachter, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Hardtwig verpflichtet, der diese Arbeit nicht nur angeregt, sondern auch im weiteren stets wohlwollend begleitet hat. Ferner danke ich Herrn Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch für die bereitwillige Übernahme des Zweitgutachtens und Herrn Prof. Dr. Horst Bredekamp für die Bereitschaft, kurzfristig einen Stipendienantrag zu begutachten. Gedankt sei ebenfalls dem Dekan der Philosophischen Fakultät I, Herrn Prof. Dr. Wilfried Nippel. Zahlreiche Archivare und Bibliothekare haben mir geholfen, das verstreute Material für diese Arbeit ausfindig zu machen. Besonders möchte ich mich bei den Mitarbeitern des Geheimen Staatsarchivs PK, der Kunstbibliothek und der Staatsbibliothek zu Berlin PK bedanken, die ich mit meinen umfangreichen Bestellungen besonders geplagt habe. Ein wichtiger Teil der Arbeit, die Beschreibung der Kunstsammlung von Eduard Arnhold, wäre nicht in dieser Form zustande gekommen ohne das Vertrauen von Herrn Christoph H. Kunheim, der mir Zugang zu dem Restnachlaß seines Urgroßvaters gewährte. Das Transatlantische Doktorandenkolloquium, veranstaltet vom Deutschen Historischen Institut in Washington, und die Dahlemer Archivgespräche, veranstaltet vom Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, gaben mir die willkommene Gelegenheit, einzelne Aspekte meiner Dissertation innerhalb eines größeren Kreises zu diskutieren. Wertvolle Anregungen und Hinweise verdanke ich ferner meinen Freunden und Kollegen Martin Baumeister, Philipp Prein, Stefan Pucks und Hans Wilderotter, die Teile des Manuskripts durchgesehen und kritisch kommentiert haben. Nach einem geflügelten Wort von Marc Bloch verhält sich der Historiker als Biograph „wie der Menschenfresser im Märchen: Wo er Menschenfleisch riecht, da wittert er seine Beute". Im vorliegenden Fall überwiegt beim Biographen beim Abschluß seiner Arbeit jedoch das Gefühl, die Beschäftigung mit dem Leben einer anderen Person habe große Teile des eigenen Lebens verschlungen. Den drei Personen, die unter dieser Form von Kannibalismus am meisten zu leiden hatten, meiner Frau Petra und meinen Töchtern Carla und Nelly, sei das Buch gewidmet.
Einleitung
Eduard Arnhold war eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Geschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Gleich in mehreren Bereichen, als Kunstsammler, als Mäzen und als Unternehmer, setzte er neue Maßstäbe. Er war einer der reichsten und mächtigsten Männer des Kaiserreichs und behielt dennoch ein offenes Ohr für die unterschiedlichen Anliegen, die aus Wirtschaft, Kultur und Politik an ihn herangetragen wurden. Gleichwohl gehört Arnhold zu einer Personengruppe, die der deutschen Historiographie nur zögerlich als angemessener Gegenstand einer Biographie galt. Auch wenn das Unbehagen an der historischen Biographie und ihrer narrativen Grundstruktur rund zwanzig Jahre zurückliegt und sich das biographische Genre inzwischen großer Beliebtheit erfreut, 1 richtete sich im deutschsprachigen Raum das Hauptinteresse lange Zeit auf Persönlichkeiten, die sich im weiteren Sinne der Politik- und Gelehrtengeschichte zuordnen lassen. 2 Diese Feststellung trifft auch für den Bereich der ansonsten intensiv bearbeiteten deutsch-jüdischen Geschichte zu. 3 Trat die angloamerikanische Forschung bereits vor Jahrzehnten mit inzwischen klassischen Studien zu Repräsentanten der jüdischen Wirtschaftselite des Kaiserreichs hervor — zu nennen sind hier etwa die Biographien, die Lamar Cecil über Albert Ballin und Fritz Stern über Gerson von Bleichröder verfaßten 4 — so waren es in Deutschland bis vor kurzem eher akademische Außenseiter, die sich mit dieser Personengruppe beschäftigten. 5 Mittlerweile hat sich, angeregt von einer breit angelegten Erforschung des Bürgertums, das Bild geändert. Mußte Werner E. Mosse, einer der Pioniere der Geschichtsschreibung des deutsch-jüdischen Wirtschaftsbürgertums, noch 1987 zu seinem Erstaunen feststellen, daß es keine Biographien von herausragenden jüdischen Unternehmern wie Eduard Arnhold, James Simon, Isidor Loewe oder Max M. Warburg gebe, 6 so liegen mittlerweile zu James Simon und Max M. Warburg, aber auch zu Rudolf Mosse und Albert Ballin neue Monographien oder größere Abhandlungen vor. 7 Die vorliegende Biographie möchte indes nicht nur eine weitere Lücke innerhalb dieser Aufzählung schließen, sondern auch einen Beitrag zu einem ebenfalls erst vor kurzem ins Blickfeld gerückten Forschungsfeld leisten, dem großbürgerlichen Mäzenatentum des 19. und 20. Jahrhunderts. 8 Innerhalb dieser „mäzenatischen Bewegung" spielte Arnhold vor allem als Kunstmäzen — genannt sei die Villa Massimo als seine bekannteste Gründung - aber auch durch sein karitatives Engagement und seine Förderung der Wissenschaften eine überragende Rolle. Durch die Verknüpfung einer Unternehmerbiographie mit einer Studie über Mäzenatentum hofft der Verfasser ein Defizit zu schließen, das bisherigen Arbeiten zum Mäzenatentum häufig zu eigen ist. Gerne wird dabei die Tatsache vernachlässigt, daß persönlicher Wohlstand eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Vorbedingung mäzenatischen Handelns ist. Gerade die Art und Weise, wie dieser Wohlstand und der hinter ihm stehende unternehmerische Erfolg
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Einleitung
zustande kamen, war jedoch von weitreichenden Konsequenzen für die spezifische Ausprägung des Mäzenatentums. Die Konzentration auf den Unternehmer und Mäzen Arnhold bringt es mit sich, daß die vorliegende Biographie nicht primär als Beitrag zur Bürgertumsforschung oder, noch enger gefaßt, zur Geschichte des deutsch-jüdischen Bürgertums angelegt ist. 9 Fragen nach Arnholds Selbstverständnis und Verhalten als Jude und seine Kontakte zur nichtjüdischen Umwelt werden an unterschiedlichen Stellen thematisiert, stehen aber nicht im Zentrum der Untersuchung. Ebensowenig wird Arnholds Lebensgeschichte als mehr oder weniger gelungenes Beispiel für den „Verbürgerlichungs-" oder „Akkulturationsprozeß" der deutschen Juden interpretiert, der für die Generation vor Arnhold von größerem Belang war. 10 Wo sich die Darstellung mit dem gesellschaftlichen Umgang, der Kultur und Lebensweise Arnholds beschäftigt, werden diese eher als Phänomene einer schmalen großbürgerlichen Elite denn im Rahmen gemeinbürgerlicher Verhaltensmuster gedeutet. Aufgrund seiner vielseitigen Neigungen, seiner Beteiligung an zahllosen Initiativen im Bereich der Kunst- und Wissenschaftsförderung und seiner herausgehobenen Stellung innerhalb des wilhelminischen Wirtschaftslebens eröffnet eine Beschäftigung mit der Person Arnhold neue Einblicke in Rahmenbedingungen und Strukturen mäzenatischen und unternehmerischen Handelns im Kaiserreich. Die vom Biographen dabei jeweils zu leistende „Rekonstruktion des Handlungskontextes" 11 führt im Falle Arnholds in so unterschiedliche Bereiche wie die jüdische Wohltätigkeitspraxis, die frühe deutsche Kolonialbewegung, die Sammlerkultur im Berlin der Vorkriegszeit und die Besitz- und Absatzverhältnisse im oberschlesischen Industrierevier, um nur einige markante und zeitlich parallele Handlungsfelder Arnholds um das Jahr 1890 aufzuführen. Für die Darstellung bedeutet dies zweierlei: Eine rein chronologische Vorgehensweise würde zusammengehörige Bereiche willkürlich auseinanderreißen und keine argumentative Geschlossenheit ermöglichen; es wird deshalb zum einen ein systematischer Zugriff bevorzugt, der die einzelnen Handlungsbereiche Arnholds gebündelt thematisiert. Zum anderen wechseln sich biographische in stärkerem Maße mit monographischen Passagen ab, als man dies gemeinhin von einer Biographie erwartet. Um beispielsweise Arnholds Verdienst an der Gründung der Villa Massimo bestimmen zu können, sind Motive und Zielsetzungen der preußisch-deutschen Kulturpolitik in Italien zu berücksichtigen, die bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichen und sich erst im letzten Vorkriegsjahrzehnt verdichteten. Hat in diesem Falle die Kontextualisierung eine deutliche Relativierung des Anteils von Arnhold zur Folge, so erschließt sich die zentrale Bedeutung der von Arnhold geleiteten Großhandelsfirma Caesar Wollheim für die Entwicklung der oberschlesischen Steinkohlenindustrie erst über eine Analyse der schwierigen Absatzverhältnisse dieses Reviers. 12 Mittlerweile ist es Standard jedes Biographen geworden, Pierre Bourdieus Warnung vor der „biographischen Illusion", die im Leben fälschlicherweise den Ausdruck eines bedeutungsvollen und zielgerichteten Projektes sehe,13 angemessen zu beherzigen. Auf der anderen Seite ist der Versuchung zu widerstehen, die Fragmentierung eines Lebens zu weit zu treiben und darüber der Einheit des Gegenstandes, der Persönlichkeit des Porträtierten verlustig zu gehen. Durch Querverweise, resümierende Abschnitte und ein eigenes Kapitel, das Arnholds Lebens-
Umleitung
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stil und seine Verortung innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft skizziert, soll dieser Gefahr begegnet und der innere Zusammenhang der unterschiedlichen Lebensbereiche immer wieder aufgezeigt werden. Einen großen Stellenwert räumt die Arbeit ferner den verschiedenen Netzwerken ein, denen Amhold als Unternehmer und Mäzen, aber auch als Kunstsammler und politisch Handelnder angehörte, und die sich über seine Mitgliedschaften in Vereinen, politischen Clubs, Aufsichtsratsgremien oder informellen mäzenatischen Zirkeln rekonstruieren lassen. Damit soll verdeutlicht werden, daß sich Arnholds Handeln trotz aller Individualität vielfach nur als Gruppenhandeln adäquat interpretieren läßt. Eine weitere Möglichkeit, Arnholds Leben stärker mit einer bestimmten Personengruppe - seiner Familie - zu verknüpfen, wurde dagegen nicht verfolgt. Der familienbiographische Ansatz, der sowohl für das jüdische wie das nichtjüdische Bürgertum seine Tragfähigkeit mehrfach unter Beweis gestellt hat,14 lebt von einer Darstellung der Generationenabfolge und der Sozialbeziehungen, die zwischen den Generationen aber auch unter den Angehörigen einer Generation bestanden haben, wobei eine gewisse Prominenz mehrerer, am besten über die Generationen verteilter Familienangehöriger der Darstellung Glanzlichter aufsetzt. Im Falle Eduard Arnholds fehlen wichtige Voraussetzungen hierfür. Mit jeweils drei Brüdern und Schwestern wuchs er zwar in einer kinderreichen Familie auf, aber als Familienverband traten die Geschwister Arnhold kaum in Erscheinung.15 Auch über die früheren und die nachfolgenden Generationen gibt es, abgesehen vom Vater Adolph Arnhold, wenig zu berichten. Auf die Auswertung eines umfangreichen persönlichen und geschäftlichen Nachlasses kann sich diese Biographie nicht stützen; bis auf einige Ausnahmen haben die privaten Hinterlassenschaften Arnholds den Zweiten Weltkrieg nicht überdauert.16 Der Darstellung liegt dennoch eine solide Quellenbasis zugrunde. Hervorzuheben sind die Bestände des Geheimen Staatsarchivs PK in Berlin, die - wenn auch häufig an entlegener Stelle - über fast alle Tätigkeitsbereiche Arnholds Auskunft geben konnten. Wichtige Quellen konnten ferner im Archiv des Leo Baeck Institutes in New York, im Staatsarchiv Kattowitz, im Gesamtarchiv der deutschen Juden in der Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum", im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin PK, im Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, im Bundesarchiv, im Landesarchiv Berlin, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes und in der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin eingesehen werden. Anstalten, an deren Gründung Arnhold in entscheidendem Maße beteiligt war, wie die Villa Massimo, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Förderung der Wissenschaften oder das Waisenhaus Johannaheim lassen sich so ausnahmslos gut dokumentieren; gleiches gilt für die Kolonialpolitik und die politische Unterhändlertätigkeit Arnholds nach dem Ersten Weltkrieg. In einigen Fällen haben sich in diesen Archiven sogar umfangreiche Briefwechsel Arnholds erhalten, die über den konkreten Anlaß hinaus Einblicke in den privaten Alltag und die Persönlichkeit Arnholds gewähren. Ebenfalls als Quelle kann das 1928 von Arnholds Ehefrau Johanna zur Erinnerung an ihren 1925 verstorbenen Mann herausgegebene und im Privatdruck erschienene „Gedenkbuch" angesehen werden.17 Das „Gedenkbuch" ersetzt in mancherlei Hinsicht den Verlust des Privatnachlasses und zitiert zum Teil ausführlich aus inzwischen verloren gegangenen Briefen, Reden und Notizen Arnholds. Daneben vereint es zahlreiche Würdigungen des Verstorbenen von ehemaligen Kollegen, Bekannten und Freunden, die jedoch - dem Wesen dieses „Huldigungsbuches" Rechnung tragend — dazu tendieren, die Bedeutung Arnholds zu überzeichnen.18 Problematisch am „Gedenkbuch" sind fer-
