Edmund Burke: Vater Des Konservatismus? (Staatsverstandnisse) (German Edition) 3848771101, 9783848771103

Edmund Burke gilt als Vater des Konservatismus. Mit seinen Betrachtungen uber die Franzosische Revolution (1790) hat Bur

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German Pages 255 Year 2021

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Edmund Burke: Vater Des Konservatismus? (Staatsverstandnisse) (German Edition)
 3848771101, 9783848771103

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Thomas Lau | Volker Reinhardt | Rüdiger Voigt [Hrsg.]

Edmund Burke Vater des Konservatismus?

STAATSVERSTÄNDNISSE

Nomos

Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 150

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Thomas Lau | Volker Reinhardt | Rüdiger Voigt [Hrsg.]

Edmund Burke Vater des Konservatismus?

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© Titelbild: Edmund Burke, Künstler: J. Barry (Dublin National Gallery)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-7110-3 (Print) ISBN 978-3-7489-2564-4 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2021 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2021. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Animus Amici Memoriam

Hasso Hofmann (1934-2021), einem der großen deutschen Rechtsphilosophen Michael Stolleis (1941-2021), einem der großen deutschen Rechtshistoriker

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsden‐ ker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ im‐ mer wieder zurückzukommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitge‐ nössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Bei‐ trägen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräf‐ tiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Editorial – Understanding the State

Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and technol‐ ogy, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of great‐ er interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and chang‐ ed, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this se‐ ries focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection be‐ tween the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s involve‐ ment in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tar‐ nishes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary un‐ derstanding of the state? This series of publications does not only address this ques‐ tion to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informa‐ tively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Lau/Volker Reinhardt/Rüdiger Voigt Einleitung

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1. Burkes Verhältnis zur Revolution Volker Reinhardt Schattenkämpfe – Burke und die Französische Revolution

19

Ulrich Niggemann Burke und die englische revolutionäre Tradition

37

Skadi Siiri Krause Edmund Burke und das Erbe von Bürgerkrieg und Englischer Revolution

63

Thomas Lau „An Idea of Continuity“ – die sterbliche Nation des Edmund Burke

83

2. Burke – Ahnherr des Konservatismus Henning Ottmann Burke als Ahnherr des Konservatismus

113

Skadi Siiri Krause Was heißt liberal-konservativ? Entwicklungslinien des Liberalismus im 18. Jahrhundert

129

Michael Becker Burkes Kritik an der englischen Kolonialherrschaft in Nordamerika und Indien

149

3. Burke in der Sicht der modernen Ideengeschichte Norbert Campagna Freiheit, Vorurteile und Volkssouveränität bei Edmund Burke und Alexis de Tocqueville

175

9

Oliver Hidalgo Burke, Paine und die ideengeschichtliche Kontroverse über Demokratie und Menschenrechte

201

Jürgen Kamm Politik, Storytelling und die Verfassung als Große Erzählung bei Edmund Burke

215

4. Parlamentarische Demokratie und freies Mandat Rüdiger Voigt Parlamentarismus und freies Mandat

239

Autoren/Autorinnen

253

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Thomas Lau/Volker Reinhardt/Rüdiger Voigt Einleitung

„Ein Mensch, der sich durch die Oberfläche der Dinge hindurcharbeitet, kann vielleicht selbst irregehn, aber er bahnt dabei doch den Weg für andere, und vielleicht können selbst seine Irrtümer der Sache der Wahrheit dienen“.1

Edmund Burke (1729-1797) war der Sohn eines protestantischen Anwalts (solicitor) in Dublin. Seine Mutter, eine geborene Nagle, war katholisch. Die schwierige Situa‐ tion der katholischen Iren war ihm daher nur zu bewusst. Das „Königreich Irland“ besaß zwar ein eigenes Parlament, die katholische Mehrheitsbevölkerung hatte in ihm aber weder Sitz noch Stimme. Zudem war es in vielfacher Weise britischen In‐ stitutionen untergeordnet – ein Faktum, das zu erbitterten Auseinandersetzung zwi‐ schen den Iren und der Krone führte. Irland war eine hochkonfliktuelle Insel, und Burke fühlte sich ihr nach eigener Aussage im hohen Maße verpflichtet. Die leiden‐ schaftlich geführten Debatten um Selbstbestimmung und Diskriminierung, um Wi‐ derstand und Kooperation prägten ihn. Er kannte sie alle: die Streitigkeiten um die antikatholischen „Penal Laws“, die selbst den Gebrauch des Gälischen unter Strafe stellten, die Konflikte um eine mögliche Union mit Großbritanien, die sozialen Spannungen, die durch die Enteignungen der katholischen Iren entstanden waren. Edmund Burke studierte zunächst klassische Literatur und Geschichte am Trinity College in Dublin, wo er nach einer schwierigen Prüfung am 14. April 1744 aufge‐ nommen wurde und 1748 sein Examen machte. Im Jahre 1750 wechselte er dann aber an die Middle Temple University in London, wo er auf Wunsch seines Vaters Jura studierte. Sein Jurastudium schloss er allerdings nicht ab, so dass sein Vater ihm die finanzielle Unterstützung entzog. Stattdessen reiste er durch England und Frank‐ reich, schrieb für einen Buchhändler und überlegte, ob er in die Kolonien auswan‐ dern sollte. Mit dem Werk A Vindication of Natural Society veröffentlichte Burke 1756 – an‐ onym – sein erstes schriftstellerisches Werk, das ganz im Stil des Staatsmannes und Schriftstellers Lord Bolingbroke (1678-1751) geschrieben war.2 In der glänzend ge‐ schriebenen Satire rechnete Burke mit dessen deistischer Haltung ab. Interessant ist seine kritische Grundhaltung gegenüber Verfassungsentwürfen, die mit der Effizienz einer Maschine alle Probleme einer Gesellschaft zu lösen versprachen. Dabei war der Staat selbst doch das Problem. Wenn er über dessen Insuffizienzen schrieb, 1 Burke 1989 [1757]. 2 Manche Zeitgenossen meinten sogar, dass Lord Bolingbroke selbst der Autor dieses Werkes sei.

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klang Burke fast ein wenig wie der von ihm vehement kritisierte Jean-Jacques Rousseau (1712-1778): „Die ursprünglichen Kinder der Natur lebten mit ihren Brü‐ dern zusammen im Zustand der Gleichheit und bildeten eine natürliche Gesellschaft. Dann aber erfolgte der große Irrtum, nicht dabei stehenzubleiben, sondern nach mehr zu streben und zahlreiche Familien zu einer politischen Gesellschaft zusam‐ menzuschließen. Da die Natur kein vermittelndes Band dafür geschaffen hatte, so wurden Gesetze aufgestellt, und daraus gingen die verschiedenen Staaten hervor“. Deren Verfassungen hätten im Grunde nur eines gemeinsam – sie seien alle ge‐ scheitert. Nicht in kühl konstruierten Mechanismen, so verdeutlichte Burke seinem Leser, läge das Heil. Es läge vielmehr in der gemeinsamen Gottesfurcht, die den Menschen davon abhielt, ehrwürdige und geheiligte Institutionen zu zertrümmern. Diese mochten noch so viele Insuffizienzen aufweisen, sie waren doch die einzigen Dämme gegen die Flut der Anarchie. Ein Jahr später folgte sein erstes großes Werk: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. Burke analysierte hier ganz dem Zeitinteresse entsprechend psychologische Mechanismen und ließ die menschliche Furcht vor dem Erhabenen als kulturbildende Kraft hervortreten. Damit wurde Bur‐ ke nicht nur in England, sondern auch auf dem Kontinent bekannt. Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) soll so davon begeistert gewesen sein, dass er es ins Deutsche übersetzen wollte, und auch Denis Diderot (1713-1784) und Immanuel Kant (1724-1804) sollen immerhin beeindruckt gewesen sein.3 Burke entwickelt da‐ rin eine Psychologie der Ästhetik und Ansätze zu einer allgemeinen Psychologie der Gefühle.4 1757 heiratete er Jane Mary Nugent (1737-1812), die Tochter des irischen Arztes Dr. Christopher Nugent, der Burke behandelt hatte. 1761 wurde er Privatsekretär von William Gerard Hamilton (1729-1796), dem damaligen Schatzkanzler für Ir‐ land. Er folgte Hamilton nach Irland, als dieser Privatsekretär von Lord Halifax wur‐ de, ab 1761 Vize-König von Irland. Nach einem Streit mit Hamilton avancierte er 1765 zum Privatsekretär des erst 35 Jahre alten Premierministers Lord Rockingham. Dessen Vertrauen behielt er trotz der immer wieder erhobenen Vorwürfe gegen ihn, er sei ein verkappter Katholik und durch und durch korrupt. Überhaupt war er in London ausgezeichnet vernetzt. Er wurde Mitglied des literarischen Clubs in Lon‐ don von Dr. Samuel Johnson und erwarb sich dort höchste Anerkennung. Auch in der Freimaurerloge Jerusalem Lodge Nr. 44 fand er Aufnahme. Ab 1765 war Burke Abgeordneter in verschiedenen Wahlkreisen des britischen Unterhauses, wobei er le‐ diglich in seiner Zeit in Bristol sich offenen Wahlen stellen musste. Seine politische Macht fußte nicht auf einem unabhängigen Mandat, sondern auf den Diensten, die er mächtigen Förderern leistete – Förderern, von denen er auch finanziell abhängig 3 Strube 1989, S. 9. 4 Von Wyss 1966, S. 32.

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war. In ihrem Sinne verfasste er eine Reihe politischer Kampfschriften, schrieb un‐ zählige Briefe und hielt einflussreiche Reden. Burke war das Sprachrohr, die intel‐ lektuelle Vorzeigefigur der Whigs, die sich um Rockingham gescharrt hatten. Kon‐ frontationen mit dem politischen Gegner waren damit für ihn an der Tagesordnung, und diese trugen, vor allem im Zuge seiner Polemiken gegen die indische Kolonial‐ verwaltung, einen zum Teil erbitterten Charakter.5 Mit seinen Betrachtungen über die Französische Revolution (1790) hatte Burke eine schon zum Zeitpunkt der Publikation viel beachtete Stellungnahme erarbeitet, die durch die Reaktion Thomas Paines noch an Gewicht gewann. Viele Interpreten sind der Versuchung erlegen, hier die erste große Auseinander‐ setzung zwischen Liberalismus und Konservativismus zu postulieren.6 Da war auf der einen Seite Paine, der die Notwendigkeit sah, das Bestehende zu zertrümmern. Das Alte, das Verrottete, das System der Unnatur und des Unrechts war in den Au‐ gen Paines nicht reformierbar. Es musste und es konnte ersetzt werden, und zwar durch eine vernünftige Verfassung, die dem Menschen die Möglichkeit gab, das zu entwickeln, wofür die Natur ihn bestimmt hatte. Dass Burke dies anders sah und se‐ hen musste, hatte sich schon in seinen ersten Schriften angedeutet. Burke interpre‐ tiert den Staat als defizitäres Gebilde, geschaffen vom Mängelwesen Mensch und er‐ halten vor allem durch seine Furcht vor dem Zorn Gottes, wenn er dessen geheiligte Institutionen angreife. Während Paine an den Institutionen zweifelte, zweifelte Bur‐ ke am Menschen. Revolutionen waren für ihn gefährliche Experimente intellektuel‐ ler Abenteurer, die nichts besser, aber alles schlechter machten. Burkes Philippika wider die Revolution stellte die unumkehrbaren Zerstörungen, die sie angerichtet ha‐ be, in den Vordergrund. Alte Eliten würden durch neue ersetzt, die weit unberechen‐ barer und meist hoch korrupt seien. Die Religion ersetzten die Revolutionäre durch säkulare Spektakel des Erhabenen und ebneten damit den Weg für moralische Schrankenlosigkeit. Sicher, der Staat müsse Interessen wahrnehmen und kanalisie‐ ren, seine Eliten müssten zugänglich und kommunikationsfähig sein, sie müssten die Grenze des Machbaren akzeptieren. Die Unzufriedenen müssten auf der anderen Seite erkennen, dass Veränderung nur langsam vollzogen werden könne und ein Bruch mit der Tradition gefährlicher sei, als der Fortbestand oft ärgerlicher Miss‐ stände. Burke fasste diese Grundposition in ein vertragstheoretisches Modell: „so‐ ciety is indeed a contract (...) a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born”.7 Nach Burkes Auffassung stehen die Menschen also in einem Vertragsverhältnis mit ihrer Vergangenheit. Sie stehen in einem historischen Kontinuum, das bewahrt 5 Von Wyss 1966, S. 45. 6 Wecker 1981, S. 16. 7 Burke 1790.

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bzw. bei Bedrohung immer wieder hergestellt werden muss. Staat und Kirche sind historisch kontingente Einrichtungen, die nicht aus rationalen Kalkülen oder dem Naturrecht abgeleitet werden können. Die Gesellschaft ist hierarchisch gegliedert und bildet eine organische Einheit, die auf einem notwendigen Gleichgewicht zwi‐ schen den Prinzipien von Erhaltung und Verbesserung – Kontinuität und Erneuerung – beruht. Die staatlich verfasste Gesellschaft ist eine zivilisatorische Errungenschaft, dergegenüber natürliche Zustände keinesfalls erstrebenswert sind. Der Staat ist die geronnene historische Vernunft von Generationen von Men‐ schen, die in ihrem Bestreben, eine gute Ordnung zu gestalten, mindestens so ernst genommen werden müssen wie die Zeitgenossen. Der zentrale Begriff in Burkes Ar‐ gumentation ist das Erbe (inheritance), das sowohl die kollektive, historische Erin‐ nerung als auch die soziale Organisation umschließt, insbesondere jedoch die verfas‐ sungsrechtlichen Traditionen bezeichnet. Die Menschen und ihre gesellschaftlichen Institutionen sind historische Wesen, die dem „großen Geist der Veränderung“ unter‐ worfen und doch bei allem Wandel gleichbleibend sind. Eine organische Staatstheorie entwickelt Burke allerdings nicht. Der Staat ist für ihn kein beseelter Kollektivorganismus. Für eine romantische Rückschau vor allem auf mittelalterliche Herrschaftsverbände hat er nur Spott übrig. Sein Staatsbild ist auf die Ausbildung und das Selbstbewusstsein von Eliten fixiert, die er weniger als Virtuosen oder Genies denn als Mechaniker der Macht sieht, als geschickte Experten des Ausgleichs. Zudem sind seine theoretischen Ausführungen oft widersprüchlich, Definitionen scheut er. Als politisch wirkender Publizist und Abgeordneter war er Verhaltenserwartungen ausgesetzt, die sich laufend wandelten. Zudem wurde seine Argumentation wesentlich durch die rhetorischen Zwänge der Kampfdebatte ge‐ prägt, in der feine Zwischentöne kaum einen Platz hatten. Das Werk Burkes gibt da‐ her nur bedingt Aufschluss über das Denken des flexiblen Politikers, der sich vehe‐ ment für die Rechte der amerikanischen Kolonien, aber auch der katholischen Iren eingesetzt hatte. Der Einfluss Burkes auf den sich formierenden Konservativismus entfaltete sich denn auch relativ spät. Erst Leser des 19. Jahrhunderts meinten, Widersprüche kon‐ sequent ausblendend, in ihm einen politischen Propheten zu erkennen. Andere erer‐ kannten in ihm einen „Wegbereiter der organischen Staatslehre“ und einen „Vorläu‐ fer der deutschen Geschichtsphilosophie“.8 In konservativen Kreise Großbritanniens ist er bis heute intellektueller Referenzpunkt im Sinne einer wahrhaft britischen Ant‐ wort auf den kontinentalen Irrsinn.

8 Frank-Planitz 1987, S. 14.

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Burkes Einfluss auf die politische Theorie Was rechtfertigt heute die erneute Beschäftigung mit einem Autor und Politiker des 18. Jahrhunderts? Zum einen ist es die englische Geschichte, die sich gerade zu die‐ ser Zeit in einer Übergangsphase befindet. Aufklärung und Rationalismus scheinen allmählich von Romantik und Historismus abgelöst zu werden.9 Edmund Burkes Werke sind Zeugnisse dieses allmählichen Umbruchs. Er ist allerdings weder Histo‐ riker noch Philosoph, er legt auch keine neue politische Theorie vor. Vielmehr ist er ein an politischen Ereignissen, ihren Zusammenhängen und Folgen interessierter hochgebildeter Zeitgenosse. Burke ist eine interessante Persönlichkeit; er ist zweifel‐ los konservativ in einem altmodischen Sinne, und es gibt inzwischen – nicht zuletzt durch die Veröffentlichung seiner Korrespondenz – neues Material, das Aufschluss über Burkes politische Karriere gibt.10 Zudem hat jede Epoche ihr eigenes Verständ‐ nis der Ideen eines Staatsdenkers. Interessant erscheint insbesondere die Wirkungs‐ geschichte dieses irisch-britischen Schriftstellers. Unter diesem Blickwinkel werden in den folgenden Beiträgen Burkes Verhältnis zur Französischen Revolution, seine Bedeutung für die amerikanische Revolution, seine Rolle für den Konservatismus sowie sein Verhältnis zum Liberalismus untersucht. Den Abschluss bildet eine Be‐ trachtung Burkes aus der Perspektive der modernen Ideengeschichte. Die AutorIn‐ nen der Beiträge dieses Sammelbandes sind Historiker, Literaturwissenschaftler, Philosophen sowie Politikwissenschaftler und Politikwissenschaftlerinnen. Ihnen al‐ len liegt die Frage am Herzen, inwieweit Burkes Ideen für das gegenwärtige politi‐ sche System brauchbar sind.

Literatur Asbach, Olaf/Jörke, Dirk, 2019: Edmund Burke: Tradition – Verfassung – Repräsentation. Kleine politische Schriften. Berlin. Bromwich, David, 2014: The Intellectual Life of Edmund Burke. Cambridge/Mass. Burke, Edmund, 1989: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen [1757](übersetzt von Friedrich Bassenge, hrsg. von Werner Stru‐ be). Hamburg. Burke, Edmund, 1790: Reflections on the Revolution in France, And on the Proceedings in Certain Societies in London Relative to that Event. London. Burke, Edmund, 1987: Betrachtungen über die Französische Revolution. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich Gentz, hrsg. von Ulrich Frank-Planitz. Zürich. Doering, Detmar, 2009: Freiheit, Tradition, Revolution: Ein Edmund-Burke-Brevier. Zürich. Frank-Planitz, Ulrich, 1987: Edmund Burkes Leben und Wirkung, In: Burke 1986, S. 9-32. 9 Wecker 1981, S. 19. 10 Wecker 1981, S. 15.

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Gablentz, Otto Heinrich von der, 1957: Konservatismus. In: Ernst Fraenkel/Dietrich Bracher (Hrsg.), Staat und Politik. Neuausgabe. Frankfurt a.M., S. 170-173. Gentz, Friedrich von, 2016: Edmund Burkeʼs Rechtfertigung seines politischen Lebens. Nor‐ derstedt. Jones, Emely, 2017: Edmund Burke and the Invention of Modern Conservatism, 1830-1914. An Intellectual History. Oxford. Klunker, Christoph Kai, 2016: Beobachtungen zum heutigen Konservatismus in Deutschland. Eine Untersuchung nach Edmund Burke. Bern/Frankfurt a.M./Las Vegas. Norman, Jesse, 2013: Edmund Burke. Philosopher, Politician, Prophet. London. Scruton, Roger, 2003: Konservatismus oder Die Aktualität Edmund Burkes. In: Sezession, 3/2003, S. 14 ff. Skalweit, Stephan, 2013: Edmund Burke und Frankreich. Wiesbaden. Strube, Werner, 1989: Einleitung. In: Burke 1989, S. 9-32. Wecker, Regina, 1981: Geschichte und Geschichtsverständnis bei Edmund Burke. Bern/Frank‐ furt a.M./Las Vegas. Wyss, Walter von, 1966: Edmund Burke. Denker, Redner und Warner. München. Zimmer, Robert, 1995: Edmund Burke zur Einführung. Hamburg.

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1. Burkes Verhältnis zur Revolution

Volker Reinhardt Schattenkämpfe – Burke und die Französische Revolution

Der Text und sein Mythos Die Französischen Revolutionen – eine Zweiteilung für die Ereignisse von 1789 bis zum August 1792 und für die anschließende Eskalation bis zum Juli 1794 drängt sich anno 2020 in Anbetracht des Forschungs- und Wissensstands auf1 – polarisieren und provozieren, nicht zuletzt zu Aktualisierungen, zum Beispiel zur Frage, ob die Niederschlagung der Gegenrevolution in der Vendée ein Genozid war oder nicht.2 Wie weit die Forschung von einer Betrachtung, Bestandsaufnahme und Deutung sine ira et studio entfernt ist, zeigt sich kurioserweise sogar in Editionen, die doch eigentlich ein Muster an Zurückhaltung vonseiten des auf eine rein dienende Funkti‐ on beschränkten Herausgebers sein sollten. Die als «maßgeblich» ausgegebene Edi‐ tion von Edmund Burkes «Reflections on the Revolution in French» durch den briti‐ schen Historiker J.C.D. Clark3 aber ist das schiere Gegenteil, nämlich der durch und durch emotional eingefärbte Versuch, einen mehr als zweihundert Jahre alten, hoch‐ polemischen, komplexen politischen Zwecken und Strategien untergeordneten Text zumindest im Kern zu einer ewiggültigen Analyse, ja mehr noch: zu einer visionären Zukunftsschau4 und damit zu einem monumentum aere perennius zu erheben: durch die Reduzierung des Forschungsstands auf eine Selektion ideologisch genehmer Ti‐ tel und die Ausblendung «unpassender» Fakten, die bei Bedarf passend gemacht werden. Vom bloßen Interpreten der Geschichte zum Geschichts-Seher aber wird Burke durch die den Historikern gesetzmäßig abgehende, ihm aber in höchstem Ma‐ ße zugeschriebene Fähigkeit, im schwer durchschaubaren Getriebe der Gegenwart die Keime des Neuen zu erkennen, also die weitere Entwicklung der Ereignisse vor‐ auszusagen. Diese Zuschreibung quasi prophetischer Fähigkeiten an den wortmächtigen an‐ gloirischen Politiker-Historiker in der Neuausgabe seines zu Allerheiligen des Jahres 1790 erschienenen Buches ist längst zu einer fixen Tradition geronnen, in Deutsch‐ land vor allem durch die überaus einflussreiche Übersetzung von Friedrich Gentz. 1 Vovelle 1999; Bertaud 2004; Woronoff 2004; Dupuy 2005; Biard/Bourdin/Marzagalli 2009; Le Bozec 2014; Jourdan 2018. 2 Vgl. Patrick 2000; Martin 2019. 3 Burke 2001: Introduction, S. 23-111; die einseitige Bibliographie S. 125-140; in den Anmerkun‐ gen konkret herangezogen fast nur englischsprachige Literatur. 4 Pars pro toto: Burke 2001, S. 65, 77-79.

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Dadurch wurde Burkes Revolutions-Abhandlung zu einem Grundbuch des europä‐ ischen Konservatismus, ja in diesen Kreisen sogar zu einer quasi sakralen Proklama‐ tion eines überzeitlich gültigen «Wehret den Anfängen!» und somit ein Bollwerk ge‐ gen Geschichts-Verunglimpfung, Tabula-rasa-Machen mit allem historisch Gewach‐ senen, Glauben an chiliastische Neubeginne auf der Grundlage geometrisch konstru‐ ierter Gleichheiten und, als Heilmittel gegen diese fatalen Zerstörungen generatio‐ nenübergreifender kollektiver Weisheiten, zu einem Thesaurus der Rückbesinnung auf gültige Traditionen, die nur in Notstandssituationen behutsam modifiziert wer‐ den dürfen.5 Die Aura des Visionären, die dem Text eine kanonische Autorität verschaffen sollte, wurde vom Verfasser selbst sorgfältig konstruiert und gepflegt. Burke schloss sein Manuskript Anfang September 1790 ab; die letzten darin eingearbeiteten Ereig‐ nisse sind auf Ende August dieses Jahres zu datieren, beziehen sich also auf eine his‐ torische Ereigniskette von etwa sechzehn Monaten, von der Einberufung der Gene‐ ralstände im Mai 1789 an gerechnet.6 Diese relativ kurze Zeitspanne aber firmiert in der Revolutionsforschung, zumindest in deren mainstream,7 als eine Phase überwie‐ gend friedlicher Entwicklungen und hoher Erwartungen – ein Tableau, das nur durch die ebenfalls großen Ängste, die grande peur, eingetrübt wird.8 Diese kollektive Un‐ ruhe der kleinen Leute, die sich ab Juli 1789 überwiegend auf dem Land, aber teil‐ weise auch in der Stadt manifestierte, wurde von alten und neuen Faktoren gleicher‐ maßen geschürt: von der Furcht vor Hungersterben, durch Angst vor marodierenden Räuberbanden, aber auch vor einer Revanche des Feudaladels, dem seit dem Früh‐ jahr in immer größerem Ausmaß die üblichen Abgaben verweigert wurden. Die da‐ raus entstehenden Unruhen führten zu Gewalt gegenüber Sachen – Schlösser einzel‐ ner besonders verhasster Aristokraten und vor allem Archive mit Urkunden zu Ge‐ fällen und Steuern wurden zerstört -, kaum aber gegen Personen.

Apologie und Dämonisierung Davon abgesehen aber erregten diese ersten Monate der politischen Umgestaltung in Frankreich in weiten Kreisen der europäischen Intellektuellen bekanntlich einen schier grenzenlosen Enthusiasmus, von dem sich Burkes geradezu apokalyptisch eingefärbtes Manifest umso auffallender abhob. Wer beim Erscheinen seines Textes seinen Thesen folgte, musste die Schar der Revolutions-Bejubler wahlweise für heil‐ los naiv oder zutiefst korrupt halten; im besten Fall waren sie in ihre eigenen ab‐ 5 6 7 8

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Vgl. Hilger 1960; von Wyss 1966; Ganzin 1972; Freeman 1980; Wecker 1981. Basisliteratur zu Autor und Werk: Ayling 1990; Dwan/Insole 2012; Bourke 2015. Vgl. Vovelle 1999. Dazu immer noch benutzbar der Klassiker: Lefèbvre 1932.

strakten Thesen verliebte weltfremde Theoretiker, im schlimmsten subversive Sym‐ pathisanten, denen schleunigst das Handwerk zu legen war, um einen Flächenbrand zu verhindern: «Als die Wiedertäufer von Münster im 16. Jahrhundert Deutschland durch ihr System der Gleichmacherei und ihre wüsten Ansichten zum Eigentum in Verwirrung gestürzt hatten, waren alle Länder Europas zurecht vom Fortschritt ihres Wütens alarmiert. Von allen Dingen ist Klugheit am stärksten durch die epidemische Ausbreitung von Fanatismus be‐ droht […]. Wir können daher den Geist des atheistischen Fanatismus nicht ignorieren, der von so vielen, mit unglaublicher Hartnäckigkeit und ebensolchem Aufwand verbrei‐ teten Schriften und öffentlichen Predigten auf den Straßen und Plätzen von Paris befeuert wird».9

Für Burke war die Revolution in Frankreich somit eine Erschütterung mit weitrei‐ chenden Folgen für ganz Europa und speziell England – alles, was in den «Reflec‐ tions» mit enormem rhetorischem Aufwand und zahllosen Details ausgeführt wird, ist letztlich Pro domo-Argumentation nach dem Muster: England hatte und hat es besser, der Grundfehler der französischen Revolutionäre ist es, nicht von England lernen zu wollen, das doch probate Muster für eine sinnvolle Reform der sozialen und politischen Verhältnisse in Frankreich zu bieten gehabt hätte und ein solches Po‐ tential auch weiterhin aufweist: «Sie hätten, hätten Sie nur gewollt, von unserem Beispiel profitieren können und hätten so Ihrer zurückgewonnenen Freiheit die angemessene Würde verleihen können […]. Sie hatten alle diese Vorteile in Ihren alten politischen Verhältnissen, aber Sie zogen es vor, so zu handeln, als ob Sie nie zuvor eine zivilisierte Gesellschaft gebildet hätten und so alles bei Null wiederzubeginnen hätte».10

Beschreibung und Analyse der französischen Vorgänge dienen damit letztendlich einem Vergleich, der in eine Apologie des britischen Politik- und Gesellschaftssys‐ tems mündet. Die Lage auf der anderen Seite des Kanals wird dementsprechend aus einer doppelten Perspektive wahrgenommen: Der französische «Absolutismus», der in England mit der Glorious Revolution von 1688/89 überwunden wurde, ist Anfang 1789 am Ende, und zwar durch historische Materialermüdung. Diesem Ende durch Altersschwäche entsprechend fällt Burkes Fazit zu den wirtschaftlichen, gesell‐ schaftlichen und politischen Zuständen aus: Vieles ist anachronistisch, doch ist das große Ganze weit von einer Tyrannei entfernt, König, Königin und Adel sind von mildem Reformgeist beseelt und im Kern gut, alles ist also heilbar und im Einzelnen reparabel. Die Forderung des Tages würde also lauten, nach britischem Vorbild im Geist von Ehrfurcht vor der Geschichte und Respekt vor ihren Hervorbringungen eine behutsame Umgestaltung ins Auge zu fassen, die an den Geist der laut Burke

9 Burke 2001, S. 324. 10 Burke 2001, S. 185-187.

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im Schoße der Geschichte schlummernden französischen Ur-Konstitution anknüpft und zu einer Machtbalance nach englischem Vorbild führen würde. Diese Verfassung zu rechtfertigen, ist die raison d’être der «Reflections», und dieser alles beherrschenden Zweckausrichtung entsprechend wird die Darstellung Frankreichs vor und während der Revolution nahtlos angepasst. Dabei kommt es zu einer Abstoßung aufgrund zu großer Nähe – Burke verzerrt die Vorgänge in Frank‐ reich ins Monströse, weil sie in vieler Hinsicht auf britische Verhältnisse plus eine Modernisierung im Geist der Aufklärung hinauslaufen, die Burke als ein Hauptver‐ treter der englischen Oligarchie als Gefährdung der eigenen Stellung und des von diesem System profitierenden Zirkels zutiefst missbilligt und daher mit allen Mitteln bekämpfen muss. Das wirkungsvollste Mittel zur Erreichung dieses Zieles aber be‐ steht darin, die zwischen Mai 1789 und August 1790 vollzogenen Schritte zur Um‐ wandlung Frankreichs aus einer in der Theorie unbeschränkten Monarchie zu einer konstitutionellen Monarchie von Anfang an als ein fanatisiertes, radikalisiertes und damit terroristisches Unterfangen einer verbrecherischen Clique atheistischer Philo‐ sophen und neidisch-gieriger Financiers zu diskreditieren. Mit anderen Worten: die Neigung zum menschenverachtend Totalitären, deren schon jetzt unaufhaltsame Steigerung an zentralen Stellen der «Reflections» im raunenden Orakelton beschwo‐ ren wird, ist für Burke von Anfang an in der scheinbar noch so harmlosen Ereignis‐ kette angelegt, ja geradezu die Keimzelle der ganzen Revolution. Beide eng mitein‐ ander verzahnte Thesen gilt es im Folgenden aus dem Text heraus zu belegen. Bei der Analyse dieses Prozesses, in dem Burke aktuelle Informationen aus Frankreich zu einem komplexen und weitreichenden Manifest zur englischen und europäischen Politik verarbeitet, den Wissensstand der Gegenwart zum Maßstab zu nehmen, wäre auf groteske Weise anachronistisch. Um die dabei vorgenommene ideologische Instrumentalisierung abschätzen zu können, dürfen naturgemäß nur die Quellen zugrundegelegt werden, die der Verfasser nachweislich benutzt hat bzw. ihm problemlos zugänglich gewesen wären. Dieser Nachrichtenstand ist durch die Forschungen der letzten Jahrzehnte genügend bekannt, um ermessen zu können, wie er in den «Reflections» ausgewertet oder besser: verwertet wurde.11 Diese konse‐ quente Perhorreszierung der Vorgänge in Frankreich ist aufs Engste mit dem Faktor Religion und Kirche verknüpft - die konservativen Historiker des 19. Jahrhunderts werden diese Thesen schon bald zu einem kompakten Verschwörungsmodell aus‐ weiten und zusammenfügen:12 Demnach haben sich die gottlosen Philosophen und ihre Adepten zur synchronen Vernichtung von Glauben, Monarchie und natürlicher Ordnung zusammengetan, ihre Götter waren Voltaire, Diderot, Rousseau und Mably, die samt und sonders vor 1789 das Zeitliche gesegnet haben, aber mit ihren zerstöre‐ rischen Ideen die Revolution dominieren. Damit gehen De Maistre und seine Gesin‐ 11 Vgl. Anm. 1. 12 Lebrun 1988; Klinck 1996.

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nungsgenossen ein gutes Stück über Burke hinaus, denn für diesen war der Vernich‐ tungswille der «Philosophensekte» immerhin nur ein destruktives Element unter an‐ deren, allerdings ein wichtiges. Für Burke waren die tonangebenden Vordenker der französischen Aufklärung, deren Namen bezeichnenderweise – Gipfel der Verach‐ tung! - nicht genannt werden, durch die Bank Atheisten, die ihre amoralische Gottlo‐ sigkeit zum allein herrschenden System erheben und damit die Hoheit über Kopf, Herz und Gemüt des Volkes gewinnen wollten – ohne zu sehen, dass sie damit den Ast absägten, auf dem sie selber saßen: «Die Verschwörung der Literaten hatte seit geraumer Zeit einen regelrechten Plan zur Zerstörung der christlichen Religion entworfen. Dieses Ziel verfolgten sie mit einer wah‐ ren Besessenheit, den man zuvor nur bei den Wortführern religiöser Sekten festgestellt hatte. [ ] Diese Väter des Atheismus haben eine ganz eigene Art von Heuchelei, und sie haben gelernt, gegen die Mönche mit dem Geist der Mönche zu sprechen».13

Ohne eine von Herrschenden wie Volk tief internalisierte christliche Religion sind Gesellschaft und Staat laut Burke zur Auflösung verdammt, Atheismus steht für menschenverachtende Anarchie. Dabei ist laut Burke nicht einmal entscheidend, welche christliche Konfession das Sagen hat, die anglikanische, reformierte, lutheri‐ sche oder katholische. Ausschlaggebend ist, dass ohne Religion und Kirche Moral und Ordnung binnen kurzem verkümmern müssen, weil mit ihnen jegliche Art von Autorität zugrunde geht. Ob innerweltliche Tugend ohne transzendenten Bezug denkbar ist und eine Gemeinschaft von Menschen ohne Gottesglauben moralisch handeln kann, waren Dauer-Diskussionsthemen des 18. Jahrhunderts; auf diese Fra‐ gen eine abschlägige Antwort zu geben, fiel keineswegs aus dem europäischen Mei‐ nungsspektrum heraus, im Gegenteil – die Skepsis gegenüber der Denkfigur des tu‐ gendhaften Atheisten war weit verbreitet, vor allem in Deutschland. Die bewusste Abweichung von den historisch eruierbaren Fakten, die Burke hier vornimmt, liegt im Begriff Atheismus selbst beschlossen. Literaten und Philosophen, die in engem Anschluss an die Atomisten der Antike die Existenz eines Schöpfergottes bestritten und die Entstehung der Welt wie die Seele des Menschen aus der Materie allein ab‐ leiteten, bildeten im Frankreich der Aufklärung eine verschwindend kleine Minder‐ heit, deren Ideen über diese elitäre Zirkelbildung nicht wesentlich hinausdrangen. Für die tonangebenden Intellektuellen im Umkreis der Encyclopédie und Voltaire, den einflussreichsten Publizisten der Aufklärung überhaupt, stand völlig außer Fra‐ ge, dass das Volk einer Religion bedurfte, die ihm die Regeln einer geläuterten Mit‐ menschlichkeitsmoral vermittelte und auf diese Weise Eigentum und soziale Hierar‐ chien schützte.14 Zudem waren die allermeisten dieser philosophes bekennende De‐ isten, das heißt: sie hielten die Schöpfung des Kosmos und des Menschen durch ein

13 Burke 2001, S. 276. 14 Vgl. Pomeau 1993.

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höheres Wesen, das seine Geschöpfe perfektibel und damit zum Fortschritt fähig an‐ gelegt hatte, für die plausiblere Hypothese als eine sich selbst erzeugende Materie, die Alternative der Atheisten. Für die französischen Deisten unterschiedlicher Cou‐ leur lief die dringend nötige Reform der religiösen Verhältnisse darauf hinaus, die katholische Kirche ihrer erdrückenden Monopolstellung zu entkleiden, der Minder‐ heitskonfession der – trotz Verbots von 1685 im Lande verbliebenen – Calvinisten bürgerlichen Rechtsstatus zu verschaffen, allen Glaubensrichtungen, die sich den Gesetzen des Staates unterordneten und ein friedliches Zusammenleben predigten, die Zulassung zu erteilen und damit auch in diesem Bereich wie in Wirtschaft und Presse eine heilsame Konkurrenz anzufachen, kirchliche Instanzen aus den Zensur‐ behörden zu entfernen und damit den Kultursektor von einer anachronistischen Be‐ vormundung zu befreien sowie alle religiösen Vereinigungen staatlicher Kontrolle zu unterstellen und diese auf diese Weise zur ethischen Aufrüstung des Volkes im Geiste umfassender Toleranz heranzuziehen. Die durchgehende Gleichsetzung von Deismus und Atheismus in den «Reflections» folgt, wie Burke wissen musste, im Großen den Strategien der Jesuiten und ihres Journal de Trévoux. Solche Ideen, die die Religion als unverzichtbares Erziehungsmittel des Volkes postulierten, erwiesen sich in der Assemblée nationale constituante unter tätiger Mit‐ hilfe zahlreicher Priester schnell als mehrheitsfähig und fanden ihren Niederschlag in der Zivilkonstitution des französischen Klerus vom Sommer 1790, der dadurch aus der römischen Obödienz herausgelöst und zu einer kirchlichen Organisation un‐ ter Aufsicht und Hoheit des Staates verwandelt wurde.15 Für Burke war das ein ers‐ ter Schritt, mit dem die verbrecherische Atheistenclique ihrem Fernziel, der Austil‐ gung jeglicher Religiosität im Volk, näherkommen wollte. De facto war der damit geschaffene Zustand, zusammen mit der Emanzipation der Calvinisten und der Ju‐ den, jedoch der englischen Konfessionslandschaft verblüffend ähnlich: eine vom Staat anerkannte, protegierte und vielfältig alimentierte Hauptkirche ohne zweifel‐ hafte Loyalitätsausrichtung zum Papst. Auch die damit einhergehende Verstaatli‐ chung des kirchlichen Besitzes, die Burke in Frankreich als schäbigen Raub und Verbrechen an der Geschichte anprangert, hatte in der Enteignung der Klöster durch König Heinrich VIII. zweieinhalb Jahrhunderte zuvor durchaus ihre Parallele, wie der historisch sehr bewanderte Pamphletist sehr genau wusste; ebenso ausgeblendet wird die gallikanische Tradition, die durch die Transformation zur Staatskirche voll‐ endet wird. Umso süffisanter kommentiert Burke in diesem Zusammenhang die eklatante Ungleichbehandlung von Kirche und Adel in Sachen Eigentum und histo‐ risch gewachsener Einkünfte – während die Güter der Kirche als Besitz der Nation beschlagnahmt werden, wird der Großteil der adeligen Gefälle, die untrennbar mit dem jetzt feierlich abgeschafften Feudalsystem verknüpft sind, als angeblich redlich

15 De Viguerie 1986.

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erworbenes Eigentum geschützt und rückkaufpflichtig gemacht. Das war eine Le‐ benslüge der großbürgerlichen Revolution schlechthin, die dem hasserfüllten Blick des angloirischen Kritikers natürlich nicht entging: «Ich weiß nicht, ob die hohen Ausgaben des Herzogs von Choiseul etwas von den unge‐ heuren Summen übrig gelassen haben, die er der bei den Finanzgeschäften seiner Regie‐ rung erbeutet hat, welche durch jegliche Art von Verschwendung in Krieg und Frieden wesentlich zur gegenwärtigen Verschuldung Frankreichs beigetragen hat. Wenn davon et‐ was übrig ist, warum wird es nicht beschlagnahmt? [...] Warum ist der Landbesitz des Herzogs von Rochefoucault unantastbar und der des Kardinals von Rochefoucault nicht? »16

Alte und neue Oligarchie So besteht die wesentliche Differenz zwischen der kirchlichen und religiösen Land‐ schaft in England und Frankreich unter dem Strich darin, dass die französischen Eli‐ ten durch die Verstaatlichung der Kirche im Jahre 1790 herbe Verluste hinnehmen mussten. Gewiss, zwischen den garantierten Spitzeneinkommen von Bischöfen und der kargen Entlohnung einfacher Priester lagen auch unter der Zivilkonstitution wei‐ terhin Welten, doch war das Goldene Zeitalter des französischen Klerus damit Ver‐ gangenheit und die geistliche Laufbahn für nachgeborene Söhne des Adels, der Jahr‐ hunderte lang die 135 Bischofssitze des Ancien Regime monopolisiert hatte, endgül‐ tig vorbei; ähnliche Einbußen musste das reiche Stadtbürgertum hinnehmen. In die‐ sen Abstrichen lag die Gefahr des französischen Exempels für die herrschenden Kreise in England, wie Burkes Polemik gegen die Aufhebung historisch gewachse‐ ner Privilegien aller Art – eines der Leitmotive der «Reflections» - deutlich macht. Eine für das Erklärungsmodell der «Philosophen-Kabale» unerlässliche Querver‐ bindung bleibt in Burkes Text allerdings offen: In welchem Verhältnis stehen sie zu den politischen Betreibern der Revolution, die die legislative Körperschaft und ihre Politik dominieren? Die großen Ideengeber der politisierten Aufklärung waren, wie erwähnt, vor 1789 gestorben. Zudem unterstellt Burke ihnen durchgehend Praxisfer‐ ne und Hang zum fanatischen Theoretisieren, letztlich zum Ausspinnen fataler Uto‐ pien und ebenfalls eine ausgesprochene Vorliebe für die absolute Monarchie. Wie solche wirklichkeitsfremden Phantasten in der Lage sein sollten, eine seit Jahrhun‐ derten mit dem Königtum verschmolzene reiche und mächtige Staatskirche auszuhe‐ beln, ist aus der Logik des Texts nicht nachzuvollziehen, zumal die angeblich so um‐ triebigen «philosophes» in den ausschlaggebenden Gremien des neuen Frankreich gar nicht auffindbar waren:

16 Burke 2001, S. 280.

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«Ermessen Sie, mein Herr, meine Verblüffung, als ich herausfand, dass ein sehr großer Teil der Nationalversammlung – bei den Mitgliedern, die tatsächlich anwesend waren, wie ich glaube sogar eine Mehrheit – aus praktisch tätigen Juristen bestand, jedoch nicht aus verdienten Magistraten, die ihrem Land Unterpfänder ihrer Weisheit, Klugheit und Lauterkeit geliefert hatten, nicht einmal aus führenden Advokaten, dem Ruhm der Ge‐ richtshöfe, auch nicht aus angesehenen Universitäts-Professoren, sondern ganz überwie‐ gend, wie es gar nicht anders sein konnte, aus dem unteren, ungebildeten, gewissermaßen rein mechanischen, dienenden Segment dieses Berufsstandes».17

Solche Auszählungen mit ihnen ebenso polemischen wie zutreffenden Rückschlüs‐ sen zur Trägerschicht der Revolution sollten eine britische Spezialität bleiben; als der britische Historiker Alfred Cobban 1955 zu analogen Ergebnisse gelangte18 und daher die ganze Revolution zu einem einzigen großen Mythos erklärte, war die Em‐ pörung unter den überwiegend links orientierten französischen Revolutions-Histori‐ kern schier grenzenlos. Bei Burke war dieses Fazit erst recht keine nüchterne sozio-professionelle Be‐ standsaufnahme, sondern ebenfalls reine ideologische Kampfansage. Im Klartext hieß das: Berufsmäßige Rechtsverdreher, vom Volk zurecht gehasst, haben die Herr‐ schaft in Frankreich an sich gerissen. Das bevölkerungsreichste Land Europas ist in die Hände einer zum Äußersten entschlossensten Parvenü-Clique gefallen, deren Herrschaftsinstrument der Terror gegen alle Höhergestellten und vor allem Höherge‐ borenen ist. In dieser Verachtung der homines novi, die die «Reflections» ebenfalls als Leitmotiv durchzieht, sind die Motive jahrhundertealter Abstempelung vereint: Neid, Gier, Gewissenlosigkeit, Käuflichkeit, Opportunismus. Der skrupellose Auf‐ steiger stellt schnöde Eigeninteressen bedenkenlos dem bonum comune voran; und selbst, wenn er ausnahmsweise den Vorteil der Gemeinschaft sucht, wird er ihn man‐ gels Staatsklugheit und Regierungsfähigkeit gesetzmäßig verfehlen. Burkes rheto‐ risch aufgeladene Polemik richtet sich bei nüchterner Betrachtung gegen die Ver‐ schmelzung aus Adel und wohlhabender Großbourgeoisie zu einer neuen Elite, die ihre Dominanz auf Besitz stützt. Das aber war eine Entwicklung, die sich in England längst vollzogen hatte, im Einzelnen unterschiedlich, doch im Großen parallel; in den «Reflections» wird daraus für Frankreich die brutale Verdrängung der alten Füh‐ rungsschicht durch moralisch minderwertige «Geldleute» abgeleitet. Dass in der Ersten Revolution bis 1791 Schwert- und Robenadel in vieler Hinsicht den Ton an‐ gaben, wird daher konsequent unterschlagen. Entsprechend uneinheitlich, ja geradezu schillernd und oszillierend werden das politische Fernziel und die dabei durchlaufenen Aggregatszustände des politischen Corpus ab 1789 beschrieben:

17 Burke 2001, S. 195f. 18 Cobban 1955.

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«Ich weiß nicht, mit welcher Beschreibung ich die zurzeit in Frankreich Herrschenden klassifizieren soll. Sie behaupten, eine reine Demokratie zu bilden, doch denke ich, dass sie auf dem direkten Weg sind, eine schäbige und unwürdige Oligarchie zu bilden».19

Was nun: Demokratie oder Oligarchie? Der weitere Argumentationszusammenhang deckt auf, dass die zu allem entschlossenen «neuen Männer», die Frankreich seit dem Sommer 1789 beherrschen, die «Demokratie» nur als Übergangszustand instru‐ mentalisieren, um sich das Land danach umso unbehinderter einverleiben zu kön‐ nen. Vor dem Hintergrund der tatsächlich geführten Debatten der Jahre 1789 und 1790, die mit innerer Konsequenz auf die am 3. September 1791 erlassene Ver‐ fassung hinauslaufen, wirkt der Begriff «Demokratie» zutiefst befremdend. In der Terminologie Rousseaus, den Burke gelesen hatte, bedeutet er eine reine forme de gouvernement, also eine Ausübung der Exekutive durch die Gesamtheit der vollbe‐ rechtigten Bürger, und bleibt deshalb am besten auf kleine ländliche oder städtische Gemeinwesen beschränkt. Für Burke ist hingegen damit ganz undifferenziert die de‐ struktive Herrschaft des zügellosen Mobs bezeichnet, die durch die Geschichte ein für alle Mal widerlegt ist, wie eine ausführliche Digression der «Reflections» bele‐ gen soll.20 Im Zusammenhang mit den Ereignissen in Frankreich aber macht weder der Begriff noch die Polemik Sinn, wie Burke genau wissen musste. Denn die Betei‐ ligung der Gesamtheit der volljährigen Franzosen an der Politik stand zu keinem Zeitpunkt auf der Tagesordnung, worauf noch zurückzukommen ist. Der erste konkrete Schritt der neuen Möchtegern-Machthaber besteht laut Burke darin, für die 1789 ausgeschriebenen Etats-Généraux neue Verfahrens- und Abstim‐ mungsformen zu fordern: die Verdoppelung der Abgeordneten des Tiers-Etat und, radikaler noch, die nachfolgende Abstimmung nach Köpfen, nicht mehr nach Stän‐ den, bei der die privilegierten Klassen immer eine Zwei-zu-eins-Majorität und damit ein unüberwindliches Veto gegen jede durchgreifende Veränderung behaupten wür‐ den. Dass der – nach Burkes wirklichkeitsfremder Einschätzung reformfreudige – König der ersten Forderung aus übermäßiger Güte und Volksfreundlichkeit nachgab, war somit der erste Schritt zur Auflösung des soziopolitischen Systems insgesamt. Das zeigte sich in dramatischer Art und Weise, als sich die zum Umsturz bereiten Kräfte aller drei Stände zu einer einheitlichen Versammlung zusammenschlossen, in welcher der Dritte Stand als Folge seiner numerischen Aufstockung eine klare Majo‐ rität besaß. Damit war für Burke der Weg in den Abgrund, das heißt: die Vereinnah‐ mung Frankreichs durch die machtgierige Clique entfesselter Parvenüs vorgezeich‐ net. Auch hier sticht bei unvoreingenommener Betrachtung die Analogie zu den englischen Verhältnissen ins Auge:

