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German Pages 150 [151] Year 1988
JOHANN BAPTIST MÜLLER
Konservatismus und Außenpolitik
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 52
Konservatismus und Außenpolitik
Von
Johann Baptist Müller
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Müller, Johann Baptist: Konservatismus und Außenpolitik/von Johann Baptist Müller.- Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 52) ISBN 3-428-06515-8 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41
Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06515-8
Inhaltsverzeichnis L Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IL Krieg und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die liberale Friedensdoktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Krieg und Frieden in konservativer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Konservatismus und Pazifismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4. Der Konservatismus der "realistischen" Schule der internationalen Politik
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
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1. Konservative Gleichgewichtsvorstellungen
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2. Hegemoniale Herrschaft als konservatives Außenpolitikpostulat . . . . . . . 74 3. Konservatismus und Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4. Supranationale Schlichtungs- und Regelungsinstanzen in konservativer Perspektive . . ... ... .... . .. .. . .. .......... . ... . . . . . . . . . . . .. .. . . 105 IV. Innenpolitik und Außenpolitik . .. . .. . ....... . .. . . ..... . ....... .. .... 118 1. Der Primat der Innenpolitik als konservativer Topos ... . ...... . . ..... 118
2. Konservative Kritik am Primat der Außenpolitik . ......... . . . . .. ... . 124 3. Konservative Kritik an der Demokratisierung des Staates und dem Primat der Innenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Literaturverzeichnis . . ... . .. . ....... . .. . . . . .. .... . . . ...... . .. . . . .. . ... 135
I. Einleitung Die Analyse der außenpolitischen Ordnungsvorstellungen1 konservativer Autoren ist bislang eher ein Stiefkind der Forschung geblieben. So tiefenscharf und umfänglich die vorliegenden Studien über die ökonomischen, sozialphilosophischen und politischen Konzeptionen dieses Ideenkreises2 sich auch präsentieren, eine systematische Abhandlung über die außenpolitischen Zielvorstellungen des Konservatismus hat bisher gefehlt. Diese Lücke soll mit dieser Studie geschlossen werden. Der Verfasser ist sich dabei bewußt, daß er kaum mehr als eine Anfangsarbeit vorzulegen in der Lage ist. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung ruht in der Gewißheit, keineswegs alle relevanten Aspekte des in Rede stehenden Themas angeschnitten und analysiert zu haben. Diese Abhandlung ist vom Gedanken her geschrieben, daß es durchaus sinnvolle Kriterien zur Abgrenzung des konservativen Ideenkreises vom Liberalismus einerseits und vom Faschismus andererseits gibt3. Sie geht nicht zuletzt auch der Frage nach, ob die einzelnen ideologischen Subsysteme des Konservatismus je eigene außenpolitische Ordnungsvorstellungen hervorbringen bzw. hervorgebracht haben. Unterscheiden sich also etwa die außenpolitischen Ordnungsvorstellungen des liberalen Konservatismus von denen des autoritären Zweiges dieser Ideologie, hegen die atheistischen Konservativen andere Ansichten über die internationalen Beziehungen als die christlichen? Diese Studie zeigt augenfällig auf, daß man in diesem Zusammenhang keineswegs allzu rubrizierungssüchtig sein darf. Vieles läßt sich nicht "ableiten", verweigert sich der eindeutigen Zuordnung. In dieser ideenanalytischen Abhandlung wird auch Wert darauf gelegt, die wechselseitige Verschränkung der außenpolitischen Ordnungsvorstellungen des Konservatismus mit der politischen Praxis in den Blick zu rükken. Die außenpolitischen Vorstellungen der Konservativen werden also nicht nur in ihren Eigenbewegungen dargestellt. Zur Sprache kommt auch 1 Joachim Hütter definiert Außenpolitik als "die politische Willensbildung über die internationale Politik eines Staates sowie das Ergebnis solcher Willensbildung" (Einführung in die internationale Politik. Stuttgart 1976, S. 30). 2 Erinnert sei an die grundlegenden Arbeiten von Martin Greiffenhagen, GerdKlaus Kaltenbrunner, Panajotis Kondylis, Kar! Mannheim und Armin Mohler. 3 Vgl. dazu Johann Baptist Müller: Liberaler und autoritärer Konservatismus. In: Archiv für Begriffsgeschichte 29 (1985), S. 125 ff.; derselbe: Was heißt "liberalkonservativ"?. In: Zeitschrift für Politik 29 (1982), S. 351 ff.; Panajotis Kondylis: Konservatismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986, S. 36ff.
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I. Einleitung
ihre Funktion innerhalb des Flechtwerks von Interessen und Institutionen. Auch der konservative Ideenkreis kennt wie der liberale und der sozialistische eine gesellschaftliche Verwurzelung, auch er wird von bestimmten Schichten getragen und von anderen rigoros zurückgewiesen und bekämpft. Allerdings ist der Verfasser dieser Abhandlung dezidiert der Ansicht, daß ideologische Ordnungsvorstellungen letzten Endes keineswegs vollständig auf soziale Interessenpositionen reduziert werden können. Das gilt in besonderem Maße für den Konservatismus. So sind beispielsweise das Ideal des politischen Gleichgewichts und das Postulat der imperialistischen Expansion Topoi, die sich nicht nur im konservativen Ideenkreis finden. Sie sind auch im Liberalismus und im Sozialismus nachzuweisen, besitzen also eine ausgesprochen transideologische Qualität. In dieser Studie werden sowohl Autoren berücksichtigt, die den konservativen Ideenkreis mitbegründet haben, als auch solche, die als Zeitgenossen zu betrachten sind. Der zeitliche Bogen reicht also von Joseph de Maistre bis zu Julien Freund. Diese Abhandlung kommt auch auf konservative Schriftstellerpersönlichkeiten verschiedener Länder zu sprechen. Hauptsächlich kommen dabei Amerikaner, Deutsche, Engländer und Franzosen zu Wort. Auf diese Weise ist es möglich, Vergleiche zwischen den konservativen Strömungen der einzelnen in Rede stehenden Länder anzustellen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen festzustellen. Was die Haltung des Autors zu den von ihm behandelten Autoren anlangt, so ging es ihm zuvörderst darum, einen eher wertfreien Standpunkt einzunehmen. Ihm war es vornehmlich darum zu tun, die Autoren selber zu Wort kommen zu lassen. Das kann allerdings keineswegs bedeuten, daß eine derartige Studie gänzlich unparteiisch ausfallen kann. Wenn dann und wann die persönliche Meinung des Verfassers durchscheint, so ist das keineswegs gänzlich unbeabsichtigt. Das politologische Esperanto ist so langweilig wie das sprachliche.
II. Krieg und Frieden 1. Die liberale Friedensdoktrin
Es gibt kaum ein Thema, das heftiger zu Verdrängungen einlüde, keines, das gebieterischer zu tendenziösen Verzeichnungen führte als gerade die Frage der Bewertung des Krieges und des Friedens. Nähert man sich diesem Problemkomplex mit der dafür notwendigen Mischung aus Unbefangenheit und Unparteilichkeit, so hat man zunächst zu konstatieren, daß sich der klassische Liberalismus als prinzipieller Befürworter des Friedens zwischen den Völkern und als grundsätzlicher Gegner des Krieges zu erkennen gibt. Dagegen gehen alle Repräsentanten des Konservatismus davon aus, daß die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Staaten kaum aus der Welt zu schaffen ist. Sie habe immer schon eine große Bedeutung in den Beziehungen der Völker untereinander gehabt und werde sie auch in der Zukunft einnehmen. Ganz im Gegensatz zum Konservatismus und im Kontrapunkt zur vorliberalen Politiklehre1 ging und geht es dem Liberalismus darum, eine friedliche, kriegsnegierende Welt zu postulieren und zu prognostizieren. Im Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit Immanuel Kants 2 steht der Gedanke, den Krieg ein für allemal überwinden zu können. Das Konstruktionsmuster, das seiner Friedensvision zugrunde liegt, ist von beeindruckender Kühnheit. Von der Warte eines vom Ekel gegenüber den bisherigen außenpolitischen Szenaria erfaßten Denkens ging es dem Königsherger darum, der Welt den Weg in eine friedliche Zukunft zu weisen. Dabei ist Kants Friedenshoffnung in der tiefeingewurzelten Überzeugung gegründet, I Aristoteles weigert sich, sich einen ewigen Friedenszustand vorzustellen. Der Staatsmann muß dem Stagiriten zufolge danach streben, "daß die Bürger imstande sind, der Arbeit abzuliegen und Krieg zu führen" (Politik. Hrsg. von Nelly Tsouyopoulos und Ernesto Grassi. Harnburg 1965, S. 257}. Allerdings müsse auch darauf geachtet werden, "den Frieden zu erhalten" (ebd.). Letzten Endes sei der Krieg "nur um des Friedenswillen da" (ebd.). Ähnlich weist auch Thomas von Aquin den Gedanken von sich, daß eine prinzipiell kriegslose Beziehung zwischen den einzelnen politischen Gemeinwesen im Bereich des Möglichen liegt. Allerdings müsse der Krieg den Prinzipien der Gerechtigkeit entsprechen. "Der gerechte Krieg wird um des Friedens willen geführt, steht also nicht dem Frieden entgegen" (Die theologische Summe. Zweiter Hauptteil: Die Sittenlehre. Hrsg. von Ceslaus Maria Schneider. Regensburg 1888, s. 270). 2 Vgl. dazu Michael W. Doyle: Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs. In: Philosophy and Public Affairs 12 (1983), S. 205ff.; F. H. Hinsley: Immanuel Kant and the Pattern of War and Peace Since his Time. In: Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat In: Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag, hrsg. von Helmut Berding u.a. München und Wien 1978, S. 91ff.
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II. Krieg und Frieden
daß der Siegeszug der tauschwirtschaftliehen Ökonomie das gesellschaftliche Unterpfand der Überwindung des Krieges darstellt. Wenn es das Kennzeichen des Händlers ist, seine Geschäfte in einem Klima der Verständigung und des Vertrauens abzuwickeln, dann wird auch eine von diesem Sozialtypus bestimmte Sozietät keinerlei Veranlassung dazu haben, ihre Probleme mit anderen Gesellschaften in einem bellizistischen Sinne zu regeln. "Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen, der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln), die Geldmacht wohl die zuverläßigste sein möchte, so sehen sich Staaten .. . gedrungen, den edlen Frieden zu befördern, und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittelungen abzuwehren, gleich als ob sie deshalb im beständigen Bündnisse ständen; denn große Vereinigungen zum Kriege können, der Natur der Sache nach, sich nur höchst selten zutragen, und noch seltener glückena." Die friedliche Ordnung zwischen den Völkern, die die Ausbreitung der bürgerlichen Wirtschaftsweise im Gefolge hat, entspricht Kant zufolge den Geboten der Vernunft. Die Überwindung des Krieges ist aber auch moralisch geboten. "Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ein unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein: weder der, welcher zwischen Mir und Dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die, obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (im Verhältniß gegen einander) im gesetzlosen Zustande sind4." Das moralische Gewissen zwingt uns, der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Staaten abzusagen und dem Frieden zu dienen. "Wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist5 ." Zu den liberalen Denkern, die den Sieg der industriellen Lebensordnung über die militärische ersehnt und prophezeit haben, gehört nicht zuletzt auch der Soziologe Herbert Spencer. Das Motiv für seine liberal-progressive Haltung ist in der Hoffnung begründet, daß der despotische Typus der Mili3 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg 1795, s. 64. 4 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. In: Kant's gesammelte Schriften. Band VI. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1914, s. 354. s Ebd. Kant weist auch darauf hin, daß die Gestalt der Erde die Menschen zu einem friedlichen Leben veranlassen sollte. "Die Natur hat sie alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen; und da der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, immer nur als Besitz von einem Theil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder derselben ursprünglich ein Recht hat, gedacht werden kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes (communio) -und hiemit des Gebrauchs, oder des Eigentums an demselben, sondern der physischen Wechselwirkung (commercium), d.i. in einem durchgängigen Verhältnisse eines zu allen Anderen, sich zum Verkehr untereinander anzubieten, und haben ein Recht, den Versuch mit demselben zu machen, ohne daß der Auswärtige ihm darum als einem Feind zu begegnen berechtigt wäre" (ebd., S. 352).
1. Die liberale Friedensdoktrin
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tärherrschaft überwunden und an dessen Stelle die auf dem Prinzip der Selbstregulierung basierende industrielle Ordnung den historischen Sieg davontragen werde. "Nachdem das dem Militarismus eigentümliche Regime des ,Status' verschwunden ist, tritt das Regime des Vertrages an seine Stelle und findet immer allgemeinere Anerkennung6." Schließlich wird nach dem "Aufhören des kriegerischen Kampfes ums Dasein zwischen den einzelnen Gesellschaften nur noch der industrielle Kampf?" übrig bleiben. In dem Maße, in dem der industrielle Typus den Sieg über den militärischen gewinnt, ändern sich auch die Beziehungen zwischen den Staaten von Grund auf. Das Netz der friedlich-kommerziellen Beziehungen hat sich dann so verdichtet, daß der Krieg als ein überlebter Atavismus vergangener Zeiten erscheint. An die Stelle des Krieges tritt dann die friedliche Kooperation zwischen den Völkern. "Mit der Erstarkung des industriellen Typus also erhebt sich das Streben nach Niederreissung der Schranken zwischen den Nationalitäten und nach der Ausbreitung einer gemeinsamen Organisation durch alle hindurch- wenn nicht unter einer einzigen Regierung, so doch unter einer Bundesgenossenschaft von Regierungens." Neben Immanuel Kant und Herbert Spencer waren auch andere führende liberale Geister der Auffassung, daß allein der Pazifismus einer freiheitlichen Politik sein Signum geben sollte. Dieser antibellizistische Ton bestimmt entscheidend auch das Werk von Thomas Paine. Neben den Rechtsliberalen Immanuel Kant9 und Herbert Spencer1° hat dieser dezidiert argumentierende Linksliberale11 die Meinung vertreten, daß die Handelsgesellschaft dem Kriegsgeist an der Wurzel fremd sei. Für Paine ist das Beziehungsgespinst des Handels "ein friedliches System, das dahin wirkt, die Menschen einander näherzubringen, indem er Nationen ebenso wie Individuen einander nützlich werden läßt"l2. Aus diesem Grunde plädiert Thomas Paine für die Kommerzialisierung der Welt, für die Überwindung der Statussozietät durch die Vertragsgesellschaft. Allein auf diese Weise sei es möglich, den überkommenen Kriegsgeist ein für allemal zu überwinden und zu friedlicheren Verhältnissen zwischen den Völkern und Staaten zu gelangen. "Gestattete man dem Handel die allgemeine Ausdehnung, deren er fähig ist, so würde er das System des Krieges ausrotten und eine Revolution in dem unzivilisierten Zustand der Regierungen hervorrufen13." s Herbert Spencer: Die Principien der Sociologie. 111. Band. Aus dem Englischen. Stuttgart 1889, S. 752. 7 Ebd., S. 718. s Ebd., S. 724. 9 Vgl. dazu Johann Baptist Müller: Liberalismus und Demokratie. Studien zum Verhältnis von Politik und Wirtschaft im Liberalismus. Stuttgart 1978, S. 42ff. 1o Ebd., S. 82f. u Ebd., S. 179ff. 12 Thomas Paine: Die Rechte des Menschen. Aus dem Englischen. Hrsg. von Wolfgang Mönke. Berlin 1962, S. 322 (Philosophische Studientexte).
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II. Krieg und Frieden
Indem die Liberalen eine friedliche Zukunft für möglich hielten, die Abschaffung des Krieges als konkrete Utopie begriffen, haben sie einer Hoffnung zum Ausdruck verholfen, die sich im Verlaufe der Neuzeit als trügerische Chimäre erwies. Die Kommerzialisierung der Welt hatte keineswegs zur Folge, daß der Kaufmann den Soldaten verdrängte. Die Entwicklung stellte vielmehr unter Beweis, daß der Soldat und der Handelsmann durchaus auch kooperieren können. Liberale Staaten waren keineswegs weniger kriegerisch gesinnt als illiberale14• Der schlagendste Beweis für die uneingelösten Hoffnungsversprechen von Kant, Spencer und Paine ist nicht zuletzt in der Tatsache zu sehen, daß der Bellizismus sogar im Liberalismus Heimatrecht erlangte. Dabei nahm sowohl der linksliberale als auch der rechtsliberale Flügel antipazifistische Ordnungsvorstellungen auf. Was den Rechtsliberalismus anlangt, so kann man als einen der führenden Vertreter Heinrich von Treitschke anführen. Ganz im Gegensatz zu den pazifistisch eingestellten Rechtsliberalen Kant und Spencer hält Treitschke dafür, daß dem Krieg eine geradezu metaphysische Würde eignet. "Bis an das Ende der Geschichte werden die Waffen ihr Recht behalten, und darin liegt gerade die Heiligkeit des Krieges15." Dabei eignen dem Kriegshandwerk keinerlei negative Bestimmungsmerkmale. Der Wille zur kriegerischen Auseinandersetzung deszendiert bei Treitschke aus den vornehmsten ethischen Motiven. "Es ist ein Trugschluß, daß Kriege geführt werden um des materiellen Daseins willen; zur Ausplünderung von Hab und Gut werden moderne Kriege nicht geführt. Es spielt hier das hohe sittliche Gut der nationalen Ehre mit, die von Geschlecht zu Geschlecht überliefert ist, die etwas absolut Heiliges hat und den Einzelnen zwingt, sich ihr zu opfern16." Der Krieg stellt für Treitschke ein notwendiges Mittel dar, um die notwendige Homogenisierung des Staatsvolkes zu erreichen. "Immer und immer wieder wird sich die Wahrheit bestätigen, daß nur im Kriege ein Volk zum Volke wird. Nur gemeinsame große Taten für die Idee des Vaterlandes halten ein Volk innerlich zusammen17 ." Was Wunder, wenn der Nationalliberale Treitschke mit all denjenigen liberalen Familiengenossen hart ins Gericht geht, die sich für eine friedliche Lösung der Konflikte zwischen den Völkern ausgesprochen haben. In einem hochgradig verächtlichen Ton macht er sich über diejenigen liberalen Autoren lustig, die den Krieg keinesEbd. Vgl. dazu Melvin Small und J. David Singer: The War-Proneness of Democratic Regimes, 1816- 1965. In: The Jerusalem Journal of International Relations 1 (1976), s. 50ff. 15 Heinrich von Treitschke: Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin. Hrsg. von Max Cornicelius. Erster Band. Vierte Auflage. Leipzig 1918, S. 39. 16 Ebd., S. 24. 17 Ebd., S. 60. 13
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1. Die liberale Friedensdoktrin
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wegsals das optimale Mittel zur Lösung internationaler Probleme angesehen haben und sehen. "Der doktrinäre deutsche Völkerrechtslehrer meint, er brauche nur einige Sätze zu formulieren, und die Völker als vernünftige Wesen seien dann verpflichtet, sie auch zu halten; immer wieder vergißt man, daß Dummheit und Leidenschaft Großmächte in der Geschichte sind ... Und woher haben denn einzelne Menschen: Rotteck, Bluntschli, Heffter die Vollmacht in diesem Tone zu reden, Staaten gegenüber ein solches: ,Du sollst!' auszusprechen18?" Treitschke zufolge betrachtet die "moralisierende Auffassung der liberalen Theorie" 19 den "Staat wie einen braven Jungen, den man wäscht und kämmt und in die Schule schickt, dem man die Ohren zupft, damit er artig bleibt"20. Nicht nur rechtsliberale Gelehrte und Theoretiker, auch die Repräsentanten der rechtsliberalen Politik haben sich oft in einem wenig pazifistischen Tone geäußert. Zu ihnen gehört Gustav Stresemann. Im Jahre 1907 erklärte er, "daß in der Weltgeschichte immer ein Volk durch ein stärkeres abgelöst wird und schließlich der Herrgott im Kampfe bei den starken Bataillonen ist"21. Deutschland müsse sich bewaffnen, um für den kommenden schicksalshaften Existenzkampf gerüstet zu sein. Der Erste Weltkrieg stellte sich Stresemann zufolge als ein berechtigter Versuch Deutschlands dar, die Weltherrschaft zu erringen. So schrieb er im Jahre 1916: "Wir müssen Zähne und Nägel einsetzen, um unsere alte Stellung uns wieder zu erobern, die wir verlieren mußten, in der Zeit, als England durch seine maritime Überlegenheit uns ausschloß von der alten Rivalität mit ihm in den Fragen des Handels und den Fragen der Weltwirtschaft22." Aus diesem Grunde warnt Stresemann auch davor, "auf die versöhnende Wirkung irgend einer Weltbrüderschaft" zu hoffen und darauf aus zu sein, durch "Verzicht auf Expansion uns Sympathien"23 zu erwerben. Auch zur Physiognomie des Linksliberalismus gehört es, daß er sich keineswegs durchgehend pazifistisch gibt. Insbesondere im späten 19. Jahrhundert und zu Anfang des 20. hat dieser Ideenkreis dem Bellizismus einen erstaunlich breiten Spielraum gewährt. So ist beispielsweise für Friedrich Naumann der Krieg keineswegs eine Einrichtung, die es möglichst schnell abzuschaffen gilt. Sie stellt sich für den linksliberalen Politiker vielmehr als eine Aktivität dar, die mit der Beziehung zwischen souveränen Staaten notwendigerweise gegeben ist. Das eigene Volk müsse unter allen Umständen vor seinen Feinden geschützt werden. Im Fall eines gegnerischen Angriffes 1s Heinrich von Treitschke: Politik. Zweiter Band. S. 545.
Ebd., S . 544. Ebd. 21 Stresemann-Buch. Aussprüche, Aufsätze. Hrsg. von Dr. Luther. M. d. R. Berlin 1923, s. 83. 22 Ebd., S. 19f. 23 Ebd., S. 19. 19
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II. Krieg und Frieden
"verfliegt aller ,Antimilitarismus' vor der absoluten Notwendigkeit, daß unser Volk sich verteidigen und daß es womöglich den Krieg in das Land des Gegners tragen muß"24 • Dabei weist Naumann auf den kollektivistischen Charakter hin, der dem modernen Kriege eigne. "Die Massen entscheiden im modernen Krieg. Die Heldenhaftigkeit einzelner verschwindet, der Patriotismus der Masse wird Lebensforderung des Staates2s." In wie starkem Maße Abwehrbereitschaft und Kampfeswillen zu den typischsten Kennzeichen eines gesunden Staates gehören, dafür bietet Naumann zufolge die Natur ein besonders augenfälliges Beispiel. "Die Naturgeschichte zeigt uns, daß Krustentiere und Panzertiere langlebiger sind als Weichtiere. Ein Volk, das langes Leben haben will, muß Panzer tragen26." Letzten Endes habe die Geschichte überdeutlich unter Beweis gestellt, daß nur verteidigungsbereite und angriffsgerüstete Völker ein Recht darauf haben, sich als unabhängig zu bezeichnen. "Nur Völker in Waffen sind, geschichtlich angesehen, frei2 7. " 2. Krieg und Frieden in konservativer Perspektive Die Besinnung darauf, wie der Konservatismus den Problemkomplex Krieg und Frieden bewertet, muß sich der Tatsache bewußt sein, daß dieser Ideenkreis besonders an diesem Punkte weit davon entfernt ist, eine monolithische Einheit zu bilden. Recht eigentlich lassen sich zwei Bewertungsschulen unterscheiden. Die eine feiert die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Staaten ohne Vorbehalte, preist den Waffengang als notwendige Begleiterscheinung der internationalen Beziehungen. Die andere dagegen ist der Auffassung, daß der Krieg eher als notwendiges Übel zu betrachten ist, das tunliehst vermieden werden sollte. In dieser Gruppe wird die uneingeschränkte Kriegsverherrlichung eher als eine unkonservative Haltung empfunden. Zu ihren bekanntesten Vertretern zählt ohne Zweifel Friedrich Schlegel. Dieser führende Repräsentant der deutschen Romantik hat sich unüberhörbar für einen eher friedlichen Umgang der Nationen untereinander ausgesprochen. Weit entfernt davon, einer pazifistischen Einstellung zu huldigen, hält er trotzdem dafür, die unkriegerische Beilegung von Konflikten den bellizistischen Auseinandersetzungen zwischen den Staaten eindeutig vorzuziehen. Unmißverständlich 24 Friedrich Naumann: Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik. Berlin-Schöneberg 1900, S. 193. 25 Ebd., S. 194. 26 Ebd., S. 206. 27 Ebd. Was den Sozialismus anlangt, so hat einer seiner bekanntesten zeitgenössischen Vertreter den Friedensoptimismus früherer Sozialisten in Zweifel gezogen. Harold J. Laski zufolge wird es auch Kriege in einer Welt geben, die völlig nach sozialistischen Prinzipien organisiert ist. "A world of socialist States, independent of, and sovereign to, each other, might easily become as mutually hostile as the States of the present epoch" (A Grammar of Politics. London 1941, S. 225).
2. Krieg und Frieden in konservativer Perspektive
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dekretiert er: "Der Staat strebt nach dem Frieden, und dieses ist sein positiver Zweck28." Dabei streitet Schlegel dem kriegslüsternen Staat sogar das Recht ab, sich im wahrsten Sinne des Wortes als politisches Gemeinwesen zu begreifen. Schlegel spricht in diesem Zusammenhang von der "Eroberungssucht des falschen oder Anti-Staates"29. Er scheut sich sogar nicht einmal, von sündhaftem Verhalten zu reden. "Es liegt etwas Ansteckendes in der Kriegslust, die sich an den Flammen der Ruhmbegierde entzündet und die Habsucht als Bodensatz zurückläßt; und jener erste Nimrod der Urgeschichte hat sich durch alle Weltperioden fortgepflanzt bis auf unsere Tage, wie eine politische Erbsünde3o." Die Lust an kriegerischen Auseinandersetzungen widerstrebt nicht zuletzt dem friedlichen Geist des Christentums. "Der christliche Staat hat vermöge seiner positiven Natur eine entschieden friedliche Tendenz ... Die Gerechtigkeit ist die wesentliche Grundlage und die unentbehrliche Bedingung des Friedens und seiner Dauer31." Allerdings läßt Schlegel auch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß der dem Frieden verpflichtete Staat auch über ein bewaffnetes Heer verfügen muß. Das politische Gemeinwesen hat sich ihm zufolge als "bewaffnete Friedenskorporation"32 darzustellen. Wenn ein Feind es wagen sollte, das eigene Land anzugreifen, besteht die Pflicht zur Verteidigung. Der so fried28 Friedrich Schlegel: Signatur des Zeitalters (1820 - 1823). In: Friedrich Schlegel: Studien zur Geschichte und Politik. Eingeleitet und hrsg. von Ernst Behler. München, Paderborn, Wien und Zürich 1966, S. 548 (Kritische Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler. Siebenter Band). 29 Ebd., S. 352. 30 Ebd., S. 550. 31 Ebd., S. 572. Schlegel zufolge widerstrebt der kriegslüsterne Staat auch deshalb dem Geist des Christentums, weil sich die gewaltsame Politik gegenüber dem Nachbarn sich in der Unterdrückung des eigenen Volkes fortsetzt. Die Eroberungs- und Unterdrückungsabsicht ist nicht nur auf das Verhältnis gegenüber den anderen Staaten beschränkt, "sondern kann sich ebensogut auch ganz nach innen richten, indem sie alle materielle, ja soviel als möglich auch alle moralische und intellektuelle Kraft an sich zu reißen, und in den Mittelpunkt ihrer absoluten Allgewalt zu zentralisieren sucht" (ebd., S. 552). Daß der expansiv-kriegerische Staat seine eigenen Bürger unterdrückt, ist mehr als verständlich. Schließlich muß er aus seinen Untertanen die Mittel herauspressen, die er zu seinen kriegerischen Abenteuern benötigt. "Die Eroberungssucht nach innen und die nach außen, gehen oft genug und fast immer Hand in Hand zusammen, weil durch die erste im innern, erst die zureichende Kraft und die Materialien für die Pläne nach außen herbeigeschafft werden müssen" (ebd.). 32 Ebd., S. 574. In weitgehender Übereinstimmung mit seinem Bruder Friedrich ist auch August Wilhelm Schlegel der Auffassung, daß der Friede weitaus höher einzuschätzen ist als der Krieg. Dabei weist August Wilhelm Schlegel vor allem auf die destruktiven Wirkungen des Krieges hin. "Der Krieg entreißt Hände der Arbeit, während er zugleich eine Menge von Erzeugnissen verbraucht: er macht daher gewöhnlich die beiden kriegführenden Staaten, immer wenigstens einen derselben, arm" (Ueber das Continentalsystem. Ohne Ort 1813. S. 73). Keinem vernünftigen Volk der Erde kann also daran gelegen sein, ein anderes durch eine kriegerische Auseinandersetzung zu unterjochen. Der ökonomische und soziale Niedergang des Nachbarn ist ja gleichbedeutend mit der eigenen Armutssteigerung. "Läßt sich denken, daß ein handelndes Volk sich über die Unterdrückung und den Untergang der Nationen freue, mit denen es verkehrt? Es würde keinen Markt mehr finden, denn ein armes Land hat nichts zu verkaufen, und hat nichts, womit es einkaufen kann" (ebd.).