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Einleitung
ner die Auslassungen und die zum Teil recht wertenden Verbindungsstücke zwischen den einzelnen Beiträgen. Verantwortlich hierfür war aller Wahrscheinlichkeit nach Adolf Grabowsky, ein Neffe Arnholds, der Johanna Arnhold bei der Abfassung des „Gedenkbuches" unterstützte. Grabowsky galt in der Vorkriegszeit als der theoretische Kopf des „Kulturkonservatismus", der als „Mischung von Verherrlichung elitären Bildungsadels und ,Sozialimperialismus'" bezeichnet werden kann und „Fortschrittsgedanken mit alten konservativen Vorstellungen vom organischen Staat verband".19 Teile des „Gedenkbuches" lesen sich geradezu so, als wollte Grabowsky den Kulturkonservatismus ad personam, nämlich am Leben seines Onkels exemplifizieren, was zu schweren Verzeichnungen in der Darstellung führt.20 Zu fast allen Tätigkeitsbereichen Arnholds liegt eine umfangreiche Literatur vor, auf die an gegebener Stelle Bezug genommen wird. Hier sei lediglich der Forschungsstand zu Arnhold selbst referiert. Was den Unternehmer Arnhold betrifft, so liegt aus der Feder des Wirtschaftshistorikers Wilhelm Treue eine Jubiläumsfestschrift zum 100jährigen Bestehen der Firma Caesar Wollheim vor, die Arnhold seit 1882 eigenverantwortlich leitete.21 Treues Darstellung teilt die Vor- und Nachteile solcher Jubiläumsschriften. Detailgetreu konzentriert sie sich auf den Ausbau der Firma und läßt auch die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung nicht beiseite. Konflikte, Konkurrenzsituationen und übergeordnete Organisationsformen im oberschlesischen Steinkohlenhandel kommen jedoch deutlich zu kurz. Auch die Vielfachmitgliedschaften Arnholds in wirtschaftlichen Interessenverbänden und Aufsichtsräten und seine damit verbundene Machtfülle werden bei Treue allenfalls andeutungsweise sichtbar. Vielfältige Erwähnung fand Arnhold auch in den beiden Studien Werner E. Mosses zum deutsch-jüdischen Wirtschaftsbürgertum.22 Mit seiner Analyse der Zusammensetzung von Aufsichtsräten, seinen Vorschlägen zur Definition der wirtschaftlichen Elite und seinen Schilderungen des Sozialverhaltens der deutschjüdischen Wirtschaftselite hat Mosse neue Perspektiven des Vergleichs aufgezeigt, von denen auch diese Darstellung profitiert. Im Rahmen seines kollektivbiographischen Ansatzes konnte Mosse jedoch nur in sehr begrenztem Umfang neue Quellen erschließen; Arnholds unternehmerische Fähigkeiten standen zudem nicht in seinem Blickfeld. Am meisten Beachtung fand Arnhold in der historischen wie in der kunsthistorischen Forschung bisher als Kunstmäzen und Kunstsammler.23 Gelang es diesen Arbeiten einzelne Motive des Sammlers und Mäzens herauszuarbeiten, so wurden bisher weder seine Sammlungstätigkeit noch sein Mäzenatentum im Bereich der Kunst, geschweige denn die engen Beziehungen, die zwischen diesen beiden Tätigkeiten bestanden, systematisch erfaßt und ausgewertet. Dies gilt erst recht für die Bereiche der Arnholdschen Wissenschaftsförderung und Wohltätigkeitspraxis, die bislang — wie sich überhaupt die gesamte Mäzenatentumsforschung zu einseitig auf den Bereich der Kunst konzentriert - einen blinden Fleck bilden. Die Biographie selbst ist in sieben teils thematisch, teils chronologisch angeordnete Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel beschreibt die familiäre Herkunft und den beruflichen Werdegang Arnholds und rückt insbesondere die beiden Vaterfiguren, Adolph Arnhold und Caesar Wollheim, in den Vordergrund. Beginnend mit Caesar Wollheims Tod und Arnholds Übernahme der Firma Caesar Wollheim schildert das zweite Kapitel den weiteren Ausbau dieses Unternehmens und seine Bedeutung für die oberschlesische Steinkohlenindustrie. Insgesamt steht jedoch weniger das Unternehmen Caesar Wollheim als der Unternehmer Arnhold im Zentrum. In einem eigenen Unterkapitel werden deshalb die zahlreichen Allianzen und Geschäftsbeteiligungen untersucht, mit denen Arnhold seinen unternehmerischen Erfolg festigte; ein weiteres Unterkapi-
Umleitung
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tel erörtert seine politischen Überzeugungen. Wie die ersten beiden Kapitel stehen auch die nächsten drei Kapitel in einem engen thematischen Zusammenhang und sind Arnholds Mäzenatentum gewidmet. Nach einigen begrifflichen Vorüberlegungen gibt das dritte Kapitel, gegliedert in die jüdische und nichtjüdische Wohltätigkeitspraxis, zuerst einen umfassenden Uberblick über das von den Eheleuten Amhold gemeinsam betriebene karitative Engagement, um schließlich ihre bedeutendste Stiftung, das Waisenhaus ]ohannaheim, angemessenen zu würdigen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit Arnholds Kunstförderung. Es analysiert den Aufbau und die Inszenierung seiner privaten Kunstsammlung und verbindet dies mit einer Erörterung seiner Unterstützung der Berliner Museen. Arnholds Gründung der Villa Massimo und seine Beteiligung an der Verwaltung der Bibliotheca Hert^iana werden in einem eigenen Unterkapitel vorgestellt und in Zusammenhang mit den Plänen der preußischen Ministerialbürokratie interpretiert, in Rom ein preußisch-deutsches Kulturzentrum zu etablieren. Im Bereich der Wissenschaftsförderung war Arnholds Beitrag für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft %ur Förderung der Wissenschaften von besonderer Bedeutung. Sein Anteil am Zustandekommen und an der Verwaltung dieser Gesellschaft steht deshalb im Zentrum des fünften Kapitels, das mit einer abschließenden Bewertung und Zusammenfassung von Arnholds mäzenatischem Engagement endet. Während das sechste Kapitel noch einmal systematisch Arnholds soziales Umfeld und seinen Lebensstil als Angehöriger der wilhelminischen Wirtschaftselite untersucht, ist das siebte und letzte Kapitel eher narrativ angelegt. Chronologisch den politischen Erschütterungen folgend, erörtert es die Aktivitäten Arnholds während des Ersten Weltkriegs und der Anfangsjahre der Weimarer Republik, eine Zeit, in der Arnholds Lebenswerk existentiell bedroht wurde.
I. Von Dessau nach Berlin
Am 4. November 1821 erließ Herzog Leopold IV. Friedrich von Anhalt-Dessau eine Verordnung wegen Einführung bestimmter und bleibender Israelitischer Familiennamen in den Herzoglich AnhaltOessauischen Landen. Der Herzog entschloß sich zu dieser Maßnahme, weil er durch seine Regierung von Schwierigkeiten gehört habe, die sich durch willkürlich angenommene Namen „in mehrfacher Hinsicht und besonders bei Handhabung der Polizei und im Handel offenbaren". Nach der Verordnung hatte jedes israelitische Familienoberhaupt für sich und seine noch nicht selbständigen Kinder einen verbindlichen Familiennamen anzunehmen und diesen binnen sechs Wochen beim zuständigen Justizamt anzumelden. Die Wahl des Namens stand prinzipiell frei, allerdings durfte man nicht in die Familienrechte anderer eingreifen. 1 Gut vier Monate später, am 16. März 1822, wurden im amtlichen Oessauer Wochenblatt 169 Namen publiziert, die nunmehr zu festen Familiennamen der Dessauer Juden werden sollten. Knapp die Hälfte aller Familienvorstände hatte einen Namen gewählt, der kaum mehr dem bisherigen, amtlich bekannten Namen glich; die andere Hälfte war dem alten Namen mehr oder minder treu geblieben und hatte ihn nur unwesentlich oder gar nicht verändert. Die Witwe Abraham Meyer, deren Ehemann bereits 1808 gestorben war, entschloß sich, den Vornamen eines ihrer Kinder zum neuen Familiennamen zu machen. Sie nahm für sich und ihre drei Söhne den Namen Arnhold an. 2 Eine Biographie mit Überlegungen zu Herkunft und Bedeutung des Familiennamens des Porträtierten einzuleiten, mag wenig originell erscheinen und im allgemeinen kaum zu fruchtbaren Ergebnissen führen. Im Falle der deutschen Juden leitet diese Fragestellung jedoch zu Grundfragen ihrer Emanzipation und Akkulturation. 3 Das Zugeständnis, einen festen Familiennamen führen zu dürfen, war eine der bedeutendsten Errungenschaften der Emanzipationszeit und ging der rechtlichen Gleichstellung entweder voraus oder war unmittelbar mit ihr verbunden. Die Freiheit der Namenswahl, die Erlaubnis in das Namenssystem der Mehrheitsgesellschaft überzutreten, kann dabei als eines der wichtigsten Zugehörigkeitskriterien der Juden zur deutschen Bevölkerung interpretiert werden. Nicht umsonst haben die Nationalsozialisten mit ihrer Verfügung von 1938, nach der alle Juden ohne ausgeprägt jüdischen Vornamen zwangsweise den Vornamen „Israel" oder „Sara" zu führen hatten, die sofortige „Erkennbarkeit" der Juden wieder hergestellt und damit einen weiteren Schritt von der „Judenpolitik" zur „Vernichtungspolitik" gemacht. 4 Für jeden Menschen ist der Familien- und Rufname von essentieller Bedeutung und Teil der eigenen Persönlichkeit. Angriffe auf den Namen, seine Verdrehung, Verspottung oder Verächtlichmachung, können bis zur Persönlichkeitszerstörung führen. Im 19. und in der ersten Hälfte
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Von Dessau nach Berlin
des 20. Jahrhunderts waren es vor allem „jüdische Namen", d.h. jüdisch konnotierte Namen, die keineswegs mit den tatsächlichen „Namen der Juden" gleichzusetzen sind, die diesen Angriffen ausgesetzt waren. Aus den am stärksten jüdisch besetzten Namen ragen Namen wie Cohn, Levy und Moses heraus, deren Träger sich daher häufig um eine Änderung ihres Namens bemühten. 5 Eduard Arnhold ist von diesem Spott verschont geblieben. Daß er nicht, wie noch seine Großeltern, Cohn, Meyer, Riess oder Zacharias hieß, daß sein Vorname nicht Abraham oder Joseph Wolff lautete, wie noch bei seinen beiden Großvätern, ist ein erster und wichtiger Hinweis auf die Assimilationsabsicht seiner Eltern und Großeltern sowie auf den Stand ihrer Emanzipation. Zugleich bildete dieses Faktum eine kaum zu überschätzende Erleichterung in einer Gesellschaft, die Juden vor allem dann akzeptierte, wenn sie ihre jüdische Herkunft nicht mehr zu erkennen gaben. Von Beginn an war es für Arnhold möglich, so er es denn wollte, sein Judentum ausschließlich als Privatsache zu behandeln; auch spätere Aggressionen der Antisemiten konnten zumindest an seinem Namen keinen Anhaltspunkt finden. Natürlich läßt sich diese Anpassungsleistung an die nichtjüdische Umwelt auch als Preisgabe jüdischer Identität begreifen. Die Mehrheit der deutschen Juden dachte jedoch anders und wünschte sich einen Namen, der sie nicht mehr aus der Durchschnittsbevölkerung hervorhob. In der Emanzipationszeit wurden die neuen Familiennamen häufig aus „dem Rufnamen gebildet, den die Juden neben ihrem hebräischen Vornamen führten und der aus der Latinisierung, Verdeutschung, Verkleinerung oder Korrumpierung des hebräischen Vornamens hervorgegangen war." 6 Auch bei der Familie Arnhold läßt sich diese Herleitung feststellen. So entstand der Nachname Arnhold aus dem Vornamen Arn(h)old, der seinerseits einen Gleichklangnamen zum hebräischen Aron bildet.7 Dennoch war Arnhold keineswegs ein besonders häufiger, eher sogar ein seltener Familienname. Eduard Arnholds Vater und dessen Brüder trugen mit Adolph, Eduard und Arnold zudem keine typisch jüdischen Vornamen mehr. Im Falle der Familie Arnhold hatte demnach die Akkulturationsleistung bereits bei den Großeltern Eduard Arnholds eingesetzt. Sein Vater Adolph Arnhold beschritt diesen Weg der Akkulturation energisch weiter.