19 Burke 2001, S. 291. 20 Burke 2001, S. 292.

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«Wir wissen, dass das britische house of commons für Verdienste aller Art offen ist und auf der Grundlage sorgfältig erwogenen Vorgehens mit allem, was durch Rang und Na‐ men, Abkunft, ererbten und erworbenen Reichtum, durch Bildung, Begabung, militäri‐ sche, zivile, nautische und politische Exzellenz glänzt, so viel die Nation davon nur bie‐ ten kann».21

Genauso sah und rechtfertigte sich auch die durch die Vereinigung der drei Stände zur Nationalversammlung, der Assemblée nationale constituante, verschmolzene neue Herrschaftselite Frankreichs: als Synthese und Symbiose des Besten, das die Nation zu bieten hatte, und damit als ihre adäquate Repräsentation. Genauer: als eine weitaus repräsentativere Vertretung, als sie jemals in den traditionellen Etats-Gé‐ néraux und in allen anderen Körperschaften dieser Art im übrigen Europa vorhanden war. In diesem Licht gewinnt Burkes auf den ersten Blick kryptische Bemerkung ihre Bedeutung, dass Frankreich, nach dem leisen und gewaltlosen Erlöschen der absolu‐ ten Monarchie gewissermaßen am Scheideweg, statt des britischen Exempels «eine despotische Demokratie»22 bevorzugt habe: eben jenen – an anderer Stelle als «zivi‐ le und militärische Anarchie»23 bezeichneten - Verpuppungszustand, der sich bald in die hässliche Oligarchie der Parvenüs verwandeln würde. Von einer demokratischen Verfassung aber war in den tonangebenden französischen Kreisen der Jahre 1789 und 1790 nie die Rede, ganz im Gegenteil: Genau wie die britische Elite war die neu gemischte Führungsschicht davon überzeugt, dass das «Volk», verstanden als die Masse der nichts oder wenig besitzenden Klassen, einer langen Vormundschaft be‐ durfte, durch die es zu Moral und Werten der Aufklärung erzogen werden sollte. Dementsprechend fiel dann auch die Verfassung aus, die ein Dreivierteljahr nach der Veröffentlichung der «Reflections» in Kraft trat.24 Ihre gestaffelten Zensus-Regelun‐ gen führten dazu, dass gut 4 Millionen Franzosen als sogenannte Aktivbürger ein Basiswahlrecht besaßen, das darin bestand, etwa 45.000 bis 50.000 Elektoren zu be‐ stimmen, die als «Wahlmänner» dann die Deputierten der Gesetzgebenden National‐ versammlung bestimmten. Für diese Funktion als Abgeordnete aber kam nur eine viel schmalere Elite mit bedeutend höherem Steueraufkommen in Frage. Im Ver‐ gleich dazu besaßen in England25 etwa 16.000 Personen das Wahlrecht fürs Unter‐ haus. Damit stechen Unterschiede und wiederum Analogien hervor. Die Differenz, die Burkes Demokratie-These zumindest partiell zu bestätigen scheint, besteht in der Ausdehnung des Basis-Wahlrechts, das aber durch die rigorose Filterungs-Instanz der Elektoren de facto weitgehend entwertet wird. Damit läuft auch die französische Verfassung auf oligarchische Verhältnisse hinaus, allerdings auf eine breitere und 21 22 23 24 25

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Burke 2001, S. 198. Burke 2001, S. 305. Burke 2001, S. 191. Vgl. Anm. 1. Überblick bei Asch (Hrsg.), 2014; Langford 2005; Newman (Hrsg.), 1997.

vor allem nach moderneren Prinzipien bestimmte Oligarchie. Das englische Wahl‐ system privilegierte mit seinen zahlreichen Archaismen – zum Beispiel Wahlkreisen, in denen eine Handvoll Wähler einen Abgeordneten bestimmten, manchmal sogar deren zwei – einen inneren Kreis der Elite von gut fünftausend Personen, die alleine die Hälfte der Mitglieder des house of commons entsandten. Das eigentliche Ärger‐ nis des französischen esprit géométrique aber ist für Burke, neben der Erweiterung der Elite und der Einteilung der Wahlkreise nach der Zahl der Einwohnerschaft, die denselben Prinzipien verpflichtete Erhebung von Steuern und Abgaben, die einen sehr viel effizienteren Zugriff des Staates auf Einkommen und Vermögen des zuvor von solchen Interventionen geschützten Adels erlaubte – kein Zufall also, dass Bur‐ ke die neuen fiskalischen Verfahren einer ausführlichen Widerlegung für wert be‐ fand, die die Ungerechtigkeit dieses Prozederes und die fatalen Folgen für den Wohlstand des Landes insgesamt unter Beweis stellen sollte, aber letztlich das Ge‐ genteil belegte.26 Gewiss, die neuen Machtverhältnisse wurden erst nach der Veröffentlichung von Burkes Pamphlet festgeschrieben, doch war keine prophetische Gabe nötig, um die‐ se politischen Kraftlinien schon Monate zuvor vorauszusehen. Damit war das Kern‐ stück einer Konstitution geschaffen, die mit einer von den Aktivbürgern gewählten Judikative die Prinzipien der Montesquieuschen Gewaltenteilung weitgehend in In‐ stitutionen und Kompetenzen übertrug und damit auch dem von Burke in den Him‐ mel gehobenen britischen System mit seinem komplexen Zusammenspiel von Mon‐ archie, Unter- und Oberhaus durchaus ähnlich ausfiel – mit dem Unterschied, dass es keine eigene Vertretung des als eigener Stand abgeschafften Adels und anderer privilegierter Körperschaften mehr gab. Gewissermaßen als «Ersatz» dafür fiel die Position des Königs, wie sich in den Debatten ab 1789 gleichfalls abzeichnete, im neuen Verfassungsgefüge und damit politisch wie militärisch sehr stark aus – worauf noch zurückzukommen ist. Burkes wütende Hasstiraden gegen das wahlweise demokratisch-despotische, an‐ archische oder auch schon in Verwandlung zur Oligarchie befindliche Frankreich re‐ duzieren sich bei wiederum nüchterner Betrachtung darauf, dass hier eine neufor‐ mierte und zugleich erweiterte classe politique ihre Vorrangstellung mit Argumenten im Jargon der Aufklärung und nicht mehr im Geiste gewachsener Traditionen erklär‐ te und festschrieb. Das aber musste dem französischen Oligarchie-Modell unter den Intellektuellen Europas, die sich selbstverständlich zu dieser neuen Elite zählten, einen enormen Präferenz-Vorsprung verschaffen. Selbst die konservativeren unter diesen konnten die erste, überaus moderate Revolution in Frankreich mit ihren Maß‐ stäben und sogar mit den Burkeschen Kriterien problemlos rechtfertigen: Ganz, wie der Autor der «Reflections» es vorschrieb, hatten die französischen «Verfassungsvä‐

26 Burke 2001, S. 345-354.

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ter» im Zeichen einer unleugbaren finanziellen und moralischen Krisensituation die alten Formen der politischen Konsensfindung aufgenommen, wiederbelebt und zeit‐ gemäß erneuert. Denn dass in Frankreich nach der letzten Einberufung der Etats-Gé‐ néraux im Jahre 1614 eine fundamentale Neuverteilung von Besitz und Bildung stattgefunden und sich damit eine zahlenmäßig bei weitem überwiegende Sekundä‐ relite jenseits des alten und neuen Adels entfaltet hatte, war für jeden Beobachter der Zeit ganz klar erkennbar. Dass dieses nach den Maßstäben Besitz und Bildung füh‐ rende und innovative Element der Gesellschaft seinen Anteil an Macht und Füh‐ rungspositionen reklamierte, lag vollkommen in der Logik der britischen Politikver‐ hältnisse und der moderaten Reformprinzipien, wie sie Burke kontrastiv zur franzö‐ sischen «Anarchie» dargelegt hatte.

Die Erfindung des Terrors Zurück zum Kernkonzept des Terrors als Basisinstrument der französischen Umwäl‐ zung von Anfang an! Die Orgien der Gewalt, die Burke ab dem Sommer 1789 al‐ lenthalben entfaltet sieht, werden wirkungsvoll in Kontrast zum altersmüde milden und volksfreundlichen Regime von König und Königin, Adel und Klerus gesetzt, die gewiss mancherlei Missbräuche aufweisen, wie sie hienieden nun einmal unver‐ meidlich sind, doch insgesamt von den besten Absichten beseelt und von tyranni‐ scher Herrschaft um Welten entfernt sind. Umso grundloser und unerwarteter bricht danach der Schrecken in diese insgesamt relativ heile, paternalistisch geordnete Welt ein: «Frankreich hat sich durch Verbrechen Armut eingehandelt! Frankreich hat nicht seine Tugend seinen Interessen gewidmet, sondern seine Interessen aufgegeben, so dass es die Tugend prostituieren konnte […]. Erinnert euch daran, dass euer Parlament von Paris dem König versicherte, dass er von der Einberufung der Generalstände nur den wunder‐ samen Eifer für die Stärkung des Thrones zu erwarten habe. Diese Leute sollten wahrhaf‐ tig ihr Haupt verhüllen. Und sie tragen wahrhaftig ihre Verantwortung für den Ruin, den ihr Ratschlag über ihr Land und ihren Souverän gebracht hat. […] Sie haben die Franzo‐ sen gegen einen milden und gesetzestreuen Monarchen rebellieren gesehen, und zwar mit mehr Wut, Gewalt und Beleidigung, als sich irgendein anderes Volk jemals gegen einen unrechtmäßigen Usurpator und den blutrünstigsten Tyrannen erhoben hat».27

Die Früchte entsprechen dem Hass, der hier gesät wurde: Frankreich ist in namenlo‐ ses Elend abgestürzt! Dieses Unheil nimmt nicht zufälligerweise seinen Anfang mit den Orgien der Gewalt, denen die beiden führenden Stände ausgesetzt sind, deren Mitglieder jetzt gefoltert, erpresst und entehrt werden und in hellen Scharen ins Aus‐

27 Burke 2001, S. 189ff.

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land fliehen. 28 Das aber war eine bewusste Verzeichnung einer Situation, die sich so unter radikal gewandelten historischen Koordinaten erst in der Zweiten Revolution einstellen wird und hier nicht «prophezeit», sondern den Tatsachen entgegen erfun‐ den wird. Fast gleichzeitig zu dieser Diatribe, die auf nicht weniger als den Untergang der Monarchie hinauslief, legte der Marquis de Mirabeau,29 einer der einflussreichsten Politiker der frühen Revolution, dem König, mit dem er in heimlicher Verbindung stand, in luziden Memoranden dar, dass er von der sich anbahnenden konstitutionel‐ len Umgestaltung wenig zu befürchten und viel zu erhoffen habe, zum Beispiel einen beträchtlichen Zuwachs an faktischer Macht. Diese Bilanz nimmt sich auf den ersten Blick paradox aus, weil die alte Monarchie ein dreifaches Gewaltenmonopol über Legislative, Exekutive und Judikative beansprucht hatte, das sie jetzt nicht mehr behaupten konnte. Doch dafür, so der kluge Rat Mirabeaus, gab es Zugewinne zu verzeichnen, die diese Einbußen mehr als wettmachten: das Prestige der Legiti‐ mität, das mit der Übertragung der Kompetenzen durch die Nation verbunden war und die neue Monarchie auf der Höhe aufgeklärter Prinzipen auswies, und darüber hinaus die Fülle von konstitutionellen Rechten, die der Monarchie eine starke Stel‐ lung gegenüber dem Zensus-Parlament verschafften, zum Beispiel das Veto gegen nicht genehme Gesetzesvorschläge, die Hoheit über die Armee in Zeiten des Krieges und damit die Ressourcen, die eine starke Netzwerkbildung und damit die wirkungs‐ volle Beeinflussung von Parlament und Parlamentariern ermöglichte, nicht zuletzt durch gezielte Bestechung. Auf eine solche Position des Königtums lief es in der Verfassung von 1791 tatsächlich hinaus; vom Ruin der Monarchie und ihrer Souve‐ ränität konnte nicht einmal ansatzweise die Rede sein, wohl aber von einer Neube‐ stimmung und Neuformulierung königlicher Prärogativen, die die neue Besitzelite als Trägerschicht der neuen Monarchie für unabdingbar zur Sicherung ihrer wirt‐ schaftlichen, politischen und ökonomischen Vorrangstellung und Privilegien hielt. Laut Mirabeau kam es jetzt darauf an, diese neuen Machtmittel geschickt zu nutzen. Doch dafür war Ludwig XVI. eine eklatante Fehlbesetzung. Natürlich konnte Burke von diesen Manövern hinter den Kulissen nichts wissen, doch sein Urteil über die künftigen Schicksale der Monarchie ist trotzdem eine bewusste Verzerrung der Machtverteilung, wie sie sich 1790 ganz klar abzeichnete. Umso pathetischer wird die rituelle Demütigung, Herabwürdigung und Entsakra‐ lisierung des Königs und seiner Familie am 5. und 6. Oktober 1789 beschworen. Der mordlüsterne Mob sei mit gezücktem Bajonett in das Schlafzimmer der Königin eingedrungen, habe auf der Suche nach ihr ihr Bett durchbohrt, wonach diese «[…] fast nackt auf den Mördern unbekannten Wegen entkommen konnte und Hilfe zu Füßen ihres Königs und Gatten suchte, der eine Zeitlang seines eigenen Lebens nicht si‐ 28 Burke 2001, S. 304. 29 Vgl. Willms 2017.

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cher sein konnte. Der König und seine Königin und ihre Kinder […] waren dann ge‐ zwungen, das Heiligtum dieses prächtigsten Palastes auf Erden zu verlassen, den sie auf‐ geben mussten und der jetzt, von einem Massaker entweiht, in Blut schwamm […]»30

Das war, wie gut informierte Zeitgenossen vom Schlage Burkes sehr genau wussten, eine maßlos übersteigerte und in weiten Teilen frei erfundene Darstellung der tat‐ schlichen Ereignisse, deren Ursachen zudem systematisch verschleiert werden: In Paris herrschte im Herbst 1789 Hunger, der Hof in Versailles feierte aufwendige Feste, der König weigerte sich, die Dekrete zur Abschaffung des Adels zu unter‐ zeichnen; zudem stammten, einer bis heute zählebigen Legende zuwider, die etwa 7.000 Frauen, die diesen Zug anführten, keineswegs überwiegend aus «niede‐ ren» Schichten, ganz zu schweigen davon, dass sie von der Nationalgarde unter Füh‐ rung des moderaten Adeligen Lafayette eskortiert wurden. Zwar kam es beim Ein‐ dringen der Menge in den Palast zu Handgreiflichkeiten, bei denen zwei königliche Gardisten ums Leben kamen, doch kann von einem Gemetzel mit Blutbad keine Re‐ de sein. Da der König unter dem Zwang der Umstände ausnahmsweise flexibel han‐ delte, die Forderungen der Menge bewilligte und notgedrungen mit ihr von Ver‐ sailles nach Paris zog, verwandelte sich die Demonstration am Ende sogar zu einem Triumphzug, der bei geschickter propagandistischer Ausnutzung der Popularität der königlichen Familie hätte zugutekommen können – schließlich wurde diese lauthals als «Bäcker, Bäckerin und Bäckerjunge» tituliert, was einer Umfunktionierung zur Quelle fürsorglicher Versorgung und Versicherung gegen das allenthalben grassie‐ rende Gespenst der Brotteuerung und des Hungersterbens und damit einer ganz neu‐ en Legitimierung gleichkam. Auch von einer nachfolgenden Gefangenschaft des Königs in den Tuilerien kann natürlich keine Rede sein, wie Burke gleichfalls genau wusste, wohl aber von einer Umwidmung der Monarchie zu einem der Nation ver‐ antwortlichen und von ihr kontrollierten Organ der sich ankündigenden Verfassung. Als solches hatte die Monarchie weiterhin eine Fülle von Handlungschancen, die sie zum Leidwesen Mirabeaus und seiner wie er auf eine konstitutionelle Monarchie ab‐ zielenden Adels-Genossen allerdings nicht nutzte. In den auf die «Entweihung» der Monarchie im Herbst 1789 folgenden Passagen entwickelt Burke nicht zufälligerweise seine düsteren Zukunftsvisionen, die ihm den Ruf des Sehertums eingetragen haben: «Ich höre mit höchster Freude, dass diese hohe Dame (= Königin Marie Antoinette) […] die Einkerkerung Ihres Gatten und ihre eigene Gefangenschaft […] mit einer heiteren Gelassenheit erträgt, die ihrem Rang und ihrer Abstammung vollendet entspricht, ist sie doch die Tochter einer Herrscherin, die für ihre Frömmigkeit und ihren Mut berühmt war ( = Maria Theresia), […] dass ihre Gefühle die einer römischen Matrone würdig sind,

30 Burke 2001, S. 232.

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dass sie der äußersten Not entkommen wird und dass sie, wenn sie fallen muss, auf edle Weise fallen wird».31

Damit scheint der 16. Oktober 1793 vorweggenommen, an dem die «Witwe Capet», knapp neun Monate nach ihrem Gatten, auf einem öffentlichen Schandkarren zur Guillotine transportiert wurde. Doch von einer solchen ahnungsvollen Antizipation kann keine Rede sein. Zwi‐ schen der Niederschrift der «Reflections» im Sommer und Herbst 1790 und der Zweiten Revolution zwei Jahre danach liegt eine Ereigniskette, die sich jeglicher Vorausschau entzog: die Opposition des Hofes und die Obstruktions-Haltung des Königs, dessen erst kurz vor der Grenze gestoppte Flucht, die weitere Verschärfung der Versorgungslage und vor allem das Bündnis der antirevolutionären Mächte und der sich dadurch abzeichnende europäische Krieg, ganz zu schweigen von den sozia‐ len Konflikten in der Metropole Paris, in der die unteren Mittelschichten immer nachdrücklicher ihre uralten Forderungen nach einer moral economy unter dem Pri‐ mat der Überlebenssicherung artikulierten und diese im Bündnis mit radikalen Bil‐ dungsbürgern wie Robespierre partiell in Politik umzumünzen vermochten. Doch selbst ansatzweise soziale Differenzierungen sind den «Reflections» fremd; was un‐ ter Adel und Financiers rangiert, ist entweder ein im Kern gutes, aber verführtes Volk oder blinder Mob. Das vermeintliche Telos, das die französische Nation in einen immer tieferen Ab‐ grund und an dessen Talsohle in reine Militärdiktatur führen wird, widerlegt Burke selbst in einer Passage, die die Nicht-Notwendigkeit der revolutionären Ereignisse belegen soll, mit eigenen Worten am treffendsten: «Waren alle diese schrecklichen Dinge notwendig? Waren sie das unvermeidliche Ergeb‐ nis des verzweifelten Kampfes entschlossener Patrioten, die durch Blut und Aufruhr zu waten gezwungen waren, um danach an die ruhigen Gestade einer ruhigen und materiell gesicherten Freiheit zu gelangen? Nein, nichts dergleichen!»32

Dieses Fazit lässt sich zweifach gegen seinen Verfasser umkehren: Die Zustände, die sich bis zur Abfassung der «Reflections» in Frankreich eingestellt hatten, waren nicht im Einzelnen, wohl aber im Großen unvermeidlich, weil sie die immer breiter und tiefer klaffende Kluft zwischen dem sozialen Wandel und den Ideen der Aufklä‐ rung auf der einen und den unbeweglichen Institutionen und den starren sozialen Hierarchien auf der anderen Seite schließen sollten; die erste Phase der Revolution war also in den Augen des aufgeklärten Europas nichts anderes als vernünftige An‐ passungs- und Ausgleichsleistung, mit der radikalere Umwälzungen vermieden wer‐ den sollten. Die weitere Entwicklung ab 1792 aber entzog sich einer solchen Gesetz‐ mäßigkeit und erst recht einer wie auch immer gearteten Vorhersage. Edmund Bur‐ 31 Burke 2001, S. 237. 32 Burke 2001, S. 192.

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kes «Reflections on the Revolution in France» sind daher keine historische Analyse der Vorgänge in Frankreich, die so weit zurecht gebogen werden, bis sie den leiten‐ den Prämissen des Autors entsprechen, sondern eine reine Kampfschrift für den Sta‐ tus quo in England. Sämtliche Übersetzungen aus Burkes Text stammen vom Verfasser dieses Beitrags.

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Ulrich Niggemann Burke und die englische revolutionäre Tradition

Die Beobachtung der Revolutionen in den nordamerikanischen Kolonien ab 1775 und in Frankreich ab 1789 stieß in Großbritannien nicht nur kontroverse Debatten über Ursachen und Rechtmäßigkeit solcher Erhebungen an, sondern bildete auch einen Rahmen, um (erneut) über die Revolutionen auf den britischen Inseln des 17. Jahrhunderts nachzudenken. Hier hatte es gleich zwei Ereignisse gegeben, die schon von Zeitgenossen als Revolutionen apostrophiert worden waren1: In den Jahren ab 1640 waren tiefgreifende konfessionelle wie auch konstitutionelle Konflikte zwi‐ schen dem „langen Parlament“ und König Karl I. in zwei Bürgerkriegen zwischen 1642 und 1648 eskaliert, die in der Hinrichtung des Königs am 30. Januar 1649 ge‐ mündet hatten. Im Anschluss hatte eine revolutionäre Gruppe von Parlamentariern und Militärs die Monarchie abgeschafft und ein republikanisches Regime etabliert, das freilich schon bald Züge einer Militärdiktatur im Rahmen des von Oliver Crom‐ well geführten Protektorats annahm. 1660 wurde die Monarchie unter Karl II. re‐ stauriert.2 Gleichwohl blieben zahlreiche Probleme ungelöst und wurden zur Hypo‐ thek für die restaurierte Monarchie, zumal Karl II. und sein Bruder und Nachfolger, Jakob II., konfessionell verdächtig blieben, Jakob II. sich bald sogar offen zum Ka‐ tholizismus bekannte. Im Zusammenspiel von Konfession, außenpolitischer Orien‐ tierung an Frankreich und innenpolitischer Brüskierung der Eliten geriet Jakobs Re‐ gierung ab 1685 schnell in eine Krise, die im November 1688 zur Landung Wil‐ helms III. von Oranien in England und zum Zusammenbruch von Jakobs Herrschaft führte. Im Zuge dieser Glorious Revolution wurden Wilhelm III. und seine Frau Ma‐ ria II., älteste Tochter Jakobs II., zu König und Königin von England, Schottland und Irland erklärt. Eine Declaration of Rights fixierte die bereits zuvor beanspruch‐ ten Rechte des Parlaments und der Untertanen.3 Während viele französische Intellektuelle wie Voltaire oder Montesquieu die Glo‐ rious Revolution und die englische Verfassung bewunderten4, gingen die Ereignisse der Französischen Revolution von 1789 doch bald über die in England praktizierten Formen einer gemäßigten Monarchie hinaus. Und in England selbst betrachtete man

1 Zur zeitgenössischen Begrifflichkeit etwa Snow 1962; Hill 1990; Rachum 1999; Niggemann 2017a. 2 Vgl. einführend Hill 2002b; Hughes 1998; von Greyerz 1994; Coward 2012. 3 Zusammenfassend Coward 2012, S. 367-378; Cruickshanks 2000; Harris 2007. 4 Vgl. etwa Kraus 2006, S. 143-165 sowie S. 169-178.

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sowohl mit Sorge als auch Enthusiasmus die Vorgänge in Frankreich. Edmund Bur‐ kes Schrift „Reflections on the Revolution in France“ von 17905 gilt als prominen‐ teste Stellungnahme dazu, und sie steht dementsprechend vielfach im Zentrum der ideengeschichtlichen und politiktheoretischen Forschung, doch Burke war selbstver‐ ständlich nicht der einzige Zeitgenosse, der sich äußerte.6 Die bisherige Forschung neigt aber nicht nur dazu, Burke weitgehend isoliert von den zeitgenössischen De‐ battenkontexten zu thematisieren, sondern sie blendet – soweit sie sich überhaupt mit Burkes historischen Reflexionen beschäftigt – nicht selten auch die Erinnerungs‐ kulturen und die schon das gesamte 18. Jahrhundert prägende Tradition der Ausein‐ andersetzung mit den Revolutionen des 17. Jahrhunderts aus. Das Verhältnis Burke‐ scher Texte zu den englischen Revolutionen stand selten im Mittelpunkt der Be‐ schäftigung mit Burke, doch es gibt immerhin einige Beobachtungen dazu.7 Sie blei‐ ben aber sehr auf Burke zentriert und deuten die Kontinuität von Narrativen und Deutungsmustern allenfalls an. Um indes die von Burke formulierte Haltung zu den revolutionären Vorgängen zwischen 1642 und 1660 sowie von 1688/89 einschätzen zu können, erscheint eine solche Einbettung in vorhandene Traditionslinien durchaus wichtig. Über die Revolutionen des 17. Jahrhunderts wurde in sich wandelnden poli‐ tischen Kontexten immer wieder diskutiert und gestritten, wobei oft gar nicht die Bewertung der Revolutionen selbst Gegenstand des Streits war, sondern eher unter‐ schiedliche Bezugnahmen in aktuellen Debatten gegeneinander ausgespielt wurden. Politische Positionen ließen sich über den Rekurs auf die Revolutionen der Vergan‐ genheit, insbesondere auf die Glorious Revolution, aushandeln und kommunizieren. Dadurch entwickelten sich unterschiedliche Narrative, die in späteren Debatten wie‐ der aufgegriffen und ‚verargumentiert‘ werden konnten.8 Im Folgenden soll es also darum gehen, Burkes Rückgriffe auf die englischen Re‐ volutionen des 17. Jahrhunderts in die kursierenden Narrative einzubetten und dabei auch die Frage zu stellen, an welche Erinnerungsmodi er jeweils anknüpfte. Erst vor diesem Hintergrund wird klar werden, ob und in welcher Weise sein Umgang mit den englischen Revolutionen ‚konservativ‘ war und was dieser Begriff mit Bezug auf das ausgehende 18. Jahrhundert eigentlich bedeuten kann. Tatsächlich stellt sich ja die Frage, ob die Etikettierung Burkes als ‚Konservativer‘ nicht zu allererst ein Rezeptionsphänomen ist, das Ergebnis einer Lektüre, die bereits geprägt war und ist von den politischen Lagern der industrialisierten Welt des 19. und 20. Jahrhunderts.9 Schon aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ist davon auszugehen, dass Texte nie 5 Hier in der Ausgabe Burke 2014, S. 3-250. 6 Vgl. etwa Cobban 1947; Prickett 1989 sowie knapper Richardson 1988, S. 56-64; Macleod 2002, S. 114-116. 7 Etwa Wecker 1981; Stanlis 1991. 8 Dazu Niggemann 2017b; und knapper ders. 2018. Vgl. aber auch schon Kenyon 1977. 9 Zur Diskussion einführend Zimmer 1995, S. 7-14. Zur komplexen Rezeptionsgeschichte Burkes vgl. Jones 2017; sowie die Beiträge bei Crowe 1997.

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eindeutig sind, sondern ihnen ihre Bedeutung und ihr Sinn erst im Akt der Rezeption zugeschrieben wird.10 Problematisch ist auch vielfach die Tendenz der Forschung, die Französische Revolution mit Aufklärung und Fortschritt zu identifizieren11 und ihre Kritiker somit der Gegenaufklärung und Reaktion zuzurechnen. Burkes kriti‐ sche Betrachtung der Ereignisse in Frankreich geriet somit schnell unter das Verdikt des Konservatismus und der Befürwortung des Ancien Régime.12 Inzwischen findet jedoch eine differenzierte Diskussion über das Verhältnis zwischen Burkes Text und britischen Aufklärungsdiskursen statt, und auch seine Haltung zur britischen Verfas‐ sung ist Gegenstand intensiver Debatten.13 Es sei auch gleich ein mögliches Missverständnis ausgeräumt, nämlich dass es hier um Burke als Person gehe. Burkes persönliche Überzeugungen zu ergründen, ist nicht das Ziel des vorliegenden Beitrags. Vielmehr geht es um die in seinen Texten zum Ausdruck kommenden Haltungen, die natürlich immer auch Resultat strategi‐ scher Erwägungen und kollektiver Diskussionsprozesse innerhalb parlamentarischer Gruppierungen waren, in diesem Fall vor allem der sogenannten Rockingham Whigs, in deren Sinne Burke immer wieder agierte.14 Viel stärker als das im vorlie‐ genden Beitrag geschehen kann, wäre also einerseits zwischen der Person Burke und seinen öffentlichen Äußerungen im Sinne politischer Programmatiken zu differen‐ zieren und andererseits nach den unmittelbar zeitgenössischen Kontexten und Lesar‐ ten zu fragen, um diese von späteren Zuschreibungen zu unterscheiden. Eine solche Perspektive würde indes den Rahmen dieses Beitrags sprengen, dessen Zielsetzung vielmehr darin liegt, die narrativen und erinnerungskulturellen Bezugssysteme zu skizzieren. Im ersten Schritt gilt es, die Äußerungen Burkes zu den englischen Revo‐ lutionen des 17. Jahrhunderts sowie zu den insbesondere durch die Glorious Revolu‐ tion etablierten Verfassungsstrukturen zu sichten und zueinander in Beziehung zu setzen. Das heißt, es wird zumindest ansatzweise auch darum gehen müssen, jenseits der „Reflections on the Revolution in France“ nach Aussagen zu suchen, die mögli‐ cherweise einer allzu einseitigen Deutung entgegenstehen.15 Im zweiten Schritt wird

10 Vgl. dazu grundlegend Jauss 1987; ders. 1994; Iser 1994. Adaptiert für den Kontext medialer Kommunikation politischer Inhalte bei Niggemann 2017b, S. 49f. 11 Zuletzt noch einmal prominent Israel 2017. Dazu kritisch Pečar/Tricoire 2015. 12 Kramnick 1977, S. 3-11; Zimmer 1995, S. 11f. 13 Vgl. etwa Bromwich 2011; Bourke 2012; Zimmer 1995, S. 14-23. 14 Zu den Rockingham Whigs, einer von Lord Rockingham geführten parlamentarischen Grup‐ pierung, die sich den alten Whig-Idealen verpflichtet sah, vgl. Langford 2010, S. 356f sowie S. 364-369; Brewer 1976, S. 77-95; und ausführlich O’Gorman 1975. Zu Burkes Position in‐ nerhalb der ‚Partei‘ vgl. O’Gorman 1973, S. 23-27; ders. 1975, S. 258-271; Lock 2012; ders.1998, S. 209-226; Norman 2013, S. 47-71; Bourke 2015, S. 229-238; und Zimmer 1995, S. 22f. 15 Genutzt wird dabei die Gesamtausgabe Langford 1981-2015. Mit Blick auf Burkes politische Theorie sind solche Perspektiven selbstverständlich immer wieder eröffnet worden, wobei ins‐ besondere die Frage nach der Konsistenz der Burkeschen Auffassungen kontrovers diskutiert wurde; vgl. etwa Bromwich 2011; Kramnick 1977, S. 4f.; Freeman 1980.

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dann versucht, die verschiedenen Narrative und ihre Verknüpfung mit politischen Positionen im Laufe des 18. Jahrhunderts zu eruieren, um im dritten Schritt Burkes Äußerungen in diesen narrativen Mustern zu verorten.

I. Burkes Darstellungen der Revolutionen des 17. Jahrhunderts Burke äußerte sich im Laufe seiner politischen Laufbahn in verschiedenen Kontex‐ ten zu den englischen Revolutionen, doch gelten insbesondere seine Überlegungen in den „Reflections on the Revolution in France“ als besonders aufschlussreich und gewissermaßen als Essenz seiner Aussagen zu diesem Thema. Der Text von 1790 wird oft vor allem als Manifestation einer konservativen Haltung gegenüber den Re‐ volutionären in Frankreich gelesen. Entscheidend für das Verständnis der im Text ausformulierten Referenzierungen der englischen Vergangenheit ist aber weniger die Stellungnahme gegenüber den Ereignissen in Frankreich als vielmehr die Reaktion auf politische Entwicklungen in England selbst. Obwohl Burkes Betrachtungen als Brief an einen jungen Franzosen, Charles Jean François Depont, und als Antwort auf dessen Bitte um Burkes Meinung zu den jüngsten Ereignissen abgefasst sind,16 stel‐ len sie doch eigentlich eine Reaktion auf die publizistische Offensive der Revolution Society in London dar, die sich der Erinnerung an die Glorious Revolution widmete und intensiv in die Jubiläumsaktivitäten von 1788 involviert gewesen war.17 Die Re‐ volution Society entwickelte sich zu einem Sammelbecken radikaler Bewegungen, hatte enge Verbindungen zu anderen Clubs und Gesellschaften wie etwa der Society for Constitutional Information, und zahlreiche Mitglieder gehörten nonkonformen religiösen Gemeinschaften an, nicht wenige waren Unitarier. 1789 hatte die Gesell‐ schaft sogar eine Gratulationsadresse an die französische Nationalversammlung ge‐ schickt.18 Besonders kritisch reagierte Burkes Text auf eine Predigt des nonkonformen Geistlichen Richard Price vor eben jener Revolutionsgesellschaft vom 4. November 1789.19 Price spannte darin einen Bogen von der Glorious Revolution zu der soeben in Frankreich ausgebrochenen Revolution. Er stellte sich und seine Hörer in die Tra‐ dition der Revolution von 1688/89, indem er die englische Verfassung und die 16 Obwohl zu Beginn tatsächlich als Brief konzipiert, ist die Briefform in der publizierten Fas‐ sung eher als rhetorischer Kunstgriff zu verstehen; vgl. etwa Bromwich 2011, S. 25; HampsherMonk, 2012a, S. 195; Bourke 2015, S. 680. Vgl. zur Korrespondenz mit Depont auch Lock 2006, S. 246-251. 17 Vgl. Richardson 1989, S. 57; Prickett 1989, S. 42; Stanlis 1991, S. 220f.; Zimmer 1995, S. 99f.; Lock 2006, S. 251-255; Müllenbrock 2002, S. 74; Hampsher-Monk 2014, S. xv-xvii; Pincus 2009, S. 21f. Zur Revolution Society vgl. auch Schwoerer 1990, S. 5f.; Wilson 1992, S. 306f. 18 Macleod 2002, S. 114. Vgl. auch Thomas, 2005; Bourke 2015, S. 681f. 19 Hier in der edierten Fassung, Price 1991. Zu Price vgl. Prickett 1989, S. 31f.; Thomas 2005, ders. 2001, S. vii-xxii; Laboucheix 1982.

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grundlegenden englischen Freiheiten lobte und auf die Revolution zurückführte.20 Diese Darstellung gipfelte in der Feststellung, das englische Volk habe in der Revo‐ lution die Gewissensfreiheit in religiöser Hinsicht erlangt, das Recht auf Widerstand gegen Machtmissbrauch sowie das Recht, die eigenen Herrscher zu wählen, sie bei Fehlverhalten abzusetzen und eine Regierung nach eigenem Ermessen zu bilden.21 Aber: „though the Revolution was a great work, it was by no means a perfect work.“22 Sie habe längst nicht alles erreicht, um eine perfekte freiheitliche Verfas‐ sung zu etablieren. Konkret bemängelte Price das Weiterbestehen der penal laws, die religiöse Nonkonformisten weiterhin einschränkten, sowie die ungleiche Repräsen‐ tation der Bevölkerung im Parlament.23 Bei aller Dankbarkeit gegenüber der Revo‐ lution und ihren Errungenschaften müsse weiter an der Etablierung von Freiheit und Gerechtigkeit gearbeitet werden. Am Ende lobte Price die Revolutionen in Amerika und Frankreich, die alle menschlichen Angelegenheiten verbesserten.24 Hier setzte Burkes Widerspruch an. Er betonte den erblichen Charakter der briti‐ schen Monarchie und verwarf die Vorstellung, Legitimität lasse sich nur über eine Wahl herstellen.25 Ebenso deutlich wehrte Burke die Idee ab, Herrscher könnten ein‐ fach abgesetzt werden, und das ‚Volk‘ könne sich seine verfassungsmäßige Ordnung selber geben.26 Auch in seiner Reaktion auf andere Bewunderer der Französischen Revolution wie seinen langjährigen Weggefährten, Charles James Fox, argumentier‐ te Burke mit der bestehenden englischen Verfassung und wies Vorstellungen von Volkssouveränität und Demokratie zurück.27 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass Burke sich wie Price dabei auf die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts berief, wobei hier vor allem die Glorious Revolution im Mittelpunkt stand, die Revolution der Jahrhundertmitte hin‐ gegen eher als negative Kontrastfolie diente. Burke stellte in den „Reflections“, aber auch in früheren Reden und Schriften immer wieder klar, dass er die Glorious Revo‐ lution und die Prinzipien, auf denen sie seiner Meinung nach gründe, in höchsten

20 Price 1991, S. 188-193. Vgl. auch Prickett 1989, S. 37f.; Laboucheix 1982, S. 123-125; Nor‐ man 2013, S. 136; Pincus 1990, S. 21f.; Lock 2006, S. 253f.; Pocock 1993, S. 302. 21 Price 1991, S. 189f. Vgl. Stanlis 1991, S. 221f.; Prickett 1989, S. 38f.; Laboucheix 19982, S. 122f.; Hampsher-Monk 2012a, S. 195f. 22 Price 1991, S. 191. Vgl. etwa Richardson 1989, S. 57. 23 Price 1991, S. 191f. Vgl. Prickett 1989, S. 39-41; Hilton 2006, S. 61; Bourke 2015, S. 686f. 24 Price 1991, S. 195f. Vgl. Prickett, 1989, S. 41f. 25 Burke 2014, S. 16 -28. Vgl. auch Prickett 1989, S. 47f.; Lock 2006, S. 309f.; Bourke 2015, S. 677f. Generell zu Burkes Verfassungsverständnis Craig 2012. 26 Burke 2014, S. 28-36. Vgl. Hampsher-Monk 2012a, S. 196; Lock 2006, S. 310; Bourke 2015, S. 688-700. 27 Appeal from the New to the Old Whigs, 3 August 1791. In: Burke 2015, S. 365-477. Vgl. zum Hintergrund des Textes auch Stanlis 1991, S. 228f.; Norman 2013, S. 146f.; Hampsher-Monk 2014, S. xix; ders. 2012b, S. 210f.; Lock 2006, S. 369-375; Bourke 2015, S. 763-767.

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Ehren halte.28 Die Revolution habe indes eindeutig die erbrechtliche Thronfolge be‐ stätigt. Grundlage für die Darstellung der Prinzipien der Revolution sei die Declara‐ tion of Rights, die entworfen worden sei „by great lawyers and great statesmen, and not by warm and inexperienced enthusiasts“.29 Darin werde mit keinem Wort die Möglichkeit erwähnt, die Herrscher zu wählen, sie abzusetzen oder eine neue Ord‐ nung zu etablieren. Und ebenso wenig sei dies einige Jahre später in der Act of Sett‐ lement geschehen.30 Die Krönung Wilhelms III. zusammen mit seiner Frau Maria habe zugegebenermaßen „a small and a temporary deviation from the strict order of regular hereditary succession“ dargestellt, die jedoch als „act of necessity“ unum‐ gänglich gewesen sei, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Aus dieser unbedingten Notwendigkeit sei jedoch kein Prinzip abzuleiten, zumal alle nachfolgenden Maß‐ nahmen die regelhafte Thronfolge nach dem Erbrecht bestätigt hätten.31 Den Aus‐ nahmecharakter der Revolution, ihr Charakter als „act of necessity“ betont Burke auch an anderer Stelle.32 Ein solcher Akt begründe gerade keine Regel, sei keine Präzedenz für Widerstand als Mittel der Politik. So sei auch das Haus Hannover eben deshalb auf den Thron gelangt, weil es sich bei Sophie von der Pfalz und ihren Erben um direkte Nachkommen Jakobs I. gehandelt habe.33 Burke interpretiert somit die Revolution als Bestätigung der erbrechtlichen Thronfolge wie auch als Wieder‐ herstellung der alten englischen Verfassung. Er betont, dass gerade in der Restaurati‐ on von 1660 und in der Revolution von 1688/89 die Nation an einem Punkt gewesen sei, an dem tiefgreifende Veränderungen hätten vollzogen werden können. Stattdes‐ sen aber habe man sich weise entschieden, die Verfassung intakt zu lassen und nur an den Stellen reparierend einzugreifen, an denen es unbedingt nötig gewesen sei, um das Ganze zu bewahren.34 In diesem Sinne stellt sie für ihn einen Gegensatz zur Revolution der 1640er Jahre dar, die die alte Verfassung zerstört habe, was erst durch die Restauration von 1660 wieder rückgängig gemacht worden sei.35

28 Burke 2014, S. 4f. Dazu aber auch bereits frühere Äußerungen, etwa Speech on Conciliation with America, 22 March 1775. In: ders. 2002, S. 102-169, hier S. 140; oder Speech on Regen‐ cy, 22 December 1788. In: ders. 2015, S. 246-257, hier S. 253. Vgl. zu Burkes Haltung zur Glorious Revolution Wecker 1981, S. 91-95; und Stanlis 1991, S. 216-242. Zu seiner Einschät‐ zung der Englischen Revolution 1642-1660 knapp Wecker 1981, S. 83-89. 29 Burke 2014, S. 17. Dazu auch Stanlis 1991, S. 222; Lock 2006, S. 309. 30 Burke 2014, S. 17f. 31 Ebd., S. 18f. und S. 23. Zu Wilhelm heißt es zu dem er sei „though not next“, so doch „very near in the line of succession“ gewesen; ebd. S. 19. Vgl. Stanlis 1991, S. 222-224; Lock 2006, S. 310; Bourke 2015, S. 693-696. 32 Z.B. Speech on Regency, 22 December 1788. In: Burke 2015, S. 246-257, hier S. 253. Zu Bur‐ kes Necessity-Argumentation auch Freeman 1980, S. 182f.; Bourke 2015, S. 699f. 33 Burke 2014, S. 24-26. Vgl. Stanlis 1991, S. 224f. 34 Burke 2014, S. 22f. Vgl. auch Pocock 1993, S. 303; Freeman 1980, S. 173-187. 35 Burke 2014, S. 17f. Vgl. auch Burkes Position während der Auseinandersetzung um den Ausschluss von John Wilkes aus dem Unterhaus: Speech on Parliamentary Incapacitation, 31 January 1770. In: ders. 2005, S. 233-236, hier S. 234f.

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Das heiße jedoch nicht, so Burke, die alten, längst überlebten Divine-Right-Theo‐ rien wiederzubeleben, wie sie die „old fanatics of single arbitrary power“ zum Dog‐ ma erhoben hätten.36 Gemeint waren hier jene Tory- und High-Church-Doktrinen, die insbesondere in der Regierungszeit Annas formuliert worden waren, die jedoch nunmehr nur noch Strohmänner seien, die Richard Price und anderen dazu dienten, ihre eigenen radikalen Vorstellungen zu verteidigen.37 Dagegen betonte Burke die Notwendigkeit, die in einer Ausnahmesituation eine begrenzte Abweichung vom verfassungsmäßigen Zustand erlaubt habe, um insgesamt die Verfassung zu wahren. Die Akteure hätten sich alle Mühe gegeben, „to make the Revolution a parent of settlement, and not a nursery of future revolutions“.38 Die Ausnahmesituation 1688 könne auch nicht durch „misconduct“ in einzelnen Fällen begründet werden, son‐ dern nur durch einen fundamentalen und umfassenden Bruch der Verfassung durch Jakob II.39 An anderer Stelle hob Burke auch hervor, dass die Revolution eine Kon‐ sequenz der Verfassungsbrüche Karls II. und Jakobs II. gewesen sei, die zu sehr ver‐ sucht hätten, die Tyrannei Ludwigs XIV. von Frankreich nachzuahmen.40 Damit hät‐ ten sie sich als Neuerer und Zerstörer der Verfassung erwiesen, und genau dagegen habe sich die Nation erhoben: „What we did was in truth and substance, and in a constitutional light, a revolution, not made, but prevented“.41 Wer also, wie Richard Price, die Revolution von 1688/89 heranziehe, um damit die erbrechtliche Monar‐ chie anzugreifen und grundlegende Veränderungen der Verfassung zu fordern, der meine eigentlich die Prinzipien der Revolution von 1642/49. Und nur auf diesem Wege lasse sich letztlich die Französische Revolution mit derjenigen in England ver‐ gleichen.42 In seiner ersten öffentlichen Äußerung zur Revolution in Frankreich, in seiner Rede zur Einschätzung der Armee, betonte Burke den aristokratischen Cha‐ rakter und den geordneten Übergang in der Revolution. Wilhelm sei von den Eliten des Landes eingeladen worden, die mit ihren Soldaten in bester Ordnung übergelau‐ fen seien, ohne dabei ihre Disziplin zu verlieren.43 Burkes Deutung der Revolution ist also einerseits eine der Kontinuität: „You will observe, that from Magna Charta to the Declaration of Right, it has been the uniform policy of our constitution to claim and assert our liberties, as an entailed inheritance derived to us from our forefathers, and to be transmitted to our posterity“.44 Die Re‐ 36 Burke 2014, S. 27f. Vgl. Stanlis 1991, S. 225f. 37 Burke 2014, S. 27f. 38 Ebd., S. 28; und ähnlich auch ebd., S. 63f.: „I never liked this continual talk of resistance and revolution, or the practice of making the extreme medicine of the constitution its daily bread“. 39 Burke 2014, S. 28, S. 31f. 40 Speech on the Army Estimates, 9 February 1790. In: Burke 2015, S. 281-305, hier S. 285f. 41 Ebd., S. 292. Vgl. dazu Stanlis 1991, S. 218f.; Freeman 1980, S. 232. 42 Burke 2014, S. 17f., S. 67. Vgl. Stanlis 1991, S. 221; Lock 2006, S. 324. 43 Speech on the Army Estimates, 9 February 1790. In: Burke 2015, S. 281-305, hier S. 292. Vgl. auch Stanlis 1991, S. 221. 44 Burke 2014, S. 34.

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volution stelle in dieser kontinuierlichen Geltung der Verfassung nur einen Akt der Wiedergewinnung im Moment der Gefährdung dar.45 Zugleich begreift Burke die Revolution von 1688/89 jedoch auch als Zäsur. Mehrfach beschreibt Burke die Re‐ volution als Ausgangspunkt einer Entwicklung, deren Fundament eine bewusste Entscheidung der Akteure in der Revolution gewesen sei. Mit ihren weisen und vor‐ sichtigen Maßnahmen hätten sie Regelungen getroffen und im Statutenrecht veran‐ kert, die bis dahin zwar als common law Geltung besessen hätten, jedoch gefährdet gewesen seien.46 Die bewusst getroffenen Entscheidungen – in der Declaration of Right und der Act of Settlement – begründeten ein hohes Maß an Sicherheit und Sta‐ bilität. In einer Parlamentsrede von 1770 stellte Burke zudem fest, dass die Macht des Unterhauses seit der Revolution gefestigt worden sei.47 Und in seinem Plädoyer zugunsten der nordamerikanischen Kolonien sprach Burke auch von jenen Gehor‐ samsgründen, die in und durch die Glorious Revolution etabliert worden seien und die nicht aus einer umfassenden Passive-Obedience-Doktrin stammten, sondern aus einer verfassungsmäßigen Ordnung, die der Zustimmung durch die Beherrschten be‐ dürfe.48 Diese Deutungen der Revolution als zumindest begrenzte Zäsur innerhalb einer weit zurückreichenden Verfassung verdeutlichen Burkes differenzierte Haltung zu den vergangenen Revolutionen, die aber zugleich Teil eines etablierten Ge‐ schichtsbildes waren.