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II. Krieg und Frieden
lieh gesinnte Schlegel ist also weit davon entfernt, ein Pazifist zu sein. "Es ist aber dieser Grundsatz von der friedlichen Tendenz des christlichen Staates nicht so zu verstehen, als sollte eine unbedingte Nachgiebigkeit und mutlose Untätigkeit gegen den Feind und das Unrecht im innern oder nach außen empfohlen, als die höchste Staatsweisheit in der Verwicklung des Zeitalters angepriesen werden. Wem ist es unbekannt, daß man sehr oft Krieg führen muß, um den Frieden zu gewinnen und auf die Dauer zu sichern, und daß der wahre und gerechte Krieg niemals einen andern Zweck hat3 2 ." Auch Carl Ludwig von Haller geht bei seiner Analyse des Krieges von der tief eingewurzelten Überzeugung aus, daß der Waffengang als ein notwendiges Übel anzusehen ist. Auf diese Weise bringt der Berner Staatsphilosoph auf den Begriff, was schon bei dem deutschen Romantiker Schlegel konzipiert wurde. Obgleich der Schweizer das Recht zum Kriege grundsätzlich bejaht33, warnt er doch nachdrücklich davor, von diesem außenpolitischen Machtmittel allzu vorschnell Gebrauch zu machen. Haller fragt den Krieg besonders intensiv nach seinen negativen Begleiterscheinungen aus, macht den Blick frei für die nachteiligen Folgen einer kriegerischen Auseinandersetzung. Da die politischen und sozialen Kosten eines Krieges außerordentlich hoch seien, sollte der Krieg keinesfalls nur zur Steigerung der staatlichen Macht und der Vermehrung des Herrscherruhms eingesetzt werden. "Den Krieg zu lieben blos des Krieges wegen, händelsüchtig und gleichsam ein Fürstlicher Raufer zu seyn, ist nicht nur ungerecht und barbarisch, wegen den vielen Uebeln, die der Krieg herbeyführt, sondern auch höchst unklug, weil der Ausgang des Krieges stets ungewiß bleibt und auch der Stärkste oft amEndeseinen Meister findet3 4 ." Jeglicher Entschluß zu einer kriegerischen Auseinandersetzung muß sich der Risiken bewußt sein, die ein Waffengang im Gefolge hat. "Ist das Resultat des Krieges unglüklich, so kann der Fürst dadurch um Land und Unabhängigkeit kommen, und es ist Tollkühnheit sich ohne Grund und Noth einer solchen Gefahr auszusezen35." Hand in Hand mit der Warnung vor einem vorschnell angezettelten 33 Haller zufolge ist es unmöglich, eine Weltpolitik ohne kriegerische Auseinandersetzung zu gestalten. "Die Kriege sind daher auch so alt als die Welt, und werden fortdauern so lang als Menschen neben Menschen wohnen. Sie sind das letzte Handhabungsmittel des natürlichen Gesezes, und da man die Möglichkeit des Unrechts nicht aufheben, die Gewalt zum Bösen nicht hinderen kann, so muß auch die Gewalt zum Guten erlaubt seyn" (Carl Ludwig von Haller: Restauration der Staatswissenschaft. Band III. Neudruck der 2. Auflage. Winterthur 1821, Aalen 1964, S. 100). Aus diesem Grunde verwirft Haller auch die Kantsche Friedenshoffnung. "Vergebens ist es, auch bey dem gerechtesten und wohlwollendsten Charakter, auf die Beybehaltung eines ewigen Friedens zählen zu wollen" (ebd.). 34 Carl Ludwig von Haller: Restauration der Staatswissenschaft. Band 111. Neudruck der 2. Auflage. Winterthur 1821. Aalen 1964, S. lOlf. 35 Ebd. Der Krieg schwächt in jedem Falle das politische Gemeinwesen, das ihn führt. "Wägen sich aber auch die Vortheile und Nachtheile gegeneinander ab, so daß
2. Krieg und Frieden in konservativer Perspektive
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Krieg geht bei Haller auch die Überlegung einher, auch beim Vorhandensein eines juristischen Kriegsgrundes aus pragmatischen Gründen auf die Führung eines legitimen Krieges lieber zu verzichten. "Wenn auch eine Beleidigung erlitten worden, mithin der Krieg aus gerechten Ursachen unternommen werden kann: so hat die Klugheit immer noch zu berechne:n, ob es auch nüzlich sey ihn wirklich zu führen, ob der Gegenstand des Kampfes werth sey, und ob der leztere mit wahrscheinlichem Erfolg geführt werden könne36." In wie starkem Maße Haller den Geist des Bellizismus ins illegitime Abseits drängt, geht auch aus seiner Analyse des Militärstaates hervor. Nirgends ist Haller weiter vom Geiste einer unkritischen Kriegsbegeisterung entfernt, nirgendwo auch hat er die Gefahren augenfälliger dargestellt, die ein ungezügelter Militarismus für die kulturelle Blüte eines Landes mit sich bringt. "Die Blüthen des menschlichen Geistes gedeihen nicht bey ihnen; friedliches Glück wird vernachläßiget, Wissenschaften und Künste selbst müssen blos dem Kriege dienstbar seyn und werden nur nach ihrer militärischen Brauchbarkeit geschäzt37 ." Neben der kulturellen Repression zeichnet sich der Militärstaat Haller zufolge auch durch die Unterdrückungen aller politisch-liberalen Ambitionen der Bürger aus. "Als Folge der ursprünglichen Eroberung ist in solchen Staaten fast alles gleichförmig eingerichtet, und diese militärische Uniformität ist das Zeichen und der Beweis nicht einer gleichen Freyheit, sondern einer gleichen Dienstbarkeit. Ihre äußere Gestalt, wie ihre innere Organisation, hat daher schon etwas furchtbares, feindseliges, das menschliche Herz von sich entfernendes3B." man am Ende durch den Krieg nichts gewinnt, keine größere Sicherheit erwirbt als man vorher besaß, so ist ein solcher Krieg immerhin eine dem Staat geschlagene Wunde; denn es werden dadurch Mannschaft, Vermögen, Ansehen, oft sogar Besitzungen geschwächt auf denen die Unabhängigkeit des Fürsten beruht, mithin dadurch sein künftiger Untergang vorbereitet oder erleichtert" (S. 102). 36 Ebd., S. 103. 37 Ebd., S. 592. 38 Ebd. Viele konservative Autoren sind der Auffassung, daß insbesondere die radikale Form der Demokratie den Militärstaat hervorbringt. So heißt es bei John Adams: "Napoleon and all his generals were but creatures of democracy" (Letters on Government. In: Works. Vol. VI. Ed. by Charles Francis Adams. Boston 1851, S. 485). Ähnlich argumentiert Fisher Ames: "Le systeme de la democratie ne peut pas durer. D'apres sa nature, il doit etre remplace par le despotisme militaire ... Un systeme democratique, un partietune armee se ressemblent beaucoup" (De l'influence de la democratie sur la liberte. Aus dem Amerikanischen. Paris 1835, S. 65ff.). James Burnham zufolge droht der Bonapartismus auch in unserer Zeit, die liberale Lebensform zu zerstören. "Wenn wir uns fragen, welches die Hauptwirkung der demokratischen Formel ... in unserer heutigen Zeit sei, so müssen wir . .. antworten, sie bestehe in einer Verstärkung der internationalen Tendenz zum Bonapartismus" (Die Machiavellisten. Verteidiger der Freiheit. Aus dem Amerikanischen. Zürich 1949, S. 240). Auch für Burnham atmet der Bonapartismus demokratischen Geist. "Der bonapartistische Führer kann sich selbst als Inbegriff der Demokratie ansehen und als solcher angesehen werden; sein Despotismus drückt nur die allmächtige Herrschaft und Disziplin des Volkes aus" (ebd.). 2 J. B. Müller
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Auf der Suche nach konservativen Persönlichkeiten, die der unreflektierten Kriegsbegeisterung eher spektisch gegenüberstanden, muß die Rede auch auf Otto von Bismarck kommen. Auch nach Bismarcks Politikverständnis hat die Handhabung der Waffe unter dem Gebot der äußersten Vorsicht, der reiflichen Überlegung und der genauen Berechnung der Folgewirkungen zu stehen. Gegen die überzogene Kriegsbegeisterung vieler seiner Zeitgenossen empfiehlt er die nüchterne Analyse des Kriegsgeschehens, weist nachdrücklich auf die negative Kehrseite nationaler Kriegstaten für alle am Kriege Beteiligten hin. "Jeder Krieg, auch der siegreiche, ist immer ... ein großes Unglück für das Land, das ihn führt; für das Land ist die Ursache ziemlich gleichgültig39." Aus diesem Grunde sollte jeder Staat danach streben, seine außenpolitischen Ziele auch ohne kriegerische Auseinandersetzung mit seinen Nachbarn zu erreichen. "Ich halte selbst einen siegreichen Krieg für ein Mittel, welches zur Erreichung von Zwecken, die sich auch ohne einen solchen zweifellos erfüllen werden, von gewissenhaften Regierungen nicht angewendet werden sollte4o." Aus einem thomistischen Politikverständnis hat auch Dietrich von Bildebrand davor gewarnt, den Krieg als ein vernünftiges Mittel der politischen Auseinandersetzung anzusehen. Bezugspunkt seiner Auffassung ist die Überzeugung, daß jegliche Kriegsverherrlichung auf einem falschen Menschenbild basiert. Die Begeisterung für die kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Staaten sei keineswegs das Produkt einer realistischen Anthropologie, sondern sehe fälschlicherweise im Menschen ein Tier, das sich im Kampf ums Dasein zu bewähren habe. Auf diese Weise verkomme die Politik zur Kratologie, beherrsche der Darwinismus die Reflexion über den Staat. "Für eine Einstellung, die an Stelle des Rechtes Macht setzt, für die das Leben der Völker nur ein brutaler Kampf ums Dasein ist, ist es konsequent, den Krieg als normales Mittel der Lösung von Konflikten unter Völkern anzusehen41." In dieser falschen Anthropologie sei der wahre Grund für die mythische Überhöhung des Krieges zu sehen, die der legitimen Herrschaft des Rechtes die Anbetung der physischen Stärke eines Staates entgegensetzt. "Hier ist der Ausgangspunkt jener unseligen Kriegsromantik, die in Verherrlichung brutaler Kraftüberlegenheit endet und sich wie ein Nebel über die Erkenntnis der Notwendigkeit einer überstaatlichen Rechtsinstanz legt42." Bildebrand zufolge sollten die Schrecknisse des Ersten Weltkrieges Grund genug dafür sein, von jeglicher Kriegsverherrlichung Abstand zu nehmen. Gerade dieser Waffengang habe den Völkern die 39 Otto von Bismarck: Reden. Bearbeitet von Wilhelm Schüßler. Zwölfter Band. 1878- 1885. In: Die gesammelten Werke. Band 12. Berlin 1929, S. 488f. 40 Otto von Bismarck: Politische Schriften. Bearbeitet von Friedrich Thimme. 1869- 1871. In: Die gesammelten Werke. Band 6b, Berlin 1931, S. 264. 41 Dietrich von Hildebrand: Die sittlichen Grundlagen der Völkergemeinschaft. Regensburg 1946, S. 31. 42 Ebd., S. 34.
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Tatsache ins Bewußtsein gehoben, daß im technischen Zeitalter jeder Krieg sowohl bei den Siegern als auch bei den Besiegten irreparable psychische und physische Schäden verursacht. "Die furchtbare Mahnung war der Weltkrieg, dessen große Lehre der Erweis von der Untauglichkeit des Krieges als Mittel der Vertretung nationaler Interessen ist. Er hat gezeigt, wie es keine wirklichen Sieger und Besiegte im modernen Krieg mehr geben kann, wie alle Siege Pyrrhussiege sind, wie die durch den Krieg entstandenen Übel für jedes Land größer sind in materieller und vor allem kultureller und moralischer Hinsicht als die Vorteile durch den Sieg4a." Da die technische Entwicklung unaufhaltsam voranschreitet, werden künftige Kriege den Ersten Weltkrieg an Grausamkeit noch übertreffen. Aus diesem Grunde warnt Bildebrand seine Zeitgenossen davor, sich in der Zukunft kriegerischen Abenteuern anheimzugeben. "Die Physiognomie, die durch fortschreitende technische Entwicklung ein neuer Krieg aufweisen würde, erweist diesen Bankrott des Krieges auch als Mittel zur brutalen Austragung nationaler Konflikte44 ." Man darf allerdings die Bewertung des Krieges und des Friedens im konservativen Ideenkreis keineswegs ausschließlich von denjenigen Autoren aus bestimmen, die bei aller grundsätzlichen Bejahung der kriegerischen Auseinandersetzung jeden Waffengang letzten Endes doch als Unglück und Übel für die beteiligten Völker und Nationen betrachten. Die Besinnung darauf, wie der Konservatismus das Phänomen des Krieges bewertet, muß auch auf diejenigen Vertreter dieser Ordnungsvorstellung zu sprechen kommen, die den Krieg ohne Abstriche panegyrisch verherrlicht haben und alle Bemühungen um den Frieden zwischen den Nationen entsprechend abwertend beurteilen. Schon bei Joseph de Maistre tut sich eine Gesinnung kund, die dem Krieg nur positive Seiten abgewinnt. Dieser überzeugte Katholik45 und intransigente Gegner der Demokratie erweist sich als ein politischer Schriftsteller, in dessen Werken dem Krieg eine geradezu metaphysische Würde zukommt. Ganz im Gegensatz zur scholastischen Lehre über den Krieg schreibt er: "La guerre est ... divine en elle- meme, puisque c'est une loi du monde46. '' Dabei sei keine rationale Überlegung imstande, den Grund dieser Würde zu begreifen. Sie entziehe sich dem Zugriff des menschlichen Verstandes. "La guerre est divine dans ses resultats qui echappent absolument aux speculations de la raison humaine47." Mit Nachdruck verweist de Maistre darauf, Ebd., S. 39. u Ebd., S. 39f. 45 Vgl. dazu: Joseph de Maistre: Vom Papste. Zwei Bände. Aus dem Französischen. Hrsg. von Joseph Bernhart. München 1923. 46 Joseph de Maistre: Les soirees de Saint-Petersbourg ou entretiens sur le gouvernement temporel de la providence. Sixieme edition. Tome li. Lyon et Paris 1850, S. 33. 47 Ebd., S. 35. 43
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daß das in einer kriegerischen Auseinandersetzung vergossene Blut keineswegs umsonst geopfert wurde. "Qui pourrait douter que la mort trouvee dans les combats n'ait de grands privileges? et qui pourrait croire que les victimes de cet epouvantable jugement aient verse leur sangen vain?4B" Auch bei einigen führenden Vertretern der deutschen Romantik kristallisiert sich ein Kriegsbild heraus, das unmittelbar an die Auffassung de Maistres anschließt. Bei Adam Müller bleibt die uneingeschränkte Bejahung der kriegerischen Auseinandersetzung die konsequent eingehaltene ideologische Richtschnur, die im Vergleich mit de Maistre kein Jota an Begeisterungskraft verliert. Der Krieg emaniere keineswegs aus destruktiven Kräften, sondern stelle im Gegenteil eine notwendige Gelegenheit dar, dem staatlichen Gemeinwesen sowohl Würde als auch Zusammenhalt zu vermitteln. "Unter allen Bindungsmitteln der Staatsvereinigung ist der wahre Krieg das wirksamste und dauerhafteste, weil gemeinschaftliche Not und Tränen besser und fester binden als das Glück, weil alles Einzelne, was sich im Frieden verbergen und verheimlichen kann, nun notwendig öffentlich hervortreten und dem Ganzen hergegeben werden muß49." Der Krieg sei es, der alle atomistisch-individualistischen Staatstheorien negiere, ihren politikfremden Charakter offenbare. Er sei keineswegs aus dem Gegensatz zum Leben heraus geboren, sondern bezeichne im Gegenteil jene Kraft, die dem Staatsbürger den Gemeinschaftscharakter seiner nationalen Existenz augenfällig vor Augen führt. "In dem Kriege der National-Kraft gegen die National-Kraft ... wird das Wesentlichste und Schönste der National-Existenz, d. h. die Idee der Nation allen Interessenten ihres Schicksals vornehmlich klar; sie wird ergreiflich, persönlich, tritt allen, selbst den Geringsten, naheso." Der Krieg stellt den Ganzheitscharakter des politischen Gemeinwesens unter Beweis, beweist die artifizielle Natur der Staatsvertragstheorien. "Aus dem Standpunkte der Staaten sind Kriege die Bewegungen insonderheit, unter denen das politische Leben sich selbst erkennen und fühlen lernt, unter denen der Staat seiner abgesonderten Natur bewußt wird, das Ganze seine Kräfte vornehmlich erprüft, weil es sich selbst einem anderen solchen Ganzen gegenüber sieht5 1." Adam Müller ist konsequenterweise auch der Ansicht, daß ein langer Friedenszustand nachteilige Konsequenzen für den Staat zeitigt. Vor allem bestehe die Gefahr, daß die Bürger im Zustande des Friedens die positiven Wirkungen des Krieges aus dem Bewußtsein verlieren. "Das geistige Capital ... tritt im Kriege ... deutlicher an's Licht, als im Frieden. Daher ist ein langer Friedenszustand auch der Täuschung günstiger, daß dieses Element 48 49
Ebd., S. 33.
Adam Heinrich Müller: Die Elemente der Staatskunst. 1. Halbband. Hrsg. von
Jakob Baxa. Jena 1922, S. 80 (Die Herdflamme. Hrsg. von Othmar Spann. Band 1). 50 Ebd., S. 80f. 51 Ebd., S . 80.
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schon von selbst, durch bloßen guten Willen und das Privat-Interesse der Individuen da sey, und der Staat eigentlich nur die drei andem Elemente, physisches Capital, Land und Arbeit, in seine Obhut zu nehmen brauche52." Nicht zuletzt im Kriege würden sich die Bürger der Tatsache gewahr, in wie starkem Maße ein gedeihliches Gemeinwesen einer festen Führung bedarf. "Sobald aber ein Krieg ausbricht, fühlt alle Welt den Mangel: sie wissen ihn nicht deutlich zu denken; in unartikulierten Tönen rufen sie, indem sie den Staatskörper gewahr werden: der Kopf fehlt; es fehlt ein Kopf, ein großer intelligenter Kopf, an der Spitze53.'' Wie Adam Müller, so lenkt auch Radowitz den Blick seiner Zeitgenossen auf die einheitsstiftende Kraft des Krieges. Dabei vertritt er dezidiert die Auffassung, daß jegliche kriegerische Auseinandersetzung mit einem anderen Staat die oppositionellen Kräfte im Innem daran hindert, zerstörend wirken zu können. In dem Maße, in dem das Volk sich dem kriegerischen Handwerk zu widmen hat, enthält es sich der aufrührerischen binnenpolitischen Aktivitäten. Mit anderen Worten: Der Krieg inhibiert die Revolution. "Wird er von dem äußeren Gebiete hinweggewiesen, so entbrennt er auf dem inneren; an die Stelle des Krieges mit dem fremden tritt der Krieg mit dem inneren Gegner, die Revolution54." In dieser Perspektive ist es alleine während einer kriegerischen Auseinandersetzung möglich, "das blinde verderbliche Treiben der politischen Parteien"ss zu beenden und dem Staate jene innere Ruhe zu vermitteln, die er für eine gedeihliche Fortentwicklung seiner ökonomischen, politischen und kulturellen Kräfte nötig hat. Von der Warte des Konservativen Radowitz aus gesehen verhindert jede konsequente Ablehnung des Krieges, daß dem Bürgerkrieg ein Ende bereitet wird. Eine weniger pazifistische Haltung hätte vielen Völkem manches Unheil erspart. "Wer kann sagen, wie viele von jenen das Leben der Völker unendlich tief zerrüttenden inneren Kämpfen unterblieben wären, wenn nicht der äußere Krieg als das alleinige Übel angesehen und um jeden Preis beiseite geschoben worden wäres6." Der Glaube an die segensreichen Wirkungen der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Staaten läßt Radowitz sogar hoffen, daß in der Ebd., 2. Halbband, S. 46. Ebd. Auch die Wissenschaft vom Staate hat sich der Tatsache zu vergewissern, daß der Krieg ausgesprochen segensreiche Wirkungen zeitigt. "Der Staatsgelehrte kann demnach den Kriegszustand nicht außerhalb seiner Staatslehre, als etwas damit Unverträgliches und Unnatürliches, stehen lassen, sondern er soll machen, daß die ganze Lehre gänzlich von dem Gedanken des Krieges allgegenwärtig durchdrungen und beseelt werde. Nie soll er den Frieden ohne den Krieg, nie die Ruhe ohne die Bewegung darstellen" (ebd., 1. Halbband, S. 11). ~4 Radowitz' ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wilhelm Corvinus. Zweiter Band. Regensburg o.J., S. 452. Für Radowitz ist der Kampf mit den Waffen ... naturgemäß in dem Wesen des gefallenen Menschen begründet" (ebd.). 55 Ebd., S. 453. 56 Ebd. s2
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nahen Zukunft große kriegerische Verwicklungen die politische Szene Europas beherrschen werden. Von dieser Warte aus gesehen, wird jegliche kriegerische Aktivität als vorteilhafte Fügung für das europäische Staatensystem betrachtet. "Ich kann mich nicht entbrechen die Überzeugung zu hegen, daß, wenn es jetzt infolge der orientalischen Komplikationen (1840 geschrieben; J. B. M.) zum europäischen Kriege käme, dieses als ein wahres Glück anzusehen sei57." Überhaupt könne Europa nur dann zum inneren Frieden und zum Gleichgewicht finden, wenn es durch das reinigende Stahlbad eines Großkrieges gegangen sei. Derlei eher befremdliche Gedankengänge sind bei Radowitz keineswegs das Erzeugnis einer alogischen Phantastik, sondern Ausfluß durchaus rationaler Überlegungen. "Europa wird seine Neugestaltung erst am Ende eines welterschütternden Krieges finden. Nur dieser kann ... die partikularistische Selbstsucht brechen. Bis dahin leben wir nur in Provisorienss." Diese in Rede stehende ganzheitlich-antiindividualistische Analyse des Krieges ist auch für führende Repräsentanten des Konservatismus des 20. Jahrhunderts äußerst charakteristisch. Dabei wird von vielen Autoren das Kriegsgeschehen nun mit Hilfe vitalistisch-biologistischer Kategorien erschlossen. Der Krieg erscheint hier im Prisma des elan vital, dem keine noch so angestrengte rationale Überlegung sich in den Weg stellen kann und darf. Schon Max Scheler hat seine Kriegslehre einem biologistisch angelegten Ordnungssystem eingefügt. "Menschliche Züge wie der Krieg ... haben . . . eine vitale Wurzel ... Diese Wurzel ist aber für den Krieg ... das tiefere und dem Leben wesentlichere Prinzip ursprünglicher Machtsteigerung in Erweiterung und Umformung der Um- und Wirkenswelt der edleren und höhergearteten menschlichen Gruppen59." Im Krieg manifestiere sich das Prinzip des Lebens, seine unbändige Expansions- und Durchsetzungskraft. Scheler zufolge deszendiert der Krieg aus dem "dem individualistischen Prinzip übergeordneten Prinzip des Universalismus des Lebens"60. Nirgends ist Scheler weiter von dem entfernt, was als atomistische Betrachtungsweise figuriert, nirgends wird auch deutlicher, in wie starkem Maße die Kriegsverherrlichung Schelers der individualistischen Gesellschaftslehre an der Wurzel fremd ist. Bei ihm obsiegt die biologistische Staatsanalyse, die den Krieg als eine lebensnotwendige politische Einrichtung betrachtet, über die rationalistisch-mechanistische Staatsbetrachtung. Der Staat, der seiner 57 Ebd., S . 249f. ss Ebd., S. 453. 59 Max Scheler: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg. Leipzig 1915, S. 41. Dieses Prinzip verkörpert sich in der "Staatsbildung als der Bildung eines in allen Individuen identisch gemeinsamen, selbständigen, über alle Individualinteressen und -neigungen real erhabenen, die Zeitinteressen der Generationen real überdauernden Lebenswillen des Staatswesens und seiner vernünftigen Regelung" (ebd., s. 42). so Ebd., S. 42.
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Expansion durch kriegerische Mittel zugunsten lebensfremder pazifistischer Prinzipien abschwört, versündige sich an seiner eigenen raison d'etre. "Eben darum liegt aber auch Wachsen und Werden, liegt Machtsteigerung im Wesen des Staates selbst . .. Der nicht wachsende Staat, der Staat, der nur auf ,Erhaltung' seines Seins oder Soseins bedacht wäre, es wäre der tote, der erstarrte, der sein Wesen aufgebende,- der sinkende Staat. Alles Tote, Mechanische sucht sich nur zu ,erhalten' und gehorcht den bekannten mechanischen ,Erhaltungsprinzipien'; während Leben wächst oder niedergeht&!." Um seiner Einstellung zum Krieg Nachdruck zu verschaffen, beruft sich Max Scheler auf Heinrich von Treitschke. "Krieg ist ,Politik katexochen', wie Treitschke richtig sagt62." Auf einen genuin biologistischen Ton ist auch die Kriegsverherrlichung Othmar Spanns gerichtet. Auch für den Wiener Ganzheitstheoretiker ist es das Leben selbst, das den Krieg unvermeidlich macht. Auch bei Spann ist die kriegerische Auseinandersetzung mit der Existenz des Staates unmittelbar gegeben, emaniert aus seinen vitalen Ansprüchen. "Das Leben der Gemeinschaften quillt immer aus denselben letzten Tiefen der menschlichen Natur und kann sich mit keiner wirtschaftlichen, auch nicht der kapitalistischen Entwicklung, ändern&3." Der Krieg führt dem Gemeinwesen neue Kräfte zu, revitalisiert den staatlichen Körper. "Das Blut der gefallenen Krieger ist die feurige Arznei für die kreisenden Kräfte des staatlichen Organismus64." Dabei sei es nicht zuletzt der kulturelle Bereich, der von der kriegerischen Aktivität des Staates profitiert. "Kultur und Staat werden von unten herauf neu geboren. Tausendfältig sind die reinigenden und regenerierenden Wirkungen des Krieges, und die Geschichte zeigt, daß neue Kulturperioden immer innig mit großen Kriegen verknüpft gewesen sind&s." Das gemeinschaftliche Moment des Krieges, seine genuin antiindividualistische Natur, sollte Othmar Spann zufolge besonders die Sozialisten dazu veranlassen, eine weniger kriegerische Haltung an den Tag zu legen. "Ich Ebd. Ebd. 63 Othmar Spann: Zur Soziologie und Philosophie des Krieges. Vortrag, gehalten am 30. November 1912 im Verband Deutschvölkischer Akademiker zu Brünn. Berlin 1913, S. 19.- Ähnlich heißt es bei Oswald Spengler: "Das uralte Barbarentum, das Jahrhunderte lang unter der Formenstrenge einer hohen Kultur verborgen und gefesselt lag, wacht jetzt wieder auf, jetzt wo die Kultur vollendet ist und die Zivilisation begonnen hat, jene kriegerische gesunde Freude an der eigenen Kraft, welche das mit Literatur gesättigte Zeitalter des rationalistischen Denkens verachtet" (Jahre der Entscheidung. Erster Teil. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. München 1933, S. 12). 64 Ebd., S. 29. 65 Ebd. Vgl. dazu auch: .,Der Aufschwung vor und nach 1813 ist wohl das schönste Beispiel hierfür. Er hat die Romantik geboren, er hat die Philosophie von Fichte bis Regel mit allen ihren edlen Blüten in den Lehren von Schleiermacher, Krause, Schopenhauer und anderen hervorgebracht und, was das größte ist: zum wirklichen, lebendigen Bestandteil der nationalen Bildung gemacht" (ebd., S. 28f.). 61 62
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bestreite, daß die Sozialisten Grund hätten, Gegner jedes Krieges zu sein. Gerade sie nicht, deren Forderungen alle auf den Begriff eines antiindividualistischen, organischen Gemeinwesens gehen, für das sogar solidarisch organisierte Produktion verlangt wird66." Dabei weist Spann darauf hin, daß keineswegs der gesamte Sozialismus pazifistischen Ordnungsvorstellungen anhängt. Nicht zuletzt Ferdinand Lassalle habe immer eine Haltung gegenüber dem Krieg an den Tag gelegt, die auch Konservativen Respekt abnötige. "Lassalle war es, der jene individualistische Auffassung . .. verspottete. Lassalle hat daher auch vom Kriege eine richtige Vorstellung gehabt und, indem er den König von Preußen offen zum nationalen Einigungskampfe aufrief, auch einen streng nationalen Begriff der Staatsgemeinschaft aufgestellt6 7." Neben Lassalle komme auch Rodbertus das Verdienst zu, den Krieg nicht in pazifistischer Manier in Bausch und Bogen verdammt zu haben. Er habe sich durchaus als eine sozialistische Persönlichkeit erwiesen, die in national-ganzheitlichen Kategorien zu denken imstande war und den Krieg dementsprechend bejahte6s. Neben Othmar Spann war es Hans Freyer, der sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert aus konservativer Perspektive der Verherrlichung des Kriegsgeschehens verschrieben hat. Wie bei jenem, so wird auch bei diesem der Krieg in einem vitalistisch-antirationalen Horizonte ausgelegt. Auch Freyers Kriegsanalyse bezieht ihr Maß von der Auffassung, daß jeder Waffengang die biologischen Grundlagen des Staates überdeutlich ins Bewußtsein hebt. Dabei erinnere die unmittelbare Kriegsvorbereitung an die Entstehung des staatlichen Gemeinwesens. Freyer zufolge dient "der Aufmarsch eines Volkes zur Front als Sinnbild ... für die schwer begreifliche und sehr geheimnisvolle Geburt des Staates aus einer friedlichen Landschaft"69 • Darüber hinaus spiegeln sich auch in den Gesetzen des Krieges diejenigen der Polis wider. "Indem er den Staat auf die letzte Probe stellt, zeigt er nicht nur dem Freund und dem Feind die Intensität seiner Lebenskraft, sondern er enthüllt auch dem Nachdenklichen die Gesetze seiner Struktur7 o." Ebd., S. 34. Ebd. ss Ebd. 66
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69 Hans Freyer: Pallas Athene. Ethik des politischen Volkes. Jena 1935, S. 71. Zur Beurteilung des Krieges durch die Repräsentanten der Konservativen Revolution vgl. Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland. 1918- 1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen. Stuttgart 1950, S. 43ff. 70 Ebd., S. 68. Auch für Edgar Julius Jung hat sich der Gedanke an die dominierende Kraft des Krieges so in den Vordergrund geschoben, daß er ihn zum Vater auch der innenpolitischen Gesetze und Strukturen macht. Auch er geht davon aus, daß der Krieg die Existenzweise eines Volkes durchgehend bestimmt. "Die für Friedenszeiten gültige Form, in der ein Volk lebt, empfängt es im Kriege" (Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich. Zweite Auflage. Berlin 1930, S. 623). Im Kriege erweist sich nach Jung, "ob ein Staat gesund oder krank ist, ob seine Außenpolitik richtig oder falsch war" (ebd.).
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Eine Kriegsanalyse, die die blutige Auseinandersetzung zwischen den Völkern in einem vitalistischen Horizonte auslegt, kann auch kaum umhin, auf die Gesetze der Natur zu rekurrieren. Freyer zufolge haben wir im Kriegsgeschehen das Modell eines Vorganges vor uns, der seine Antriebe aus der Natur empfängt. "Die Geschöpfe der Natur sind auch schon mit Wehr und Waffen, mit Angriffslust und Widerstandskraft ausgestattet. Sie stechen, wenn sie geschlagen werden. Sie beißen, wenn man sie reizt. Und wenn sie von Raubtierart sind, gehen sie angriffsweise auf Beute. Der Staat ist weder ein zahmes Tier, das sich wehrt, noch ein wildes, das reißt71." Der Krieg emaniert aus den Gesetzmäßigkeiten, die sowohl in der Tier- als auch in der Menschenwelt am Werke sind. Im zeitgenössischen Konservatismus ist die in Rede stehende panegyrische Verherrlichung der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Völkern weitgehend verschwunden. Das kann allerdings keineswegs bedeuten, daß dem Krieg auf diese Weise ein negativer Bedeutungshof verliehen wird. In einer eher nüchternen Sprache wird der Krieg vom heutigen Konservatismus als zentrales Faktum des Politischen begriffen, das auch durch noch so angestrengte pazifistische Zukunftshoffnungen nicht aus der Welt geschafft werden kann. Ohne Anleihen bei der Lebensphilosophie zu nehmen und ohne mythische Erhöhung des kriegerischen Geschehens, stellt Julien Freund lakonisch fest: "Le fait est que la guerre est inherente au politique72." Wie schon die Repräsentanten des Konservatismus früherer Zeiten, so hält auch Freund dafür, daß der Akt der kriegerischen Auseinandersetzung mit der Existenzbegründung und Existenzerhellung staatlicher Gemeinwesen identisch ist. "La guerre est l'instrument par lequelles unites politiques se font et se defont, car toute guerre, en tant qu'elle est une manifestation de la puissance, est de conquete ou d'independance. Elle unit des unites politiques ou elle divise une unite politique: elle incorpore ou demembre73." Eine derartige Betrachtungsweise vermag im Krieg nichts Außergewöhnliches zu finden; für Freund ist er die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. "Qu'on le veuille ou non, l'hostilite et l'une des relations ordinaires et normales entre les Etats et sans elle un Etat ne saurait survivre74." In nahtloser Übereinstimmung mit den Konservativen früherer Zeiten ist auch Freund der Auffassung, daß der Kantsche Traum vom ewigen Frieden sich als Chimäre erwiesen hat. Die Kommerzialisierung der Welt habe den Krieg keineswegs unwahrscheinlicher gemacht, der Handelsmann den Soldaten mitnichten verdrängt. Handelsgeist und Krieg haben sich ganz im Gegensatz zum liberalen Lehrbuch zu einer äußerst fruchtbaren Kooperation zusammengefunden. "Le commerce et l'industrie, croyait71 72
73 74
Ebd., S. 84.
Julien Freund: L'essence du politique. Paris 1965, S. 611.
Ebd., S . 6llf. Ebd., S. 613.
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on, sont incompatibles avec la guerre ... L'economique n'est pasplus que le droit ou la religion un antidote capable d'eliminer la guerre75." Freund zufolge hat insbesondere die moderne polemologische Forschung gezeigt, in wie starkem Maße die konservative Auffassung über den Krieg gerechtfertigt ist. Sie habe augenfällig gemacht, wie sehr Krieg und Frieden in einem Verhältnis der wechselseitigen Verschränkung stehen. Im Lichte dieses Forschungszweiges werde klar, "daß der Frieden niemals von Konflikten, noch von Gewalt frei ist, sondern daß er sich durch gegenseitig anerkannte Regeln auszeichnet, die erlauben, unvermeidliche Konflikte zu regulieren und die Gewalt zu zähmen. Daraus geht hervor, daß ... der Frieden nicht friedlich an sich ist, sondern daß er vielmehr polemogen, d. h. die Quelle von Konflikten, sein kann76." Zu den Grundüberzeugungen heutiger konservativer Politiktheoretiker gehört die Auffassung, daß man der kriegerischen Auseinandersetzung vor allem im Zeitalter des Weltbürgerkrieges kaum ausweichen könne. Eine Weltordnung, deren konstitutives Prinzip die ideologische Spannung zwischen den Staaten ist, könne auch durch die Politik des Appeasement kaum friedlicher gestaltet werden. Jegliches feige Ausweichen müsse auf lange Sicht zu einer noch intensiveren kriegerischen Verwicklung führen. Insbesondere die jüngste Geschichte liefere zu diesem Punkt ein ausgesprochen reichhaltiges AnschauungsmateriaL Quintin Hogg zufolge haben insbesondere englische Politiker unter Beweis gestellt, daß gegenüber einem totalitären Gegner sich das friedensorientierte Zurückweichen keineswegs auszahle. "They loved peace and would not prepare for war. They hated war so much that they were not prepared until the very last momenttoset the great resources of this country in motion against wrong, and in the end they were compelled to ernhark on the greatest conflict in the history of the planet77." Die Angst vor einer kriegerischen Auseinandersetzung dürfe sich also keineswegs so mächtig ins Bewußtsein schieben, daß darüber der zu hohe Preis für das quietistische Verhalten vergessen werde. "Britain and France have paid a high price for weakness and internal division, for concessions to an enemy who considered policy but a continuation of war7B." Nicht nur die Engländer und Franzosen, auch die Amerikaner und Russen hätten allen Grund, außenpolitische Fehler der Vergangenheit zu überdenken. Die isolationistische Haltung der Amerikaner habe sich bitter gerächt. "Pearl Harbour was a high price to pay for America's withdrawal in 191979. " Auch der 75
76
Ebd., S. 605.
Julien Freund: Friedensforschung- Kriegsforschung. In: Klaus Hornung (Hrsg.):
Frieden ohne Utopie. Friedenspolitik statt Friedensillusionen. Krefeld 1983, S. 44 (Gegenwart und Zeitgeschichte, Band 8). 77 Quintin Hogg: The Left was never Right. London 1945, S. 214. 78 Ebd., S. 215. 79 Ebd.