1. Das väterliche Erbe Adolph Arnhold (1808—1876) vollzog in exemplarischer Weise den Aufstieg der deutschen Juden in das Bürgertum. Dieser Aufstieg vollzog sich in seinem Fall nicht über wirtschaftlichen Erfolg, sondern über die Aneignung von Bildung. Die wichtigsten Stationen seiner „Verbürgerlichung" waren seine Ausbildung in Dessau, Berlin und Halle und seine Mitgliedschaften in kulturell-geselligen Vereinigungen. 8 Zeit seines Lebens sollte er zwischen literarisch-schöngeistigen Neigungen und seinem Beruf als Arzt schwanken. Als Anhänger der jüdischen Reformbewegung setzte er sich für eine Reform jüdischer Zeremonialgesetze ein, die sowohl mit den Erwartungen der bürgerlichen Öffentlichkeit als auch mit seinen persönlichen Erfahrungen als Bildungsbürger, Arzt und Vater nicht in Einklang zu bringen waren. Erst die Revolution von 1848/49, die er aktiv begleitete, machte Adolph Arnhold schließlich auch zum Staatsbürger. Als Bürger war Adolph Arnhold jedoch vor allem Bildungsbürger, 9 dessen Beispiel seinen Kindern in vielerlei Hinsicht zur Verpflichtung wurde. Daß sich seine Nachkommen überwie-
Das väterliche Erbe
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gend für wirtschaftsbürgerliche Karrieren entschieden, steht dazu nicht im Widerspruch. Wie bei vielen deutschen Juden um die Mitte des 19. Jahrhunderts war der Bürgerstatus und das Bürgersein auch bei den Arnholds so eng an den Erwerb von Bildung, Kultur und Sprache geknüpft, daß die Unterscheidung in Wirtschafts- und Bildungsbürger nur nach der Berufswahl, nicht jedoch nach Mentalität, „Wertehimmel" und Lebenspraxis Sinn ergibt.10 Bildung, nicht Reichtum, war die Bedingung, unter der die bürgerliche Gesellschaft zur Aufnahme der Juden bereit gewesen war. Diesen Zusammenhang hatten die deutschen Juden tief verinnerlicht, ihn sollten sie als Verteidigungsposten gegen antisemitische Angriffe immer noch in Stellung bringen, als ihre Umwelt längst dazu übergegangen war, völkische Zugehörigkeit an die Stelle des Erwerbs allgemein zugänglicher Bildung zu setzen. Auch die Kinder Adolph Arnholds verhielten sich ihr Leben lang wie Bildungsbürger. Sie erwarben zwar keine Bildungspatente wie der Vater, bekräftigten aber die bildungsbürgerliche Tradition ihrer Familie durch ihr großes kulturelles Engagement. Die Situation der Juden in Adolph und Eduard Arnholds Geburtsstadt Dessau war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer starken „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" geprägt. 11 Rechtlich gesehen war ihre Lage vergleichsweise ungünstig. Das Herzogtum Anhalt-Dessau hatte sich der Emanzipationsgesetzgebung des frühen 19. Jahrhunderts verschlossen und stellte sich damit sowohl in einen Gegensatz zum mächtigen Nachbarn Preußen als auch zu den eng verwandten Herzogtümern Anhalt-Köthen und Anhalt-Bernburg. Von ihrer erneuten Ansiedlung im Jahre 1672 bis zu ihrer Emanzipation im Jahre 1848 blieben die Dessauer Juden Schutzjuden des Landesherrn und waren als solche vielfältigen Restriktionen und Repressionen ausgesetzt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es verschiedentlich zu Erleichterungen, aber auch zu neuen Sonderbestimmungen und Zuzugsbeschränkungen. Vorstöße der Dessauer Juden, die seit Anfang des Jahrhunderts mehrfach auf eine rechtliche Gleichstellung abzielten, wurden entweder hinhaltend behandelt oder sofort abgelehnt. Kulturell gesehen bewegte sich die jüdische Gemeinde Dessaus allerdings auf hohem Niveau und galt als eine der führenden Reformgemeinden Deutschlands. So bekannte Reformer wie Moses Mendelssohn, David Fränkel, Joseph Wolf und Ludwig Philippson waren in Dessau geboren oder wirkten hier. Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts fühlte sich ein Besucher zu dem Urteil bemüßigt, daß der Jude im Dessauischen „ungleich gebildeter als dieselbe Art in Berlin" sei. Noch dazu sei er „von heiterer Laune, gesprächig, freundlich und, was man selten findet, gegen den Christen offen und sich mitteilend." 12 Geradezu Schrittmacherdienste leistete die Gemeinde Dessaus bei der Etablierung und Verbreitung der deutschen Sprache. 13 Seit 1806 erschien hier mit Sulamith, eine Zeitschrift Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation die erste Zeitschrift in deutscher Schrift und Sprache, 1808 hielt Joseph Wolf in der Dessauer Synagoge erstmals eine Predigt in deutscher Sprache und 1815 gab David Fränkel die Pentateuch-Übersetzung von Moses Mendelssohn erstmals in deutschen Lettern heraus. Die 1799 errichtete und fünf Jahrzehnte unter der Leitung von David Fränkel stehende Jüdische FreySchule unterrichtete ebenfalls von Beginn an in deutscher Sprache. Als eine der ersten allgemeinbildenden, nicht allein auf religiöse Unterweisung beschränkten jüdischen Schulen Deutschland war sie von überregionaler Ausstrahlung. 14 Auch das Zusammenleben von Juden und Christen schien relativ reibungslos gewesen zu sein. Zwischen 1760 und 1834 waren die Juden zwar gezwungen, ihren Wohnsitz in der Sand-
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Von Dessau nach Berlin
Vorstadt zu nehmen. Dies bedeutete aber nicht die Bildung eines Ghettos, da Juden und Christen hier gemischt wohnten. 1787 zählte man 705 und 1807 763 Juden, was etwa 8 - 9 % der Gesamtbevölkerung entsprach. Einzelnen wohlhabenden Handelsjuden standen zahlreiche verarmte Juden gegenüber, die oft gezwungen waren, den Fürsten unter der Gefahr ihrer Ausweisung um Erlaß der Schutzgeldzahlung zu bitten. Ihr Auskommen fanden die Dessauer Juden hauptsächlich im Betrieb von kleinen Manufakturen, im Geldgeschäft und im Handel mit Pferden, Getreide, Holz und Luxusgütem. Für den Handel wirkte sich die günstige Lage Dessaus zwischen Berlin und Leipzig und insbesondere die Nähe zur Leipziger Messe vorteilhaft aus. Seit dem Wiener Kongreß war Anhalt-Dessau jedoch komplett von preußischem Territorium umgeben, wodurch sich die Handelsmöglichkeiten erheblich verschlechterten. In diesem Klima der weitgehenden Öffnung gegenüber der deutschen Umwelt und Kultur, in dem die staatliche Diskriminierung der Juden als doppeltes Unrecht erscheinen mußte, wuchs Adolph Arnhold heran. Sein Vater gehörte zu den angesehendsten Mitgliedern der Dessauer Juden. 15 1753 erstmals in Dessau nachgewiesen, amtierte Abraham Meyer lange Jahre als einer der fünf Gemeindeältesten, die vom Fürsten berufen wurden. 16 Über seinen Beruf ist weiter nichts bekannt, als daß ihn Adolph Arnhold später als Händler bzw. Kaufmann bezeichnete.17 Aus seiner ersten Ehe mit Rosalie Meyer, geb. Hirsch, gingen die beiden Söhne Arnold und Eduard (1798-1865) hervor, die nach Leipzig bzw. Hamburg auswanderten. 18 Aus seiner zweiten Ehe mit Henriette Meyer, geb. Zacharias, stammten die Söhne Zacharias (ca. 1806—1811) und Adolph. Am 17. April 1808, genau acht Monate bevor sein letzter Sohn Adolph geboren wurde, starb Abraham Meyer. „A fratribus dilectissimis et summa pietate colendis adiutus", von seinen mit höchster Ehrfurcht zu lobenden vortrefflichen Brüdern unterstützt, 19 erhielt der Halbwaise Adolph Arnhold eine umfangreiche und kostspielige Ausbildung, die er 1832 als promovierter Arzt abschloß. Vom vierten bis zum dreizehnten Lebensjahr besuchte er die Herzogliche Fran^schule, wie sich die Jüdische Frey-Schule seit 1815 nennen durfte. Als Lehrer wirkten hier unter anderem die schon erwähnten Reformer Joseph Wolf und David Fränkel sowie der ebenfalls publizistisch hervorgetretene Gotthold Salomon. Der Großteil des Unterrichts fand in deutscher Sprache statt (Rechnen, Lesen, Schreiben, Geschichte, Geographie, Biologie, Physik und Geometrie), in hebräisch behandelte man die Heilige Schrift und erhielt religiöse Unterweisungen. Ab der dritten Klasse kam Französisch hinzu. 2 " Ein Mitschüler von Adolph Arnhold war Ludwig Philippson, der spätere Herausgeber der Allgemeinen 7,eitung des Judentums und „Journalist des Reformjudentums". Nach dessen Erinnerung soll der Unterricht in Hebräisch, Französisch, Rechnen und Schreiben besonders gut gewesen sein; gelesen habe man vorwiegend deutsche Klassiker. 21 Während Philippson anschließend nach Halle ging, da am Dessauer Gymnasium „die Pedanterie zu sehr heimisch geworden" war, 22 blieb Adolph Arnhold in Dessau und besuchte das dortige Gymnasium bis zur Erreichung der Universitätsreife. 1828, rund vierzig Jahre nach der Gründung dieser herzoglichen „Gelehrtenschule" im Jahre 1785, verließ sie Adolph Arnhold als ihr 176. Primaner. 23 Selbst wenn man berücksichtigt, daß einige Dessauer die benachbarten preußischen Gymnasien bevorzugt haben mögen, war Adolph Arnholds Ausbildung doch etwas Außergewöhnliches für die Verhältnisse der kleinen Residenzstadt und schien ihn zum künftigen Mitglied der schmalen bildungsbürgerlichen Schicht Dessaus zu prädestinieren. Als 19jähriger Abiturient ging Adolph Arnhold nach Berlin und schrieb sich im April 1828 als Student der philologischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität ψ Berlin ein. 24 Berlin war
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seit der preußischen Judenemanzipation „der Studienort jüdischer Studenten schlechthin". 25 Alle rituell und religiös notwendigen Einrichtungen waren in Berlin vorhanden, die wohlhabende und große jüdische Gemeinde ließ günstige Berufsperspektiven vor Ort erwarten und das geistige Klima Berlins wirkte sowohl auf Juden als auch Christen anregend. Auch seine Herkunft aus dem Handelsstand teilte Adolph Arnhold mit den meisten jüdischen Studenten des Vormärz. Mit ihrer Abwendung vom väterlichen, als typisch jüdisch geltenden Beruf und dem gezielten Erwerb akademischer Bildung verbanden sie die Hoffnung, schneller als gleichwertige Bürger akzeptiert zu werden. 26 Weniger gewöhnlich, ja sogar mutig war hingegen das von Adolph Amhold gewählte Studienfach, die klassische Philologie. In seinen ersten beiden Semestern besuchte er mit großem Eifer die Veranstaltungen fast aller Zelebritäten der damaligen Zeit. August Boeckh hörte er über griechische Literaturgeschichte, Demosthenes und Pindar, Gottfried Bernhardy über römische Literaturgeschichte, Karl Gottlob Zumpt über Ciceros Reden, Karl Wilhelm Ludwig Heyse über Horaz, Friedrich von Raumer über Universalgeschichte, Carl Ritter über Logik und den Anglisten C. A. E. Seymour über Edward Youngs Nachtgedanken. 27 Da die akademische Laufbahn ungetauften Juden grundsätzlich verbaut war, ging er mit einem philologischen Studium ein großes Risiko späterer Beschäftigungslosigkeit ein. Seine Religion aufzugeben, was ihn dieser Schwierigkeiten enthoben hätte, kam für Adolph Arnhold nicht in Betracht. Ob es die verspätete Einsicht in diese Zusammenhänge oder der Druck seiner ihn alimentierenden Brüder war, der ihn zum Wechsel des Studienfachs bewog, ist nicht überliefert. Nach einem Jahr beendete Adolph Arnhold jedenfalls seine philologische Ausbildung und entschied sich, wie fast die Hälfte der jüdischen Studenten zu dieser Zeit, für das „Brotstudium" der Medizin. Hier waren die Berufsaussichten wesentlich günstiger, da gerade Ärzte durch das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung in hohem Maße gebraucht wurden. 28 Noch in Berlin belegte er eine Reihe von medizinischen, botanischen und chemischen Veranstaltungen, bevor er im April 1831 an die Hallenser Universität wechselte. 29 Dort wurde im Folgejahr seine Dissertation Steatomatis Gangraena Oestructi Observatio Singularis angenommen. 30 Bevor Adolph Amhold in seine Heimatstadt Dessau zurückkehrte und dort als Gemeindeund Armenarzt der jüdischen Gemeinde wirkte, ging er erneut nach Berlin. Womit er dort seinen Lebensunterhalt verdiente und wie lange er genau in der preußischen Hauptstadt blieb, ist nicht bekannt. Noch 1832 wurde er Mitglied des Tunnels über der Spree, eines gesellig-literarischen Klubs, der durch die spätere Mitgliedschaft von Theodor Fontane große Berühmtheit erreichen sollte.31 Dieser literarische Sonntags-Verein war 1827 als humoristische Gesellschaft gegründet worden, gelangte aber erst nach der Übernahme des Vorsitzes durch den jüdischen Bankkaufmann Ludwig Lesser 1829/30 zu größerer Bedeutung und „Ernsthaftigkeit". Seine Mitglieder gehörten „mehr oder weniger zum Establishment der preußischen Hauptstadt" 32 und bildeten eine Mischung aus Juristen, Schriftstellern, Offizieren, Künstlern, Kaufleuten und Ärzten, die der Hang zum dichterischen Dilettieren einte. Literarisches Profil gewann der Tunnel über der Spree erst in den 1840er Jahren, als Adolph Arnhold dessen Sitzungen schon längst nicht mehr besuchte. Adolph Arnhold wurde am 25. November 1832 aufgenommen. Zuvor muß er mindestens drei Sitzungen besucht und sich als würdiges Neumitglied gezeigt haben, über dessen Aufname sodann per Ballotage entschieden wurde. Als „Tunnel-Namen", den er einem berühmten Mann seines Standes zu entlehnen hatte, wählte er den des antiken Arztes Galen. Sein einziger überlie-