II. Revolutionsnarrative im 17. und 18. Jahrhundert Die Deutungen der Revolutionen des 17. Jahrhunderts befanden sich seit den 1760er Jahren in einem Wandel. Mit der Thronbesteigung Georgs III. im Oktober 1760 ging eine weitgehende Neukonfiguration der Parteienlandschaft im britischen Parlament einher. Ohne hier auf die Bedeutung von Parteien im 18. Jahrhundert eingehen zu können,49 kann vereinfachend gesagt werden, dass zwischen der Thronbesteigung Georgs I. aus dem Haus Hannover im Jahr 1714 bis zum Tod Georgs II. am 25. Ok‐ tober 1760 eine Art Whig-Oligarchie die politische Macht im Parlament weitgehend 45 Deutlicher als in den „Reflections“ kommt diese Position in der Rede vom Februar 1790 zum Ausdruck: „This country did not owe its constitution to what was called the Revolution. We had in fact no revolution, nor did we obtain a new constitution. The man who held the govern‐ ment, and was the head of the executive power was abandoned by the country, because he wis‐ hed to change the constitution, but the constitution remained; the laws were the same, the rights of the subject the same; and the religion the same.“ Speech on the Army Estimates, 9 February 1790. In: Burke 2015, S. 281-305, hier S. 298f. Vgl. dazu auch Lock 2006, S. 256. 46 Burke 2014, S. 21f. 47 Speech on Parliamentary Incapacitation, 31 January 1770. In: Burke 2005, S. 233-236, hier S. 234. 48 Address to the King, January 1777. In: Burke 2002, S. 258-276, hier S. 273. 49 Vgl. zur Entwicklung der politischen Parteien in England/Großbritannien seit dem späteren 17. Jahrhundert z.B. Holmes 1967; Speck 1970; Hill 1976; ders.1996; ders. 2002a; Harris 1993.

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monopolisiert hatte.50 Das bedeutet weder, dass die Krone und der Hof als Zentren politischer Entscheidung wie auch von komplexen Patronagebeziehungen an Bedeu‐ tung verloren hätten, noch dass die Tories als ideologisches Sammelbecken für die Interessen des ländlichen England und der Anglikanischen Kirche keine Rolle mehr gespielt hätten.51 Gleichwohl hatten sich insbesondere in der Ära des ersten Premier‐ ministers, Robert Walpole, Machtstrukturen verfestigt, die einer höfisch-aristokrati‐ schen Whig-Clique die Macht weitgehend sicherten, während zugleich die diskursi‐ ven Strukturen eine Machtbeteiligung der Tories durch ihre Verfemung als vermeint‐ liche Jakobiten nahezu unmöglich machten. Trotz einer breiten, sowohl unzufriede‐ ne, an den Machtstrukturen der Partei nicht partizipierende Whigs als auch moderate Tories umfassenden Opposition, die insbesondere mit dem Begriff der country-Platt‐ form sowie dem Namen Henry St. John, Viscount Bolingbrokes verbunden ist, blieb diese „Tory proscription“ während der Regierungszeiten der ersten beiden Könige aus dem Haus Hannover bestehen.52 Georg III., der als Enkel Georgs II. auf den Thron kam, hatte hingegen in seiner Kronprinzenzeit intensive Kontakte zu opposi‐ tionellen Politikern gepflegt und war ebenso wie sein Vater, Friedrich Ludwig, von Bolingbroke und seiner „Idea of a Patriot King“ geprägt.53 Obwohl die 1760 ins Amt berufene Regierung keineswegs einen radikalen Bruch mit der letzten Regie‐ rung Georgs II. darstellte, fürchteten doch viele Mitglieder der alten Whig-Oligar‐ chie einen grundlegenden Politikwechsel. Die Tendenz des jungen Königs, der Kro‐ ne wieder eine aktivere Rolle in der Ausgestaltung der britischen Politik zu sichern, brachte ihm sogar den Vorwurf ‚absolutistischer‘ Bestrebungen ein.54 Darüber hi‐ naus kam es im ersten Jahrzehnt der Herrschaft Georgs III. zu weitreichenden gesell‐ schaftlichen Konflikten – zu nennen sind etwa die ‚radikale‘, auf Demokratisierung zielende Bewegung um John Wilkes, religiöse Bewegungen wie der Methodismus sowie die zunehmenden Auseinandersetzungen mit den nordamerikanischen Koloni‐ en.55 Die Wahrnehmung, Erinnerung und ‚Verargumentierung‘ der Revolutionen des 17. Jahrhunderts wurden im Zuge dieser Entwicklungen refiguriert, ohne dass dabei die älteren Muster, die sich in den Debatten der Revolutionszeit herausgebildet hat‐ ten, ganz verloren gingen.56 In den Jahren nach 1688 hatten sich mehrere Deutungs‐ 50 Vgl. zusammenfassend Hoppit 2000, S. 397-413; Langford 1992, S. 9-57. 51 Vgl. dazu immer noch Colley 1982; und Clark 1988, S. 119-198. 52 Zu Walpoles System vgl. zusätzlich zu den Angaben in Anm. 41 Plumb 1956; ders. 1960; Hill 1989; und allgemeiner Williams 1965, S. 172-202; Speck 1977, S. 203-218. 53 Vgl. etwa Thompson 2011, S. 111-113, 119-122, 208f., 239; Black 2006, S. 10-21; Langford 1992, S. 221f., 231. 54 Vgl. etwa Langford 1992, S. 340-347; Dickinson 1994, S. 224; Black 2006, S. 49-53. 55 Langford 1992, S. 352-388; Dickinson 1994, S. 221-226; ders. 1985; Brewer 1976, S. 163-216; und speziell zu Rudé 1962. Zum Weiterwirken millenarisch-apokalyptischer Traditionen im englischen Radikalismus des späteren 18. Jahrhunderts vgl. Fruchtman 1983. 56 Grober Überblick über die Debattenstrukturen z.B. bei Goldie 1980. Vgl. auch Schwoerer 1977.

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muster etabliert, die teils in Konkurrenz zueinander, teils auch in Vermischung mit‐ einander politische Positionen mit Blick auf die jeweilige Gegenwart markierten. Schon im unmittelbaren Kontext der Landung Wilhelms III. und der Flucht Jakobs II. implementierten prominente Sprecher wie Gilbert Burnet, ab 1689 Bischof von Salisbury, eine biblizistisch-providentialistische Deutung der Ereignisse, die in ihnen einen unmittelbaren Eingriff Gottes sahen und sie innerhalb alttestamentlicher sowie teilweise apokalyptischer Frames interpretierten.57 Dabei handelte es sich mitnich‐ ten nur um eine Repräsentations- und Legitimationsstrategie, sondern die Revolution wurde wahrgenommen innerhalb heilsgeschichtlicher Weltdeutungen und sie wurde als Aufforderung für eine moralische Reform, eine „reformation of manners“, ver‐ standen.58 Gleichwohl stellte eine solche Deutung der Ereignisse zugleich eine breite argumentative Grundlage für einen parteienübergreifenden Konsens dar. Eine solche Argumentation war akzeptabel sowohl für moderat whiggistische Kreise wie auch für die anglikanischen Tories. Sie blendete den aktiven Widerstand innerhalb der Eliten oder gar breiteren Bevölkerung gegenüber der Regierung Jakobs II. aus und betonte den göttlichen Willen in der Revolution. Dementsprechend passte eine solche Deutung auch gut zu einem zweiten Erinne‐ rungsmodus, der ebenfalls auf Konsens ausgerichtet war, nämlich die Interpretation der Revolution als Bewahrung oder Wiederherstellung der alten englischen Verfas‐ sung und der Errungenschaften der Reformation, die von Jakob und seiner Regie‐ rung bedroht worden seien. Die Revolution habe demnach keinerlei Neuerung ge‐ bracht – im Gegenteil: Der Neuerer sei der katholische, an französische Regierungs‐ praktiken orientierte Jakob II. gewesen, dessen ‚freiwillige‘ Flucht als Schuldeinge‐ ständnis und Abdankung gewertet wurde. Sein im Juni 1688 geborener Sohn galt ohnehin in weiten Teilen der Bevölkerung als untergeschoben und damit illegitim, als perfide Intrige von Jesuiten, um eine katholische Thronfolge in England zu si‐ chern.59 Teil der Argumentation war auch hier die Leugnung eines aktiven Wider‐ stands gegen den legitimen Herrscher. Als handelnde Person wurde entweder im Sinne der providentialistischen Deutung Gott selbst gesehen oder aber Wilhelm III. von Oranien. Letzterer habe für seine Frau, Maria II. Stuart, die als legitime Thron‐ folgerin galt, gehandelt und zudem als souveräner Fürst von Oranien. Hier setzte auch ein drittes Deutungsmuster ein: Als souveräner Fürst habe Wil‐ helm III. Jakob II. in einem gerechten Krieg besiegt und England erobert. Damit ha‐ be er als Eroberer ein unbestreitbares Recht zur Herrschaft gehabt.60 Freilich erwies sich eine solche Deutung als nicht unproblematisch. So sehr sie ebenfalls auf Kon‐ 57 Niggemann 2017b, S. 128-163. Vgl. aber mit ähnlicher Tendenz auch schon Claydon 1996; Kenyon 1977, S. 24f.; und Straka 1962. Zu Burnet auch Greig 2013. 58 Dazu grundlegend Bahlmann 1957; sowie Claydon 1996, S. 90-121; Niggemann 2017b, S. 260-277. 59 Vgl. Kenyon 1977, S. 8-13; Nenner1993, S. 198-208; Niggemann 2017b, S. 163-188. 60 Kenyon 1977, S. 26-34; Niggemann 2017b, S. 188-195.

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sens angelegt war, indem sie die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Revolution aus‐ blendete und ein Herrschaftsrecht de facto konstruierte, so sehr rückte sie auch in die Nähe jakobitischer, die Revolution ablehnender Argumentationslinien, die Wilhelms Herrschaft als Usurpation und Gewaltherrschaft apostrophierten.61 Lediglich einige radikale Whigs argumentierten offen mit widerstandsrechtlichen Vorstellungen und deuteten die Revolution somit als erfolgreiche Erhebung der eng‐ lischen Nation gegen die Tyrannei Jakobs II., der folglich in der Revolution abge‐ setzt worden sei.62 So sehr eine solche Sicht geeignet schien, ein grundsätzliches Widerstandsrecht gegen Tyrannei zu begründen, so wenig ließ sich daraus eine kon‐ sensfähige Erinnerungskultur ableiten. Die entsprechenden Narrative blieben somit insgesamt in den Jahren nach der Revolution marginal, auch weil sie von vielen als nachträgliche Begründung und Legitimierung auch der Revolution der 1640er Jahre verstanden wurden. Diese blieb jedoch tabuisiert, die Gedenktage zur Hinrichtung Karls I., die jedes Jahr am 30. Januar zelebriert wurden, ebenso wie die jährlichen Festtage zur Restauration der Monarchie am 29. Mai blieben als Gelegenheiten be‐ stehen, die Monarchie zu preisen und Rebellion zu verdammen.63 In der Regierungszeit Annas brach freilich im Zuge des sogenannten ‚rage of par‐ ty‘, der massiven Konfrontation zwischen Whigs und Tories64, der Konsens in der Deutung der Revolution auseinander. Dabei muss man sich klarmachen, dass der Konflikt keineswegs nur ein säkular-politischer war, sondern seine Entsprechung in der inneranglikanischen Konfrontation zwischen Low-Church- und High-ChurchStrömungen hatte.65 Die den Tories nahestehenden hochkirchlichen Anglikaner hat‐ ten sich von der Thronbesteigung Annas, der jüngeren Tochter Jakobs II., eine Rück‐ kehr zur engen Bindung zwischen der Krone und der Anglikanischen Kirche sowie ein Ende der durch die Revolution etablierten Toleranzpolitik erhofft. Anna indes hielt an den Ergebnissen der Revolution fest und stützte sich seit 1705 zunehmend auf Whig-Politiker.66 Die Enttäuschung vieler Anglikaner drückte sich in Verbalatta‐ cken auf religiöse Nonformisten sowie die Low-Church-Geistlichen innerhalb der ei‐ genen Kirche aus. Letztere wiederum – und unter ihnen besonders prominent Benja‐ min Hoadly67 – warfen den Tories und der High Church jakobitische Sympathien und tyrannische Herrschaftsvorstellungen vor. Zu diesem Zweck griffen sie zuneh‐ mend auf jene Deutungen der Revolution von 1688/89 zurück, die den Widerstand und die Zäsur betonten, während die den Tories nahestehenden Publikationen an den Konsensnarrativen der Zeit nach 1688 festhielten und ihren Gegnern rebellische 61 62 63 64 65 66 67

Kenyon 1977, S. 26-34; Niggemann 2017b, S. 192-194. Niggemann 2017b, S. 195-211. Vgl. dazu Cressy 2004, S. 171-174. Begriff bei Plumb 1982, S. 129. Vgl. auch Müllenbrock 1997. Zu den Spannungen innerhalb der Kirche vgl. Gibson 2001, S. 28-96; Bennett 1975. Zur Regierungszeit Annas vgl. Holmes 1967; Speck 1994; Hoppit 1980. Zu Hoadly vgl. Taylor 2008.

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Prinzipien nachsagten.68 Die eigentlich auf parteienübergreifenden Konsens ausge‐ richteten Narrative der Regierungszeit Wilhelms III. wurden also nunmehr vor allem von Tories genutzt, während Whigs zunehmend die bis dahin marginalen Wider‐ standsnarrative verwendeten. Zugleich blieben freilich die Ereignisse zwischen 1642 und 1660 politisch tabu. Lediglich als Vorwurf, die Whigs betrieben insgeheim die Rehabilitierung der Revolutionäre (bzw. in der Sprache der Tories: der Rebellen) der 1640er und 1650er Jahre und strebten die Errichtung einer Republik an, waren Bür‐ gerkrieg und Interregnum in der Debatte präsent.69 Mit der Thronbesteigung Georgs I., der Niederschlagung des Jakobitenaufstands von 1715 und dem weitgehenden Ausschluss der Tories von politischen Machtposi‐ tionen, ja der weitgehenden Diskreditierung der Tory-Politik der letzten Jahre An‐ nas, verlor der Deutungskonflikt um die Glorious Revolution etwas von seiner Bri‐ sanz.70 Die Position der Whig-Oligarchie und der Walpole-Regierung nach 1720 war eine moderate Whig-Position, die den in der Revolution praktizierten Widerstand nicht leugnete, ihn aber doch im Sinne einer necessity-Argumentation zur Ausnahme machte. Die Regierungspublizistik bemühte sich darum, einerseits die Kontinuität whiggistischer Prinzipien und die Erfolge whiggistischer Politik seit der Revolution nachzuweisen und andererseits antimonarchisch-republikanische Prinzipien strikt abzulehnen. Besonders aufschlussreich ist hier eine Passage aus einer anonymen, wohl von John Hervey verfassten Flugschrift gegen die Opposition: „‘Till the Revo‐ lution there was no such thing as Liberty; That after the Restoration was nothing compared to the Strength it gain’d at the Revolution; and the Strength it then acqui‐ red is so far, in my Opinion of Things, from being now impair’d, that it never flou‐ rish’d in such full Vigor as in the happy and prosperous Reign of his present Majes‐ ty“.71 Eben deshalb tendierten die politischen Äußerungen der Whig-Regierung da‐ zu, die Revolution zur Zäsur zu stilisieren. Auf ihr beruhten die englischen Freihei‐ ten, sie waren Errungenschaften des whiggistisch interpretierten Revolution Settle‐ ment und der Whig-Regierungen seither.72 Die großen historiographischen Abhandlungen, etwa Laurence Echards „History of England“ (1707-1718, 1725)73, Paul de Rapin de Thoyras‘ „History of England“

68 Vgl. dazu Kenyon 1977, S. 83-127; Niggemann 2017b, S. 323-384. 69 Niggemann, 2018, S. 370-378; ders. 2013. 70 Nicht vergessen werden darf freilich, dass in dieser Phase jakobitische Positionen etwas häufi‐ ger wurden und sich auch in publizistischen Organen äußerten; vgl. dazu Niggemann, 2017b, S. 455-457. Zur jakobitischen Bewegung und zu den Aufständen von 1715 und 1745 vgl. auch Lenman 1984; Szechi 1996; ders. 2002. 71 [Hervey] 1734, S. 5. Vgl. Niggemann 2017b, S. 461f.; Richardson 1988, S. 49. 72 Vgl. Kramnick 1967, S. 38-46; ders. 1968, S. 177-181; sowie Niggemann 2017b, S. 461-465, 471-475, 497-500. 73 Echard 1707-1718; ders. 1725. Vgl. zu Echard auch Okie 1991, S. 32-40; Ridley 2004.

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(1725-32)74 oder David Humes „History of England“ (1754-1762)75, boten hingegen ein widersprüchliches Bild. Während David Hume durchaus den Zäsurcharakter der Revolution betonte, interpretierten Echard und Rapin de Thoyras die Revolution stärker als Bewahrung oder Wiederherstellung einer uralten englischen Verfassung.76 Es war die politische Opposition, die Tory- wie auch Whig-Positionen umfasste, die der Whig-Regierung das Erbe der Revolution streitig machte und ihr vorwarf, die Revolution zu verraten. Sowohl der den Tories nahestehende Bolingbroke als auch Whig-Pamphletisten um John Trenchard und Thomas Gordon argumentierten in die‐ ser Weise. Hier wurde nicht nur auf widerständige Deutungsmuster des ausgehenden 17. Jahrhunderts zurückgegriffen, sondern auch erstmals der Gedanke geäußert, die Revolution sei nicht vollkommen gewesen und müsse fortgeführt werden.77 Zudem konnte innerhalb sich radikalisierender politischer Strömungen die bis dahin weitge‐ hend tabuisierte „rebellion“ der Mitte des 17. Jahrhunderts im Rahmen dieser Neu‐ positionierungen positiv umgedeutet werden.78 Die Veränderungen nach 1760 sorgten dafür, dass die sich neu bildenden politi‐ schen Gruppierungen oder ‚Parteien‘ sich neu zu den Revolutionen des 17. Jahrhun‐ derts positionieren mussten. Insbesondere die Rückkehr von Tories in die Regierung führte zu einer Wiederbelebung alter Whig-Reflexe gegen die Tories, die im Kontext der Vorwürfe gegen Georg III. erneut als Befürworter einer uneingeschränkte Divi‐ ne-Right-Monarchie präsentiert wurden.79 Zugleich griffen nun oppositionelle Whigs wie John Wilkes oder die frühe Frauenrechtlerin Catharine Macaulay die Zä‐ sur-These wieder auf und konstruierten eine seit 1688 anhaltende revolutionäre Ent‐ wicklung, die weiter vorangetrieben werden müsse. Catharine Macaulay bewertete auch die Bürgerkriege und das Interregnum teilweise positiv, kritisierte sogar die Glorious Revolution für ihren konservativen, aristokratischen Charakter.80 Das Re‐ volutionsjubiläum von 1788 geriet somit auch zu einem Deutungskampf über die re‐ volutionäre Vergangenheit und zu einem Schlagabtausch unterschiedlicher politi‐ scher Strömungen, die ihrerseits insbesondere die Revolution von 1688/89 nutzten,

74 Hier in der Übersetzung durch Nicolas Tindal, Rapin de Thoyras 1725-1732. Vgl. Okie 1991, S. 47-68; Kraus 2006, S. 133-143; Sullivan 2004. 75 Hier in der Edition Hume 1983. Vgl. Okie 1991, S. 195-204; Kenyon 1993, S. 43-57; Wootton 2005; Kraus 2006, S. 193-198; Robertson 2009. 76 Vgl Niggemann 2017b, S. 498-503. 77 Niggemann 2017b, S. 457-461. Zu der Oppositionsliteratur der 1720er und 1730er Jahre auch Kramnick 1968; Pocock 2003, S. 462-486; Gerrard 1994; Pettit 1997. 78 Niggemann 2018, S. 380f. Die Tabuisierung war durch die posthum veröffentlichte und mit einer klaren Tory-Tendenz versehene „History of the Rebellion“ von Clarendon noch verstärkt worden; Clarendon 1702-1704. Vgl. dazu Okie 1991, S. 20-22; Richardson 1988, S. 27-38. 79 Vgl. Lee 2002, S. 73; Langford 1992, S. 340-347; Niggemann 2018, S. 379f. 80 Vgl. Richardson 1988, S. 53-55; Dickinson 1994, S. 178f., 224f.; Wilson 1992, S. 324-328; Niggemann 2017b, S. 502f.; ders. 2018, S. 380f. Weitere Beispiele zur Neubewertung der Bür‐ gerkriege und des Interregnums bei Richardson 1988, S. 60-62.

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um ihre eigene Position zu markieren.81 Als dann 1789 Nachrichten über die Franzö‐ sische Revolution England erreichten, wurden sie folglich im Lichte der bereits lau‐ fenden Debatten um politische Reformen und die Bedeutung der englischen Revolu‐ tionen diskutiert. Die Rezeption der Französischen Revolution erfolgte also in einer spezifischen, bereits stark polarisierten Aneignungssituation, in der auch Burkes Äu‐ ßerungen nicht unbeantwortet blieben.82

III. Argumentative Verwendungen der Revolutionsnarrative Edmund Burkes in verschiedenen Kontexten formulierte Rückblicke auf die Revolu‐ tionen des 17. Jahrhunderts können nicht losgelöst von diesen Entwicklungen und erinnerungskulturellen Refigurationen betrachtet werden. Burkes Äußerungen zur Glorious Revolution und – weitaus marginaler – zur Revolution der 1640er Jahre lassen sich einbetten in die bereits seit dem 17. Jahrhundert kursierenden Narrative, die in zahlreichen Erinnerungsakten – Predigten, Festtagen, Parlamentsreden, politi‐ sche Publizistik – sowie in historiographischen Abhandlungen stets aufs Neue im‐ plementiert wurden. Es ist davon auszugehen, dass Burke nicht nur die großen histo‐ riographischen Werke wie Rapin de Thoyras‘ „History of England“ oder David Hu‐ mes „History of England“ kannte,83 sondern auch sonst vielfach von den verbreite‐ ten Geschichtsbildern geprägt war. Es überrascht also nicht, dass seine Deutungen eher konventionell waren und an vorhandene Deutungsmuster anknüpften. Gleich‐ wohl lässt sich konstatieren, dass Burkes Aussagen sich aus einem breiten Spektrum möglicher Deutungen bedienten, dass sie selektierten und sich in einen bestimmten Traditionsstrang einordnen lassen. Und genau darum muss es im letzten Schritt die‐ ses Beitrags gehen. Burkes Deutungen der Revolutionen des 17. Jahrhunderts liegen deutlich auf der Linie der in den Jahren nach 1688 entwickelten Konsensnarrative, insofern Burke den Widerstand in der Revolution nicht leugnet, ihn aber als präzedenzlose Ausnah‐ me, die nur durch eine unbedingte necessitas legitimiert werden könne, charaktieri‐ siert. Ganz explizit schließt sich Burke in seinem „Appeal from the New to the Old Whigs“ von 1791 an die Linie der Mehrheit des House of Commons im Rahmen des Impeachment-Verfahrens gegen Henry Sacheverell an.84 Der Anglikanische Prediger Sacheverell hatte zum 5. November 1709 in der St.-Pauls-Kathedrale eine Predigt 81 Vgl. Schwoerer 1990, S. 2-8; Wilson 1992; dies. 1989. 82 Vgl. z.B. Pocock 1993, S. 305-310; Norman 2013, S. 139-142. 83 Vgl. den eher fragmentarischen Überblick bei Wecker 1981, S. 61-64; und noch knapper Ken‐ yon 1993, S. 59f. 84 Appeal from the New to the Old Whigs, 3 August 1791. In: Burke 2015, S. 365-477, hier S. 411-428. Vgl. zu Burkes Argumentation mit dem Impeachment von 1710 Stanlis 1991, S. 234f.

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mit dem Titel „In Perils of False Brethren“ gehalten und sich darin dezidiert gegen die Toleranzpolitik der Low-Church-Anglikaner sowie gegen die whiggistische Deu‐ tung der Glorious Revolution gewandt. Sacheverell hatte zugleich die anglikani‐ schen Doktrinen der Non-Resistance und Passive-Obedience verteidigt und argu‐ mentiert, dass diese in der Revolution exakt eingehalten worden seien, dass es erst Whig-Theoretiker wie Benjamin Hoadly gewesen seien, die die Revolution durch ihre Widerstandslehren zu einer Rebellion wie die von 1641 gemacht hätten.85 Sa‐ cheverell war dafür von einer whiggistischen Mehrheit im Unterhaus angeklagt wor‐ den, indem behauptet wurde, er habe damit die Legitimität der Revolution geleug‐ net.86 In Wahrheit ging es gar nicht um die Frage der Loyalität zur Revolution, son‐ dern um konkurrierende Deutungen und ihre Implikationen im Hinblick auf den postrevolutionären Staat, auf die Begründung der Thronfolge des Hauses Hannover sowie um die Frage, ob Whigs oder Tories die verlässlicheren Partner der Krone in der postrevolutionären Monarchie seien.87 Zuzustimmen ist freilich Burkes Ein‐ schätzung, dass das Urteil letztlich eine Festschreibung der gängigen Whig-Doktri‐ nen gewesen sei.88 Hier zeichnete sich bereits jenes Bild von der Revolution ab, dass in der Regierungszeit Georgs I. und Georgs II. vorherrschend wurde: Das Bild eines begrenzten und legitimen Widerstands in einer Ausnahmesituation und einer in der Revolution gestärkten, fixierten und gesicherten Verfassung, die im Kern mit der Ancient Constitution übereinstimme, deren Vorgeschichte jedoch aufgrund der Zäsur von 1688 nicht mehr relevant sei.89 Sieht man einmal von der in den Jahren nach 1688 enorm wirkmächtigen providentialistischen Deutung ab, die bei Burke keine tragende Rolle mehr spielte,90 so bewegte sich Burkes Deutung der Revolution also in einem schon früh etablierten und auf breiten Konsens ausgerichteten Rahmen. Er schloss sich damit weder einer toryistischen Deutung an, die das Divine Right of Kings ebenso betonte wie die unverminderte Geltung einer Non-Resistance-Doktrin, noch einer radikal-whiggistischen Deutung, die von Anfang an formuliert worden war und als Unterströmung in oppositionellen Kreisen das ganze 18. Jahrhundert eine Rolle gespielt hatte und die im Kontext der Wilkes-and-Liberty-Bewegung, der Amerikanischen Revolution, des Revolutionsjubiläums von 1788 und in der Ausein‐ andersetzung mit der Französischen Revolution ins Zentrum der Debatte rückte. Burkes Deutung der Revolutionen – einer abzulehnenden Rebellion in den 1640er 85 Sacheverell 1709. Vgl. z.B. Holmes 1973; Kenyon 1977, S. 128-130; Cowan 2012; Niggemann 2017b, S. 332f., 367-372. 86 Vgl. zur Anklage v.a. Holmes 1973, S. 76-155. 87 Vgl. Cowan 2012, S. 140f.; Niggemann 2017b, S. 383f. 88 Appeal from the New to the Old Whigs, 3 August 1791. In: Burke 2015, S. 365-477, hier S. 411. 89 Vgl. Niggemann 2017b, S. 383f. 90 Dass religiöse Deutungsmuster und eine religiöse Grundierung politischer Überzeugungen durchaus eine Rolle spielten, zeigen etwa Freeman 1980, S. 16-34 und passim; Wecker 1981, S. 35-38; Harris 2012, S. 92-103.

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Jahren und einer bewundernswert vernünftigen, weil moderaten Revolution 1688/89 – entsprach somit bis ca. 1788 dem Mainstream der Revolutionserinnerung. Burke stilisierte diese Deutung 1790/91 als die Haltung eines „Old Whig“, es war aber bis über die Jahrhundertmitte hinaus eher die Haltung der „Court Whigs“, also die Hal‐ tung der regierenden Whig-Familien, die freilich wesentliche Elemente einer mode‐ raten, auf Konsens ausgerichteten Whig-Interpretation der Ereignisse von 1642 und 1688/89 übernommen hatten.91 „Konservativ“ ist dafür nicht der richtige Termi‐ nus, denn die von Burke formulierte Haltung zur Revolution entsprang durchaus dem Bewusstsein, dass die Errungenschaften der britischen Verfassung, die parla‐ mentarischen Rechte, die Begrenzung der königlichen Prärogative Errungenschaften der Revolution waren, auch wenn sie in Burkes Deutung schon in der Ancient Con‐ stitution angelegt gewesen waren. Doch erst die Revolution habe diese Errungen‐ schaften dauerhaft gesichert. Das schloss weitere Reformen nicht aus, aber die Re‐ volution hatte Rahmenbedingungen geschaffen, innerhalb derer Reformen parlamen‐ tarisch ausgehandelt werden konnten.92 Auffällig ist die recht weitgehende Konsistenz in der Revolutions-Deutung der Burkeschen Texte, die lediglich in Bezug auf den Zäsurcharakter der Revolution et‐ was schwankten. Burke selbst betonte in seinem „Appeal“, dass er seine Prinzipien, die Prinzipien eines „Old Whig“ stets vertreten habe93, und es spricht – jedenfalls mit Blick auf seine Interpretation der Glorious Revolution – einiges für diese Sicht. Regina Wecker betont dagegen den Wandel der Burkeschen Deutungen von einer eher „revolutionären“ hin zu einer restaurativen Interpretation.94 Hier soll hingegen gezeigt werden, dass es weniger Burkes Deutung der Revolution war, die sich verän‐ derte, sondern vielmehr die Kontexte und Aneignungssituationen, innerhalb derer er die Revolution und ihre Ergebnisse verargumentierte. Burke äußerte sich beispiels‐ weise in der Debatte um den Ausschluss von John Wilkes aus dem Unterhaus. Wil‐ kes war in seinem Wahlkreis in Middlesex zum Abgeordneten gewählt, im Februar 1769 aufgrund seiner radikalen politischen Ansichten und einer vorangegangenen Inhaftierung ausgeschlossen worden.95 Burke – obwohl politisch kein Sympathisant von Wilkes – argumentierte gegen den Ausschluss, den er für verfassungswidrig hielt. Er betonte dabei den in der Revolution festgeschriebenen Grundsatz der ge‐ mischten Verfassung, in der König, House of Lords und House of Commons Glieder 91 Niggemann 2017b, S. 446-478. 92 Michael Freeman spricht hier von einem „quasi-perfectionism“ – Burke hielt die 1688/89 fi‐ xierte Verfassung für perfekt im Rahmen menschlicher Möglichkeiten; sie war reformierbar, adaptierbar an veränderte Verhältnisse, aber sie musste nicht durch eine Revolution umgestürzt werden; Freeman 1980, S. 99, 167f. 93 Appeal from the New to the Old Whigs, 3 August 1791. In: Burke 2015, S. 365-477, hier S. 390-409. Vgl. Stanlis 1991, S. 228-242; Zimmer 1995, S. 112; Lock 2006, S. 379-397; Bour‐ ke 2015, S. 768-783. 94 Wecker 1981, S. 108. 95 Vgl. etwa Thomas 2008; Rudé 1962, S. 107-110.

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einer gesetzgebenden Institution seien, die nur im Verbund wirken könnten. Ohne Mitwirkung der beiden anderen Glieder könne das Unterhaus nicht einen gültigen Wahlvorgang außer Kraft setzen.96 Im Kontext des Konflikts mit den amerikani‐ schen Kolonien berief sich Burke mehrfach auf die Glorious Revolution, um das Recht der Amerikaner auf eine verfassungsgemäße Behandlung ihrer Anliegen zu betonen. Burke ging hier so weit, ihre Situation mit der der Engländer unter Jakob II. zu vergleichen: „He [i.e. Burke] considered the Americans as standing at that time, and in that controversy, in the same relation to England, as England did to king James the Second, in 1688“.97 Die Monarchie Georgs III. basiere auf den Prinzipien der Revolution von 1688/89 und damit auf Prinzipien der Freiheit. Sie könne nicht bestehen, ohne diese Prinzipien zu achten.98 Burke wandte sich damit gegen eine militärische Besetzung der Kolonien und die durch die Militärbesatzung vorgenom‐ mene Unterdrückung der Anliegen der Kolonisten. 1780, im Jahr der Gordon Riots gegen die Catholic Relief Act, warb Burke unter Berufung auf Wilhelm III. und die Glorious Revolution für religiöse Toleranz. Wilhelm sei ein Feind religiöser Verfol‐ gung gewesen und habe England von den intoleranten Prinzipien des ‚Papismus‘ be‐ freit.99 Im Sinne der politischen Sprache des 17./18. Jahrhunderts bezog sich der Be‐ griff „popery“ nicht zwingend auf den Katholizismus als Glaubensüberzeugung, sondern eher auf seine politische Rolle und auf die Machtausübung der katholischen Kirche innerhalb der katholischen Monarchien Europas.100 Das Beispiel der Glo‐ rious Revolution diente Burke also zur Verteidigung von Freiheitsprinzipien, in Be‐ zug auf die Bewohner der nordamerikanischen Kolonien, die gegen ihren Willen und ohne Repräsentation im britischen Parlament besteuert wurden, ebenso wie in Bezug auf die politisch und rechtlich unverändert benachteiligten religiösen Minderheiten in England, Schottland und Irland. In der Auseinandersetzung mit dem politischen Radikalismus in England sowie mit der Französischen Revolution ging es Burke vor allem darum zu zeigen, dass der Vergleich mit der Glorious Revolution in die Irre führe. Es seien nicht die Prinzipien der Revolution von 1688/89, die hier zum Durchbruch kämen, sondern eher seien es jene negativ konnotierten Unruhen, Bür‐

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Speech on Parliamentary Incapacitation, 31 January 1770. In: Burke 2005, S. 233-236, hier S. 234f. Vgl. etwa Lock 1998, S. 264-273. 97 So Burkes rückblickende Argumentation 1791: Appeal from the New to the Old Whigs, 3 August 1791. In: Burke 2015, S. 365-477, hier S. 396f. 98 Address to the King, January 1777. In: Burke 2002, S. 258-276, hier S. 273f. Vgl. zur Haltung Burkes im Konflikt mit Amerika Zimmer 1995, S. 78-86; Norman 2013, S. 78-87; Stanlis 1997; O’Gorman 1973, S. 67-79; Lock 1998, S. 349-388; Dickinson 2012; Bourke 2015, S. 448-515. 99 Speech at Bristol Previous to the Election, 6 September 1780. In: Burke 2002, S. 629-664, hier S. 641. Zu Burkes Position bezüglich religiöser Toleranz vgl. McBride 2012; Freeman, 1980, S. 117-120, 164f. u.ö.; Zimmer 1995, S. 72-78; Lock 1998, S. 467-480; Bourke 2015, S. 275-279, 406-419. 100 Vgl. Miller 1978; Haydon 1993.

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gerkriege und Verfassungsbrüche nach 1641, die mit den Ereignissen in Frankreich vergleichbar seien.

IV. Fazit Zweifellos hatten die von Burke formulierten Sichtweisen auf die Revolutionen des 17. Jahrhundert, namentlich auf die Glorious Revolution, eine enorme Langzeitwir‐ kung. Burke stand nicht am Anfang der Tradition einer „Whig interpretation of the Glorious Revolution“, aber seine eloquente und in der Kontrastierung mit der Fran‐ zösischen Revolution besonders eingängigen Deutungsangebote prägten die großen Darstellungen des 19. Jahrhunderts wie Thomas Babington Macaulays „The History of England from the Accession of James II“ oder George Macaulay Trevelyans „The English Revolution, 1688-1689“ wesentlich mit.101 Sie konnten gleichermaßen für konservative wie auch für liberale Bestrebungen aufgerufen werden und entziehen sich somit auch einer klaren Zuordnung zu den sich herausbildenden politischen La‐ gern. Burkes Deutung der Revolutionen des 17. Jahrhunderts war weniger konserva‐ tiv als legalistisch und auf einen breiten whiggistischen Konsens ausgerichtet. Sie berief sich auf ein von moderaten Whigs wie auch moderaten Tories entwickeltes und genutztes Narrativ des 17. Jahrhunderts, das im Verlauf des 18. Jahrhunderts durchaus für unterschiedliche politische Interessen verargumentiert werden konnte. Burke selbst nutzte Elemente dieses Narrativs für ganz unterschiedliche Zwecke: Für die Unterstützung von Reformen ebenso wie für die Verteidigung der nordame‐ rikanischen Koloniebewohner, aber eben auch zur Verurteilung der Französischen Revolution und ihrer Bewunderer in England. Es waren diese sich verändernden An‐ eignungssituationen und Kontexte, die zu leichten Akzentverschiebungen in seiner Darstellung der Revolutionen des 17. Jahrhunderts führten. Während die Revolution der Jahrhundertmitte bei Burke nur ein negativer Bezugspunkt war, changierte sein positives und im wesentlichen konsistentes Narrativ der Glorious Revolution zwi‐ schen die historische Zäsur betonenden und eher die Kontinuitäten der englischen Verfassung hervorhebenden Akzentsetzungen.

101 Macaulay 1967; Trevelyan 1965. Vgl. auch Stanlis 1991, S. 243f.; Pincus 1990, S. 24f.

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Skadi Siiri Krause Edmund Burke und das Erbe von Bürgerkrieg und Englischer Revolution

1. Einleitung Seit Beginn des 18. Jahrhunderts gab es in Großbritannien einen heftigen Streit über das Vermächtnis der Englischen Bürgerkriege und das Erbe der Glorious Revolution. Die Whigs, die sich als Wahrer der 1688/89 geschaffenen Ordnung verstanden, ver‐ teidigten den Widerstand gegen Jacob II., weil er in ihrer Argumentation das Gleich‐ gewicht der Gewalten und die traditionellen Rechte und Freiheiten verletzt und so‐ mit die Fundamente des englischen Staates gefährdet hatte. Gleichwohl setzten sie die Revolution, die William III. zum König machte, in bewussten Gegensatz zu den Wirren der Englischen Bürgerkriege, die mit der Hinrichtung Charles I. und der Er‐ richtung einer Republik unter Oliver Cromwell geendet hatten. Diese Argumentation bot ihnen die Möglichkeit, dem gängigen Vorwurf der Monarchie-Feindlichkeit, die ein fortdauerndes Argument von Jakobiten und Tories gegenüber den Whigs war, entgegenzuwirken.1 Nach der Erzählung der Whigs hatten die Revolutionäre von 1688 die Monarchie nicht abgeschafft, sondern diese vielmehr erneuert. Die Vertei‐ digung der Monarchie wurde damit ein wesentliches Element in der Rhetorik der Whigs. Hinzu kam das Argument, dass das auf dem Gewohnheitsrecht beruhende Common Law2 auch nach der Revolution seine Gültigkeit behielt. Die revolutionä‐ ren Ereignisse bedeuteten demnach keine radikale Umwälzung der tradierten Verfas‐ sungs- und Rechtsordnung. Ganz im Gegenteil: Die Revolutionäre hatten in ihrer Rhetorik alte Rechte und Freiheiten reklamiert, die unter der absoluten Monarchie weitgehend eingeschränkt worden waren und mit der Revolution von 1688/89 wie‐ derhergestellt wurden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich jedoch diese Sichtweise auf die Revolution. Vertreter der Whigs forderten nun einschneidende Finanz- und Verwaltungsreformen, die den Einfluss der Krone auf Parlament und Regierung ent‐ scheidend beschränken sollten. Auch sollten die institutionellen und finanziellen Möglichkeiten der Ämtervergabe durch den Monarchen kräftig beschnitten werden. Und nicht zuletzt forderten sie eine Erneuerung des parlamentarischen Wahlsystems.

1 Bramston 1845, S. 355. 2 Siehe hierzu Blackstones Commentaries on the Laws of England. Blackstone 1765‒1769.

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Damit griffen sie auch die Revolutionsregelungen an, die ihnen nun nicht mehr weit genug gingen, um die Freiheiten des Volkes zu sichern. Im Gegensatz zu den alten Whigs, die hauptsächlich mit der Einschränkung der Exekutive beschäftigt waren, forderten die neuen Whigs eine Stärkung der demokratischen Elemente in der Legis‐ lative.3 Catharine Macaulay brachte diesen Diskurs auf den Punkt, als sie behaupte‐ te, dass die Revolutionäre von 1688/89 nur halbe Sachen akzeptiert und sich wenig für eine Repräsentation des Volkes interessiert hätten.4 Die Debatte um das Erbe der Revolutionen des 17. Jahrhunderts änderte sich 1789 schließlich grundlegend. Politisch Radikale unter den Whigs begnügten sich nun nicht mehr damit, die 1689 verpassten Gelegenheiten zu beklagen und einige begrenzte Reformen vorzuschlagen. Vielmehr machte der Ausbruch der Französi‐ schen Revolution auch in Großbritannien weitreichende politische Änderungen denkbar. So betonte Richard Price, dass die Revolution bei der Behebung politischer Missstände nicht weit genug gegangen sei.5 William Enfield hielt es gar für einen Fehler, sich weiterhin an der Revolution von 1688/89 zu orientieren. Ziel sei nun‐ mehr die Verbesserung der politischen Freiheit aller.6 Das bedeutete nicht weniger als eine Abkehr von der eingespielten Whig-Rhetorik, die auf der Verteidigung der Glorious Revolution beruhte. Gleichwohl gab es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch eine Vielzahl von Anwälten der Glorious Revolution. Angesichts des amerikanischen Unabhän‐ gigkeitskrieges wurde die Englische Revolution zu einem Gegenmodel zu radikalen Forderungen hinsichtlich von Repräsentation und politischer Legitimation. Für Wil‐ liam Paley war die Verfassung das Produkt der Zeit und das Ergebnis spezifischer Antworten auf ganz praktische Herausforderungen. Sie könne nicht von einigen ab‐ strakten Regierungsprinzipien abgeleitet, sondern müsse nach Kriterien wie Stabili‐ tät und Wohlstand beurteilt werden.7 Diese Ansicht wurde auch von George Chal‐ mers vertreten. „Ich betrachte die [Englische] Revolution als etwas Herrliches; nicht weil viel ge‐ tan wurde; sondern weil wenig getan wurde; weil keines der alten Fundamente unse‐ rer Regierung geschwächt und keines der ehrwürdigen Gesetze beseitig wurde […], weil sie auf den gesunden Menschenverstand der Engländer aufbaute […].“8 Die einflussreichste Stimme bei der Verteidigung der Glorious Revolution auf Seiten der Whigs war die von Edmund Burke. Seine Äußerungen machen deutlich, dass es keineswegs nur um eine Deutung der Ereignisse von 1688/89 ging. Ange‐ sichts der aktuell politischen Prozesse in Frankreich spielten bei der Auslegung der 3 4 5 6 7 8

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Burke 2019, 284−317. Macaulay 1822, I, S. 2−3. Price 1790, S. 26−41. Enfield 1788, S. 16−17. Paley 1825, IV, S. 320−400. Chalmers 1796, S. 65−67.

historischen Geschehnisse auch die Englischen Bürgerkriege eine dominante Rolle, waren die in ihnen erhobenen Forderungen doch weitaus radikaler als die spätere Revolution. Allerdings wendete sich Burke gegen die aktuellen Debatten. Wie Paley argumentierte er, dass die Verfassung nicht etwas Abstraktes oder gar Unveränderli‐ ches sei, sondern sich im Laufe der Jahrhunderte stetig weiterentwickelt habe. Unter dieser Perspektive waren die gängigen Argumentationsmuster seiner Zeit in doppel‐ ter Hinsicht falsch. Zum einen beruhte eine Verfassung nicht auf natürlichen Rech‐ ten, die es lediglich rechtlich abzusichern galt. Und zum anderen war es sinnlos einen status quo zu verteidigen, der den aktuellen Herausforderungen nicht gerecht werden konnte.9 Burke richtete sich damit sowohl gegen den Aufruf der Radikalen in seiner Partei, die revolutionären Ereignisse in Frankreich zu nutzen, um auch in Großbritannien das tradierte institutionelle Machtgleichgewicht zu stürzen und eine Verfassung zu errichten, die auf den natürlichen Rechten der Menschen fußte, wie gegen die Verteidigungen der 1688/89er Revolution in der Tradition der konservati‐ ven Whigs. Burkes Deutung der revolutionären Ereignisse in Frankreich ist folglich viel‐ schichtiger, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Zudem ist sie eine imma‐ nente Auseinandersetzung mit den verschiedenen Strömungen innerhalb seiner Par‐ tei. Um dies zu zeigen, ist es nicht nur notwendig, Burkes Beurteilung der Französi‐ schen Revolution in den Kontext der Rezeption der Englischen Revolution zu stel‐ len, sondern seine spezifische Sicht auf das 17. Jahrhundert im Kontext der Franzö‐ sischen Revolution herauszuarbeiten. Heute fehlt es nicht an Studien, die die Bedeutung der 1688er Revolution für Bur‐ ke in den parlamentarischen Auseinandersetzungen seiner Zeit aufzeigen, allerdings gibt es bislang keine zureichende Untersuchung seiner Einstellungen zu den Bürger‐ kriegen.10 Eine solche Vernachlässigung mag angesichts dessen, dass Burke sich als „alter Whig“ verstand,11 angemessen erscheinen, denn was die Revolution von 1688 für sie zur „glorreichen“ machte, war der Unterschied zu Bürgerkrieg, Königsmord, religiösem Fanatismus und militärischer Usurpation.12 Dennoch soll hier argumen‐ tiert werden, dass die erste Stuart-Revolution eine wichtige Rolle in Burkes politi‐ scher Bewusstseinsbildung spielte. Nicht die Revolution von 1688, die im Bekennt‐ nis zu Monarchie, Mischverfassung und Protestantismus endete, sondern die Debat‐ ten der 1640er und 1650er Jahre dienten ihm zur Herausarbeitung der tragenden Un‐ terschiede in der Legitimation von Englischer und Französischer Revolution und zur Abgrenzung von den radikalen Strömungen innerhalb seiner eigenen Partei

9 10 11 12

Pocock 1960. Taylor 2014; Stanlis 1991, S. 216–254; Connell 2020. Burke 2019, S. 284−317. O’Gorman 1975, S. 228–229, 267.

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2. Bürgerkrieg, Interregnum und Revolution in den Debatten des 18. Jahrhunderts In den 1760er Jahren kam es mit George III. zu einer Wiederbelebung der politi‐ schen Lagerrhetorik zwischen Tory und Whigs, nachdem diese bis Mitte des acht‐ zehnten Jahrhunderts durch die gemeinsame Abgrenzung gegenüber einer mutmaßli‐ chen jakobitischen Bedrohung verdrängt worden war.13 Nun setzte sich in der Oppo‐ sitionspresse allerdings das Argument einer drohenden Rückkehr der „Stuart-Tyran‐ nei“ durch.14 Das lenkte unmittelbar den Blick auf die Ereignisse Mitte des 17. Jahr‐ hunderts und führte dazu, dass neben der 1688/89er Revolution als Restituierung der politischen Ordnung nach der Restauration auch die Bürgerkriege, die sich über einen Zeitraum von über 10 Jahren (1639 bis 1651) erstreckten, wieder ins politische Bewusstsein gelangten.15 Die Herausforderung für Burke bestand darin, die politischen Differenzen zwi‐ schen den politischen Lagern herauszuarbeiten, und gleichzeitig den Machtanspruch seiner Partei zu bekräftigen, was bedeutete, sich zu Monarchie, der politischen Tra‐ dition des Commonwealth und zum Protestantismus zu bekennen. Zu diesem Zweck schließen bereits seine frühen politischen Schriften und Reden den Widerstand ge‐ gen den Stuart-Despotismus und das Bekenntnis zur 1688/89 Revolution ein, bekräf‐ tigen aber auch die Notwendigkeit eines differenzierteren Blicks auf das 17. Jahr‐ hundert. Davon zeugen u.a. seine Thoughts on the Cause of the Present Discontents, die im April 1770 erschienen. Diese Arbeit ist heute bekannt als kühne Verteidigung der Rockingham-Whigs, aber ihren unmittelbaren Zweck erfüllte sie nach den dramati‐ schen Ereignissen im Zusammenhang mit den Middlesex-Wahlen von 1768 bis 1769, bei denen John Wilkes in drei aufeinander folgenden Wahlen ins Parlament gewählt und wieder vom House of Commons ausgeschlossen wurde. Die Oppositi‐ onspresse war danach erfüllt von Vergleichen zwischen Wilkes Ausschluss aus dem Parlament und der politischen Willkür unter Charles I, die den ersten Bürgerkrieg ausgelöst hatte.16 Burke spielte mit seinem Text auf diese Debatte an und verdeut‐ lichte damit seine Sensibilität für die Rolle der Bürgerkriegsgeschichte in den politi‐ schen Auseinandersetzungen seiner Zeit. Die Notwendigkeit für eine differenzierte Beschäftigung mit der eigenen revolu‐ tionären Vergangenheit machte er wenig später in der Amerikadebatte deutlich. Mit der Verabschiedung des sogenannten Stamp Act im Jahr 1765 durch das britische Parlament wurden die sich verschlechternden Beziehungen Großbritanniens zu den nordamerikanischen Kolonien zunehmend auch in Bezug auf die Konflikte Mitte des 13 14 15 16

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Brewer 1976, S. 39–54. O.A. 1764, S. 6. Wilson 1992, S. 299–334; Wilson 1995, S. 215. Saint James's chronicle, or, The British evening-post, 31 March–2 April 1768.