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Sowjetunion sei ihre deutschfreundliche Politik schlecht belohnt worden. "Stalingrad was a high price to pay for Rapanoso." Wie Quintin Hogg, so behauptet auch Robert Ingrim, daß der uneingeschränkte Friedenswille der Westmächte letzten Endes zum Debakel des Zweiten Weltkrieges geführt habe. Mit dem feigen Ausweichen vor einer kriegerischen Auseinandersetzung habe man Hitler den Weg geebnet. "The war to end war, der allerletzte Krieg der Geschichte, war 1918 gewonnenwozu also stark bleiben? Die Absicht, von nun an auf die Schwäche der Besiegten statt auf die eigene Kraft zu bauen, hatte zur Voraussetzung, daß man sich auf das Andauern jener Schwäche verlassen könne81 ." Das Ergebnis der alliierten Politik war, "daß diejenigen, die mit der neuen Ordnung zufrieden waren, immer schwächer wurden, während die anderen, die mit ihr unzufrieden waren, immer mehr Kraft gewannen"82 • Ingrim schont bei seiner Kritik am englischen Verhalten gegenüber Hitler auch seine konservativen Gesinnungsfreunde nicht. "Stanley Baldwin, viele Jahre der unumschränkte Herr der Konservativen Partei, war ein Geschäftsmann, der Rüstungskosten vor allem als Bedrohung des Haushalts empfand, und dem das Gleichgewicht der Staatsrechnung viel wichtiger war als dasjenige Europas83. " Robert Ingrim zufolge konnte auch die alliierte Politik nach dem Zweiten Weltkrieg nur notdürftig ihr Mißtrauen gegenüber ihrer eigenen Stärke zügeln. Sie habe Wertungsgrundsätze erkennen lassen, bei denen eindeutig die liberale Friedensillusion Pate stand. "Den Fehler, den die Briten Hitler gegenüber begingen, wiederholten sie selbst, und in noch höherem Maße Franklin Roosevelt und seine Leute, im Verkehr mit Stalin. Auch da hielten sie normale außenpolitische Beziehungen mit einem totalitären Tyrannen für möglichs4." Im Zeitalter der atomaren Massenvernichtungswaffen hat die Frage, wie man die kriegerische Auseinandersetzung bewertet, eine neue, bisher unbekannte Qualität erhalten. Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte besteht die Möglichkeit, daß ein kriegerischer Disput zwischen den Staaten zur beiderseitigen totalen Vernichtung führt. Auch im Lager des konservativen Ideenkreises wurde diese neue Dimension der Kriegstechnik reflektiert. Weit davon entfernt, sich ins Lager der Pazifisten zu begegnen, sind die konservativen Kriegsanalytiker im Zeitalter der Atombombe dezidiert der Auffassung, daß nur der Besitz dieser Superwaffe imstande ist, einen nuklearen Krieg zu verhindern. William S. Schlamm schreibt: "Es gibt kein anderes Mittel, den absurden Krieg- absurd, weil er so völlig hoffnungslos wäre- zu Ebd. Robert Ingrim: Hitlers glücklichster Tag. London, am 18. Juni 1935. Stuttgart 1962, s. 17. 82 Ebd., S . 19f. 83 Ebd., S. 45. 84 Ebd., S. 278. 80
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vermeidens5." Die Atomwaffe muß Irving Kristol zufolge umsichtig und im vollen Bewußtsein der katastrophalen Folgen ihres Einsatzes in das strategische Kalkül der USA und ihrer Verbündeten einbezogen werden. Das wichtigste Ziel der Außenpolitik im Atomzeitalter sei die Verhinderung des Ernstfalles. "The fact that both the Soviet Union and the United States are nuclear superpowers means that allsuch risks have tobe weighed with great care, since in the nuclear era the avoidance of nuclear war is itself a major aim of foreign policy86." Allerdings macht Kristol in diesem Zusammenhang auch darauf aufmerksam, daß sich das Maß der amerikanischen Risikobereitschaft eindeutig von der sowjetischen bestimmt wird. Dabei würde ein substantielles Nachlassen der amerikanischen Risikobereitschaft den sicheren Sieg der Sowjetunion zur Folge haben. "But, as anyone instructed in game theory knows, the United States can only be as risk-averse as the Soviet Union. Should it be more so- as it has been within the framework of ,Containment'- then over time there would be a cumulative ,tilt' of world power in favor of the Soviets, as there has been87 ." Letzten Endes könne nur durch äußerste Entschlossenheit der Expansion des Kommunismus Einhalt geboten werden. Allein die feste Absicht, im Falle eines Angriffs auch zu den atomaren Waffen zu greifen, verhindere, daß der Kommunismus einen globalen Sieg davontragen wird. Der Wahrheitsgehalt dieser These ruht William S. Schlamm zufolge in der Gewißheit, daß allein diese zum Letzten entschlossene Kampfbereitschaft den Siegeszug des Kommunismus zu inhibieren in der Lage ist. "Aber der Westen, wenn er am Leben bleiben will, muß glaubhaft entschlossen sein, Krieg zu führen. Denn auf den Krieg bloß vorbereitet zu sein, ist nicht genug: Solange die Kommunisten annehmen dürfen, daß auch ein militärisch potenter Westen nicht nach den grauenhaften Kernwaffen greifen wird, ... solange wird der Triumphzug des Kommunismustrotz aller technischen Bereitschaft des Westens andauernss." Die heutigen Repräsentanten des konservativen Ideenkreises warnen überhaupt vor dem Fehlschluß, die Absenz der klassisch-kriegerischen Auseinandersetzung signalisiere die Heraufkunft eines friedlichen Zeitalters. Dabei machen sie auf die kaum zu leugnende Tatsache aufmerksam, daß die Kriege heutzutage in unterschiedlichster Form ausgetragen werden. GerdKlaus Kaltenbrunner zufolge ist heute zwischen dem Partisanenkrieg, dem Wirtschafts- und Propagandakrieg, dem terroristischen Krieg nichtstaatlicher Banden und dem kalten Krieg imperialer Supermächte zu unterscheidens9. In diesem Zusammenhang warnt Klaus Hornung davor, "von der 85 William S. Schlamm: Die Grenzen des Wunders. Ein Bericht über Deutschland. Zürich 1959, S. 186. 86 Irving Kristol: Foreign Policy in an Age of Ideology. In: The National Interest, Fall1985, S. 13. 87 Ebd. 88 William S. Schlamm: Die Grenzen des Wunders. S. 185.
2. Krieg und Frieden in konservativer Perspektive
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Undenkbarkeit des großen Kernwaffenkrieges auf die Unmöglichkeit bewaffneter Konflikte schlechthin "90 zu schließen. Die Existenz von Atomwaffen habe die Existenz kriegerischer Auseinandersetzungen keineswegs aus der Welt geschafft, die Atomparalyse uns keinen friedlichen Weltzustand beschert. "Wir sind vielmehr Zeugen nicht der Abschaffung des Krieges und kollektiver Konflikte, sondern ihres tiefgreifenden Wandlungsprozesses, der das revolutionäre Moment in ihnen immer stärker hervortreten läßt91 ." Wenn es ein Leitmotiv gibt, das die Absichten des sowjetischen Partizipanten dieses Krieges bündelt, dann ist es der Wille, die liberal-kapitalistische Ordnung unter allen Umständen zu stürzen und an deren Stelle eine kommunistische Diktatur zu setzen. Dabei wird konservativer Auffassung zufolge jeder revolutionär-politische Akt in einem antiliberalen Horizont ausgelegt. Von daher erkläre sich auch, daß es in diesem Kampfe keine Atempause gibt, daß jegliche politische Tätigkeit auf das Ziel ausgerichtet ist, dem Kommunismus zum Sieg zu verhelfen. In diesem Sinne schreibt James Burnham: "Die kommunistischen Fünften Kolonnen außerhalb der Sowjetgrenzen sind mitsamt ihren zugehörigen Verbündeten und Mitläufern Widerstandsarmeen, die mit allen typischen Mitteln des Widerstandes einen Widerstandskrieg führen: von sanfter Überredung bis zum unmittelbaren Terror und bis zu wirklichen Schlachten. Dieser Krieg wird fortwährend, Tag und Nacht, überall in der Welt geführt. Sein Ziel- die kommunistische Weltherrschaft- wird niemals aus den Augen verloren9 2 . " In diesem ideologisch motivierten Krieg, der zuvörderst auch ein Bürgerkrieg ist, geht es Klaus Hornung zufolge "nicht mehr vor allem um Landerwerb oder die Unversehrtheit des Territoriums, sondern um die Errichtung einer ideologisch-gesellschaftlichen Gegen-Ordnung gegen bestehende Gesellschaftsverhältnisse und die Gewinnung der Massen für jene gegen diese"93. Diese qualitative Änderung der kriegerischen Auseinandersetzung, die Entwicklung vom "inter-state-war zum intra-state-war, von der Gewaltanwendung zwischen Staaten und Regierungen zu solchen gegen Regierungen und bestehende gesellschaftliche Ordnungen"94 sei kaum mit den Topoi der liberalen Denktradition zu begreifen. Ein dem liberalen Denken verpflichteter Politikanalytiker ist Hornung zufolge kaum in der Lage, diesen essen89
Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Ratlos vor dem Feinde. In: Frieden ohne Utopie.
s. 132.
90 Klaus Hornung: Der Politisch-Revolutionäre Krieg der Gegenwart. Stuttgart und Harnburg 1980, S. 11. 91 Ebd., S . 12. 92 James Burnham: Die Strategie des Kalten Krieges. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 1950, S. 126. 93 Klaus Hornung: Der Politisch-Revolutionäre Krieg der Gegenwart. S. 13. 94 Ebd.
Il. Krieg und Frieden
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tiellen Wandel der kriegerischen Auseinandersetzung gebührend zu begreifen. "Das aus der liberalen Tradition stammende politische Denken der westlichen Demokratien hat es nicht leicht, der Neuartigkeit der ideologisierten und dadurch totalisierten Konfliktformen der Gegenwart und absehbaren Zukunft auf die Spur zu kommen9s." Ein Denken, das eher die Abschaffung des Krieges erwartet, wird sich kaum intensiv mit neuen Formen der Kriegführung beschäftigen. "Insbesondere das Theorem von der ,Unvereinbarkeit' ... von Krieg und Arbeit, kollektiver Gewalt und wissenschaftlich-technisch-industrieller Welt hat lange Zeit den Blick auf die neuen Konfliktformen verstellt96." 3. Konservatismus und Pazifismus
Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, daß es im Konservatismus, ganz im Gegensatz zum Liberalismus und zum Sozialismus, keine Parteigänger des Pazifismus gibt. Auch diejenigen Konservativen, die keineswegs in die Kriegsverherrlichung ihrer "Familienangehörigen" einstimmen, sind weit davon entfernt, die bellizistische Auseinandersetzung zwischen den Staaten grundsätzlich abzulehnen. Was sich in der Friedenssehnsucht der Pazifisten ausdrücke, rücke deren Wirklichkeitsfremdheit, ihre utopischen Ordnungsvorstellungen in ein bezeichnendes Licht. Nirgendwo trete diese Realitätsnegation schärfer hervor als in der politischen Anthropologie der Pazifisten. Gegen die überzogenen politischen Ho:(fnungen der Pazifisten empfehle sich ein nüchterner Blick in die anthropologischen Grundkonstanten. Diese wiesen auf die kaum zu leugnende Tatsache hin, daß der Mensch ein zum Kampfe geborenes und ein im Kampfe sich bewährendes Lebewesen ist. So schreibt Oswald Spengler: "Der Kampf ist die Urtatsache des Lebens, ist das Leben selbst97. " Diese kämpferische Natur des Menschen behaupte sich auch gegen die pazifistische Hoffnung, den agonalen Charakter des Menschen überwinden zu können9s. Max Scheler zufolge liegen dem Ausbruch eines Krieges seelische Spannungen zugrunde, die auch durch noch so pazifistische Vernunftappelle nicht zu inhibieren sind. "Auch so ungeläutert ist der Mensch noch, daß 95 96
Ebd., S. 15. Ebd.
97 Oswald Spengler: Jahre der Entscheidung. Erster Teil. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. München 1933, S. 14. Oswald Spengler ist der Ansicht, daß die Pazifisten recht eigentlich gegen die eigenen Grundsätze verstoßen. "Sie schreien: Nie wieder Krieg! -aber sie wollen den Klassenkampf ... Was haben sie je gegen die Schlächtereien der Bolschewisten einzuwenden gehabt?" (ebd.). Gerade der Pazifist wolle alle Gegner seiner Ideologie bekämpfen. Keinem Pazifisten sei es je gelungen, die Freude am Kampfe "in seiner Seele ganz auszurotten" (ebd.). 98 Ebd.
3. Konservatismus und Pazifismus
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immer noch lange Friedensperioden an sich, ohne besondere historische Ursachen, durch die unsublimierten Affekt- und Triebstauungen und Verdrängungen, die der Friede als solcher mit sich bringt, von selbst zum mindesten Kriegs-respektive Revolutionsneigungen erzeugen, die zwar nicht zu wirklichen Kriegen führen brauchen, aber bei der Entstehung von Kriegen doch als unterbewußte seelische Ursachen rythmischer Natur in Anschlag zu bringen sind99 ." Auf einen antipazifistisch-anthropologischen Ton ist auch die Pazifismusbewertung Othmar Spanns gestimmt. "Daher wird das soziologisch geschulte Denken niemals zu dem Ergebnis kommen, daß der Krieg jetzt und für absehbare Zeit entbehrlich werden könne. Denn es schaut hier Kräfte am Werke, die auch sonst das Leben der Menschen bestimmen und zugleich mit dem Wesen der menschlichen Natur, die neben die Liebe immer den Haß und neben die Demut immer das ursprüngliche Streben nach Selbstbehauptung und Herrschaft stellen wird, innig verknüpft isvoo." Diese agonalen Kräfte sind tief in der abendländischen Kulturentwicklung verwurzelt. Aus diesem Grunde gibt Max Scheler zu bedenken, daß der Pazifismus der okzidentalen Weltanschauung zutiefst widerspricht. Der pazifistische Politikentwurf liege "dem Wesen der positiven ethischen abendländischen Mentalität nicht. Erst wenn sich das Abendland zu Buddha bekehrte - etwas, was ganz ausgeschlossen ist - hätte er Konsequenz und Erfolg101 ." Zu den Argumenten, die von konservativer Seite aus gegen den Pazifismus ins Feld geführt werden, gehört auch die Behauptung, in seinem Denksystem gewinne das egoistische Moment die Oberhand gegenüber dem altruistischen. Auf diese Weise avanciere das Heil des eigenen Selbst zur ideologischen Richtschnur, das Schicksal des Nebenmenschen schrumpfe zur quantite negligeable. So schreibt Hans-Peter Schwarz: "Der heute begegnende Pazifismus .. . verbindet sich . . . im Regelfall mit einem Übermaß an höchst irdischem Eudämonismus, von Sicherheitsbesessenheit und von Angst vor dem Leiden - angeblich aus Mitgefühl für die anderen, in Wirklichkeit aber zuallererst aus Mitleid mit sich selbsvoz." Auch Robert Ingrim zufolge gewinnt der Pazifismus seine unmoralische Qualität durch seine prinzipielle Weigerung, vom Kriege bedrohten und durch ihn in Mitleidenschaft gezogenen Mitmenschen zu helfen. "Wer machtlos ist, muß wegschauen, wenn dem Nächsten Unrecht geschiehtl03." Schon für die Kreuzzeitung lag die Immoralität des Pazifismus vor allem in seiner Weigerung, die Menschen über die Tatsachen des politischen Lebens aufzuklären. Er Max Scheler: Die Idee des Friedens und der Pazifismus. Berlin 1931, S. 28. Othmar Spann: Zur Soziologie und Philosophie des Krieges. S. 15. 10 1 Max Scheler: Die Idee des Friedens und der Pazifismus. S. 37. 1o2 Hans-Peter Schwarz: Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit Zweite Auflage. Stuttgart 1985, S. 166. 1o3 Robert Ingrim: Hitlers glücklichster Tag. S. 45. 99
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versündige sich an der Gutgläubigkeit der Staatsbürger. "Die Friedensapostel in ihrer Pose als die uneigennützigsten Weltverbesserer treiben ein leichtfertiges Spiel, indem sie in alle Welt hinausposaunen, es gehöre nur ein wenig guter Wille dazu, um für immer von der Erde Uebel zu verbannen, die man bis dahin als ein unvermeidlich ewiges Erbteil der Menschheit angesehen hatl04 ." Unter dem dogmatischen Blick der Pazifisten werde eine Politiklehre entwickelt, die eindeutig gesinnungsethische Züge trage und alle verantwortungsethischen Bestimmungsmomente vermissen lasse. Ein rigider, auf das Ziel des Friedens ausgerichteter ethischer Monismus verhindere, daß konkurrierende Werte ins Blickfeld gelangen. An diesem Punkte gebe sich der Pazifismus als gelehriger Schüler des Liberalismus zu erkennen. James Burnham schreibt: "Der moderne Liberale neigt dazu, den Frieden für das höchste Gut zu halten, für einen höheren Wert als andere und sogar als alle anderen Werte der Gesellschaft . . . und für das höchste Ziel jeder Politiklos." Dagegen wisse der der Tradition und der Realität verpflichtete Konservative, daß in einem wirklichkeitsadäquaten Politikentwurf auch noch andere Werte respektiert werden müssen. Die konservative Perspektive sei gerichtet auf jene Form von vernünftiger Politik, in der der Friede sich als bestimmter Wert unter anderen zu behaupten hat. "Kein Konservativer wird den Frieden höher einstufen als alle anderen sozialen Werte; und wenige werden ihn höher als einige solcher Werte stellen106." Konservativer Auffassung zufolge wird derjenige, der seine politische Ordnungsvorstellung gesinnungsethisch alleine am Werte des Friedens ausrichtet, dabei auch der anderen Werte verlustig gehen. Nur der Wille zur kriegerischen Auseinandersetzung könne verhindern, daß eines Tages repressive Friedhofsruhe über dem ehemals freien Westen herrscht. In den USA war es vor allem Barry Goldwater, der sich gegen den in Rede stehen1o4 Neue Preußische Zeitung 12. November 1907. Letzten Endes stammt die pazifistische Einstellung Oswald Spengler zufolge "aus seelischer Unbeherrschtheit, aus persönlicher Schwäche, aus Mangel an Zucht durch die strenge alte Tradition" (Jahre der Entscheidung. S. 8). 105 James Burnham: Begeht der Westen Selbstmord? Ein Versuch über Bedeutung und Zukunft des Liberalismus. Aus dem Amerikanischen. Düsseldorf und Wien 1965, S. 207. 1os Ebd. An dieser in Rede stehenden Falschbeurteilung der ethischen Zentralwerte leidet H. L. Mencken zufolge vor allem der sog. Homo vulgaris. "What the common man longs for in this world, before and above all his other longings, is the simplest and most ignominious sort of peace - the peace of a trusty in a well - managed penitentiary. He is willing to sacrifice everything else to it. He puts it above bis dignity and he puts it above bis pride. Above all, he puts it above bis liberty" (Notes on Democracy. New York 1926, S. 148f.). Der vulgäre Mensch ziehe das sichere Leben einem freien allemal vor. "The truth isthat the common man's love of liberty, like bis love of sense, justice and truth, is almost wholly imaginary . . . He is not actually happy when free; he is uncomfortable, a bit alarmed, and intolerably lonely. He longs for the warm, reassuring smell of the herd, and is willing to take the herdsman with it" (ebd., S. 147).
3. Konservatismus und Pazifismus
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den gesinnungsethischen Wertemonismus der Pazifisten wandte. "Das Ziel der amerikanischen Politik ist natürlich die Erhaltung des Friedens, aber es wäre falsch, sich außer dem kein anderes Ziel zu setzen. Denn wir lehnen Frieden durch Kapitulation ab. Wir wollen einen Frieden in Freiheit und Gerechtigkeitl 07 ." Der Frieden müsse durch jenes Maß an Wehrbereitschaft gesichert werden, das jeden potentiellen Angreifer auf eine effiziente Weise abschreckt. "Wir wollen den Frieden: doch zuvor müssen wir die Bedingungen herstellen, die einen ertragbaren Frieden garantierenlos." Im Gegensatz zur pazifistischen Auffassung ist es Goldwater zufolge unmöglich, "durch eine bloße Proklamation den Krieg undenkbar" zu machen109 . Allerdings könne eine Politikordnung, deren führende Schichten vom Bazillus des Pazifismus befallen seien, kaum jene Kräfte entwickeln, die zu einer effizienten Abwehr einer äußeren Gefahr vonnöten ist. Aus diesem Grunde fühlt sich Norman Podhoretz zu der Frage legitimiert: "In welchem Grade rührte die Politik des Appeasement gegenüber Hitler, welche die britische Regierung in den dreißiger Jahren verfolgte, aus der Furcht her, daß eine Generation, die mit dem Pazifismus und der Verachtung des Lebens ihrer eigenen Gesellschaft aufgewachsen war, sich weigern oder unfähig sein werde, einem so mächtigen und selbstbewußten Feind wie Nazideutschland Widerstand zu leistenllO?" Die Beurteilung des englischen Pazifismus durch Norman Podhoretz wird auch von Helmut Schoeck geteilt. Auch er ist der Auffassung, daß die englischen "Friedensfreunde" recht eigentlich die Hitlersche Politik besorgten. "So wurde . . . die Peace Pledge Union Ende 1934 gegründet und hatte 1937 bereits 150 000 Mitglieder. Sie protestierten nicht nur gegen eine britische Aufrüstung, sondern auch gegen alle Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung im Falle von Luftangriffen. Viele Pazifisten wurden damals ... innerlich zu Skandinaviern und meinten, wenn England ein Land würde wie Dänemark, ließe Hitler es ganz sicherlich in Ruhe111 . " 107 Barry Goldwater: Das Gewissen eines Konservativen. Aus dem Amerikanischen. Göttingen o. J., S. 119. 1os Ebd., S. 121. 109 Ebd., S. 120. uo Norman Podhoretz: Der Riese taumelt. Amerika in der Bewährung. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart-Degerloch 1981, S. 102 f. m Helmut Schoeck: Die Pazifisten und ihre Lobby. In: Welt am Sonntag Nr. 43. 25. Oktober 1981. Helmut Schoeck ist auch der Auffassung, daß der englische Pazifismus denjenigen in den Rücken gefallen sei, die Hitler von seinen Kriegsabenteuern abbringen wollten. .,Vermutlich hat die ,Friedensbewegung' der dreißiger Jahre in England gerade denen die entscheidenden Argumente geraubt, die in Deutschland noch verzweifelt versuchten, Hitler den Krieg auszureden- wenn schon nicht aus moralischen Gründen, so doch wegen der Aussichtslosigkeit, ihn gegen die westlichen Demokratien gewinnen zu können" (ebd.). Schoeck warnt auch vor dem heutigen westlichen Pazifismus. Er wendet sich vor allem gegen die Auffassung, daß der Wehrdienstverweigerer "ein besserer, klügerer und mutigerer Mensch ist als der Wehrdienstleistende" (ebd.).
3 J. B. Müller
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II. Krieg und Frieden
Der latente und manifeste Pazifismus der westlichen Welt wird konservativer Auffassung zufolge nicht zuletzt durch die sowjetische Lehre von der friedlichen Koexistenz ermuntert und verstärkt. Nach Klaus Hornung wurde diese Lehre vor allem entwickelt, um die aggressiven Absichten der Sowjetunion besser verschleiern zu können. "Die lapidare Identifizierung der Position der Sowjetunion und des Sozialismus mit ,dem Frieden' wird nur verständlich, wenn man sich den ideologischen Kontext der Doktrin der Friedlichen Koexistenz innerhalb des Marxismus-Leninismus klarmacht. Danach ist es ,unumstößlich', daß auch die internationalen Beziehungen durch ihren ,Klassencharakter' bestimmt werden und- bis zum endgültigen Sieg des Sozialismus-Kommunismus- einen ,unablässigen Klassenkampf' im Weltmaßstab darstellenlll•." Die Lehre von der Friedlichen Koexistenz sei "Grundlage und wichtigstes ideologisch-theoretisches Instrument der Außenpolitik der Sowjetunion und des ,sozialistischen Weltsystems" im Dienst ihrer revolutionären Weltpolitikll 2 ." Mit ihrer Hilfe verfolge die Sowjetunion das Ziel, die Friedenssehnsucht der Völker in den Dienst ihrer Machtpolitik zu stellen. Es sei mit dem Ziel entworfen worden, "das Gewicht des sozialistischen Weltsystems zu steigern und dem Imperialismus Schritt für Schritt seine Positionen zu entreißen"ll3. Letzten Endes besteht die Hauptgefahr für die westliche Welt darin, ihrem indifferenten Pazifismus zum Opfer zu fallen und zur politischen und militärischen Beute ihrer ideologischen Gegner zu werden. William S. Schlamm schreibt: "Der Westen geht an seiner Friedensgier zugrunde ... Denn die ungeheuerlichste Essenz des Konfliktes zwischen dem Kommunismus und dem Westen ... ist es, daß der Kommunismus am Frieden gedeiht, Frieden will, im Frieden triumphiertll4.'' Zu den Ursachen, die die Verteidigungsbereitschaft des Westens untergraben, zählt für manche konservative Autoren auch der dem Friedensideal verpflichtete Geist des Christentums. William S. Schlamm geht an diesem Punkte sogar so weit, den Verteidigungswillen christlicher Staaten überhaupt in Frage zu stellen. Angesichts der starken Gravitationskraft des christlichen Friedensgebotes komme den soldatischen Tugenden im Denken der Christen nur eine untergeordnete Rolle zu. Auf diese Weise entpuppe sich das den Pazifismus nährende Christentum als Hauptfeind einer dezidierten Wehrbereitschaft. "Vielleicht wird es sich wirklich für eine christliche Zivilisation als unmöglich erweisen, eine Epoche zu überstehen, in der die Bereitschaft, einen Krieg nach dem anderen zu führen, die Voraussetzung des Überlebens ist115." Schon im Konservatismus früherer Zeiten ma Klaus Hornung: Der Politisch-Revolutionäre Krieg der Gegenwart. S. 80. Ebd., S. 81. 113 Ebd. 114 William S. Schlamm: Die Grenzen des Wunders. S. 185. 115 Ebd. 112
3. Konservatismus und Pazifismus
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wurde darauf hingewiesen, daß sich der Verteidigungswille eines Staates schwerlich mit dem Geist des Christentums vereinbaren lasse. So machte die Kreuzzeitung in einem ernsthaft praktizierten Christentum jenen Geist aus, der den staatlichen Wehrwillen an der Wurzel zu zerstören in der Lage ist. "Der ächte Christ, muß dahin streben, allen Egoismus von sich abzustreifen, während ein Staatsmann, welcher diesem Grundsatze namentlich in der äußeren Politik nachleben wollte, unweigerlich zu Grunde gehen würdell&." Während William S. Schlamm und die preußische Kreuzzeitung der Auffassung sind, daß der Geist des Christentums einer wehrhaften Außenpolitik diametral widerspicht, behaupten andere konservative Autoren, der Geist des Christentums konterkariere recht eigentlich den Pazifismus. Willmore Kendall geht sogar so weit, den Pazifismus als "christliche Häresie"ll7 zu bezeichnen. Der amerikanische Konservative ist dabei der Ansicht, der Pazifismus widerspreche hauptsächlich dem christlichen Liebesgebot. "Pacifism - though it appeals to the Christian doctrine of love - is the very negationofthat love, that is, a manifestation of a kind of self-love that is hostile to the very meaning and heart of Christianityns." Der Pazifist denke nur an sein eigenes Wohlergehen, übersehe aber die Existenzwünsche und Lebensansprüche seiner Mitmenschen. Kendall weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, daß sich gerade das Christentum der soldatischen Tat verdanke. Diese kaum zu leugnende Tatsache schließe sich dem historisch Interessierten vor allem dann auf, wenn er sich der Frühgeschichte des Christentums versichere. "Had Charles Martel not taken up the sword against the Mobammedan barbarians, the crescent and not the cross would have surely be planted where today there stands Notre Dame de Paris. Had Charlemagne not hurled back the Germanie pagans to the East, we might well be worshipping Odin and Thor and living in a forest of barbarism and blood. Had Don Juan of Austria not turned back the Turks at Lepanto, and bad not John Sobieski halted the Turks at Vienna, our civilization would have gone down in a twilight of the gods that would have left the world empty of decency and bereft of law119." Konservative Autoren machen auch darauf aufmerksam, daß eine minuziöse Textanalyse der Bibel eher zu Schlußfolgerungen führt, die dem Geiste des Antipazifismus verpflichtet sind. Bei Lichte besehen könne also keine Neue Preußische Zeitung Nr. 17. 21. Januar 1885. Willmore Kendall: The Conservative Affirmation. Chicago 1963, S. 126.- Schon Joseph Mausbach war der Auffassung, daß kein "Widerspruch zwischen der kampfesfrohen Ethik des nationalen Bewußtseins und der Religion des Friedens und der Liebe" besteht (Vom gerechten Kriege und seif!en Wirkungen. Zeitgemäße Gedanken. In: Hochland 12 (1914), S. 3). Gegenteilige Uberlegungen sind für ihn "peinliche Gedanken" (ebd.). Ähnlich schreibt: Hans Blüher: "Es ist antichristlich .. . einen Weltfrieden zu erstreben" (Die Erhebung Israels gegen die christlichen Güter. Harnburg und Berlin 1931, S. 41). us Ebd., S. 126. 119 Ebd., S. 136. 116 117
3*
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Rede davon sein, daß sich der Pazifismus auf die Bibel stützen könne. So schreibt Max Scheler: "Der Quäkerstandpunkt steht und fällt mit der Frage, ob der Dekalog auf staatlich kollektives Verhalten oder nur auf individuelles Verhalten bezogen wird. Zweifellos nur auf individuell-persönliches Verhalten. Im Alten Testament steht nicht ein Satz, der bezeugte, daß die vielen Kriege der Juden, die da erzählt werden, als gegen Moses' ,Du sollst nicht töten' empfunden worden wären. Der evangelische Satz richtet sich nur gegen den Gebrauch des Schwertes in Glaubensangelegenheiten (z.B. ,heiliger Krieg' usw.). Der Standpunkt der Quäker ist irrig auch, da er von einem extrem individualistischen Spiritualismus ausgeht, der weder dem wahren Zusammenhang von Geistperson und Leib, noch dem wahren Zusammenhang von Individuum und Gemeinschaft gerecht wirdl20." Auch Gerd-Klaus Kaltenbrunner teilt diese Auffassung Max Schelers. Ihm zufolge bezieht sich das christliche Liebesgebot eindeutig auf den privaten, nicht auf den öffentlichen Feind. Der militärische Aggressor könne sich niemals auf das biblische Gebot der Feindesliebe berufen. Dies gehe eindeutig aus einer genauen Sprachanalyse der Bibel hervor. "Es heißt: diligite inimicos vestros, nicht aber: diligite hostes vestros121." Dieser entscheidende Unterschied werde von den pazifistischen Bibelinterpreten geflissentlich übersehen. Das biblische Gebot der Feindesliebe beziehe sich nur auf den inimicos, niemals aber auf den hostis. Niemand verlange, den hostis, die als "gegen das eigene Gemeinwesen Krieg führende auswärtige Macht"l22, zu lieben. Recht eigentlich enthalte sich das biblische Gebot der Feindesliebe eines Urteils über den hostis. Es mute den Menschen keineswegs zu, "die Feinde des eigenen Volkes zu lieben oder gar tätig zu unterstützen"l23. Kaltenbrunnerweist zu Recht auch darauf hin, daß sich die Bibel keineswegs gegen das Soldatenturn richte. "Auffällig ist .. , daß weder das Evangelium noch die Apostelbriefe den Soldatenstand und das Kriegshandwerk verwerfen. An keiner Stelle wird die Welt des Militärs, die zur Zeit des Urchristentums in Gestalt der römischen Streitkräfte überall präsent war, als etwas Sündhaftes oder Teuflisches gebrandmarkt124." Nach Jacques 120 Max Scheler: Die Idee des Friedens und der Pazifismus. S. 36. Der Pazifismus sei recht eigentlich nur vom Buddhismus her zu legitimieren. "Konsequent ist der Stan9-punkt nur, wenn er gegründet ist in der Non-Resistenz überhaupt und gegen alle Ubel. Und die Nonresistenz ist nur richtig, wenn man mit Buddha annimmt, das Wirklichsein der Welt sei ein Übel: Omne ens est malum . . . Konsequent ist die Verweigerung des Kriegsdienstes nur, wenn sie mit jener ganzen Lebens- und Weltnegation Hand in Hand geht, die Buddha seine Mönche lehrte" (ebd., S. 35). 12 1 Gerd-Klaus Kaltenbrunner: Ratlos vor dem Feinde. In: Klaus Hornung (Hrsg.): Frieden ohne Utopie. S. 125. Vgl. dazu auch: "Inimicus (griechisch) ist der private Feind, der einem unsympathisch ist oder ungünstig gesinnt, mit dem man sich verzankt hat oder von dem man Nachteiliges befürchtet" (ebd., S. 125f.). 122 Ebd., S. 126. 123 Ebd.
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Maritain verpflichtet gerade ein christliches Politikverständnis den Soldaten, sich für den Frieden und die Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Das Christentum habe immer schon gewußt, daß der uneingeschränkte Pazifismus seinem Geiste widerspreche und daß dem Soldaten die Aufgabe zukomme, die christliche Wertewelt zu schützen. "Das Kreuz erstreckt seine Macht über das Geistige und von da auch über das Zeitliche. Das Schwert stellt seine Schärfe in den Dienst des Zeitlichen und auf dem Wege zu einer natürlichen Unterordnung auch in den Dienst des Geistigen. Das christliche Abendland, der Erbe des römischen Reiches und stark politischer Staaten, hat erkannt, daß auch um geistiger Zielewillen das Schwert und die fleischlichen Mittel angewendet werden können, freilich gernäss der Gerechtigkeit125." Ein konsequent pazifistisch handelnder Staat versündige sich eindeutig gegen das Gebot, seine eigene Existenz zu schützen, der internationalen Gerechtigkeit die ihr zukommende Unterstützung zu gewähren. "Die systematische Verweigerung des Militärdienstes, wie sie ,Kriegsgegner aus Überzeugung' üben, ist- neben der Tatsache, daß sie einer summarischen und mit Illusionen belasteten Ideologie entspringt- ohne tatsächliche Wirksamkeit gegen das Übel des Krieges und droht die Gemeinschaft im Falle eines gerechten Krieges in Gefahr zu bringenl26." Aus seinem christlichen Antipazifismus heraus kommt Jacques Maritain auch zu einer eindeutigen Ablehnung der politischen Methoden Mahatma Gandhis. So beeindruckend seine Persönlichkeit auf den ersten Blick erscheine, so skeptisch sei seine pazifistisch orientierte Staatsphilosophie zu bewerten. Bei Persönlichkeiten seiner ideologischen Provenienz bestehe die ernsthafte Gefahr, daß die Imperative der politischen Realität verkannt und einer rein gesinnungsethischen Interpretation des staatlichen Handeins das Wort geredet werde. "Gandhi hat keinen Sinn für den Staat, er scheint im Prinzip den Gebrauch der Zwangsmacht und aller äusseren und materiellen Mittel zu verurteilenl27." Die christlich-pazifistische Politikdoktrin verkenne auch, daß jede Nation das Recht und die Pflicht hat, für ihre eigene Existenzerhaltung Sorge zu 124 Ebd. Nirgends werde in der Bibel auch dazu aufgerufen, den Dienst an der Waffe zu verweigern. "An keiner Stelle wird im Sinne eines absoluten Pazifismus denen, die die Nachfolge Christi antreten, die Pflicht zur Wehrdienstverweigerung auferlegt" (ebd.). 125 Jacques Maritain: Gesellschaftsordnung und Freiheit. Aus dem Französischen. Luzern 1936, S. 119. 12s Ebd., S. 121, Fn. 2. 127 Ebd., S. 114. Winfried Martini wendet sich gegen die Auffassung, Gandhis "Prinzip der ,Gewaltlosigkeit' habe die Lösung Indiens von der britischen Herrschaft bewerkstellligt" (Der Irrtum des Pazifismus. In: Epoche. 15. Juni 1978. Heft 6, S. 34). England sei durch zwei Weltkriege zu erschöpft gewesen, um das Imperium aufrechterhalten zu können. "So vermochte der Mahatma, . . . nur eine sekundäre Rolle zu spielen, die Rolle dessen, welcher einen Apfel pflückt, der ohne sein Zutun herangereift ist" (ebd., S. 35).