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ferter „Span", so wurden die literarischen Arbeiten der Tunnelmitglieder bezeichnet, trägt den Titel Todesseuf^er. Wer dahinter einen lyrisch-romantischen Erguß vermutet, liegt allerdings falsch. Der Arzt ließ sich vielmehr von seinen pathologischen Erfahrungen inspirieren und besang in humorvoller, zum Teil etwas derber Art seine Erfahrungen beim Sezieren des menschlichen Herzens. 33 Die eigentliche Bedeutung seiner Mitgliedschaft erschließt sich jedoch nicht durch eine Beschäftigung mit seinen literarischen Versuchen, sondern durch einen gezielten Blick auf einige seiner „Tunnelgenossen". Gestalt und Richtung des Tunnels wurden zu dieser Zeit wesentlich von jüdischen Mitgliedern bestimmt, die damit ihre Adaption bürgerlicher Verhaltensnormen und ihre erfolgreiche Integration in die bürgerliche Gesellschaft unter Beweis stellten.34 Schien der Anspruch auf Akzeptanz für das einzelne Individuum damit erfolgreich durchgesetzt worden zu sein, so stand er doch für die Juden als Gruppe noch aus. Um diese Akzeptanz zu erreichen, hielten viele Juden eine Reform des jüdischen Kultus und die Beschränkung des Judentums auf eine individuelle Glaubensüberzeugung für notwendig. Gerade diese Überzeugung verband die jüdischen Tunnelmitglieder. So waren mit Adolph Arnhold, Carl Heymann, Ludwig Lesser und Sigismund Stern zu dieser Zeit gleich vier Männer Mitglieder des Tunnels, die sich später publizistisch oder organisatorisch für die Ziele der jüdischen Reformbewegung engagierten. 35 Mit Stern, der die jüdische Reformgemeinde in Berlin begründete, und mit Lesser und Heymann sollte Adolph Arnhold 14 Jahre später anläßlich der Beratungen über eine landesweite Genossenschaft für Reform im Judenthum erneut in Berlin zusammentreffen. 36 Fast gleichzeitig mit Adolph Arnhold war Bernhard Wolff dem Tunnel beigetreten. Wolff war nicht nur der Gründer der ersten deutschen Nachrichtenagentur W.T.B., sondern auch der gemäßigt-liberalen National-Zeitung, für die wiederum Adolph Arnhold in späteren Jahren als Dessauer Korrespondent tätig war. 37 Der Tunnel über der Spree stellt somit ein frühes Beispiel erfolgreicher Netzwerkbildung dar, über das der in die Dessauische Provinzialität zurückkehrende Adolph Arnhold mit den geistigen und politischen Veränderungen in der preußischen Hauptstadt in Verbindung blieb. Ein äußerer Anlaß, der Tod seiner Mutter Henriette im Jahre 1834, war möglicherweise der Grund für seine Heimkehr. Neben seiner Tätigkeit als Gemeindearzt beteiligte er sich in Dessau als Vorsteher der Herzoglichen Fran^schule, als Vorsteher der Gesellschaft %ur Ausstattung armer Bräute und als Assessor des Humanitätsverein lebhaft am jüdischen Gemeinde- und Armenwesen. 38 Aber nicht nur als Jude, sondern auch als Bürger engagierte sich Adolph Arnhold vielfältig in seiner Heimatstadt. So war er Mitglied zahlreicher gemeinnütziger und geselliger Vereine, die vom Gartenbau- über den Gewerbe- bis zum Uterarischen Verein reichten. 39 Beides, Bewahrung und Bekräftigung der jüdischen Identität einerseits, Teilnahme an und Akzeptanz innerhalb der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft Dessaus andererseits, stand nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzte sich offensichtlich unproblematisch. Am 21. November 1843 heiratete Adolph Arnhold die erst 17jährige Mathilde Cohn (18261905) aus Berlin. 40 Ihre Eltern Joseph Wolff Cohn (geb. 1779) und Ester Cohn, geb. Riess, betrieben in Berlin ein Geschäft für Federn, Betten und Spiegel. 41 Während der Vater von Mathilde Arnhold, geb. Cohn, erst 1818 in Berlin ansässig wurde, zählte die Familie ihrer Mutter zu den ältesten und einflußreichsten jüdischen Familien Berlins. Als Stammvater der mütterlichen Familie kann der bereits 1710 in Berlin nachgewiesene Meyer David Riess (ca. 1688-1752) angesehen werden, der seinerseits von den 1670 aus Wien vertriebenen und in Berlin angesiedelten Juden abstammte. Über Meyer David Riess, der auch Mitältester der jüdischen Gemeinde
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war, hieß es in der Berliner „Judenliste" aus dem Jahre 1749: „Negotiiret Gelder bey Herrschaften und Officiers - 1 (Haus) im Quaree worauf 8500 rtl, und 1 in der Linden Straße worauf 5300 rtl. gebothen." 42 Ein Jahr später firmierte er als Garnison- und Hofagent. Mit seinen beiden sehr hoch taxierten Häusern gehörte Meyer David Riess zu den wohlhabendsten Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und betrieb sein Geschäft als Finanzverwalter von Adel und Militär mit großem Erfolg. Dies sicherte ihm zugleich das Wohlwollen der Behörden: 1710 noch „vergleiteter" Jude, der seinen Schutzbrief nur auf das erstgeborene Kind übertragen durfte, erhielt er bereits 1724 als „besonders privilegirter Schutzjude" ein Generalschutzprivileg für alle seine Kinder. Ob sich sein Wohlstand auf seine sechs Kinder und deren Nachfahren in gleichem Maße übertragen hat, ist nicht überliefert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielten Angehörige der weitverzweigten Familie Riess jedenfalls noch eine wichtige Rolle in der jüdischen Gemeinde Berlins; 43 die Ehefrau seines Enkels Isaac Moses Riess (1757-1817), Nanette Riess (1777— ca. 1869), soll sich nach der Familienüberlieferung sogar der besonderen Sympathie der Königin Luise erfreut haben und öfters ins Königliche Schloß geladen worden sein 44 Nanettes Tochter und zugleich die Großmutter von Eduard Arnhold war besagte Ester Cohn, geb. Riess. Im Oktober 1817 heiratete sie den Handelsmann Joseph Wolff Cohn, der aus Kurnik in Posen stammte und seit 1810 in verschiedenen brandenburgischen Städten ansässig war. Außer der Tochter Mathilde ging aus der Ehe ein Sohn, der 1818 geborene Isaac, hervor. Adolph und Mathilde Arnhold blieben nach ihrer Heirat in Dessau, wo Mathilde Arnhold jedoch nie besonders heimisch wurde. Sie hatten insgesamt acht Kinder, fünf Söhne und drei Töchter. Trotz Adolph Arnholds vielfach bezeugter Modernität in Glaubensfragen bildeten sie mit dieser hohen Kinderzahl ein Gegenbeispiel zu dem von der Forschung herausgearbeiteten „modernen" Reproduktionsverhalten der jüdischen Bevölkerung, die ab der Jahrhundertmitte — der restlichen Bevölkerung um eine Generation voraus - mehrheitlich zum „Zweikindersystem" überging. 45 Die ersten vier Kinder der Arnholds, Max (1845), Felix (1846), Ida (1847) und Eduard (1849), wurden in sehr kurzen, fast jährlichen Abständen geboren; nach einer Pause von sieben Jahren und in größeren Intervallen folgten Margarete (1856), Georg (1859), Anna (1862) und Gustav (1865). 46 Bei den beiden erstgeborenen Söhnen Max und Felix kam es in Folge ihrer Beschneidung zu lebensbedrohlichen Komplikationen, die Max nur sehr knapp, Felix jedoch nicht überlebte. Diese persönliche Katastrophe bildet den Hintergrund für Adolph Arnholds 1847 erschienene Schrift Die Beschneidung und ihre Reform, auf die noch näher einzugehen sein wird. Mit den nicht allzu üppigen Einkünften eines Armen- und Gemeindearztes manövrierte der neunköpfige Familienhaushalt der Arnholds hart an der Subsistenzgrenze. 47 Die beiden älteren Söhne, Max und Eduard, verließen nach jeweils kurzer Schulzeit das elterliche Haus und entlasteten somit die Familie. Während Max in Leipzig eine Banklehre aufnahm, um bereits als Zwanzigjähriger mit dem ebenfalls aus Dessau stammenden Ludwig Philippson in Dresden ein Bankhaus zu eröffnen, ging Eduard als Kaufmannslehrling nach Berlin. Erst den beiden jüngeren Söhnen Georg und Gustav konnte eine Gymnasialausbildung finanziert werden. Georg, der zweitjüngste, brach seine Schulausbildung jedoch vorzeitig ab und trat 1875 als Lehrling in das Bankhaus seines Bruders Max ein, das 1882 in Bankhaus Gebr. Arnhold umbenannt wurde. 48 Der jüngste Sohn Gustav wollte nach dem Gymnasium eine juristische Laufbahn einschlagen, starb aber bereits im Alter von 19 Jahren. Alle drei Töchter gründeten Familien. Ida heiratete den Kaufmann Heinrich Oppenheimer und Margarete den Kaufmann Julius Grabowsky; die beiden
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Ehemänner führten in Berlin gemeinsam das „Haus für englische Tuche" Oppenheimer & Graboivsky, die jüngste Tochter Anna ehelichte den Bankier Sigismund Behrend und ließ sich ebenfalls in Berlin nieder. In den 1830er und 1840er Jahren, während Adolph Arnhold ein angesehener Bürger und mehrfacher Familienvater wurde, kam es in vielen jüdischen Gemeinden zu offenen Konflikten über das Ausmaß einer Modernisierung der jüdischen Religion. Die Notwendigkeit religiöser Reformen war weitgehend unumstritten, wollte man das Uberleben der jüdischen Religion im Zeitalter der Emanzipation sicherstellen. Mit dem Erlaß von neuen Synagogenordnungen, der Einführung der deutschen Predigt und der Konfirmation für jüdische Kinder waren bereits in den 1820er Jahren wichtige Reformen erfolgt, die der zeitgenössischen christlichen Praxis einige äußere Merkmale endehnten. 49 Über die Fragen der Zulässigkeit einer rationalen Kritik der Offenbarung und der Historisierung der schriftlichen Quellen des Judentums kam es im folgenden zur Herausbildung vier unterschiedlicher religiöser Ideologien, die als neoorthodoxe, gemäßigte, liberale und radikale Reform bezeichnet werden können. Je nach Ideologie ergaben sich weitreichende Konsequenzen für die künftige Verbindlichkeit der Gesetzesvorschriften. Das Spektrum reichte hier von der Forderung nach einer unverändert strengen Observanz aller Bestimmungen bis zur Einschätzung, daß es sich bei den meisten Gesetzen um primitive und überholte Überlieferungen einer vergangenen Zeit handle. 50 Das Angebot unterschiedlicher, ja widerstreitender Reformansätze, über deren Zulässigkeit zudem kein zentrales religiöses Oberhaupt zu urteilen hatte, brachte zwangsläufig eine stärkere Individualisierung religiöser Überzeugungen und Praktiken und einen größeren Einfluß der Laien mit sich. Innerhalb der einzelnen Gemeinden wurden die Konflikte zwischen den Anhängern der unterschiedlichen Richtungen vor allem bei Neubesetzungen der Rabbinate ausgetragen. Fast alle Rabbiner waren zu dieser Zeit akademisch vorgebildet und bekannten sich mehr oder weniger eindeutig zu einer bestimmen Reformrichtung. Hatte man in Dessau bei der Einführung der deutschen Predigt bereits eine gewisse Vorreiterrolle innegehabt, so zeigte die Gemeinde mit der Berufung des liberalen Religionsphilosophen Samuel Hirsch im Jahre 1839, daß sie sich dem Programm einer weitgehenden Reform weiterhin verpflichtet fühlte. Hirsch stieß aber bei einigen Gemeindemitgliedern auf so großes Mißtrauen und Ablehnung, daß er Dessau bereits 1841 wieder verließ. 51 Blieben die Verhältnisse in Dessau in den nächsten Jahren ungeklärt und das Rabbineramt unbesetzt, so führte in Berlin die Wahl von Michael Sachs, einem Vertreter der modernen Orthodoxie, zur Gründung einer radikal reformorientierten Laienbewegung. Unter Führung von Sigismund Stern wurde 1845 die Genossenschaft für Reform im Judenthum ins Leben gerufen. Ihre Initiatoren, die der intellektuellen Elite der Stadt entstammten, lehnten die Ritualgesetze ab und brachen auch in der Praxis ihres Gottesdienstes scharf mit der Tradition. Das Ziel Sterns war die Schaffung einer „deutsch-jüdischen Kirche", die alle Zeremonien und Gebräuche abwarf, die Juden von Nichtjuden trennte. Nach dieser radikalen Reform, so die Hoffnung Sterns, würde das Judentum im Staat einen gleichberechtigten Platz neben dem Christentum erhalten. 52 Die Berliner Genossenschaft sah sich nur als Anfang einer landesweiten Bewegung, der sich möglichst schnell weitere Reformgenossenschaften anschließen sollten. Um die Reformbewegung zu konsolidieren und zu kanalisieren, sollte eine gesamtdeutsche Synode über die Grundsätze einer modernen jüdischen Religion beraten. Zur Vorbereitung dieser Synode lud die Ber-
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liner Genossenschaft im April 1846 Vertreter von sieben Gemeinden, die mit ihren Ideen sympathisierten, zu einer Konferenz nach Berlin. Neben Breslau, Frankfurt am Main, Zülz, Soest, Luxemburg und Kulm hatte auch Dessau einen Deputierten, Adolph Arnhold, entsandt. Wie er der Konferenz mitteilte, bestehe augenblicklich in Dessau zwar noch keine Lokalgenossenschaft, ihre Gründung sei aber fest geplant.53 Die Konferenz beriet im folgenden über die Aufgaben der geplanten Synode und den Modus ihres Zusammentritts. Einzelne Mitglieder wollten bereits über Veränderungen im Gottesdienst und verschiedene religiöse Fragen beraten, was von anderen mit dem Hinweis abgelehnt wurde, man verfüge als Laienversammlung über keine entsprechende Kompetenz. Schließlich einigte man sich auf einige Empfehlungen an die Lokalgenossenschaften, die den Gottesdienst und die Abhaltung der sogenannten zweiten Feiertage betrafen. Adolph Arnhold nahm dabei eine vermittelnde Haltung ein. Die auf der Berliner Konferenz fest in Aussicht genommene Synode scheiterte aufgrund der fehlenden Unterstützung durch reformorientierte Rabbiner. Noch bevor die Reformbewegung insgesamt von den politischen Veränderungen der Revolution in den Hintergrund gedrängt wurde, erlahmte die Tätigkeit der lokalen Genossenschaften. Lediglich die Berliner Zentrale wurde als Berliner Rtformgemeinde weitergeführt und erst von den Nationalsozialisten beseitigt. Mit seiner Teilnahme an der Berliner Beratung hatte sich Adolph Arnhold als Verfechter einer radikalen Reform des Judentums und zugleich als einer ihrer führenden Köpfe erwiesen. Noch deutlicher wurde seine Haltung in seiner 1847 verfaßten Schrift Die Beschneidung und ihre Reform. Unmittelbarer Anlaß war der bereits erwähnte Tod seines Sohnes Felix im Mai 1846, also nur einen Monat nach seinem Berliner Aufenthalt: „Der unglückliche Ausgang der Beschneidung an meinem eigenen Kinde giebt mir das traurige Recht, diesen Gegenstand ausführlicher zu besprechen und allen Regierungen dringend an's Herz zu legen." In tiefer Trauer und in Sorge um weitere männliche Nachfahren warf Adolph Arnhold die Frage auf, ob die Beschneidung überhaupt „ein wesentliches Moment des Judenthums sei".54 Seine Überlegungen zur „Reform" der Beschneidung waren zweierlei. Zum einen waren sie in seinen eigenen Worten ein Beitrag zur „großen Reform, welche in unserer Zeit allmälig in der Kirche überhaupt, so wie im Judenthum insbesondere, zur Entwicklung kommen muß", 55 und zum anderen enthielten sie konkrete Vorschläge zur chirurgisch-hygienischen Verbesserung ihrer Handhabung. Anhand einer Erörterung der unterschiedlichen Deutungen der Beschneidung wollte Adolph Arnhold zeigen, „daß die Beschneidung in unsern gegenwärtigen Verhältnissen ihren Werth verloren habe, und daß kein vernünftiger Grund für Beibehaltung derselben mehr vorhanden sei."56 Die Beschneidung habe für die Israeliten ursprünglich die Bedeutung eines Nationalkennzeichens gehabt, jedoch nie religiösen Charakter besessen. Auf ihr weiter zu beharren, sei jetzt, da die Juden keine Nation, sondern nur mehr eine religiöse Gemeinschaft bildeten, überflüssig, wenn nicht sogar schädlich. Der Staat dürfe daher der reformerischen Richtung im Judentum nicht im Wege stehen und müsse den Zwang zur Beschneidung aufheben. 57 Aber auch in anderer Hinsicht sei der Staat gefordert, denn denjenigen Juden, die an der Beschneidung ihrer Söhne festhalten wollten, müsse künftig größere Sicherheit gewährt werden. So forderte Adolph Arnhold, daß die Beschneidung nur mehr von einem staatlich beaufsichtigten und geprüften Mohel vorgenommen werden dürfe. Zudem habe vor einer Beschneidung ein approbierter Arzt den Gesundheitszustand des Kindes zu überprüfen; auch bei etwaigen Komplikationen sei dieser sofort zu konsultieren. 58