17. Jahrhunderts debattiert, etwa von Richard Pennant, der das Argument vorbrach‐ te, dass die mit dem Stamp Act erhobene Steuer verfassungswidrig sei und mit dem von Charles I. erhobenen „ship money“ verglichen werden könne.17 Ein solches Ar‐ gument spiegelte freilich die Komplexität der Situation nicht adäquat wider, nicht zuletzt in Hinsicht auf verfassungsrechtliche Fragen, die sich in Bezug auf die Kolo‐ nien stellten. Apologeten der kolonialen Besteuerung wurden daher nicht müde, da‐ rauf hinzuweisen, dass in den 1640er Jahren gegen Charles I. Widerstand geleistet wurde, um dieselben parlamentarischen Rechte zu verteidigen, die von den Ameri‐ kanern nun angefochten wurden.18 Der Rückgriff auf das 17. Jahrhunderts führte zu zwei entgegengesetzten historischen Erzählungen; die eine ging von einem verfas‐ sungsrechtlich abgesicherten Widerstand aus, die anderer von gesetzloser Rebelli‐ on.19 Burke nahm in dieser Debatte eine weitaus differenziertere Position ein. Seine Reden von 1774 und 1775 spiegeln seinen anhaltenden Wunsch wider, auf der einen Seite Amerikas Anbindung an das Mutterland nicht zu kappen und auf der anderen Seite die von den Kolonisten beanspruchten verfassungsmäßigen Freiheiten anzuer‐ kennen.20 Burkes wichtigste Auseinandersetzung mit den englischen Bürgerkriegen und der 1688/89er Revolution findet sich in den Reflections on the Revolution in France. Hier dominiert auf den ersten Blick das klare Bekenntnis zu Monarchie und engli‐ scher Verfassungstradition.21 Auslöser für die Entstehung von Reflections on the Re‐ volution in France, war nach Angaben Burkes u.a. die Lektüre von Prices Love of our Country (1789), einer Schrift, in der er sowohl „aufrührerische Prinzipien“ als auch „persönliche Beschimpfungen gegen Mr. Fox“ entdeckte.22 Beides wollte Bur‐ ke klar benennen und eine entsprechende Entgegnung offerieren. Tatsächlich war Burkes Haltung gegenüber Fox zu diesem Zeitpunkt aber schon weitaus ambivalen‐ ter, als seine rückblickenden Kommentare vermuten lassen.23 Das Buch lässt sich denn auch als Versuch lesen, die Führung seiner Partei für ihre Vernachlässigung und Gleichgültigkeit gegenüber radikalen Forderungen innerhalb der eigenen Reihen 17 18 19 20 21

Simmons/Thomas 1985, 4, S. 234; Thomas 1991. Knox 1765, S. 8; Goodricke 1776, S. 55–56; Nelson 2014, S. 29–65. Bradley 1990, S. 58–59. Burke 1981‒2015, II, S. 459−466. „In beiden Perioden [Restauration und 1688er Revolution] hatte die Nation den Schlussstein ihres alten Gewölbes verloren, aber darum war sie nicht den ganzen Bau über den Haufen. Im Gegenteil, sie richtete in beiden Fällen den fehlenden Teil der alten Konstitution durch Hilfe der unangefochtenen Teile wieder auf. […] Die oberste gesetzgebende Macht äußerste viel‐ leicht nie eine zärtlichere Besorgnis für das Fundamentalprinzip des britischen Konstitutions‐ systems als zur Zeit der Revolution […]. Die Krone wurde zwar aus der Linie, in der sie bisher fortgeschritten war, einigermaßen verrückt, aber die Linie ging doch von demselben Stamm aus. Es war immer noch Erbfolge, der die protestantische Religion als Bedingung zugeordnet ward. Dass die Gesetzgeber, selbst indem sie die Ordnung änderten, dem Grundsatz treu blie‐ ben, zeigt am besten, dass sie diesen für unverletzlich hielten.“ Burke 2019, S. 76-77. 22 Burke (1958‒1978), 7, S. 56; Price 1789, S. 42–43. 23 Hill 1974.

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zu tadeln und einen erneuten Versuch zu unternehmen, das Kernprogramm der Whigs herauszuarbeiten.24 Allerdings scheiterte Burke darin, seine Partei auf eine Linie zu bringen. Fox betrachtete die Ereignisse in Frankreich weiterhin als ersten Schritt in Richtung einer umfassenden Reform der konstitutionellen Monarchie in England. Deshalb trafen ihn auch nicht die feindlichen Anspielungen auf die Bürger‐ kriege. Der Widerstand des Parlaments gegen Charles I. und die Revolution von 1688 gehörten für ihn zusammen; nur den Prozess und die Hinrichtung des Königs klammerte er davon aus. Burke hat der Billigung des parlamentarischen Widerstands in den 1640er Jahren nicht widersprochen. Allerdings war ihm bewusst, dass das revolutionäre Erbe weit‐ aus vielschichtiger war, als es die konstitutionelle Lesart der 1688/89er Revolution nahelegte.25 Sowohl in der ersten Stuart-Revolution als auch während der Glorious Revolution ging es nicht nur um die Bestimmung und Verteidigung alter Rechte, sondern auch um deren verfassungsrechtliche wie institutionelle Absicherung. Eine entsprechende Debatte setzte bereits in den 1640er Jahren ein. In zahlreichen Mani‐ festen und Petitionen dieser Zeit wurde darauf beharrt, dass die Macht der Regie‐ rung von den Bürgern komme und sie zum Schutz der Rechte der Menschen stren‐ gen Einschränkungen unterworfen werden müsse.26 Autoren wie John Lilburne, Ri‐ chard Overton und William Walwyn, die man Ende der 1640er Jahre despektierlich „Levellers“ nannte, verlangten erstmals jährliche freie und gleiche Wahlen.27 Diese Forderung, die auch aus den Reihen der New Model Army erhoben wurde, bedeutete letztendlich eine Umdeutung der Gewalten.28 Wenn die freie Wahl die Le‐ gitimationsgrundlage politischer Macht war, dann hatte das House of Commons eine übergeordnete Stellung gegenüber dem House of Lords und der Krone, die lediglich „unsere Augen blenden, damit wir nicht wissen, wo unsere Macht liegt oder an wen

24 25 26 27

Burke (1958‒1978), 6, S. 272; Goodwin 1968; Mitchell 1971, S. 155–59. Manning 1978; Pocock 1980. Wootton 1991, S. 412−442. Die Levellers waren nicht die einzige radikale Bewegung. 1649 meldeten sich die „wahren Le‐ vellers“ oder „Diggers“, wie sie auch genannt wurden, zu Wort. Sie protestierten gegen Land‐ besitz und Lohnarbeit. Sie versuchten, neue Gemeinden auf dem noch unkultivierten Gemeinund Ödland zu gründen. Solche Gemeinden tauchten an ungefähr zehn Orten auf, aber sie exis‐ tierten nur kurze Zeit, bevor ihre Mitglieder von den Grundbesitzern und wohlhabenden Bau‐ ern vertrieben oder vor Gericht gestellt wurden. 28 Unter Historikern ist allerdings umstritten, wie radikal die Soldaten der New Model Army tat‐ sächlich waren. Viele in der Infanterie waren Wehrpflichtige, die aus den unteren Gesell‐ schaftsschichten rekrutiert worden waren. Die Männer der Kavallerie waren jedoch Freiwillige und stammten im Allgemeinen aus gebildeteren sozialen Schichten. Unter ihnen gab es einige, die sich aus Überzeugung der Armee angeschlossen hatten. Bestand zu Beginn des Krieges das Offizierskorps vor allem aus Adeligen, stiegen im Verlauf des Krieges auch Bürgerliche in sei‐ ne Reihen auf. Sie sorgten dafür, dass sowohl in der Infanterie als auch in der Kavallerie ein politisches Bewusstsein unter den Soldaten reifen konnte. Gentles 1992, S. 31.

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wir uns wenden sollen, um sie zu nutzen“.29 In A Remonstrance of many thousand citizens erklärte Overton deshalb die Zustimmung des House of Lords und des Kö‐ nigs in legislativen Verfahren zum formalen Akt, „da sie nicht vom Volk gewählt werden, von dem die Macht abgeleitet sein muss“.30 Das stellte die tradierte gewal‐ tenteilige Ordnung von King, Lords und Commons in Frage. In Certain Articles for the Good of the Commonwealth, Presented to the Consideration of his Excellency Sir Thomas Fairfax and to the Officers and Soldiers under his command heißt es so‐ gar explizit, dass die „Autorität des Parlaments“ in Zukunft nicht durch Hindernisse, Vorurteile oder das Veto „irgendeiner Person oder Personen“ in Frage gestellt wer‐ den dürfe.31 Diese Forderung richtete sich gleichermaßen gegen Krone und House of Lords. Das Agreement of the People, welches am 28. Oktober 1647 vor dem Generalrat der Armee zum ersten Mal verlesen wurde, bezieht sich erst gar nicht mehr auf das House of Lords. Es definiert „Parlament“ lediglich als ein vom englischen Volk in freien Wahlen gewähltes Gremium.32 Zugleich erhebt es die Forderung nach Ab‐ schaffung aller Privilegien. Konkret heißt es im Agreement, „dass in allen Gesetzen, die gemacht werden oder gemacht werden sollen, jede Person gleich gebunden ist; und dass kein Grundbesitz, kein Eigentum, kein Freibrief, kein Amt, kein Geburts‐ recht oder kein Ort eine Ausnahme vom normalen Ablauf der Gerichtsverfahren ge‐ währen, denen andere unterworfen sind“.33 Dies stellte letztendlich auch die rechtli‐ chen Grundlagen und die ständische Ordnung im Königreich in Frage. Burke, der die Reflections on the Revolution in France in dem Bewusstsein schrieb, dass England seine eigene radikale Tradition hatte, war daher darauf be‐ dacht, das revolutionäre Erbe, das 1789 nicht mehr nur ein Streitpunkt zwischen To‐ ries und Whigs, sondern auch innerhalb der Whigs geworden war, neu zu definieren. Mit der Identifizierung von Richard Price mit Hugh Peters, dem „verrückten Kaplan von Cromwell“, wie David Hume ihn nannte,34 stützte er sich wissentlich auf histo‐ rische Vorurteile gegenüber Bürgerkrieg und Interregnum, die auch gegen seine ei‐ gene Partei gerichtet waren, der er vorwarf, sich nicht scharf genug von den Ereig‐ nissen in Frankreich zu distanzieren. Allerdings waren die Reflections on the Revolution in France nicht, wie Kritiker aus den eigenen Reihen behaupteten, ein Abfall von den Prinzipien der Whigs; viel‐ mehr verband Burke mit Price und seinen Mitstreitern einen ideologischen Radika‐ 29 Overton 1646. Die Behauptung der Vorherrschaft des Unterhauses beruhte auf der Überzeu‐ gung, dass es seine Macht direkt vom Volk ableite, und aus demselben Grund bestanden die Petenten darauf, dass das Parlament in Fragen der Religion niemanden zwingen könne, weil es keine solche Macht vom Volk erhalten habe. Robertson 2018, S. 10. 30 Overton 1646. 31 Woodhouse 1951, S. 335. 32 O.A. 1747. 33 O.A. 1747. 34 Hume 1822, 7, S. 111.

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lismus, den er deutlich vom konstitutionellen Liberalismus seiner Partei und ihrer pragmatischen und gemäßigten Haltung bei überparteilichen politischen Streitigkei‐ ten abzugrenzen suchte.35 Gerade der Vergleich zwischen englischen Bürgerkriegen und 1688/89er Revolution auf der einen und der Französischen Revolution auf der anderen Seite machte es ihm möglich, die aus seiner Sicht unglaublichen „Irrtümer“ von 1789/1790 klar zu benennen. Das soll im nächsten Abschnitt am Beispiel des Selbstermächtigungsdiskurses des Parlaments, der Verfassungsdebatte und dem Kampf um mehr Freiheitsrechte, insbesondere der Religionsfreiheit, gezeigt werden.

3. Die Französische Revolution im Kontrast zur englischen Revolution Die Whigs des 18. Jahrhunderts waren sich insgesamt einig, dass die Revolutionsre‐ gelungen von 1688/89 keine neuen verfassungsrechtlichen Beschränkungen für die Krone geschaffen hatten. Der künftige Monarch war lediglich „gewarnt“, das Parla‐ ment nicht zu missachten; dies hatte vor James II. bereits Charles I. im Januar 1649 zu spüren bekommen, als er nicht nur sein Amt, sondern auch seinen Kopf verlor. Und doch schufen die revolutionären Ereignisse Ende des 17. Jahrhunderts eine neue politische Situation. Das Parlament wurde nach 1688 schrittweise zu einem vorwiegend gesetzgebenden Organ. Dies verlieh der Politikgestaltung eine neue Dy‐ namik, zumal nun auch organisierte politische Lager entstanden. Sowohl Whigs als auch Tories waren fortan darauf bedacht sicherzustellen, dass kein zukünftiger Mon‐ arch seine Macht gegenüber dem Parlament missbrauchen konnte. Das Besondere an der Englischen Revolution war folglich keine neue Verfassung, sondern eine Reihe miteinander verbundener institutioneller Verschiebungen, die im breiteren Kontext einer politischen Neuorientierung das politische Machtgleichgewicht in England veränderten. Sie führten zu einer dauerhaften Erhöhung der Macht und Autorität des Parlaments, die sich Ende des 17. Jahrhunderts unter anderem im Amtseid des Kö‐ nigs und der Bill of Rights niederschlugen.36 Auch wenn die Glorious Revolution von den Whigs zu ihrem Vermächtnis erklärt wurde, waren es, wie Burke wusste, die politischen Debatten der Bürgerkriege, die einen wichtigen Grundstein für 1688/89 und die weitere verfassungsrechtliche Ent‐ wicklung zunächst in England und dann auch für Großbritannien gelegt hatten. Als 1642 die Auseinandersetzungen, zunächst in schriftlicher und wenig später auch in militärischen Form, begannen, gab es zu dieser Zeit zwei rivalisierende Lager; die „Presbyterians“ und die „Independents“. Während die Presbyterianer die Souveräni‐ tät der Krone innerhalb der Mischverfassung verteidigten, betonten die Unabhängi‐

35 Bourke 2015, S. 679–88. 36 Schwoerer 1981.

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gen die Souveränität des Parlaments, wobei sie vor allem auf den repräsentativen Charakter des House of Commons verwiesen, das aus Wahlen hervorging. Das Agreement of the People (1647), das von keinem Parlament verabschiedet wurde, von dem es aber etliche Versionen gab,37gilt gemeinhin als das politische Vermächtnis der Debatten der 1640er Jahre. Das Dokument postuliert das Recht je‐ des Bürgers, direkt oder durch frei gewählte Vertreter an der Regierung seines Lan‐ des teilzunehmen; und die Revolutionäre in der Glorious Revolution, im amerikani‐ schen Befreiungskrieg und in der Französischen Revolution beriefen sich später auf eben diesen Grundsatz, der zur Legitimationsgrundlage parlamentarischer Souverä‐ nität wurde. Am weitesten ausgearbeitet wurde dieser Grundsatz von den Levellers, die dem Parlament nicht nur die alleinige Gesetzgebungskompetenz zusprachen, sondern auch das Kontrollrecht über die Exekutive. Auch wenn in vielen Leveller-Dokumen‐ ten Ausführungen zum House of Lords fehlten, was auf eine Einkammersystem hin‐ deutete oder zumindest auf eines, in dem die Commons als gewählte Repräsentanten des Volkes das Letztentscheidungsrecht besaßen, so dienten sie doch vor allem dazu, konkrete Vorschläge für die Bildung des Parlaments, die Modi seiner Neuwahl und die Beschränkung seiner Kompetenzen zu unterbreiten, um eben das zu verhindern, was James Harrington später als „Verlängerung der Magistratur“ bezeichnet hat.38

37 Allein in der Zeit zwischen Dezember 1648 bis Januar 1649 erschienen drei Versionen des Ab‐ kommens. Die erste wurde anonym von Lilburne am 15. Dezember 1648 als Foundations of Freedom; Or An Agreement of the People veröffentlicht. Lilburne erklärte später, es handele sich um den endgültigen Entwurf, der von einem Komitee, bestehend aus zivilen Vertretern, Armeeoffizieren und Parlamentsmitgliedern, vorgelegt wurde. Allerdings geht man heute da‐ von aus, dass Lilburne eine Reihe von Änderungen in seiner veröffentlichten Version vorge‐ nommen hat. Jedenfalls wurde danach ein weiteres Agreement veröffentlicht, das am 20. Janu‐ ar 1649 als A Petition from His Excellency Thomas Lord Fairfax And the General Councel of Officers of the Army, To the Honourable, the Commons of England in Parliament assembled, Concerning the Draught of An Agreement of the People For a secure and present Peace […] erschien. Die Petititon wurde unter dem Titel An Agreement prepared for the people of Eng‐ land and the places therewith incorporated, for a secure and present peace, upon grounds of common right, freedom and safety im Janur 1649 dem House of Commons vorgelegt. Im Mai 1649 erschien eine weitere Petition der Levellers unter dem Titel An Agreement of the Free People of England. Tendered as a Peace-Offering to this distressed Nation. By Lieutenant Co‐ lonel John Lilburne, Master William Walwyn, Master Thomas Prince, and Master Richard Overton, Prisoners in the Tower of London. Diese Version des Agreements unterscheidet sich deutlich von der Ausgabe von 1647 und kombinierte Teile von Foundations of Freedom: Or An Agreement of the People mit dem Leveller-Programm, wie es in Broschüren und Petitionen der späten 1640er Jahre entwickelt wurde. Unter den Forderungen finden sich jährliche Parla‐ mentswahlen, die jährliche Wahl aller örtlichen Beamten und Priester. Es gibt ein Verbot von Zoll und Verbrauchsteuern und das Verbot, dass das Parlament als Gericht fungiert. Wie Jason Peacey betont, propagierte das Dokument in besonderer Weise eine administrative Dezentrali‐ sierung, um den Mangel an politischer Rechenschaftspflicht zu beheben, den die Leveller zur Zeit des Rump-Parlaments und im neuen republikanischen Regime wahrnahmen. Peacey 2004. 38 Harrington 1992, S. 33.

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Es ging folglich gerade nicht um die Selbstermächtigung eines Parlamentes und damit das, was Burke den Abgeordneten der Assemblée nationale vorwarf: „Eben deshalb aber ist es von unendlicher Wichtigkeit, dass ein Volk sich ebenso wenig als ein König einbilde, sein Wille sei der Maßstab für Recht und Unrecht. Völker müssen ernstlich werden, dass sie ebenso wenig befugt und noch weit weniger geschickt sind, ihre Launen zu Gesetzen zu erheben, als Könige; dass es ihnen daher nicht ziemt, unter dem Vorwande einer betrügerischen Freiheit eine unnatürliche verkehrte Herrschaft aus‐ zuüben, mit Tyranneneigensinn von denen, welche die Staatsgeschäfte verwalten“.39

Aus dieser Perspektive verteidigte Burke die gewaltenteilige Ordnung Großbritanni‐ ens, wonach das House of Commons lediglich ein Teil der Legislative und Kontroll‐ organ der Regierung war.40 Für die Leveller entscheidend war, dass die Abgeordneten als Delegierte des Vol‐ kes und nicht als eine exklusive Elite angesehen wurden. Im Gegensatz zu den im späten 18. Jahrhundert entwickelten Theorien betrachteten sie Repräsentation als eine technische Notwendigkeit, ein Gedanke, der später von den Antifederalists wie‐ der aufgegriffen wurde. Insgesamt kennzeichnet die Schriften der Levellers ein grundlegendes Misstrauen gegenüber den politischen Amtsinhabern, das sich auf‐ grund der Erfahrungen des Bürgerkrieges auch gegen die gewählten Vertreter des House of Commons richtete. Ein Bündel von institutionellen Maßnahmen sollte da‐ her dazu dienen, die Delegierten selbst wiederum einer Kontrolle zu unterwerfen. Dazu gehörte neben regelmäßigen Wahlen, die die Souveränität des Volkes verdeut‐ lichen sollten, auch die detaillierte Regelung der Funktionen des Parlaments, das nach Ansicht der Radikalen selbst wiederum an die Erhaltung und den Schutz unver‐ letzlicher Grundrechte gebunden werden musste.41 Das wichtigste Erbe der englischen Bürgerkriege war deshalb der Ruf nach einer schriftlichen Verfassung, welche die Rechte der Bürger vor parlamentarischen Mehr‐ heiten und exekutiven Übergriffen gleichermaßen schützten sollte. Diese Forderung erhoben auch die amerikanischen und französischen Revolutionäre und machten sie zu ihrem zentralen Projekt. Ihre Argumentation unterschied sich allerdings von den englischen Revolutionären. Für Burke war entscheidend, dass die Engländer nicht 39 Burke/Gentz 1991, S. 189. 40 Burke 1981‒2015, II, S. 292. 41 Artikel 1 fordert die Neuregelung der Wahlbezirke, die derzeit „sehr ungleich verteilt“ seien, wobei die Einwohnerzahl Berücksichtigung finden sollte. Artikel 2 verlangt die Auflösung des Langen Parlaments bis zum 30. September 1648. Artikel 3 sieht vor, dass die zweijährlichen Parlamente vom ersten Donnerstag im April bis zum letzten Tag im September und nicht län‐ ger als sechs Monate tagen sollten. In Artikel 4 werden die von den Abgeordneten ausgeübten Befugnisse umrissen. Diese umfassen „das Ändern und Aufheben von Gesetzen; die Errich‐ tung und Abschaffung von Ämtern und Gerichten; die Ernennung von Magistraten und Beam‐ ten aller Grade“, und die Regelung der Außenbeziehungen. Die Befugnisse des Parlaments be‐ ziehen sich nicht auf die „Angelegenheiten der Religion und die Praxis des Gottesdienstes“. Weitere Forderungen beziehen sich auf eine einstweilige Verfügung gegen die Wehrpflicht; Gleichheit vor dem Gesetz und die Abschaffung aller Privilegien in Rechtsangelegenheiten.

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bestrebt waren, eine neue Verfassungsordnung aus abstrakten Grundsätzen zu kon‐ struieren. Auch die Autoren des Agreement of the People verteidigten tradierte Ge‐ burtsrechte und begründeten keine neuen Rechte. Was das Konzept der „birthrights“ in ihrer Darlegung von den allgemeinen Menschenrechten unterschied, wie sie die Revolutionäre in Amerika und Frankreich ein Jahrhundert später einforderten, war ihre historische Verbürgung und damit der Bezug zu einer konkreten politischen Ge‐ meinschaft.42 Mit anderen Worten, Geburtsrechte waren Rechte, die der Einzelne aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Körperschaft bzw. einer Kommune, Mark oder anderen territorialen, politischen Gemeinschaft inne hatte und keine natürlichen Rechte, die dem Individuum qua Menschsein zukamen. Wie Edward Sexby während der Putney-Debatten 1647 bemerkte: „Wir haben uns in diesem Königreich enga‐ giert und unser Leben gewagt, um unsere Geburtsrechte und Privilegien als Englän‐ der wiederzugewinnen“.43 Die Geburtsrechte waren im Gegensatz zu den natürli‐ chen Rechten des Einzelnen mithin Rechte, die als Teil einer kollektiven Identität verstanden wurden. Diese Rechte − das Recht auf lokale und ständische Selbstver‐ waltung, die den Akt der Wahl von Repräsentanten einschloss, oder das Recht auf ein Gerichtsverfahren durch eine Jury, wo eine vertretene Bürgerschaft dafür sorgte, dass örtliche Rechtstraditionen gewahrt wurden − waren durch die Tyrannei der Kö‐ nige und die Usurpationen des Adels untergraben worden und sollten nun wiederher‐ gestellt werden. Was Burke an den französischen Forderungen kritisierte, waren dagegen die „Er‐ findungen“ und „abstrakten Prinzipien“, auf denen die Revolutionäre und ihre briti‐ schen Apologeten ihre Argumente aufbauten. „Ich begreife nicht, wie irgendein Mensch bis zu einer solchen Raserei des Eigendünkels gebracht werden kann, dass er sein Vaterland wie ein Stück weißes Papier ansieht, worauf er kritzeln kann, was ihm beliebt. Ein tätiger Geist voll lebhafter und wohlwollender Spekulationen kann wünschen, dass die Gesellschaft, in der er lebt, anders organisiert sein möchte, als er sie findet: aber ein guter Patriot und ein wahrer Staatsmann sucht allemal aus dem schon vorhandenen Stoff, der ihm sein Vaterland darbietet, soviel zu machen, als möglich ist. Neigung zum Erhalten und Geschicklichkeit zum Verbessern sind die beiden Elemente, deren Vereinigung in meinen Augen den Charakter des großen Staatsmanns bildet. Alles, was hiervon abweicht, verrät den gemeinen Kopf in der Erfindung und eröffnet den Ruin der Staaten in der Ausführung“.44 Einen greifbaren Ausdruck fand dieses Denken für ihn in der Erklärung der Men‐ schen- und Bürgerrechte (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen) von 1789. Nicht die Grundlagen und die Weiterentwicklung tradierter Rechte einer poli‐ 42 Das „Agreement“ zeugt in hohem Maße von einem Verständnis der bestehenden Traditionen der parlamentarischen Selbstverwaltung. Damit soll allerdings weder republikanische Einflüsse noch Anleihen an das Naturrecht geleugnet werden. 43 Sharp 1998, S. 119−120. 44 Burke/Gentz 1991, S. 285.

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tischen Gemeinschaft sollten von nun an ihr Selbstverständnis prägen, sondern die Besinnung auf die für alle Menschen gleichermaßen zu verwirklichenden individuel‐ len Freiheitsrechte. „Der Mensch trat nicht in die Gesellschaft ein, um weniger Rechte zu haben als zuvor“, zitierte Sir Brooke Boothby in seinen Observations on the Appeal from the New to the Old Whigs45 die Hauptaussage von Rousseaus Du contrat social ou principes du droit politique (1762), die für die Revolutionäre zum Schlachtruf geworden war.46 Auch Richard Price behauptete, dass eine Verfassung stets nur auf natürlicher Freiheit und den unveräußerlichen Menschenrechten beru‐ hen könne, die, wenn sie seitens der Regierung vorenthalten oder verletzt werden, unter Berufung auf das Widerstandsrechts erkämpft werden dürfen (Price 1776). Das war eine bewusste Provokation gegenüber den „alten“ Whigs. Hatten die Re‐ volutionäre von 1688 noch mit einem situativ begründeten Widerstandsrecht ope‐ riert, legten die Whigs später dar, dass es einen „Vertrag zwischen Krone und Volk“ gebe, der die Grundlage des Staates seit Jahrhunderten bilde: „Die unveränderte Aufrechterhaltung einer solchen Verfassung über die Zeiten hinweg ohne grundle‐ gende Änderung zeigt […], dass derselbe Vertrag fortbesteht“.47 Dieser Vertrag, so Burke, habe die verschiedenen Gewalten, ihre Rechte und ihre Stellung im Staat ge‐ schaffen und dadurch die Pflicht begründet, diese Verfassung zu erhalten. Das war das genaue Gegenteil von dem, was Price behauptete. Grundsätzlich verurteilte Burke auch die revolutionären Akte in Bezug auf die Kirche in Frankreich, die für ihn einer Leugnung der sozialen wie politischen Rolle der Religion im Staat gleichkamen. Aus seiner geschichtlichen Perspektive heraus betonte er, dass jede Religion tief in einer jeweiligen Gesellschaft verwurzelt sei.48 Diese Annahme führte Burke in den Reflections on the Revolution in France zu dem Schluss, dass ein Angriff auf die Religion zu einer Schwächung des gesellschaftli‐ chen Zusammenhalts und damit zu einer Zerrüttung des Staates führen werde.49 „Wir wissen, und was noch besser ist, wir fühlen, dass Religion die Grundlage der bür‐ gerlichen Gesellschaft und die große Quelle alles Segens und alles Trostes in jeder menschlichen Verbindung ist. In England sind wir von dieser Wahrheit so innig über‐ zeugt, dass der dickste Rost von Aberglauben, womit eine Reihe von Jahrhunderten voll der ausschweifendsten Verirrungen des menschlichen Geistes die Gemüter überzogen ha‐ ben mag, uns immer noch lieber ist als ein gänzlicher Religionsmangel. So abgeschmackt werden wir nie handeln, dass wir uns, um ein System zu reinigen oder zu vervollkomm‐ nen, an den erklärten Feind dessen, was das Wesentlichste in diesem System ausmacht, wenden sollten. Wenn unsere religiösen Einrichtungen eine Verbesserung bewirken, wer‐ den wir nicht den Atheismus auffordern, sie zu berichtigen.“50 45 46 47 48 49 50

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Boothby 1792, S. 112. Cooper 1792, S. 29. Burke 1981-2015, IV, S. 412. Burke 1981‒2015, VI, S. 305. Harris 2012, S. 98‒99. Burke/Gentz 1991, S. 184.

Für seine Argumentation entscheidend dürften für ihn auch hier die Unterschiede zwischen Englischem Bürgerkrieg und Französischer Revolution gewesen sein. Die Debatte zur Gewissen-, Glaubens- und Religionsfreiheit nahm im 17. Jahrhundert einen breiten Raum ein. Die meisten Radikalen im englischen Bürgerkrieg waren Mitglieder der protestantischen Sekten, die sich teilweise oder vollständig von der Church of England losgesagt hatten (dazu zählten Kongregationalisten, Baptisten, Quäker etc.). Ihre religiöse Haltung, aber auch die Formen ihrer Selbstorganisation prägten ihre Haltung gegenüber Verfassung und Regierungssystem, denn tatsächlich hatten sie ebenso viel von presbyterianischen Parlamentariern wie von bischöflichen Royalisten zu befürchten. Eine zentrale Forderung in den zeitgenössischen Doku‐ menten war daher Gewissensfreiheit. In ihrem Anspruch, ihre eigene Gemeinde nach ihren eigenen Vorstellungen zu organisieren, gingen sie jedoch weit darüber hi‐ naus. In Petitionen drängten sie auf Glaubensfreiheit, schränken diese Freiheit aber auch wieder ein. So wurde bereits im ersten Agreement of the People angemahnt, „dass Angele‐ genheiten der Religion […] keiner menschlichen Macht anvertraut werden sollen“.51 In letzter Konsequenz bedeutete diese Forderung eine klare Trennung von Staat und Kirche – und damit weit mehr als Gewissens- und Glaubensfreiheit, die auf Duldung hinausliefen. Doch es gab eine weitgehende Einschränkung in dem Religionspara‐ graphen: „Trotzdem wird die öffentliche Art und Weise, die Nation zu unterweisen (damit sie nicht obsessiv wird), auf ihr Ermessen verwiesen“.52 Henry Ireton vertei‐ digte in den Army-Debatten diese Einschränkung, während Overton betonte, dass je‐ de nur denkbare Einschränkung der Glaubensfreiheit im öffentlichen Raum, eine Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte nach sich ziehe. Tatsächlich waren die Radikalen auch in den Jahren danach in der Frage, wo sie die Grenze zwischen Kirche und Staat ziehen wollten, gespalten. Der Autor von The Humble Desires of a Free Subject (1659) bestand auf dem Glauben an die Dreifaltig‐ keit und schloss alle aus, die etwas hervorbringen, das zur „Gotteslästerung oder Profanität“ neige oder „der im Wort Gottes enthaltenen Wahrheit“ widerspreche. Der Autor von The Grand Concernment of England Ensured (1659) schloss all diejeni‐ gen von religiöser Toleranz aus, die die Göttlichkeit Christi leugneten. Alle diese Ansätze beruhten auf der Annahme, dass es bestimmte religiöse Grundsätze gebe, die nicht verletzt werden dürfen, und deshalb staatlich gesichert werden müssen. Nur die Levellers argumentierten konsequent gegen jeden Zwang in Fragen der Religion und betonten, dass niemand das Recht habe, anderen eine bestimmte Vor‐ stellung vom Glauben aufzwingen. Dies untermauerte eine Position von grundlegen‐ der Bedeutung, nämlich die Ablehnung der traditionellen Annahme, dass die Stabili‐ tät von Staat und Gesellschaft von der Einheit in der Religion abhänge, womit erst‐ 51 O.A. 1647. 52 O.A. 1647.

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mals die Trennung von Kirche und Staat denkbar wurde. Der Levellers-Traktat Lil‐ burne’s Ghost erklärte, dass das Parlament „in religiösen Angelegenheiten“ nichts zu sagen habe. In A Commonwealth or Nothing: or, Monarchy and Oligarchy proved parallel in tyranny (1659) heißt es, dass es ein fataler Fehler sei, die Glaubensfrei‐ heit von anderen bürgerlichen Rechten zu trennen. „Wo die bürgerliche Freiheit voll‐ ständig ist, schließt sie die Gewissensfreiheit ein“, schrieb William Bray in A Plea for the People’s Good Old Cause (1659), „und wo die Gewissensfreiheit vollständig ist, umfasst sie die bürgerliche Freiheit.“ Beide seien das untrennbare Recht des Vol‐ kes. Glaubensfreiheit und die Trennung von Kirche und Staat, wie sie in den LevellerDokumenten angedacht wurden, hatten jedoch nichts zu tun mit den Maßnahmen ge‐ gen die katholische Kirche, wie sie in Frankreich 1789 einsetzten. Hier kam es nicht nur zur Beseitigung der kirchlichen Standesprivilegien, sondern auch zu den be‐ kannten massiven Eingriffen in die innerkirchlichen Strukturen. So wurde am 12. Juli 1790 die Constitution civile du clergé verabschiedet, die die Ernennung zu den kirchlichen Ämtern, die Besoldung des Klerus und die Ortsgebundenheit des Klerus regeln sollte. Ziel war eine Zivilverfassung des Klerus, die die Geistlichen zu vom Volk gewählten und vom Staat besoldeten Beamten ihrer Pfarreien und Bistü‐ mer machte. All dies verkehrte die von den Englischen Revolutionären geforderte Religionsfreiheit in ihr komplettes Gegenteil, ging es in Frankreich doch darum, eine staatlich organisierte und kontrollierte Nationalkirche zur schaffen. Burke wur‐ de denn auch nicht müde, in Reflections on the Revolution in France die Maßnah‐ men als Verletzung der Religionsfreiheit anzuklagen. „Die Engländer haben politische sowohl als religiöse Beweggründe, weshalb sie jedes Projekt, ihre unabhängige Geistlichkeit in besoldete Staatsdiener zu verwandeln, verwer‐ fen würden. Sie zittern für ihre Freiheit, wenn sie an den Einfluss einer von der Krone abhängigen Geistlichkeit denken: sie zittern für die öffentliche Ruhe, wenn sie sich diese Geistlichkeit von irgendeiner anderen Macht im Staat abhängig, mithin allen Greuel der Parteisucht und des Intrigengeistes preisgeben, vorstellen. Darum wollen sie, dass ihre Kirche sowie ihr König und ihr Adel unabhängig bleiben sollte“.53

4. Schlussbetrachtung Die Definition des revolutionären Erbes des 17. Jahrhundert wurde in Großbritanni‐ en lange Zeit durch die politischen Kämpfe und Kompromisse zwischen Tories und Whigs bestimmt.54 Der Diskurs änderte sich Mitte des 18. Jahrhunderts, als durch die wachsende Identifikation von Teilen der Whigs mit dem amerikanischen Unab‐ 53 Burke/Gentz 1991, S. 200. 54 Kramnick 1967.

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hängigkeitskampf und schließlich der Französischen Revolution auch innerhalb der Whigs das revolutionären Erbe neu debattiert und die tradierten Lesarten von Bür‐ gerkrieg und 1688er Revolution in Frage gestellt wurden. In dieser Situation war es für Burke entscheidend, die Unterschiede zwischen Englischer und Französischer Revolution zu markieren und damit das politische Programm der Whigs zu reformu‐ lieren. Solche Ansätze, das historische Erbe neu zu bestimmen, gab es auch von Seiten der Tories. David Hume war möglicherweise der Erste, der versuchte, in The History of England (1754–61) die revolutionären Ereignisse unter veränderten Bedingungen neu zu bewerten. Laut dem Schotten waren es die Unklarheiten in Bezug auf die Frage des königlichen Vetos, der parlamentarischen Souveränität und der Glaubens‐ freiheit, nicht Fragen der „Gerechtigkeit“, die zu den Bürgerkriegen Mitte des 17. Jahrhunderts führten. Die beiden Bürgerkriege waren damit in gewisser Weise ein unvermeidlicher Konflikt und nicht das Resultat abstrakter politischer Forderungen. Burke teilte diese Lesart, was ihn in den Augen des radikalen Flügels seiner Par‐ tei zu einem Konservativem machte.55 Sein Rekurs auf die erste Stuart-Revolution in den Reflections on the Revolution in France, der weitreichende Einblicke in sein Denken bot, war für die neuen Whigs nicht mehr anschlussfähig, wie überhaupt der Bezug auf die englische Geschichte nach 1791 in den politischen Debatten obsolet wurde. Die Radikalen beriefen sich nun auf die schriftlichen Verfassungen in Ameri‐ ka und Frankreich, die in ihren Prinzipien mit der Theorie der Mischverfassung bra‐ chen und statt auf tradierten kollektiven Rechten aufzubauen nun individuelle Rech‐ te postulierten. Für Paine fielen die „Rechte des Menschen“, und damit der Gleich‐ heitsgedanke, sowie das Bekenntnis zur Volkssouveränität, wie er es in der Amerika‐ nischen und Französischen Revolution verwirklicht sah, unmittelbar zusammen. Zu‐ dem betonte er in seinem Werk, dass das Volk das Recht habe, seine Verfassung, sei‐ ne Regierung und alle anderen gesellschaftlichen Einrichtungen nach seinem Willen zu ändern, zu verwerfen und neu zu erschaffen.56 Dies stellte das Verfassungs- und Rechtsverständnis, welches Burke mit der Eng‐ lischen Revolution verband, in Frage.57 Und tatsächlich erklärte Paine, dass England überhaupt keine Verfassung besitze.58 Zwar werde ständig wiederholt, dass man sich 55 Kramnick 1967; Kramnick 1968; Skinner 1969; Skinner 2002. 56 Paine 1791, S. 172. 57 Burke hat dies in seinem Appeal sehr deutlich gemacht: „Diese neuen Whigs glauben nicht nur, dass die Souveränität, ob nun von einem oder von vielen ausgeübt, vom Volke ausgeht (eine Position, die nicht bestritten wird und die zu bestreiten so wenig lohnt wie ihr zuzustim‐ men), sondern das ebenjene Souveränität dauerhaft und unveräußerlich beim Volk liegt; dass das Volk rechtmäßig Könige absetzen kann, nicht nur wegen Fehlverhaltens [wie in der Engli‐ schen Revolution], sondern auch ohne das geringste Fehlverhalten; dass es sich selbst jede Art von Regierung geben oder aber ohne Regierung weitermachen kann, ganz wie es ihm beliebt; dass die Menschen im Wesentlichen ihr eigenes Gesetz sind und ihr Wille das Maß ihres eige‐ nen Verhalten”. Burke 2019, S. 292. 58 Paine 1791, S. 86.

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auf die Verfassung beziehe, um die gestritten werde, doch beweise der „beständige Gebrauch des Worts Konstitution im englischen Parlament“, dass „keine Konstituti‐ on“ existiere.59 Zudem sei das, was man in Großbritannien als Verfassung bezeich‐ ne, keine gesellschaftliche Ordnung, die den mit ihren natürlichen Rechten ausge‐ statteten Menschen entspreche.60 Die englische Verfassung sei nie etwas anderes ge‐ wesen, als der beschönigende Ausdruck für die Gesamtheit historischer Rechte und Einrichtungen, die auf Ungleichheit und Unterdrückung beruhen.61 Die Vereinigten Staaten und Frankreich waren für Paine dagegen die ersten Länder mit einer „wahr‐ haften“ Konstitution, die die Freiheit und Gleichheit aller Bürger garantierte. Nicht verwunderlich ist daher, dass die Englische Revolution für Price nicht mehr an‐ schlussfähig war. Für Burkes Denken blieb sie jedoch entscheidend − und das in dreifacher Hin‐ sicht. Erstens beruhte sie auf der Verteidigung kollektiver Freiheitsrechte, die durch eine Rechtstradition verbürgt und abgesichert wurden. Zweitens garantierte die Kon‐ zeption der geteilten Souveränität des King-in-Parliament-Prinzips für ihn ein Machtgleichgewicht zwischen Krone und den beiden Häusern des Parlaments, wel‐ ches verhinderte, dass eine Seite die ihr verbliebene politische Macht, wie noch im 17. Jahrhundert, gegen die anderen auszuüben vermochte. Und Drittens lehrten Bür‐ gerkriege und Englische Revolution, dass nicht die revolutionären Forderungen und Akte, sondern die schrittweise Anpassung der tradierten Gesetze, Institutionen und administrativen Verfahren an die sozialen und ökonomischen Veränderungen Rechtssicherheit und staatliche Ordnung verbürgte.

Literatur Blackstone, William, 1765‒1769: Commentaries of the Laws of England, 8 vol., London. Boothby, Brooke, 1792: Observations on the Appeal from the New to the Old Whigs: And on Mr. Paines's Rights of Man. In Two Parts, London. Bourke, Richard, 2015: Empire and Revolution: The Political Life of Edmund Burke. Prince‐ ton, NJ. Bradley, James, 1990: Religion, Revolution and English Radicalism: Non-Conformity in Eighteenth-Century Politics and Society, Cambridge. Bramston, John, 1845: The Autobiography of Sir John Bramston, hg. von P. Braybrook, Lon‐ don. Brewer, John, 1976: Party Ideology and Popular Politics at the Accession of George III, Cam‐ bridge.

59 Paine 1791, S. 157. 60 Paine 1791, S. 86. 61 Paine 1791, S. 91.

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Thomas Lau „An Idea of Continuity“ – die sterbliche Nation des Edmund Burke

Der Antrag William Pitts, der am 7. Mai 1782 vor dem House of Commons beraten wurde, hatte kaum Aussicht auf Erfolg. Er diente dem jungen, gerade 23jährigen Sohn des 1778 verstorbenen Great Commoners dazu, sich zu profilieren. Und dies schien dringend nötig zu sein. Immerhin hatte der Marquess von Rockingham, der seit März 1782 die Regierungsgeschäfte leitete, dem selbstbewussten Nachwuchsta‐ lent eine herausgehobene Position in seinem Kabinett verwehrt. So sah dieser sich gezwungen, im Parlament Stellung zu beziehen, sich gegen die neue Regierung zu wenden und zugleich den eigenen Einfluss zu demonstrieren.1 Die Vorgehensweise, die er wählte, war überaus geschickt. William Pitt sprach sich in seinem Gesetzes‐ vorhaben für eine vorsichtige Reform der Wahlkreise aus. Das Problem war den Ab‐ geordneten hinreichend bekannt, ebenso wie der Widerwille der jeweiligen Regie‐ rung, die ihre Mehrheit mithilfe des bisherigen Systems sicherte, und die Unmög‐ lichkeit eine Zustimmung von Lords und König zu einem solchen Vorhaben zu er‐ halten. Tatsächlich sollte der Ruf nach einem Reform Act erst 1832 von Erfolg ge‐ krönt sein. Vorläufig bot er einem jungen Parlamentarier die Möglichkeit, sich als Patriot, als Reformer, als Freund des Volkes und in diesem Falle als der echte Erbe des älteren Pitt zu stilisieren.2 In der Begründung des Antrages bezog der Sohn sich denn auch ganz direkt auf den 1rst Earl of Chatham, der entsprechende Vorstöße un‐ terstützt habe : «He personally knew, that it was the opinion of that person, that without recurring to first principles in this respect, and establishing a more solid and equal representation of the people, by which the proper constitutional connection should be revived, this nation with the best capacities for grandeur and happiness of any on the face of the earth, must be confounded with the mass of those liberties were lost in the corruption of the people.”3

Der jüngere Pitt lobte also, auch hier eine geläufige rhetorische Formel nutzend, die gegenwärtige Herrlichkeit des Zustandes des Königreichs und die Vorbildhaftigkeit seiner Mischverfassung, um zugleich die Gefahr des Unterganges zu beschwören, wenn es nicht gelinge, drohende Gefahren abzuwenden.4 1 Zum Folgenden: Duffy, „The Younger Pitt“; Ehrman, „The Younger Pitt the Years of Acclaim“. 2 Zeichnet die Redebeiträge in den Parlamentsdebatten nach: Murdoch, A History of Constitutio‐ nal Reform in Great Britain and Ireland, 25–36. 3 Cobbett’s parliamentary history of England, XXII:1421–22. 4 Blackstone, Commentaries on the Laws of England.

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Nur etwa 10% der Mitglieder des House of Commons machten während der Sit‐ zungen regelmäßig durch Redebeiträge auf sich aufmerksam. Pitt hatte schon bei seiner Maiden Speech im Jahr zuvor gezeigt, dass er Teil dieser elitären Gruppe sein würde und es gelang ihm auch dieses Mal, eine lebhafte Debatte zu entfachen. Zu den wohl profiliertesten Gegnern der Motion, die sich zu einer Äußerung ge‐ zwungen sahen, zählten Charles James Fox, Henry Dudas und Richard Rigby. Ihr wichtigstes Argument bestand in dem Hinweis, dass die einzelnen Parlamentarier nicht als Interessenvertreter ihres jeweiligen Wahlkreises zu verstehen seien, son‐ dern jeder einzelne Abgeordnete das ganze Land repräsentiere. Auch jene Städte al‐ so, die nicht direkt Vertreter nach Westminster entsandten, seien dort virtuell vertre‐ ten. Der Antrag wurde mit nur 20 Stimmen abgewiesen – eine knappe Entscheidung, die wohl auch darauf zurückzuführen war, dass der wortmächtigste Redner der Re‐ gierung die Debatte schweigend verfolgte. Nach über 16 Jahren in der Opposition war der 53jährige Edmund Burke der eigentliche Ideengeber, Programmatiker und das Sprachrohr des Kabinetts Rockingham. Die Theorie der «virtual representation» hatte er zwar nicht erdacht, sie aber be‐ ständig verfeinert.5 Das Debattenthema war damit geradezu auf ihn und einen rheto‐ rischen Wettstreit mit Pitt zugeschnitten. Burke hatte dementsprechend ein umfang‐ reiches Redemanuskript ausgearbeitet – das rhetorische Feuerwerk blieb jedoch un‐ gezündet. Dennoch lohnt es sich, die ungehaltene Rede näher zu betrachten. Sie nahm viele der bereits bekannten und hier ausgeführten Argumente auf, wandte sich aber auch in überraschender Deutlichkeit einem Begriff zu, den Pitt geschickt in sei‐ ne patriotische Rhetorik integriert hatte – jenem der Nation. Die Nation, so betonte Burke in seinem Manuskript, solle nach dem Willen Pitts ihre gewachsene, stabile Verfassungsordnung gegen ein Modell austauschen, das seine Funktionsfähigkeit noch nie unter Beweis gestellt habe. Dies sei nicht nach‐ vollziehbar und tatsächlich habe die Nation bei näherer Betrachtung schon längst über diese Frage entschieden. Der erfolgreiche und unbestrittene Gebrauch der über‐ kommenen Verfassung nämlich erlaube weit bessere Rückschlüsse auf den Willen der Nation als eine Entscheidung an den Wahlurnen. “Because a nation is not an idea only of local extent and individual momentary aggregati‐ on, but it is an idea of continuity which extends in time as well as in numbers and in space.”6 5 So erklärte er bereits 1774 vor seinen Wählern in Bristol: «Parliament is not a congress of am‐ bassadors from different and hostile interests, which interests each must maintain, as an agent and advocate, against other agents and advocates; but Parliament is a deliberative assembly of one nation, with one interest, hat of the whole – where not local purposes, not local prejudices, ought to guide, but the general good, resulting from the general reason of the whole.” Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:96. 6 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1884, VII:95.