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tragen. Immer wieder wurde im konservativen Ideenkreis darauf aufmerksam gemacht, in wie starkem Maße die Lehre des Christentums dem Existenzrecht des Staates Gehör verschaffe. Der englische Konservative Lord Hugh Cecil schreibt zu diesem Problemkomplex: "National greatness is in itself an object strictly consistent with Christian teachingl 2B." Jeder Nation sei die Pflicht auferlegt worden, ihre je eigenen Talente zu entfalten und damit ihrer geschichtlichen Bestimmung gerecht zu werden. "lt is the duty of a nation, even more clearly than of an individual, to use its talents and powers to the utmostl29." Allein selbstbewußte, von ihrer Macht überzeugte Staaten seien imstande, für eine gerechte internationale Ordnung zu sorgen, um auf diese Weise dem moralischen Credo des Christentums gerecht zu werden. "It is right for a nation to be great and to wish to be great, to resist diminution of power, and to organise that power so as to make it as effectual for good as it can be made ... To the extent of that dominion it must labour for the good of men, establishing order, keeping peace, doing justice129." Aus diesem Grunde ist jeder Politiker verpflichtet, gerade auch in der Außenpolitik den christlichen Sittenkodex zu beherzigen. "Conservatism must not shrink from the appeal to Christian morality. Its characteristic as a party ought tobe, in view as weil of its past as of its future, the readiness to apply a religious standard to politics. In foreign affairs, as at home, this should be its principle13°." Ein allzu direkter und naiver Rekurs auf die christliche Wertewelt birgt allerdings die Gefahr in sich, daß der politische Gegner falsch eingeschätzt wird. Besonders heute, wo es im Kampf zwischen den liberalen und illiberalen Systemen um das Überleben der freiheitlichen Politikordnung geht, wird dieser Aspekt in christlich-pazifistischen Kreisen zu sehr aus dem Blickfeld verdrängt. Zu denjenigen konservativen Autoren, die nicht müde werden, diesen Tatbestand immer wieder zu betonen, gehört die amerikanische Politologin und Diplomatin Jeane Kirkpatrick. Ihr zufolge droht bei einer unreflektierten Übernahme des christlichen Liebesgebotes auf die Außenpolitik die Gefahr, daß dem politischen Gegner Charaktereigenschaften und Absichten imputiert werden, die bar jeglichen Realitätsgehaltes sind. "Nowhere is the affinity of liberalism, Christianity, and Marxist socialism more apparent than among liberals who are ,duped' time after time into supporting ,liberators' who turn outtobe totalitarians, and among Left-leaning clerics whose attraction to a secular style of ,redemptive community' is stronger than their outrage at the hostility of socialist regimes to religion13 1." Vor allem viele Amerikaner seien in Gefahr, dieser WertekonfuLord Hugh Cecil: Conservatism. London o. J., S . 211. Ebd. 130 Ebd., S. 210f. 13 1 Jeane Kirkpatrick: Dictatorships and Double Standards. In: Commentary November 1979, S. 42. 12s 129
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sion zu unterliegen. Ihre falsche Optik verleite sie zu dem gravierenden Trugschluß, daß sich der kommunistische Gegner letzten Endes auf dieselben Werte berufe wie die westliche, vom Geist des Christentums bestimmte Welt. "Because it postulates goals that appeal to Christian as well as to secular values (brotherhood of man, eliminiation of power as a mode of human relations), it is highly congenial to many Americans at the symbolic level132." Es ist letzten Endes die konservative Skepsis und der konservative Pessimismus, die die Zukunftshoffnungen der Pazifisten als utopische Denkgebilde entlarven. Was die Kreuzzeitung zu Anfang dieses Jahrhunderts schrieb, wird auch von den Vertretern des zeitgenössischen Konservatismus vertreten. "Die Lehren der Geschichte, die doch immer noch die beste Lehrmeisterin bleibt, das Wesen der menschlichen Natur, die ewigen Gegensätze und Reibungsflächen, die sich mit unerbittlicher Konsequenz der Völker ergeben, werden von den Aposteln des ewigen Friedens einfach ignoriert, bewußt oder unbewußt, weil sie sich so schlecht mit ihren phantastischen Hirngespinsten in Einklang bringen lassen133." Im Lichte des historischen Erfahrungshorizontes sollte konservativer Auffassung zufolge endlich erkannt werden, daß die pazifistischen Hoffnungen kaum je erfüllt werden können. Max Scheler zufolge haben "diese apokalyptischen Hoffnungen vom ersten Christentum an bis ins Jahr 1000, bis zur täuferischen Bewegung, und schließlich bis zur Hoffnung auf den Zukunftsstaat ... die Menschheit getrogen" 134. Zu den von der Geschichte endgültig revidierten Zukunftserwartungen gehört auch die Auffassung, daß der zunehmende Einfluß des Volkes auf die Gestaltung der Außenpolitik friedlichere Verhältnisse bescheren wird. Es gehört ganz im Gegenteil zur Physiognomie der historischen Entwicklung der Neuzeit, daß Demokratien mindestens so bellizistisch sind wie autokratisch regierte Gemeinwesen. Robert Ingrim zufolge sei es einer der bedeutendsten Züge demokratischer Außenpolitik, daß sietrotzeines herzhaften Bekenntnisses zu einer friedlichen Beziehung zwischen den Völkern der kriegerischen Aggression einen so breiten Spielraum gewährt. "Die Meinung, daß ,das Volk' immer friedlich ist und friedlicher als ,Herrscher' klingt folgerichtig und überzeugend, ist aber nicht durch geschichtliche Erfahrung belegt135," Nur ein irregeleiteter Idealismus könne meinen, daß frühere nichtdemokratische Regime angriffsbereiter gewesen seien als 132 Ebd. Jeane Kirkpatrick attackiert in diesem Zusammenhang insbesondere Jimmy Carter. "Jimmy Carter - egalitarian, optimist, liberal, Christian ... is, par excellence, the kind of liberal most likely to confound revolution with idealism, change with progress, optimism with virtue" (ebd.). 133 Neue Preußische Zeitung. 12. November 1907. 134 Max Scheler: Die Idee des Friedens und der Pazifismus. S. 28. 135 Robert Ingrim: Von Talleyrand zu Molotow. Die Auflösung Europas. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 1951, S. 117.
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moderne demokratische. Eine derartige heuristische Scheuklappentaktik verkenne, daß es auch unter den illiberalen Herrschern früherer Zeiten Personen gegeben hat, die den Frieden dem Krieg vorgezogen haben. "Unter unumschränkten Monarchen hat es angriffslustige Männer gegeben, aber auch friedliebende, sogar Pazifisten136." Eine die agonalen Tendenzen in der moderendemokratischen Weltgesellschaft negierende Betrachtungsweise wird von konservativen Autoren auch denjenigen vorgeworfen, die in das moderne Völkerrecht quasipazifistische Bestimmungsmomente einschmuggelten. Ganz im Gegensatz zur heutigen UNO-Charta137 sei im klassischen Völkerrecht dem Krieg eine genau definierte Rolle zugewiesen worden. Dabei könne keine Rede davon sein, daß dieses ausgesprochen bellizistisch eingefärbt gewesen sei. Letzten Endes habe es seine konzeptionelle Mitte im Frieden und nicht im Krieg gefunden. Otto Kimminich zufolge "kann gesagt werden, daß der Krieg als Ausnahmezustand, der Friede aber als Normalzustand betrachtet wurde, der alsbald nach Beendigung der Kampfhandlungen wiederherzustellen war. Auf dieser Grundlage gelang es dem Völkerrecht, den Verkehr zwischen den Staaten mit unterschiedlichen Staats- und Regierungsformen zu ermöglichen, Sieger und Besiegte alsbald wieder als Gleichberechtigte am völkerrechtlichen Verkehr teilnehmen zu lassen, die Zivilbevölkerung im Kriege und nach dem Kriege zu schützen, ohne Rücksicht darauf, wer den Krieg begonnen und wer ihn verloren hatte138. " Leider habe man diese vernünftige und bewährte Dialektik zwischen Friedenszustand und kriegerischer Auseinandersetzung in einer höchst ideologischen Weise zugunsten des Friedens entspannt. Der Krieg, die Gewaltanwendung zwischen den Staaten, fiel nun der allgemeinen Ächtung anheim. "Jetzt aber bekennt sich das Völkerrecht ausdrücklich zu einem bestimmten Wert, nämlich zum Frieden, und macht seine Erhal136 Ebd., S . 117 f.- Melvin Small und David Singer haben nachgewiesen, daß demokratische Regime kaum weniger angriffsfreudig sind als illiberale. Sie schreiben: "Governments that are not freely elected have no monopoly on unnecessary and aggressive wars ... All governments democracies and autocracies alike, are prone to war" (The War-Proneness of Democratic Regimes, 1816- 1965. In: The Jerusalem Journal of International Relations 1 (1976), S. 50ff.). 137 Vgl. dazu Art. 2 Abs. 4: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt." 138 Otto Kimminich: Von der Bändigung des Krieges zum Postulat des Friedens. Wandlungen des Völkerrechts. In: Bereiten wir den falschen Frieden vor? Vom Gestaltwandel internationaler Konflikte. Hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner. München 1976, S. 70f. (Herderbücherei Initiative. Band 13). Vgl. dazu auch: "Das klassische Völkerrecht hatte keineswegs das Ziel, den Krieg als Mittel der internationalen Politik zu eliminieren. Es wollte ihn lediglich ,hegen', d.h. in seinen Wirkungen begrenzen und die durch ihn verursachten Leiden vermindern. Dies gelang in erstaunlich hohem Maße durch die Entwicklung des Neutralitätsrechts, des Kriegsführungsrechts {Kriegsaktionenrechts) und insbesondere des humanen Völkerrechts. Während sich die souveräne Entscheidung für den Krieg der rechtlichen Nachprüfung entzog, wurde die einzelne Kriegshandlung strengen Regeln unterworfen" (S. 63).
3. Konservatismus und Pazifismus
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tung zur- grundlegenden Pflicht aller Völkerrechtssubjektei39." Kimminich wirft denjenigen, die sich für eine grundsätzliche völkerrechtliche Ächtung des Krieges ausgesprochen haben, vor, die negativen Folgen ihres juristischen Schrittes zu wenig bedacht zu haben. Die neue Völkerrechtsnorm abstrahiere zu sehr von der politischen Realität, gehe von einem Bild des Zusammenlebens der Staaten aus, das sich höchstens in der politischen Utopie finde. Sie verkenne völlig, daß der Begriff des Friedens höchst unterschiedlich bestimmt wird. Was dem einen ideologischen Lager als Frieden erscheint, wird vom anderen als Krieg definiert und umgekehrt. Diese höchst unterschiedliche Interpretation dieses völkerrechtlichen Schlüsselbegriffs trage nicht gerade zu einer friedlicheren Zusammenarbeit zwischen den verfeindeten Bürgerkriegsparteien bei. Kimminich zufolge muß in dieser Situation das neue, allein auf den Frieden ausgerichtete Völkerrecht versagen. Es werde unweigerlich "den Zufälligkeiten der Interpretation dieses Wertes zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Situationen ausgeliefert"l40. Als besonders augenfälligen Beweis für seine Behauptung führt Kimminich die heutige Diskussion um den Gewaltbegriff an. Nicht wenige pazifistisch eingestellte Politikanalytiker seien der Auffassung, daß ein friedlicher Weltzustand erst nach dem Aufstand der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker möglich sein werde. Diese im Horizonte des klassischen Völkerrechts sinnwidrige Verkehrung der Begriffe habe zu einem Zustand geführt, in dem das linguistische Tohuwabohu nur noch durch das entsprechende politisch-juristische übertroffen werde. "Das alles . .. wird gerechtfertigt durch den Hinweis auf einen Friedensbegriff, der die gerechte Verteilung der materiellen Güter dieser Welt zur Grundlage hat. Die allgemeine Friedenspflicht, die das geltende Völkerrecht als Kehrseite des Kriegs- und Gewaltverbots zum Entstehen gebracht hat, wird dadurch umgemünzt in ein Recht der ,Unterdrückten und Unterprivilegierten', sich gegen die bestehende Ordnung auch mit Gewalt aufzulehnen, und ein Recht - womöglich sogar eine Pflicht - auswärtiger Mächte, solche Befreiungskämpfe auch von außen her zu unterstützen. Alle Instrumente, mit denen das klassische Völkerrecht den Krieg eindämmte, darunter das Interventionsverbot und die Neutralität, drohen verlorenzugehen141." Dabei sei es insbesondere die UNO, deren negativer Vorbildscharakter pointiert ins Gewicht falle. Schon heute gebe es "Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die das Gewaltverbot relativieren" 142. 139 Ebd., S. 71. Vgl. dazu auch: "Die Entwicklung geht vom partiellen Kriegsverbot der Völkerbundsatzung über das generelle Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Paktes bis zum generellen Gewaltverbot der UNO-Satzung. Vom Recht der Staaten zum Kriege ist somit nichts übriggeblieben; an die Stelle der Kriegsfreiheit ist das Kriegsverbot getreten" (S. 66f.). 140 Ebd., S. 71. 141 Ebd., S. 68. 142 Ebd., S. 67. Wenn es Kimminich zufolge nicht gelingt, die gesamte Menschheit auf einen einheitlichen Friedensbegriff zu verpflichten, droht die internationale
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li. Krieg und Frieden
Ins kritische Visier der konservativen Pazifismusgegner geraten und gerieten nicht zuletzt diejenigen Organisationen, die sich der Propagierung des pazifistischen Gedankens verschrieben haben. Im "Politischen Handwörterbuch" der Deutschnationalen Volkspartei heißt es: "Der von den deutschen Pazifisten verfochtene Pazifismus hat seit Jahr und Tag dazu beigetragen, unser Volk seelisch zu zermürben und seinen Abwehrwillen während des Krieges sowohl wie auch nach dem Kriege zu zersetzenl43." Insbesondere die "Deutsche Friedensgesellschaft" und die ihr nahestehenden Organisationen seien bereit, die Existenzbedürfnisse der deutschen Nation in den Wind zu schlagen. Sie ließen Wertungsgrundsätze erkennen, bei denen unverkennbar kosmopolitische Haltungen Pate gestanden haben. In ihren Schriften präsentiere sich eine Gesinnung, deren moralische Verworfenheit nur noch durch die utopischen Hoffnungen dieser Gruppen überboten werde. "Die deutschen Pazifisten sind stets bereit, Lebensfragen der Nation hinter pazifistische Ziele zurückzustellen, nationale Lebensnotwendigkeiten des eigenen Volkes zu verleugnen und sogar die Partei des Feindbundes gegen das eigene Volk zu ergreifen144." Heutzutage geht es konservativen Autoren nicht zuletzt auch darum, die sogenannte "Friedensforschung" ins kritische Visier zu nehmen. Julien Freund wirft diesem Wissenschaftszweig vor, seine politischen Postulate über die wissenschaftliche Redlichkeit zu stellen. "Es handelt sich . . . nicht mehr darum, die empirischen Bedingungen politischer, religiöser, wirtschaftlicher und anderer Ordnung zu analysieren, sondern ein Idealbild des Friedens zu entwerfen, wobei alles, was nicht seinem inneren Wesen nach friedlich erscheint, verworfen wird145." Auf diese Weise werde der "Bereich der Forschung verlassen und schließlich ein subjektiv-persönliches Ideal vom Frieden als Ziel einer praktischen Aktion verkündet"146. Durch diese Verwechslung von kritischer Analyse und ethischer Normativität sei es der Anarchie. "Das ist in der Tat die Schicksalsfrage nicht nur des Völkerrechts, sondern der ganzen Menschheit: entweder gelingt es, den Frieden als Wert im Bewußtsein der Menschen so tief zu verankern, daß die zum Frieden verpflichtende Grundnorm des Völkerrechts ihre normative Kraft voll entfaltet, oder die Menschheit versinkt im Chaos der Gewalt, wobei es gleichgültig bleibt, ob es sich um innere oder äußere, strukturelle oder personale Gewalt, um nuklearen oder konventionellen Krieg, um internationalen oder Weltbürgerkrieg handelt" (ebd., S. 71). 143 Politisches Handwörterbuch (Führer-ABC). Hrsg. von M. Weiß, Berlin 1928, s. 565. 144 Ebd. Vgl. dazu auch: "Die Iandesverräterische Hetze gegen die deutsche Reichswehr und die nationalen Verbände ist zum größten Teil das Werk der ,Deutschen Friedensgesellschaft"' (ebd., S. 222). · 145 Julien Freund: Friedensforschung-Kriegsforschung. In: Klaus Hornung (Hrsg.): Frieden ohne Utopie. S. 36. 146 Ebd. Auch Friedrich Tenbruck wirft der Friedensforschung vor, den Bereich der streng wissenschaftlichen Forschung verlassen zu haben. "Der Glaube an die Wissenschaft ist ernüchtert, nun muß der Glaube in der Wissenschaft selbst Platz haben" (Frieden durch Friedensforschung? In: Manfred Funke (Hrsg.): FriedensforschungEntscheidungshilfe gegen Gewalt. München 1975, S. 434).
4. Der Konservatismus der "realistischen" Schule
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Friedensforschung weitgehend gelungen, die Realität des Krieges zu verleugnen. Die Ergebnisse der Friedensforschung fallen Julien Freund zufolge nicht zuletzt deswegen auch so wirklichkeitsfremd aus, weil sie sich letzten Endes einer geschichtsnegierenden, utopischen Zukunftsvision verschrieben haben. "Der Experte für Friedensforschung wird leicht zum Futurologen ... Er projektiert sein Ideal von Frieden in eine Zukunftsgesellschaft, die er im allgemeinen auf der Grundlage einer harmonischen und mustergültigen Gesellschaft gründet, die von allen Widersprüchen, Fesseln und Widerständen befreit ist, welche die wirklichen und historischen Gesellschaften kennzeichnen147." Zu den Argumenten, die gegen die sog. kritische Friedensforschung ins Feld geführt werden, gehört auch die Behauptung, daß diese sich in einem unzulässigen Maße in den Dienst der ökonomischen Politikerklärung stellt. So werde das außenpolitische Verhalten der USA nicht zuletzt deswegen als notwendigerweise aggressiv bezeichnet, weil dieses Land eine kapitalistische Wirtschaftsstruktur aufweise. Dagegen werde davon ausgegangen, daß die sozialistische Sowjetunion eine friedliche Außenpolitik betreibe. Klaus Hornung schreibt in diesem Zusammenhang: "So werden im Ansatz bereits die expansiven Ziele der sowjetischen Politik und die Tatsachen und Methoden des marxistisch-leninistischen politisch-psychologisch-revolutionären Krieges tabuisiert1 4B." Die eindimensionale Ursachenanalyse der Friedensforschung übersehe jedoch, daß sowohl die Innen- also auch die Außenpolitik eines Landes ökonomisch allein nicht zu erklären ist. "Es müssen also doch wohl durchaus noch andere und wesentlichere Faktoren hinzutreten, wie geographische Lage, historische Entwicklung oder politische Kultur, Faktoren also, die sich keineswegs auf die ,sozioökonomischen Strukturen' reduzieren lassenl49." 4. Der Konservatismus der "realistischen" Schule der internationalen Politik
Alle konservativen Analytiker der internationalen Beziehungen weisen ihre ideologischen Gegner darauf hin, daß ihre Auffassung des ProblemEbd., S. 37. Klaus Hornung: Einführung des Herausgebers zu Frieden ohne Utopie. S. 13. 149 Klaus Hornung: Friedensideologie als Instrument der Feindbestimmung. In: Frieden ohne Utopie. S. 140f. Von konservativer Seite wird gegen die Friedensforschung auch ins Feld geführt, daß sie selber keineswegs von einem friedlichen Geiste beseelt sei. Sie gebrauche Mittel, denen man das Prädikat friedlich versagen müsse. Julien Freund zufolge bediene sie sich oft der "Gewalt oder Erpressung ... um ihre begrenzten und manchmal willkürlichen Ansichten gegen den Widerstand jener, die sich ein anderes Bild vom Frieden machen, durchzusetzen" (Friedensforschung Kriegsforschung. S. 45). Darüber hinaus würden sich die Pazifisten auch unter sich sehr stark bekämpfen, "weil sie sich auf verschiedene Vorstellungen von Frieden berufen" (ebd.). 147 148
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II. Krieg und Frieden
komplexes Krieg und Frieden ungleich illusionsloser und deshalb wirklichkeitsadäquater die Fakten zur Kenntnis nimmt, als dies bei den Repräsentanten des Sozialismus und des Liberalismus der Fall ist. Aus diesem Grunde ist die Frage durchaus berechtigt, ob die sog. "realistische" Schule der Außenpolitik in die Nähe des konservativen Ideenkreises gerückt werden kann und darf. Schon ihr Rekurs auf den Machtbegriff150 zeigt, daß die realistische Schule genuin konservative Bestimmungsmomente aufweist. Diese "affinity between conservatism and realism"151 wird vor allem augenfällig, wenn Georg Schwarzenhergers Bestimmung des Begriffes Machtpolitik analysiert wird. Ihm zufolge kann "Machtpolitik ... definiert werden als ein System zwischenstaatlicher Beziehungen, in dem die einzelnen Gruppen sich jeweils als Endzweck betrachten, in dem sie, zumindest bei entscheidenden Fragen, rücksichtslos ihre wirksamsten Mittel einsetzen und in dem ihre Bewertung sich nach ihrer Bedeutung im Konfliktfalle richtet" 152. In diesem Kampf um außenpolitischen Einfluß gilt grundsätzlich jede Handlung, die der Machterhaltung und der Machtausdehnung des jeweiligen Staates dient, als gerechtfertigt. Die Position eines bestimmten Staates im internationalen Konzert bestimmt sich realistischer Auffassung zufolge nach seiner Fähigkeit, sich in einem Konflikt gegenüber seinen Gegnern durchsetzen zu können. "Der Platz einer Gruppe innerhalb der internationalen Hierarchie hängt von ihrem Gewicht im Fall eines möglichen oder tatsächlichen Konflikts ab 153." Um seine Position halten bzw. ausbauen zu können, stehen einem bestimmten Staate die verschiedensten Mittel zur Verfügung. "Machtpolitik kennzeichnet ... ein System zwischenstaatlicher Beziehungen, für das bestimmte Verhaltensweisen typisch sind: Rüstung, Isolationismus, Anwendung diplomatischer und wirtschaftlicher Druckmittel, regional begrenzter bzw. universaler Imperialismus, Bündnissysteme, Gleichgewichtssysteme und Krieg154." Auch nach Morgenthau steht die internationale Politik im Zeichen der Anstrengung, Macht auszuüben und die Einflußzonen auszudehnen. "International politics ... is a struggle for power1ss." 150 Hans J. Morgenthau schreibt: "The truth of political science is the truth about power, its manifestations, its configurations, its limitations, its implications, its laws" (The Nature and Limitsofa Theory of International Relations. In: Die Lehre von den Internationalen Beziehungen. Hrsg. von Ernst-Otto Czempiel. Darmstadt 1969, S. 70). 151 Owen Harris: Neonconservatism and Realpolitik. In: The National Interest 1 (1985), s. 124.
152 Georg Schwarzenberger: Machtpolitik. Eine Studie über die internationale Gesellschaft. Aus dem Amerikanischen. Tübingen 1955, S. 9. 153 Ebd. Vgl. dazu auch Edward Hallett Carr: The Twenty Years' Crisis. 1919 1939. An Introduction to the Study of International Relations. London 1949, S. 102 ff. 154 Ebd. 155 Hans J. Morgenthau: Politics among Nations. New York 1948, S. 13.
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Zu den wichtigsten Topoi der realistischen Denkschule gehört auch die Behauptung, daß ethische Postulate vor allem bei der Formulierung außenpolitischer Ordnungsvorstellungen dazu dienen, die eigenen Machtinteressen zu verschleiern. Besonders auch in diesem Punkte zeigt sich eine genuin konservative Skepsis gegenüber all denjenigen Politikinterpretationen, die auf die Frage des Cui bono glauben verzichten zu können. Ganz im Sinne dieser skeptischen Einstellung behauptet Morgenthau: "Moral values ... become an intrinsic element of the very interests that power seeks ... Morality serves interests and power as their ideological justification156. " Alle Arbeiten der Repräsentanten der realistischen Schule artikulieren lautstark auch ein tiefes Unbehagen gegenüber jener Politikbetrachtung, die sie die idealistische nennen. Wenn es der Zweck der politologischen Analyse sei, die Machtstrukturen des politischen Entscheidungsprozesses zu erkennen, so erwiesen sich die Idealisten als durchweg ungeeignet, diesem Postulat Genüge zu tun. Sie seien auf Grund ihrer falschen Prämissen unfähig, eine wirklichkeitsadäquate Beschreibung und Interpretation der Machtpolitik zu liefern. "Politischer Idealismus . .. ist für jene Art des politischen Denkens charakteristisch, das die aus dem Sicherheits- und Machtdilemma erwachsenden Probleme entweder gar nicht erkennt oder sie nur als unwesentlich ansieht157." Beim Idealisten und seiner Politikanalyse sei nicht die Authenzität der Fakten das oberste Gesetz seines Tuns, seine intellektuelle Arbeit werde gelenkt durch seinen Willen, der Wirklichkeit mit seinen ethischen Gegenentwürfen zu begegnen. "Im Gegensatz zum politischen Realismus gibt er sich nicht damit zufrieden, die ... politischen Erscheinungen zu untersuchen. Ethische Erwägungen treten hinzu, die von dem Gefühl der Schuld und des ,schlechten Gewissens' herrühren, das durch das Leben und den Kampf ums Dasein entstehtl58." Es sind gerade diese ethischen Leitvorstellungen, die den Idealisten davon abhalten, den Tatsachen der Wirklichkeit jene Würde zuzugestehen, die ihnen auf Grund ihrer schieren Existenz gebührt. "Sie hindern den politischen Idealisten daran, sich mit einer bloßen Analyse so oder so aussehender Fakten zufriedenzugeben. Ein mehr oder 156 Hans J. Morgenthau: The Nature and Limits of a Theory of International Relations. S. 76. Dabei seien es vor allem die Supermächte, die ihr Machtinteresse moralisch verbrämen. "The most powerful nations have found it hard toresist that temptation" (ebd., S. 77). Schwarzenberger zufolge wird dem außenpolitischen Gegner auch amoralisches Verhalten vorgeworfen, während das eigene grundsätzlich mit den Vorschriften der internationalen Ethik in Übereinstimung steht. "Nur wenige Staatsmänner würden zugeben, daß ihr eigenes Land verschleierte Machtpolitik betreibt. Um so größere Einigkeit besteht dafür innerhalb des eigenen Lagers, daß die andere Seite in dieser Hinsicht keine Skrupel kennt" (Machtpolitik. S. 397). 157 John H. Herz: Politischer Realismus und politischer Idealismus. Eine Untersuchung von Theorie und Wirklichkeit. Aus dem Amerikanischen. Meisenheim am Glan 1959, s. 33. 158 Ebd., S. 46 f.
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weniger bewußtes Gefühl, daß ,es so nicht sein sollte', treibtihn dazu, ein Bild der menschlichen Beziehungen zu entwerfen, die nicht auf den ,egoistischen' Instinkten und der daraus resultierenden ,Machtpolitik' von Individuen und Gruppen beruhen, sondern auf Erwägungen, die über die bloße Selbsterhaltung, das bloße Selbstinteresse hinausgehen159." Die Repräsentanten der realistischen Schule des außenpolitischen Denkens sind nicht nur wegen ihrer machtorientierten Politikanalyse in die Nähe des konservativen Ideenkreises zu rücken; auch ihre fortschrittsfeindliche Anthropologie weist sie als Politologen aus, die dem Konservatismus Tribut zollen. Die realistische Politikanalyse geriet geradezu zum Lehrstück einer konservativen Geschichts- und Politikauffassung, die den Glauben an einen unaufhaltsamen Fortschritt in Kultur, Staat und Gesellschaft vehement zurückweist. Ganz im Kontrapunkt zur Aufklärung sind die Repräsentanten der realistischen Schule der Auffassung, der Mensch sei ein nur begrenzt zu vervollkommnendes Wesen. Für Reinhold Niebuhr ist die "Selbstsucht der Menschen und der Nationen eine feste Größe" 16°. Dezidiert verwirft dieser amerikanische Theologe und Politologe den Gedanken, daß "die Entwicklung der rationalen Fähigkeiten ... ein Vorgang allmählicher Befreiung vom Bösen" 161 sei. Für ihn ist es ein gravierender Irrtum, "die wachsende Freiheit mit der wachsenden Tugend gleichzusetzen"162. Es sei gerade diese illegitime Ineinssetzung, die die "falsche Beurteilung der Geschichte" 163 evoziere. Niebuhr zufolge widerspricht es aller historischen Erfahrung, die auf dem Egoismus der einzelnen Nationen beruhenden Spannungen als Relikt einer überwundenen Zeit zu begreifen. Allein ein wirklichkeitsfremder Geschichtsoptimismus könne die Auffassung vertreten, daß die Entwicklung der internationalen Beziehungen in naher Zukunft friedliche Verhältnisse bescheren wird. Es sei mehr als naiv, auf die Überwindung kriegsbestimmter, sogenannter barbarischer Zeiten zu hoffen. Niebuhr verwirft die Auffassung, die den "individuellen und kollektiven Egoismus . .. für die Folgeerscheinung einer primitiven Unwissenheit"164 hält, die letzten Endes "den aufgeklärteren und deshalb umfassenderen Formen des Eigennutzes" zu weichen habe1ss. Der realistische Analytiker der Weltpolitik wird Niebuhr zufolge zu der wenig erfreulichen Feststellung gelangen müssen, daß das nationale Eigen159
Ebd., S . 97.
160 Reinhold Niebuhr: Glaube und Geschichte (Faith and History). Eine Auseinan-
dersetzung zwischen christlichen und modernen Geschichtsauffassungen. Aus dem Amerikanischen. München 1951, S. 122. 161 Ebd., S. 116. 162 Ebd., S. 117. 163 Ebd. 164 Ebd., S. 116. 165 Ebd.
4. Der Konservatismus der "realistischen" Schule
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interesseund seine durchaus negativen Folgen kaum aus der Welt zu schaffen sind. "Diese negative Form des nationalen Egoismus ... wird . .. eine Versuchung für die Großmächte bleiben, wie wenig sie auch mit den letzten Notwendigkeiten der Weltgemeinschaft zu vereinbaren isvss." Nicht nur seine Machtanalyse und seine pessimistische Anthropologie weisen den außenpolitischen Realismus als eine genuin konservative Denkrichtung aus; auch die Tatsache, daß die Repräsentanten ausgesprochen konservative Politiker zu ihren ideologischen Leitfiguren zählen, bestätigt diesen Sachverhalt. Auf der Suche nach historischen Gestalten, die in gleicher Weise als typische Repräsentanten der realistischen Schule und als Konservative anzusprechen sind, kommt George Liska zu der Schlußfolgerung, daß in diesem Zusammenhang Metternich, Bismarck und Salisbury erwähnt werden müssen und können. Er bezeichnet diese genuin konservativen Staatsmänner als "the great historical realists of modern statecraft"167. Auch Reinhold Niebuhr zufolge haben insbesondere konservative Persönlichkeiten unter Beweis gestellt, in wie starkem Maße sie zu einer realistisch geprägten, d. h. vernünftigen Außenpolitik imstande waren und sind. Das augenfälligste Beispiel hierfür sei der englische Premierminister Winston Churchill. Dieser zutiefst im englischen Konservatismus verwurzelte Politiker habe wie kaum ein anderer realistische Politikanalyse und konservative Politikpraxis zu verbinden gewußt. Auf diese Weise sei es ihm gelungen, das vom Nationalsozialismus ausgehende Unheil von seinem Lande abzuwenden. "Als England der großen Gefahr gegenüberstand, rief es Churchill ans Steuer, den Träger einer älteren aristokratischen Tradition16B." Dieser Tory habe alle deutschen Versuche zurückgewiesen, die auf einen Modus vivendi zwischen dem sog. Dritten Reich und dem Inselstaat abzielten. Aus seiner konservativen Grundüberzeugung heraus habe er erkannt, daß eine eschatologisch ausgerichtete Bewegung wie der Nationalsozialismus kaum durch Handelsgeschäfte einzudämmen war. Er habe es weit unter seiner nationalen Ehre angesehen, sein Vaterland mit dem Blick auf den Kurszettel und die Außenhandelsbilanz verteidigen zu wollen. Niebuhr zufolge begriff Churchill "die Natur des Nazidämonismus vollkommen und erkannte ihn klar als eine Macht, mit der es keine politische Verständi166 Reinhold Niebuhr: Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmlichen Verteidigung. Aus dem Amerikanischen. München 1947, S. 105. 167 George Liska: Morgenthau vs. Machiavelli. Political Realism and Power Politics. In: Truth and Tragedy. A Tribute to Hans J. Morgenthau. New Brunswick and London 1984, S. 110. Allerdings weist Liska auch darauf hin, daß sich Morgenthau den politischen Idealen des Liberalismus verpflichtet fühlt. Er spricht von "Morgenthau's fundamentally liberal committment" (ebd., S. 111). 168 Reinhold Niebuhr: Christlicher Realismus und politische Probleme. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart 1956, S. 53. Vgl. dazu auch Reinhold Niebuhr: American Conservatism and the World Crisis. I. A Study of Vacillation. In: The Yale Review XL (1951), s. 486.