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Die Schrift des Dessauer Arztes läßt sich in den Kontext eines breiten Diskurses stellen, der in den 1840er Jahren nach dem Beschluß der Frankfurter Reformfreunde entstand, die Beschneidung ihren Mitgliedern künftig freizustellen. Mit seinen Ausführungen zur möglichen Herkunft und zur religiösen Deutung der Beschneidung steuerte Adolph Arnhold wenig Neues bei, in der Frage ihrer weiteren Berechtigung war er jedoch von kaum übertroffener Radikalität. Selbst entschiedene Reformrabbiner wie Samuel Holdheim argumentierten hier wesentlich zurückhaltender.59 Zwei weitere Punkte verdienen an Adolph Arnholds Schrift hervorgehoben zu werden. Sie zeugt zum einen vom Bildungshorizont des Verfassers, der sich zu ihrer Abfassung nicht nur der einschlägigen Quellen und der bereits vorliegenden Abhandlungen bedient hatte, sondern auch auf mythologische Abhandlungen, Georg Forsters Reiseberichte, das Rotteck und Welckersche Staats-Lexikon und anderes mehr zurückgriff. Zum anderen fällt auf, wie stark Adolph Arnhold die von ihm gewünschte Reform der Beschneidung an eine Unterstützung von staatlicher Seite knüpfte. Er kündigte sogar an, in einer späteren Schrift „das Verhältnis des Staates zum Judenthum überhaupt ausführlich behandeln" zu wollen. 60 Innerjüdische Reformanliegen verbanden sich bei ihm mit der Hoffnung auf eine Änderung der staatlichen Judenpolitik, zu der der bürokratische Verwaltungsstaat aus eigener Initiative jedoch nicht bereit zu sein schien. Es bedurfte erst des Sieges der bürgerlich-liberalen Bewegung in den Revolutionsjahren 1848/49, um ein Ende der rechtlichen Sonderstellung der Juden in greifbare Nähe zu rücken. Verhielt sich die Mehrheit der deutschen Juden während der Revolution trotzdem konservativ-loyalistisch — das jüdische Wirtschaftsbürgertum schlug sich sogar häufig auf die Seite der bedrängten Monarchen — so fanden sich politisch aktive, häufig stark akkulturierte Juden wie Adolph Arnhold überwiegend auf selten der Liberalen und Demokraten.61 Der äußere, im folgenden grob skizzierte Verlauf der politischen Umwälzung in AnhaltDessau ähnelte dem vieler anderer deutscher Staaten.62 Unter dem Druck großer Volksversammlungen führte eine Petitionsbewegung zur gewaldosen Einsetzung eines liberalen „Märzministeriums". Diese neue Regierung unter August Habicht und August Köppe sah in der Einberufung eines Landtags und der Vorbereitung einer Verfassung ihre wichtigsten Aufgaben. Im Unterschied zu anderen Bundesstaaten verfügten jedoch die Demokraten in allen drei anhaltischen Herzogtümern über einen sehr großen Rückhalt in der Bevölkerung und waren bis zum Sommer 1849 die dominierende politische Kraft. Dabei konnten sie von einem äußerst freizügigen Wahlrecht profitieren, das ihnen die Mehrheit in allen Landtagen sicherte. Dementsprechend war das im Oktober 1848 sanktionierte Grundgesetz eine demokratische „Musterverfassung", die die Regierung in starke Abhängigkeit vom Parlament brachte, Volksabstimmungen vorsah und den Adel abschaffte, um nur ihre spektakulärsten Bestimmungen hervorzuheben. 63 Besonders großen Nachholbedarf hatte das Herzogtum Anhalt-Dessau bei seiner Judengesetzgebung. Zwar wurden die Juden seit 1846 nicht mehr mit dem entehrenden Begriff „Schutzjuden" bezeichnet, das Bürgerrecht konnten sie aber weiterhin nicht erwerben. 64 Bereits in ihrer ersten Adresse vom 9. März 1848 machten die Bürger Dessaus daher die „baldige, vollständige Gleichstellung der Israeliten mit den Christen in bürgerlichen Rechten und Pflichten" zu einer ihrer Hauptforderungen. 65 Der Herzog taktierte zuerst, kam aber schließlich nicht umhin, in seiner Bekanntmachung vom 14. März 1848 die unbedingte Emanzipation der Juden zu verkünden. 66 Das neue Ministerium erließ kurz nach seiner Berufung eine Ausführungsverordnung hierzu; auch in der späteren Verfassung fanden sich die entsprechenden Gleichstellungs-
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paragraphen. 67 Am 28. April wurden die Dessauer Juden als Bürger vereidigt und konnten sich damit zum erstenmal in lokalen und staatlichen Verwaltungsgremien engagieren. Auch Adolph Arnhold machte von diesen neuen Partizipationschancen reichlich Gebrauch: Er wurde zum Mitglied des Dessauer Gemeinderates gewählt und wirkte dort als stellvertretender Schriftführer sowie in der Kommission für das städtische Armenwesen; an den Verhandlungen der vereinigten Landtage von Anhalt-Dessau-Kothen nahm er zwar nicht als Abgeordneter, aber immerhin als Stenograph teil. Der Anfang 1849 neu eingerichteten Herzoglichen Medizinal-Deputation gehörte er ebenfalls an.68 Die Gleichstellung der Juden hatte zudem Konsequenzen für die Rechtsstellung der jüdischen Gemeinden. Sie wurden zu reinen Kultusgemeinden umgewandelt und unterhielten künftig keine gesonderte Armen- und Krankenverwaltung mehr. Zur Ausarbeitung eines neuen Statuts wählte die jüdische Gemeinde Dessaus ein vorläufiges Comite, dem Adolph Arnhold ebenso angehörte wie dem späteren fünfköpfigen Gemeindevorstand. 69 Politisch stand Adolph Arnhold auf selten der gemäßigten Demokraten. Bereits im Juni 1848, nach der Bekanntgabe des Verfassungsentwurfs, hatte er gemeinsam mit sechs weiteren, demokratisch gesonnenen Dessauer Bürgern ein Verfassungsfest organisiert, bei dem dem Herzog eine Dankesadresse überreicht wurde. 70 Ein Jahr später, nach der Ersetzung des Märzministeriums Habicht-Köppe durch ein konservatives Ministerium, unterzeichnete er eine an den Herzog gerichtete Petition, in der dem alten Ministerium das Vertrauen ausgesprochen und wenn auch erfolglos — um dessen Belassung im Amt gebeten wurde. 71 Auf die Dauer konnte sich nämlich das kleine Herzogtum der gegenrevolutionären Entwicklung in Deutschland und vor allem innerhalb des mächtigen preußischen Nachbarn nicht entziehen. Inspiriert und angeleitet von dem preußischen Hochkonservativen Ernst Ludwig von Gerlach gelang es der herzoglichen Partei nach und nach, wieder die Oberhand zu gewinnen. Der Weg führte von der Entlassung des Märzministeriums Habicht-Köppe im Juli 1849 über die Schließung des Landtags im Juli 1850 bis zur Aufhebung der Verfassung im November 1851 und wurde seit November 1850 durch die Einquartierung preußischer Truppen abgesichert. Mit dem Sieg der Reaktion wurden nicht nur die politischen Hoffnungen Adolph Arnholds zerstört, sondern auch die Situation der jüdischen Gemeinden erschwert. Zwar wurde trotz der Aufhebung der Verfassung die rechtliche Gleichstellung der Juden nicht beseitigt, sondern in der neuen Gemeinde-, Stadt- und Dorfordnung ausdrücklich bekräftigt. 72 Der Staat mischte sich aber verstärkt in die Belange der Gemeinden ein und oktroyierte in Dessau einen konservativen Rabbiner, um dessen Absetzung sich der Gemeindevorstand und damit auch Adolph Arnhold vergeblich bemühte. 73 Man kann hier eine Parallele zum staatlichen Vorgehen gegen die „freien Gemeinden" der Protestanten ziehen, die in Anhalt vor der Revolution starken Zulauf gefunden und sich mit der demokratischen Bewegung verbündet hatten.74 Religiöse Reformen jedweder Couleur erschienen den restaurativen Kräften als verdächtig und wurden als Nährboden der Revolution betrachtet. Auch die Verordnung, die Gemeindeverpflichtmg der Juden betreffend, mit der alle Juden verpflichtet wurden, der israelitischen Kultusgemeinde ihres Wohnortes anzugehören, fügt sich in dieses Bild.75 Das politische Leben in Anhalt erstarb. Sämtliche Vereine wurden überwacht, die politische Presse der Vorzensur unterworfen. Der Herzog regierte weiterhin in neoabsolutistischer Manier ohne Parlament und Verfassung. Erst 1859 wurde ein ständisch verfaßter Landtag für die drei anhaltischen Herzogtümer einberufen. Mit der Bestimmung, daß nur Männer christlicher Religion landstandsfähig seien, wurden die Juden dabei erneut diskriminiert.76 Auch ökonomisch
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verschlief das Herzogtum den Sprung in die Moderne. Landwirtschaft und Handwerk waren bis in die 1870er Jahre die bestimmenden Wirtschaftszweige, moderne Fertigungsbetriebe wie Maschinenfabriken und Eisengießereien entstanden erst zaghaft. 77 Am 10. Juni 1849 geboren, in einer Zeit des politischen Umbruchs, wuchs Eduard Arnhold in einem von politischer Repression und gesellschaftlicher Stagnation geprägten Klima auf. Genauso wie sein Vater besuchte er die Herzogliche Fran^schule, die allerdings seit 1849 nicht mehr der jüdischen Gemeinde unterstand und in eine staatliche Handelsschule für Schüler aller Konfessionen umgewandelt worden war. 78 Der Unterricht begann im Alter von zehn Jahren, dauerte insgesamt vier Jahre und war ganz auf die Bedürfnisse des künftigen Geschäftsmannes zugeschnitten. Großes Gewicht legte die Schule auf die perfekte Beherrschung von Deutsch, Französisch und Englisch. So wurde in den beiden obersten Klassen der Fremdsprachenunterricht nur mehr in der betreffenden Sprache erteilt. Nach Absolvierung der Schule sollte der „fleißige Schüler eine hinlängliche Gewandtheit besitzen, sich mündlich wie schriftlich ohne Anwendung des Diktionairs der französischen Sprache zu bedienen". 79 In den eigentlichen Handelswissenschaften wurde „Geschäftsstyl und Korrespondenz", „Buchhalten", „Waarenund Produktenkunde", „Enzyklopädie der Handelswissenschaften" und „Technologie" gelehrt. Mathematik, Geschichte und Geographie wurden ebenfalls, wenn auch vornehmlich unter kaufmännischen Gesichtspunkten behandelt. Alle Unterrichtsfächer standen somit unter dem Primat der Praxisnähe und boten darüber hinaus wenig geistige Anregung. Deutsche und französische Literatur wurde nur in gedrängten Abrissen vorgestellt und auch der Religionsunterricht konnte mit zwei Wochenstunden nur elementare Kenntnisse vermitteln. Interessierte Schüler „mosaischer Religion" verwies man daher auf die Kurse des Israelitischen Gymnasiums. Da Adolph Arnhold zusammen mit dem Kaufmann Woldemar Wolfsohn dieser gemeindeeigenen Religionsschule als Schulinspektor vorstand, 80 werden auch seine Kinder diese Kurse besucht haben. Eduard Arnhold erhielt an der Franzschule eine solide kaufmännische Ausbildung, die ihm die ersten Schritte seiner Karriere erleichterte. Inwieweit er in späteren Jahren den Mangel an formaler höherer Schulbildung als Defizit empfunden hat, läßt sich schwer beurteilen. Als Autodiktat verfügte er jedenfalls über beachtliche Fähigkeiten und eignete sich im Laufe der Jahre nicht nur eine breite Kenntnis der deutschen Klassiker an, von denen er, bei einer besonderen Vorliebe für Goethe, Lessing und Börne, 81 gerne Zitate in seine Reden einflocht, sondern war ebenso mit der kunsthistorischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte bestens vertraut. Im September 1863 Schloß Arnhold die Schule ab und trat eine Lehre bei dem Berliner Kaufmann Caesar Wollheim an. Wollheim hatte als Geschäftspartner der Oessauer Wollgarnspinnerei öfters in Dessau zu tun und lernte bei dieser Gelegenheit auch die Familie Arnhold kennen. Der Name Wollheim dürfte Adolph Arnhold aber schon zuvor vertraut gewesen sein: Ein Cousin von Caesar Wollheim, der Schriftsteller Anton Eduard Wollheim da Fonseca, hatte nicht nur gemeinsam mit ihm in Berlin studiert, sondern war als Byron zur selben Zeit wie er Mitglied des Tunnels über der Spree gewesen. 82 Zwischen Caesar Wollheim und Adolph Arnhold, die neben der gemeinsamen Konfession auch ein ähnliches Alter verband, entstand ein enges Vertrauensverhältnis. So bestellte Adolph Arnhold den Chef seines Sohnes nicht nur zu seinem Testamentsvollstrecker und Nachlaßkurator, sondern auch zum Vormund seiner Kinder, sollten die Eheleute Arnhold deren Volljährigkeit nicht mehr erleben. Diese Ämter hatte Caesar