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Während Pitt den Begriff der Nation im Sinne einer gegenwärtigen, handlungsfähi‐ gen Gemeinschaft verstand, die inmitten einer Welt von gleichförmigen Einheiten um Stabilität und Wohlstand rang – die also im Dienst ihrer Glieder stand-, erweiter‐ te Burke den Nationenbegriff. Nicht ein Raum und nicht eine definierbare Zahl von Mitgliedern in der Gegenwart waren hinreichend, um eine Nation zu beschreiben. Eine Nation war vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in der Zeit beweg‐ te.7 Sie hatte eine Gegenwart, weil sie eine Vergangenheit besaß und eine Zukunft erhoffte. Entscheidungen traf eine Nation dementsprechend nicht aus dem Moment heraus. Sie formierte sich über einen langen Zeitraum. Mit ihnen waren Generatio‐ nen und Zeitalter beschäftigt: «It is made by the peculiar circumstances, occasions, tempers, dispositions, and moral, civil, and social habitudes of the people, which, disclose themselves only in a long space of time”.8

Die Nation ist nach Burke damit nicht gleichbedeutend mit dem Volk.9 Die Nation kann sich nicht versammeln oder gar durch Beschlüsse in Aktion treten. Dennoch ist sie mehr als eine passive herrschaftsunterworfene Ansammlung von Menschen, ge‐ formt durch Handelsinteressen, Klima und Verfassung.10 Sie handelt durch einander sich angleichende Einzelbeschlüsse.11 Für Burke war auch die Verfassung dement‐ sprechend nur das Gewand der Nation – ein ihr gemäßes, ihr dienendes, sich ihr ge‐ schmeidig anpassendes, notwendiges Instrument. Das Volk mag blind sein und von Vorurteilen geprägt. Der Einzelne mag ein Narr sein und auch Masse ist oftmals när‐ risch. “But the species is wise, and, when time is given to it, as a species, it almost always acts right”.12

Die Verwendung des Begriffes “Species” war im Kontext des Nationendiskurses un‐ gewöhnlich. Burke nutzte ihn im biologistischen Sinne, und es liegt nahe, dass er auf William Derhams 1713 erschienene und von ihm rezipierte Physio-Theologie Bezug 7 8 9

Vgl. dazu die Position Jeffersons: Cunliffe, „Thomas Jefferson and the Dangers of the Past“. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1884, VII:95. In der Schrift “Appeal from the old to the new Whigs” von 1791 distanzierte er sich ausdrück‐ lich vom Volksbegriff der Revolution: “a term which they are far form accurately defining, but by wich, from many circumstances, it is plain enogh they mean their own faction, if they should gwo by early arming, by treachery, or violence into the prevailing force): Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:45. 10 Burke, III:76–82. 11 Vgl. “Thoughts on the Cause of the present Discontent” von 1770: “Were men are not acquain‐ ted with each other’s principles, nor experienced in each other’s talents, nor at all practiced in their mutual habitudes an ddispositions by oint efforts in business; not personal confidence, no friendship, no common interest subsiding among them; it is evidently impossible theat they can act a public part with uniformity, perserverance, or efficacy.” Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:525–26. 12 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1884, VII:95.

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nahm.13 Anders als Hume, der dergleichen Argumente in seinem 1779 erschienenen Dialog über die natürliche Religion zurückwies,14 meinte Derham die Weisheit des Schöpfers in dessen Werken erkennen zu können. Dabei hob er vor allem das sinn‐ hafte Verhalten der einzelnen Arten hervor. Wenngleich das einzelne Tier unvernünf‐ tig sei und handle, treffe dies auf die Art als Ganzes nicht zu. Sie verhalte sich ver‐ nünftig, begabt mit Instinkten, die sie im Sinne der Erhaltung der Art wie des Gan‐ zen richtig agieren lasse. War Edmund Burke ein Vordenker oder gar ein Theoretiker des Nationalismus? Diese Frage wurde und wird in der Forschung immer wieder diskutiert. Der in späte‐ ren Jahren als Rousseauexperte und Revolutionsforscher bekannte Alfred Cobban hatte eine entsprechende These 1926 formuliert und dabei insbesondere auf die er‐ wähnte Rede von 1782 verwiesen. Sicher, Burke habe die Nation nicht als Organis‐ mus gesehen und auch nicht als eine beseelte Einheit. Er sei kein Manzini gewesen, und doch habe er die Nation als politischen und historischen Akteur begriffen. Bur‐ kes Nationalismus sei eben keine zerstörerische Theorie im Sinne Lord Actons, son‐ dern eine konservativ bewahrende. Die Nation, wie Burke sie verstanden habe, bilde den stabilen, überzeitlichen Referenzpunkt individuellen Handelns, da der Mensch ihn in sich selbst nicht zu finden vermag.15 Die sich hier formierende Interpretationslinie sollte für die Positionierung Burkes in der Nationalismusforschung Bestand haben. Burke wird als der große Kritiker des modernen und als Schöpfer eines konservativen Nationalismus gesehen. Oliver Zim‐ mer etwa stellt Burke und Acton in diesem Zusammenhang in eine Reihe.16 Alex Nowrasteh nannte ihn 2018 neben Schlegel und Metternich als Hauptvertreter ei‐ nes «traditional Nationalism» – eines Nationalismus, der den status quo ante wieder‐ herstellen sollte.17 Gegen die Tendenz, Burke als rein reaktiven Denker zu sehen, dessen Gedankenmodelle letztlich ins Leere liefen, wandte sich im Jahr 2000 Tom Furniss. Zweifellos habe sich Burke gegen die Verbindung von Nation und Volks‐ souveränität ausgesprochen. Der von ihm entwickelte «Cultural Nationalism» habe aber alles andere als traditionelle Züge gezeigt.18 So habe er in seinen Reflections on the Revolution in France aus dem Jahre 1790 das englische Volk de facto mit der Nation in eins gesetzt. Es sei dabei als denkende und urteilende Kraft aufgetreten und damit – ganz ähnlich wie bei Burkes Gegenspielern – als anthropomorpher Ak‐ teur.19 Erica Benner, die Burke in ihrem Beitrag über die intellektuellen Wurzeln des Nationalismus im 2013 erschienenen Oxford Handbook of the History of Nationa‐ 13 14 15 16 17 18 19

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Derham, Physico-Theology, 253. Bourke, Empire and Revolution, 104. Coleman, Hume. Cobban, „Edmund Burke and the Origins of the Theory of Nationality“. Zimmer, Nationalism in Europe, 1890-1940, 107–8. Nowrasteh, „What Is Nationalism and What Does It Mean for Liberty?“. Vgl. auch: Mandler, The English National Character. Furniss, „Cementing the Nation“.

lism als einen nationalistischen Vordenker präsentiert, sieht dies ähnlich.20 Burke ha‐ be in seinen Reflections die Nation nicht nur als historisches Kontinuum beschrie‐ ben, sondern sie an Verwandtschafts- und Geblütsmetaphern angenähert. Tatsächlich sei das von ihm entwickelte Modell alles andere als eine vergessene Alternative zum modernen Nationalismus gewesen. Es habe den Grundstein für die moderne Idee des englischen Exzeptionalismus gelegt – England werde von den Erben Burkes als eine Nation begriffen, die sich evolutionär weiterentwickelt und pragmatisch an neue Ge‐ gebenheiten anpasst. Diese Grundkonzeption sei ausgesprochen einflussreich und vorbildhaft gewesen. Sie habe etwa die Vorstellungen der japanischen Reformer des späten 19. Jahrhunderts mitgeprägt. Spätestens seit den Schriften von Karl Deutsch, Ernest Gellner, Benedict Ander‐ son, Miroslaw Hroch oder Eric Hobsbawn wird die Nation von Seiten der histori‐ schen wie der politologischen Forschung nicht als etwas Gegebenes und damit als eine natürliche, überzeitlich existente Entität begriffen, die sich im und durch den Nationalismus ihrer selbst bewusst wird, sondern als ein durch den Nationalismus generiertes Konstrukt.21 Nationen werden im Sinne der modernistischen Theorie als vorgestellte Gemeinschaften definiert, die als Reaktion auf das Ende ständischer, vormoderner, zumeist religiös fundierter Gesellschaften entstanden seien.22 Sie seien transsozial ausgerichtete Sinngebungskonstrukte, die mittels medialer Vervielfälti‐ gungen einer durch soziale und räumliche Mobilität gekennzeichneten Gesellschaft Orientierung und die Möglichkeit zum transsozialen Handeln gegeben hätten. Es ge‐ höre, so Gellner, zu den Grundprinzipien nationaler Ideologen, der eigenen Nation ein hohes Alter zuzubilligen – die Konstruktion einer Nation gehe daher stets mit der Konstruktion ihrer Geschichte einher.23 Ob die Erfinder der Nation dabei tat‐ sächlich auf historische Wurzeln zurückgreifen konnten oder nicht, sei aber letztlich irrelevant. Was vorhanden sei, werde angepasst, was nicht vorhanden sei, werde er‐ funden – Eric Hobsbawn sprach in diesem Zusammenhang bekanntlich von einer «invention of tradition».24 Jeder Konstruktionsprozess einer Nation – wie im‐ mer seine Zielrichtung auch aussehen mochte – wird diesem Analyseansatz gemäß als Nationalismus, als kulturelle Sinngebungsleistung definiert, die einem desorien‐ tierten Feld von Akteuren Konstrukte der sozialen Realität für die soziale Realität zur Verfügung stellt.

20 Benner, „Nationalism“. 21 Hall, „The State of the Nation“. Deutsch, „Nationalism and Social Communication an Inquiry into the Foundations of Nationality“. Anderson und Anderson, „Die Erfindung der Nation zur Karriere eines folgenreichen Konzepts“. Hroch und Hroch, „Das Europa der Nationen die mo‐ derne Nationsbildung im europäischen Vergleich“. 22 Anderson und Anderson, „Die Erfindung der Nation zur Karriere eines folgenreichen Kon‐ zepts“. 23 Gellner und Gellner, „Nations and Nationalism“. 24 Hobsbawm, „Nations and Nationalism since 1780 Programme, Myth, Reality“.

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Burke kann in diesem Sinne als ein Denker verstanden werden, der Nationen nicht nur als gegebene Entitäten behandelt und damit nationale Wahrnehmungsraster lediglich reproduziert hat. Er hat über sie reflektiert und sie mit einer spezifischen Kombination aus Begriffen, Mythen und Ideen der eigenen Zielvorstellung ange‐ passt. Als ein Akteur, der in der Konstituierungsphase des modernen Nationalismus wirkte und sich kritisch mit den Nationenkonstrukten der französischen Revolution auseinandergesetzt hat, bietet Burke in mehrfacher Hinsicht Anknüpfungspunkte für die Nationalismusforschung. Dies betrifft insbesondere die Möglichkeit, auf der Grundlage seiner Werke Grenzen des Sagbaren und Optionen der Konstruktion einer Nation im späten 18. Jahrhundert zu untersuchen. Wer sich in den Werken Burkes indes auf die Suche nach einer geschlossenen, in sich stimmigen Theorie und Vorstellung von der Nation macht, ist zum Scheitern verurteilt. Der 1729 in Dublin geborene Burke hatte durch eine geschickte Positionierung innerhalb eines Netzwerks von aristokratischen Förderern Karriere gemacht. Lord Cavendish hatte ihn Rockingham empfohlen, der ihn zum Privatsekretär gemacht, ihm Geld geliehen und ihn mit Amtsstellen versehen hatte. Seine finanzielle Situati‐ on war dennoch (spätestens nach dem Kauf seines Landgutes in Beaconsfield) pre‐ kär. Seine Investitionen waren oft unglücklich und seine Schulden hoch. Auch wenn Angriffe, die ihn der Bereicherung oder der Korruption ziehen, ins Leere liefen, war er von Rockingham und seinem Umfeld, aber auch vom Wohlwollen anderer Inter‐ essengruppen in mehrfacher Hinsicht abhängig. Seit 1771 nahm er etwa die Position eines Agenten der New York Assembly wahr, was seiner vermittelnden Position in der Auseinandersetzung zwischen den amerikanischen Kolonien und der britischen Krone zumindest entgegenkam.25 In den Debatten um einen möglichen Kompromiss zwischen beiden Seiten hatte Burke bezeichnender Weise den Hinweis darauf, dass auch die amerikanischen Ko‐ lonien – ähnlich wie die englische Stadt Manchester – virtuell im House of Com‐ mons repräsentiert seien, empört zurückgewiesen. Jenen Kindern Britanniens, die um Brot bäten, so der Redner pathetisch, dürfe man nicht Steine anbieten und eben dies täte das Parlament, wenn es sich dieser Konstruktionen bediene. “When this child of ours wishes to assimilate to its parent, and to reflect with a true filial resemblance the beauteous countenance of British liberty; are we to turn to them the shameful parts of our Constitution? are we to give them our weakness for their strength? our opprobrium for their glory and the slough of slavery, which we are not able to work off, to serve them for their freedom?”26

25 Callaway, „Edmund Burke, The Whig Ascendancy and the Fate of Empire“. 26 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:74.

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Es war nicht das einzige Beispiel, bei dem Burke gegen Positionen argumentierte, die er an anderer Stelle verteidigte. Sein Gegenspieler in der Debatte des Jahres 1782 war hier übrigens kaum kohärenter. So war William Pitt selbst durch die Unter‐ stützung von James Lowther als Vertreter eines Pocket-Bouroughs ins Parlament ge‐ langt und profitierte damit von einem System, das er kritisierte. Burke wie Pitt waren politischen Erwartungshaltungen unterworfen, ebenso wie den Regeln eines Spiels von Rede und Widerrede.27 Was beide unterschied, war der Gestus des reflektierten Vordenkers, den Burke pflegte und zu bewahren suchte. Wi‐ dersprüche und Wendungen in der Argumentation suchte er daher durch eine meta‐ phernreiche Rhetorik tunlichst zu kaschieren. Dass er den Begriff der Nation in sei‐ nem Manuskript definitorisch zu fassen suchte, war daher ungewöhnlich und ver‐ mutlich darauf zurückzuführen, dass er die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf Pitts mangelndes Interesse für grundsätzliche Überlegungen zu lenken suchte.28 Es war indes durchaus bezeichnend, dass er darauf schließlich doch verzichtete und einen erbitterten Konflikt mit dem politischen Aufsteiger zu vermeiden suchte.29 Ungeachtet seiner Scheu, ihn in öffentlicher Rede zu definieren, gehörte der Be‐ griff Nation zu den wohl am häufigsten von Burke verwendeten Termini. Er spielte mit ihm und wusste ihn in immer neue Bedeutungsmuster einzufügen. Dies fiel ihm um so leichter, als der Nationenbegriff Ende des 18. Jahrhunderts zwar mit großer Geläufigkeit genutzt wurde, sein semantischer Gehalt jedoch nebulös blieb. Die ers‐ ten beiden Auflagen der Encyclopedia Britannica von 1771 bzw. 1781 widmeten ihm karge dreieinhalb Zeilen: NATION, a collective term used for a considerable number of people inhabiting a certain extent of land, confined within fixed limits, and under the same government.30

Zum Vergleich: Das Schlagwort Natur wurde 1781 auf 42 Zeilen diskutiert, nach‐ dem bereits die «Naturgeschichte» auf 13 Seiten eine eingehende Erörterung erfah‐ ren hatte. Dass eine nähere Betrachtung entweder nicht möglich war oder nicht als nötig erschien, zeigte sich auch darin, dass die Herausgeber die zitierte Formulie‐ rung aus Crokers Dictionary von 1765 übernahmen, der wiederum den Beginn des Eintrags aus dem 11. Band der Encyplopédie wörtlich übersetzt hatte.31 Im Vergleich zum französischen Original fiel dabei die Reduktion des Nationenbegriffes auf eine Menschengruppe auf, die neben Regierung und Territorium nichts gemein hatte. Die Encyplopédisten hatten sich hier noch differenzierter gezeigt. Die einleitenden Zei‐ 27 Zu Theatralik des politischen Wettbewerbs: Ahmed, „The Theater of the Civilized Self“. Sa‐ met, „A Prosecutor and a Gentleman“. 28 Mori, „The Political Theory of William Pitt the Younger“. 29 Burke setzte sich 1782 bereits mit der Verwaltung Indiens auseinander und untersuchte diesbe‐ zügliche Unregelmässigkeiten. Im Fall Hasting sollte die Unterstützung Pitts für ihn noch von einigem Wert sein: Dirks, „The Scandal of Empire“, 193–95. 30 Encyclopaedia Britannica, Volume 7, Medicines-Opitics:5297. 31 Leerssen, Mere Irish & Fíor-Ghael, 25–27.

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len hatten sie durch ethnografische Betrachtungen zum Nationalcharakter ergänzt. Zudem hatten sie angemerkt, dass die Pariser Universität sich aus vier Universitäts‐ nationen zusammensetze, die in keinem Zusammenhang mit der europäischen Land‐ karte stünden“ – immerhin würden auch Engländer und Italiener der deutschen Uni‐ versitätsnation zugeordnet. Die französische Definition nahm damit auf einen älteren Nationendiskurs Bezug, wie er sich auch etwa in dem ausführlichen Artikel im 23. Band von Johann Heinrich Zedlers Universallexikon widerspiegelte.32 Für englische Autoren lagen diese Deutungsmöglichkeiten offenbar nicht mehr auf der Hand, während andere Definitionen, wie jene, die Burke in seinem Redema‐ nuskript integriert hatte, der Leserschaft nicht oder noch nicht als allgemein akzepta‐ bel vorgestellt werden konnten. Dies führte zu der merkwürdigen Situation, dass auf die kurzen Ausführungen zur Nation ein umfangreicher Artikel mit der Überschrift National Debt folgte, in dessen Rahmen der Nationenbegriff implizit ökonomisch definiert wurde. Begriffe spiegeln die soziale Realität und bestimmen sie zugleich mit.33 Die Fra‐ ge, welche Narrative, Deutungsmuster, Symbole, Kombinationsmöglichkeiten im Begriff Nation enthalten waren, war damit eine eminent politische. Akteuren wie Burke bot sich die Möglichkeit, ihn neu zu bestimmen und damit auch die Wahrneh‐ mung der Zeitgenossen in die gewünschte Richtung zu lenken bzw. zu verhindern, dass sie in eine unerwünschte Richtung gelenkt wurde. Dergleichen neue Nationenmodelle konnten dabei auf ältere, etablierte, dem Pu‐ blikum bekannte aufbauen. Dass die Konstruktion der britischen Nation nicht im 19. Jahrhundert, sondern im frühen 18. Jahrhundert begann, kann seit Linda Colleys Analyse als Gemeingut der Forschung gelten.34 Dass diese Neuformierung und Er‐ findung von Traditionslinien auf älteren bis weit in das 16. Jahrhundert zurückrei‐ chenden Prinzipien basierte, ist ebenfalls wiederholt thematisiert worden. Auch Burke bediente sich tradierter Nationenvorstellungen und zwar am deut‐ lichsten in den Texten, die sich wie die Reflections des Jahres 1790 mit der französi‐ schen Revolution auseinandersetzten.35 Gerade sie wiesen eine unverkennbare Ähn‐ lichkeit mit der älteren Selbststilisierung der englischen Nation als Hort der europä‐ ischen Ordnung und als Befreierin der Christenheit auf.36 Die Nation wurde seit der späten Tudorzeit als bedrohte Einheit gezeichnet, ge‐ fährdet durch innere und äußere Feinde. An der Spitze dieser dunklen Kräfte stand 32 Johann Heinrich Zedler, „Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste welche bisher durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert wurden, Band 23.“, 901–2. 33 Koselleck, Reinhart Koselleck. 34 Colley, Linda Colley. Britons. Vgl. auch: Newman, „The Rise of English Nationalism a Cultu‐ ral History, 1740-1830“. 35 Zum publizistischen Kontext: Cone, „Pamphlet Replies to Burke’s ‚Reflections‘“. 36 Vgl.aller auch die Verwendung des Arbitermotives 1777: Burke, The Works of the Right Hono‐ urable Edmund Burke, 1899, II:203–4.

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der päpstliche Antichrist, der sich des militärischen Arms der teuflischen Spanier be‐ diente – einer niederen Bastardnation, mit der ein friedliches Zusammenleben nicht möglich war. Mithilfe der Jesuiten und der katholischen Minderheit sei es dem Anti‐ christen gelungen, Teile Englands zu „espangniolisieren“. Sein Ziel sei es, der Chris‐ tenheit die letzte Hoffnung auf Rettung zu nehmen. Glücklicherweise besitze Eng‐ land hinreichend Selbstheilungskräfte, um das Unheil zu vertreiben. Ab dem späten 17. Jahrhundert konnte dieses Argumentationsmuster auch in sä‐ kularer Form auftreten. An die Stelle des Papstes trat dann eine innerweltliche Macht, die nach schrankenloser Herrschaft strebte, keine Normen anerkannte und den Hort der Freiheit (England) durch militärische Macht sowie durch kulturelle Un‐ terwanderung zu zerstören suche. Diese Rolle wurde vorwiegend dem Frankreich Ludwigs XIV. zugewiesen, das durch Englands Heldenmut in seine Schranken ge‐ wiesen worden sei. Das von Burke beschriebene Frankreich der französischen Revolution fügte sich nahtlos in dieses Bild ein.37 Es war Verdichtungspunkt aller politischen Haltungen, die er ablehnte. Es war ein Fremdkörper innerhalb Europas, es bedrohte nach Burkes Urteil die Freiheit aller Nationen, und zwar durch äußere wie innere Angriffe.38 Der Franzosen Reden von einem „universal peace and concord among nations“ sei nichts als Irreführung. Diese „Common enemies to mankind“ suchten nur, die Leichtgläu‐ bigen auf ihre Seite zu ziehen – leider mit Erfolg.39 Überall in Europa, so Burke in seinem Appeal from the old to the new Whigs von 1791, seien Gruppen zu beobach‐ ten, die das französische Revolutionsmodell adaptierten40 – selbst England sei be‐ troffen.41 Dabei sei es doch die Aufgabe dieses Landes, wie seit jeher, als Vorbild für die wahrhafte Freiheit zu dienen.42 Nur England, so Burke 1794, könne Europa ret‐ ten.43 Burke, der in seinen Reden zur englischen Politik darauf verzichtete (auch etwa in seinen Anklagereden gegen Hastings),44 Machenschaften nebulöser, anonymer Gegner für von ihm benannte Missstände verantwortlich zu machen, bewegte sich hier auf den wohl bekannten Pfaden einer säkularisierten Antichristrhetorik. Der Reinheit wurde die Verführung gegenübergestellt, der Ordnung die Unordnung, der Freiheit die Tyrannei.45 Burke folgte einer dem Publikum bekannten, über mehr als 37 38 39 40 41 42 43 44 45

Fakten spielten hier kaum eine Rolle: Howell, „Burke, Paine, and the Newspapers“. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:270. Burke, III:10. Vor allem die Entwicklung im»Germanic Body» bereitete ihm offenkundig Sorge: Burke, III:357–58. Burke, III:7. Burke, III:406. Burke, III:526. Mukherjee, „Justice, War, and the Imperium“. Über die Interdependenz von Freiheit und Ordnung aus Sicht Burkes: Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:87.

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zwei Jahrhunderte eingeübten Dichothomie und einer sich daraus ergebenden Dra‐ maturgie. Sein Verzicht auf ein dezidiert protestantisches Selbstbild der englischen Nation lag dabei innerhalb des tradierten argumentativen Spektrums. Bereits Ludwig XIV. war schon vorgeworfen worden, er sei an sich kein Katholik, sondern ein Atheist, der die Religion – die katholische wie die protestantische – zu zerstören suche. Bur‐ ke argumentierte in Bezug auf die Revolution ähnlich, indem er ihr einen Frontalan‐ griff auf das Christentum als Ganzes attestierte. Die hier zu Tage tretende Bereitschaft, den Unterschied der Konfessionen zu ni‐ vellieren und Katholiken als Teil der Nation zu begreifen, gehörte zu den Konstanten in der Argumentation Burkes. Sie zählte zu den Anker- und damit den Wiedererken‐ nungspunkten seines politischen Profils.46 Immer wieder verwandte er sich im Ver‐ laufe seiner politischen Tätigkeit für die Emanzipation der katholischen Bevölke‐ rungsteile – selbstverständlich ohne sich dabei von der anglikanischen Kirche zu distanzieren. Die Nationalkirche sei nicht das Nationalproblem, stellt er in einer Parlamentsre‐ de vom 11. Mai 1793 pointiert fest. Abgesehen davon, dass Burke nie einen Zweifel daran ließ, dass er Anhänger der christlichen Offenbarungsreligion war (und zwar in ihrer protestantischen Spielart), hatte er schon in seinem satirischen Kommentar zu den deistischen Positionen von Lord Bolingbroke (der Vindication of Natural Socie‐ ty von 1756) verdeutlicht, dass die Religion für den Zusammenhalt menschlicher Gesellschaft und damit für die Funktionsweise des Staates unverzichtbar sei.47 Die Kirche Englands erfülle diese Aufgabe geradezu mustergültig, es sei aber – so Burke 1780 – ein Irrglaube, in einem Umkehrschluss festzustellen, dass andere Glaubens‐ gemeinschaften die Ordnung des Königreiches gefährdeten. Jene, die einem radikal antikatholischen Protestantismus zuneigten und sich als Bewahrer „von Nationalreli‐ gion und nationalem Charakter“ gerierten, seien in Wirklichkeit Verschwörer wider die „nationale Ehre“. Es habe England zur Ehre gereicht, gegen die Tyrannei des Papstes aufzustehen, sich seines Jochs zu entledigen und die eigene Freiheit wieder‐ zuerlangen. Doch diese Zeiten seien längst vergangen. In der jetzigen Epoche gebe es nur noch eine Handvoll Katholiken – zu wenig, um sie fürchten zu müssen, aber gerade genug, um sie drangsalieren zu können. Wer sie diskriminiere, schlüpfe im Grunde in die Rolle des Papstes, der durch Zwang die Gewissen der Menschen zu knechten versucht habe. Dies entehre die Tradition Englands und müsse unterblei‐ ben.48

46 O’Flaherty, „Burke and the Catholic Question“. 47 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:56. Rothbard, „A Note on Burke’s Vindication of Natural Society“. Weston, „The Ironic Purpose of Burke’s Vindication Vindicated“. 48 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:389–91.

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Das Argument wider den Gewissenszwang, das Burke hier vorbrachte, war durchaus geläufig, seine Verbindung mit der klassischen Wortpaarung Ehre und Na‐ tion war dagegen ungewöhnlich. Burke bekannte sich ausdrücklich zu der tradierten Vorstellung, die Nation sei eine Ehrgemeinschaft, definierte aber nicht Glaubens‐ reinheit als Kennzeichen dieser Ehre, sondern die Abwesenheit von Glaubenszwang – konkreter, die Fähigkeit religiösen Dissens zu dulden. Noch ein weiterer Punkt war ungewöhnlich. Burke verwies nicht nur auf die Ehre der Nation, sondern stellte die Frage nach ihrem inneren Zusammenhalt. Was in England ein Skandal sei, würde in Irland in eine Katastrophe münden. Dort seien die Katholiken mitnichten in der Minderheit: „But Gentlemen, it is possible, you may not know that the people of that persuasion in Ireland amount at least to sixteen or seventeen hundred thousand souls – I do not exagge‐ rate the number. A nation to be persecuted!”49

Aus dem Munde eines protestantischen Iren waren dies bemerkenswerte Ausführun‐ gen. Die irische Nation, wie Burke sie hier zeichnete, drohte an der Religionsfrage zu zerbrechen. Wer eine Gruppe mit Zwangsmaßnahmen belegte und damit das ge‐ meinsame Interesse zerschnitt, riskierte (so Burke in einem Brief an Sir Langrish von 1792), dass er sie teilte.50 Dabei war Glaubenszwang zur Herstellung staatlicher Handlungsfähigkeit nach Burkes Dafürhalten völlig überflüssig.51 Selbst in Reichen, in denen Protestanten und Katholiken etwa gleich stark vertreten waren, – wie im Römischen Reich deut‐ scher Nation – sei Kooperation problemlos möglich. Wichtig war, dass die Men‐ schen an eine Gott gegebene Ordnung glaubten und sich vor dessen Urteil fürchte‐ ten. Welcher Gott dies war,– und hier schloss Burke unter Hinweis auf Indien aus‐ drücklich auch nichtchristliche Religionen mit ein – war letztlich zweitrangig. Wer am Grundprinzip der Toleranz zweifle, möge im Übrigen einen Blick nach Preussen werfen, dessen König sich um den Glauben seiner Untertanen nicht weiter kümme‐ re.52 Burkes Warnung vor den langfristigen Folgen einer Verfolgung verwies auf Me‐ chanismen, die Nationen zerstören, aber auch kreieren konnten. Unterschwellig grenzte er sich hier von einem Grundmuster nationaler Rhetorik ab – der Vorstel‐ lung, Nationen besäßen gleichsam Ewigkeitscharakter. Diese auch in England ausgesprochen einflussreiche Denkfigur basierte seit dem 16. Jahrhundert im Prinzip auf zwei oft miteinander kombinierten Narrativen. Auf die antike Ethnographie (insbesondere Poseidonios und Strabo) ging die Klimatheo‐ 49 Burke, II:405. 50 «They divided the nation into two distinct bodies, without common interest, Sympathy, or con‐ nexion” Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:301. 51 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:146–47. 52 Burke, II:406–7.

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rie zurück. Sie ging davon aus, dass Nationen durch geographisch-klimatische Rah‐ menbedingungen geformt würden. Einwanderer wurden dementsprechend nach eini‐ ger Zeit assimiliert. Noch Montesquieu nahm diese Grundüberlegung auf und beton‐ te im 14. Buch seiner 1748 veröffentlichten De l'esprit des lois, dass jeder Gesetzge‐ ber die klimatisch determinierten Charakterzüge einer Nation berücksichtigen müs‐ se.53 Eine mögliche Alternativdeutung fußte auf den Ausführungen deutscher Huma‐ nisten des 16. Jahrhunderts. Sie waren von der Erblichkeit von Zivilisation und Tu‐ gend ausgegangen und hatten ihre vermeintlichen germanischen Vorväter als eine an der Natur geschulte, von römischer Verderbnis unangekränkelte, natürliche Ge‐ blütsaristokratie identifiziert. Der Katholik Richard Verstegan hatte dieses Modell 1605 genutzt, um die Versuche der Stuarts zu unterminieren, Protestantismus und die Fiktion einer uralten britischen Nationaltradition miteinander zu verbinden.54 Aufgenommen wurde sein Lob der Angelsachsen, die als germanische Einwanderer die Freiheit in das Land gebracht hätten, vor allem von radikalen Protestanten, die die normannische Eroberung als Einschnitt in der Freiheitsgeschichte Englands sa‐ hen. Die katholisch-französischen Gewaltherrscher hätten die sächsischen Traditio‐ nen auszurotten versucht und seien dabei auf erbitterten Widerstand gestossen. Aus dieser Perspektive war die Geschichte des Landes nach dem «Conquest» durch den Rückeroberungskampf der angelsächsischen Erben gekennzeichnet, die ihre Freiheit Stück für Stück neu erkämpften.55 Diese von der Levellerbewegung ab 1647 genutz‐ te Theorie blieb ein präsentes argumentatives Motiv, das etwa von John Cartwright und Thomas Paine genutzt wurde und mit dem auch Burke sich auseinanderzusetzen hatte.56 Die Idee einer über Jahrhunderte existenten und in ihrem Kern stabilen Nation entfaltete vor allem für Befürworter radikaler Reformen und gar Revolutionen seit Mitte des 17. Jahrhunderts eine unverkennbare Attraktivität.57 Sie konnten darauf verweisen, dass Veränderung nicht zu Verunsicherung oder gar Anarchie führen musste. Die Nation konnte nie tiefer fallen als in ihre eigene Hand, sie blieb eine wirkungsmächtige Einheit, die sich eine neue, eine ihr gemäße Verfassung geben

53 Berry, „‘Climate’ in the Eighteenth Century“. Montesquieu, Esprit des lois par Montesquieu, 185–200. 54 Verstegen, A Restitvtion of Decayed Intelligence, 79. Dekker, The Origins of Old Germanic Studies in the Low Countries, 167–68. Hamilton, „Richard Verstegan’s a Restitution of Deca‐ yed Intelligence (1605)“. 55 Hill, Puritanism & Revolution. 56 Vgl. auch: Hill, The Norman Yoke. Donnelly, „Levellerism in Eighteenth and Early NineteenthCentury Britain“. Lapidge, Godden, und Keynes, Anglo-Saxon England, 304–5. Ashburton, A New and Complete History of England, from the First Settlement of Brutus, Upwards of One Thousand Years Before Julius Caesar, to the Year 1793. 57 Price, Reinventing Liberty: Nation, Commerce and the British Histoircal Novel from Walpole to Scott., 24.

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würde.58 Vertreter einer strukturstabilisierenden Haltung nahmen die Denkfigur demgegenüber als höchst problematisch wahr59 und vertraten ebenfalls seit Mitte des 17. Jahrhunderts die Gegenposition, derzufolge tiefgreifende Strukturverände‐ rungen zwangsläufig in einen kompletten Zusammenbruch mündeten und nicht kon‐ trollierbar waren. Für Burke stellte die Selbstverständlichkeit, mit der etwa in der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts die Vorstellung von der Existenz stabiler Nationalcharaktere repro‐ duziert wurde, damit ein Problem dar. Es gab indes auch Gegenstimmen. Samuel Johnson etwa, der 1775 einen Bericht über seine Schottlandreise vorlegte, verzwei‐ felte fast an dem Versuch, die Spezifika seines Gastlandes zu benennen. Unterschie‐ de gebe es zweifellos, doch diese einheitlich zu fassen falle schwer. Johnson führte die Nationalprofile zudem weder auf klimatische noch genetische Ursachen zurück. Jene spezifische Mixtur aus Sünde und Tugend, aus Leidenschaft und Vernunft, die eine Nation auszeichne, werde im Alltag geboren, im Zusammenspiel der Glieder einer Nation.60 Johnsons These von der kulturellen Konstituierung des Nationalcha‐ rakters fußte unverkennbar auf David Humes 1748 erschienener Schrift Of National Characters. Auch Hume hatte es abgelehnt, physische Faktoren für die Entstehung nationaler Charakteristika verantwortlich zu machen.61 Notwendig sei stattdessen das Benennen sogenannter «moralischer» Kausalitäten: “By moral causes, I mean all circumstances, which are fitted to work on the mind as mo‐ tives or reasons, and which render a peculiar set of manners habitual to us. Of this kind are, the nature of the government, the revolutions of public affairs, the plenty or penury in which the people live, the situation of the nation with regard to its neighbours, and such like circumstances.”62

Hume formulierte hier eine These, die den Vorstellungen Montesquieus diametral entgegenlief. Nicht die Verfassung möge dem Charakter einer Nation entsprechen, sondern umgekehrt: Die Verfassung forme den Nationalcharakter. Dies war eine Ar‐ gumentationsfigur, an die Burke anknüpfen konnte. Wie bereits in der Frage der Wahlrechtsreform, so waren auch im Rahmen dieser ausgesprochen hitzigen Debatte um Ursprung und Wesen der Nation die Positionen Edmund Burkes alles andere als widerspruchsfrei. Sie waren vom Kontext der je‐ weiligen Kommunikationssituation, in der er sich befand, abhängig. Auch wenn er, wie gesehen, mehrfach seine Distanz gegenüber der Vorstellung der seit ewigen Zei‐ ten bestehenden Nation zum Ausdruck brachte, zeigte er keine Scheu, mit den ent‐ sprechenden Motiven zu spielen, wenn dies opportun erschien. Immerhin konnte er, 58 59 60 61

Vgl. zum Anglosaxonism des 19. Jahrhunderts: Melman, „Claiming the Nation’s Past“. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:442–43. Hayman, „Notions on National Characters in the Eighteenth Century“. Vgl. allerdings seine Position zur Existenz menschlicher Rassen: Immerwahr, „Hume’s Revi‐ sed Racism“. Eze, „Hume, Race, and Human Nature“. 62 Hume, Essays, 244.

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der sich als Anwalt der Tradition, als Lobredner des glorreichen, vor allem mittelal‐ terlichen englischen Erbes als mustergültiger Patriot gab, kaum die Irrelevanz des Vergangenen für das Heutige postulieren. Ganz in diesem Sinne beschwor er daher wiederholt den drohende Abstieg des Landes und die Gefährdung seiner ehrwürdi‐ gen Traditionen. Auch war Burke sich wohl bewusst, dass rhetorische Formeln, die die Identität des Früheren mit dem Heutigen, die Geblüts- und Kulturkontinuität be‐ tonten, dazu geeignet waren, über die Netzwerkgrenzen hinweg Mechanismen der Selbstvergewisserung zu initiieren und zu nutzen. So verwies er in dem schon er‐ wähnten Redemanuskript vom 7. Mai 1782, denn auch ausdrücklich darauf, dass die Autorität der englischen Verfassung darauf beruhe, «that it has existed time out of mind», dass die Autorität der englischen Verfassung darauf beruhe, «that it has exis‐ ted time out of mind».63 In den Reflections von 1790 ging er noch einen Schritt weiter, indem er von der Magna Charta als einer ersten großen Reform der Verfassung sprach, die aber nur ein Privileg Heinrichs I. bestätigt habe, das wiederum auf noch viel älteren Rechten beruhe.64 Überhaupt sei die englische Verfassung das Erbe «unserer» Vorfahren und in ihrem Kern unwandelbar. Dieser Ansatz zeigte eine unverkennbare Nähe zur Vor‐ stellung des seit Urzeiten freien Engländers oder besser: Angelsachsen. Besonders deutlich hatte er jene Position, die Freiheit als geradezu genetisches Erbe jedes Eng‐ länders postulierte, in seiner Rede über den Konflikt mit den amerikanischen Kolo‐ nien am 22. März 1775 vertreten._ “The temper and character which prevail in our Colonies are, I am afraid, unalterable by any human art. We cannot, I fear, falsify the pedigree of this fierce people, and persuade them that they are not sprung from a nation in whose veins the blood of freedom circula‐ tes. The language in which they would hear you tell them this tale would detect the impo‐ sition; your speech would betray you. An Englishman is the unfittest person on earth to argue another Englishman into slavery.”65

Noch im Appeal from the old to the new Whigs von 1791 pries Burke ganz in diesem Sinne die britische Verfassung als einzigartiges Kunstwerk, als beste der Welt und natürlich als Erbe einer altehrwürdigen Tradition.66 Dieser Rhetorik entgegen standen andere Äußerungen, in denen Burke sehr viel präziser darauf einging, was er genau unter Tradition verstand und wie die englische Verfassung im Einzelnen entstanden war. Bereits in seiner ersten größeren Schrift - der Satire A Vindication of Natural So‐ ciety von 1756 - mokierte er sich über den Hass zwischen den Nationen. Wenngleich Burke die Rivalität zwischen Nationen im Handelssektor als Selbstverständlichkeit 63 64 65 66

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Pocock, „Burke and the Ancient Constitution—a Problem in the History of Ideas“. Burke, The Works of the Right Honorable Edmund Burke, III:558. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:133. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:12–13.

kommentierte, erklärte er die künstliche Teilung der Menschheit in getrennte Einhei‐ ten, die einander mit Hass und Streit begegneten, für zutiefst verstörend. Man müsse nur den Namen des jeweils anderen nennen, um die Menschen in Rage zu versetzen. Andersartigkeit sei stets ein Grund für Gewalt.67 Aber waren die europäischen Nachbarn den Briten wirklich so unähnlich? Burke formulierte hier Zweifel. In sei‐ ner erwähnten Rede zum Konflikt mit den amerikanischen Kolonien von 1775 hatte er ausdrücklich festgestellt, dass jene zahlreichen Fremden, die sich dort im Schutze der britischen Regierung niedergelassen hätten, das englische Erbe keineswegs ver‐ wässerten. Im Gegenteil, sie, die nie so recht in ihre Heimatländer gepasst hätten, hätten sich als eine perfekte Ergänzung der britischen Gemeinschaft in Nordamerika erwiesen: (they) «brought with them a temper and character far from alien to that of the people with whom they mixed”.68

Das tiefe Misstrauen gegenüber Migration und Veränderung, das sich in der Angel‐ sachsenverehrung eines Teils seiner Zeitgenossen widerspiegelte, war an dieser Stel‐ le nicht zu beobachten.69 Tatsächlich wusste er Migration als bereichernd zu bewer‐ ten. Zu dieser Haltung passten auch seine bereits 1757 in seinem Essay Towards the Abridgement of the English History entstandenen Ausführungen zu den Wurzeln des Common Law.70 Zwei Irrtümer gelte es, so Burke, zu widerlegen. Da sei einmal die Vorstellung: «that the English law has continued very much in the same state from an antiquity to which they will allow hardly any sort of bounds”71

In den Köpfen englischer Anwälte sei die Idee von der Unwandelbarkeit des engli‐ schen Rechts tief verwurzelt. Dasselbe gelte für die Behauptung, das Common Law sei eine Frucht dieses Landes und von Beginn an an die Bedürfnisse seiner Bewoh‐ ner angepasst. Jeder Einfluss von Außen sei schädlich gewesen und habe Krisen ausgelöst, bis man ihn endlich wieder habe abschütteln können. «These opinions are flattering to national vanity and professional narrowness.” Sie seien schierer Unsinn und würden mit Argumenten untermauert, deren Absurdität ihres Gleichen suchten, dennoch hielten «wir», so Burke, hartnäckig an ihnen fest. Schon ein flüchtiger Blick offenbare, dass von den alten Grundlagen des angel‐ sächsischen Rechts kaum noch etwas übrig sei, und dies sei gut so, denn sie seien 67 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:28. 68 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:123. 69 Sein Verhältnis zu Nichteuropäern ist davon zu unterscheiden. Vgl. Burkes Ausführungen über den Effekt, den der Anblick afrikanischer Frauen auf europäische Männer hat: Armstrong, „‚The Effects of Blackness‘: Gender, Race, and the Sublime in Aesthetic Theories of Burke and Kant“. 70 McLoughlin, „Edmund Burke’s ‚Abridgment of English History‘“. 71 Burke, The Works and Correspondence of the Right Honourable Edmund Burke, 1852, VI:366.

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für die heutige Zeit weder praktikabel noch akzeptabel. Erstaunlich sei das nicht. Wer könne denn allen Ernstes glauben, dass dieses Volk von Analphabeten ein per‐ fektes juristisches System hervorgebracht habe, das jedem Bemühen gelehrter Geis‐ ter, es in den folgenden Jahrhunderten zu verbessern, tapfer widerstanden habe. “But the truth is, the present system of our laws like our language and our learning, is a very mixe and heterogeneous mass: in some respects our own; in more borrowed from the policy of foreign nations, and compounded, altered and variously modified, according to the various necessities which the manners, the religion and the commerce of the people have at different times imposed.”72

Er sehe es als seine Aufgabe an, eben diesen Veränderungen nachzuspüren – ein Un‐ ternehmen, das angesichts der offenkundigen Unkenntnis seiner Zeitgenossen drin‐ gend nötig sei. In den nun folgenden Abschnitten zeichnete Burke ein nüchternes Bild der englischen Frühgeschichte. Es entsprach im Wesentlichen jenem, das David Hume in seiner zwischen 1754 und 1762 erschienenen sechsbändigen History of Great Britain entworfen hatte.73 Ähnlich dem Schotten betonte auch Burke die Ge‐ walttätigkeit, mit der die Angelsachsen ihre Streitigkeiten ausgetragen hätten. Ihr Recht habe ihren rauen und einfachen Sitten entsprochen. Es sei angereichert wor‐ den durch die sehr viel ausgefeiltere Rechtstradition der römischen Kirche, den Ein‐ fluss weiterer germanischer Stämme und (damit oft verbunden) die Rezeption des römischen Rechts. Den wichtigsten Entwicklungsschritt aber habe der «Con‐ quest» von 1066 dargestellt. Der von Paine als Katastrophe in den düstersten Farben geschilderte Einfall der Normannen, ist bei Burke ein historischer Glücksfall, der England mit der normannisch-französischen Rechtskultur in Berührung kommen lässt.74 Vor allem aber beginnt nun das Wechselspiel zwischen Adel und Monarchie, das die englische Verfassung ausmache und ein komplexes System gemeinsamer Verantwortung erschaffen habe. England war und ist, wie in der Forschung immer wieder zu Recht betont wurde, für Burke etwas im europäischen Kontext Gewordenes.75 Er knüpfte dabei an Moti‐ ve einer komponierten Nation an, einer Nation, die das Ergebnis des Verschmelzens verschiedener europäischer Traditionsstränge ist. Das Konstruktionsprinzip selbst ging vermutlich auf den eidgenössischen Nationendiskurs zurück und grenzte sich scharf gegen Motive der Schwarzen Legende ab, die Verschmelzungen als kulturzer‐ störend ablehnte. Burkes multieuropäisch konstituierte Nation blühte und wuchs. Sie glich dem Bild von der englischen Kirche, wie es der von ihm intensiv rezipierte Ri‐ chard Hooker im späten 16. Jahrhundert gezeichnet hatte, und damit einer vorge‐ 72 Burke, VI:368. 73 Hume, The History of England, by D. Hume, Continued by T. Smollett, and to the 23rd Year of the Reign of Queen Victoria by E. Farr and E.H. Nolan. 3 Vols. [in 12 Pt.]., 61–68. 74 Clark, Thomas Paine, 53. 75 Burke, The Works of the Right Honorable Edmund Burke, III:279.

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stellten Gemeinschaft, die einen gemeinsamen geistlichen Wachstumsprozess durch‐ lief. Die Tradition war im Burkeschen Verständnis damit ein aus verschiedenen Quel‐ len stammendes Fundament der Nation, das weitere Entwicklungen ermöglichte. Sie war nicht Selbstzweck.76 Auch in späteren Jahren sollte sein Urteil über die angel‐ sächsischen Vorfahren bezeichnenderweise immer dann von geringschätzigem Spott geprägt sein, wenn der Hinweis auf die Tradition von Gegnern genutzt wurde, um Veränderungen zu blockieren. So etwa in seiner Rede über ökonomische Reformen vom Februar 1780, in der er den Fortbestand von Ämtern und Einkommensquellen, die keinerlei Funktion mehr hatten und nur mehr der Versorgung von Parteigängern dienten, scharf kritisiert. Mit beissender Polemik beschrieb er prachtvolle und noch immer gepflegte Paläste, die vor mehr als 500 Jahren bedeutsame Zentren gewesen sein mochten, nun aber nur noch der ebenso teure wie nutzlose Widerhall einer fer‐ nen Vergangenheit seien.77 Traditionen allein hielten Nationen also nicht zusammen, dazu bedurfte es ande‐ rer Kräfte. In seinen Two Letters to Gentlemen in the City of Bristol on the Bills de‐ pending in Parliament relative to the trade of Irelande von 1775 reduzierte er seinen Standpunkt in dieser Frage auf eine – zumindest scheinbar - klare und prägnante Formel: “The eyes of mankind are opened, and communities must be held together by an evident and solid interest”78

Der Begriff des Interesses konnte bei Burke eine breit gefächerte Funktion einneh‐ men. Zentral war hier sicherlich das fiskalisch-ökonomische Interesse. In seiner Schrift Letter to a Peer of Ireland von 1782 sprach er sich einmal mehr vehement gegen die gesetzliche Benachteiligung der katholischen Mehrheitsbevölkerung Ir‐ lands im Rahmen der sogenannten Penal Laws aus. Ein Großteil des Ertrages der Wirtschaftsleistung der Insel fliesse in Form diverser Abgaben an den Staat. Sofern der Staat seinerseits dafür Sorge trage, dass jene, die bezahlten, Staatsaufträge und Ämter erhielten, sei dies auch unproblematisch. In diesem Falle ergäbe sich ein Gleichgewicht, das letztlich stabilisierend wirke. “But if a great body of the people, who contribute to this state lottery, are excluded from all the prizes, the stopping the circulation with regard to them may be a most cruel hardship amounting in effect to being double and treble taxed; and it will be felt as such to the very quick by all the families high and low of those hundreds of thousands, who are denied their chance in the returned fruits of their own industry.”79

76 77 78 79

Pocock, „Burke and the Ancient Constitution—a Problem in the History of Ideas“. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:288–94, 305–6. Burke, II:251. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:285.