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gung durch wirtschaftliche Absprache geben konnte. Er betrachtete die Interessen der Nation und des Empires unter den Begriffen der Ehre und Ansehen statt unter denen eines Kassengeschäftesl69." Während sich der Tory Churchill als beeindruckender Vertreter einer konservativen, d.h. auch realistischen Außenpolitik präsentierte, könne dem amerikanischen Konservatismus dieses Lob leider kaum gespendet werden. Niebuhr spricht sogar vom "Mißerfolg der amerikanischen Konservativen"l70. Dies sei um so erstaunlicher, ,;als es die Stärke der alten konservativen Parteien Europas ist, die Gefahren und Verantwortungen der Außenpolitik besser zu verstehen als der Liberalismus"l71. Niebuhr zufolge haben die amerikanischen Konservativen alle Lehren über Bord geworfen, die ihren europäischen Gesinnungsfreunden hoch und heilig waren. Verantwortungslos schwankten sie "zwischen einem Isolationismus, der die volle Stärke Amerikas nicht zur Geltung bringen wollte, und einem Abenteurerturn, das die auch einer mächtigen Nation gezogenen Grenzen nicht zu ermessen vermochte"l72. Ganz im Gegensatz zu Winston Churchill sei die amerikanischerepublikanische Partei außerstande gewesen, die Gefährlichkeit des Nationalsozialismus für die freie Welt gebührend einzuschätzen. "Sie unterschätzte beständig die Gefahr des Nationalsozialismus und lehnte ebenso beständig die Maßnahmen der Verwaltung ab, die dazu bestimmt waren, unsere Verantwortung den bedrohten Nationen Europas gegenüber zum Ausdruck zu bringen, als diese ... der nazistischen Gefahr .. . ausgesetzt warenln." Niebuhr ist sogar der Ansicht, daß der amerikanische Liberalismus in der Außenpolitik weitaus klüger und erfolgreicher operiert habe als sein ideologischer Gegenspieler, der Konservatismus. Niebuhr zufolge hatte sich vor allem Franklin D. Roosevelt als ein Politiker zu erkennen gegeben, der außenpolitische Weitsicht mit ideologischer Standfestigkeit zu verbinden wußte. Ihm sei es gelungen, die Illusionen eines Woodrow Wilson abzuschütteln und sich als demokratischer Politiker zu einer realistischen Außenpolitik durchzuringenl74. 169 Ebd. 170 Ebd., S . 51. 171
Ebd., S. 51.
172 Ebd., S. 58. 173 Ebd., S. 53. In gleicher Weise haben die amerikanischen Konservativen Niebuhr
zufolge die Gefährlichkeit des Kommunismus unterschätzt. Für Niebuhr hat der isolationistische Traum der amerikanischen Konservativen auch ökonomische Gründe. Bei einer derart auf das ökonomische Kalkül a_1;1sgerichteten politischen Gruppe verwundere es keineswegs, wenn wirtschaftliche Uberlegungen die staatlichen Notwendigkeiten völlig in den Hintergrund drängten. Ein wichtiger Grund für die in Rede stehende Haltung der amerikanischen Konservativen liegt für Niebuhr "in der Angst vor Steuern, die durch Kriegsausgaben notwendig werden, und vor allem in der Angst vor Kontrollmaßnahmen der Regierung, die in Kriegsläuften sogar eine konservative und wohlhabende Nation für empfehlenswert hält (ebd., S . 53f.).
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Den zutiefst konservativen Geist atmenden außenpolitischen Realismus haben nicht nur diejenigen politischen Denker verfochten, die eine Affinität zum konservativen Ordnungsentwurf aufweisen, er wurde auch von Politologen und Historikern vertreten, die sich dem liberalen, d. h . linksliberalen Flügel der amerikanischen Politik verbunden wissen. Ihre Position enthält den Versuch, demapriorikonservativen Denken der realistischen Schule der Außenpolitik in der linksliberalen Politikfamilie Heimatrecht zu gewähren. Zu den führenden Repräsentanten dieser intrikaten Ideenverbindung zählt John H. Herz. Ihm zufolge hat der liberale Realist zu erkennen, "daß es, wenn wir eine realistische Außenpolitik haben wollen, die liberalen Zwecken dient, von grundlegender Wichtigkeit ist, die ... zwischen den Partnern internationaler Beziehungen herrschende Machtlage zu erkennen und klar zu analysieren"l 75. Diesem Parteigänger des Liberalismus ist es darum zu tun, den zynischen Realismus einer unverfälschten Kratologie durch eine Doktrin zu ersetzen, in der die Machtanalyse des außenpolitischen Realismus mit den ethischen Postulaten des amerikanischen Linksliberalismus verbunden wird. Ganz im Gegensatz zum "extremen politischen Realismus"l 76, bei dem "die Erkenntnis gewisser politischer Realitäten zur Rechtfertigung von Kampf, Gewalt und Ausbeutung" 177 verwendet wird, komme es dem liberalen Realismus darauf an, den Idealen des politischen Gleichgewichts und des sozialen Ausgleichs das Wort zu reden. "Während der realistische Liberalismus die Unvermeidlichkeit der Macht und, infolgedessen, der ,Machtpolitik' in den Wechselbeziehungen von ,Mächten' akzeptiert, sucht er nach Mitteln und Wegen, um eine solche Politik in ein arbeitsfähiges System zu bringen, innerhalb dessen die Macht im Interesse einer Ordnung und insbesondere zur Ausbalancierung der Kräfte und zur Verhinderung einer Hegemonie angewandt wird178." Der realistische Liberalismus oder der liberale Realismus stellt sich dezidiert allen Versuchen entgegen, auf dem Wege des Rekurses auf die realistische Betrachtung der Außenpolitik das Machtmonopol irgend einer sozialen oder politischen Gruppierung 174 Ebd. Vgl. dazu auch: "Unser Problem liegt in der Außenpolitik und bei anderen Aufgaben darin, wie man zur Reife einer echt konservativen Haltung gelangen kann, ohne die menschlichen Vorzüge preiszugeben, welche die liberale Bewegung hervorgebracht hat" (ebd., S. 61). Wie Niebuhr, so hat auch August Heckscher von einem konservativen Standpunkt die staatsmännische Leistung Franklin D. Roosevelts gewürdigt. "Franklin D. Roosevelt hatte den ehrlichen Willen, aus den Fehlern Wilsons zu lernen, und er machte tatsächlich den Eindruck, als sei er wendiger, schlauer und mehr in der rauhen Welt zu Hause. Die Atlantik-Charta war nicht, wie die Vierzehn Punkte, eine einseitige Erklärung. Sie wurde mit Großbritannien, dem Hauptverbündeten jener Zeit, ausgehandelt und zeigte sich- das war etwas Neues- zurückhaltend in ihren Prophezeiungen und Erwartungen" (Glück für alle. Aus dem Amerikanischen. Köln und Berlin 1964, S. 153). m John H. Herz: Politischer Realismus und politischer Idealismus. S. 242. ns Ebd., S. 49. 177 Ebd. 178 Ebd., S. 243.
4 J.B. Müller
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zu legitimieren. Das gilt in gleicher Weise auch für den politischen Verband des Staates. Herz wendet sich als Repräsentant dieses liberalen Realismus gegen "eine Anhäufung von unterdrückenden und privilegierten Machtbefugnissen"l79. Dabei sei sich der liberale Realist durchaus bewußt, daß die Bekämpfung von Machtmonopolen den Besitz von Macht zur Voraussetzung hat. Ganz im Gegensatz zum utopischen Liberalen wolle der Repräsentant des realistischen Liberalismus Macht nicht aus der Welt schaffen, sondern sie gezielt zur Machtbekämpfung einsetzen. "Sein Realismus vermittelt die Erkenntnis, daß ein politisches Handeln gegen das Machtelement in der Geschichte immer den Gebrauch politischer Mittel, d. h. den Gebrauch von Macht, erfordervso." Aufgrund seiner undogmatischen Sichtweise sei der liberale Realist sogar imstande, Aspekte der Wirklichkeit zu erkennen, die sich der heuristischen Absicht des konservativen Realisten mehr oder weniger entziehen. Ihm gelängen Wirklichkeitsanalysen, die genuin konservativen Frageversuchen grundsätzlich verschlossen bleiben. So habe sich der konservative Realismus als unfähig erwiesen, die Bedeutung revolutionärer Strömungen rechtzeitig zu erkennen. Im Gegensatz zur Realitätsverkennung der Konservativen sei der liberale Realist durchaus imstande, die historische Valenz etwa der Französischen Revolution ins rechte Licht zu rücken181 . Die von Morgenthau, Schwarzenberger, Niebuhrund anderen Politologen vertretene realistische Schule der Außenpolitik fand ihre Kritiker nicht nur im liberalen Lager. Auch Parteigänger des konservativen Ideenkreises haben sie ins Fadenkreuz ihrer Ablehnung genommen. Dabei wird ihr besonders angelastet, einer ethikfreien Außenpolitik das Wort zu reden. Gerade eine genuin konservative Außenpolitikanalyse komme nicht umhin, nach der Bedeutung und dem Stellenwert der internationalen Moral zu fragen und deren Legitimität in Erinnerung zu rufen. Ludwig Freundlaz war es, der diesen Punkt besonders nachdrücklich betonte. Vor allem die Werke Morgenthaus zeigten überdeutlich, daß dieser "das Problem von Ethik und Politik genauso einseitig und relativ einfach . .. löst wie die von ihm so heftig bekämpften ,Moralisten"'l83. Während diese sich an der weltfremden Aufklärung orientierten, gerieten jene in Gefahr, sozialdarwinistischen 179
Ebd., S. 158.
180 Ebd. 181 Ebd., S. 44.
182 Ludwig Freund zufolge ist die Kritik der realistischen Schule an ihren liberalen Gegnern durchaus berechtigt. Für ihn war es vor allem "die Oberflächlichkeit politisch-theoretischen Denkens", die zu Recht die Ablehnung der liberalen Außenpolitiklehre durch die Realisten herausforderte (Politik und Ethik. Möglichkeiten und Grenzen ihrer Synthese. Zweite Auflage. Gütersloh 1961, S. 139). Freund lastet den Liberalen auch an, "in Verbindung mit einem unklaren Begriff von Humanismus, die kommunistische Weltverschwörung mit liberalen Verheißungen und Wünschen zu verwechseln oder zu verquicken" (ebd., S. 138f.). 183 Ebd., S. 137f.
4. Der Konservatismus der "realistischen" Schule
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Gedankengängen zu huldigen. "Nährt sich deren Idee an den antiquierten Vorbildern der Aufklärung und der Enzyklopädisten, so kommt Morgenthau . .. der von Darwin begründeten Tradition und ihren durch das Zeitgeschehen moralisch ad absurdum geführten politischen Schlußfolgerungen bedenklich nahe184." Freund zufolge krankt die außenpolitische Analyse Morgenthaus und seiner wissenschaftlichen Freunde an der von ihm so vehement geleugneten Tatsache, daß der moralische Faktor in den internationalen Beziehungen eine entscheidende Rolle spielt. Morgenthau und seine Freunde unterschätzten "das tatsächlich vorhandene moralische Interesse in der Außenpolitik, dastrotzaller Beschränkungen keineswegs so unwirksam oderunautonom ist, wie sie den Anschein geben" 185. Freund zufolge steht es zweifelsfrei fest, "daß das moralische Interesse eine relative Rolle in der Außenpolitik spielt und keineswegs total ignoriert werden kann"1ss. Um seinem Gedankengang Nachdruck zu verleihen, führt Freund die internationale Hilfstätigkeit an. "Wäre das krasse nationale Selbstinteresse die einzige Determinante der Außenpolitik ... , dann wären alle internationalen Hilfswerke für fremde Staatsangehörige und Gebiete, die von politischen oder Naturkatastrophen heimgesucht werden, ohne Sinn187." Darüber hinaus wären auch die "Hilfe für Vertriebene und Verfolgte, die Anleihen, Kredite und Subventionen, welche schwachen, wirtschaftlich zurückgebliebenen und heimgesuchten Völkern von fremden Regierungen direkt oder indirekt gewährt werden, ... unerklärlich"18s. Die realistische Schule der Außenpolitik wird von den Repräsentanten des konservativen Ideenkreises nicht nur kritisiert, weil sie den ethischen Faktor in der Außenpolitik übersehe. Ihr wird auch angelastet, den ideologischen Faktor zu vernachlässigen. Nicht zuletzt die führenden Vertreter des amerikanischen Neokonservatismus werfen der realistischen Außenpolitikanalyse vor, Außenpolitik in einem ideologienegierenden Horizonte interpretieren zu wollen. Was sich als realistische Analyse außenpolitischer Sachverhalte ausgebe, sei in Wirklichkeit nicht weniger als die systematische Verdrängung der kaum zu leugnenden Tatsache, daß wir im Zeitalter der Ideologien leben. In dieser Zeit sei es insbesondere für den Konservativen dringend geboten, den Fehdehandschuh des ideologischen Gegners aufzunehmen und allen ideologienegierenden "realistischen" Analysen der Außenpolitik abzuschwören. Emphatisch wendet sich Irving Kristoll89 gegen die von den Realisten praktizierte Analyse der internationalen BezieEbd., S. 128. Ebd., S. 137. 18& Ebd., S. 149. 187 Ebd., S. 150. 188 Ebd. 189 Irving Kristol: Foreign Policy in an Age of Ideology. In: The National Interest. Fall1985, S. 6ff. 184 185
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II. Krieg und Frieden
hungen. In ihnen zähle nur das nackte Interesse des Nationalstaates. Ideologische Ordnungsvorstellungen würden fälschlicherweise durchgehend als Verhüllung von Machtinteressen "entlarvt"l9o. Dabei gehe die ideologienegierende Analyse der Außenpolitik weitgehend an der Wirklichkeit vorbei. Sie nehme eher die Ausnahme als die Regel in den wissenschaftlichen Blick. "In the twentieth century it is a truth that exists mainly at the margins. It may explain the situation as between Greece and Turkey, for instance, or between Argentina and Chilel91." Die realistische, ideologienegierende Analyse der internationalen Beziehungen sei sowohl unfähig, den Konflikt zwischen den Arabern und den Israelis hinreichend zu interpretieren, noch sei sie in der Lage, die Außenpolitik des heutigen Iran in suffizienter Weise zu erklären. "lt does not explain the conflict between Israel and the Arab world, however, since the Arabs have a religious conception of territorial rights that will often subordinate the ,national interest' of an Arab nationstate to Islamic religious doctrine. 1t certainly does not explain the foreign policy of Iran under the Ayatollah192." Auch die Spannung zwischen den USA und der UdSSR könne im Horizonte der realistischen Machtanalyse kaum hinreichend interpretiert werden. Bei der Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten handele es sich vor allem um eine Auseinandersetzung ideologischen Charakters193. Beide Staaten verdankten ihre Herkunft einer genau definierten Ideologie, beide seien sie hervorgegangen aus einer politischen Ordnungsvorstellung, die von ihren Anhängern mit Verve und Bekennermut vertreten werde. "The Soviet Union and the United States are the only two large nations in the world today that were born out of a self-conscious creed, and whose very existence as nations is justified and defined in creedal terms. These ideas are universal in form and utterly incompatible in substance. They may properly be termed ,ideologies', but only if one appreciates that this is not a case of certain ideas being plastered onto a political reality but rather a case in which those ideas constitute that realityl94." Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltmächten erreicht nicht zuletzt deshalb eine so erstaunliche Intensität, weil es sich bei den Sowjets um einen Gegner handele, der seinem Ordnungskonzept eine eschatologisch-messianistische Einfärbung verliehen habe. Es gehe dem 190 Ebd. Kristal schreibt: "Such ideas are likely to be regarded as alien, intrusive, and disruptive elements in something called ,international relations'. This latter phrase is, of course, a favorite of the academic profession, which perceives world politics through 19th-century spectacles. It is a world in which nation-states maneuver and manipulate in an incessant effort to create a new ,equilibrium' that is more favorable to the ,national interests' of one or more of the participants. This is also the world in which professional diplomats are habituated to live and breathe as they exercise the arts of diplomacy" (ebd., S. 6). 191 Ebd., S. 6. 192 Ebd. 193 Ebd. 194 Ebd., S. 8.
4. Der Konservatismus der "realistischen" Schule
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Kommunismus nicht mehr und nicht weniger als um die Rettung der Welt vom kapitalistischen Übel, um die Schaffung eines neuen Menschen, der bar aller Fehler des kapitalistischen Individuums ist195. Aber auch die amerikanische Ideologie sei der Auffassung, daß sie letzten Endes im Besitz der historischen Wahrheit ist196. Irving Kristol zufolge ist es die Aufgabe des heutigen Konservatismus, den Kommunismus, seinen ideologischen Hauptgegner, rücksichtslos zu bekämpfen. Es komme darauf an, der sowjetischen messianischen Ideologie die bessere Alternative der liberalen Demokratie gegenüberzustellen. Nur diese zutiefst ideologische Auseinandersetzung sei auf die Dauer in der Lage, der freien Welt den Sieg über die Unfreiheit zu garantieren. "This new conservatism is self-consciously ideological, construing itself as the appropriate response of the American ,public philosophy' and the American ,national interest' to the condition of democratic capitalism in the last part of the 20th century. Its attitude toward the Soviet Union and its messianic ideology is, therefore, Straightforward and uncomplicated: it detests the ideology and believes that the task of American foreign policy is to defeat it -not so that the world can be made ,safe for democracy' but so that the nations of the world can have the opportunity to realize whatever potential for popular government and economic prosperity they may possess, or come to possess197." Diese neokonservative Kritik an der realistischen Schule der Außenpolitik wird jedoch nicht von allen amerikanischen Konservativen akzeptiert. So wirft Owen Harris Kristol vor, ein zutiefst wirklichkeitsfremdes Bild der realistischen Schule zu besitzen. "It is based on an extremely circumscribed and limited notion of realpolitik19B." Es gehe nicht an, die realistische Schule als vollkommen antiideologisch und ethikneutral zu beschimpfen. Es 195 Ebd. Vgl. dazu auch: "That is because the ideology of the Soviet Union is a selfconscious and fully articulated secular-messianic religion. This secular religion was founded in the 19th century by Marx but given its orthodox creedal definition and its authoritative form in this country by Lenin (the St. Paul of communism, as it were) ... Marx not Lenin, were they alive today, would approve of the behavior of their ideological progeny" (ebd., S. 8). Auch Robert Ingrim weist auf die ideologische Einfärbung der sowjetischen Politik hin. Sie schließe normale Beziehungen zur UdSSR aus. Er schreibt: "Die Sowjetunion ist kein Partner, weil sie ihrer innerstenNaturnach ein Feind ist. Zu glauben, daß man sie in das Spiel der Kabinette so einsetzen kann wie das alte Rußland, ist eine Illusion, eine Wahnvorstellung" (Die Rettung Deutschlands. Düsseldorf 1952, S. 136). 196 Ebd. Vgl. dazu auch: "Like Marxist-Leninism, the American liberal-capitalist order is universal in its aspirations, and it, too, believes that history is on its side. But the American creed differs from the Soviet creed in one crucial aspect. It has become, over the centuries, an established, popular, political orthodoxy, a kind of civic religion, implicitly accepted by the American people and translated into a ,way of life' that Americans are convinced isthebest the world has to offer" (ebd., S. 9). 197 Ebd., S, 13. 198 Owen Harris: Neoconservatism and Realpolitik. In: The National Interest. Fall 1985, s. 127.
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handele sich bei ihren Repräsentanten eindeutig um Persönlichkeiten, die zutiefst moralischen Politikidealen huldigen. Aus diesem Grunde könne keine Rede davon sein, daß die realistische Schule "a sort of superior and systematized pragmatism" 199 fernab aller ethischen Verpflichtungen und ideologischen Bekenntnissen vertritt.
199
Ebd.
111. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus 1. Konservative Gleichgewichtsvorstellungen
Die Vorstellungen von einem europäischen Gleichgewichtl gehen bis ins 15. und 16. Jahrhundert zurück2 . Später diente die Gleichgewichtsidee zur Abwehr der Universalmonarchiebestrebungen Ludwigs XIV.3. Zu neuem Leben erwachte sie in der Zeit der Napoleonischen Kriege4 • Nicht zuletzt bestimmte sie auf dem Wiener Kongreß den Gang der Verhandlungens. Im Horizonte der ideengeschichtlichen Analyse stellt sich der Topos vom außenpolitischen Gleichgewicht der Kräfte zunächst als ein Prinzip dar, das aus der Aufklärung stammts. Die Gleichgewichtsidee wurde jedoch auch in den konservativen Ideenkreis aufgenommen. Auch die konservative Gleichgewichtsvorstellung gewinnt ihre Bedeutungsmaßstäbe aus der Überlegung heraus, daß das Zusammenleben der Staaten nicht durch gegenseitiges Sichübertrumpfen, sondern durch mutuelles Respektieren gekennzeichnet sein sollte. Zu den ersten konservativen Autoren7, die sich enragiert für das außenpolitische Prinzip des Machtgleichgewichts einsetzten, gehört ohne Zweifel 1 Vgl. dazu Ludwig Dehio: Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Krefeld 1948; Hans Fenske: Gleichgewicht, Balance. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Band II: E-G. Stuttgart 1975, S. 959ff.; Georges Livet: L'equilibre europeende la fin du XV• a la fin du XVIII• siecle. Paris 1976 (L'historien 20); Heinz Duchhardt: Gleichgewicht der Kräfte. Convenance, Europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongress. Darmstadt 1976; Kurt Kluxen: Zur Balanceidee im 18. Jahrhundert. In: Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat. In: Festschrift für Theodor Schieder zu seinem 70. Geburtstag. Hrsg. von Helmut Berding u.a. München und Wien 1978, S. 41ff.; Johannes Kunisch: Staatsverfassung und Mächtepolitik. Zur Genese von Staatskonflikten im Zeitalter des Absolutismus. Berlin 1979 (Historische Forschungen, Band 15). 2 Vgl. dazu Heinz Duchhardt: Gleichgewicht der Kräfte. S. 68. 3 Ebd., S. 68f. 4 Ebd., S. 173. 5 Ebd., S. 170. 6 Ebd., S. 69. Duchhardt zufolge repräsentiert die Idee des Gleichgewichts "den Glauben an die Wissenschaft und an die Fähigkeit des Menschen, seine eigene Umgebung und seine Zukunft zu kontrollieren" (ebd.). 7 Konservative Gleichgewichtsvorstellungen finden sich schon bei Lord Bolingbroke (Letters on the Spirit of Patriotism: On the ldea of a Patriot King. And on the State of Parties. A New Edition. London 1783, S. 186 und passim) und bei Dumouriez (Tableau speculatif de l'Europe. Nouvelle edition. Fevrier 1798. Ohne Ort). In die-
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
Edmund Burkes. Dabei ging es ihm vor allem darum, die politischen Ordnungsvorstellungen eines Montesquieu und eines De Lolme auf das Gebiet der internationalen Beziehungen zu übertragens. IhramIdeal der Gewaltenteilung ausgerichtetes Verfassungsideal transferierte Burke auf das Gebiet der Außenpolitik. Burkes "Gleichgewichtskonservatismus"9 bestimmte sich durch die Auffassung, daß die Staatsprinzipien der vergangeneo Jahrhunderte unverfälscht auch für die Zukunft gelten sollten. Aus diesem Grunde ist es notwendig, am Ideal des Machtgleichgewichtes unter allen Umständen festzuhalten. "If Europe does not conceive the independence, and the equilibrium of the empire to be in the very essence of the system of balance power in Europe, and if the scheme of public law, or mass of laws, upon which that independence and equilibrium are founded, be of no leading consequence as they are preserved or destroyed, all the politics of Europe for more than two centuries have been miserably erroneous1o." Sein Rückblick in die Vergangenheit entbehrt dabei keineswegs jener romantischen Verklärung früherer Zustände, ohne die manche Autoren offenbar auszukommen kaum in der Lage sind11 . "The idea of considering Europe as a vast Commonwealth, of the several parts being distinct and separate, though politically and commercially united, of keeping them independent though unequal in power, and of preventing any one, by any means, from becoming too powerful for the rest, was great and liberall2." Burke blickte aber nicht nur in die Vergangenheit zurück. Ihm war es auch darum zu tun, mit Hilfe des Gleichgewichtsprinzips Gefahren der Gegenwart abzuwehren. Allein die Beachtung des Gleichgewichtsprinzips verhindere, daß die europäische Ordnung dem aus Frankreich drohenden Despotismus anheimfalle. Immer wieder müsse den Bewohnern Europas ins Bewußtsein gehoben werden, daß es die französischen Revolutionäre sind und waren, die dem europäischen Gleichgewicht den Garaus machten. "1 do not think ... that any government is safe as long asthat sort ofthing which prevails in France has an existence. The balance of powerisamatter of great moment; but who has destroyed it? That very monster by whose aid, it seems we are to restore sem Zusammenhang muß auch darauf aufmerksam gemacht werden, daß Joseph de Maistre keineswegs der Verfasser der Abhandlung "Plan d'un nouvel equilibre politique en Europe' {Londres 1798) ist. Dieses anonym erschienene Werk stammt vom
Abbe de Pradt. 8 Vgl. dazu Heinz Gollwitzer: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deut-
schen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1951, S. 153. 9 Ebd., S. 153ff. 1o Edmund Burke: Thoughts on French Affairs {1791). In: Reflections on the Revolution in France. Introduction by A. J . Grieve. London and New York 1967, S . 296. u Vgl. dazu Hans-Gerd Schumann: Edmund Burkes Anschauungen vom Gleichgewicht in Staat und Staatensystem. Mit einer Edmund Burke-Bibliographie. Meisenheimam Glan 1964 {Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft, Band 3). 12 Edmund Burke: Works. Vol. II. Bohn's Edition. London 1873, S. 467.
1. Konservative Gleichgewichtsvorstellungen
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it. They have treated the very idea as a mischievous chimera, and renounced every interposition in the affairs of other nations, further than by their declared resolution to support the levelling factions which might arise amongst them for the subversion of their governments. The balance of power is a thing they never will maintainl3." Es war nicht zuletzt die Einmischung des revolutionären Frankreich in die inneren Angelegenheiten seiner Nachbarn 14, die die Kritik Burkes herausfordertels. Pointiert hat er diese Anstiftung zum gesamteuropäischen Bürgerkrieg gegeißelt. "It is with an armed doctrine, that we are at war. It has, by its essence, a faction of opinion, and of interest, and of enthusiasm, in every country. To us it is a Colossus which bestrides our channells." Allerorten sei die Unterminierungsarbeit der französischen Revolutionäre zu spüren. Überall wagten sie den Versuch, ihre lebens-und traditionsfremden Prinzipien anderen Völkern aufzupropfen. "The seeds are sawn almost everywhere, chiefly by newspaper circulations, infinitely more efficacious and extensivethanever they were. And they are a more important instrument than generally is imagined. They are a part of the reading of all, they are the whole of the reading of the far greater number1 7 ." Selbst wenn die französischen Revolutionäre weniger aggressiv nach außen gewesen wären, selbst wenn sie sich auf die radikale Umgestaltung des französischen Binnenraumes beschränkt hätten, käme ihre revolutionäre Aktivität einer Kriegserklärung an das übrige Europa gleich. "We are 13 The Right Hon. Edmund Burke to Richard Burke, Jun., Esq. Beconsfield, Sunday, July 29, 1792. In: The Works and Correspondence of Edmund Burke. A New Edition. Vol. Il. London 1852, S. 107. 14 ••• Dabei hat Burke auch englische Verstöße gegen das Gleichgewichtsprinzip gerügt. Peter K. Stanlis schreibt: "Burke's most severe attack on Britain's violations of the law of nations occured in a speech on May 14, 1781, in his ,Inquiry into the Seizure of Private Property in St. Eustatius'. At a time when Holland and Britain were not officially at war, and Holland, as a member of the Leage of Armed Neutrality, followed Grotius' principle that neutral ships have free access to world trade, this tiny WestIndies Dutch island was seized by Britan's Admiral Rodney and General Vaughan" (Edmund Burke and the Natural Law. Ann Arbor Mich. 1958, S. 91). 15 Vgl. dazu auch Dietrich Ortwin Hilger: Edmund Burke und seine Kritik der Französischen Revolution. Stuttgart 1960; Wolfgang J. Mommsen: Edmund Burke und die Französische Revolution. In: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Theodor Schieder. Zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Kurt Kluxen und Wolfgang J. Mornrnsen. München und Wien 1968, S. 39ff. 16 Edmund Burke: Three Letters addressed to a Member of the Present Parliament; on the Proposals for Peace with the Regicide Directory of France. 1796. In: The Works of Edmund Burke. A New Edition. Vol. VIII. London 1815, S. 98. 17 Edmund Burke: Thoughts on French Affairs. S. 294. In wie starkem Maße die führenden Politiker der zweiten Phase der Französischen Revolution den außenpolitischen Expansionismus auf ihre Fahnen geschrieben hatten, darauf hat Albert Sorel hingewiesen. "L'interet nationall'importera sur la raison pure, et non-seulement il ramenera la France nouvelle aux ,guerres communes' d'autrefois, mais ill'entrainera jusqu'aux plus extraordinaires exces des ,guerres de magnificence'" (L'Europe et la Revolution Fran~aise. Deuxieme Partie. Paris 1887, S. 203).
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
at war with a system, which by its existence, is inimical to all other Govemmentsia." Gerade weil Burke sich für ein Machtgleichgewicht zwischen den europäischen Staaten ausgesprochen hatte, weil er für die Achtung der Souveränität anderer plädierte, votierte er für einen europäischen Krieg gegen den revolutionären Störenfried Frankreich19 • Was immer man von Burkes Interventionsforderungen halten mag, fest steht, daß die Französische Revolution der alten Ordnung den Kampf angesagt und sich damit in die inneren Angelegenheiten seiner Nachbarstaaten eingemischt hatte. Es verwundert deshalb kaum, wenn auch dezidiert liberale Autoren Verständnis für die Haltung des Konservativen Burke aufbringen. "This is not to say that he was entirely without justification . . . The Revolution was not merely against a govemment, it was against a social order, and one that was common to all Europe. Old Europe ist nottobe thought too wicked an animal for defending itself when attacked20." Auch Burkes konservative Gesinnungsfreunde sprachen sich für sein Gleichgewichtsprinzip aus. Auf dem europäischen Kontinent gehörte zu den enragiertesten Befürwortem seiner Gleichgewichtslehre Friedrich Gentz. Um des Gleichgewichtsprinzipswillen lehnte Gentz sowohl den Napoleonischen Universalstaat als auch den deutschen Einheitsstaat ab. Beide politischen Ordnungsformen seien als Gefahr für die kleineren Staaten Europas bzw. Deutschlands anzusehen2I. Gentzens Gleichgewichtskonzeption trägt wie die von Burke alle Züge einer Ordnungsidee, in der auch der kleinere Edmund Burke: Three Letters Addressed to a Member. S. 98. Vgl. dazu Peter J. Stanlis: "Through is appeals to the law of nations, Burke justified his call for a total European war against the French Revolution; but these appeals reveal only the negative side and application of his principle. Through the same law of nations Burke always sought to reconcile the legitimate interests of each state on the great "Commonwealth of Europe', and to have every nationlive at peace with its neighbours in the spirit of the Natural Law" (Edmund Burke and the National Law. S. 97). 2o Alfred Cobban: Edmund Burke and the Revolt against the Eighteenth Century. London 1960, S. 124. Stephan Skalweit weist darauf hin, daß Burke keineswegs die gegenrevolutionären Ideen des "äußeren rechten Flügel der Emigration" akzeptiert habe (Edmund Burke und Frankreich. Köln und Opladen 1956, S. 63). Er habe sich "niemals mit ihrem gedankenlosen Legitimismus identifiziert und niemals das Endziel aus den Augen verloren, das sich für ihn mit dem Kampf gegen die Revolution untrennbar verband: die Wiedergeburt Frankreichs unter einer ,freien Verfassung', die sich sowohl von dem demokratischen ,system of anarchy' wie dem ,monarchical despotism' der Bourbonen unterschied" (ebd.). 21 Golo Mann schreibt zu diesem Sachverhalt: "Warum denn aber kein deutsches Gesamtreich? Was bewegte den Preußen und Deutschen Gentz, diesem Ziel mit eben der Leidenschaft zu widerstreben, mit der er ehemals gegen Napoleons Universalstaat gekämpft hatte? Der Vergleich ist nicht übel am Platz. Denn ein Reich aller deutsch Sprechenden würde eben, auf die eine oder andere katastrophale Art, seinerseits nicht mehr und nicht weniger als einen europäischen Universalstaat bedeuten" (Friedrich Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes. Zürich und Wien 1947, S. 275). Mann zufolge haben Gentz und seine Freunde begriffen, "wonach das große Deutschland für das kleine Europa zu groß war, wenn nicht bestimmte kunstvolle und weise Bedingungen eingehalten würden" (ebd.). 1s 19
1. Konservative Gleichgewichtsvorstellungen
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Staat ein Existenzrecht besitzt. Sein ausgeprägter Sinn für die Mannigfaltigkeit der Staatenwelt schließt von vomeherein den Gedanken aus, daß der stärkere Staat das schwächere Gemeinwesen kujonieren darf. Ganz in diesem Sinne bestimmt Gentz den Begriff des politischen Gleichgewichts als eine "Verfassung neben einander bestehender und mehr oder weniger mit einander verbundener Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines andem, ohne wirksamen Widerstand von irgend einer Seite, und folglich ohne Gefahr für sich selbst, beschädigen kann" 22 • Gentz zufolge hat ein völkerrechtliches Gemeinwesen zu garantieren, "daß eine gewisse Anzahl auf sehr verschiedenen Stufen von Macht und Reichthum stehender Staaten, unter dem Schutz eines gemeinschaftlichen Bandes, ein Jeder unangetastet in seinen sichern Gränzen verharre, und der, dessen ganzes Gebiet eine einzige Stadt-Mauer umschließt, von seinen Nachbarn so heilig gehalten werden, als jener Andre, dessen Besitz und Gewalt sich über Länder und Meere erstreckt" 23. Nach Gentz sollten alle völkerrechtlichen Verträge im Geiste des Gleichgewichtsprinzips geschlossen werden. "Bei jeder bedeutenden Allianz, bei jedem Friedensschlusse, besonders bei jedem Kongress zwischen mehremangesehenen Mächten, müssen die Teilnehmer einander wechselseitig verheißen, keine Vergrößerung ihres Gebiets auf unrechtmäßigen Wegen zu suchen, und an keiner gegen die Unabhängigkeit, die Rechte oder die Besitzungen einer selbständigen Macht gerichteten Verabredung oder Verbindung, sie mögen unter den Namen einer Theilung, einer Ausrundung, einer Einziehung, einer Reunion, einer Indemnität für anderweitigen Verlust, oder welchemandem Titel in Vorschlag gebracht werden, Antheil zu nehmen24 ." Wie Edmund Burke, so war auch Gentz der Auffassung, daß Frankreich sich an der europäischen Gleichgewichtsordnung versündigt habe und deshalb zur Raison gerufen werden müsse. "Die Französische Revolution war eine von den Begebenheiten, die allen Staaten das Recht beilegen, von einem unter ihnen über das, was in seinem Innem vorgeht, Rechenschaft zu fordem25." Wenn sich der Rechtsbrecher uneinsichtig zeigt, haben die anderen sogar das Recht, ihn mit dem Mittel der Gewalt wieder auf den Pfad der alteuropäischen Tugend zurückzuzwingen. "Sobald aber in einem Staate die Umkehrung aller rechtlichen Verhältnisse zur Maxime wird, hat alle Verbindlichkeit der übrigen, seine Unabhängigkeit zu respektieren, ein Ende. Bei einem solchen Zustande können und dürfen sich die andem Staa22 Friedrich von Gentz: Fragmente aus der neuesten Geschichte des Politischen Gleichgewichts in Europa. Neudruck der Zweiten Auflage. St. Petersburg 1806. Osnabrück 1967, S. 1. 23 Ebd., S. 4. 24 Ebd., S. 47f. 25 Friedrich von Gentz: Ueber den Ursprung und Charakter des Krieges gegen die Französische Revolution. Berlin 1801, S. 23.