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Wollheim gemeinschaftlich mit Ludwig Philippson wahrzunehmen, dem Dresdner Geschäftspartner von Max Amhold. 83 Bereits nach einem Jahr, im September 1864, folgte der Rest der Familie dem Zweitältesten Sohn Eduard nach Berlin und ließ sich in der Luisenstadt nieder.84 Offenkundig sah die Familie in Dessau keine Zukunft mehr für sich. Man verließ nicht nur ein politisch und ökonomisch rückständiges Land, sondern auch eine jüdische Gemeinde, die unter starker Abwanderung zu leiden hatte und deren Gemeindeleben damit immer schwieriger aufrechtzuerhalten war. 85 Dagegen verzeichnete Berlin seit der Jahrhundertwende einen beständigen Zuwachs an jüdischen Zuwanderem und wurde zur größten jüdischen Gemeinde Deutschlands. 86 Berlin war aber noch aus anderen Gründen für die Arnholds attraktiv. Beide Ehepartner hatte hier bereits längere Zeit ihres Lebens verbracht: Die in Berlin gebürtige Mathilde besaß starke familiäre Bande zur preußischen Hauptstadt, wo ihre Mutter und ihre Großmutter noch am Leben waren; ihr Mann verfügte hier seit seiner Studentenzeit über einen intellektuell anregenden Bekanntenkreis. Hinzu kam bei Adolph Arnhold der Wunsch nach einem beruflichen Neuanfang: Er gab den Arztberuf auf und arbeitete den Rest seines Lebens als Inhaber der Buchhandlung Leihbibliothek undJournal-Leihinstitut Fernbach u. Co. am Molkenmarkt 4 im Zentrum Berlins.87 Solange das Buch ein Luxusartikel blieb, dessen Erwerb sich nur einige wenige leisten konnten, war die kommerziell betriebene Leihbibliothek die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Autor und Publikum. Schätzungsweise 85—90 % des literarischen Publikums deckten Ende des 19. Jahrhunderts dort ihren Bedarf an Lesestoff; Belletristik wurde sogar fast ausschließlich über sie verbreitet.88 Alleine in Berlin gab es 1868 74 eingetragene Leihbibliotheken, in ganz Deutschland waren es nach einer Zählung aus dem Jahre 1865 etwas über 600.89 Auch in Dessau bestanden seit Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche Leihbibliotheken, die Adolph Arnhold mit Sicherheit kannte, insbesondere da einige von ihnen von jüdischen Familien geführt wurden. 90 Adolph Arnhold bewegte sich also in einem etablierten, aber stark umkämpften Geschäftszweig. Immerhin konnte er mit Fernbach u. Co. ein traditionsreiches Haus übernehmen, das vermutlich über eine feste Stammkundschaft verfügte. 91 Besaß der Leihbibliothekar auch nicht mehr das Sozialprestige wie noch in der Aufklärung und im Vormärz, so wechselte Adolph Arnhold doch in einen nach wie vor geachteten Beruf. Leihbibliotheken wurden keineswegs nur vom Kleinbürgertum aufgesucht; auch Schriftsteller, die „feinsten Damen" der Gesellschaft und selbst Bismarck bedienten sich dieses Service, so daß den Leihbibliotheken eine schichtenübergreifende „sozialintegrative Rolle" zugesprochen werden kann.92 Wie viele andere Leihbibliothekare spezialisierte sich Adolph Arnhold auf die Belletristik.93 Wollte er seine Kundschaft nicht an die Konkurrenz verlieren, mußte er dazu die jeweiligen literarischen Neuerscheinungen in mehreren Exemplaren anbieten und selbst Empfehlungen geben können. Als Leiter einer Leihbibliothek, der er später eine Buchhandlung hinzufügen sollte,94 bedurfte Adolph Arnhold also nicht nur kaufmännischer Kenntnisse sondern auch literarischen Fingerspitzengefühls. Auch der Tunnel über der Spree konnte Adolph Arnhold alias Galen wieder regelmäßig begrüßen. Er bekleidete jetzt sogar das Amt des Schatzmeisters und wurde damit zu einer der tragenden Stützen des Tunnels.95 Die große Zeit des Tunnels war freilich vorbei. Fontane hatte den Tunnel in den Jahren 1864/65 und 1865/66 gerade noch zweimal besucht, danach hielt er sich fem. Im Tunnel trafen sich aber weiterhin angesehene Bürger - Adolph Slaby, die Gebrüder Eggers und Ludwig Lesser seien hervorgehoben - mit weitreichenden Verbindungen in die Berli-
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ner Gesellschaft. Nach Adolph Arnholds Tod am 15. Juli 1876 würdigte ihn der Tunnel mit der traurig-biederen Sentenz: „Ein Stück der alten Zeit ging mit ihm dahin und die neue vermag für ihn keinen Ersatz zu bringen." 96 Adolph Arnholds Lebensweg fallt nicht aus dem Rahmen einer bildungsbürgerlichen Existenz im 19. Jahrhundert. Er zeugt aber von einer hohen beruflichen, geistigen und geographischen Mobilität. Als Arzt, literarischer Dilettant und Buchhändler in Dessau und Berlin war seine Bürgerlichkeit stets weniger materiell als kulturell begründet und fand ihren Ausdruck in seiner Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten und geselligen Vereinen. Als Jude beteiligte er sich aktiv an einer Neuformulierung jüdischer Identität in Deutschland, die das Judentum auf eine individuelle Glaubensüberzeugung reduzieren und alle Trennlinien zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern beseitigen wollte. Gleichwohl blieb er den Belangen der jüdischen Minderheit stets in Gruppensolidarität verbunden. Das väterliche Vorbild wurde von den Nachkommen weitgehend adaptiert und stiftete eine mehrere Generationen überdauernde Familientradition. Alle Söhne engagierten sich neben ihren wirtschaftsbürgerlichen Karrieren sowohl kulturell als auch karitativ. Eine aktive Teilnahme am gesellig-kulturellen Leben ihrer Umgebung wurde geradezu Bestandteil ihrer Identität. 97 Auch in Glaubensfragen war das Beispiel des Vaters verpflichtend. So ist von keinem der unmittelbaren Nachkommen Adolph Arnholds ein Austritt aus dem Judentum, eine Hinwendung zu zionistischen Idealen oder zu neoorthodoxen Uberzeugungen überliefert. Sowohl auf väterlicher als auch auf mütterlicher Seite konnten Eduard Arnhold und seine Geschwister auf eine Reihe von Vorfahren zurückblicken, die zum Establishment der jüdischen Gemeinden ihres jeweiligen Wohnortes gezählt hatten. Altere Familienbande werden demnach ihren Aufstieg ebenso erleichtert haben wie die Beziehungsnetze, die der Vater durch seine vielseitigen Interessen neu geknüpft hatte. Um ihre Aufnahme in das Bürgertum mußten sie jedenfalls nicht mehr kämpfen; vielmehr unternahmen sie als Mitglieder einer geachteten Familie und von einer relativ gesicherten Basis ausgehend den Aufstieg in die wirtschaftsbürgerliche Elite des Kaiserreichs.
2. Vom Lehrling zum Chef Caesar Wollheim erkannte schnell, daß seiner neuer Lehrling nicht nur über beträchtlichen Ehrgeiz, sondern auch über bedeutendes kaufmännisches Talent verfügte. Er betraute ihn mit heiklen und schwierig abzuwickelnden Geschäften, ließ ihm Sonderrevenuen zukommen und bezeichnete ihn bald als „meinen Jungen Mann". 98 Nach knapp zehn Jahren in der Firma wurde Arnhold Prokurist und 1875, im jugendlichen Alter von 25 Jahren, bereits Teilhaber. Als Caesar Wollheim 1882 starb, galt Arnhold als sein unumstrittener Nachfolger und künftiger Chef der Firma Caesar Wollheim,99 auch wenn die Witwe Wollheims und einer ihrer beiden Schwiegersöhne als Gesellschafter in die Firma eintraten. 100 Noch rapider als Arnholds Stellung bei Caesar Wollheim hatte sich der Geschäftsumfang der Firma selbst verändert. Ihr Gründer, 1813 oder 1815 als Sohn des Wollhändlers Samuel Wollheim in Breslau geboren, ließ sich 1840 in Berlin nieder. 101 Seine Berufsbezeichnung wechselte
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in den folgenden Jahren ebenso häufig wie seine Geschäftsadresse. Teils gleichzeitig, teils nacheinander arbeitete er als Kattunfabrikant, Generalagent einer Lebensversicherung und Inhaber eines Bankgeschäfts, handelte mit Textilien, Getreide, Kohlen und Metall. 102 Anfang der 1860er Jahre, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Arnhold seine Lehre bei ihm antrat, rückte jedoch der Handel mit oberschlesischer Steinkohle in den Mittelpunkt seiner Geschäftstätigkeit. Die Bilanz des Jahres 1863 wies bei einem Gesamtgewinn von 5 000 Thalern bereits 2 800 Thaler an Gewinn aus dem Kohlenhandel auf.103 Andere Geschäftszweige wie das Bankgeschäft und der Handel mit Metallen wurden von Wollheim noch bis in die 1870er Jahre beibehalten. Vor allem an der Berliner Börse blieb Wollheim, der waghalsige Geschäfte nicht scheute und als großer Spekulant galt, ein bekanntes Gesicht. 104 Der Zeitpunkt von Wollheims Einstieg in das oberschlesische Kohlengeschäft konnte kaum besser gewählt sein. Wie im Ruhrgebiet erfolgte auch in Oberschlesien in den 1850er Jahren der Aufbau leistungsfähiger Berg- und Hüttenwerke und damit der Durchbruch der modernen Schwerindustrie. 105 Anders als im zentral gelegenen Ruhrgebiet hing er in Oberschlesien wesentlich von der Gewinnung neuer, vom eigentlichen Revier weit entfernter Absatzmärkte ab. Da die Oder erst durch Kanalisierungsarbeiten Ende des 19. Jahrhunderts massengütertauglich wurde, spielten die Eisenbahn, deren Transportfähigkeit und Gütertarife eine zentrale Rolle bei der industriellen Entwicklung Oberschlesiens. Es war vor allem der preußischen Gewerbepolitik zu verdanken, daß innerhalb von zwanzig Jahren ein engmaschiges Liniennetz entstand, das Oberschlesien nicht nur mit der Mark Brandenburg und Berlin, sondern auch mit der Ostsee, den Provinzen Posen, West- und Ostpreußen und mit Wien, Krakau und Triest verband. 106 Die preußischen Ostprovinzen waren jedoch stark agrarisch geprägt und die nahegelegenen russisch-polnischen und österreichischen Absatzmärkte waren durch Zölle bzw. durch die Konkurrenz einheimischer Gruben versperrt. Die Hauptanstrengungen der oberschlesischen Steinkohlenproduzenten richteten sich daher seit den 1850er Jahren auf die Gewinnung des Berliner Marktes. Die Erleichterung des Kohlenabsatzes nach Berlin sei für das oberschlesische Revier „zur Lebensfrage geworden", resümierte bereits 1849 das Breslauer Oberbergamt und forderte staatliche Maßnahmen. 107 In Berlin wurde Steinkohle in dieser Zeit vor allem zur Koksherstellung und als Schmiedekohle gebraucht. Wichtige Abnehmer waren noch die beiden Gasanstalten, während die Privathaushalte bis in die 1860er Jahre die günstigeren Brennmaterialien Holz und Torf bevorzugten. 108 Den Berliner Markt beherrschte damals unangefochten die englische Steinkohle, die auf dem kostengünstigen Wasserweg über die Ostsee und Swinemünde antransportiert wurde. Erst als es aufgrund des deutsch-dänischen Konfliktes 1848/49 zur dänischen Seeblockade kam und die englischen Lieferungen ausblieben, faßte die oberschlesische Steinkohle in Berlin Fuß. Auch in der Folgezeit waren es vor allem politische Ereignisse, die den Import der englischen Steinkohle erschwerten und der oberschlesischen Steinkohle damit größere Marktanteile bescherten: 1854—56 die Beteiligung Englands am Krimkrieg und 1864 der deutsch-dänische Krieg. 109 Der Wunsch der Berliner Großverbraucher nach einer krisenunabhängigen Versorgung mit Steinkohlen leistete der oberschlesischen Kohle in diesen Jahren ebenso Vorschub wie ein Erlaß des preußischen Handelsministers, der einen sehr günstigen Eisenbahntarif für Steinkohlensendungen von Oberschlesien nach Berlin durchsetzte. 110 Der Handel mit oberschlesischer Steinkohle konnte demnach in Berlin auf steigendes Interesse der Verbraucher zählen und sich des Wohlwollens staatlicher Stellen und der Förderung der Grubenbesitzer sicher sein.111 Nahmen die
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oberschlesischen Steinkohlensendungen nach Berlin in den 1850er Jahren kontinuierlich zu, so errangen sie in dem Jahrfünft von 1860 bis 1865, just als sich Caesar Wollheim in diesem Geschäftszweig etablierte, die Vorherrschaft auf dem Berliner Markt: Der Marktanteil der englischen Steinkohle fiel von 57,4 % (1860) auf 20,6 % (1865), während der Anteil der oberschlesischen Steinkohle von 18,5 % (1860) auf 53,9 % (1865) zulegte. Allein im Jahr 1864 gingen die Lieferungen englischer Steinkohle um 200 000 t zurück; das waren 2/3 ihres bisherigen Absatzes.112 Diese Verschiebung der Anteile hatte über das Jahr 1865 hinaus Bestand, da wichtige Großverbraucher sich dauerhaft für die oberschlesische Kohle entschieden. In den 1880er Jahren schien die englische Steinkohle sogar zeitweilig ganz vom Berliner Markt zu verschwinden. Caesar Wollheim hatte also zur rechten Zeit eine Bedarfslücke erkannt und konnte sich binnen Kürze als wichtigster Händler oberschlesischer Steinkohle in Berlin etablieren. Dies gelang ihm nur, weil er zwei Geschäftspartner gefunden hatte, die sich langfristig an ihn banden. Der erste war der Geschäftsmann Emanuel Friedlaender, der 1853 in Gleiwitz die erste oberschlesische Kohlengroßhandlung überhaupt gegründet hatte.113 Friedlaender Schloß vor Ort umfangreiche Lieferungsverträge mit den Grubenbesitzern, brauchte aber verläßliche Partner an den wichtigen Verbrauchsplätzen, die den Kreis der Konsumenten betreuten und erweiterten. Sowohl in Wien als auch in Berlin installierte Friedlaender daher Handelsagenten. Sein Berliner Vertreter wurde Wollheim, der sein Geschäft anfangs ausschließlich als Kommissionär von Friedlaender betrieb. Aus dem ursprünglichen Abhängigkeitsverhältnis wurde nach einiger Zeit eine Partnerschaft, die bis 1875 Bestand hatte und vertraglich festlegte, daß Wollheim und Friedlaender den Großteil des Berliner Handelsgeschäfts auf gemeinsame Rechnung durchführten.114 Spätestens in den 1870er Jahren wurde Wollheim jedoch vom Partner zum Konkurrenten und baute seine eigenen Geschäftskontakte im Revier auf. Emanuel Friedlaender, der auch Grubenbesitzer war, geriet zudem während der Absatzkrise der 1870er Jahre in finanzielle Schwierigkeiten und mußte sein Geschäft beinahe aufgeben. Erst seinem Sohn Fritz gelang es, die Firma Emanuel Friedlaender & Co. wieder als ebenbürtige Rivalin von Caesar Wollheim zu etablieren. Im Ringen um den ersten Platz im oberschlesischen Kohlenhandel sollten Fritz Friedlaender (ab 1906: Fritz von Friedlaender-Fuld) und Eduard Arnhold als die Inhaber dieser beiden Unternehmen „häufiger im Leben den Degen" kreuzen.115 Noch wichtiger war die zweite Partnerschaft, die Wollheim einging und die auch Arnholds unternehmerisches Selbstverständnis entscheidend prägen sollte: Das Bündnis mit dem preußische Staat. Mit der Königsgrube und der Königin-l^uise-Grube war der preußische Fiskus selbst einer der größten Bergbauunternehmer im Revier, der sich von einer Produktionssteigerung seiner Gruben eine Anhebung der Staatseinnahmen versprach. Eine Absatzsteigerung des gesamten Reviers, also nicht nur der fiskalischen Gruben, kam wiederum der Rentabilität der Eisenbahnlinien zugute, die sich größtenteils bereits in staatlichem Besitz oder unter staatlicher Verwaltung befanden. Mit Anteilen von bis zu 75 % an der gesamten Frachtleistung war die Steinkohle zudem nicht nur das bedeutendste beförderte Massengut der Eisenbahn, sondern auch das wichtigste Feuerungsmittel ihrer Lokomotiven. 116 Alle Bestrebungen des preußischen Staates, den Absatz der oberschlesischen Kohle zu steigern, waren zwangsläufig gegen die englische Kohle gerichtet, die den nordöstlichen Teil der Monarchie bislang weitgehend konkurrenzlos versorgte. Mit den angeführten fiskalischen Argumenten ließen sich daher auch allgemein volkswirtschaftliche und politisch-militärische verknüpfen, die auf die Stärkung der einheimischen Wirtschaftskraft und die Importunabhängigkeit im Kriegsfall zielten.