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Ein solches Verhalten werde von den Herrschaftsunterworfenen völlig zu Recht als Verrat wahrgenommen, und die Herrschaftsträger müssten sich den Vorwurf der Ty‐ rannei gefallen lassen. Burke, der in seinen Reflections von 1790 über das Ende des Zeitalters der Ritterlichkeit lamentierte und zugleich die Epoche der Sophisten, Öko‐ nomisten und Rechenkünstler («Calculators»)80 drohend heraufziehen sah, begriff – wie Pocock treffend bemerkte – sogar im selben Text das abwägende Berechnen von Interessen durchaus als ein Kernelement politischen Handelns.81 Das Gegenüberstel‐ len von Soll und Haben, von Anspruch und Wirklichkeit, von Investition und Ertrag umfasste auch, aber eben nicht nur, den ökonomischen Aspekt menschlicher Interak‐ tion. Burke, der sich fasziniert von den Schriften des Schotten Adam Smith zeigte, ent‐ wickelte bekanntlich seine eigene Position zu den Fragen der «Political economy».82 Bemerkenswert waren seine Ausführungen in der 1769 anonym veröffentlichten politischen Kampfschrift Observations on a late publication intitulated «the Present State of the Nation». Burke antwortete hier unmittelbar auf den publizistischen Ver‐ such George Grenvilles, seine Politik gegenüber den englischen Kolonien in Nord‐ amerika zu rechtfertigen.83 Die fiskalischen Belastungen Englands durch den Sie‐ benjährigen Krieg, die Vorteile, die den Kolonien durch den Sieg des Mutterlandes zuteil geworden seien, sowie die fortdauernden Kosten der Verwaltung und der Ver‐ teidigung der Kolonien ließen, so Grenville, der Regierung keine andere Wahl. Dass Edmund Burke dies anders sah, stand zu erwarten. Wenn, so erklärte er der Gegen‐ seite, Großbritannien es wagen sollte, Irland auf ähnliche Art und Weise zu belasten, wie die Regierung dies für die Kolonien vorgesehen habe, dann wäre eine Rebellion und Okkupation der Insel durch Frankreich geradezu unvermeidlich.84 England knechte die Interessen der Kolonien. Es habe ein doppeltes Monopol errichtet, in‐ dem die Kolonisten nicht nur gezwungen seien, ihre Waren in das Mutterland zu verkaufen, sondern darüber hinaus Waren eigenen Bedarfs bevorzugt aus britischen Quellen zu beziehen. Dies alles schränke ihre Gewinnmöglichkeiten erheblich ein. Dieses unsinnige Handelsregime, das außer Acht lasse, wie eng die Handelsinteres‐ sen von Mutterland und Kolonien ohnehin verflochten seien, rufe heftigen Wider‐ spruch hervor und erkläre, warum jede fiskalische Forderung der Krone von den Ko‐ lonien mit Protesten beantwortet werde.85 Wie im irischen Fall sah Burke in der Dis‐ kriminierung den Urgrund für Spaltung oder gar Abspaltung. Dass dies so war, lag ihm zufolge nicht allein in der kühlen Kalkulation der Handelnden begründet, son‐

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Burke, The Works of the Right Honorable Edmund Burke, III:89. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:169–70. Conniff, „Burke on Political Economy“. Dickinson, „The Failure of Conciliation: Britain and the American Colonies 1763-1783“. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:337. Burke, I.:392–94.

dern darin, dass sie Regeländerungen dieser Art als Vertrauensbruch wahrnahmen.86 Immerhin waren jene, die die neuen Handelshemmnisse zu verantworten hatten und jene, die ihnen unterworfen waren, einander bislang alles andere als fremd: “But the people who are to be the subjects of these restraints are descendents of English‐ men; and of a high and free spirit. To hold over them a government made up of nothing but restraints and penalties, and taxes in the granting of which they can have no share, will neither e wise nor long practicable. People must be governed in a manner agreeable to their temper and disposition and men of free character and spirit must be ruled with at least some condescension of this spirit and character.”87

Völker wurden also nicht nur durch ökonomische, sondern auch durch politische und kulturelle Interaktions- und Abwägungsprozesse geprägt. Burke setzte hier, je nach Debattenschwerpunkt und Publikum, durchaus unterschiedliche Akzente. In seiner Rede etwa über die Versöhnung mit den Kolonien vom 22. März 1775 sprach er vom gemeinsamen Namen, vom verwandten Blut, von Privilegien und deren Schutz, die gemeinsam als Bande wirkten, die stärker seien als Eisen. Sie bildeten die Basis jener Zugeneigtheit, die Menschen zu einer Gemeinschaft verschmolz. Fünfzehn Jahre später, in seinen Reflections von 1790, stellte er ein ungleich kom‐ plexeres Modell vor, das Einflüsse seiner früheren Ausführungen zum Wesen des Schönen und des Erhabenen von 1757 zeigte.88 Die Revolution war für ihn, wie er in einem häufig zitierten Satz anführte, vor allem eine «revolution in sentiment, man‐ ners and moral opinions».89 Alle drei Faktoren standen nach seinem Dafürhalten in enger Verbindung miteinander. Moralische Grundhaltungen wurden, so Burke, durch Sitten und Bräuche geformt und diese wiederum von Überzeugungen geprägt, die im Zusammenspiel zwischen Individuum und Kollektiv gebildet und tradiert wurden.90 Stabilisiert wurde dieses Zusammenspiel durch verschiedene, nach Meinung Burkes durch die französischen Revolutionäre gefährdete Mechanismen.91 Da waren die alt‐ ehrwürdigen Gesetze, Institutionen und Ämter, die längst – in England ebenso wie in Frankreich - an Ausstrahlungskraft verloren hätten und ihre Funktion kaum ausüben konnten. Dasselbe galt für die ritterlichen Umgangsformen, die das Verhältnis von Mann und Frau zementierten und mit Vorstellungen von Ehre und ehrbarem Verhal‐ ten verbunden waren.92 Sie seien durch die Revolution geradezu hinweggefegt wor‐

86 Vgl.: Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:35. 87 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:395. 88 Bullard, „The Review of English Studies Prize Essay“. Espíndola, „A Criticism of Edmund Burke’s Conception of Patriotism“. Binney, „Edmund Burke’s Sublime Cosmopolitan Aesthe‐ tic“. 89 Burke, The Works of the Right Honorable Edmund Burke, III:337. 90 Vgl. auch zum Folgenden: White, Edmund Burke, 22–39. 91 Bourke, „Edmund Burke and Enlightenment Sociabilty: Justice, Honour and the Principles of Government.“ 92 White, „Burke on Politics, Aesthetics, and the Dangers of Modernity“.

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den.93 Am bedenklichsten aber war nach Burkes Dafürhalten die Position der Revo‐ lutionäre gegenüber der Religion, die des Menschen Furcht vor dem Tode kulturell auffing und nutzbar machte,94 indem sie es in die Erfahrung des Erhabenen transfor‐ mierte.95 Durch Größe, Geschmack, Geräusch, Rhetorik wurden Menschen so ge‐ formt,96 dass sie bereit waren, Herrschaft zu ertragen und das Joch der feinen Sitten auf sich zu nehmen.97 Entfiel diese Basis, so zerbrach das Gemeinwesen in seiner bisherigen Form.98 Dies äußere sich, wie Burke herausstellte, zuerst darin, dass die Franzosen ihre Wirt‐ schaftspolitik verändert hätten.99 Durch ihre neue Verschuldungs- und Geldpolitik hätten sie sich außerhalb des wirtschaftlichen Vertrauensraumes Europas gestellt. Angesichts der Risiken, die sie eingingen, sei keine Nation mehr bereit, mit ihnen zu kooperieren. Anders als Smith sah Burke damit in den Sitten der Nation die Basis für vorausschauendes Wirtschaften und nicht umgekehrt Handelsexpansion als Basis sittlicher Verfeinerung.100 Die neuen Herren Frankreichs nähmen hier im Prinzip die Position von Besatzern wahr. Da alle Rechtssicherung zerbrochen und alle Freiheiten obsolet seien, be‐ herrschten sie das Land uneingeschränkt. Frankreich – wie es einmal war – existiere nicht mehr. Die Idee, man könne das Alte einreissen und einfach durch eine neue Konstruktion ersetzen, sei unsinnig. Das Königsamt bestehe zwar weiter, sei aber in seinem Wesen ausgehöhlt – was einmal profaniert sei, ließe sich nicht wiederherstel‐ len.101 “Society», so Burkes berühmte, unverkennbar an die erwähnte Nationendefinition von 1782 anknüpfende Formulierung, “is indeed a contract (…) It is a partnership in all science, a partnership in all art, a partnership in every virtue and in all perfection. As the ends of such a partnership cannot be obtained in many generations, it becomes a part‐ nership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born.”102

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Melvin, „Burke on Theatricality and Revolution“. Burke, The Works of the Right Honorable Edmund Burke, III:106. Des Pres, „Terror and the Sublime“. Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:130–64. Hinnant, „Shaftesbury, Burke, and Wollstonecraft: Permutations on the Sublime and the Be‐ autiful“. 98 Oder wie er 1793 in seinen «Remarks on the policy of the allies” noch etwas differenzierter schrieb: “The truth is, tht France is out of itself – The moral France is separated from the geo‐ graphical.” Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:422. 99 Vgl. im Folgenden dazu: Pocock, „The Political Economy of Burke’s Analysis of the French Revolution“. 100 Vgl. auch: Ince, „Not a Partnership in Pepper, Coffee, Callico, or Tobacco“. 101 Burke, The Works of the Right Honorable Edmund Burke, III:90. Frankreich verdiene daher nicht einmal den ehrwürdigen Namen einer Republik: Burke, The Works of the Right Honou‐ rable Edmund Burke, 1855, III:8–9. 102 Burke, The Works of the Right Honorable Edmund Burke, III:359.

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Die so beschriebene Gesellschaft wurde damit durch eine Vielzahl von Entscheidun‐ gen Einzelner fundiert. Jeder von ihnen wog ab, ob das Bestehende heutigen Anfor‐ derungen genügte, wobei Menschen sich im Zweifel immer für das Bewährte ent‐ scheiden würden.103 Im Grunde skizzierte Burke hier das Modell eines, wie Renan dies 1882 formulieren sollte, täglichen Plebiszits.104 Es war der – durch die Tradition vorgeformte – Wille der Glieder, die durch eine Vielzahl von Handlungen, von Ein‐ zelentscheidungen Sitten, Bräuche, Manieren, Wertvorstellungen reproduzierten. Und doch war die Nation mehr als ihre Glieder, sie war – wie Burke bereits 1782 erklärt hatte – auch eine Idee, die überzeitlich wirkte, sie war ein Körper, der sich durch das Entfachen eines «national spirits» zum Handeln bewegen ließ. Vor allem aber war die Nation eine gedachte Geblütsgemeinschaft: “In this choice of inheritance we have given to our frame of polity the image of a relation in blood; binding up the constitution of our country with our dearest domestic ties; ad‐ opting our fundamental laws into the bosom of our family affections”105

Die Nation war damit keine tatsächliche Familie, sondern sie begriff sich als solche und Burke hatte offenkundig gegen die Konstruktion derartiger Bindungen nichts einzuwenden, solange sie das Band der Traditionen stärkte. Gleich welches Bild Burke nutzte – das der Vertragsgemeinschaft, jenes des beseelten Körpers oder der Familie - in jedem Falle ließ er keinen Zweifel an der Bedeutung der Kommunikati‐ on für den Erhalt einer Nation. Nationen wurden nach seinem Dafürhalten nicht nur, aber zu einem beträchtli‐ chen Teil durch den politischen Rahmen geprägt, der ihnen Halt und Führung gab. Wie die Verfassung dabei im Einzelnen aussah, war zweitranging. Wichtig war, dass Kontinuität und langsamer Fortschritt durch permanente Reformen nur sichergestellt werden konnten, wenn die Regierenden in enger Kommunikation mit allen Teilen der Nation ihre Entscheidungen träfen.106 Die müssten sicher sein, dass ihre Interes‐ sen vertreten würden. Die Organisation politischer Interessenverbände im Rahmen von Parteien107 sei hier von essentieller Bedeutung, ebenso wie regelmäßige Wahlen, die die Regierenden zwangen, ihre Entscheidungen zu rechtfertigen.108 Dass die Führung einer Nation dabei in den Händen jener zu liegen hatte, deren Netzwerke am weitesten reichten, die sich durch Benehmen und Moral ausgezeichneten und

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Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:335. Renan, Qu’est-Ce Qu’une Nation? Burke, The Works of the Right Honorable Edmund Burke, III:275. Vgl. auch seine Ausführungen in den «Thoughts on The Cause of the present Discontents” von 1770: “Nations are governed by the same methods, and on the same principles, by which an individual without authority is often able to govern those who are his equals or his superi‐ ors; by a knowledge of their temper, and by a judicious management.” Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:436. 107 Burke, I.:527–37. 108 Burke, I.:469.

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durch Erziehung zur Herrschaft befähigt worden seien, lag auf der Hand. Eine sich beständig beweisende Aristokratie ermöglichte die permanent erneuerte Existenz der Nation. Die Nation, die Burke hier erdachte hatte, hinterließ einen zerbrechlichen, zer‐ störbaren und damit sterblichen Eindruck.109 Nationen waren eben nicht nur, wie von Hume skizziert, etwas Gewordenes, sie waren auch etwas Vergängliches. Da mit ihrem Tode jedoch alle Errungenschaften, für die sie standen, zur Zerstörung freige‐ geben waren, musste er unter allen Umständen verhindert werden. Gefährdet war insbesondere die Freiheit, die nach Burke eben nicht das Geburtsrecht jedes Men‐ schen war,110 sondern von den einzelnen Nationen erkämpft und erhalten wurde. Freiheit, so schrieb Burke an François Depont im November 1789, sei nicht solitär denkbar: «The liberty I mean is social freedom. It is that state of things in which liberty is secured by the equality of restraint. A constitution of things in which the liberty of no one man, and no body of men, and no number of men, can find means to trespass on the liberty of any person, or any description of persons, in the society. This kind of liberty is, indeed, but another name for justice; ascertained by wise laws, and secured by well-constructed institutions.»111

Freiheit war damit kein abstrakter, sondern ein konkreter, ein bestimmbarer, sich in Rechtsnormen niederschlagender Wert. Die soziale Freiheit hatte ihre Geschichte, und sie war in verschiedenen Nationen unterschiedlich stark ausgeprägt. Die engli‐ sche Freiheit und die englische Leidenschaft für Freiheit waren daher einzigartig und mussten zugleich immer wieder aufs Neue fundiert werden.112 Die Nation musste sich für sie entscheiden – nicht etwa in Abstimmungen, sondern durch die Erneue‐ rung tradierter Werte und Handlungen.113 Wurde sie gefährdet, so musste sie verteidigt werden, und dies mit allen Mit‐ teln.114 Dies galt natürlich auch für innere Feinde, die die Freiheit gefährdeten, in‐ dem sie ihren Wert für die Glieder der Nation reduzierte und diese sich mit einer un‐ berechenbaren Regierung konfrontiert sahen. Die Revolution von 1688, deren spezi‐ fische Prägung er in den Reflections eingehend diskutierte, habe daher mit den fran‐

109 Dies wurde durch die permanente rhetorische Gegenüberstellung der grossartigen Vergangen‐ heit (vor allem der mittelalterlichen) und der Fehlleistungen des 18. Jahrhunderts noch betont: Stryer, „Burke’s Vehemence and the Rhetoric of Historical Exaggeration“. 110 In seiner Rede über den East India Bill vom 1. Dezember 1783 verwandte er allerdings das der «Natural rights of mankind» als Teil seiner Argumentation: Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:437. 111 Burke, The Works and Correspondence of the Right Honourable Edmund Burke, 1852, I:558. 112 Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:120–21. 113 Burke sah bekanntlich in der Demokratie eine Bedrohung der Freiheit: Ayling, Edmund Bur‐ ke. 114 Armitage, „Edmund Burke and Reason of State“.

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zösischen Ereignissen nichts zu tun gehabt.115 Den englischen Revolutionären sei es darum gegangen, die nationale Freiheitsgeschichte fortzuschreiben und das Erreichte nicht zerbrechen zu lassen. Dies sei ohne einen Bruch mit den Stuarts und den da‐ raus erwachsenden Veränderungen nicht möglich gewesen. Die Nation hatte gleich‐ sam in Notwehr und in bewahrender Absicht gehandelt. Es hatte sich um einen Akt der Selbstverteidigung gehandelt, bei dem Rechtsnormen gebrochen wurden, um Rechtsprinzipien aufrecht zu erhalten. Dies sei immer nur der letzte Ausweg, der ge‐ wählt werde, wenn der Weg der langsamen Reform nicht mehr offenstehe. Die französischen Revolutionäre hätten völlig andere Motive. Sie wählten den Bruch mit dem Tradierten, um etwas völlig Neues zu schaffen.116 Dies aber hatte Folgen über die eigene Nation hinaus. Da Europa, wie Burke immer wieder betonte, einen sich wechselseitig befruchtenden Interaktionsraum bildete, musste der Tod einer Nation das Gesamtsystem gefährden.117 Die anderen Nationen seien daher da‐ zu aufgerufen, diese Gefahr – wenn nötig – mit Gewalt abzuwenden. Burkes Nation war damit nicht nur eine gewordene Gemeinschaft, sie war nicht nur gefährdet und sterblich, sie war auch ausgesprochen aggressiv. Anders als das Nationenmodell seines Gegenspielers Paine war die Nation Ed‐ mund Burkes zudem keinesfalls aus sich selbst heraus handlungsfähig.118 Sie be‐ durfte einer Elite, die ihre komplexen Reproduktionsmechanismen sicherstellte.119 Dabei war sie alles andere als statisch, sondern durchaus zu Veränderungen fähig.120 Burke hatte seinen Nationenbegriff gegenüber einer Reihe von Begriffen und Denkfiguren offen und anschlussfähig gehalten. Er spielte mit Motiven der Geblüts‐ nation ebenso wie mit jenen der Vertragstheorie, der Körpermetaphorik, biologi‐ schen Allegorien oder der philosophischen Figur der Idee. Ihre Attraktivität entfalte‐ ten sie vor allem durch ihren inkludierenden Charakter. Das Grundmotiv der Traditi‐ on wurde von Burke in diesem Kontext flexibel und entwicklungsfähig interpretiert. Wenngleich er sich gegen eine Demokratie aussprach, pries er den Wert von Wahlen und betonte die Notwendigkeit, veränderten Rahmenbedingungen immer wieder Rechnung zu tragen. Hier stellte er der Tyrannei dem «popular government» und da‐ mit einem Teilhabeversprechen gegenüber. Auffällig war seine Distanz gegenüber 115 Vgl. dazu auch die Ausführungen von 1791 in „Appeal from the old to the new Whigs“, in denen die Glorious Revolution und den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in ihren Ähn‐ lichkeiten analysiert: Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:15. 116 Walker, „The Forgotten Prophet“. 117 Spinner, „Constructing Communities“. 118 Eine interessante Interpretation aus Sicht des späten 20. Jahrhunderts: Canavan, „The Rele‐ vance of the Burke-Paine Controversy to American Political Thought“. 119 Vgl. bereits «Thoughts on the Cause of the present Discontent” von 1770: “The is the repre‐ sentative of the people; so are the lords; so are the judges. They all are trustees for the people, as well as the Commons.” Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1887, I.:492. Zur Bedeutung der “grossen” Männer in diesem Prozess: Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1899, II:65–69. 120 Weston, „Edmund Burke’s View of History“.

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Metaphern und Konzepten, die die Nation in die Nähe einer Privilegiengemeinschaft rückten. Stattdessen knüpfte er an den europäischen Diskurs zur Neufundierung der Herrschaftslegitimation in einem sich säkularisierenden Umfeld mit veränderter Ressourcenverteilung an. Auch hier blieb Burke in seiner Metaphorik ambivalent. Auf der einen Seite re‐ kurrierte er auf Familienmotive und zeichnete amerikanische Herrschaftsunterworfe‐ ne als Kinder. Auf der anderen Seite waren die politischen Eliten, die er als Idealbild skizzierte, alles andere als väterlich-autoritär. Sie glichen eher Kommunikationsin‐ genieuren, die eine komplexe Maschinerie am Laufen hielten. Ihre Position sollten sie in jedem Fall durch ihre Leistung und nicht durch ihre Geburt legitimieren.121 Erbe und Leistung, Tradition und Anpassung wurden dabei motivisch immer wieder verknüpft. Der Begriff der Nation diente ihm damit als eine Projektionsfläche, die politische Verfahren mit Werten, Metaphern und Narrativen auflud und sie in einen überzeitli‐ chen Kontext stellte, ohne die in ihm enthaltenen Widersprüche aufzulösen. Zu‐ gleich wusste er sich von rivalisierenden und konkurrierenden Nationenkonzepten abzugrenzen, indem er in einer Reihe von Ankerpunkten seine differente Position darlegte – Nation und Atheismus waren für ihn ebenso inkompatibel wie Nation und Intoleranz oder Nation und Demokratie. So gewann die Nation des Edmund Burke vor allem dann an Konturen, wenn ihr Schöpfer sie gegenüber Gegnern und Feinden abgrenzte. Dabei bediente er sich vornehmlich des im nationalen Feindbilddiskurs des 17. Jahrhunderts entwickelten säkularen Antichristmotives. Burke spielte insbe‐ sondere mit dem Motiv der sterblichen Nation, die von dunklen Mächten bedroht war. Es war gerade dieses Motiv, das seinem Konstrukt eine weitere Dimension ver‐ lieh – jene der potentiellen Mobilisierung von breiten Bevölkerungsgruppen für einen vermeintlichen Kampf um Leben und Tod.

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121 In den „Appeal from the old to the new Whigs“ von 1791 heisst es: “theses are the circum‐ stances of men, that form what I should call a natural aristocracy, without which there is no nation” Burke, The Works of the Right Honourable Edmund Burke, 1855, III:86.

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2. Burke – Ahnherr des Konservatismus

Henning Ottmann Burke als Ahnherr des Konservatismus

Edmund Burke war Politiker und Philosoph in Personalunion, ein allseits geschätz‐ ter Redner, der selbst über trockene Materien wie Finanzen mitreißend reden konnte. Er war der inzwischen selten gewordene Fall eines politischen Denkers, der über ei‐ gene politische Erfahrung verfügte. Zwar klagten manche Zeitgenossen über seinen unaufhaltsamen Redefluss. Aber es konnte sich, wie der englische Essayist Samuel Johnson trocken bemerkte, niemand darüber beklagen, dass er nicht gut rede.1 Er war ein neuer Cicero, und wie sein antiker Vorgänger auch ein Fürsprecher der Aris‐ tokratie und des mos maiorum. Dies trug ihm Kritik von Radikalen ein, zumal er fi‐ nanziell abhängig war von Aristokraten wie dem Marquis of Rockingham. Nach dem maliziösen Urteil von Marx war Burke nur ein „Sykophant, der im Sold der englischen Oligarchie den Romantiker gegenüber der Französischen Revolution spielte, ganz, wie er im Sold der nordamerikanischen Kolonien…gegenüber der eng‐ lischen Oligarchie den Liberalen gespielt hatte“.2 Das Urteil von Marx verrät viel Häme, aber wenig Sachkenntnis. Abgeordnete er‐ hielten damals noch keine Diäten. Ohne Protektion von Aristokraten konnten sie gar nicht in Ämter gelangen. Burke hatte nichts „gespielt“. Das hatte er gar nicht nötig. Seine geistige und politische Unabhängigkeit hatte er mehrmals bewiesen. Bei Hof machte er sich unbeliebt. Man wusste, dass er hinter der Economic Reform Bill stand (1782), welche die Finanzen des Hofes beschnitt. Er trat ein für die Emanzipation der Katholiken, eine Forderung, die nicht geeignet war, ihn in England populär zu machen. (Es sollte noch bis 1829 dauern, bis Katholiken zu politischen Ämtern zu‐ gelassen wurden). Gegen Warren Hastings, den Gouverneur von Bengalen betrieb Burke zweimal ein impeachment. Im Falle der amerikanischen Kolonien empfahl er eine versöhnliche Politik, die zukunftsweisend hätte sein können, hätte man sie nur befolgt. Seine Streitschrift gegen die Französische Revolution, Reflections on the Revolu‐ tion in France (1790), verfasste Burke nicht im Auftrag einer Partei oder einer Per‐ son. In seiner Partei, den Whigs, führte seine Schrift dazu, dass man sich zerstritt. Burkes Freund Charles Fox, der Gegenspieler des jüngeren Pitt, hielt den Bastille‐ sturm für „das größte Ereignis der Weltgeschichte“. Überhaupt war bei Fox und an‐ deren die Meinung verbreitet, die Französische Revolution sei die konsequente Fort‐ 1 „but nobody could say that he did not speak well“, Boswell o. Jg. S. 160. 2 Marx 1867/1971, MEW Bd. 23, S. 788 Anm.

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setzung der Glorious Revolution von 1688. Was in der Englischen Revolution be‐ gann, vollendete sich demnach in der Französischen. Dieser Meinung war Burke ganz und gar nicht. 1789 war für ihn nicht die Vollendung von 1688, sondern das Gegenteil. Als Burkes Reflections erschienen, war der Begriff des Konservatismus noch nicht etabliert. Er wurde erst populär durch Chateaubriands Zeitschrift Le Conserva‐ teur (1818-20) sowie durch die Conservative Party, als die die Tories ab 1830 fir‐ mierten. Aber wir wissen um das epochale Ereignis, das den Konservatismus her‐ vorbrachte: es war die Französische Revolution. Manche relativieren diesen Kon‐ nex, indem sie seinen Ursprung schon früher ansetzen. Nach Epstein und Kondylis keimte er bereits in den anti-absolutistischen Strömungen um 1770.3 Nach Mann‐ heim wurde er schon im „Urkonservatismus“ des Reichpublizisten Justus Möser ge‐ boren,4 nach Fetscher (1975) sogar schon in der Kulturkritik Rousseaus.5 Man mag dies Frühformen eines Konservatismus avant la lettre nennen. Es spricht jedoch viel dafür, den eigentlichen und wirkungsmächtigen Konservatismus mit dem Epoche‐ nereignis der Französischen Revolution und der Reaktion auf diese zu verbinden. Erst seitdem gab es das Pathos des absoluten Neubeginns, erst seitdem gab es die grundsätzliche Dichotomie von Progressismus und Bewahrung; erst seitdem auch gab es den Konservatismus als eine Doktrin, aller Abneigung der Konservativen ge‐ genüber abstrakten Theorien zum Trotz. Traditionalismus, ein Hängen am Altherge‐ brachten, begegnet in allen Gesellschaften.6 Es gibt ihn immer und überall. Konser‐ vatismus ist dagegen eine spezifisch moderne politische Strömung, die erst seit gut 200 Jahren existiert. Wer bewahren will, kann unbeweglich sein, interessiert nur am Festhalten des Status quo. Er kann aber ebenso an eine Wiederbelebung und Erneuerung denken, so wie man Gebäude oder Gemälde von Zeit zu Zeit restaurieren muss, wenn man sie erhalten will. Keine Erhaltung ohne Reform. Nichts anderes war das Credo Edmund Burkes. Sein idealer Staatsmann sollte bewahren, aber auch verbessern können. „Neigung zum Erhalten und Geschicklichkeit zum Verbessern“, schrieb er, „sind die beiden Elemente, deren Vereinigung in meinen Augen den Charakter des großen Staatsmanns bildet“.7 In diesem Sinne war Burke ein Reformkonservativer. Betrach‐ tet man die vielfältige Geschichte des Konservatismus im 19. Jahrhundert ̶ liberaler, romantischer, sozialer Konservatismus ̶ kann man Burke auch einen liberalen Kon‐ servativen nennen. Sein Konservatismus unterschied sich erheblich von dem der le‐ gitimistischen Gegenrevolutionäre wie de Maistre, de Bonald oder Donoso Cortés. Als Anglikaner war ihm die Berufung auf eine Obersouveränität des Papstes denk‐ 3 4 5 6 7

Epstein 1971; Kondylis 1986. Mannheim 1984, S. 158. Fetscher 1975. Mannheim 1984, S. 92 ff. Burke 1790/1984, S. 295.

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bar fremd. Er verspürte auch keine Sehnsucht nach der Wiedereinrichtung einer ab‐ soluten Gewalt der Könige. Man hatte doch in der Glorious Revolution den Absolu‐ tismus gezähmt, und die englische Mischverfassung mit king, house of lords und house of commons bot eine gelungene Mischung der guten Verfassungsformen. Sie hatte schon Montesquieu im Esprit des lois (XI, 6) zu seiner Lehre von der Gewal‐ tenteilung inspiriert. Von allen modernen politischen Strömungen ist der Konservatismus diejenige, die sich am meisten gegen abstrakte begriffliche Fassungen sperrt. Konservativ sind oft auch jene, die es nicht sein wollen, z.B. Revolutionäre nach gelungener Revolution. Dann wollen sie die Resultate der Revolution bewahren. Amerikaner pilgern nach Monticello, Russen zum Lenin-Mausoleum, in dem ihr pharaonisch einbalsamierter Lenin „bestattet“ ist. Konservative bevorzugen das Konkrete vor dem Abstrakten, den Einzelfall vor dem System, das Gewachsene vor dem Gemachten, das konkrete Haus vor dem Grundriss.8 Das macht übergreifende Klassifizierungen ihrer Doktri‐ nen schwierig. Oft zitiert wird Epsteins Unterscheidung von Status-quo-Konservativen, ReformKonservativen und Reaktionären.9 Aber das ist nur ein Notbehelf. Die Abgrenzung von Status-quo- und Reform-Konservativen ist unscharf, da man einen Status-quo auch und gerade durch Reformen erhalten kann. Der Begriff „reaktionär“, meist an‐ gewandt auf die Gegenrevolutionäre, ist rein polemischer Natur. Er soll die Gegner‐ schaft gegen den angeblich unaufhaltsamen Fortschritt stigmatisieren und den Fort‐ schritt selber zum Dogma erheben. Das Schlagwort kann zudem inhaltsleer sein, da jede Politik auf irgendeine Herausforderung „reagiert“. Dass reaktionäre Politik zum Scheitern verurteilt ist, ist nicht von vornherein ausgemacht. Wenn sie erfolgreich ist, wird sie zur Wiederherstellung, zur Restauration. Der Begriff „Restauration“ ̶ ge‐ schaffen vom Schweizer Staatsrechtler Carl Ludwig von Haller10 ̶ wurde zur Kenn‐ zeichnung einer ganzen Epoche (von 1815 bis 1848). Restauration kann die Wieder‐ herstellung vorrevolutionärer Verhältnisse meinen, dass man so tut, als wäre nichts geschehen. Es kann sich aber auch verbinden mit der reformkonservativen Vorstel‐ lung, dass ein Gebäude ohne laufende Reparaturen und Erneuerungen nicht erhalten werden kann. Etikettierungen sind nicht immer hilfreich. Man muss schon sagen, was und wie etwas bewahrt werden soll. Der Schlüssel zur leidigen Klassifizierung ist die Stel‐ lung des Konservatismus zur politischen Moderne. Wer sie kompromisslos ablehnt und sich in der Trauer um das unwiederbringlich Verlorene verliert, will, so GerdKlaus Kaltenbrunner, „in Palästen wohnen, die längst schon verfallen sind“. Wer sich allein dem Progressismus verschreibt, bezahlt ebenso einen hohen Preis. Er 8 So die zutreffende Phänomenologie von Mannheim 1984, 110 ff. 9 Epstein 1971, S. 19 ff. 10 Von Haller 1817-1834.

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wird blind für die Kosten, die der Fortschritt mit sich bringt. Ein lebensfähiger Kon‐ servatismus wird sich zwischen diesen Polen platzieren. Er wird versuchen, die Be‐ dingungen moderner Freiheit zu bewahren, die diese aus sich selber nicht garantie‐ ren kann. Die politische Moderne lebt nicht aus sich allein, sondern auch aus dem, was sie den Kräften der Herkunft verdankt. Burke war ein Mann, der leicht zwischen die Fronten geraten konnte. Geboren in Dublin, der Vater Rechtsanwalt und Protestant, die Mutter katholisch, wollte er in England Politik machen. Als Ire mit halbkatholischer Herkunft war er in England doppelt verdächtig. Er hatte unwillig die Rechte studiert und sich entschlossen, Schriftsteller zu werden. Sein schriftstellerisches Debüt gab er in A Vindication of Natural Society (1756). Es war eine Schrift, welche die Theorien Lord Bolingbrokes persiflierte. Wenn man schon wie Bolingbroke Religion und Staatskirche rein nach der Vernunft beurteilte und verurteilte, konnte man auch gleich den Naturzustand preisen. Die Persiflage war so gut gemacht, dass sie Zeitgenossen für ein postumes Werk Bolingbrokes hielten. Der Tory Bolingbroke hatte übrigens 1738 in The Idea of a Patriot King für eine Stärkung der monarchischen Gewalt plädiert. Burke und die Rockingham Whigs waren darüber zu ihrer Zeit besorgt. Sie sahen, dass der Monarch eine Politik der Einflussnahme (influence) betrieb. Durch Ämtervergabe versuchte er, sich jener Persönlichkeiten zu versichern, die Politik in seinem Sinn betreiben würden. In den Augen von Burke gab dies der Krone zu viel Gewicht. Par‐ lament und Krone sollten ein Gleichgewicht halten. Das Parlament sollte der Gesetz‐ geber sein und über das Haushaltsrecht verfügen, der König das Recht besitzen, ein Veto einlegen zu können und die Minister zu ernennen. 1757 veröffentlichte Burke eine Ästhetik, die bei Lessing, Kant, Schiller, Schlegel und noch bei Philosophen der Postmoderne Anklang fand: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. Burke war nicht nur ein homo politicus, er war auch ein kunstsinniger Mann. Er verkehrte im Literary Club, in dem er Umgang hatte mit dem Dichter Oliver Goldsmith, dem Essayisten Samuel Johnson und dem Maler Joshua Reynolds. Die Ästhetik besitzt gewisse Verbindun‐ gen zur Politik, da sie wie die Lehren vom Geschmack oder vom Anstand auf ge‐ meinsame Gefühle und Konventionen verweist. Gemeinsamer Geschmack verbin‐ det, während den Umgang mit Menschen, die keinen Geschmack haben, wohl kaum jemand suchen wird. Grundbegriffe der Burkeschen Ästhetik sind das Schöne und das Erhabene (subli‐ me). Das Schöne verbindet Burke mit Liebe und Wohlwollen, das Erhabene mit dem Trieb zur Selbsterhaltung. „Erhaben“ sind das stürmische Meer, das riesige Gebirge, der Sternenhimmel, alles, was uns überwältigt oder bedroht. Das Gefühl, welches das Erhabene auslöst, ist zwiespältig. Es ist eine Art negativer Lust, die uns eine Ge‐ fährdung oder Überwältigung bewusst macht, uns diese aber zugleich genießen lässt. Kant unterscheidet das „Schreckhafte“, das Grausen oder Schwermut auslöst, vom

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Edlen, das wir achten, und vom „Prächtigen“, das wir bewundern.11 Der Enthusias‐ mus ist für ihn ein erhabenes Gefühl, das er in der Begeisterung über die Französi‐ sche Revolution zu erkennen glaubt. Zwar sei der Enthusiasmus blind, und insofern der Vernunft nicht wohlgefällig, aber er bewirke doch Großes.12 Die Anteilnahme an der Revolution sei nicht fanatisch, sondern moralisch, gerichtet auf das Recht eines Volkes, sich eine republikanische und dem Frieden förderliche Verfassung zu ge‐ ben.13 Kant schätzt Burkes Ästhetik. Aber er verwendet deren Schlüsselbegriff des Er‐ habenen in einer Weise, der Burke nicht hätte zustimmen können. Zwar verteidigt Kant nicht die Revolution als solche. Ein Widerstandsrecht des Volkes lehnt er be‐ kanntlich ab. Auch verachtete er den Terror der Jakobiner. Aber er adelt die Anteil‐ nahme am „Geschichtszeichen“ der Revolution durch einen moralisierten Begriff des Enthusiasmus, der bei Burke wohl eher unter Schwärmerei oder Fanatismus ge‐ fallen wäre. Ein neuerer Brückenschlag von der Ästhetik des Erhabenen zur Politik findet sich bei Lyotard, einem der Väter der Postmoderne.14 Er verwandelt die im Erhabenen aufscheinende Diskrepanz von Sinnlichkeit und Idee in den „Widerstreit“ der Diskurse. Die Unverbundenheit der Sprachspiele Wittgensteins wird zur Inkom‐ mensurabilität gesteigert, reagierend auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts, die dem schönen Schrecken bei Burke und Kant nicht mehr vergleichbar sind.15 Burke war von 1766 bis 1794 Abgeordneter für verschiedene Wahlkreise. 1765 wurde er der Privatsekretär des Marquis of Rockingham, der 1765/66 und 1782 das Amt des Premierministers übernahm. Das klingt nach mehr Einfluss, als sie Burke und den Rockingham Whigs beschieden war. Sie befanden sich die meiste Zeit in der Opposition, eingeklemmt zwischen dem Einfluss des Hofes, der ihnen nicht ge‐ wogen war, und den Forderungen der Radikalen, die sie nicht teilten. Ihre an sich maßvollen Reformen bezogen sich auf die Amerika-, Irland- und Indienpolitik sowie auf das Gefüge der englischen Institutionen. Was die amerikanischen Kolonien betraf, ahnte Burke die Gefahr der Trennung vom Mutterland voraus. In seinen Reden, Speech on American Taxation (1774) und Speech on Conciliation with America (1775), warb er für eine klügere Behandlung der Kolonien. Er wollte ihnen ein eigenes Recht auf Besteuerung und Justiz zugeste‐ 11 Kant 1764/1960, A 5 f. 12 Kant 1790 A, 1793 B/ 1964, § 29, 109 ff. „Die Idee des Guten mit Affekt heißt der Enthusias‐ mus. Dieser Gemütszustand scheint erhaben zu sein, dermaßen, dass man gemeiniglich vor‐ gibt: ohne ihn könne nichts Großes ausgerichtet werden“. Obwohl er „in keinerlei Weise ein Wohlgefallen der Vernunft verdienen (könne)“, sei er gleichwohl „erhaben, weil er eine An‐ spannung der Kräfte durch Ideen ist, welche dem Gemüte einen Schwung geben, der weit mächtiger und dauerhafter wirkt, als der Antrieb durch Sinnenvorstellungen“ a. a. O. S. 120 f. (A), S. 121 f. (B). 13 Kant 1798/1964 A, S. 144 f. 14 Pries 1989. 15 Man wird sich wohl hüten, den Atompilz oder den Holokaust „erhaben“ zu finden.

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hen, freilich nicht ein Recht auf Separation. Er verwies auf die Freiheitliebe der aus‐ gewanderten Engländer, ihre praktischen Erfahrungen in den Assemblies und den Grad ihrer juristischen Bildung. „Nobody will be argued into slavery“, das war ein bemerkenswerter Satz.16 Er rief Erinnerungen wach an den Kampf um das eigene Recht auf Besteuerung, den man in England seit der Magna Charta geführt hatte und dessen Erfolg auch den Landsleuten in den Kolonien nicht zu verweigern war. Die englische Irlandpolitik war Burke durch seine Geburt in Irland und seine ka‐ tholische Mutter ein mehrfacher Stein des Anstoßes. Hatte England das Recht, Ir‐ land zu beherrschen und seinen Handel zu kontrollieren? Hatte es das Recht, Katho‐ liken zu bestrafen? Burke kämpfte für die Abschaffung der Strafgesetze. Für ihn wä‐ re es ideal gewesen, wenn man die Iren nicht anders als die Engländer behandelt hät‐ te.17 Die Kolonialpolitik Englands in Indien war de facto Sache der East India Compa‐ ny. Sie besaß bis ins 19. Jahrhundert hinein quasi-staatliche Privilegien (Zivilge‐ richtsbarkeit; lokale Steuern; eigene Soldaten). Burke hielt diese Vermischung öko‐ nomischer und politischer Herrschaftsansprüche für bedenklich. Zwar blieb ihm wie im Falle Amerikas und Irlands die Idee einer Selbständigkeit des kolonisierten Lan‐ des auch in diesem Falle fremd. Aber er wollte die Rolle der traditionellen Kultur und des Hinduismus besser gewürdigt sehen. Mit Eifer betrieb er fast ein Jahrzehnt lang ein impeachment gegen Warren Hastings, den Gouverneur von Bengalen. Die‐ ser hatte sich nicht sonderlich bereichert wie so viele vor ihm, etwa der legendäre Robert Clive.18 Aber Hastings geriet in die Kontroversen der Parteien und stand wohl nur stellvertretend für die East India Company selbst, die als Pseudostaat alle Rechte von Staaten für sich reklamierte, aber weder die Rechte ihrer Untertanen noch deren Wohl respektierte. Das impeachment scheiterte krachend, und sein Scheitern hat Burke wohl bis ins Grab hinein betrübt. Was die Politik in England anging, so erwarb sich Burke Verdienste um die Be‐ wahrung der Mischverfassung, die vor ihm Charles I. (am Beginn des Bürgerkrie‐ ges) oder Harrington gepriesen hatten. In seiner Defence of the Constitution of the United States of America (1777/78) versuchte noch John Adams dem jungen Ameri‐ ka eine Mischverfassung zu empfehlen, was aber keinen Anklang fand. In England 16 Burke 1972, S. 65. 17 Aktives Wahlrecht erhielten irische Katholiken 1793, passives 1829. 18 Robert Clive war ein tüchtiger Soldat und ein skrupelloser Charakter. Er eroberte Indien, man weiß nicht für wen, ob für England oder die East India Company. Bei seinem ersten Aufenthalt in Indien kassierte er 234 000 Pfund in bar. Später vergrößerte er sein Vermögen und das der East India Company durch Kriegsbeute und Steuern. Ihm war es gelungen, Shah Alam II. zur Abtretung der diwani, der Steuern, zu überreden. Diese kamen nicht der englischen Krone, sondern der East India Company selber zu. Als er sich 1772 vor dem englischen Parlament rechtfertigen musste, sprach er den erstaunlichen Satz: „I stand astonished at my own modera‐ tion“. Ein Museum in seinem Schloss Powis Castle zeigt ca. 300 seiner Beutestücke: Statuen von Hindu Gottheiten, Schwerter, einen Goldenen Tigerkopf etc., ein obszönes Museum kolo‐ nialer Ausbeutung und persönlicher Bereicherung zugleich.

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blieb die Grundidee lebendig, die Mischung der traditionell guten Verfassungsfor‐ men, die sich in king, house of lords und house of commons manifestierte. Burke lös‐ te sie von ihrer engen Anbindung an die Stände, indem er an die Stelle des imperati‐ ven Mandats die Repräsentation setzte und die Parteien als Kräfte der modernen Po‐ litik anerkannte. 1774 kandidierte Burke für Bristol. Sein Konkurrent versprach den Wählern, sich an ihre Instruktionen zu halten. In seiner Rede Speech at the Conclu‐ sion of the Poll (3. 11. 1774) entgegnete Burke, es sei zwar die Pflicht eines Abge‐ ordneten „to sacrifice his repose, his pleasure, his satisfactions, to them (seinen Wählern, H.O.), es sei aber nicht seine Pflicht, ihnen „his unbiased oponion, his ma‐ ture judgment, his enlightend conscience“ zu opfern.19 Ein Parlament sei „a delibe‐ rative Assembly of one Nation, with one interest, that of the whole“.20 Sobald ein Abgeordneter das Parlament betrete, lasse er die lokalen Interessen hinter sich. Er sei dann nicht mehr der Abgeordnete von Bristol, sondern „a member of Parlia‐ ment“.21 Das war der moderne Begriff der Repräsentation wie ihn auch Sieyès 1789 am Beginn der Französischen Revolution vertreten sollte, allen Unterschieden zwi‐ schen dem konservativen Engländer und dem französischen Theoretiker zum Trotz.22 Die Vorläufer der politischen Parteien, die Tories und Whigs, waren zunächst nur lose Interessengruppen, die zudem den Einflüssen der Krone und der Regierung aus‐ gesetzt waren. Burke wollte sie zu festen Größen der commons formen, um die Macht des Königs zu kontrollieren und dem Willen des Volkes Ausdruck zu verlei‐ hen. Parteien seien „a body of men united, for promoting ….the national interest, upon some particular principle by which they all agreed“.23 Unter Volk oder Nation verstand Burke allerdings nicht eine fiktive Einheit isolierter Einzelner, sondern den gebündelten Willen der Stände. Das Volk bestehe aus „the great peers, the leading landed gentlemen, the opulent merchants and manu(nicht: y)facturers, the substanti‐ al yeomanry“.24 Das Schwergewicht liegt hier eindeutig bei den Besitzenden. Die große Masse des Volkes wird erst im 19. Jahrhundert, vor allem von Israeli, als Kli‐ entel der Konservativen entdeckt. Ein anderes Problem ist, dass sich hier kapitalisti‐ sche Interessen und solche des Landadels harmonisch vereinen sollen.25Aber können

19 20 21 22

Langford Bd. III, S. 69. Ebd. Ebd. Sièyes forderte in Qu´ést-ce que le Tiers-Etat (1789) eine Abstimmung nicht nach Ständen, sondern nach Köpfen. Abgeordnete seien Repräsentanten des nationalen Willens, sie seien nicht gebunden durch ein imperatives Mandat. Der Rousseauismus, der bei Sièyes repräsenta‐ tiv gezähmt wird, spielt bei Burke keine Rolle. 23 Langford 1981, Bd. II, S. 282. 24 Ebd. 25 Macpherson (1981, S. 63), der allenthalben nur einen possessive individualism am Werk sieht, besteht da kein Problem. Die organische Ständegesellschaft und der individualistische Kapita‐ lismus fallen für ihn unversehens in eins.