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ten, so wenig, wie bei einem allgemeinen Gesetz das den Mord oder den Straßenraub erlaubte, neutral verhalten; sie haben ein Recht zu verlangen, daß er unverzüglich beendigt werde; und, giebt es kein andres Mittel, um diesen Zweck zu erreichen, so dürfen sie Zwang gebrauchen26." Wie Edmund Burke und Friedrich Gentz, so plädiert auch Metternich für eine friedliche, auf dem Geiste des Gleichgewichts basierende Zusammenarbeit zwischen den Staaten. Dabei hat Metternich sowohl den Liberalismus 27 als auch den revolutionären Nationalismus bekämpft2B. Mit einer an Immanuel Kant gemahnenden Diktion geht Metternich davon aus, daß sich die moderne Welt im Gegensatz zur alten durch ein humaneres Prinzip der internationalen Beziehungen unterscheidet29. Während in den hinter uns liegenden, überwundenen Zeiten der krasse Egoismus das Leben zwischen den Völkern bestimmte, sei nun ein anderer Geist in die Welt gekommen. Das Mettemichsehe außenpolitische Denken verdankt sich nicht zuletzt der Anstrengung, dem Geiste des Christentums Reverenz zu erweisen. .,Was die moderne Welt charakterisirt, was sie wesentlich von der alten unterscheidet, das ist die Tendenz der Staaten, einander sich zu nähern und in irgend einer Weise in einen Gesellschaftsverband zu treten, der mit der, im Schoße des Christentums entwickelten, großen menschlichen Gesellschaft auf derselben Grundlage ruhe. Diese Grundlage besteht in der Vorschrift des Buches der Bücher: ,Thue dem Andern nicht, was Du nicht willst, daß Dir gethan werde' 30 ." Jede außenpolitische Denkanstrengung hat sich in der modernen Zeit der Tatsache zu vergewissern, daß jeder Staat Mitglied einer über ihn hinausgreifenden StaatengeEbd., S. 24f. Henry A. Kissinger zufolge hat Metternich "den Liberalismus gerade im Namen der Universalität bekämpft, die dieser für sich in Anspruch nahm" (Großmacht Diplomatie. Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs. Aus dem Amerikanischen. Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1975, S . 238). 28 Aus diesem Grunde ist der Versuch Emil Laubers gänzlich mißlungen, Metternichs Denken und Handeln "völkische Prinzipien" anzudichten (Metternichs Kampf um die europäische Mitte. Struktur seiner Politik von 1809 bis 1815. Wien und Leipzig 1939, S. 176 und passim). 29 Robert A. Kann stellt verblüffende Übereinstimmungen zwischen dem konservativen Metternich und dem liberalen Präsidenten Woodrow Wilson fest. .,What stands out . .. is the fact that both men forged a program not primarily tied to the national community, a program not conceived solely as a second step to an interrelationship between the great powers, as was the case with Bismarck or Cavour" (Metternich: A Reappraisal of his Impact on International Relations. In: The Journal of Modern History 32 (1960), S. 333). 30 Aus Metternich's nachgelassenen Papieren. Hrsg. von dem Sohne des Staatskanzlers Fürsten Richard Metternich-Winneburg. Erster Theil. Erster Band. Wien 1880, S. 34. Für Metternich gibt es keine Trennung zwischen der privaten und der öffentlichen Moral. "Gerade wie die Menschen täglich die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft übertreten, handeln die Staaten nur zu oft den ewigen Vorschriften zuwider, welche ihren Verband regieren. Die Fehler der Menschen und die, welche die Staaten begehen, unterliegen denselben Strafen; ihr ganzer Unterschied liegt in der Schwere des Vergehens, die zur gewichtigen Individualität der Uebertreter im Verhältnisse steht" (ebd., S. 35). 26
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1. Konservative Gleichgewichtsvorstellungen
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meinschaft ist. "Da jedoch ein isolirter Staat nicht mehr existirt und nur in den Annalen der heidnischen Welt sich findet oder auch in den Abstractionen sogenannter Philosophen, so hat man immer die Gesellschaft der Staaten, diese wesentliche Bedingung der gegenwärtigen Welt, im Auge behalten. So hat denn jeder Staat außer seinen Sonderinteressen auch solche, die ihn mit anderen Staaten, sei es in ihrer Gesammtheit, sei es mit einzelnen Gruppen derselben, gemein sind3 1.'' Der Wissenschaft von der Politik obliegt Metternich zufolge die Aufgabe, das Zusammenleben der einzelnen Staaten in diesem Verband gemeinsamer Interessen zu studieren. "Die großen Axiome der politischen Wissenschaft gehen hervor aus der Erkenntniß der wahrhaften politischen Interessen aller Staaten; in diesen Generalinteressen ruht die Bürgschaft ihrer Existenz32 ." Dagegen komme dem Einzelinteresse33 mindere Bedeutung zu, es besitzt Metternich zufolge nur "einen relativen und secundären Werth"34 • Die Interessen der Staatengesamtheit erheischen nach Metternich das Prinzip des Machtgleichgewichts, die Anerkennung der Rechte der anderen Staaten, die Inhibierung der eigenen aggressiven Absichten. "Die moderne Gesellschaft ... zeigt uns die Anwendung des Princips der Solidarität und des Gleichgewichts zwischen den Staaten und bietet uns das Schauspiel der vereinten Anstrengungen mehrerer Staaten gegen die jeweilige Übermacht eines Einzelnen, um die Ausbreitung seines Einflusses zu hemmen und ihn zur Rückkehr ins gemeine Recht zu zwingen35.'' Nicht die verschlagene List des an Machiavelli geschulten Staatsmannes ist Metternichs Ideal, sondern die ehrliche Absicht, den anderen zu respektieren, seine Existenz zu achten. "Diese Grundregel jedes menschlichen Verbandes auf den Staat angewendet, heißt in der politischen Welt Reciprocität, und ihre Wirkung ist, was man in der Sprache der Diplomatie ,bons procedes' nennt, mit anderen Worten: gegenseitige Zuvorkommenheit und ehrliches Vorgehen3&." Das in Rede stehende Gleichgewichtspostulat schlug sich in den Verhandlungen des Wiener Kongresses nieder. Die von ihm gestiftete europäische 31 Ebd., S. 33. Heinrich Ritter von Srbik hat darauf hingewiesen, wie sehr sich Metternich dem wissenschaftlichen Geiste des 18. Jahrhunderts verpflichtet fühlte. "Er ist der letzte führende Staatsmann, der im Geist des philosphischen Jahrhunderts räsonnierend Systempolitik getrieben hat" (Metternich. Der Staatsmann und der Mensch. Band I. München 1957, S. 330). Genauso wie "ein doktrinäres System die französischen Revolutionäre beim Umsturz der alten Gesellschaftsordnung und der Staatenfamilie leitete, so baute sich auch Metternichs Kampf um die Erneuerung der alten Staaten- und Gesellschaftsordnung auf ,Grundsätzen', ,Prinzipien', ,vernunftgemäßen Wahrheiten' auf" (ebd.). Srbik zufolge weist Metternichs System sogar "starke Wesensähnlichkeit ... mit dem ,Leviathan' des Thomas Hobbes" (ebd., S. 332) auf. 32 Ebd., S. 33. 33 Ebd., S. 34. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd.
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
Ordnung atmete einen auf Ausgleich bedachten Geist, der dem des besiegten Napoleon diametral entgegengesetzt war37 . Insbesondere konservative Autoren haben die friedensstiftende und friedensbewahrende Kraft des Deutschen Bundes gepriesen. Eine Ordnung, in der sich die Gegenwelten von staatlicher Realpolitik und Friedensbewahrung zu einer vernünftigen Synthese verbanden, in der so viel Wert auf das Gleichgewichtsprinzip gelegt wurde, kann für den konservativen Politikanalytiker durchaus als das Ergebnis vernünftiger Staatsführung gelten. In diesem Sinne schreibt Peter Viereck: "The German Confederation, founded and guided by Metternich, gave Germany unity but a loose unity. This sufficed for peace. It sufficed for defense against France3B." Hans-Joachim Schoeps zufolge hat "dieser erste Völkerbund auf christlicher Basis den europäischen Frieden immerhin länger als ein halbes Jahrhundert zu sichern vermocht"39. Nach Rudolf Lill garantierte diese "lockere Föderation des Deutschen Bundes ... das friedlich geordnete Nebeneinander unserer größeren, mittleren und kleineren Staaten, zweier, respektive dreier Konfessionen und zudem mehrere Nationalitäten" 40. Dieser föderalistische Bund habe Völker mit französischer, slawischer und italienischer Sprache umfaßt41 • 37 Die neue Ordnung richtete sich entscheidend auch gegen gesellschaftsverändernde Intentionen Napoleons. Ludwig Dehio schreibt zu Recht: "Die Restauration . . . war sich bewußt, daß es nicht nur die Freiheit des Staatensystems zu retten galt, sondern den gesellschaftlichen Zustand, auf dem es bislang geruht hatte, daß der Kampf gegen Napoleon nicht nur der nationalfranzösischen Vormacht gegolten hatte, sondern auch der internationalen revolutionären Tendenz, mit der jene verbündet gewesen" (Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte. Krefeld 1958, S. 161). Ähnlich macht auch Heinz Gollwitzer darauf aufmerksam, daß in der neuen Gleichgewichtsordnung die "Grundzüge eines ... unverhüllt auftretenden patriarchalischen Europäismus" sichtbar werde (Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1951, S. 161). In dieser Ordnung seien die "revolutionären Völker als mißratene Kinder" behandelt worden (ebd.). 38 Peter Viereck: Conservatism Revisited. Revised and enlarged edition. New York and London 1962, S. 74. 39 Hans-Joachim Schoeps: Ein weites Feld. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1980, s. 302. 40 Rudolf Lill: Deutscher Föderalismus und nationale Kontinuität. Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 302. 31. Dezember 1987. Ein ähnliches Lob des Deutschen Bundes findet sich bei Henry A. Kissinger (Die weltpolitische Lage. Reden und Aufsätze. Aus dem Amerikanischen. München 1983, S. 123). 41 In wie starkem Maße das System des Deutschen Bundes tatsächlich antinationalistischen Geist atmete, mag folgendes Zitat von Henry A. Kissinger beweisen: "Als Metternich die italienische Oper nach Wien oder Zar Alexander deutsche Philosophen nach Rußland brachte, waren beide nicht bewußt tolerant oder sich auch nur darüber im klaren, daß sie etwas ,Ausländisches' importierten. Das Ideal von dem ,Großartigen' war damals noch wichtiger als die Frage nach seinem Ursprung. Der russische Ministerpräsident Capo d'Istria war ein Grieche. Der russische Botschafter in Paris, Pozzo di Borgo, war ein Korse, und der französische Ministerpräsident Richelieu war frührer Gouverneur von Odessa gewesen. Wellington beriet Österreich in seinem Feldzug gegen Murat, und 1815 forderten sowohl Preußen als auch Österreich den Freiherrn vom Stein auf, für sie als Botschafter auf die Bundeskonferenz zu gehen" (Großmacht Diplomatie. S. 377).
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Die geistigen Architekten des Deutschen Bundes, Metternich und Gentz, haben das nationale Prinzip überhaupt abgelehnt41 . Ihr Gleichgewichtsprinzip diente nicht zuletzt auch dazu, dem erwachenden Nationalismus einen Riegel vorzuschieben. Für Metternich bestand die europäische Aufgabe darin, "dem Uebergewichte der Nationalität einen Damm entgegenzustellen"42. Nach Heinrich Srbik existierten für diesen "Bedeutendsten aller Hochkonservativen ... die nationale und die freiheitliche Tendenz des Jahrhunderts schlechterdings nur als zerstörende Kräfte"43. Diese Ansicht wird auch von Peter Viereck geteilt. "Metternich feared and fought the hysteria of the middle-class university students, these ,national Jacobins' who applauded Stein, Arndt, Görres, Father Jahn, and Field Marshai Blücher and who volunteered for the fanatic war of hate against France preached by these leaders44." Wie Metternich, so verwarf auch Gentz alle nationalistischen Gedanken. Heinz Gollwitzer zufolge war Gentz "das Phänomen des Nationalismus stets fremd und durchaus zuwider"45. Er habe im "Nationalenthusiasmus ... eine atavistische Erscheinung, ein zerstörerisches Element in der ,reifen europäischen Kultur'"46 erblickt. Die einem übernationalen Geiste verpflichtete Ordnung des Deutschen Bundes stieß im Laufe der historischen Entwicklung auf immer stärkere Ablehnung. Zunächst war es die liberale Bewegung, die einer Fusion von nationalen und freiheitlichen Werten das Wort redete und damit dem Metternichschen System den Kampf ansagte47 . Insbesondere die dem liberalen Geiste verpflichtete Faulskirehe stand dem Mettemichsehen System diametral gegenüber. Zu Recht spricht Günter Wollstein von einer "Frontstellung der Parlamentarier gegenüber der Wiener Friedensordnung der Jahre 1814/ 42 Metternich: Mein politisches Testament. In: Aus Metternich's nachgelassenen Papieren. Hrsg. vom Fürsten Metternich-Winneburg. Zweiter Teil. Fünfter Band. Wien 1883, S. 640. 43 Heinrich Ritter von Srbik: Metternich. Band II. S. 312. 44 Peter Viereck: Conservatism Revisited. S. 65. 45 Heinz Gollwitzer: Europabild und Europagedanke. S. 158f. 46 Ebd., S. 159. 47 In seinem Kampf gegen den Liberalismus hat der Konservatismus allerdings auch selber zur Erstarkung des Nationalismus beigetragen. Die konservativen Vertreter des gegenrevolutionären Geistes waren keineswegs gänzlich von einer antinationalistischen Einstellung bestimmt. Heinz Gollwitzer schreibt zu Recht: .,Edmund Burke und seine englischen Nachfolger von der Seeschule wie seine deutschen Anhänger aus dem romantischen und anderen Lagern haben dem revolutionären Nationalismus ihrer Zeit Theorien eines konservativen Nationalbewußtseins gegenübergestellt. Entscheidend war, daß auch sie von der Nation her argumentierten" (Ideologische Blockbildung als Bestandteil internationaler Politik im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 201 (1965), S. 330). Dazu kam, daß der Kampf gegen den Korsen die Mobilisierung der Volksmassen und den Rekurs auf deren nationale Instinkte erforderte . .,Während des Kampfes der europäischen Mächte gegen Napoleon wie in einzelnen späteren Phasen sind die konservativen Mächte nicht darum herumgekommen, an die Völker und ihr Vaterlandsgefühl zu appellieren" (ebd.). So schloß der in der sog. Heiligen Allianz obwaltende übernationale Geist keineswegs aus, .,daß der Nationalismus auch innerhalb des Systems der Heiligen Allianz Fuß faßte" (ebd., s. 331).
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15 und insbesondere dem Deutschen Bund"48. Es war das Ziel der liberalnationalen Bewegung, die von Metternich konzipierte und im Deutschen Bund Gestalt gewordene mitteleuropäische Gleichgewichtsordnung "durch einen neuen, dynamischen und national strukturierten Staat" 49 abzulösen. Die Mettemichsehe Ordnung wurde nicht zuletzt durch den kleindeutschen Einigungsprozeß aus den Angeln gehoben. Dabei kamen aus dem ideologischen Lager der Konservativen durchaus verschiedene Stellungnahmen. Den konservativen Befürwortern der kleindeutschen Lösung traten jene gegenüber, die Bismarcks Einigungswerk skeptisch bzw. feindlich gegenüberstanden. Insbesondere die nationalistischen Töne, die den kleindeutschen Einigungsprozeß inaugurierten und begleiteten, würden im konservativen Lager teilweise auf das Schärfste mißbilligt. Zu den enragiertesten konservativen Gegnern Bismarcks gehörten die Gehrüder Gerlach. Ernst Ludwig von Gerlach zufolge wird nun an die Stelle des göttlichen Sittengesetzes als Kriterium für vernünftiges politisches Handeln der Erfolg an sich gesetzt. Bismarcks Politikentwurf, in dem überkommenen Begriffen ein neuer Inhalt gegeben werde, lasse jenes Maß an konservativem Gehalt vermissen, den die preußischen Hochkonservativen als unabdingbar erachten. "Die tiefe Unsittlichkeit, im günstigsten Falle Ungewißheit und Konfusion in Beurtheilung der offen liegenden Unthaten von 1866 kommt daher, daß man nicht weiß, was Staat, Volk, König, Nationalität ist. Diese unverstandenen Worte verwandeln sich einem unter den Händen in Natursubstanzen oder Götzen, auf welche göttliches oder menschliches Recht sich nicht anwenden läßt, sondern die als monstra oder Leviathane nach ihren eigenen wunderlichen Eigenschaften beurtheilt werden müssen50 ." Bismarck wird vor allem angelastet, auf die Existenzrechte kleinerer Staaten keine Rücksicht zu nehmen. Vor allem die Annexion von Hannover, Nassau, Frankfurt und Kurhessen besiegelte den endgültigen Bruch zwischen Bismarck und Ernst Ludwig von Gerlach. Am 8. Dezember 1867 schrieb dieser an Heinrich Leo: "Daß Hannover, Nassau und Frankfurt ganz nach den Regeln der Naturgeschichte von B.(ismarck) gefressen worden, daran habe ich nicht den leisesten Zweifel. Mein Schmerz ist kein sentimentaler Schmerz, daß es 48 Günter Wollstein: Das "Großdeutschland" der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49. Düsseldorf 1977, S. 307. Vgl. dazu auch: "Die Ablehnung des ,Systems' der Mettemichzeit manifestierte sich in der Zusammensetzung des Parlaments, in dem Arndt und Jahn als frühe Gegner der den napoleonischen Kriegen folgenden Friedensregelung, Sylvester Jordan und Eisenmann als langjährige politische Märtyrer, Dahlmann und Grimm als Mitglieder der, Göttinger Sieben' und damit als Repräsentanten eines politischen Widerstandes und Heinrich Sirnon sowie Bassermann als Streiter, die das schon in die Defensive gedrängte Lager der vormärzliehen Kräfte unmittelbar vor Ausbruch der Revolution in ärgste Bedrängnis brachten, eine besondere Rolle spielten" (ebd.). 49 Ebd., S. 308. so Ernst Ludwig von Gerlach: Aufzeichnungen aus seinem Leben und Wirken. 1795-1877. Hrsg. von Jakob Gerlach. Zweiter Band. SchwerininMecklenburg 1903, s. 297.
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kein Hannover, Nassau und Frankfurt mehr gibt, sondern der Schmerz eines (preußischen, deutschen) Christen, daß meine Partei und mein Vaterland Preußen so schmälich die 10 Gebote Gottes verletzt und durch das Laster des Pseudo-Patriotismus Schaden an seiner Seele genommen und sein Gewissen befleckt hatsl." Gerlach und seine hochkonservativen Freunde lasten Bismarck vor allem an, den friedenserhaltenden Deutschen Bund mutwillig zerstört zu haben. Bismarck sei bereit, zugunsten einer revolutionären Politik auf die segensreiche Wirkung des aus christlich-konservativem Geiste heraus konzipierten Staatenbundes zu verzichten. "Dem berechtigten Preußischen Berufe der Machtentfaltung in Deutschland steht der eben so berechtigte Oesterreichische Beruf der Machterhaltung in Deutschland gegenüber. Dieser Dualismus ist der lebende Grundcharakter, die reale Basis der Verfassung von Deutschland. Er hat seit dreihundert Jahren mehr und mehr sich ausgebildet und befestigt und ist nach der glorreichen Befreiung von Deutschland 1815 durch feierliche Verträge besiegelt worden. Er hat Deutschland fünfzig Jahre Frieden und blühenden Wohlstand und ... Freiheit von fremder Einmischung verschafft52 ." Aus diesem Grunde hält Gerlach am Deutschen Bund fest. "Der Deutsche Bund hat große Mängel, - aber ich zertrümmere meine Familie oder mein Vaterland nicht deshalb, weil sie Mängel haben53 ." Die Zerstörung des Deutschen Bundes, die Abkehr von seiner Gleichgewichtsordnung hat nicht nur auf protestantisch-konservativer Seite heftige Kritik hervorgerufen. Auch katholisch-konservative Publizisten und Politiker haben ihre ablehnende Stimme gegenüber Bismarcks Einigungspolitik erhoben. Insbesondere die Historisch-Politischen Blätter entwickelten sich zu einem Organ, in dem die Bismarcksche Einigungspolitik auf heftige Kritik stieß. Wie Ernst Ludwig von Gerlach, so kritisierte dieses katholische Presseorgan nicht zuletzt die Zerstörung des Deutschen Bundes durch Bismarck. "Der Bund und der Bundestag, - es war nicht viel von einem natio51 Ludwig von Gerlach an Heinrich Leo: Am 8. Dezember 1867. In: Allgemeine Konservative Monatsschrift für das christliche Deutschland 51 (1894), S. 1124. 52 Ludwig von Gerlach: Krieg und Bundes-Reform. In: Neue Preußische Zeitung. 8. Mai 1866. Hans-Joachim Schoeps macht darauf aufmerksam, daß Gerlach mit seiner Opposition gegen Bismarck durchaus nicht alleine stand. "Gerlachs Opposition wurde . . . von dem ihm nahestehenden Finanzminister von Bodelschwingh voll geteilt, der daher Ende Mai von seinem Posten zurücktrat. Auch Thile, Itzenplitz, die beiden Königinnen und der Kronprinz gehörten 1866 zur Friedenspartei" (Bismarck über Zeitgenossen. Zeitgenossen über Bismarck. Berlin 1972, S. 378f., Fn. 20). 53 Ebd. Zu der intransigenten Haltung Gerlachs gegenüber Bismarck trug auch die Befürchtung bei, Bismarcks Einigungspolitik komme letz~_en Endes den Liberalen und Sozialisten zugute. Gerlach warf Bismarck die "Ubergabe Preußens und Deutschlands an Lasker und Konsorten" vor (Ludwig von Gerlach an Gerhard von Thadden. 7. August 1872. Abgedruckt in: Gerhard Ritter: Die preußischen Konservativen und Bismarcks deutsche Politik 1858 bis 1876. Heidelberg 1913, S. 389). Vgl. dazu auch Wilhelm Mommsen: Stein. Ranke. Bismarck. Ein Beitrag zur politischen und sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts. München 1954, S. 253.
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nalen Band; aber keinen Bund und keinen Bundestag mehr, das ist nun doch ein colossaler Gedanke. Er erheischt von uns den Anfang eines ganz neuen politischen Lebens, ich möchte sagen, wir müssen uns andere politische Augen anschaffen54 ." In diesem katholischen Periodikum wird auch der Sorge darüber Ausdruck verliehen, daß Bismarcks kleindeutsche Einigungspolitik neue kriegerische Auseinandersetzungen in sich enthalte. "Mitteleuropa wird also einen Frieden haben der nicht nur ein fauler, sondern der überhaupt kein Friede ist. Es wird ein Waffenstillstand seyn während dessen alle Parteien zum neuen Kriege rüsten von dem Tage an, wo sie den sogenannten Frieden schließen. Man thut in Nikolsburg eigentlich nichts Anderes als daß man den nächsten casus belli und zugleich die Motive der offenen Revolution in Deutschland formulirt. Das europäische Provisorium ist jetzt provisorischer als jess." Auch die Schriften von Constantin Frantz eröffnen einen zentralen Zugang zum Verständnis desjenigen Konservatismus, der die kleindeutsche Einigungslösung als zu machtbetont und zu gleichgewichtsnegierend ablehnte. Konstituens von Frantzens Auffassung ist die Überzeugung, daß die von Preußen durchgesetzte Lösung desjenigen Gleichgewichts entbehrt, das das System Metternichs im großen und ganzen ausgezeichnet habe. Die kleindeutsche Lösung werde in einem so machtbetont zentrierten Horizont vollzogen, daß alle überkommenen Gleichgewichtshoffnungen aufgegeben werden müssen. "Die Idee eines Gleichgewichts der Mächte beruht auf einer inneren Wahrheit, welche sich durch das Nebeneinanderbestehen unabhängiger Staaten ganz von selbst aufdrängt ... Sie hat ihre letzte Realisierung in der europäischen Pentarchie gefunden, worauf das europäische Gleichgewicht beruhte, so lange diese Pentarchie selbst etwas Wirkliches war. Die Pentarchie hat keine Wirklichkeit mehr, sondern ist bereits als aufgelöst anzusehen, und mit ihr ist das europäische Gleichgewicht verschwundenss." Frantz zufolge ist es die Aufgabe der Deutschen, ihren Teil zu einer neuen europäischen Gleichgewichtsordnung beizutragen. "Zu einer deutschen Gesammtpolitik gehört aber vor Allem ein gemeinsames Ziel, und um dieses erfassen zu können, muß man sich zuvor über den Weltberuf der deutschen Nation klar geworden sein .. . Derselbe besteht vor allem in der Entwickelung eines neuen internationalen Systems ... Ein solches hatte das ehemalige deutsche Kaiserthum von Anfang an erstrebt, nemlich eine abendländische Völkergemeinschaft ... Die Herstellung dieser seit Jahrhunderten zerrissenen Gemeinschaft ist als die wahre Garantie des europäischen Gleichgewichts anzusehen, aber nur durch die Geltendmachung sittlicher Ideen in der Politik zu erreichen57 ." Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. 58 (1866), S. 231. Ebd., S. 224. 56 Konstantin Frantz: Untersuchungen über das Europäische Gleichgewicht. Neudruck. Osnabrück 1968, S. 433. 54 55
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Frantz zufolge sollte Deutschland nicht an der Spitze der chauvinistischen Bewegungen Europas marschieren, sondern einen friedlichen Gegenentwurf liefern. Die nationale Blickverengung habe dazu geführt, den wahren Beruf Deutschlands zu verkennen, nämlich die europäische Einigung voranzutreiben. Was der deutschen Politik ihr Signum geben sollte, sei das Bemühen, einen übernationalen Staatenverbund anzustreben. "Der Kern und das Vorbild einer sich allmählich entwickelnden europäischen Föderation soll Deutschland sein und werden,- das ist seine Bestimmungss." Bismarck wurde von konservativen Autoren aber nicht nur kritisiert, sondern auch gelobt. Dabei ist es vor allem seine Außenpolitik, die das Wohlwollen konservativer Politikanalytiker findet. Otto von Habsburg rückt Bismarck sogar in die Nähe Mettemichscher Gleichgewichtsvorstellungen. Wie diesem so sei es auch jenem darum gegangen, sich einer national-imperialistischen Politik grundsätzlich zu verweigern. "Als Christ war Bismarck auch ein Mann des Friedens. Er hat erkannt, daß das Ziel der Politik nur der Frieden zwischen den Völkern sein kann ... In diesem Sinne kann man Bismarck einen Schüler Metternichs nennen. Er hat, wie wenige andere, erkannt, daß ein dauerhafter Friede zwei wesentliche Dinge zur Vorbedingung hat: Der Besiegte muß am Friedenswerk beteiligt werden und damit für die Friedensordnung Verantwortung tragen. Ein echter Friede muß zudem Grundsätze befolgen, die gleichermaßen auf Sieger wie auf Besiegte Anwendung finden 59. " Auch Robert von Ingrim zieht eine ideologische Parallele zwischen Metternich und Bismarck. Beide seien sie glühende Gegner des modernen Nationalismus gewesen. "Als der junge preußische Junker mit dem betagten Grandseigneur zusammentraf, .. . betrachteten beide modernen Nationalismus als atavistische Selbstbespiegelungso." Allerdings existiere doch ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Staatsmännern. Metternich habe dem Nationalismus den Todesstoß zu versetzen versucht, während Bismarck die Absicht gehegt habe, ihn vor seinen politischen Karren zu spannen. "Metternich meinte, er könne diese neue Kraft ersticken, während 57
Ebd., S. 434f.
sa Konstantin Frantz: Die Religion des Nationalliberalismus. Neudruck der Aus-
gabe 1872. Aalen 1970, S. 253. Vgl. dazu auch Roman Schnur: Mitteleuropa in preußischer Sicht: Constantin Frantz. In: Der Staat 35 (1986), S. 345ff.- Unter den zeitgenössischen Konservativen beruft sich nicht zuletzt Paul Wilhelm Wenger auf Konstantin Frantz. Vgl. dazu seine Abhandlung: Wer gewinnt Deutschland? StuttgartDegerloch 1959, S. 336f. 59 Otto von Habsburg über Bismarck. In: Welt am Sonntag Nr. 14. 3. April1988. so Robert Ingrim: Von Talleyrand zu Molotow. S. 36. Ingrim weist auch darauf hin, daß Bismarck nach der Reichsgründung keinerlei expansionistische Absichten hegte. Auch das verbinde ihn mit Metternich. "Nach Bismarcks unerschütterlichem Willen war das Reich, das er geschaffen hatte, endgültig saturiert. Er liebte diesen Ausdruck, den er von Clemens von Metternich übernommen hatte. All sein Mühen diente der Aufgabe, die Nachbarn davon zu überzeugen, daß dieses Saturiertsein ehrlich gemeint war" (Die Rettung Deutschlands. Düsseldorf 1952, S. 29). 5'
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
Bismarck sich bald dafür entschied, sie zu gebrauchen6 1." Ebenso betont Hans Rothfels die antinationalistische Haltung Bismarcks. Die deutsche Einigung habe bei Bismarck so sehr im Zeichen einer legitimen Neuordnung Europas gestanden, daß er pronationalistischer Gedankengänge und Handlungen kaum bezichtigt werden könne. Gerade dieser preußische Konservative lasse Wertungsgrundsätze erkennen, die ihre Wurzel keineswegs im modernen Nationalismus, sondern im Staatsgedanken an sich haben. "Im Entscheidenden kam er vom Staat und nicht von der Nation her, geschweige denn, daß er . .. ,einen völkischen Standpunkt' vertrat62." Bismarcks antiaggressive, auf dem Prinzip des Gleichgewichts basierenden Außenpolitik wurde auch von ausländischen konservativen Historikern betont. So schreibt etwa A. J . P. Taylor: "He had reined in his political passions, and those of others; given to no one the victory; preached moderation and often practised it. He wanted Germany to remain content with the frontiers that he had drawn for her63." Bismarcks moderierte Außenpolitik wurde im konservativen Lager nicht nur zustimmend bewertet, sie geriet auch ins Fadenkreuz konservativer Kritik. Moeller van den Bruck zufolge war sie zu sehr dem Geiste des Ausgleichs verpflichtet, zu sehr auf das Gleichgewicht in Europa und zu wenig auf die deutschen Belange ausgerichtet. "Von unserem größten Staatsmanne aber ist heute zweifelhaft, ob es nicht sein großer Irrtum gewesen ist, daß er 1866 nicht nach Wien marschieren ließ, um dem unerträglichen Zustande ein Ende zu machen, daß es zwei Erben des alten deutschen Reiches gab jenem Zustande, der 1871 doppelt spürbar wurde, als man das neue deut61 Ebd. Die moderierte, auf Ausgleich bedachte Außenpolitik Bismarcks zeige sich nicht zuletzt im Vergleich mit Hitler. Während es dem Preußen um ei~ gutes Verhältnis zu den Nachbarn Deutschlands gegangen sei, habe sich der Osterreicher als aggressiver Nationalist geriert. "Wer ein bißchen Geschichte kennt, sollte wissen, daß Hitlers Politik durchaus die stärkste Abweichung von Bismarcks Lehren war" (ebd., S. 41). Bismarcks Größe habe darin bestanden, daß er "Mäßigung im Sieg" (ebd.) praktizierte. Dabei sei es insbesondere sein Preußenturn gewesen, das ihn daran hinderte, als deutscher Nationalist aufzutreten. "Als ein deutscher Nationalist hätte er danach gestrebt, Österreichs deutsche Provinzen dem Reich anzugliedern. Als ein preußischer Imperialist entschied er sich dafür, Österreich aus dem Reich auszuschließen" (ebd.). 62 Hans Rothfels: Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Vorträge und Aufsätze. Göttingen 1959, S. 64. 63 A . J. P. Taylor: Bismarck. The Man and the Statesman. London 1956, S. 265. In diesem Zusammenhang ist auch Leonhard von Muralt zu erwähnen. Auch er verweist darauf, wie wenig expansionistisch Bismarcks Politik ausgerichtet war. "In Nikolsburg verhinderte Bismarck König Wilhelm, seine Wünsche gegenüber einem geschlagenen Gegner durchzusetzen. Hier war Bismarck am größten. Er hatte nämlich nie eine ,Blut- und Eisen'-Politik an sich treiben wollen, sondern er war sich wie sonst fast nie ein Staatsmann der neueren Geschichte im klaren darüber, daß der Krieg wirklich nur Politik mit ~nderen Mitteln sein darf. Er führte den Krieg weder um des Krieges willen, noch um Osterreich als lästigen Rivalen zu demütigen, sondern um das Gebrechen zu heilen, um die Möglichkeit zu schaffen, eine neue Bundesordnung in Deutschland zu begründen und die Beziehungen zu Österreich neu zu ordnen" (Bismarcks Verantwortlichkeit. Göttingen, Berlin und Frankfurt 1955, S. 27).