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Um seine Ziele durchzusetzen und der oberschlesischen Kohle neue Absatzmärkte zu öffnen, standen dem preußischen Staat vor allem zwei Mittel zur Verfügung: Eine Senkung der Frachtpreise für lange Eisenbahnstrecken und großzügige Preisnachlässe für die Abnahme großer Kohlenkontingente aus seinen eigenen Gruben. Von beiden Angeboten sollte Caesar Wollheim reichlich Gebrauch machen. Seine ersten Kontakte mit den fiskalischen Gruben gingen vermutlich auf Emanuel Friedlaender zurück, mit dem er gemeinschaftlich Teile der Produktion der Königin-Luise-Grube vertrieb. Bereits 1864 galt Wollheim dem Oberbergamt Breslau als der wichtigste Berliner Kohlenhändler, „welcher in Verbindung mit dem Kohlenhändler Emanuel Friedlaender in Gleiwitz mit dem meisten Erfolge den Schlesischen Kohlen in Berlin Eingang zu verschaffen gewußt" habe.117 Allein von den beiden fiskalischen Gruben verkaufte Wollheim in diesem Jahr täglich rund 3 000 Zentner nach Berlin; das entsprach rund einem Sechstel des gesamten oberschlesischen Steinkohlenbezugs Berlins.118 Der Großteil dieser Kohlen war für die städtische Gasanstalt Berlins bestimmt. Gegen vier Prozent Provision und Vergünstigungen bei den Abfertigungskosten übernahm Wollheim auch in den Folgejahren dieses für die KöntginLuise-Grube wichtige Geschäft. 119 Zugleich spielte er die zentrale Rolle bei Überlegungen des Fiskus, in Erkner bei Berlin eine Umladestation von der Bahn auf die Spree zu errichten. Ziel dieser von Wollheim zu betreibenden Anlage sollte es sein, die am Wasser gelegenen Berliner Industriebetriebe, die bislang noch die per Schiff angelieferte englische Kohle bevorzugten, mittels Kahnanlieferungen für die oberschlesische Kohle zu gewinnen. 120 Seine Zuverlässigkeit stellte Wollheim während des deutsch-französischen Krieges unter Beweis, als er ohne Verzögerungen umfangreiche militärisch notwendige Kohlenlieferungen abwickeln konnte. Hierfür und für seine Verdienste um den Absatz der oberschlesischen und der fiskalischen Steinkohle im allgemeinen erhielt er 1872 den Titel des Kommerzienrats und 1877 den Kronenorden 4. Klasse.121 Handelsminister Graf von Itzenplitz hob anläßlich der Verleihung des Kommerzienratstitels lobend hervor, daß Wollheim nicht nur „einer der intelligentesten Kaufleute", sondern auch ein wichtiger Kunde der preußischen Staatsbahnen sei. So habe er trotz eines preisgünstigeren Angebots der privaten Berlin-Görlit^er-Bahn seine beträchtlichen Kohlentransporte (1870: 320 000 t, 1871: 390 000 t allein auf der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn) den staatlichen Eisenbahnlinien erhalten.122 Die durch die gemeinsame Stoßrichtung gegen die englische Kohle ideologisch untermauerte Geschäftsverbindung zwischen Staat und Händler überstand auch die Absatzkrise der zweiten Hälfte der 1870er Jahre. Das Uberangebot an Kohlen und der damit einhergehende Preisverfall stärkten dabei die Position Wollheims, der es geschickt verstand, staatliche Ressorts untereinander und staatliche gegen private Bergbauverwaltungen auszuspielen.123 So konkurrierte er bei den Submissionen für die Kohlenbezüge der staatlichen Eisenbahnen regelmäßig mit den fiskalischen Gruben und gab zum Teil überaus günstige Angebote ab, die von der Eisenbahnverwaltung schwer ausgeschlagen werden konnten.124 Obwohl sich die staatliche Bergbauverwaltung immer größeren Schwierigkeiten gegenübersah, die eigene Produktion abzusetzen, zögerte man, die privaten Anbieter, also vor allem Wollheim, bei der Submission der Eisenbahnkohlen auszuschließen. Die Direktion der staatlichen Niederschlesisch-Märkischen Bahn warnte 1878 nochmals vor diesem Plan, der „die Ablenkung bedeutender Kohlentransporte von unseren Linien auf die Concurrenzbahnen dringend befürchten lasse", wodurch „voraussichtlich ein Einnahmeausfall entstehen würde, welcher den dem Staat durch die erhöhte Verwendung fiscalischer Kohle erwachsenen Gewinn erheblich übersteigen würde. Die damaligen [bereits 1875
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vorgetragenen] Befürchtungen sind unseres Dafürhaltens auch heute noch in gleichem, wenn nicht gesteigertem Maße zu erheben und noch insbesondere die für den Berliner Kohlenmarkt, wie Ew. Excellenz bekannt, so bedeutende Firma Wollheim in erster Reihe in Betracht kommt." 125 Caesar Wollheim erhielt daher notgedrungen den Zuschlag für ein umfangreiches Kontingent, welches er von den Gruben des Grafen Henckel von Donnersmarck lieferte. Das Angebot von Emanuel Friedlaender solle dagegen, so die genannte Eisenbahndirektion in einem späteren Schreiben, nicht berücksichtigt werden, da dieser mit der privaten Berlin-Görlit^erBahn in naher Beziehung stehe.126 Andere staatliche oder unter staatlicher Verwaltung stehende Eisenbahnlinien wie die Oberschksische Eisenbahn und die Hinterpommersche Eisenbahn bezogen, vermutlich vor ähnliche Entscheidungen gestellt, in diesen Jahren ebenfalls einen bedeutenden Teil ihrer Steinkohlen von Caesar Wollheim. Kooperation und Konkurrenz mit Caesar Wollheim prägte auch den 1876 vom preußischen Staat unternommenen Versuch, seine oberschksische Steinkohle an der Ostseeküste einzuführen. Während die Königin-Luise-Grube dazu von Beginn an Caesar Wollheim als Kommissionär heranzog, bediente sich die Verwaltung der Königsgrube vorerst eigener Vertriebswege. Ihre ohnehin sehr günstigen Preise wurden aber in Stettin von einer anderen oberschlesischen Kohlengrube deutlich unterboten. Wie man schnell herausfand, stand hinter diesem Angebot niemand anders als Wollheim, der es offenkundig nicht goutierte, daß ihn die Königsgrube bei diesem Geschäft zu übergehen versuchte. 127 Im folgenden Jahr war Caesar Wollheim als einzige Handelsfirma zu einer Konferenz nach Fürstenstein eingeladen worden, um dort die Möglichkeiten eines überseeischen Exports der schlesischen Kohle in den gesamten Ostseeraum zu erörtern. „Mit Genehmigung der Versammlung" verbreitete sich der Vertreter von Caesar Wollheim dort ausführlich über die Chancen des Projekts.128 Die von ihm in die Diskussion eingebrachten Gesichtspunkte zeigen beispielhaft den Planungshorizont eines erfolgreichen Kohlengroßhändler, der in seine Überlegungen nicht nur die Markdage in Riga und Kronstadt, sondern auch die aktuelle Auslastung der englischen Frachtschiffe einbezog. So räumte er dem Plan geringe Chancen ein, solange der russisch-türkische Krieg nicht beendet sei. Aufgrund dieses Konflikts sei nämlich die Schiffahrt auf dem Schwarzen Meer unterbunden, was zu einer Unterbeschäftigung der englischen Reeder und zu Dumpingpreisen für englische Kohlenlieferungen geführt habe. Die angeführten Beispiele belegen, daß sich Caesar Wollheim bald nicht mehr auf die Kohlenversorgung Berlins beschränkte. Die Firma baute vielmehr Geschäftsverbindungen in den gesamten Osten der preußischen Monarchie auf und scheute auch vor risikoreichen Geschäften in Österreich, Rußland und auf dem Balkan nicht zurück.129 Umfangreiche Kohleneinkäufe sind in den 1870er Jahren von den Gruben der Grafen Henckel von Donnersmarck, Schaffgotsch und Ballestrem, der beiden Firmen Vereinigten Königs- und Laurahütte AG (Laurahütte) und A. Borsig'sche Bergbau- und Hüttenverwaltung (Borsig) sowie der Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche's Erben (Bergwerksgesellschaft Giesche) belegt. Die Beziehung zur Laurahütte, der man seit 1871 die gesamte zum Verkauf bestimmte Kohlenförderung abnahm, war besonders eng und sollte in späteren Jahren von Arnhold intensiv gepflegt werden. Das Geschäft zwischen Caesar Wollheim und den fiskalischen Gruben blieb ebenfalls für beide Seiten von großer Bedeutung. 130 Ende der 1870er Jahre war Caesar Wollheim eines der wichtigsten, wenn nicht bereits das wichtigste Handelshaus für oberschlesische Steinkohle. Schneller als andere hatte Wollheim begriffen, daß man in diesem Geschäft nur reüssieren konnte, wenn man es in ganz großem Stile
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betrieb. Nur durch die Abnahme großer Mengen, teilweise der gesamten Produktion, erhielt die Firma Caesar Wollheim von den Grubenverwaltungen die Preisvorteile zugesprochen, die es ihr ermöglichten, auch auf entfernteren Märkten mit anderen Kohlenrevieren zu konkurrieren. 131 Die Grubenverwaltungen bevorzugten ihrerseits Großabnehmer wie Caesar Wollheim, die ihnen größere Planungssicherheit garantierten, und auch die Konsumenten wußten zu schätzen, daß die Firma Caesar Wollheim aufgrund des Umfangs der von ihr aufgekauften Kohlenmengen selten in Lieferschwierigkeiten geriet. Caesar Wollheim erwies sich damit sowohl als Käufer wie auch als Verkäufer als solider und verläßlicher Geschäftspartner. Hinzu kam, daß Wollheim „an beiden Enden seines Geschäfts Kredite zur Verfügung stellte: den Gruben, damit deren Förderung ein gewisses Gleichmaß erhielt, was Transport und Absatz erleichterte, und den Konsumenten, damit sie durch ein solches Entgegenkommen dem oberschlesischen Bergbau als Kunden gewonnen wurden und schon im Sommer Kohle abnahmen, die sie erst im Winter brauchten." 132 Caesar Wollheim wies demnach auch Züge einer Bank auf. Nicht ohne Grund bestimmte Wollheim daher testamentarisch, daß nach seinem Tod, bei der vertraglich fixierten Übernahme des Geschäftes durch seinen Sozius Arnhold, sein gesamtes investiertes Kapital vorerst in der Firma verbleiben solle, „da die Capitalkräftigkeit des Geschäfts dessen Prosperität mitbedingt." 133 Die allgemeine Konjunktur kam Caesar Wollheim ebenfalls zugute. Der Firmenaufstieg vollzog sich parallel zum Durchbruch der industriellen Revolution in Deutschland zwischen 1850 und 1873. Neben dem Eisenbahnbau und der Roheisen- und Stahlproduktion war der Steinkohlenbergbau ihr dritter Leitsektor und wies im Durchschnitt jährliche Zuwachsraten von 9 % auf.134 Der Hunger industrieller Abnehmer nach den „schwarzen Diamanten" schien unersättlich und ließ sie zum wichtigsten Energieträger werden. Selbst die Absatzkrise nach dem Gründerkrach 1873 schien Caesar Wollheim nicht nachhaltig geschadet zu haben. Der Absatz gestaltete sich zweifelsohne schwieriger, wurde von Caesar Wollheim aber durch mitunter riskante Geschäfte auf neuen Märkten wettgemacht. Die Rezession führte außerdem zu einer Marktbereinigung unter den Kohlenhändlern; kleine und mittlere Händler, sofern sie überhaupt überlebt hatten, gerieten jetzt in die Abhängigkeit der wenigen Großhändler. Das Machtpotential von Großhändlern wie Caesar Wollheim bekamen die Grubenverwaltungen zu ihrem Leidwesen immer stärker zu spüren: „Mit dem Herrn Wollheim ist das so eine Sache, so lange das Geschäft gut geht, braucht man ihn nicht, und wenn es schlecht geht, dann kann er auch nicht helfen, dann sucht er sich seiner Schlüsse zu entledigen." 135 Trotz dieses Lamentos des Verwalters der Borsig-Gruben über ein geplatztes Geschäft zwischen Caesar Wollheim und der haurahütte machten beide Grubenverwaltungen auch weiterhin Geschäfte mit der Firma Caesar Wollheim·, ganz ohne sie ging es demnach zu dieser Zeit nicht mehr. Neben geschickt gewählten Allianzen und großen finanziellen Ressourcen war der geschäftliche Erfolg von Caesar Wollheim vor allem ein Verdienst der beiden Firmenchefs Wollheim und Arnhold. Mit ihrer Risikobereitschaft und ihrem Verhandlungsgeschick gewannen sie die zur Expansion notwendigen neuen Kunden und Märkte. Der Anteil Arnholds am Erfolg der Firma war beträchtlich, läßt sich aber nicht exakt bestimmen. Die spärlichen Quellen deuten darauf hin, daß er schon in ganz jungen Jahren für Wollheim Börsengeschäfte abwickelte und auch größere Kohlengeschäfte eigenständig disponierte.136 Bereits als 23jähriger war sich Arnhold seiner Fähigkeiten so sicher, daß er von seinem Chef die Teilhaberschaft forderte, da er andernfalls sein eigenes Unternehmen gründen werde.137 Mit einem zweijährigen Aufschub wurde ihm