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sie das? Bürgerlicher Individualismus und hierarchisch-organische Ideen des Adels liegen zunächst einmal miteinander im Streit. Burkes Hauptschrift, Reflections on the Revolution in France, erschien 1790, als die Revolution sich in ihrer noch nicht offen terroristischen Phase befand. Burke hat‐ te die letzten Zeilen im September 1790 geschrieben. Die Reaktion war erstaunlich. In kurzer Zeit erscheinen fast 30 Gegenschriften und Apologien. Besonders hervor‐ zuheben sind die Gegenschriften von Mary Wollstonecraft, einer Feministin avant la lettre, und Thomas Paine, dem amerikanischen Revolutionär. Beide griffen das The‐ ma Menschenrechte auf. Begeisterte Zustimmung fand Burke bei Friedrich von Gentz, der die Reflections ins Deutsche übersetzte, ferner bei den Hannoveraner Be‐ amten August Wilhelm Rehberg und Ernst Brandes. Friedrich von Gentz sollte eine erstaunliche Karriere machen. Er begann als Kantianer, der die Revolution begrüßte, wurde nicht zuletzt durch Burke zu deren Gegner und schließlich zum Mitarchitek‐ ten der Restaurationsepoche. Gentz wurde die rechte Hand Metternichs und der Se‐ kretär aller großen Kongresse der Zeit.26 Provoziert worden war Burke nicht nur durch die Revolution, sondern auch durch die frühen englischen Reaktionen auf diese. Der Presbyterianer Richard Price hatte in einer Predigt zum hundertjährigen Jubiläum der Glorreichen Revolution vertreten, England solle dem Vorbild der Französischen Nationalversammlung folgen. Burke demonstriert in der Form eines Briefes an einen jungen Franzosen, dass dies eine verstiegene Forderung ist. Politik und Kanzel „hätten wenig miteinander zu schaf‐ fen“. Drei Forderungen Prices seien unmäßig: dass wir unsere Regenten zu wählen hätten, sie wegen „Vergehungen“ absetzen könnten und eine Verfassung „nach eige‐ nem Gutbefinden“ entwerfen dürften. Er plädiert stattdessen für die Erbmonarchie, für Reform und für die ererbten Rechte. „Wir haben eine erbliche Krone, einen erbli‐ chen Reichsadel; und das Unterhaus und Volk hat erbliche Privilegien, Rechte und Freiheiten, die von einer lange Reihe von Vorfahren herstammen“.27 En passant lie‐ fert Burke auch eine Definition seines Reformkonservatismus: „ein Staat, dem es an allen Mitteln zu einer Veränderung fehlt, entbehrt die Mittel zu seiner Erhaltung… Beide Prinzipien, das Erhaltungs- und Verbesserungsprinzip“, hätten sich in England in den großen Krisen bewährt, ohne „den ganzen Bau über den Haufen (zu wer‐ fen)“.28 Burke erinnert an die Geschichte Englands, wie sie die Whigs nachzuerzählen pflegten. Demnach führt ein gerader Weg von der Magna Charta über die Rechts‐ fortschritte des 17. Jahrhunderts zur Glorious Revolution. Für die einen reiht sich Burke damit ein in die englische common law tradition, in die Diskussionen um an‐

26 Cahen 2017. 27 Burke 1790/1987, S. 56 ff., hier S. 85. 28 Burke 1790/1987, S. 66.

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cient custom und ancient constitution.29 Für andere steht er eher in der Tradition des antiken und mittelalterlichen Naturrechts.30 Die Sprache des älteren Naturrechts verwendet Burke zweifelsohne, und es ist of‐ fensichtlich, dass er mit dem neuzeitlichen Naturrecht im Stile von Hobbes und Rousseau gebrochen hat. Es gibt bei Burke keinen Naturzustand oder gar ein Lieb‐ äugeln mit dem edlen Wilden. „Art is man´s nature“.31 Der Naturzustand ist eine Fiktion, und auf diese lässt sich nichts gründen. Zwar verwendet auch Burke die Fi‐ gur des Vertrages. Aber er gebraucht sie in einem ganz anderen Sinne als die Reprä‐ sentanten des neuzeitlichen Naturrechts. Er spricht von einem „großen Kontrakt“, der von privaten Verträgen oder geschäftlichen Abmachungen grundsätzlich ge‐ schieden sei. So heißt es: „Die bürgerliche Gesellschaft ist ein großer Kontrakt. Kleine Privatkontrakte, die ein vorübergehendes gemeinschaftliches Interesse herbeiführt, können nach Belie‐ ben wieder aufgehoben werden: aber es wäre frevelhaft, den Staatsverein wie eine alltägliche Kaufmannssozietät, wie einen unbedeutenden Gemeinhandel mit Pfeffer oder Kaffee zu betrachten…ein Staat ist…nicht bloß eine Gemeinschaft in Dingen, deren die grobe tierische Existenz des vergänglichen Teils unseres Wesens bedarf, er ist eine Gemeinschaft in allem, was wissenswürdig, in allem, was schön, in allem, was schätzbar und gut und göttlich im Menschen ist. Da die Zwecke einer solchen Verbindung nicht in einer Generation zu erreichen sind, so wird daraus eine Gemein‐ schaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, wel‐ che noch leben sollen“.32 Kein atomistischer Individualismus, sondern eine Kette von Generationen, sich ausdehnend über Lebende, Tote und Zukünftige; keine Beschränkung auf die Selbst‐ erhaltung à la Hobbes; keine creatio ex nihilo und kein Anfangen ganz von Neuem. Gegen das Pathos des absoluten Neubeginns heißt es sarkastisch, es hätte den Fran‐ zosen gefallen zu verfahren, „als ob sie noch nie in bürgerlicher Verbindung gelebt hätten, als finge alles bei ihnen von Neuem an. Sie begannen schlecht, weil sie damit begannen, dass sie alles verachteten, was sie besaßen. Sie fingen ihren Handel ohne ein Kapital an“.33 Der von Kant so gepriesene Enthusiasmus erscheint bei Burke in einem anderen Licht. Die Revolution sei ausgelöst worden durch abstrakte Theorien, die Fanatis‐ mus erzeugten. Schon die französische Aufklärung habe sich in einen Kampf mit der Religion verstrickt. Wo die Religion schwinde, ziehe alsbald der Aberglaube ein. Die Religion sei das sicherste Mittel, die Freiheit der Bürger mit dem Ansehen der

29 30 31 32 33

Pocock 1960. Stanlis 1958; Canavan 1960; Fenessy 1963. Burke 1975, in: Works IV, S. 176. Burke 1790/1987, S. 195. Burke 1790/1987, S. 89.

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Gesetze zu vereinen.34 Die Aufklärer seien nur neue Dogmatiker, neue Kirchenväter. „Diese Kirchenväter des Atheismus hatten ihre eigene Bigotterie…indem sie gegen die Mönche eiferten, war der Geist eines Mönchs über sie gekommen“.35 Burke ist besonders empört über die Einziehung der Kirchengüter, die mit Assi‐ gnaten, dem Papiergeld der Revolution, finanziert werden sollte. Für Burke glich dies eher einer Lotterie als einer soliden Finanzpolitik. Die Revolution betrieben hät‐ ten zwei Gruppen: die Männer des „monied interest“ und die „ men of letters“. Letz‐ tere hätten sich in Frankreich der Patronage des Hofes entzogen und sich in ihren Akademien selbstständig gemacht. Ihr Enthusiasmus war für Burke nur eine säkula‐ risierte Form des ehemals religiösen, und er war gleich fanatisch wie dieser. Oft verspottet wurde Burke für seine romantisierende Darstellung des Zeitalters der Ritterlichkeit (age of chivalry). Sie versetzt einen in die Atmosphäre eines Ro‐ mans von Walter Scott. „Die Zeiten der Rittersitte“, schrieb Burke, „sind dahin. Das Jahrhundert der Sophisten, der Ökonomen und der Rechenmeister ist an ihre Stelle getreten, und der Glanz Europas ist ausgelöscht auf ewig“.36 Aber Burke geht es nicht um Ritterromane. Seine Romantisierung des Mittelalters versucht etwas vom großen Wandel der Mentalitäten und vom Schwinden der alten Tugenden zu erfas‐ sen: der Treue, der Dienstbarkeit, der Galanterie, der Ehre. Man verlor den Ge‐ schmack an den „unkäuflichen Reizen des Daseins“.37 Den Höhepunkt einer un‐ ziemlichen Romantisierung bildet Burkes Eloge auf Marie Antoinette, der er einmal begegnet war. Burke erwähnt nicht den verschwenderischen Lebensstil der Königin, der sie im Volk verhasst machte. Stattdessen preist er ihre „holde“ Erscheinung. „… nie hat wohl diesen Erdkreis, den die leichte Göttergestalt kaum zu berühren schien, eine holdere Erscheinung begrüßt“. „Ich hatte geglaubt, zehntausend Schwerter müssten aus ihren Scheiden fahren, um einen Blick zu bestrafen, der sie zu be‐ schimpfen drohte“.38 Burke verfällt selbst dem, was er verachtet: der Schwärmerei. Für die große Er‐ rungenschaft der Revolution, ihre Verkündigung der Menschen- und Bürgerrechte, kann er sich weniger erwärmen. Thomas Paines Schrift The Rights of Man (1791/92) wirft Burke genau dies vor. Nach Paine hat Burke Menschen und Grundsätze, Per‐ sönliches und Allgemeines verwechselt. Er habe nur den milden Herrscher und die 34 35 36 37 38

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Burke 1790/1974, S. 188. Burke 1790/1974, S. 221. Burke 1790/1974, S. 159. Burke 1790/1974, S. 189. Burke 1790/1974, S. 158 f. Zur Verteidigung Burkes schreibt Gentz, Burke habe nicht die Wohltaten der bürgerlichen Verbindung leugnen wollen. Er habe diese nicht gegen „eine Lanze vertauschen und in fernen Wüsten nach Riesen und bezaubernden Prinzessinnen“ suchen wol‐ len. Stattdessen gehe es ihm mit dem Mittelalter ähnlich wie Rousseau mit dem Naturzustand, darum, „einer einseitigen Schätzung unserer gegenwärtigen Lage …die eigentümlichen Vorzü‐ ge, Tugenden und Genüsse früherer, gewöhnlich verachteter Zeit in das hellste Licht (zu) stel‐ len“, Burke 1790/1974, Übers. Gentz, S. 435 f., Anm. 21.

holde Königin vor Augen gehabt, aber dabei das despotische Regime vergessen. Pai‐ ne zitiert die Déclaration vom 26. August 1789 in vollem Wortlaut. Die Sicherung der Rechte sei der Zweck der politischen Vereinigung. Quelle der Souveränität sei die Nation. Die Rechte seien „göttlichen Ursprungs“.39 Sie gingen zurück auf die Schöpfung und die Gottesebenbildlichkeit. Die Menschen würden frei geboren und blieben an Rechten gleich, „als hätte die Nachkommenschaft durch Schöpfung, nicht durch Zeugung fortgedauert“.40 Paines Begründung der Menschenrechte ist wahrhaft revolutionär. Jeder Mensch ein Anfang, jeder nicht gezeugt, sondern geschaffen, so als ob Menschen keine Vorfahren besäßen und keine Verbindung mit ihnen zu wah‐ ren hätten. Für Burke sind die in der Deklaration verkündeten Rechte nur abstrakt und fern aller Realität. Was sind schon Rechte, die nur auf dem Papier stehen? „Staaten sind nicht gemacht, natürliche Rechte einzuführen, die in völliger Unabhängigkeit von ihnen existieren können“.41 Was Menschen benötigten, seien „Lebensmittel und Arzneien“, nicht abstrakte Rechte. Diese seien zudem schrankenlos. (Man hatte in der Tat die korrespondierenden Pflichten vergessen.) Pflichten existieren nach Burke auch dann, wenn wir sie nicht gewählt haben. Kinder haben Pflichten gegen ihre El‐ tern, obwohl sie das Kindsverhältnis nicht wählen können. Menschen haben Pflich‐ ten gegen Menschen, „which are not in consequence of any special voluntary pact. They arise from the relation of man to man, and of the relation of man to God, which are not matters of choice“.42 Es bleibt unklar, ob Burke wie das deutsche Na‐ turrecht der Aufklärung (Thomasius, Wolff) aus den Pflichten Rechte deduzieren will, was ein logischer Schritt gewesen wäre, oder ob er sich von vornherein nur auf die historisch erworbenen Rechte beruft. In letzteren Fall wären diese allerdings eher Rechte des Engländers als Rechte des Menschen. In der Kontroverse zwischen Paine und Burke treten das Pathos des Neubeginns und das von Dauer und Erbschaft einander schroff gegenüber. Burkes Konservatis‐ mus stützt sich dabei auf zwei Denkfiguren: eine Lehre von der prescription und eine Rehabilitierung des Vorurteils. In der nie gehaltenen, aber für sein Denken bedeutsamen Rede Speech on the Re‐ presentation of the commons in Parliament (1782) führt Burke den Begriff der pre‐ scription ein.43 Er sei, wie er ausführt, „the most solid of all titles“.44 Prescription meint hier nicht die Verschreibung eines Arztes, sondern die Beanspruchung eines Besitztitels nach dem common law. Er geht zurück auf die römisch-rechtliche usupa‐ cio, die „Ersitzung“. Jemand ist Eigentümer einer Sache, weil er sie seit unvordenk‐ 39 40 41 42 43 44

Paine 1973, S. 79. Ebd. Burke 1790/1974, S. 132. Burke 1975, in: Works IV, S. 166. Canavan 1987. Stanlis 1963, S. 330.

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lichen Zeiten besitzt. Diese eigentumsrechtliche Denkfigur wird von Burke auf die Verfassung selber ausgedehnt. Sie sei eine „prescriptive constitution“, deren „einzi‐ ge“ Autorität darin bestehe, dass sie schon „time out of mind“ existiere.45 Burke begibt sich mit diesem Argument aufs Glatteis. Er überträgt ein pri‐ vatrechtliches Institut auf den Staat, was er ansonsten den Vertragstheoretikern der Neuzeit vorzuwerfen pflegt. Privatrechtlich lässt sich prescription rechtfertigen, so man über den Ursprung eines Besitzes nichts mehr weiß. Übertragen auf den Staat würde es bedeuten, dass sein Ursprung im Dunklen liegen müsste, was überhaupt nicht zur Berufung auf historisch erworbene Rechte und das angemahnte Traditions‐ bewusstsein passt. Man weiß doch sehr wohl, wie und wann die „Verfassung“ Eng‐ lands entstanden ist. Außerdem hängt der Titel der Ersitzung davon ab, dass der Er‐ werb bona fide erfolgte. Betrug und Gewalt müssen ausgeschlossen sein. Sie können keinen Rechtanspruch begründen.46 Wenn Burke von prescription als „einziger Au‐ torität“ spricht, hat er sein Argument überzogen. Dauer an sich legitimiert nichts. Sie legitimiert etwas nur, wenn in ihr irgendeine Qualifikation steckt, etwa die, dass Dauer Stabilität verbürgt oder dass nur gute Herrschaft auf Dauer rechnen kann. Die Aufklärer hatten Vorurteile im Namen der Vernunft verworfen. Sie galten als voreilig und autoritätsgläubig, als „praejudicium praecipitantiae et auctoritatis“, wie es bei Thomasius heißt. 47 Burke rehabilitiert sie. „…dass wir statt alle Vorurteile wegzuwerfen, sie vielmehr mit Zärtlichkeit lieben, und was noch strafbarer sein mag, dass wir sie eben darum lieben , weil sie Vorurteile sind, und wir sie umso wär‐ mer lieben, je länger sie geherrscht und je allgemeiner sie sich verbreitet haben“.48 In den Augen der Aufklärer ist es in der Tat „strafbar“, so zu denken. Man sagt statt‐ dessen, das sind doch „nur“ Vorurteile, und will damit ausdrücken, das ist doch „nur“ historisch und weil es historisch ist, unvernünftig. An die Stelle der Vorurteile soll die Vernunft als einzige Autorität treten. Damit aber entlarvt sich die beanspruchte Vernunft selber als ahistorisch. Sie ist befangen in ihrem eigenen Vorurteil, dass das geschichtlich Gewachsene und Über‐ lieferte per se unvernünftig ist. Aber woher will man dies wissen? Hat man das Überlieferte geprüft? Hat man alles überprüft? Oder gilt das Überlieferte nur als ir‐ rational, weil es das Alte ist und weil man dem Glauben folgt, das Neue sei per se besser? Das wäre wohl selbst irrational.

45 Ebd. 46 Hier hat sich Burke einen Irrtum erlaubt. In einem Brief an Thomas Mercer (26. 02.1790) spricht er von „old violence“, die irgendwann einmal „lawful“ werde. „….but it is old violence; and that which might be wrong in the beginning, is consecrated by time, and becomes lawful“. Es ist unverständlich, wie Burke zu der Meinung kommen konnte, dass aus Unrecht Recht her‐ vorgehen könne. 47 Thomasius 1689/90. 48 Burke 1790/1984, S. 178.

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Bei Burke hat das Bewährte den Vorzug vor dem Unerprobten. Es hat die Prä‐ sumtion der Vernünftigkeit für sich. „It is a presumtion in favor of any settled sche‐ me of government against any untried project…“.49 Für den richtigen Umgang mit den Vorurteilen empfiehlt Burke die Kompromissformel „prejudice with its rea‐ sons“. Von hier lässt sich der Horizont in viele Richtungen erweitern, zu Gadamers Hermeneutik, für welche Vorurteile Bedingungen des Verstehens sind,50 zur RitterSchule und ihrem Ausgang von der hegelianischen Vermutung für die Vernünftigkeit des Bestehenden, 51 zu Aristoteles und seiner Hypolepse, dem Anknüpfen an das be‐ reits Vorliegende, seien es frühere Lehrmeinungen, Sprichwörter oder Sitten. Im Hintergrund der Kontroverse über die Menschenrechte und im Hintergrund der Frage nach Burkes antikisierender oder moderner Rechtsauffassung steht die Na‐ turrechtsfrage. Verbindungen zur erfahrungsnahen Klugheitslehre des Aristoteles und seiner „hypoleptischen“ Herangehensweise sind nicht zu übersehen, auch der beiden gemeinsame Ewigkeitston, dass das natürliche Recht immer gleich sei, nicht aus Vereinbarung oder Setzung entstehe, sondern eben aus Natur (oder göttlicher Stiftung). Mit fiktiven Naturzuständen oder einem willkürlich gesetzten Recht hat Burke nichts zu schaffen. Auf der anderen Seite ist da der Einbruch der Geschichte in das Naturrechtsdenken, vergleichbar dem Naturrecht Hegels, in das ebenfalls ein geschichtliches Denken hereinbricht, bei Hegel sogar derart stark, dass er sagen konnte: „die Natur hat keine Rechte“52 (sondern nur der Geist, der sich in der Ge‐ schichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ offenbart). Leo Strauss, von dem man meinen sollte, dass er in Burke einen geistesverwandten Streiter für das Naturrecht hätte erkennen können, hat die Intrusion des geschichtlichen Denkens zu dem Verdikt geführt, dass Burke alles anerkennen müsse, was auch immer sich in der Geschichte durchsetze, Burke somit ein Historizist und ein Zerstörer des klassi‐ schen Naturrechts sei. „…den Adel des Widerstandes bis zur letzten Patrone kennt er nicht“.53

49 Stanlis 1963, S. 330. 50 Gadamer 31972, S. 261 ff. 51 Schweda 2015. Joachim Ritter knüpfte nicht nur an Hegel, sondern auch an die aristotelische Hypolepse an. Besonders schlagend war die Beweisverteilungsregel seines „Schülers“ Martin Kriele: „Begründen muss, wer verändern will“. Beim Stande des erreichten Rechts geht man von der „widerleglichen Vermutung zugunsten der Vernünftigkeit des Bestehenden (aus)“ und weist die Argumentationslast dem Kritiker des Rechts zu, Kriele 1977, S. 61. 52 Hegel 1824/25, S. 94: „das Recht kommt nur aus dem Geist, die Natur hat keine Rechte“. Das wird sofort einleuchtend, wenn man unter Natur eine Welt der Gewalt und des Rechts des Stär‐ keren versteht. 53 Strauss 1977, S. 331. Strauss hat die Bemerkungen im Blick, die Burke in 1791 in Thoughts on the French Affairs geäußert hatte. Die Revolution war „erfolgreich“ gewesen und Frankreich bedrohte nun unter dem Deckmantel der Befreiung und der Brüderlichkeit die benachbarten Nationen. Aber dieser „Erfolg“ hat Burke nicht zu einem späten Anhänger der Revolution ge‐ macht. Ganz im Gegenteil. Noch in Letters on a Regicide Peace (1795) warnte er vor einem Frieden mit Frankreich, zu dem Pitt bereit gewesen wäre.

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Das ist angesichts des keine Kontroverse scheuenden Burke ein zu herablassendes Urteil. Ein Opportunist oder ein Anpassler, der sich jeder erfolgreichen Macht willig unterworfen hätte, war er nicht. Burke hatte keine teleologisch ausgerichtete Ge‐ schichtsphilosophie, die sich eines Ziels der Geschichte oder eines Geschichtsplans bewusst gewesen wäre. Zwar glaubte er an die Vorsehung. Aber diese war für ihn weniger ein Schlüssel zur Erklärung des Geschehens als eine mysteriöse Kraft, über deren geschichtliches Wirken man nur rätseln konnte. Burkes Ansprüche waren be‐ scheidener. Ihm genügte es, das geschichtlich Bewährte zu erhalten und es nach Möglichkeit zu verbessern. Wohin die Reise insgesamt geht, war ihm keine Frage. Ihm genügte es, an verschiedenen Stationen zu verweilen. Er hätte sich vermutlich mit dem Motto seines Schülers Friedrich von Gentz bescheiden können. Gentz schrieb einem Zeitgenossen, es müsse „notwendig neben der großen, zuletzt immer überwiegenden Anzahl derer, welche für das Neue arbeiten, auch eine kleinere ge‐ ben, die mit Maß und Ziel, das Alte zu behaupten, und den Strom der Zeit, wenn sie ihn auch nicht aufhalten kann und will, in einem geregelten Bette zu halten sucht“.54 So hat sich Burke wohl auch selber gesehen. An Globaltheorien oder Spekulationen war er nicht interessiert. Die Geschichtsphilosophie, die von Lessing über Kant bis zu Hegel und Marx Szenarios der Weltgeschichte entwarf, wäre ihm wohl, hätte er sie gekannt, fremd geblieben. Er blieb bei der Erfahrung und den konkreten Phäno‐ menen, bei denen es genug zu erhalten oder zu reformieren gab.

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54 Von Gentz, Brief an A. Helvig, Oktober 1827.

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Skadi Siiri Krause Was heißt liberal-konservativ? Entwicklungslinien des Liberalismus im 18. Jahrhundert

1. Einleitung Die Kategorien von Liberalismus und Konservatismus, die in den letzten Jahrzehn‐ ten des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, werden heute bis in die 1790er Jahre zurückprojiziert, auch wenn in der neueren Literatur der Konservatismus immer we‐ niger als eigenständige Ideologie, denn als politische Haltung bzw. Kritik an be‐ stimmten liberalen Begründungsansätzen beschrieben wird.1 Exemplarisch lässt sich die Debatte an der Auseinandersetzung um das Werk Edmund Burkes veranschauli‐ chen, der lange Zeit ohne Rücksicht auf sein politisches Wirken als Urheber des Konservatismus dargestellt wurde.2 „Mit Burke“, schrieb Lord Hugh Cecil bereits 1912, „fand der Konservatismus seinen ersten und vielleicht größten Lehrmeister“.3 Da Cecil bekannt war, dass Burke zu Beginn der Französischen Revolution zu den Rockingham Whigs gehörte, sah er sich genötigt, Burke ein mutmaßliches Abrücken von den politisch Liberalen zu unterstellen. Laut Cecil kündeten die Reflections on the revolution in France, die im November 1790 publiziert wurden, denn auch einen Bruch an, der sechs Monate später durch die Spaltung der Whigs vollzogen wurde. Dieses Urteil wurde schnell zu einem Gemeinplatz. F. J. C. Hearnshaw ordnete Bur‐ ke in seiner Darstellung der Geschichte des Konservatismus in England von 1933 als „old whig“ ein, wobei er kurzerhand den Whiggismus zu einer konservativen Ideo‐ logie des 18. Jahrhunderts deklarierte.4 Dieser Darstellung haftet nicht nur etwas überaus Vereinfachendes an, sie macht auch deutlich, dass die Zuschreibung des Konservatismus äußerst relativ ist. Auch wenn Hearnshaw einer ebenfalls lange gehegten These widerspricht, wonach die Er‐ eignisse von 1789 die Geburtsstunde des Konservatismus gewesen seien, und statt‐ dessen betont, dass „konservatives Gedankengut“ bereits Mitte des 18. Jahrhundert fest etabliert war, so verkennt er doch die eigentliche Dynamik des liberalen politi‐ schen Denkens in dieser Phase. These dieses Aufsatzes ist es, dass sich im Laufe des 18. Jahrhundert zwei Strömungen innerhalb des liberalen Lager auseinanderdividier‐ 1 2 3 4

Femia 2012, S. 222; Bourke 2018, S. 449−475. Rachfahl 1923; Klemperer 1969; Vierhaus 1973; Bénéton 1996; Bromwich 2014; Bourke 2015. Cecil 1912, S. 40. Hearnshaw 1933, S. 165.

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ten: eine antiabsolutistische, verfassungsrechtliche Denkrichtung, und eine radikale, demokratisch geprägte Strömung, die sich am naturrechtlich begründeten Gleich‐ heitsgrundsatz orientierte und damit das tradierte Gesellschafts- und Staatsmodell in Frage stellte.5 Burke, der der ersten Gruppierung zuzuordnen ist, verteidigte in sei‐ nen Reflections on the revolution in France die verfassungsrechtlichen Errungen‐ schaften, wie sie sich in der Glorious Revolution etablierten, genauso wie er den Grundsatz von individueller Freiheit und Gleichheit, den er in der Französischen Re‐ volution verwirklicht sah, ablehnte. Damit gehörte er aus Perspektive der Demokra‐ ten dem konservativen Lager an, während er für die Verteidiger der Monarchie ein Liberaler blieb.

2. Burkes Bekenntnis zur Glorious Revolution und der alten Verfassung Die Unterscheidung zwischen alten und neuen Whigs, wie sie Hearnshaw in seiner Darstellung der Geschichte des Konservatismus in England darlegte, geht auf Burke selbst zurück. In seinem Appeal from the New to the Old Whigs stehen die alten Whigs für sein eigenes Verständnis der Glorious Revolution und des mit ihr etablier‐ ten gewaltenteiligen Systems aus König, Lords und Commons.6 Burkes Darstellung fusste auf einer Interpretation der Revolution, die sich zu Beginn des 18. Jahrhun‐ derts durchsetzte. Danach wurde die Verfassung 1688 nicht neu errichtet, vielmehr hatte man die bereits bestehende Verfassung gegen die despotischen Übergriffe der Krone verteidigt und gesichert.7 Ausführlich zitiert Burke aus Stellungsnahmen und Reden, die Vertreter der Whigs 1710 im House of Commons während eines Prozes‐ 5 Beide Lager positionierten sich deutlich in den zeitgenössischen Auseinandersetzungen um Bur‐ kes Reflections on the French Revolution. Zu den bekanntesten Erwiderungsschriften gehören An Historical and Moral View of the Origin and Progress of the French Revolution (Mary Wollstonecraft), A Discourse on the Love of Our Country (Richard Price), An Enquiry Con‐ cerning Political Justice (William Godwin), The Rights of Man (Thomas Paine), Letters to the Right Honourable Edmund Burke (Joseph Priestley) und Reflections on the Revolution in Fran‐ ce (Catharine Macaulay), auf die Burke wiederum in seinen Further Reflections on the French Revolution einging. 6 Die zentrale Interpretation lieferte William Blackstone. Monarchie, Aristokratie und Demokratie hatten alle nachweislich Nachteile, doch Großbritannien war es gelungen, sie „glücklich” mit‐ einander zu verbinden. Die Exekutivgewalt lag beim König, der so für die Stärke, die mit der absoluten Monarchie verbunden wurde, stand. An seiner Seite fanden sich die Lords, die für Frömmigkeit, Tapferkeit und den Schutz des Eigentums standen, und die Commons, die „vom Volk” frei gewählt wurden, was das House of Commons zu einer „Art Demokratie” machte. Zu‐ sammen bildeten sie ein Parlament. Für Blackstones schützte ihr Gleichgewicht, das, was er und seiner Zeitgenossen „die englische Freiheit” nannten (Blackstone 1765‒1769, 1, S. 50‒51). 7 Schon Blackstone war ein Befürworter der Idee der „alten Verfassung” und argumentierte, dass sie durch die Gesetze von Alfred und Edward dem Bekenner festgelegt worden war und die nor‐ mannische Eroberung sie außer Kraft gesetzt, aber nicht zerstört hatte. Stufenweise, beginnend mit Magna Carta, wurde die alte Verfassung wiederhergestellt und im späten 17. Jahrhundert endgültig perfektioniert.

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ses hielten, der gegen Henry Sacheverell geführt wurde. Der Geistliche hatte in einer Predigt mit dem Titel The Perils of False Brethren, in Church, and State die Legiti‐ mität der Glorious Revolution und damit auch die nach der Revolution etablierte Erbfolge bestritten und sich gegen die 1689 im Toleration Act eingeführte religiöse Toleranz gegenüber nicht anglikanischen protestantischen Glaubensrichtungen (Dis‐ senters) ausgesprochen. Das zentrale Argument Sacheverells bestand jedoch darin, zu behaupten, dass es in der englischen Verfassung niemals ein Recht auf Wider‐ stand gegeben habe und damit die Glorious Revolution und all ihre Folgen unrecht‐ mäßig seien (Holmes 1973). Die Whigs, die sich als Wahrer der 1688/89 geschaffenen Ordnung verstanden, sahen sich vor die Aufgabe gestellt, sowohl das Recht auf Widerstand gegen Jacob II. (1685‒1689 König von England, Schottland und Irland) zu rechtfertigen, als auch ein solches Widerstandsrecht gegen die nun regierende Monarchin, Queen Anne (1702‒1707 Königin von England, Schottland und Irland und ab 1707 bis 1714, nach der Vereinigung beider Königreiche, Königin Großbritanniens) in Abrede zu stellen. Sie argumentierten in dem Prozess deshalb mit großer Sorgfalt (Walpole 1710, 92). Für Burke bestand die eigentliche Neudeutung in ihrer Argumentation da‐ rin, dass sie das englische Verfassungssystem als eine „ancient constitution“ inter‐ pretierten. Hatten die Revolutionäre noch mit dem Widerstandsrecht operiert, legten die Whigs nun dar, dass es einen „Vertrag zwischen Krone und Volk“ gegeben habe, der die Grundlage des Staates seit Jahrhunderten sei: „Die unveränderte Aufrechter‐ haltung einer solchen Verfassung über die Zeiten hinweg ohne grundlegende Ände‐ rung zeigt […], dass derselbe Vertrag fortbesteht“ (Burke 1981-2015, IV, 412). Die‐ ser Vertrag habe die verschiedenen Gewalten, ihre Rechte und ihre Stellung im Staat geschaffen und dadurch die Pflicht begründet, diese Verfassung zu erhalten. Die Vorstellung einer vermeintlich von alters her überkommenen und deshalb bindenden Verfassung hatte greifbare Vorteile. Zum einen bot sie die Möglichkeit, dem gängigen Vorwurf der Monarchie-Feindlichkeit, der ein bleibendes Argument in der Rhetorik von Jakobiten und Tories gegenüber den Whigs war,8 entgegenzuwir‐ ken (Burke 1782, Sp. 121‒127). Nach der Erzählung der Liberalen hatten die Revo‐ lutionäre die Monarchie nicht abgeschafft, sondern diese vielmehr erneuert. Bereits die Zeitgenossen legen bewusst Wert darauf, die Glorious Revolution in entschiede‐ nen Gegensatz zu den Wirren des Englischen Bürgerkriegs zu setzen, der mit der Hinrichtung König Charles I. (1625‒1649 König von England, Schottland und Ir‐ land) und der Errichtung einer Republik unter Oliver Cromwell (1653‒1658 Lord‐ protektor von England, Schottland und Irland) geendet hatte. Sie verteidigten die Überzeugung, dass der vergleichsweise unblutige Umsturz, der mit der Durchset‐ zung der Bill of Rights die Grundlage für ein parlamentarisches Regierungssystem 8 So betonte Sir John Bramston, dass es „keine Regierung ohne Unterwerfung” geben könne und jeder Versuch, dies in Frage zu stellen, in „Anarchie” ende (Bramston 1845, 355).

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geschaffen hatte, deshalb von Erfolg gekrönt war, weil man sich zum Königtum be‐ kannte. Die Verteidigung der Monarchie wurde damit ein wesentliches Element in der Rhetorik der Whigs. Hinzu kam das Argument, dass das auf dem Gewohnheitsrecht beruhende Com‐ mon Law9, welches durch richterliche Entscheidungen fortgeschrieben wurde, wei‐ terhin Grundlage der englischen Gesellschaft sei. Es ließ sich mit der verbreiteten Vorstellung verbinden, wonach die Völker oder ihre Institutionen einen „Geist“ oder historischen Charakter besaßen, wie sie Mitte des 18. Jahrhunderts etwa von Mon‐ tesquieu oder den schottischen Aufklärern stark gemacht wurde. Die Revolution war nach dieser Interpretation kein radikaler politischer Neuanfang oder gar eine Um‐ wälzung der bisherigen Rechtsordnung. Ganz im Gegenteil. Die Revolutionäre re‐ klamierten in ihrer Rhetorik alte Rechte und Freiheiten, die unter der absoluten Monarchie weitgehend eingeschränkt worden waren und nun wieder hergestellt wur‐ den. So erklärte Sir Joseph Jekyl 1710: „Die Revolution führte keine Innovation ein; es war eine Wiederherstellung der alten Verfassung des Königreichs.“ (Burke 1981‒ 2015, IV, 423) Die Glorious Revolution war aus dieser Sicht legitim, weil die Krone das Gleichgewicht der Gewalten und die traditionellen Rechte und Freiheiten ver‐ letzt und somit die Fundamente des englischen Staates gefährdet hatte. Diese Position, so Burke, sei seither der Kern der politischen Überzeugungen der alten Whigs, ob im Kampf der Rechte des Parlaments gegen die Krone, bei der Ver‐ teidigung der Rechte der Einwohner der amerikanischen Kolonien oder der Rechte der Dissenters und irischen Katholiken. Immer gehe es um die Verteidigung der Rechts- und Verfassungsordnung des britischen Empires sowie der sie tragenden ständischen Ordnung (Burke 1981-2015. IV, 390‒407). Und tatsächlich sind Burkes Reden und Schriften, die er bis zur Französischen Revolution verfasste, ein deutli‐ cher Beleg dafür – allen voran die Thoughts on the Cause of the Present Discontent aus dem Jahr 1770, in denen er sich eingehend mit den Prinzipien der politischen Ordnung des Vereinigten Königreiches auseinandersetzte. Burke verteidigte darin die Rolle des House of Commons als Teil der Legislative, aber auch als Kontrollor‐ 9 Die hierzu den erste Band der Commentaries on the Laws of England. Das Buch beginnt mit den „Rechten von Personen”, wobei die „drei großen und primären Rechte” im Mittelpunkt ste‐ hen: „persönliche Sicherheit, persönliche Freiheit und Privateigentum”. Anschließend werden die wichtigsten „Barrieren” behandelt, die zum Schutz und zur Aufrechterhaltung der drei Rech‐ te geschaffen wurde. Diese umfassten das Recht auf Selbstverteidigung, das Petitionsrecht beim König oder beim Parlament, das Recht seine Rechte vor Gericht einzuklagen, die „Einschrän‐ kung des Vorrechts des Königs” und „die Verfassung, Befugnisse und Privilegien des Parla‐ ments”. Anschließend folgten die Kapitel über die Rechte und Pflichten der „höchsten” Amts‐ personen (König, Parlamentarier), die Recht und Pflichten der “untergeordnete” Magistratur (Sheriffs usw.), die Rechte bestimmter sozialer Schichten (Geistlichkeit, Adel, Militär usw.), die Rechte „in privaten wirtschaftlichen Beziehungen” (Herr-Diener, Ehemann-Ehefrau usw.) und die Rechte von „künstlichen Personen” (Gesellschaften und Unternehmen). Der Ansatz, der spä‐ tere Juristen verwirrte, diente dazu, den organisatorischen Aufbau von Staat und Gesellschaft abzubilden (Blackstone 1765‒1769, 1, 50‒51).

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gan der Regierung. Eindringlich warnte er davor, die Unabhängigkeit des Parlaments durch regierungshörige Mitglieder fallen zu lassen: „Wann immer das Parlament das Amt der Regierung übernimmt, wird es all das Vertrauen, die Liebe und die Vereh‐ rung verlieren, die es jemals genossen hat. Denn seine Aufgabe ist es, die Exekutive zu korrigieren und zu kontrollieren.“ (Burke 1981‒2015, II, 294) König, Lords, Richter und Commons waren nach Burke Repräsentanten des Volkes, aber ihre spe‐ zifische Verfassungsfunktion konnten sie nur wahrnehmen, wenn sie unabhängig blieben. „Ein volkstümlicher Ursprung kann daher nicht die charakteristische Unter‐ scheidung eines Volksvertreters sein. Diese Eigenschaft gehört gleichermaßen allen Teilen der Regierung […]. Die Tugend, der Geist und das Wesen eines Unterhauses bestehen darin, dass es Ausdruck der Gefühle der Nation ist. Es wurde nicht einge‐ führt, um Kontrolle über das Volk auszuüben […]. Es wurde als Kontrollorgan für das Volk konzipiert.“ (Burke 1981‒2015, II, 292) In diesem Sinne verteidigte Burke auch das Amtsenthebungsverfahren als Waffe der Opposition, und zwar lange bevor er ein solches Verfahren gegen Warren Hasting anstrebte. In der Eröffnungsrede des Prozesses erklärte er später: Hier „geht es darum, dass sich kein Bürger in keinem Teil des Empires qualifizierter und angemessener Rechtsprechung entziehen kann. Hier tragen wir für die wahre Vortreff‐ lichkeit unserer Verfassung Sorge; nämlich für den großartigen Kreislauf der Verantwort‐ lichkeit, durch den (mit Ausnahme der höchsten Macht) niemand, gleich unter welchen Umständen, der Rechenschaft entgeht, die er den Gesetzen seines Landes schuldet. Durch dieses Verfahren wird die Obrigkeit, die alle anderen Dinge kontrolliert und vor Gericht stellt, beurteilt, ihrerseits kontrolliert und vor Gericht gestellt. […] Hier ist der Ort, an dem diejenigen, die sich durch Machtmissbrauch am Geist des Gesetzes vergan‐ gen haben, niemals auf den Schutz eines seiner Organe hoffen können“ (Burke 2019, 222).

Verfassung und Rechtsstaatlichkeit verteidigte Burke auch in Bezug auf die amerika‐ nischen Kolonien. Seine erste Rede im House of Commons galt der Aufhebung der amerikanischen Stempelsteuer, die zum Auslöser für jene Bewegung wurde, die zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg führte. Die Kolonisten beriefen sich auf die Vorstellungen, dass ohne eine Repräsentation der Kolonien im englischen Parlament ihre Belastung mit Steuern nicht legitim sei. In On American Taxation (1774) trat Burke für eine deutliche Zurückhaltung gegenüber den Amerikanern ein. Das bedeu‐ tete jedoch nicht, dass er sich für eine Loslösung der Kolonien vom Mutterland aus‐ sprach. Vielmehr entwarf er die Konzeption eines Empires, indem die übergeordnete Souveränität beim britischen Parlament (nicht bei der Krone!) lag, das aber zugleich den Kolonien und ihren legislativen Versammlungen in einem quasi föderalen Sys‐ tem regionale und lokale Selbstbestimmungsrechte einräumte: „Das Parlament von Großbritannien steht an der Spitze seines ausgedehnten Reiches in zwei Funktionen: als lokale Legislative dieser Insel […] und als übergeordnete Instanz über den ver‐ schiedenen Legislaturen des Reiches, die es überwacht, führt und kontrolliert […].” 133

(Burke 1981‒2015, II, 459‒460) Damit war auf der einen Seite die verfassungs‐ rechtliche Einheit garantiert und auf der anderen Seite die Entwicklung zu mehr Au‐ tonomie, die Burke als zwangläufige Entwicklung ‒ schon aufgrund der Entfernun‐ gen zwischen Kolonien und Mutterland ‒ ansah, nicht unterbunden. Als sich die Zeichen der Zeit in den 1770er Jahren deutlich änderten, gelangte Burke zu dem Schluss, dass die Unabhängigkeit der Kolonien sowohl einem weite‐ ren Krieg als auch ihrer Unterwerfung vorzuziehen sei. „Nicht nur mit Waffen, auch mit Gesetzen haben wir gegen unsere Kolonien Krieg geführt. Da Feindseligkeit und Recht nicht sehr gut zusammenpassen, wurde durch jeden Schritt, den wir in dieser Angelegenheit unternahmen, irgendein Gerechtigkeitsgrundsatz oder Grundsatz des klugen Regierens mit Füßen getreten.“ Großbritannien hatte nach Burke in dem ge‐ gen die Kolonien angezettelten Krieg gegen seine eigenen Prinzipien und Rechte verstoßen und damit die eigene Verfassung und Rechtsstaatlichkeit aufs Spiel ge‐ setzt. Es wurden Präzedenzfälle geschaffen, welche die Rechtsprinzipien des Mutter‐ landes in Frage stellten. „Wären die Prinzipien dieser Gesetze zunächst auf engli‐ schem Grund und Boden angewandt worden, dann hätte ihre erste Bemühung mit ihm vermutlich auch gleich ihr Ende bedeutet. Indem man sie aber von uns selbst fernhielt, haben sie in unseren Gesetzen Wurzeln geschlagen, und so wird noch die fernste Nachwelt ihre Früchte zu kosten bekommen.“ (Burke 2019, 176) Und so endet denn auch ein Brief an seine Wähler, den er im April 1777 verfass‐ te, mit dem deutlichen Appell, sich nicht von den „Grundsätzen unserer Vorväter“ loszusagen (Burke 2019, 204). Denn die Gefahr, die der Krieg berge, bestehe darin, die Freiheit den Engländern selbst zu verleiden. Der „geringste Widerstand“ der Amerikaner gegen die Maßnahmen Großbritanniens erscheine heute, so Burke, „un‐ verzeihlicher als die größten Missbräuche der Autorität“. Man schrecke nicht einmal davor zurück „Fremde und Wilde“ im Krieg gegen die Kolonien anzuwerben. „Wir werden gleichgültig gegenüber den Folgen, die der Plan, das halbe Empire mit dem Schwert des Söldners zu regieren, unweigerlich für uns selbst mit sich bringt. Man wiegt uns in dem Glauben, dass der Wunsch, unsere Landsleute zu beherrschen, Va‐ terlandsliebe sei, dass jene, die den Bürgerkrieg hassen, den Aufstand begünstigen, und dass die liebenswerten und versöhnlichen Tugenden der Milde, der Mäßigung und der Zartheit gegenüber den Vorrechten derjenigen, die von diesem Königreich abhängen, eine Art von Verrat am Staate seien.“ (Burke 2019, 204). Damit aber, so Burke, übe man nichts anderes als Verrat an den eigenen politischen Grundsätzen und der geltenden Rechtsordnung. Die Rolle des Verteidigers von Freiheitsrechten nahm Burke auch in Fragen der Religion ein. Noch vor seinem Eintritt in die Politik verfasste er die unvollendet ge‐ bliebenen Tracts Relative to the Laws Against Popery in Ireland (1765), in denen er die Aufhebung der Penal Laws einforderte und für die rechtliche Gleichstellung von Katholiken und Protestanten eintrat. Die Gesetzgebung dürfe keine „künstliche Un‐

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terscheidungen“ einführen, zumal wenn mit ihnen soziale und wirtschaftliche Privi‐ legien gerechtfertigt werden sollen, heißt es darin (Burke 1981‒2015, IX, 456). In seinem Letter to a Peer of Irland, kritisierte er ebenfalls die aus seiner Sicht willkür‐ liche und gerade nicht vordergründig religiös motivierte Diskriminierung Anders‐ gläubiger.10 Überhaupt hielt er sich an den Grundsatz des Glaubens als Privatsache. „Wenn sich irgendetwas der Macht menschlicher Gesetzgebung entzieht, so ist es die Religion“ (Burke 2019, 191). Dabei sind Burkes Schriften grundsätzlich durch eine positive Bejahung religiöser Vielfalt geprägt, die sich nicht nur auf Protestan‐ ten, Dissenters und Katholiken bezog, sondern auch auf deren Kirchen. Gewährte der Staat ihnen gegenüber die Regeln der Rechtsstaatlichkeit und band diese gleich‐ sam daran, dann war dem Frieden im Gemeinwesen Rechnung getragen. Religiöse Homogenität der Bürger im Staat war aus Burkes Sicht dagegen nicht erforderlich, war das sie einende Band doch die Verfassung und Rechtsordnung und nicht ein ge‐ meinsamer Glaube, der sich, das zeigten die historischen und aktuellen Erfahrungen, nur mit sozialer Diskriminierung, Unrecht und Gewalt durchsetzen ließ. Die Anerkennung anderer Glaubensgemeinschaften bedeutete für Burke jedoch nicht die Leugnung der sozialen und politischen Rolle der Religion im Staat. Aus seiner geschichtlichen Perspektive heraus betonte er, dass jede Religion tief in einer jeweiligen Gesellschaft verwurzelt sei (Burke 1981‒2015, VI, 305). Kirche und Staat waren in einem christlichen Gemeinwesen deshalb „verschiedene integrierende Teile desselben Ganzen“ (Burke 2015, 491). Diese Annahme führte Burke zu dem Schluss, dass ein Angriff auf die Religion wahrscheinlich zu einer Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und auch zu einer Zerrüttung des Staates führen werde (Harris 2012, 98‒99).

3. Die Neuen Whigs oder der Aufruf zur Revolution. Wenn Burke in seinem Appeal from the New to the Old Whigs erklärte, dass er die Position der alten Whigs vertrete und diese die wahrhaften Prinzipien der Glorious Revolution und der britischen Staats- und Gesellschaftsordnung verteidigen, dann ist klar, dass er mit den neuen Whigs jene Kreise verband, die von diesen Prinzipien abwichen und in seinen Augen damit die verfassungsrechtliche Praxis in Großbritan‐

10 „Meiner Beobachtung nach waren es Stolz, Arroganz und Herrschsucht, die diese unterdrück‐ erischen Gesetze ins Leben riefen und am Leben hielten, nicht religiöser Übereifer. Ganz ohne Zweifel habe ich Leute erlebt, die Papisten in ihren bürgerlichen Rechten unterdrückten, wäh‐ rend sie sich im Hinblick auf deren religiöse Zeremonien über die Maßen nachsichtig zeigten und wirklich wünschten, diese möchten doch Katholiken bleiben, damit sie einen Vorwand für deren Unterdrückung besäßen. Wann immer sich jemand ‒ durch Bekehrung – ihrer Macht ent‐ zog, vermerkten es diese Leute mit Widerwillen und Bedauern. […] Ungerechtigkeit und nicht ein fehlgeleitetes Gewissen ist der Grundsatz der Verfolgung gewesen” (Burke 2019, 219).