1. Konservative Gleichgewichtsvorstellungen
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sehe Reich nach Paul de Lagardes Wort gleich einem dreibeinigen Löwen durch die Geschichte hinken sah&4." Der von Metternich vertretene Gleichgewichtsgedanke wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts von einer Reihe von konservativen Autoren dazu verwendet, um im Namen des Deutschen Reiches gegen die Weltstellung Englands zu opponierens5. Sie votierten für eine neue Gleichgewichtsordnung, in der sich Deutsche und Engländer als gleichberechtigte Mächte einander gegenübertreten konnten. Zu den herausragenden Repräsentanten dieser Gruppe zählten der Historiker Otto Hintze und der Philosoph Max Scheler. Bei Otto Hintze heißt es: "Wir wollen die Freiheit und Gleichberechtigung, die bisher unter den europäischen Großmächten herrschte, hinüberretten in das erweiterte Weltstaatensystem, das unter den fürchterlichen Wehen dieses Krieges geboren wird&&." Dabei sieht Hintze England als den Erzfeind der von ihm ersehnten Friedensordnung an. "Unser Hauptfeind ... ist England, das an die Stelle eines freien, sozusagen genossenschaftlichen Systems der Mächte seine eigene Weltherrschaft setzen will und darum den Versuch unternommen hat, die einzige europäische Macht, die ihm dabei noch Widerstand leisten kann, nämlich Deutschland, mit Hilfe einer erdrückenden Koalition zu vernichten67 .'' Die von Hintze propagierte internationale Gleichgewichtsordnung unterscheidet sich allerdings entscheidend von der von Wilson propagierten. "Wir fassen ... einen solchen Friedensbund etwas anders als Präsident Wilson, der heute als ein neuer Metternich, nur mit umgekehrter Tendenz, dasteht68." Die Heilige Allianz von früher finde sich bei Wilson mit einem umgepolten ideologischen Vorzeichen wieder. Wilson wolle in "seinen Friedensbund nur Völker mit demokratischer Selbstregierung aufnehmen"69. Er mute uns "eine Revolution wie in Rußland und eine Absetzung der Hohenzollern zu, wenn wir der Ehre würdig werden wollen, in diesen Bund aufgenommen zu werden" 70 • Dabei würde die "anglo-amerikanische Universaldemokratie ... nur eine neue Form dessen darstellen, was man früher Universalmonarchie nannte" 71 • Die Besinnung darauf, wie 64 Moeller van den Bruck: Sozialismus und Außenpolitik. Hrsg. von Hans Schwarz. Breslau 1933, S. 25. 65 Heinz Gollwitzer zufolge handelt es sich dabei um den Versuch, .,ein außenpolitisches Pendant zu den eher metapolitischen ,Ideen von 1914' zu kreieren" (.,Für welchen Weltgedanken kämpfen wir?" Bemerkungen zur Dialektik zwischen Identitäts- und Expansionsideologien in der deutschen Geschichte. In: Deutsche Frage und europäisches Gleichgewicht. Festschrift für Andreas Hillgruber zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Klaus Hildebrand und Reiner Pommerin. Köln und Wien 1985, S. 101). Vgl. dazu auch Johann Plenge: 1789 und 1914. Die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes. Berlin 1916. 66 Otto Hintze: Imperialismus und deutsche Weltpolitik. In: Die deutsche Freiheit. Fünf Vorträge. Gotha 1917, S. 114. 67 Ebd., S. 114 f. 68 Ebd., S. 154. 69 Ebd. 70 Ebd.
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
eine die deutschen Interessen befördernde Gleichgewichtsordnung in Europa auszusehen hat, brachten Otto Hintze und seine Gesinnungsfreunde auch in scharfen Gegensatz zu jenen Kreisen, die einer chauvinistischexpansionistischen Politik das Wort redeten72 . Otto Hintze schreibt: "Diese vorsichtige und zurückhaltende Politik ... hat ja in den sogenannten alldeutschen Kreisen Widerspruch und Tadel genug gefunden. Aber es ist ein Unterschied, ob man die Dinge vom Standpunkt des verantwortlichen Staatsmannes betrachtet oder vom Standpunkt eines lediglich von populären Machtwünschen erfüllten Publizisten oder Parteiführers73." Hintze war in der Tat kein Chauvinist. Ludwig Dehio wies zu Recht darauf hin, daß bei ihm durchaus "der Glaube an die Harmonie eines bevorstehenden Weltgleichgewichts"74 vorherrschte, daß er "den Segen, den das lebensvolle Nebeneinander freier Völker und Staaten im globalen Rahmen verbreiten werde"75, von ganzem Herzen erhoffte. Hintze habe tatsächlich daran geglaubt, Deutschland könne die "Bahn für die Freiheit aller Völker"76 brechen. Daß eine derartige Politik Deutschland in die Gefahr brachte, auf die "napoleonische Bahn" 77 zu geraten, das sei von Hintze allerdings übersehen worden. Letzten Endes stellten derlei Argumente für ihn nicht mehr und nicht weniger als "eine absurde These der insularen Propaganda"78 dar. Wie Otto Hintze, so sprach sich auch Max Scheler für eine neue Gleichgewichtsordnung aus. Wie jener so lehnte auch dieser eine Kräftebalance ab, die durch die Suprematie Englands entscheidend bestimmt war. Dabei ist sich Scheler durchaus bewußt, daß eine neue Gleichgewichtsordnung keineswegs einfach zu erreichen ist. "Weder der reaktionäre Gedanke einer Rückkehr zur Bismarckschen nationalen Kontinentalpolitik, den schon unsere jährlich um 800 000 - 900 000 Menschen wachsende Bevölkerung ausschließt, noch der Gedanke des pangermanistischen Imperialismus, der n Ebd., S. 156. 72 Hintze warnte die verantwortlichen deutschen Politiker davor, imperialistische Träume zu hegen. "Den Trieb und die Anlage zum echten Imperialismus besitzt aber Deutschland keineswegs. Der deutsche Gedanke in der Welt, von dem man wohl gesprochen hat, ist sicherlich nicht auf Weltherrschaft gerichtet; selbst die am weitesten gehenden Vertreter eines größeren Deutschland denken nicht an eine Ausweitung Deutschlands zu einem Weltreich wie es das britische ist" (ebd., S. 133). Einer der Hauptgründe für diese deutsche "Bescheidenheit" sei die geographische Lage Deutschlands. "Unsere eingeschlossene Lage in der Mitte des europäischen Kontinents, umgeben von hochkultivierten, selbstbewußten, zum Teil sehr starken und eifersüchtigen Völkern, gestattet uns zu Lande keine solche Anerkennung wie sie Rußland seit Jahrhunderten und die amerikanische Union in so großem Maßstab während des 19. Jahrhunderts aufzuweisen hat" (ebd., S. 133). 73 Ebd., S. 141. 74 Ludwig Dehio: Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert. München 1955, s. 54. 75 Ebd. 76 Ebd. n Ebd., S. 55. 78 Ebd.
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die Weltpolitik in einfache Abhängigkeit von der deutschen Weltpolitik bringen soll, noch endlich die ... schwächliche Opportunitätshaltung, kann irgendeinen dauernden Erfolg" 79 versprechen. Scheler plädiert dezidiert für eine "europäische Weltpolitik" 80 , die den deutschen Interessen gerecht wird und gleichzeitig die englischen Machtansprüche reduziert. "Der Eintritt in diese Phase ... wird erreicht werden, wenn nach einer baldigen Friedensverständigung auf dem Kontinent ... das fundamentalste Hemmnis des Eintritts dieser Phase, der englische Allseegeltungsanspruch und das weltpolitische prinzipielle Außenseiterturn Englands gegenüber den weltpolitischen Interessen der Kolonialmächte dauernd gebrochen wird81 . " England müßte Scheler zufolge im Interesse eines neuen Weltgleichgewichtes gezwungen werden, "für jeden Teil seines jetzigen Besitztums zu scheiden, was es vom moralischen Zusammengehörigkeitsgefühl seiner unterworfenen Bevölkerung mit dem Mutterlande und was es schließlich der Zwangsgewalt seines Allmarinismus verdankt" 82 . Zu den zusätzlichen Forderungen Schelers gehört der Appell an den Inselstaat, "alle seine weltpolitischen Schritte unter gemeinsamer Verständigung mit einem wenigstens weltpolitisch solidarischen Westeuropa zu unternehmen"B3. Die Hoffnungen Hintzes und Schelers, durch den Ersten Weltkrieg zu einer für Deutschland günstigeren Weltordnung zu kommen, hatten sich als trügerisch erwiesen. 1919 sah sich Moeller van den Bruck dazu veranlaßt, .~ die Herrschaft der alten Mächte über Deutschland zu beklagen. Besonders Frankreich und England seien darauf aus, einer Gleichgewichtsordnung das Wort zu reden, die recht eigentlich vom Stigma der Hegemonie und der Ausbeutung bestimmt sei. "Beide möchten im Genusse von Vergangenheiten bleiben, die vorteilhaft genug für sie waren. Beide möchten den Gleichgewichtszustand verewigt sehen, in den sie sich eingelebt hatten- und bei dem man von Wohlbefinden gewiß, doch nur ja nicht von Gerechtigkeit sprechen sollB4." Die alten Mächte besitzen Moeller van den Bruck zufolge sogar die Impertinenz, den jungen, ans weltpolitische Licht drängenden Staaten anzulasten, die alte Gleichgewichtsordnung leichtfertig und egoistisch außer Kraft gesetzt zu haben. "Es hindert nicht, daß gegen die jungen Völker die Anklage erhoben wird, sie hätten die Ruhe der Welt gestört, indem sie ihr Gleichgewicht störtenB5 ." Dabei ist Moeller van den Bruck der Auffassung, daß die aufmüpfigen jungen Völker völlig zu Recht die alte Ordnung in Gefahr brachten. "In Wirklichkeit haben die jungen Völker den Stillstand Max Scheler: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg. S. 371. Ebd., S. 372. 81 Ebd. 82 Ebd. sa Ebd. 84 Moeller van den Bruck: Das Recht der jungen Völker. München 1919, S. 57. 85 Ebd. 79 8o
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der Welt gestört, und sie haben es nicht erst politisch durch den Krieg getan, sondern energetisch durch die Arbeit, durch das Mehr an menschlicher Arbeit, das ihre Menschen schon im Frieden leisteten und dem die alten Völker nicht mehr gewachsen warensu." Der gegen die Westmächte gerichtete Aufbruch der jungen Völker Rußland und Deutschland sollte auch zu einem Überdenken der außenpolitischen Koalitionen führen. Deutschland habe sich nicht nach dem Westen, sondern nach dem Osten zu orientieren. Es gehe darum, die Sowjetunion für eine neue europäische Zusammenarbeit zu gewinnen. Dabei läßt Moeller keinen Zweifel daran, daß die Mitte der neuen europäischen Gleichgewichtsordnung Deutschland sein sollte. "Ohne Deutschland gleitet Rußland nach Asien hinüber. Wir können auf Rußland nicht verzichten, weil es Europa ist, weil es Christlichkeit war, und zukünftiges Land. Wir wollen es nicht für Portugal eintauschen, und auch nicht für ein Frankreich, das noch einmal ein anderes Portugal werden kann. Die Umlagerung der europäischen Kräfte, die sich einst nach Westen hin vollzog, vollzieht sich heute nach Osten hin. Und abermals ist Deutschland ihr Mittelpunkt87 ." Für Moeller van den Bruck ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die von Deutschland diktierte neue europäische Ordnung expansionistische Bestimmungsmerkmale aufweist, dem Gleichgewichtsdenken eines Metternich eigentlich ziemlich feindlich gegenübersteht. "Die jungen Völker wollen leben, weil sie leben müssen . . . Die Bedingungen zur Zukunft müssen ihnen erhalten bleiben, nur Wachstum, Entwicklung, Bewegungsfreiheit im Raume und über die Zeit hinaus. Was sie verlangen, das ist ihr Recht auf Daseinss." Adolf Hitler blieb es vorbehalten, dieses deutsche "Recht auf Dasein" auf seine sozialdarwinistische Weise zu interpretieren. Ganz im Gegensatz zu den Intentionen Moeller van den Brucks, gelang es der Sowjetmacht, sich zur Weltmacht emporzuschwingen. Die Katastrophe von 1945 rückte auch für die konservativ ausgerichtete Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft die Frage ins Zentrum ihres Interesses, wie es denn zu dieser tragischen Entwicklung der deutschen Geschichte überhaupt kommen konnte. Einige konservative Historiker erblickten die entscheidende Abweichung vom Pfad Ebd., S. 58. Moeller van den Bruck: Das Recht der jungen Völker. Sammlung politischer Aufsätze hrsg. von Hans Schwarz. Berlin 1932, S. 218. 88 Ebd., S. 170. Sebastian Haffner weist darauf hin, daß die deutschen Konservativen teilweise ausgesprochen prosowjetisch eingestellt waren. "Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Männer, die damals auf der deutschen Seite, über alle ideologischen Gegensätze hinweg, Deutschland und die Sowjetunion zu Freunden machten, fast alle Männer der ,Rechten' waren- einer ganz bestimmten ,Rechten': der altpreußischen Aristokratie. Nicht nur Rantzau war das, auch Seeckt, der Vater der deutschrussischen Militärgemeinschaft, auch Maltzahn, der Vater des Rapallo-Vertrages" (Der Teufelspakt Zürich 1988, S. 125). Vgl. dazu auch Hans Hecker: Die Tat und ihr Osteuropa-Bild 1909- 1939. Köln 1974, S. 94ff. 86
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1. Konservative Gleichgewichtsvorstellungen
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der historischen Tugend schon in der Abkehr vom Mettemichsehen Gleichgewichtssystem. Sie waren der Auffassung, daß insbesondere die kleindeutsche Einigungslösung von Bismarck alle Keime der späteren Fehlentwicklung in sich trug. Solche Überlegungen erblickten im Chauvinismus des sog. Dritten Reiches die logische Fortsetzung des Nationalismus des Zweiten. Dieser wiederum verdanke seine Entstehung der Zerstörung des Deutschen Bundes. In dem Maße, in dem die Prinzipien Metternichs in den Wind geschlagen wurden, begann der Weg in die deutsche Katastrophe. Zu den führenden konservativen Autoren, die sich diese Art von Geschichtsbetrachtung zu eigen machten, gehört Emil Franzel. Er schreibt: "Mit Metternich war ... der letzte aus universaler Anschauung im Geiste europäischer Gemeinbürgschaft denkende und wirkende Staatsmann des Abendlandes" 89 abgetreten. Nach der Zerstörung seines Lebenswerkes begann "nationaler Egoismus . .. die europäische Politik zu bestimmen"90. Die Destruktion seiner Gleichgewichtsordnung habe keineswegs zu politischen Verhältnissen geführt, die den früheren in irgend einer Weise überlegen gewesen wären. "Hat etwa die Anwendung der Prinzipien von 1789 in den späteren, sozusagen ,antimetternich'schen' Verträgen des 19. Jahrhunderts, in den Friedenschlüssen von Villairanca-Zürich 1859, Wien 1864, Prag und Wien 1866, Frankfurt 1871, Berlin 1878 und endlich Versailles 1919 ein besseres Friedenssystem, eine dauerhaftere Ordnung, eine solidere Gemeinbürgscbaft der Mächte gebracht? Wir müssen doch gerade heute diese Frage, wenn wir ganz ehrlich sein wollen, verneinen91 .'' Emil Franzel zufolge falle es selbst den Anhängern der Ideen von 1789 schwer, sich dieser Schlußfolgerung gänzlich zu entziehen92. Der konservative Historiker schlägt seinen Zeitgenossen vor, bei Metternich in die Schule zu gehen. Gerade bei dem Wiener Staatsmann könne man lernen, was eine "durch Krieg, Sieg und Niederlage nicht aufzulösende Gemeinschaft der abendländischen . .. Völker und Staaten" 93 bedeute. Es sei heute dringend geboten, die Fäden der Entwicklung dort weiterzuspinnen, wo "sie mit dem Sturz Metternichs abgerissen wurden"94. Allerdings gibt es auch konservative Autoren, die der Auffassung sind, daß es im Zeitalter des Weltbürgerkriegs ausgesprochen schwierig ist, eine Emil Franzel: Metternich. In: Neues Abendland 3 (1948), S. 105. Ebd. 91 Ebd., S. 101. 92 Ebd. 93 Ebd., S. 102. 94 Ebd,, S. 105. Emil Franzel weist auch auf die Defizienzen des Mettemichsehen Systems hin. So wirft er dem Österreichischen Staatsmann vor, den Reformgedanken völlig vernachlässigt zu haben, auf den Aufbruch der revolutionär-nationalistischen Kräfte mit dem dogmatischen Rekurs auf den Gedanken der Restauration geantwortet zu haben. "Nicht, daß Metternich einen Damm gegen die Revolution errichtete, hat ihn am Ende gestürzt, sondern daß er im Übereifer auch die evolutionären Kräfte einzudämmen suchte" (ebd., S. 1). 89
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
Staatenordnung zu errichten, die auf den Gleichgewichtsprinzipien Metternichs basiert. Sie weisen darauf hin, daß dieses Gleichgewichtssystem eine einheitliche Werteordnung voraussetzt. Heute sei es vor allem die Sowjetunion, die als ideologischer Störenfried zu gelten habe. Die Sowjetunion werde von Persönlichkeiten angeführt, die kaum Gemeinsamkeiten mit dem Zaren Alexander aufweisen. So schreibt Robert A. Kann: "If historical analogies are meaningful, we must, of course, make a generous allowance for differences in historical situations. When we come to deal with personalities as different as Alexander I and his brother, and Messrs. Stalin and Khrushchev, the allowance must be very generous indeed95 ." Aus diesem Grunde könne Metternich uns Heutigen kaum als Lehrmeister dafür dienen, wie eine effiziente Ostpolitik zu gestalten sei. "Metternich's Eastern policy may have been wise or unwise; it teaches us no specific lessons96." Wilfried Hertz-Eichenrade ist der Auffassung, daß es mehr als fragwürdig sei, Kissinger in die Nähe Metternichs zu rücken. Die Voraussetzungen, von denen der Österreicher ausgehen konnte, seien grundsätzlich verschieden von denjenigen gewesen, die der Deutsch-Amerikaner angetroffen habe. "Genau deshalb hatte Kissinger keine Chance, als Staatsmann Gleiches zu vollbringen wie Metternich und Castlereagh, die Lieblingsgestalten seines historischen Interesses97." 2. Hegemoniale Herrschaft als konservatives Außenpolitikpostulat Das außenpolitische Denken des Konservatismus wird allerdings nicht nur von denjenigen Autoren bestimmt, die sich dem politischen Ideal des Gleichgewichts verschrieben haben und die auch dem weniger mächtigen Staat ein Eigenrecht zugestehen. Ihnen stehen Repräsentanten des Konservatismus gegenüber, die der hegemonialen Machtausübung das Wort reden. Ihre Perspektive ist gerichtet auf die Unterdrückung der Schwächeren durch die Starken. Für sie entspricht es dem Naturgesetz, wenn sich die internationale Bühne als Unterdrückungs- und Beherrschungsszenarium darbietet. Die Frage, welche konservativen Autoren sich dem Hegemoniepostulat besonders dediziert verschrieben haben, kann zunächst mit dem Hinweis auf Thomas Charlyle9s beantwortet werden. Seine Schriften gerieten zum augenfälligen Exempel für die in Rede stehende außenpolitische Doktrin. 95 Robert A. Kann: Metternich. A Reappraisal of his Impact in International Relations. S. 338. 96 Ebd. 97 Wilfried Hertz-Eichenrode: Die Chimäre "Gleichgewichtspolitik". Zur Neuausgabe eines klassischen Frühwerks von Henry Kissinger. In: Die Welt Nr. 223. 25. September 1986.
2. Hegemoniale Herrschaft als konservatives Außenpolitikpostulat
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Das hegemonial ausgerichtete Denken Carlyles bezieht seine Stoßkraft von der Auffassung, daß Macht allemal vor Recht geht. Die machtbetonten Gesten des Stärkeren dürfen keineswegs beckmesserisch-moralisch zensiert und auf diese Weise einem antihistorischen Verdikt ausgeliefert werden. Unter dem kratologischen Blick Carlyles avancieren Macht und Recht zu zwei ungleichrangigen Gestaltungsgrößen. Weit davon entfernt, zwischen den beiden ein Spannungsverhältnis zu stipulieren, geht Carlyle davon aus, daß der Mächtige das Recht bestimmt. "The strong thing is the just thing: this thou will find throughout in our world99 ." Alle Auseinandersetzungen der Weltgeschichte stellen diesen Grundsatz unter Beweis: "In all battles, if you await the issue, each fighter has prospered according to his right. His right and his might, at the close of the account, were one and the same. He has fought with all his might, and in exact proportion to all his right he has prevailed1oo." Eine außenpolitische Ordnung, deren konstitutives Prinzip die Herrschaft des Mächtigen über den Machtlosen ist, sieht auch die Eroberung fremder Gebiete in einem durchaus legitimen Lichte. Es gehört zu den entscheidenden Topoi der hegemonial ausgerichteten Denkschule des Konservatismus, daß die Okkupation eines fremden Staatswesens jene Normalität aufweist, die auch anderen weniger aggressiven Handlungen a priori zukommt. Carlyle schreibt: "Conquest, indeed, is a fact often witnessed: conquest which seems mere wrong and force, everywhere asserts itself as a right among men101." Letzten Endes gelinge es allerdings nur demjenigen, einen erfolgreichen Eroberungsfeldzug in Szene zu setzen, der auch die dazu benötigten Herrscherqualitäten besitzt. Das beste Beispiel hierfür stellt Carlyle zufolge das römische Weltreich dar. "The Romans, having conquered the world, held it conquered, because they could best govern the world102.'' Daß dieser englische Tory103 die Bewunderung Heinrich von Treitschkesl04 erregte, verwundert keineswegs. Nicht nur in England, sondern auch in Deutschland bewegten sich konservative Autoren in einem Vorstellungssystem, in dem allein der hegemonialen Beherrschung schwacher Staaten durch die starken Raum gegeben wurde. Dabei stellt sich dieses politische Denken sehr oft als ein Arrange98
Einen guten Überblick über die politische Philosophie Carlyles gibt Dwight
J. Simpson: Carlyle as a Political Theorist: Natural Law. In: Midwest Journal of Polit-
ical Science 3 (1959), S. 263ff. 99 Thomas Carlyle: Chartism. 1oo Thomas Carlyle: Past and Present. 101 Thomas Carlyle: Chartism. 102 Ebd. 1oa Ernest Barker schreibt: "Rating parliamentary reform, and hating the Whigs .. . Carlyle passed over to the Tory camp" (Political Thought in England 1848- 1914. Second Edition. London 1954, S . 162). 104 Vgl. dazu Hans Kohn: "Carlyle und Treitschke begegneten sich in ihrer Bewunderung für Friedrich II. von Preußen." In: Propheten ihrer Völker. Studien zum Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen. Bern 1948, S. 146.
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Ill. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
ment dar, in dem nationale und hegemoniale Elemente miteinander korrespondieren. Der nationale Selbstbehauptungs- und Expansionswille findet sich dabei nicht nur in der konservativen Staatslehre, sondern auch in der liberalen Politikdoktrin105 • Eugen Lernberg hat augenfällig auf diesen wichtigen Tatbestand aufmerksam gemacht. "Es war die logische innere Entwicklung des Liberalismus, was sich da vollzog. In einem Weltbild geboren, über dem sich noch der verbindende Bogen eines beherrschenden Prinzips wölbte, die Schöpfung Gottes oder die Humanität, mußte er, sobald dieses verblaßte, zu einem Nebeneinander Gleichwertiger führen, in dem sich schließlich das Recht des Stärkeren durchsetzte1os." Die allgemeine Ordnung lasse sich nun ausschließlich aus der "Kraft und Tüchtigkeit ableiten, mit der sich der Einzelne behauptete"l07. Was den Konservatismus anlangt, so meldeten sich zunehmend Autoren zu Wort, die die außenpolitischen Ideale von Burke, Gentz und Metternich zutiefst ablehnten und einer aggressiv-nationalistischen Gestaltung der internationalen Beziehungen das Wort sprachen. Für Karl-Georg Faber manifestierte sich darin "deutlich die Auflösung der geistigen Tradition des christlichen Konservatismus zugunsten eines konservativen Realismus, der ... Gott auf gleiche oder ähnliche Weise wie das Naturgesetz oder die Geschichte zur Rechtfertigung des politischen Geschehens einsetzte" 108. Will man den ganzen Abstand ermessen, den dieser aggressive Konservatismus vom aufgeklärten Konservatismus eines Metternich trennt, so genügt 105 Hans Rothfels weist darauf hin, daß die übergroße Betonung des nationalen Egoismus zunächst eher eine Sache der Liberalen war. Ihm zufolge stellten ",Realpolitik' und das egoistische Interesse als die einzig gesunde Grundlage der Politik- bis auf die Wortprägungen hin- eine vor-Bismarcksche Errungenschaft der Erfurter und Gothaer, d.h. der liber.alen Parteien" dar (Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Vorträge und Aufsätze. S. 61). Ahnlieh schreibt Hans Kohn: "Tatsächlich waren die deutschen Liberalen von 1815 und von 1848 in der überragenden Mehrheit mehr deutsch als liberal" (Propheten ihrer Völker. S. 126). 106 Eugen Lemberg: Geschichte des Nationalismus in Europa. Stuttgart 1950, s. 271. 107 Ebd. Lernberg zufolge hatte sich "der Stil der großen Politik der europäischen Mächte ... im Laufe des 19. Jahrhunderts von Grund auf gewandelt. War noch Metternich geneigt, um des über den Staaten waltenden Prinzips der Legitimitätwillen das Interesse des eigenen Staates hintanzustellen, weil dieser Staat im Dienste einer überstaatlichen, europäischen Ordnung stand, so bewegt sich die Politik am Ende des 19. Jahrhunderts im Stile des Imperialismus" (ebd., S. 270). Für Eugen Lernberg exemplifiziert sich dieser Wandel besonders augenfällig an der Änderung des Bedeutungshofes des Begriffes Frieden. "Frieden bedeutete noch zur Zeit des Wiener Kongresses eine Völkerordnung, einen Rechtszustand, auf den alle verpflichtet waren. Um 1900 hieß Friede einfach die Abwesenheit von Kampfhandlungen, war also ein durchaus negativer Begriff. Man war bestrebt, ihn zu erhalten, aber nun nicht mehr durch eine Art von Polizeimaßnahmen, im gemeinsamen Interesse von allen gemeinsam durchgeführt, sondern dadurch, daß man das Risiko einer Störung durch Rüstungen und Bündnisse möglichst steigerte- unter der stillschweigenden Voraussetzung also, daß jeder eingreifen würde, wenn er es ohne Risiko könnte" (ebd., S. 270f.). 10B Karl-Georg Faber: Realpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 29.
2. Hegemoniale Herrschaft als konservatives Außenpolitikpostulat
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ein Blick in die Schriften Julius Langbehns und Paul de Lagardes. Nicht zuletzt die außenpolitischen Überlegungen Langbehns tragen alle Züge einer Konzeption, in der für die Deutschen die Vorherrschaft in Europa, wenn nicht in der Welt, lautstark gefordert wird. Langbehns außenpolitisches Programm wird von einer Auffassung kanalisiert, das ohne Zögern als chauvinistisch bezeichnet werden kann. Für Deutschland existieren nur zwei Möglichkeiten: Einmal kann es in einem ungeheuren Kraftakt versuchen, den anderen europäischen Staaten seinen militärischen und politischen Willen aufzuzwingen. Unterläßt es diesen Versuch bzw. mißlingt er, dann wird es unweigerlich zum unwürdigen Befehlsempfänger seiner Nachbarn degradiert. Allein ein Blick auf die Landkarte genüge, zu dieser geopolitischen Einsicht zu gelangen. "Schon allein durch seine Lage ist es (d.h. Deutschland; J. B. M.) bestimmt, im europäischen Staatsleben entweder zu dominiren oder dominirt zu werden; ein Drittes giebt es nicht; und solange es einig ist, dominirt es1o9." Deutschlands Herrschaft sollte sich Langbehn zufolge allerdings nicht nur über die anderen europäischen Länder erstrekken. Recht eigentlich gebühre dem deutschen Volke auch die Herrschaft über die Welt. "Der Deutsche beherrscht also, als Aristokrat, bereits Europa; und er beherrscht, als Demokrat, auch Amerika; es wird vielleicht nicht lange dauern bis er, als Mensch, die Welt beherrscht. Möge er sich einer solchen Rolle würdig zeigen uo." Daß diese Herrschaftsforderung mehr als legitim ist, darüber läßt Langbehn auch nicht den Schatten eines Zweifels aufkommen. Ohne Zweifel wird Deutschland eines Tages "verdienterweise auf dem Richterstuhl der Nationen sitzen" 111 und "im politischen Weltkonzert die erste Geige spielen"112. Wenn Deutschland dann der Ehre teilhaftig wird, den "Chor der Völker zu führen"113, wird in der weltpolitischen Arena endlich das "deutsche Wahrwort ... ein Machtwort sein"11 4 • Dann findet die Herrschaft des deutschen Kaisers im Innern ihre logische Fortsetzung in der Befehlsgewalt nach außen. "Was der deutsche Kaiser unter den deutschen Fürsten ist, das geborene Haupt, sollte Deutschland unter den übrigen Ländern der Erde sein115." I09 Julius Langbehn: Rembrandtals Erzieher. Von einem Deutschen. 20. Auflage. Leipzig 1890, S. 230. Zu Langbehn vgl. auch Heinz Gollwitzer: "Für welchen Weltgedanken kämpfen wir?". Bemerkungen zur Dialektik zwischen Identitäts- und Expansionsideologien in der deutschen Geschichte. S. 87. llO Ebd. m Ebd., S. 231. 112 Ebd. Vgl. dazu auch: "Die Geige ist ein aristokratisches Instrument; sie wirkt nicht durch lärmende, sondern gehaltene Töne; ihr Wesen ist feinste Nüancierung, edelste Abstufung. Wie für die innere soll sie auch für die äußere Politik des deutschen Reiches vorbildlich sein; Macht und Recht hat diese letztere, von oben nach unten, in sanften Übergängen und gerecht zu verteilen. Decresdendo" (ebd.). 113 Ebd. ll4 Ebd. m Ebd., S. 230.
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
Ähnlich aggressiv-nationalistische Töne wie bei Langbehn sind auch bei Paul de Lagardells zu vernehmen. Er legitimiert sein hegemoniales Außenpolitikkonzept mit der Behauptung, die politisch und charakterlich über den anderen Völkern stehenden Deutschen hätten eine welthistorische Aufgabe erhalten. "Die Deutschen ... sind ... überzeugt davon, daß sie für alle Nationen der Erde eine Mission haben117." Dabei kommt ihnen das Recht zu, allen Widerspruch gegen ihre expansionistischen Anstrengungen im Keime zu ersticken und mit Waffengewalt zu beantworten. "Hindert man sie, als Deutsche zu leben, hindert man sie, ihrer Mission nachzugehen, so haben sie die Befugnis Gewalt zu brauchen, wie ein Hausherr die Befugnis hat, wenn er vor seinem Haus das Gedeihen seiner Familie störende Elemente findet, diese Elemente in die Ferne zu befördern11s." Zunächst ist es für Lagarde eine Selbstverständlichkeit, daß den Deutschen das Recht zukomme, über Österreich zu herrschen. "Österreich bedarf einer herrschenden Rasse, und herrschen können in Österreich nur die Deutschenn9." Darüber hinaus sind die Deutschen auch dazu legitimiert, ganz Mitteleuropa den Stempel ihres politischen Willens aufzudrücken. Es besteht Lagarde zufolge kein Zweifel darüber, daß "Mitteleuropa ... als das Land und der Staat und das Reich der Deutschen zu gelten"l20 habe. In einer Abhandlung aus dem Jahre 1875 meldet Lagarde unmißverständlich Ansprüche auf polnisches Gebiet an. "Wir müssen, auch wenn strategische Erwägungen nicht vorhanden wären, das russische Polen für uns nehmen, weil Ost- und Westpreußen ohne dies Hinterland auf die Dauer nicht zu leben vermögen121 ." Schließlich sei bekannt, "daß das Herzogtum Warschau uns gehört hat, daß ganz Polen 1831 uns von den Polen aufs neue angeboten worden ist" 122. Zur Steigerung des deutschen Einflusses auf die europäische Politik sei es auch notwendig, eine durchdachte Auswanderungspolitik zu betreiben. "Die deutsche Auswanderung muß systematisch und nach einem sorgfältig, auch nach strategischen Gesichtspunkten überlegten Plane nach Istrien, nach den slowakischen und magyarischen Teilen 116 Vgl. dazu Ludwig Schemann: Paul de Lagarde. Ein Lebens- und Erinnerungsbild. Leipzig und Hartenstein-Sachsen 1919. 117 Paul de Lagarde: Die nächsten Pflichten deutscher Politik. In: Deutsche Schriften. München 1924, S. 449f. 118 Ebd., S. 450. Vgl. dazu auch Fritz Stern: "Streit und Blutvergießen waren nach Ansicht Lagardes die wesentlichen Elemente jeden Fortschritts; und diese grausame Lehre fand ein um so willigeres Gehör, als die drei Kriege, die Deutschlands Einigung vorangegangen waren, verhältnismäßig wenig Menschenopfer gekostet hatten" (Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Aus dem Amerikanischen. Bern, Stuttgart und Wien 1963, S. 97f.). 119 Ebd., S. 457. 12o Ebd., S. 459. 121 Paul de Lagarde: Über die gegenwärtige Lage des deutschen Reiches (1875). In: Deutsche Schriften. S. 116. 122 Ebd.