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dies 1875 von Wollheim konzediert und die Firma in eine Offene Handelsgesellschaft umgewandelt. 138 Danach schien sich Wollheim aus dem täglichen Geschäft langsam zurückzuziehen. Für Großkunden wie Borsig war Arnhold bereits 1877 der Ansprechpartner und auf der oben erwähnten Kohlenkonferenz in Fürstenstein war es niemand anders als Arnhold, der die Firma Caesar Wollheim vertrat und die weltwirtschaftlichen Zusammenhänge in die Diskussion einbrachte. Seinem jungen Kompagnon war Wollheim gleichermaßen ein väterlicher Freund wie ein geschäftliches Vorbild. Noch zwanzig Jahre nach Wollheims Tod würdigte ihn Arnhold als seinen „unvergeßlichen Freunde Wollheim", in dessen „genialen, weitblickenden Geiste" er die Richtschnur für seine eigenen Ziele gefunden habe.139 Mit seinem geschäftlichen Ziehvater teilte Arnhold auch die politische Einstellung - beide waren Anhänger der Nationalliberalen - und die Bereitschaft, wohltätige Zwecke zu unterstützen.140 Das enge Verhältnis zwischen Wollheim und Arnhold wurde dadurch begünstigt, daß Wollheim zwar drei Töchter, aber keinen Sohn hatte und auch seine Schwiegersöhne kein großes Interesse an der Firma zeigten. Hermine Wollheim heiratete Otto Feist, den Sohn eines Frankfurter Sektfabrikanten, und machte sich als Porzellansammlerin einen Namen. 141 Martha ehelichte den nicht näher bekannten Arzt Max Reichenhein und Else den langjährigen Direktor der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation {Agfa), Franz Oppenheim. 142 Angeblich wollte auch Arnhold in die Firma Caesar Wollheim einheiraten, holte sich von der dazu auserkorenen Tochter allerdings einen Korb, da er etwas unscheinbar gewirkt und „nach nichts" ausgesehen habe.143 Arnhold ging in diesen Jahren ganz in seinem Beruf auf. Andere Interessen, seien sie politischer, gesellschaftlicher oder künsderischer Natur sind aus diesem Lebensabschnitt nicht überliefert. Solange er sich nicht endgültig als Unternehmer etabliert hatte, schien dazu wohl das Geld, nicht aber die Zeit vorhanden zu sein. Weiterhin wohnte er, über den Tod des Vaters hinaus, in der elterlichen Wohnung in der Luisenstadt. Erst 1881 zog er ins Stadtzentrum und mietete das Parterre eines stattlichen Hauses in der direkt hinter dem Leipziger Platz gelegenen Voßstraße. 144 Der Anlaß für die Begründung des eigenen Hausstandes war seine Vermählung mit Johanna Arnhold, geb. Arnthal. Johanna Arnhold, am 14. Juni 1859 in Hamburg geboren und damit fast auf den Tag genau zehn Jahre jünger als ihr Gatte, stammte ebenfalls aus einer jüdischen Familie.145 Ihr Vater Jacob war 1839 von Kassel nach Hamburg gezogen, um dort gemeinsam mit seinem Bruder Gustav ein Kommissions- und Speditionsgeschäft zu führen. 146 Den spärlichen Informationen zufolge wird man die Arnthals dem mittleren bis gehobenen Wirtschaftsbürgertum zurechnen können. Jacob Arnthal starb allerdings bereits 1873 und hinterließ seiner Ehefrau Bertha, geb. Levy, neben der Tochter Johanna auch drei minderjährige Söhne, so daß sich die finanzielle Situation der Familie nicht einfach gestaltetet haben wird.147 Spätestens 1875 zog Bertha Arnthal nach Berlin, wo ein weiteres Familienmitglied schon seit längerem ein Wollkommissionsgeschäft betrieb.148 Wie sich Johanna und Eduard genau kennengelernt haben, ist nicht überliefert. Eine Bemerkung Wollheims deutet aber darauf hin, daß seine Familie Johanna Arnthal schon seit längerer Zeit freundschaftlich verbunden war. 149 Zum Eheleben der Arnholds liegen kaum Quellen vor. In den wenigen Bemerkungen, die sich dazu im „Gedenkbuch" finden, überwiegen die Topoi „Kameradschaft" und „Gefährte", die auf ein partnerschaftliches Verhältnis hindeuten.150 Von einer ehelichen Harmonie zeugen auch die überlieferten Briefe Eduards, in denen er bei längeren Auslandsaufenthalten seiner
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Gattin umfangreich und mit liebevollen Detailschilderungen über seinen Tagesablauf berichtete.151 Regelmäßig unternommene gemeinsame Reisen mochten ebenfalls zur Festigung der guten Beziehung beigetragen haben. Die Rollenverteilung innerhalb ihrer Ehe orientierte sich an der etablierten bürgerlichen Geschlechterordnung, in der dem Mann die Sphäre der Arbeitswelt und der Frau die familiäre Sphäre zugeordnet war. 152 Arnhold ließ seine Gattin jedoch an vielen seiner Interessen teilhaben. Die Wohltätigkeitspflege betrieben sie weitgehend gemeinsam und am Aufbau der Kunstsammlung war Johanna Arnhold ebenfalls beteiligt, wobei sie durchaus ihren eigenen Geschmack entwickelte. Auch geschäftliche und politische Themen wurden, wie verschiedene Briefe Arnholds bezeugen, innerhalb der Ehe nicht ausgespart. 153 Arnholds stehende Redewendung von der „regierenden Frau Gemahlin" kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Johanna Arnhold ihr Leben weitgehend in den Dienst ihres Mannes stellte. Wie bei anderen Ehefrauen der wilhelminischen Wirtschaftselite nahmen auch bei ihr repräsentative Pflichten einen großen Raum in ihrem Leben ein.154 Eine große Belastung der Ehe war die Nichterfüllung des vielfach überlieferten Kinderwunsches Johanna Arnholds. Möglicherweise stand die Unfruchtbarkeit des Paares bereits zu einem frühen Zeitpunkt fest, da es sich 1887 zur Aufnahme eines Pflegekindes entschloß. Bemerkenswerterweise setzten sich die Arnholds dabei über konfessionelle Schranken hinweg und nahmen ein evangelisches Kind auf, die 1883 in Lüdenscheid geborene Elisabeth Mulert. Aus dem Pflegevertrag, den Arnhold mit den leiblichen Eltern Schloß, geht hervor, daß es die Verhältnisse der Mulert'schen Eheleute nicht gestatteten „sämtlichen aus ihrer Ehe hervorgegangenen Kindern den Unterhalt zu gewähren und eine Erziehung angedeihen zu lassen, wie ihnen im Interesse der Kinder erwünscht ist". 155 Wer die Arnholds mit der Familie Mulert und deren Nodage bekannt gemacht hat, ist nicht überliefert. Möglicherweise stand die Aufnahme des dreijährigen Mädchens in Zusammenhang mit dem beginnenden Engagement der Arnholds im Berliner Wohltätigkeitswesen. 1899 wurde Elisabeth von Eduard Arnhold adoptiert und erhielt damit auch den Familiennamen ihrer Adoptiveltern. Ihre Adoptivtochter haben Eduard und Johanna Arnhold stets wie eine leibliche Tochter behandelt. Mit der Heirat und der Geschäftsübernahme markieren die Jahre 1881/82 Eckdaten der familiären und beruflichen Konsolidierung Arnholds. Der 32jährige Ehemann bezog ein neues elegantes Quartier, begann auf bescheidenem Niveau mit der Anlage einer später berühmten Kunstsammlung und wurde im Jahr darauf Chef einer gut eingeführten und höchst profitablen Firma. Deren „Prosperität" beruhte, wie Caesar Wollheim richtig festgestellt hatte, zu einem wesentlichen Teil auf ihrer „Capitalkräftigkeit". Diese Kapitalkraft konnte sein Nachfolger Arnhold noch nicht mit eigenen Mitteln sicherstellen. Wollheim ließ daher sein in die Firma investiertes Kapital auch nach seinem Tode im Geschäft. Zehn Jahre räumte er seinem Juniorpartner ein, um finanziell auf eigene Füße zu kommen. Danach sollte die Firma in Caesar Wollheims Nachfolger umbenannt, sein Kapital der Firma entnommen und seinen Erben ausbezahlt werden. Arnhold wirtschaftete also vorerst nicht mit seinem eigenen, sondern mit fremden Kapital, das er den Erben Wollheims zu verzinsen hatte. Falls das Geschäftsergebnis keine ausreichende Verzinsung garantierte, hatten die Erben das Recht, die Liquidierung der Firma oder die Auszahlung ihres Kapitals zu verlangen. 156 Die Art und Weise, mit der Arnhold diese Auflagen erfüllen und die weitere „Prosperität" der Firma gewährleisten sollte, lag jedoch allein in seiner Hand.
II. Zwischen Metropole und Revier
Metropole und Revier waren die beiden Pole, zwischen denen das berufliche Leben Arnholds oszillierte. Berlin, das administrative, politische, finanzielle und kulturelle Zentrum PreußenDeutschlands einerseits, und das oberschlesische Industriegebiet, ein gesellschaftlich rückständiger industrieller Ballungsraum an der äußersten Peripherie des Deutschen Reiches andererseits. Beide topographischen Begriffe kennzeichnen zugleich ein Spannungsfeld, in dem es unterschiedlicher Methoden bedurfte, um unternehmerisch zu reüssieren. Vereinfacht gesprochen stand im „Revier" das unmittelbare Geschäft mit den oberschlesischen Bergwerksverwaltungen im Vordergrund, während es in der „Metropole" durch Allianzen und Absprachen mit den dortigen Entscheidungsträgern aus Staat und Privatwirtschaft die Rahmenbedingungen für den geschäftlichen Erfolg zu optimieren galt. Das dafür zur Verfügung stehende Instrumentarium reichte von der direkten Geschäftsbeteiligung an anderen Unternehmen über die Mitarbeit in Sachverständigengremien und Aufsichtsräten bis hin zur Pflege informeller Kontakte. Mit der Entscheidung, den „Unternehmer" Arnhold ins Zentrum zu stellen, soll die Gleichrangigkeit dieser Handlungsebenen unterstrichen werden. Obwohl sich der Begriff des Unternehmers einer allgemein verbindlichen Definition bislang entzogen hat, besteht in der Forschung doch weitgehende Einigkeit darüber, daß der Unternehmerbegriff gegenüber konkurrierenden Begriffen den Vorteil bietet, kein gewerbliches Betätigungsfeld auszugrenzen. Unter ihm lassen sich sowohl kaufmännische und industrielle Aktivitäten als auch Beteiligungen an Kapitalgesellschaften zusammenfassend erörtern. 1 Eine Untemehmensgeschichte im engeren Sinne ist dagegen nicht beabsichtigt, 2 auch wenn viele der unternehmerischen Aktivitäten Arnholds auf Caesar Wollheim bezogen blieben. Fritz Redlich, einer der Gründerväter der modernen Unternehmerforschung, hielt als Untersuchungsfelder einer Unternehmerbiographie die Themenkomplexe „Unternehmer und Geschäft", „Unternehmer und Volkswirtschaft" und „Unternehmer und Gesellschaft" für besonders geeignet. 3 An Redlich anknüpfend werden im folgenden zuerst die Grundzüge des oberschlesischen Steinkohlenhandels und damit der Kern von Arnholds unternehmerischer Tätigkeit vorgestellt. Anschließend sollen die privatwirtschaftlichen und öffentlich-rechtlichen Gremien, denen Arnhold angehört hat, und die Macht- und Einflußchancen, die sich mit diesen Mitgliedschaften und Netzwerken verbanden, untersucht werden. 4 Exemplarisch für die Verquickung wirtschaftlicher Interessen mit antisemitischen Angriffen wird die sogenannte „Kohlennot" des Jahres 1900 beleuchtet. Eine vorübergehende Verknappung des Rohstoffes Kohle sorgte damals für Ängste und Verärgerung unter den Konsumenten und rückte die beiden Großhandelsfirmen Emanuel Friedlaender