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nien selbst in Gefahr brachten. Um dies zu verdeutlichen, setzte er sowohl in seinen Reflections on the revolution in France als auch im Appeal from the New to the Old Whigs die Revolution von 1688 in diametralen Gegensatz zur Französischen Revo‐ lution, die er mit Chaos, Gesetzlosigkeit und Bürgerkrieg gleichsetzte. Oft ist die Frage gestellt worden, weshalb Burke so früh, noch vor dem Aufstand der Pariser Sansculotten gegen den Konvent im Mai/Juni 1793 und der folgenden Machtübernahme der Thermidorianer im Juli 1794, die Folgen der Schreckensherr‐ schaft mit dieser Klarheit voraussehen konnte. Schaut man sich den republikani‐ schen Rezeptionsdiskurs des 17. Und 18. Jahrhunderts an, muss diese Weitsicht je‐ doch deutlich relativiert werden (Montesquieu 1748, 1/VII, 2). Gemeinwesen, die auf dem Gleichheitsgrundsatz beruhten, stellten die herrschende soziale Ordnung in Frage. Genau dies hatte sich im Englischen Bürgerkrieg gezeigt, der schließlich mit der Hinrichtung Charles I. endete. Politische Denker des 18. Jahrhunderts, die sich auf Platon und Aristoteles beriefen, betonten deshalb, was diese bereits über die De‐ mokratie gesagt hatten: Es sei eine Gesellschaft, die vom Wunsch nach sozialem Aufstieg geprägt sei, und gleichzeitig alles stürze, was an Reichtum und Macht über‐ legen sei. Doch es wäre zu einfach, Burke einfach in diesen Rezeptionsstrang einzuordnen. Denn bedenken muss man, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nicht zu‐ letzt im Zusammenhang mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskampf, in Groß‐ britannien ein Diskursstrang an Bedeutung gewann, der das politische System Eng‐ lands als zunehmend reformbedürftig darstellte und eine prinzipielle Änderung der Repräsentationsverhältnisse forderte. Vor allem die ungleiche Verteilung von Steuerund Abgabenlasten führte zu Protestbewegungen, die für Reformen des Parlaments und gegen die privilegierte Stellung bestimmter Gesellschaftsschichten antraten (siehe u.a. Price 1776 und 1778). So erklärte Joseph Priestley in seinem Essay on the First Prinicples of Government, And on the Nature of Political, Civil, and Religious Liberty bereits 1768: “In Ländern, in denen jedes Mitglied der Gesellschaft die gleiche Macht hat, in die obers‐ ten Ämter zu gelangen und folglich die Stärke und die Gefühle der gesamten Gemein‐ schaft zu lenken, herrscht ein Zustand höchster politischer Freiheit. Auf der anderen Seite herrscht in Ländern, in denen ein Mann aufgrund seiner Geburt oder seines Vermögens von diesen Ämtern bzw. von der Wahl geeigneter Personen ausgeschlossen ist, um diese zu besetzen; unabhängig von der Regierungsform oder der bürgerlichen Freiheit, die je‐ mand besitzt [...] keine politische Freiheit.” (Priestley [1768] 1771, 11)

Burke, der nicht den in den Schriften der Reformer antizipierten politischen Reform‐ bedarf als solchen in Frage stellte, kritisierte die „theoretischen Grundannahmen“ und „falschen Prinzipien“, auf denen die Kritiker ihre Argumente aufbauten. So ar‐ gumentierte Priestley, „dass jeder Mensch“, wenn er sich erst „seiner natürlichen Rechte bewusst“ werde und „seine eigene Bedeutung“ spüre, „sich als jeder anderen

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Person völlig gleichwertig“ betrachten müsse. Die Anerkennung von Reichtum und Macht, wie auch immer erworben, müsse bei den ersten Prinzipien „völlig außer Kraft“ gesetzt werden (Priestley 1771, 40‒41). Priestley stand mit seiner Argumen‐ tation keineswegs allein da. Auch Richard Price behauptete lange vor der Französi‐ schen Revolution, dass eine Verfassung stets nur auf natürlicher Freiheit und den un‐ veräußerlichen Menschenrechten beruhen könne, die, wenn sie seitens der Regie‐ rung vorenthalten oder verletzt werden, unter Berufung auf das Widerstandsrechts erkämpft werden dürfen (Price 1776). Die Rede von unveräußerlichen Rechten in Kombination mit der persönlichen Unabhängigkeit im Urteil, die von den Dissenters behauptet wurde (Hampsher-Monk 2006, 668‒673), gab dem Einzelnen eine fast dauerhafte Option für das Recht auf Widerstand: „Die bürgerliche Freiheit gleicht […] der Religionsfreiheit,“ heißt es in Observations on the Nature of Civil Liberty, the Principles of Government, And the Justice and Policy of The War with America. „Da kein Volk seine Religionsfreiheit rechtmäßig aufgeben kann, indem es das Recht leugnet, seine Religion frei wählen zu können, oder indem es jedem Menschen erlaubt, ihm vorzuschreiben, welchen Glauben er annehmen oder welche Art der Anbetung er praktizieren soll; so kann auch keine Zivilgesellschaft ihre bürgerliche Freiheit rechtmä‐ ßig aufgeben, indem sie einer fremden Gerichtsbarkeit erlaubt, sich Gesetzgebungsbefug‐ nisse anzueignen und ihr Eigentum zu veräußern. Ein solches Gebaren, das nicht mit den unveräußerlichen Rechten der menschlichen Natur vereinbar ist, ist entweder überhaupt nicht bindend; oder bindet nur die Personen, die es gemacht haben. Dieses Gebot kann keine Generation für eine andere aufgeben; und wenn es verletzt wurde, hat ein Volk im‐ mer das Recht, seine [natürlichen] Rechte zu verteidigen.” (Price 1776, 25)

Die von Priestley und Price geführte Debatte machte es für Burke leicht, zu Beginn der revolutionären Ereignisse das Gegensatzpaar von alten und neuen Whigs, die sich nicht mehr auf die Tradition, sondern ausschließlich auf abstrakte Prinzipien be‐ zogen, zu konstruieren, woraus in den Reflections on the revolution in France eine Gegenüberstellung der Prinzipien von Englischer und Französischer Revolution wurde. Dabei ging es Burke, wie er sehr früh deutlich machte, weniger um Frank‐ reich selbst als vielmehr um die politischen Folgen für Großbritannien: „Gegenstand meiner Auseinandersetzung ist nicht Frankreich […], sondern dieses Land.“ (Burke 1958‒1978, VI, 141) So sollte der ursprüngliche Titel seines Hauptwerkes denn auch nicht Reflections on the revolution in France lauten, sondern Reflections on certain Procedings of the Revolution Society of the 4th of November, 1789, con‐ cerning the affaires of France. Für Burke bahnten die Gesellschaften neuer Whigs den Weg zu Verrat und Rebellion und gefährdeten somit die Fundamente des briti‐ schen Konstitutionalismus. Ausschlaggebender Anlass zur Ausarbeitung der Reflections on the revolution wurde eine Rede von Price vor der Revolution Society, worin er die Amerikanische und die Französische Revolution als Beginn eines geeinten Kampfes der „Freunde der Freiheit“ gegen die „Unterdrücker dieser Welt“ bezeichnete (Price 1789, 50). Im 137

Anschluss an die Rede verfassten die Mitglieder der Gesellschaft eine Grußadresse an die französische Nationalversammlung, worin man die Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass „das ruhmreiche Beispiel in Frankreich, andere Nationen ermutige, die unveräußerlichen Rechte der Menschheit geltend zu machen und […] die Welt frei und glücklich zu machen“ (Price 1789, 13). Zudem wurde betont, dass die britische Verfassung auf den Prinzipien der Volkssouveränität und des Widerstandsrechts be‐ ruhe, was für Burke nichts anderes als Verrat an den Prinzipien der Glorious Revolu‐ tion bedeuten konnte. Damit noch nicht genug, erreichte ihn im Januar 1790 ein Brief von Paine, in dem dieser schrieb, dass er warte, dass die Revolution in Frank‐ reich „weiterer Revolutionen in Europa“ ankündige und auch „die vier Ecken des Königreichs“ mitreißen werde (Burke 1958‒1978, VI, 71, 70). Das erklärt, warum Burke in seinem Appeal from the New to the Old Whigs Paine als den konsequentesten und radikalsten Protagonisten der neuen Whigs präsentierte. Bestätigt sah er sich in seinem Urteil übrigens, als die Society for Constitutional In‐ formation Paines Rights of Man als angemessene Antwort auf Burkes Reflections on the revolution in France begrüßte (Burke 1981-2015, IV, 375, Anm. 1). Inhaltlich ging diese Schrift Paines allerdings weit über die von den meisten Whigs vertretenen Ansichten hinaus. Sie formulierte unmissverständlich, dass die Prinzipien, auf denen die neue Verfassung in Amerika und Frankreich beruhen, mit der Theorie der Misch‐ verfassung und einer überkommenen Ständegesellschaft brechen. Für Paine fielen die „Rechte des Menschen“, und damit der Gleichheitsgedanke, sowie das Bekennt‐ nis zur Volkssouveränität und einem republikanischen Verfassungsverständnis, wie er es in der Amerikanischen und Französischen Revolution verwirklicht sah, unmit‐ telbar zusammen. Zudem betonte er in seinem Werk, dass das Volk das Recht habe, seine Verfassung, seine Regierung und alle anderen gesellschaftlichen Einrichtungen nach seinem Willen zu ändern, zu verwerfen und neu zu erschaffen (Paine 1791, 172). Dies stellte unmittelbar das Verfassungs- und Rechtsverständnis, welches die al‐ ten Whigs mit der Glorious Revolution verbanden, in Frage.11 Und tatsächlich er‐ klärte Paine kurzerhand, dass England überhaupt keine Verfassung besitze (Paine 1791, 86). Zwar werde ständig wiederholt, dass man sich auf die Verfassung bezie‐ he, um die gestritten werde, doch beweise der „beständige Gebrauch des Worts Kon‐ stitution im englischen Parlament“, dass „keine Konstitution“ existiere; und dass 11 Burke hat dies in seinem Appeal sehr deutlich gemacht: „Diese neuen Whigs glauben nicht nur, dass die Souveränität, ob nun von einem oder von vielen ausgeübt, vom Volke ausgeht (eine Position, die nicht bestritten wird und die zu bestreiten so wenig lohnt wie ihr zuzustim‐ men), sondern das ebenjene Souveränität dauerhaft und unveräußerlich beim Volk liegt; dass das Volk rechtmäßig Könige absetzen kann, nicht nur wegen Fehlverhaltens [wie in der Engli‐ schen Revolution], sondern auch ohne das geringste Fehlverhalten; dass es sich selbst jede Art von Regierung geben oder aber ohne Regierung weitermachen kann, ganz wie es ihm beliebt; dass die Menschen im Wesentlichen ihr eigenes Gesetz sind und ihr Wille das Maß ihres eige‐ nen Verhalten” (Burke 2019, 292).

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„der ganze Körper nur eine Regierungsform ohne Konstitution“ sei und sich mit Macht „nach eigener Willkür“ konstituiere (Paine 1791, 157). Zudem sei das, was man in Großbritannien als Verfassung bezeichne, keine gesellschaftliche Ordnung, die den mit ihren natürlichen Rechten ausgestatteten Menschen entspreche (Paine 1791, 86). Die englische Verfassung sei nie etwas anderes gewesen, als der beschö‐ nigende Ausdruck für die Gesamtheit der Rechte und Einrichtungen, die das Ergeb‐ nis historischer Ereignisse und einer Geschichte von „Eroberung und Tyrannei“ sei‐ en (Paine 1791, 91). Die Vereinigten Staaten und Frankreich waren für Paine dage‐ gen die ersten Länder mit einer „wahrhaften“ Konstitution. Die Absicherung der Rechte des Menschen in einer geschriebenen Verfassung, die auf dem Willen aller Bürger beruhe, war für ihn der einzig gangbare Weg der Absicherung bürgerlicher und politischer Freiheitsrechte. Deshalb hoffte Paine, dass die Amerikanische und die Französische Revolution dafür sorgen, dass auch in Großbritannien eine revolu‐ tionäre Bewegung ausbreche. Der konstruierte Gegensatz zwischen alten und neuen Whigs, den Burke im Ap‐ peal from the New to the Old Whigs entwirft, ist mehr als nur eine theoretische Aus‐ einandersetzung. Für Burke war die Gefahr einer revolutionären Welle, die ganz Eu‐ ropa überrollen werde, so real, dass er sogar für eine Intervention der europäischen Mächte warb, um die Revolution in Frankreich zu beenden. So wies er darauf hin, dass der universelle Charakter revolutionärer Ansprüche an sich expansionistisch sei. Wie können die Rechte des Menschen nur in Frankreich wahr sein? Wie könne die Französische Republik mit den existierenden Monarchien koexistieren, deren Legitimität ausdrücklich von den Revolutionären bestritten werde? (Burke 1981‒ 2015, VIII, 385) Als Revolution eines „theoretischen Dogmas“ seien die Ereignisse in Frankreich eine Bedrohung für die ganze Welt (Burke 1981‒2015, VIII, 341), weil sie die Existenz und Legitimation der konstitutionellen Monarchie überall in Frage stellen.12 Burke verglich dabei den „Fanatismus“ der Revolutionäre mit dem religiöser Eiferer, die sich auch aus Vernunftgründen nicht mehr überzeugen ließen: „Wenn Menschen aus Gefühlen heraus handeln, sind ihre Leidenschaften begrenzt, nicht aber, wenn sie unter dem Einfluss der Einbildungskraft stehen. Beseitigt man einen Miss‐ stand, so hat man, wenn Menschen aus Gefühlen heraus handeln, viel dazu beigetragen, einen Aufruhr zu beruhigen. Das gute oder schlechte Gebaren einer Regierung, der 12 „Ich behaupte”, schreibt Burke in seinem Appeal from the New to the Old Whigs, „dass die alten Whigs Lehren vertreten, die sich völlig von den genannten [Lehren der neuen Whigs] un‐ terscheiden.” Sie sind ein „Bruch des ursprünglichen Vertrags”, der in der Verfassung dieses Landes zum Ausdruck kommt, jenes Vertrages, der „eine Regierungsform unabänderlich fest‐ schrieb, welche sich elementar durch das Dreigestirn König, Lords und Commons auszeich‐ net”, und die Revolution insofern rechtfertigt, als „dass sie einzig und allein durch die Notwen‐ digkeit der gegebenen Umstände gerechtfertigt war, als das einzig verbliebene Mittel zur Wie‐ derherstellung jener alten Verfassung, die infolge des ursprünglichen Vertrags des britischen Staates gebildet worden war, aber auch zum künftigen Erhalt derselben Regierung.” (Burke 2019, 293).

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Schutz, den die Menschen durch sie genossen, oder die Unterstützung, die sie unter ihr erlitten haben, sind jedoch ganz bedeutungslos, sobald eine Gruppierung aus spekulati‐ ven Gründen gegen die Form dieser Regierung eifert. Wenn jemand der Monarchie oder dem Episkopat aus grundsätzlichen Erwägungen heraus zürnt, dann wird das Wohlver‐ halten des Monarchen oder Bischofs nichts anderes bewirken, als den Gegner weiter zu reizen. Es provoziert ihn, weil es einem Appell gleichkommt, die Sache zu bewahren, die er zerstören möchte. Der Anblick eines Königszepters oder Bischofsstabes wird ihn so wütend machen, als wäre er von diesen Symbolen der Autorität täglich gegeißelt und ver‐ wundet worden. Bloße Erscheinungen, bloße Namen werden zu hinreichenden Gründen, um das Volk zu Krieg und Aufruhr anzustacheln.“ (Burke 2019, 309)

Bestätigung für seine Thesen fand Burke nicht nur in den Schriften von Priestley und Paine, sondern wenig später auch in William Godwins An Enquiry concerning Political Justice (1793). Godwin lehnte nicht nur die Regierungsformen von Monar‐ chie und Aristokratie ab, er verwarf sogar die Verfahren der demokratischen Regie‐ rung − ständige repräsentative Versammlungen, Wahlentscheidungen, Parteien, Ver‐ eine und geheime Abstimmungen, weil sie in seinen Augen Aufrichtigkeit und ratio‐ nales Urteilsvermögen verhinderten. Anstelle der moralisch fehlerhaften alten Re‐ gierungstypen schlug Godwin eine vereinfachte Form der sozialen Organisation vor, die sich an den unabhängigen Religionsgemeinschaften der Dissenters orientierte, die keiner anderen Disziplinargewalt unterlagen als Ad-hoc-Jurys. Godwin setzte er sich auch für den schrittweisen Abbau des bestehenden Rechts- und Eigentumsord‐ nung ein und stellte sich damit in eine Traditionslinie mit schottischen Republikaner wie Robert Wallace und William Ogilvie aus dem 18. Jahrhundert. Für Burke kam dies nicht nur einer Auflösung des Staates, sondern auch der Gesellschaft gleich.

3. Burkes Freiheitsverständnis In einem Brief an François Depont vom November 1789 unterscheidet Burke zwi‐ schen zwei Freiheitstheorien. Die erste beruhe auf einem individualistischen Begriff von Freiheit, den Burke auch als „einsam, unverbunden, individuell und selbstsüch‐ tig“ bezeichnet und der an die natürlichen Rechte des Einzelnen appelliere. Dies war der Begriff der Freiheit, den die meisten amerikanischen Revolutionäre und der kon‐ stitutionelle Zweig der französischen Revolutionäre akzeptierten. Der zweite Be‐ griff, den Burke gegenüber Depont favorisiere, sei kollektiver Natur, in dem Sinne, dass verschiedene Stände und ihre Repräsentanten ein politisches Gleichgewicht im Staat bilden, das durch eine unabhängige Judikative und die Verfassung des Landes geschützt werde: „Es ist der Zustand der Dinge, in dem die Freiheit durch die Gleichheit der Zurückhaltung gesichert ist. Eine Verfassung, durch die die Freiheit eines Mannes oder Anzahl von Menschen, nicht durch die Freiheit einer anderen Person oder Gruppe verletzt werden kann. Diese Art von Freiheit ist in der Tat nur

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ein anderer Name für Gerechtigkeit; durch weise Gesetze und durch gut aufgebaute Institutionen gesichert.“ (Burke 1984, 257) Die Stärken und Schwächen jeder dieser Theorien wurden seit Mitte des 18. Jahr‐ hundert heiß diskutiert. Bereits bei Montesquieu findet sich eine deutliche Zurück‐ weisung der wortredenden Egalisierung der Gesellschaft. Dahinter stand bei ihm eine politische Theorie, die besagte, dass die Monarchie eine moderne Erscheinung sei, im Gegensatz zur Republik oder zur Despotie, die es beide bereits in der Antike gegeben habe. Das, was die moderne Monarchie für Montesquieu ausmachte (die er am Beispiel Großbritanniens, nicht Frankreichs, das er als Despotie darstellte, erläu‐ terte), war die Gewaltenteilung. Seine Darstellung vom britischen Regierungssystem brachte ihn in die Nähe von Voltaire, der in dem Epos Henriade von 1723, und, noch entschiedener in den Briefen über die englische Nation von 1733, die Unterschiede zwischen römischer Sklaverei und römischer Eroberung einerseits und der „engli‐ schen Freiheit“ und dem „englischen Handel“ andererseits betonte (siehe Braun 2001, 219–25; Dédéyan1988). „Die Frucht der Bürgerkriege in Rom“, schrieb er, „war die Sklaverei und die der englischen Unruhen, die Freiheit.“ Die Engländer sei‐ en die ersten gewesen, die der Macht der Könige Grenzen setzen konnten. Hier sei der Fürst allmächtig, „Gutes zu tun“, und gleichzeitig seien seine Hände gebunden, „das Falsche“ auszurichten. Gründe dafür sah Voltaire im King-in-Parliament-Prin‐ zip und der besonderen Rolle des Adels, die dieser auf lokaler Ebene in der Verwal‐ tung und Rechtsprechung des Landes spielte (Voltaire 2017, 34‒35). Als Montesquieu an De l'esprit des loix arbeitete, nahm er Voltaires Beobachtung auf, ja er übertrug diese auf die moderne Monarchie schlechthin. Der moderne Parla‐ mentarismus beruhte demnach auf zwei wesentlichen Voraussetzungen. Dazu gehör‐ te eine virtuelle Repräsentation der Gesellschaft. Mit ihren verschiedenen Ständen war die moderne Monarchie sowohl ein Gegenmodell zur egalitären Leistungsge‐ sellschaft, wie sie immer mehr von den politischen Ökonomen gefordert wurde, als auch zum Despotismus und zur Republik, in denen alle Bürger gleich waren, und die, wie Montesquieu unterstrich, stets von politischer Instabilität bedroht waren. Gleichwohl stand dahinter keine adäquate Repräsentationsvorstellung der Gesell‐ schaft. Vielmehr repräsentierten die Stände unterschiedliche, historisch gewachsene lokale und soziale Interessen. Der „Geist der Mäßigung“ (Montesquieu 1748, 2, 387) verlangte eine Gliederung der Gesellschaft, um den verschiedenen gesellschaft‐ lichen Interessen (nicht individuellen Rechten) gerecht zu werden und einen politi‐ schen Ausgleich zu schaffen. Auch wenn Burke das Modell der virtuellen Repräsentation verteidigte, waren seine Ansichten nicht mit denen Montesquieus identisch. So gab er weitgehend das Verständnis ständischer Repräsentation auf. Für Burke war es nicht der populäre Ur‐ sprung der Commons, der sie zur Stimme des einfachen Volkes machte. Aus dem Volk heraus gewählt und verbunden mit den Anliegen breiter Schichten standen die‐

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se Repräsentanten in erster Linie für die Kontrolle der Regierung. „Ein wachsames und eifersüchtiges Auge auf die Vollstreckungs- und Justizmagistratur […]: Dies scheinen die wahren Merkmale eines Unterhauses zu sein.“ (Burke 1981‒2015, II, 292) Seit der Revolution war diese Funktion der Regierungskontrolle für Burke al‐ lerdings weitgehend untergraben worden. Die „Kabale“ lobte die Unterstützung der Minister als Zeichen der Loyalität des Parlaments und kritisierte echte Debatten und Meinungsverschiedenheiten.13 Dies machte für Burke das Parlament zunehmend zu einem Anhängsel der Exekutive (Burke 1981‒2015, II, 294). Die Vermischung bei‐ der Funktionen bedeutete jedoch langfristig Unfreiheit, weil die wechselseitige Kon‐ trollfunktion entfiel. Allerdings folgte Burke Montesquieu in seinem Verständnis der Judikative. Für Montesquieu bestand das zweite wichtige Merkmal der modernen Monarchie in einem Rechts- und Verfassungsverständnis, das auf Tradition beruhte und stets die Rechte der Gemeinschaft, und nicht nur die des Einzelnen, in den Blick nahm. Des‐ halb bedurfte es unabhängiger Gerichtshöfe, die „ohne Unterlass“ den „Staub von den Gesetzen“ wischten (Montesquieu 1748, 2, 26). Den Ministerrat des Königs für diese Aufgabe in die Pflicht zu nehmen, hielt Montesquieu für nicht ausreichend. „Seiner Natur nach befinden sich in seiner Obhut die augenblicklichen Entschlüsse des Herrschers, der regiert, nicht aber die grundlegenden Gesetze.“ Überdies besitze der Ministerrat nur das Vertrauen des Monarchen, der ihn ernenne, nicht jedoch die Unterstützung des Volkes in den verschiedenen Landesteilen (Montesquieu 1748, 2, 27). Dieses Argument war von enormer Bedeutung. Analytisch betraf es die Gren‐ zen der souveränen Macht. Gesetze wurden nicht einfach gemacht. Sie waren Be‐ standteil einer Rechtstradition, in der sie von den Richtern, die sich im übertragenen Sinne als Hüter der Verfassung verstanden, ausgelegt werden mussten. Dass sie da‐ bei die Rechtstradition höher gewichteten als jedes einzelne Gesetz, wies Exekutive wie Legislative gleichermaßen in ihre Schranken. Auch für Burke sorgten die Richter für eine natürliche Entwicklung des Rechts‐ systems, da sie den wandelnden Normen und Ansprüchen durch eine Vielzahl von Einzelfallentscheidungen gerecht wurden und auf diese Weise die rechtlichen Ver‐ hältnisse kontinuierlich und im Einklang mit den sozialen Entwicklungen weiterent‐ wickelten. Damit war das Common Law für Burke im Gegensatz zur positivisti‐ schen Rechtstheorie auch weniger anfällig für den Zugriff partikularer Akteure und Interessen. Es stand vielmehr für eine generationenübergreifende Rechtsordnung, in der Gemeinschaftsrechte ebenso verbürgt waren wie die Rechte der Einzelnen. Aus diesem Grunde trat Burke auch für die Vorstellung einer gewachsenen Verfassung 13 Die „Unterwanderung der Verfassung” durch „parlamentarische Korruption” wurde u.a. in Ja‐ mes Burghs dreibändigem Werk Political Disquisitions angeprangert. Die „britische Regie‐ rung”, habe aufgehört, heißt es darin, als gemischte Verfassung zu funktionieren, und sei nun “wirklich eine „Juntokratie” (Burgh 1774, 1, 267).

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als stabilisierendes Fundament jeglicher politischer Ordnung ein. Schon zu Beginn seiner Karriere stellte sich Burke jenen Strömungen des naturrechtlichen und aufklä‐ rerischen Denkens entgegen, die die herrschenden Traditionen und Sitten am Maß‐ stab individueller Vernunft messen wollten. Traditionen, Sitten und Meinungen, die das Handeln und die moralischen Urteile der Menschen prägten, spiegelten für ihn lebensweltliche Erfahrungen und kollektive Praxen wider, vor denen man „große Hochachtung“ haben musste (Burke 1750/56, 90). Ja, soziale Normen, Gewohnhei‐ ten und Sitten waren für die Stabilisierung komplexer Gesellschaften unabdingbar, wollte man sie nicht staatlichem Zwang unterwerfen. Traditionen gehörten für Burke zu den „stärksten Banden einer Gesellschaft“ (Burke 1757, 84), und sie waren daher höher zu gewichten als theoretisch abgeleitete positiv-rechtliche Normen, denn sie durchdrangen und prägten das Denken und Fühlen der Menschen, ihre Meinungen und Überzeugungen, sowie ihr Rechtsgefühl, wenn es darum ging, wechselseitige Ansprüche neu auszuhandeln und kollektive Freiheiten zu definieren. All dies wurde zu Beginn des Jahres 1789 in Frage gestellt. In Paris erklärten sich die Vertreter des Dritten Standes zur Nationalversammlung. Die Legitimationserzäh‐ lung lieferte der von Abbé Sieyès geschriebene Traktat Qu’est-ce que le Tiers État?, der zwar die Berechtigung zur Teilnahme am politischen Prozess nach wie vor von der Darstellung sozialer Interessen abhängig machte, aber nunmehr den Angehöri‐ gen des Adels und der Geistlichkeit, insofern sie keine mehr mit öffentlichen Aufga‐ ben betraute Körperschaften darstellten, jegliche soziale und politische Funktion im Staat absprach (Sieyès 1789, 100). Dem tradierten Verständnis virtueller Repräsenta‐ tion war damit der Boden entzogen. Der Akt der Wahl wurde zur alleinigen Legiti‐ mationsgrundlage politischer Repräsentation. Hinzu kam, dass Sieyès, als die Debat‐ te darauf kam, gemäß welcher Verfahren die Regierungsgewalt eines Staates ihre Herrschaft auszuüben berechtigt sei, das Argument verwarf, dass Frankreich eine tradierte Verfassung besitze: „Eine Nation darf und kann sich nicht an bestimmte Verfassungsformen binden“, erklärte er kurzerhand (Sieyès 1789, 80‒82). Der politi‐ sche Wille der Nation müsse sich zu jeder Zeit und unabhängig von allen existieren‐ den rechtlichen, sozialen oder politischen Traditionen, Institutionen und Verfahren artikulieren und Geltung verschaffen können.

4. Schlußbetrachtung Die Schriften, die Burke nach dem Ausbruch der Französischen Revolution veröf‐ fentlichte, lassen sich als Versuche lesen, das Erbe der Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts neu zu definieren. Der Appeal from the New to the Old Whigs, den Bur‐ ke kurz nach den Reflections on the revolution in France am 3. August 1792 veröf‐ fentlichte, macht dies besonders deutlich. In dieser Schrift legte er die grundsätzli‐

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chen Unterschiede zwischen der Englischen Revolution von 1688 und der Französi‐ schen Revolution von 1789 sowie den ihnen zugrundeliegenden Verfassungsver‐ ständnissen dar. Die Arbeit ist zugleich eine Verteidigungsschrift, weil ihm sogar Parteigenossen nach den Reflections on the Revolution in France vorwarfen, mit den eigenen Prinzipien gebrochen zu haben. Ihrer Ansicht nach ging die Französische wie schon die Englische und die Amerikanische Revolution auf Prinzipien zurück, die Burke einst selbst vertreten habe und jetzt durch einen „nicht zu rechtfertigenden Meinungswechsel“ verwerfe (Burke 1981‒2015, IV, 389). Dabei handelte es sich vor allem um jene individuellen Freiheitsrechte, die Burke als „Chimären“ verurteil‐ te, die aber Charles James Fox zufolge „in der Tat die Grundlage und das Fundament jeder rationalen Gesetzgebung und sogar der britischen Verfassung selbst“ bildeten (Fox 1815, IV, 216). In einer Aussprache am 6. May 1791 erklärte er deshalb gegen‐ über Burke im House of Commons, dass die Franzosen ihre neue Regierung „nach dem besten aller Prinzipien einer Regierung“ gebildet haben, nämlich nach „dem Glück der Menschen, die unter ihr leben“ sollen (Fox 1815, IV, 225). Was Fox und andere, die ihm in diesem Urteil folgten und Burke nun bewusst als Konservativen darstellten, übersahen, ist, dass es im Denken Burkes den behaupte‐ ten Bruch und eine Abkehr von den Prinzipien der (alten) Whigs gar nicht gab. Bur‐ ke blieb bis zu seinem Tod ein glühender Verteidiger der Prinzipien der Glorious Re‐ volution und der Verfassung Großbritanniens.14 Verbunden war für ihn damit eine ständische Gliederung der Gesellschaft, die allerdings für den Einzelnen durchlässig sein musste. Das Erbe der Revolution zu bewahren, bedeutete für Burke daher nicht, einen Status quo zu verteidigen. Vielmehr unterlagen Staat und Gesellschaft einer inhärenten Dynamik, die allerdings verfassungsrechtlich, im Zusammenspiel der Ge‐ walten und eingebunden in eine Rechtstradition, eingehegt werden musste. Deshalb lehnte er auch die abstrakte Vorstellung von Volkssouveränität ab, die in Frankreich 1789 zu einer enormen Aufwertung der Legislative gegenüber den anderen Gewal‐ ten führte, insofern ihre Beschlüsse nun als einzig wahrhafter Ausdruck des politi‐ schen Willens der Nation gedeutet wurden. Für Burke konnte der blinde Glaube an die Unfehlbarkeit und Allmacht der Mehrheit der Parlamentarier, die in ihren Be‐ schlüssen nicht von den anderen Gewalten abhängig waren, jedoch nur in einem neuen Despotismus enden. Die Revolutionäre waren für ihn blinde Eiferer, die in wenigen Tagen das vernichten konnten, was in Jahrhunderten perfektioniert worden war (Burke 1981‒2015, IX, 82). Und tatsächlich gaben ihm die folgenden Entwick‐ lungen Recht. Die fehlende Gewaltenteilung machte die Zeit des Terreur

14 Emphatisch betont er in einem Brief an den Sheriff von Bristol: „[…] ich versichere Ihnen – und diejenigen, die mich öffentlich und privat kennen, werden meine Zeugen sein ‒, dass noch nie ein Mann so leidenschaftlich für die Vorherrschaft des Parlaments und der Rechte der Kro‐ ne dieses Empire gelebt hat wie ich.” (Burke 2019, 189).

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(1791-1794) möglich und führte schließlich zur Wiederherstellung der Bourbonen‐ monarchie zwischen dem Ersten Kaiserreich und der Julimonarchie von 1830. Was die politischen Debatten um Burkes Reflections on the Revolution in France aber auch deutlich machten, ist, dass Burke mit seiner Schrift nicht mehr den Zeit‐ geist traf. So erklärte Catharine Macaulay in Antwort auf sein Werk 1790: „Ich weiß in der Tat nicht genau, wie viel Blut in Frankreich vergossen wurde [...]. Aber [...] erst die Geschichte der Monarchien wird zeigen, wie viele Leidende der Stunde der Wut und wie viele dem empörenden Stolz königlicher Despoten zum Opfer gefallen sind.” (Macaulay 1790, 13). Für Macaulay war das feudale Fundament der engli‐ schen Verfassung nicht mehr zeitgemäß. „Die Führer der Französischen Revolution und ihre Anhänger sehen keine dieser offensichtlichen Vorteile in den alten Gesetzen und Regeln der gotischen Institutionen Europas, wie es Herr Burke tut […]. Deshalb haben sie eine einfache Regel für das Modell ihrer neuen Verfassung gewählt, die jedoch mit all der Kunst und dem Wissen ersonnen wurde, die sich aus den Erfah‐ rungen des Zeitalters […] ergeben.“ (Macaulay 1790, 34‒35) Vor allem aber haben sie die Gleichheit der Bürger zum obersten Grundsatz erhoben. Ob sie damit richtig lagen, würde sich, so die Autorin, in der Zukunft zeigen. Viele Verfasser teilten in den 1790er Jahren diese Ansicht. 100 Jahre nach der Glorious Revolution war die Französischen Revolution für die Zeitgenossen vor al‐ lem Ausdruck einer veränderten Gesellschaftsordnung (Macaulay 1790, 13). Die al‐ ten Stände hatten ihre soziale Rolle eingebüßt. Damit verloren sie auch ihre Funkti‐ on als Repräsentanten der sozialen Ordnung der Gesellschaft. Die Argumentation von Sieyès aufnehmend heißt es bei Thomas Cooper: „Das System der erblichen Monarchie und des erblichen Adels mit seiner damit einhergehenden erblichen Ge‐ setzgebung ist [...] höchst absurd, da es offensichtliche Inkonsistenzen beinhaltet. Wenn sich ein Volk in drei Klassen aufteilt und das Privileg, Gesetze zu erlassen, einem Menschen und 300 Männern überlässt und [...] erklärt, dass die wenigen den vielen gleichwertig sind, [...] dann werden in diesem unnatürlichen System der poli‐ tischen Arithmetik aus eins und fünf fünftausend!“ (Cooper 1792, 23) Die Angehörigen des Adels und der Geistlichkeit, insofern sie nicht länger ver‐ schiedene, mit öffentlichen Aufgaben betraute Körperschaften in der Verwaltung, der Justiz oder dem Militär darstellten, hatten ihre exklusive Funktion bei der Bil‐ dung des nationalen politischen Willens verloren (Sieyès 1789, 100). Die dem Adel einst zugestanden Privilegien hemmten darüber hinaus in den Augen vieler Zeitge‐ nossen die wirtschaftliche Entwicklung. Vor allem die amerikanischen Erfahrungen bei der Besiedlung des Kontinents hatten die Britten gelehrt, dass „ohne den Geist der Freiheit und dem Gefühl der Sicherheit und Unabhängigkeit“ die Menschen nie‐ mals „große Verbesserungen“ in der Landwirtschaft und Industrie erreichen werden. „Ein Mann hat wenig Ermutigung, in ein Stück Boden, an dem er kein sicheres Ei‐ gentum hat, Arbeit und Kosten zu investieren“, schrieb Priestley, „erst recht nicht,

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wenn weder er selbst noch seine Nachkommen wahrscheinlich jemals einen dauer‐ haften Vorteil daraus ziehen werden.” (Priestley 1771, 69). Das Freiheitsverständnis der neuen Whigs beruhte auf der Annahme der Gleich‐ heit der natürlichen Rechte jedes Individuums, die es in der Gesellschaft zu wahren galt: „Der Mensch trat nicht in die Gesellschaft ein, um weniger Rechte zu haben als zuvor“ zitierte etwa Sir Brooke Boothby in seinen Observations on the Appeal from the New to the Old Whigs (1792, 112), die Hauptaussage von Rousseaus Du contrat social ou principes du droit politique (1762), die für die Revolutionäre zum Schlachtruf wurde. Mit dieser naturrechtlichen Begründung der Menschenrechte, wurde der ständischen Gesellschaft und ihren Institutionen, wie Burke sie verteidig‐ te, die Legitimation entzogen. „Die amerikanischen Republiken haben uns experi‐ mentell gelehrt, dass Nationen gedeihen und glücklich sein können, die keine Bi‐ schöfe, keine Adligen und keine Könige haben.“ (Cooper 1792, 29) Einen greifbaren Ausdruck erhielt das Freiheitsverständnis der neuen Whigs in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen) von 1789 und der der Bill of Rights von 1791. Nicht die Rückschau auf die Tradition und die Wahrung eines politischen Machtgleichgewichts, dessen soziale Basis sich aufgelöst und das sich deshalb verschoben hatte, sollte von nun das Selbstverständnis der Gesellschaft leiten, sondern die Besinnung auf die für alle Bürger gleichermaßen zu verwirklichenden Freiheitsrechte. Damit war Burke, der das liberale Erbe des 17. Jahrhunderts verteidigte, in den Augen seiner Zeitgenossen zum Konservativen geworden. Erst später kam die Einsicht hinzu, dass die Wahrung der egalitären Freiheitsrechte ein institutionelles Gewaltengefüge verlangte, das in der Lage war, die individuellen und kollektiven Freiheitsrechte, unabhängig von den politischen Mehrheiten, zu schützen. Entscheidend dazu trugen die unterschiedli‐ chen Erfahrungen aus Amerikanischer und Französischer Revolution bei, die Burke bereits 1790 deutlich voneinander abgegrenzte.

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Michael Becker Burkes Kritik an der englischen Kolonialherrschaft in Nordamerika und Indien

Theorien zum Postkolonialismus erfreuen sich derzeit größerer Aufmerksamkeit. Sie kritisieren und entlarven die Politik der europäischen Kolonialmächte und ihren heu‐ tigen Nachfolgern als unzivilisiertes Betragen westlicher Nationen und ihrer Agen‐ ten gegenüber Einheimischen, das mit oft verquasten Ideologien zur vermeintlichen Überlegenheit oder mit religiösem Missionsauftrag die Unterdrückung und Ausbeu‐ tung der Kolonisierten zu rechtfertigen suchte. Die in diesem Zusammenhang des Öfteren anzutreffenden einseitigen Darstellungen haben insofern ihre Berechtigung, als sie damit die Ungerechtigkeiten des Kolonialismus blamieren und konterkarieren wollen - auch „reverse discrimination“ ist ungerecht gegenüber den aktuell davon Benachteiligten, lässt sich jedoch rechtfertigen aufgrund umfassender Gerechtig‐ keitsüberlegungen. Der Fokus postkolonialer Theorie hat sich inzwischen jedoch auf die nicht primär politischen und ökonomischen Motive des westlichen Beherr‐ schungsdranges verlagert und mit dem „Orientalismus“-Vorwurf das prekäre Funda‐ ment des westlichen Selbstverständnisses darin zu erkennen geglaubt, dass dieses ohne die Geringschätzung und Verachtung anderer Kulturkreise nicht auskomme. Damit richtet sich die Kritik auch gegen die Konzeption der universalen Menschen‐ rechte, hinter denen sich angeblich auch nur ein westlicher Partikularismus verberge, sowie gegen andere westliche Errungenschaften wie die liberale Demokratie. Was genau an die Stelle dieser inkriminierten Werte treten soll, bleibt dabei allerdings oft unklar. Stattdessen bildet sich gelegentlich, zumal im Verbund mit dem aktuell hoch im Kurs stehenden Anti-Rassismus, eine explosive Stimmung, aus der heraus oft nicht nur die notorische Doppelmoral und Heuchelei des Westens entlarvt, sondern zugleich ein Großteil seiner normativen Grundlagen entsorgt werden soll, so dass man am Ende froh sein kann, dass nicht alle Denkmäler westlicher Säulenheiliger dem gerechten Zorn von Aktivisten unmittelbar zugänglich sind - weil sie z.B. in Kaliningrad stehen.1 An den vorwiegend von den Geisteswissenschaften im angelsächsischen Raum angestoßenen Diskursen zum Orientalismus etwa fällt auf, dass sie sich zwar auf die reale Politik der Kolonialmächte beziehen, aber davon auszugehen scheinen, dass 1 Siehe dazu Brumlik 2020; zum Postkolonialismus statt vieler siehe Young 2003; zum Orientalis‐ mus Said 2014; zum Problem der Relativierung der Menschenrechte siehe Hountondji 2016; für eine obskure Alternative zum „Westen“ z.B. Weidner 2018.

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diese ohne Widerspruch geblieben und allgemein akzeptiert worden sei. Eine Kritik dieser Herrschaftspraktiken scheint für sie gar nicht existiert zu haben. Mit Edmund Burke lässt sich dieser Eindruck zumindest relativieren. Die durch die Kolonial‐ mächte begangenen Ungerechtigkeiten werden dadurch nicht relativiert, aber es kann zumindest gezeigt werden, dass im Westen bzw. in England ablehnende Hal‐ tungen gegenüber dem Kolonialismus vorhanden waren, wonach die „daheim“ aner‐ kannten Werte auch in anderen Weltteilen Gültigkeit haben sollten. Am Anfang des neuzeitlichen Kolonialismus stand kein großer Plan zur Welter‐ oberung, sondern ein Irrtum über die geographischen Verhältnisse. Allerdings hatte die Tatsache, dass Kolumbus in Zentralamerika und nicht in Indien gelandet war, weitreichende Folgen. Die spanischen Spätscholastiker versuchten als erste, die le‐ galen Grundlagen des Verhältnisses zwischen den europäischen Christen und den nichtchristlichen Einheimischen zu bestimmen. Ein Ergebnis dieser Studien, auch wenn das faktische Verhalten der spanischen Eroberer in Zentralamerika davon weit‐ gehend unbeeindruckt blieb, war die Entwicklung einer Vorform des subjektiven Rechtes, das allen Menschen zukommen sollte.2 Auch wurden erste Anstrengungen zur Entwicklung des Völkerrechts und des internationalen Seerechts unternommen, dazu gehörten der Teilungsvertrag von Tordesillas, der die „neue Welt“ zwischen den Kolonialmächten Spanien und Portugal aufteilte, sowie die Festlegung sog. „Freundschaftslinien“, jenseits von denen kein freundschaftliches Betragen der europäischen Seemächte erwartet werden konnte („No peace beyond the line“).3 Für den englischen Kolonialismus war das erste Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts entscheidend: 1600 schlossen sich englische Kaufleute zur Ostindienkompanie zu‐ sammen, 1606 wurde eine königliche Charta zur Besiedlung des nordamerikani‐ schen Gebietes in Virginia ausgestellt und 1609 wurde mit der sog. „Ulster Plantati‐ on“, der Ansiedlung von schottischen Protestanten in Irland begonnen. Damit wur‐ de, aus der Retrospektive betrachtet, zugleich das Fundament für das britische Welt‐ reich gelegt: Ein solches Empire kann dabei aufgefasst werden als „relationship, for‐ mal or informal, in which one state controls the effective political sovereignty of another political society. It can be achieved by force, by political collaboration, by economic, social or cultural dependence. Imperialism is simply the process or policy of establishing or maintaining an empire.”4 Interessanterweise fällt die Frühphase des British Empire zusammen mit den Anfängen der philosophischen Aufklärung

2 Darauf verweist Böckenförde 2006, § 14 (Die Spanische Spätscholastik), S. 353f. in seiner Dis‐ kussion des Werkes von Francisco de Vitoria. Ypi 2019, S. 580 hebt dagegen einen anderen As‐ pekt bei Vitoria hervor, wonach die Anführer der Ureinwohner („local princes“) „are obliged by natural law to love the Spaniards, and therefore cannot prohibit them without due cause from furthering their own interests.” Die postkoloniale Lektüre von Klassikern trägt in diesem Fall durchaus zu einem vollständigeren Verständnis bei. 3 Grewe 1988, S. 188ff. 4 Doyle 1986, S. 45. Zu Burkes Empire-Definition siehe unten Anm. 16.

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und den daraus hervorgehenden ersten liberalen Theorien. Der Umstand, dass ausge‐ rechnet England als Mutterland des Liberalismus sehr schnell imperiale Interessen entwickelte, muss keinen Widerspruch bedeuten, denn Freiheitsgarantien wurden da‐ mals mehr oder weniger explizit in einen nationalstaatlichen Rahmen eingebettet. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass zahlreiche Philosophen sich damals schon durchaus kritisch gegenüber dem Kolonialismus geäußert hatten: dazu gehörten Adam Smith, Denis Diderot, Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant – und Ed‐ mund Burke.5 Burke war 1757 mit einer Untersuchung über das Erhabene und Schöne zunächst als philosophischer Schriftsteller hervorgetreten.6 Danach wurde er u.a. Privatsekre‐ tär des Premierministers Rockingham (der jedoch nur kurze Zeit im Amt war), schließlich erhielt er selbst ein Mandat im Unterhaus. Wegen seiner rhetorischen Fä‐ higkeiten wurde er Sprecher der sog. Rockingham Whigs und damit zu einem der wichtigsten Oppositionspolitiker im Parlament. In dieser Funktion beschäftigte er sich u.a. mit der englischen Politik gegenüber den nordamerikanischen Kolonien, der Irland-Politik sowie der Indien-Politik. Burke gilt landläufig, zumindest auf dem europäischen Kontinent bzw. in Deutschland, als Begründer des Konservatismus7, weil er sich als vehementer Kriti‐ ker der Französischen Revolution hervortat. Konservativen im Allgemeinen und Burke im Besonderen wird nachgesagt, über nur wenige oder gar keine inhaltlichen Überzeugungen zu verfügen, sie verteidigten lediglich den Status quo, so lange es gehe, und befürworteten demnach morgen dasjenige, was sie gestern noch ablehn‐ ten.8 Das entspricht allerdings eher einem Klischee als einer sachlichen Einschät‐ zung, und daher wird im Folgenden versucht, einen durchaus prinzipientreuen Burke zu porträtieren, der zudem einen Postkolonialismus avant la lettre entwickelt hatte. Die Reden und Schriften, die im Zusammenhang mit Burkes Anti-Kolonialismus interessieren, sind allesamt älter als seine bekannten „Betrachtungen über die Fran‐ zösische Revolution“. Diese lassen sich also nicht zur Analyse und Aufhellung sei‐ ner kolonialismuskritischen Schriften heranziehen, allenfalls kann darauf hingewie‐ sen werden, inwiefern Argumente aus den früheren Reden in seinem Spätwerk wie‐ derzufinden sind. Im Folgenden wird es um Burkes Kritik an der englischen Politik gegenüber Nordamerika (1) und Indien (2) gehen. Am Anfang beider Abschnitte wird jeweils eine Skizze zu einschlägigen historischen Ereignissen gegeben, die auch in Burkes Reden eine Rolle spielen. Sodann werden die wichtigsten Stellung‐ 5 Muthu 2003, S. 2ff. Dass z. B. Hegel und Marx (siehe dazu Paquette 2014) dem Kolonialismus positive Seiten abgewinnen konnten bzw. ihn als vorübergehend notwendiges Herrschaftsver‐ hältnis für rechtfertigbar hielten, wie J. St. Mill (s. dazu unten), sei damit nicht bestritten. 6 Burke 1989. Zum folgenden siehe Ballestrem 1987. 7 Siehe u.a. Jörke/Selk 2015. 8 Eine zur Karikatur tendierende Neufassung dieser Einschätzung findet sich bei Biebricher 2019, Kap.1.

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nahmen Burkes analysiert. In Abschnitt vier findet sich ein kurzer Exkurs zu John Stuart Mills Position in der Kolonialismus- bzw. Indien-Frage (3), am Schluss er‐ folgt eine Zusammenfassung (4).

1. Burke und Nordamerika Auf dem nordamerikanischen Kontinent waren die Spanier die ersten, die 1565 in St. Augustine, im heutigen US-Bundesstaat Florida gelegen, eine dauerhaft von Eu‐ ropäern bewohnte Siedlung gründeten. Eine Besiedlung der Ostküste Amerikas im größeren Stil ist jedoch erst von den Engländern Anfang des 17. Jahrhunderts be‐ gonnen worden.9 Ein Rechtsinstrument bildeten dabei königliche „Chartas“, deren Inhaber zur Landnahme befugt waren. Sowohl London als auch Plymouth gründeten daraufhin sog. „Virginia Companies“. Der Status der Chartas ist ambivalent: um in‐ ternationales Recht handelte es sich nicht, da auf amerikanischer Seite kein anderer Staat als Vertragspartner vorhanden war, und nationales englisches Recht verkörper‐ ten sie ebenfalls nicht, da eine Charta Aktivitäten auf fremdem Territorium erlaubte oder guthieß. Man kann sie jedoch als eine Vorwegnahme des später von Hugo Gro‐ tius und John Locke vertretenen Arguments betrachten, wonach es siedlungswilligen Ankömmlingen seitens ihres Königs erlaubt sein muss, herrenloses oder zumindest erkennbar nicht genutztes Land auch in Übersee in Besitz zu nehmen, um es zu bear‐ beiten – ohne Zustimmung der dort bereits anzutreffenden Einheimischen. Zudem konnten vermögende englische Bürger auswanderungswilligen Landsleuten die Überfahrt nach Nordamerika finanzieren, wo diese ihre Reisekosten dann abarbeiten mussten. Es waren also Privatleute, die mit Autorisierung durch die englische Krone in Nordamerika siedelten, von denen sich das Mutterland sowohl die Erschließung von Ressourcen als auch neuer Absatzmärkte für heimische Produkte erhoffte. Gleichwohl sind diese frühen Siedler bzw. Siedlungen zugleich als politische Ge‐ meinschaften im Entstehen zu begreifen: der vermutlich bekannteste Fall einer sol‐ chen Gründung ist der Mayflower Compact von 1620, mit dem sich die Neuan‐ kömmlinge („Pilgrims“) an der nordamerikanischen Ostküste untereinander verspra‐ chen, sich als Gleiche zu betrachten und zukünftig die Herrschaft des Rechts anzuer‐ kennen.10 Zudem sahen auch schon viele Charten eine Beteiligung der Siedler an der lokalen Gesetzgebung vor. Die ‚Verfassungen‘ in den neu entstehenden Kolonien enthielten zahlreiche Prinzipien, die bereits im Mutterland Anerkennung gefunden hatten, und glichen sich folglich untereinander in den wichtigsten Bestimmungen. 9 Zum folgenden Sautter 2006, Kap. I und II. 10 „Sie … verfügten über die Macht, sich zusammenzutun und einen >>civil Body Politick>zu verordnen, zu konstituieren und zu entwerfen