2. Hegemoniale Herrschaft als konservatives Außenpolitikpostulat
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Ungarns, nach Böhmen und Galizien, nach den polnischen Strichen Schlesiens und nach Posen gerichtet werdeni23." Nicht nur im 19., sondern auch im 20. Jahrhundert haben sich konservative Autoren dem Gedanken verschrieben, daß die Deutschen die natürlichen Herren Europas seien. In Wien fühlte sich Othmar Spann dazu verpflichtet, einem außenpolitischen Sozialdarwinismusl24 das Wort zu reden. Wenn es der Zweck der Staatskunst sei, für stabile Verhältnisse zwischen den einzelnen, untereinander rivalisierenden Gemeinwesen zu sorgen, dann müsse notwendigerweise auch das Dominanzrecht der stärkeren politischen Entität über die schwächere anerkannt werden. Nicht zuletzt die geschichtliche Erfahrung delegitimiere in aller Deutlichkeit diejenigen, die von einer internationalen Gleichgewichtsordnung träumen, in dem auch der Schwächere Rechte gegenüber dem Stärkeren besitze. "Daß das Perserreich den Griechen Alexanders weichen mußte, war gerecht; daß später die alten Griechen untergehen und zuerst den Römern sich beugen mußten, dann von Hunnen und Slawen überrannt wurden, war ebenso gerecht, da sie schon im Innersten ihrer Rassenkraft angegriffen und verdorben waren; daß dann die Völker den germanischen Naturvölkern erlagen, war wiederum gerecht, und so erging es mit allen großen Entscheidungen der Geschichte125 ." Insbesondere die historischen Ereignisse der Neuzeit erhalten im Horizonte der Spannsehen Geschiehtsauffassung jene Interpretation, die aus dem Satz "Macht geht vor Recht" notwendigerweise folgt. "Die Katastrophe der Preußen im Jahre 1806 bei Jena war gerecht ... Mit ebensolcher Notwendig123 Paul de Lagarde: Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik (1853). In: Deutsche Schriften. S. 33. Dieser unversöhnlich-aggressive Ton hat allerdings bei einigen Parteigängern des Konservatismus Bedenken hervorgerufen. Hans Delbrück, Mitglied der Freikonservativen Partei, hat seiner Sorge augenfällig Ausdruck verliehen: "Das hohe Ideal unserer Väter war, daß der deutsche Nationalstaat einmal entstehen solle, ohne daß der Deutsche in die Gehässigkeit und Exklusivität verfalle, die wir bei anderen Nationen als Chauvinismus, Jingotum, Moskowiterei brandmarken .. . Dieses Ideal droht uns verloren zu gehen. Die edleren Geister beginnen mit Schrecken auf die Formen zu sehen, in denen sich heute das nationale Gefühl bewegt und auf die Sorte von Menschen, die sich erdreistet, in nationalen Fragen die Führung zu übernehmen" (Ein nationales Programm. Das Programm der "Preußischen Jahrbücher". Berlin 1899, S. 16. Zu Hans Delbrück vgl. Annelise Thimme: Hans Delbrück als Kritiker der Wilhelminischen Epoche. Düsseldorf 1955, S. 31). 124 Der außenpolitische Sozialdarwinismus ist sowohl im liberalen als auch im konservativen Ideenkreis zu finden. Vgl. dazu Carlton J. H. Hayes: A Generation of Materialism. New York, Evanston and London 1963, S. 9ff. Auch an England wurde der Sozialdarwinismus in den Dienst außenpolitischer Strategien gestellt. Hayes schreibt: "That Russian aggression should be opposed not only by the Ottoman Empire but also by the British Empire was the burden of a sensational book which a famous English army officer and archaeologist, Sir Henry Rawlinson, brought out in 1875. The supreme struggle for existence, it seemed, would be between Britain and Russia; and to ensure the survival of the fittest Britain should not hesitate to employ physical forces" (ebd., S. 13). Allerdings sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, daß es auch einen pazifistischen Sozialdarwinismus gibt (vgl. dazu Fußnote 8 Kap. II). 125 Othmar Spann: Zur Soziologie und Philosophie des Krieges. S. 20.
111. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
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keit mußte Österreich im Jahre 1866 den Siegern unterliegen, weil es in allen Punkten der Schwächere wari26." Auch die außenpolitischen Gedanken Wilhelm Stapels werden von der Auffassung bestimmt, daß dem Stärksten und Durchsetzungswilligsten die politische Krone gebührt. Stapel zufolge existiert ohne Zweifel eine "natürliche Verschiedenheit der Nationen" 127. Da jede Vergemeinschaftung eine rigide Über- und Unterordnung kenne, weise auch die internationale Staatengesellschaft ein derartiges Ranggefälle auf. Ihre Daseinsstruktur sei ohne "eine natürliche Rangordnung, also ohne eine echte Herrschordnung"I28 letzten Endes nicht verbürgt. Dabei sei insbesondere dem Liberalismus anzulasten, sich diesen Einsichten zu verschließen. Diese Ideologie habe sich allerdings im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Menschengenauso geirrt wie in bezug auf die Gleichrangigkeit der Nationen. Letzten Endes erkenne der Konservative die unumstößlichen Gesetze der Natur, wenn er die internationale Staatenwelt als ein Handlungsgefüge begreift, in dem das Prinzip der Ungleichheit herrscht. "Wie es in Wahrheit keine Gleichberechtigung der Menschen gibt, so gibt es in Wahrheit auch keine ,Gleichberechtigung der Nationen'. Die Nationen sind in ihrer Beschaffenheit verschieden und darum in ihren Fähigkeiten und Leistungen. Wiederum, weil sie in ihren Fähigkeiten und Leistungen verschieden sind, so ist notwendig ihr Wert verschieden129." Dieser wissenschaftlichen Einsicht müsse im Bereich der Politik Geltung verschafft werden. Nicht immer übt derjenige die größte Macht aus, dem sie auf Grund seiner Leistungen und seiner Kulturhöhe auch zukommt. Dies sei besonders im Hinblick auf die Stellung Deutschlands im europäischen Staatenkonzert der Fall. Die Deutschen haben Stapel zufolge einen natürlichen Anspruch darauf, in Europa als Herrscher zu gelten. Dem Stärksten gebühre die Oberhoheit. "Wir bringen diese europäische Aufgabe zusammen mit dem, was wir über die natürliche Entwicklung aller Gemeinschaft sagten, und ziehen aus beiden Prämissen den Schluß: Es muß sich eine Nation groß und glänzend über die anderen erheben, es muß eine Nation ihre Autorität über die anderen festigen, es muß eine Nation ein imperiales Recht setzen und einen europäischen Nomos aufrichten. DerTräger des neuen Imperialismus kann nur die deutsche Nation seinl3o." Allein die deutsche Vorherrschaft garantiere in Europa jenen Friedenszustand, den die Völker dieses Kontinents so heiß erflehen. Ohne den deutschen Ord12s 127
Ebd., S. 20f.
Wilhelm Stapel: Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus.
Zweite Auflage. Harnburg 1932, S. 251. 128 Ebd., S. 251. 129 Ebd., S. 246f. Vgl. dazu auch: "Der eine ist dem andern keineswegs gleichwertig, nur weil er auch ,Menschenantlitz trägt'. Friederike Kempner ist Goethe nicht gleichwertig, nur weil sie auch Gedichte verfaßt hat. Gustav Nagel ist dem heiligen Franziskus nicht gleichwertig, nur weil er auch ein ,guter Mensch' ist" (ebd., S. 247). 130 Ebd., S. 252f.
2. Hegemoniale Herrschaft als konservatives Außenpolitikpostulat
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nungsstifter gerate Europa sogar in Gefahr, der Anarchie anheimzufallen. "Nur ein von Deutschen geführtes Europa kann ein befriedetes Europa werden. Europakrankt an der Schwäche der Deutschen. Nur wenn wir die Vormacht haben, können für uns die Grenzen so bedeutungslos werden, daß wir sie sogar lassen können, wie sie sind. Sind wir die Vormacht und ist der Deutsche, in welchem Land und Volk Europas auch immer, als der Erste anerkannt, so wird endlich Ordnung kommen in diesen zerrissenen Kontinent131." Sollte es den Deutschen allerdings verwehrt werden, ihre natürliche Vormachtrolle in Europa spielen zu können, komme es unweigerlich zur kriegerischen Auseinandersetzung. "Wo uns das Imperium nicht zugestanden wird, muß es errungen werden. Denn wir sind nicht andern ,gleich', sondern wird sind ,Deutsche'132." So sehr es der politischen Vernunft und dem Gesetz der Natur entspreche, daß den Deutschen die Herrschaftskrone in Europa gebührt, so ausgemacht ist es für Wilhelm Stapel, daß insbesondere den Franzosen und den Polen keinerlei derartige Rechte zukommen. Was die Franzosen anlangt, so reiche ihre politische Kraft ganz einfach nicht mehr aus, um eine derartig anspruchsvolle Aufgabe auf Dauer übernehmen zu können. Der Zweifel an dieser Fähigkeit schleiche sich besonders dann unaufhaltsam ein, wenn man die französische Außenpolitik des letzten Jahrhunderts in näheren Augenschein nehme. Frankreich habe "sein Schwergewicht aus Europanach Afrika und Asien verlagert"l33. Dabei eignete es sich "ein ungeheures Kolonialreich voll brauner und schwarzer Völkerschaften"l34 an. Diese imperialistische Expansion habe Frankreichs Kraft entscheidend reduziert. Es ist schon heute "nicht mehr stark genug, dieses Reich zu meistern" 135 • Aus diesem Grunde sei Frankreich unfähig, "die europäischen Nationen zu führen" 136 • Selbstverständlich komme auch den Polen keinerlei Anspruch zu, in Europa eine führende Rolle zu spielen. Ihre Inferiorität verdamme sie zur Botmäßigkeit gegenüber den Deutschen. "Wir sind Deutsche, gleichviel ob Minderheit oder Mehrheit, und als Deutsche sind wir die Ersten. Wenn in ganz Polen nur zwei Deutsche wohnen würden, so wären sie mehr als die Millionen Polen; denn sie sind eben Deutsche. Der Rang wird nicht durch Zahl und Menge, sondern durch die Qualität des Seins . .. bestimmt137." Die Besinnung darauf, wie eine großmachtorientierte europäische Politik zu gestalten sei, führt Max Hildebert Boehm zu der Forderung, die Anzahl Ebd., S . 255. Ebd., S. 256. 133 Ebd., S. 253. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd. 137 Ebd., S. 255. Stapel ist der Auffassung, daß mit der europäischen Herrschaft Frankreichs eine Daseinsform siegen würde, die der deutschen an der Wurzel fremd sei. In diesem Falle würde dann das Leben reduziert auf "Geld, Arbeitsgelegenheit .. . Sommerreisen, blühende Wissenschaft und ähnliches" (ebd., S. 259). 131
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der europäischen Staaten drastisch zu reduzieren. "Der wirtschaftlich zerrüttete Erdteil kann sich auf die Dauer den Luxus dieser Vielstaaterei einfach nicht mehr leisten, die der Prinzipienreiterei Wilsons ihren Ursprung verdanktl38." Letzten Endes werde das Wilsonsche System "im Interesse Frankreichs ... mit erborgtem oder erpreßtem Gelde aufrechterhalten"l39. Bei einer europäischen Neuordnung sollten Deutschland und Rußland das entscheidende Wort führen. Sie stellen die Kristallisationszentren dar, um die herum sich die kleineren Nationen zu gruppieren haben. "Über kurz oder lang werden sich die beiden niedergehaltenen Großvölker wieder zu Gravitationszentren entwickeln, an die sich dann in bestandhafteren Formen die kleineren völkischen Zwischenkomplexe ankristallisieren lassen140." Das größte Opfer haben bei dieser Neustrukturierung der europäischen Staatenwelt die Polen und die Tschechen zu bringen. "Das polnische wie das tschechische Volk werden sich in einen Zustand bequemen müssen, der nicht nur ihr völkisches Eigenleben, sondern auch das der Anrainer und Einsprengsel der ostmitteleuropäischen Mischzone sicherstelltl41. " Deutschland und Rußland könne es unmöglich zugemutet werden, daß sich in ihrem Zwischenraum zwei auf ihre Selbständigkeit pochende Kleinstaaten tummeln. "Ein aufgeblähter polnischer Völkerstaat und das raumpolitisch wie national gleich unglücklich zusammengesetzte Staatsgebilde der Tschechoslowakei sind in ihrem gegenwärtigen Bestand zwischen einem gesunden deutschen und russischen Volkskörper undenkbarl42." Auf der Suche nach denjenigen ideologischen Strömungen, die für den lebenswidrigen Schutz der Kleinstaaten Europas verantwortlich gemacht werden müssen, finden viele konservative Autoren in der Aufklärung und im Liberalismus diejenigen Kräfte, die das Recht des Großstaates auf Expansion illegitimerweise zu inhibieren versuchen. August Winnig kritisiert in diesem Zusammenhang insbesondere die Linksliberalen. Er wirft der Deutschen Demokratischen Partei vor, die außenpolitischen Vorstellungen der früheren Fortschrittspartei über Bord geworfen zu haben. Auf diese Weise sei der deutsche Linksliberalismus von einem expansionistischen Saulus zu einem pazifistischen Paulus geworden. "Einst waren zwar die demokratischen Parteiführer die Schildhalter der deutschen Machtpolitik gewesen. Naumann hatte den Zug nach China mit seinen Wünschen begleitet und hatte sich von der Sozialdemokratie darum Hunnenpastor nennen lassen müssenl43." 138 Max Hildebert Boehm: Europa Irredenta. Eine Einführung in das Nationalitätenproblem der Gegenwart. Berlin 1923, S. 312. 139 Ebd. 140 Ebd., S. 315. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 August Winnig: Das Reich als Republik. 1918- 1928. Stuttgart und Berlin 1929, S. 225. Vgl. dazu auch: "Demburg hatte der deutschen Kolonialpolitik die Weihe der
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In einer Mischung aus romantischer Verklärung der staatlichen Kleinexistenz und einem ausgeprägten Ressentiment gegenüber großstaatlicher Machtausübung haben auch Martin Spahn zufolge die beiden in Rede stehenden ideologischen Strömungen eine lebensferne und für die internationale Ordnung durchaus verhängnisvolle außenpolitische Doktrin konzipiert. "Schon die Aufklärung hatte für die kleinen Staaten als Hort der Freiheit geschwärmt. Von ihr übernahm der Liberalismus die Schwärmerei und übertrug sie wiederum auf die Demokratie. Diese mischte darin noch die Begeisterung, die sie für die Selbständigkeit der Nationalitäten empfand144." Der ideologische Einfluß des demokratischen Liberalismus habe seinen Zenit in der Forderung erreicht, jeden Kleinstaat vor den Machtansprüchen eines großen Nachbarn zu schützen. Er "erklärte nunmehr die kleinen Staaten auf dem festländischen Boden, die durch einen Zufall oder durch die Eifersucht ihrer mächtigen Nachbarn von der Großmachtentwicklung noch nicht erfaßt waren, für unversehrbar"145 . Die ideologische Vernarrtheit in das vermeintliche Existenzrecht kleiner Gruppen sei sogar so weit gegangen, jeder ethnischen Minorität das Recht auf Staats- und Nationsbildung zuzugestehen. "Umgekehrt aber wurde jedem einer Großmacht untergeordneten Volksschlag, dem es beliebte sich zur Nationalität aufzuspreizen, das Recht der ,Erlösung' zugebilligt146." Dabei sei das Problem der Lebens- und Durchsetzungsfähigkeit dieser Kleinstaaten im internationalen Konzert überhaupt nicht ventiliert worden147. Wenn sich die Großmächte gegen die illegitimen Existenzansprüche der Zwergstaaten meldeten, so wurde dies als illegitime Großmannssucht interpretiert. "Entgegenstehende Raumbedürfnisse der Großmächte galten als ,ödes Machtverlangen'148." Die ideologische Blindheit des Liberalismus habe jedoch bei aller Vorliebe für die kleinen und kleinsten Staaten übersehen, daß es durchaus unterdrückte Volksgruppen gibt, die einen Anspruch auf Hilfe und Förderung besitzen. Hermann Ullmann hat geklagt, allein die konservativen Kräfte würden ein Wort für die Belange und Ansprüche des Auslandsdeutschtums wagen. "Aus konservativen Grunderlebnissen heraus erfolgte die Abwehr gegen das liberal begründete Wachstum der kleinen Völkerl49." Vor allem Berliner Demokratie gegeben. Petersen war in Norddeutschland bei jedem Wahlkampfe als der Preisfechter der deutschen Machtpolitik aufgetreten" (ebd., S. 225f.). 144 Martin Spahn: Die Großmächte. Richtlinien ihrer Geschichte. Maßstäbe ihres Wesens. Berlin und Wien 1918, S. 147. Über die politischen Ordnungsvorstellungen Spahns vgl. Walter Ferber: Der Weg Martin Spahns. Zur Ideengeschichte des politischen Rechtskatholizismus. In: Hochland 62 (1970), S. 218ff. 145 Ebd. 146 Ebd., S. 147f. 147 Ebd. 148 Ebd., S . 148. 149 H ermann Ullmann: Das werdende Volk. Gegen Liberalismus und Reaktion. Hamburg, Berlin und Leipzig 1929, S. 73f. 6*
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die Bestrebungen der Südostdeutschen, ihre Kultur zu bewahren, sei auf die Ablehnung der liberal eingestellten Politiker gestoßen. "Für die konservative Grundlage des südostdeutschen und überhaupt auslandsdeutschen Kämpfens war bezeichnend, daß es zunächst in Reichsdeutschland nur von konservativen Kreisen verstanden wurde. Die liberalen und formal-demokratischen Kreise witterten in jenen Bestrebungen zur Erhaltung des ererbten Heimatbodenstrotz aller gemeinsamen politisch-liberalen Bekenntnisse ,reaktionäre' Kräfte, die dem Pazifismus und Internationalismus gefährlich werden könntenlso." Allein die Konservativen hätten es gewagt, mit dem Eintreten für das Auslandsdeutschtum den Vorwurf des Expansionismus und Revanchismus auf sich zu nehmen. Repräsentanten der Deutschnationalen Volkspartei haben derlei Argumente zum Anlaß genommen, für eine entscheidende Raumausweitung Deutschlands einzutreten. Der Reichstagsabgeordnete der DNVP, von Lindeiner-Wildau, forderte den "Zusammenschluß aller deutschen Stämme in Mitteleuropa im einheitlichen Nationalstaat"l51. Er begrüßte, daß besonders nach dem Ersten Weltkrieg ein "gesamtvölkisches Bewußtsein" 152 gewachsen sei. "Im Zusammenbruch der deutschen Schicksalswende von 1918 sind wir großdeutsch geworden. Jene Kraft, die uns das Böse wollte, hat uns das Gute geschafft ... Der Krieg ist unserem feldgrauen Volke zur Entdekkungsfahrt in das größere Deutschland gewordenl53." Heute seien es besonders die Soldaten, die sich zum Anwalt eines großdeutschen Zusammenschlusses machten. "Die Millionen deutscher Feldgrauer, die heimkehrten aus dem großen Völkerringen, sind heute Apostel des größeren Deutschlands. Die Erzählungen von den deutschen Städten und Burgen im Baltenland und in Siebenbürgen, von den deutschen Dörfern zwischen Ostsee und Schwarzem Meer werden aus dem Bewußtsein des reichsdeutschen Volkes nicht mehr verschwinden154." Daß es zur Gründung dieses neuen Deutschlands einer ungeheuren militärischen Kraftanstrengung bedarf, darüber läßt der DNVP-Politiker keinerlei Zweifel aufkommen. "Wer die Erneuerung des deutschen Staates will, der muß im harten Ringen der Völker und Staaten der Erde dieses dritte Reich als Machtstaat wollen. Die stärkste Macht eines Staates beruht aber nicht in dem größeren oder geringeren Maß äußerer Rüstungen, sondern in der Sammlung und Einigung aller Kräfte der Nation Ebd., S. 74. H. E. von Lindeiner-Wildau, M. d. R.: Die großdeutsche Frage. In: Dernationale Wille. Werden und Wirken der Deutschnationalen Volkspartei. 1918- 1928. Hrsg. von Max Weiß. Berlin 1928, S. 120. 152 Ebd., S. 119. 153 Ebd., S. 120. 154 Ebd. Vgl. dazu auch: "Mit ungläubigem Staunen fanden unsere Volksgenossen in Waffen überall, wohin das wechselnde Los des Weltkrieges sie trug, deutsche Frauen und Männer vor, die ihre Sprache sprachen, die ihre Sitten bewahrten, die ihre Ziele wollten und ihre Gedanken dachten. In fernen Gegenden, in die sie als Eroberer zu kommen vermeinten, wurden sie als Retter und Befreier begrüßt" (ebd.). 150 15 1
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und in der Organisation der Gesamtheit des Volkes zu Lebenswillen und Selbstbehauptung155." Das von Lindeiner-Wildau angestrebte "Großdeutschland"l56 steht eindeutig im Gegensatz zu demjenigen Staate, den Bismarck gegründet hat. Wer im Schatten Bismarcks außenpolitisch zu denken gelernt habe, müsse sich jetzt gründlich umorientieren. "Wer nur preußisch-staatlich zu denken gewohnt war, wird erst lernen müssen, großdeutsch-völkisch zu denkenls7." Ein Konservatismus, der das natürliche Recht des Großstaates so rigoros auf seine Fahnen geschrieben hatte, mußte selbstverständlich auch in der Staatskunst Metternichs sein Gegenprinzip erblicken. Die außenpolitische Politikdoktrin steht bei diesem nationalistisch-aggressiven Konservatismus so sehr im Zeichen der Machtverherrlichung, daß die Mettemichsehen Ideale notwendigerweise in den Bereich des Illegitimen und geschichtlich Überholten geraten. Dem Mettemichsehen Denken und Handeln haftet Freytagh-Loringhoven zufolge etwas Künstlich-Lebensfeindliches an. "Dieser Gedanke des europäischen Gleichgewichts war letzten Endes unstreitig künstlich und ungesund. Er bedeutete nichts anderes, als die Unterdrückung emporstrebender junger Staaten zugunsten absterbender, alter, deren innere Kraft zur Selbstbehauptung nicht mehr genügte158." Ein System, das die Machtansprüche junger, lebenstüchtiger Staaten zugunsten des überlebten Herrschaftsstrebens alter Mächte prämiert, gehört recht eigentlich auf den Abfallhaufen der nach biologischen Gesetzen sich vollziehenden Weltgeschichte. Martin Spahn zufolge hat der Hauptfehler Metternichs darin bestanden, das "Eroberergelüst"l59 der Nationen zu zügeln. Ganz im Gegensatz zu der von kriegerischen Auseinandersetzungen um Einflußzonenbestimmten internationalen Szene, habe er in seiner leichtgläubigen Naivität angenommen, dem zu Recht machtgierigen Staatswesen Zügel anlegen zu können. "Metternich ... war überzeugt, daß mit dem Wiener Ebd., S. 122. Ebd. 157 Ebd., S. 121. Im Gegensatz zu den in den alten preußischen Staatsvorstellungen Befangenen keimt für den großdeutsch gesinnten Lindeiner-Wildau jedoch Hoffnung auf der linken Seite der politischen Skala. "Auf der Linken geht es vorwärts. Wirkennen den österreichisch-deutschen Volksbund, wir kennen seine Kundgebungen auf Zusammenschluß mit Österreich. Auch die Linke hat wenigstens in bezug auf Deutsch-Österreich die Forderung des staatsrechtlichen Zusammenschlusses der deutschen Stämme Mitteleuropas als Ziel aufgestellt" (ebd.). Allerdings läßt die Linke jenes Ausmaß an großdeutsch-völkischer Zielsetzung vermissen, das für den DNVPAbgeordneten Lindeiner-Wildau unabdingbar ist. "Jene ideologische Scheu vor machtpolitischen Ansprüchen, jene voreingenommene Ablehnung historischer Überlieferungen läßt die Linke Halt machen vor jenen deutschen Gebieten, die heute unter Fremdherrschaft seufzen. Man fürchtet, daß die Aufstellung von Forderungen auch bezüglich dieser Gebiete als Sünde wider den Heiligen Geist des Pazifismus gewertet werden könne" (ebd., S. 121f.). 158 Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven: Politik. Eine Einführung in Gegenwartsfragen. München 1919, S. 172f. 159 Martin Spahn: Die Großmächte. S. 93. 155
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Kongresse die Stunde des Triumphes für den deutschen Idealismus geschlagen habe und die Großmächte fortan einträchtig die Ruhe in Europa aufrechterhalten, die überstaatlichen Interessen des Abendlandes gemeinschaftlich pflegen könnten1&o." Die Geschichte habe Metternich eindeutig widerlegt, der gesunde Egoismus der Staaten "Metternichs Idealisierung des Gleichgewichtsstrebens zur gemeineuropäischen Gesinnung" 161 in das Reich der politischen Phantasie verwiesen. Gegen das "künstliche Gleichgewicht"162 seines Staatenverbundes habe sich die Lebenskraft und der Wille der von der Natur Bevorzugten durchgesetzt. 3. Konservatismus und Imperialismus Zu den entscheidenden Charakteristika des 19. Jahrhunderts gehört neben der Verwirklichung des liberalen Verfassungsideals auch der Siegeszug der Technik. Er schlägt sich nicht zuletzt in einer Änderung der Wirtschaftsweise nieder. Die Staaten Europas gehen von der statischen zur dynamischen Ökonomie über. Der Industrialismus mit seiner sich stetig steigernden Produktivität prägt von nun an das Antlitz der Wirtschaftsgesellschaften Europas. Die technische Revolution stellt sich auch als Siegeszug der Medizintechnik dar. Er wiederum resultiert in einer Bevölkerungsvermehrung, die bislang unbekannte Ausmaße annahm. Der auf diese Weise entstandene Bevölkerungsdruck wurde nicht zuletzt durch die Auswanderung in die Kolonien gemildervsa. Die Reflexion darüber, in welchem Verhältnis die konservative Ordnungsvorstellung zur kolonialistisch-imperialistischen Politikdoktrin164 steht, Ebd. Ebd., S. 100. 162 Ebd. In wie starkem Maße das Mettemichsehe Gleichgewichtssystem angeblich den Geist des Überholten atmet, wurde nicht zuletzt auch von Eberhard von Vietsch betont. Ausgangspunkt auch seiner Überlegungen ist die Überzeugung, daß der vitale Nationalismus dem zerebralisierten und verknöcherten System Metternichs zu Recht das Lebenslicht ausgeblasen hat. "Dieser Politiker entstammte einer Spätzeit des politischen Denkens, und sein starkes Sich-hineinstellen in die politische Tradition deutete darauf hin, daß er sich selbst als Repräsentant einer alten Staatsführung fühlte. Tatsächlich trägt die Gleichgewichtspolitik überall die Züge des Alters, dessen Lebenselan nachgelassen hat und das stolz darauf ist, durch seine intellektuelle Verfeinerung und kluge Bedachtsamkeit jugendliche Unreife abgelegt zu haben (Das europäische Gleichgewicht. Politische Idee und staatsmännisches Handeln. Leipzig 1942, s. 31lff.). 163 Vgl. dazu Pery Ernst Schramm: "Europa, die nicht alle ihre Kinder ernähren konnte, gab sie - bereitwillig, aber auch trauernd - an ihre vier Schwestern ab. Gegenden, weit abgelegen und näher von niemandem gekannt, bestanden mit Urwaldbäumen oder Steppengras, besiedelten sie mit weißen Menschen, welche die Eingeborenen verdrängten oder zur Arbeit anleiteten. Dadurch schufen sie neue Wirtschaftsräume, und diese wieder verschoben die politischen Gewichte rings um den Globus" (Das 19. Jahrhundert. Europa im Zeichen der Kräfteausweitung nach Übersee. In: Die Sammlung 3 (1948), S. 458). 16o 161
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muß mit dem Hinweis beginnen, daß auch die anderen politischen Ideologien Wortführer und Repräsentanten des imperialistischen Ideenkreises165 aufzuweisen haben. Das gilt sowohl für die Liberalen als auch für die Radikalen und die Sozialisten. Was die Liberalen anlangt, so hat der genuin liberale Topos vom ewigen Frieden die Anhänger dieses Ideenkreises keineswegs davon abgehalten, dem Imperialismus ohne Einschränkungen das Wort zu reden. Sowohl nationalliberale als auch wirtschaftsliberale Überlegungen ließen die Parteigänger des Liberalismus zu den wärmsten Befürwortern von Kolonien und der imperialistischen Größe ihrer Länder werden166. In diesem Zusammenhang muß auch darauf verwiesen werden, daß mitunter Verfasser von grundlegenden proimperialistischen Abhandlungen ausgesprochen liberal dachten, respektive den liberalen Parteien angehörten. So waren beispielsweise die äußerst einflußreichen imperialistischen Autoren Charles Wentworth Dilke167 und John Robert Seeley168 bekenntnis164 Der konservative Politologe Adolf Grabowsky ist der Ansicht, daß die Wissenschaft von der Politik den Begriff des Imperialismus kaum entbehren kann. "Um den Begriff des Imperialismus geht es. Er ist im Kampf der großen Mächte, noch mehr als der Kapitalismus, zum propagandistischen Schmähwort geworden, und doch kann die Wissenschaft ihn nicht entbehren und muß ihn um so dringender behandeln" (Staatsverfestigung oder Staatsabbau? In: Zeitschrift für Politik 5 (1958), S. 98). Das Wort Imperialismus wurde in der englischen Sprache zunächst dazu verwendet, das Regime von Napoleon III. zu kennzeichnen (Richard Koebner and Helmut Dan Schmidt: Imperialism. Cambridge 1965, S. 1). 165 J. A. Schumpeter bestimmt den Begriff des Imperialismus wie folgt: "Imperialismus ist die objektlose Disposition eines Staates zu gewaltsamer Expansion ohne angehbare Grenze" (Z~r Soziologie der Imperialismen. In: Aufsätze zur Soziologie. Tübingen 1953, S. 74). Ahnlieh definiert Hugh Seton-Watson: "The irreducible core of meaning in the word is domination by persons of one nation over another nation" (The New Imperialism. A Background Book. London, Sydney and Toronto 1971, S. 7). 166 Sie wurden nicht zuletzt als "liberale Imperialisten" bezeichnet. Vgl. dazu Bernard Semmel: "Liberal-Imperialism dated from the ,eighties' and was espoused during its early phase by the two most promising of the younger leaders of the Liberal Party - Earl Roseberry and Sir Charles Dilke. Both Rosebury and Dilke believed that it was possible to be a Liberal without at the same time joining in the Radical chorus, led by men like John Bright, of shouting the phrase of laissez-faire and the denunciation of Empire" (Imperialism and Social Reform. London 1960, S. 57). Ein imperialistisch gesinnter Liberaler schrieb: "Do not let us Liberals be ashamed of our principles because we find them professed by our political opponents. When the clothes of the Whigs were stolen, it would have been an unworthy policy to have disowned the garments because they hung awkwardly on the limbs of the Tory statesmen for whom they bad not been fitted . .. My personal feeling on this subject is profound. I regard the possession of empire, with its traditions, responsibilities, and opportunities, as a source of the highest inspiration for the best qualities and energies of our race" (J. Lawson Walton: Imperialism. In: Contemporary. Review 75 (1899), S. 310). 167 Dilke preist "the expansive force of the British people" (Problems of Greater Britain. Vol. II. Second Edition. London 1890, S. 582). Die englische Überlegenheit zeige sich besonders im Vergleich zu den anderen europäischen Mächten. "The French and the Germans seem likely tobe pigmies when standing by the side of the British" (ebd.). Zu ihr trage nicht zuletzt die "race force of the Anglo-Saxons" bei (ebd., s. 583). 168 John Robert Seeley: Die Ausbreitung Englands. Hrsg. und eingeführt von Karl Alexander von Müller. Aus dem Englischen. Stuttgart, Berlin und Leipzig 1928. Vgl. dazu auch Adolf Rein: Sir John Robert Seeley. Eine Studie über den Historiker. Langensalza 1912.
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freudige Liberale1&9. Auch "radikale" Vorstellungen von der Politik und der Ökonomie waren kein Hindernis, dem Imperialismus Reverenz zu erweisen170. Einer der bekanntesten "Radicals" Englands, John Stuart Mill nämlich, hat sich ohne Abstriche zum Besitz von Kolonien bekanntm. Was den sozialistischen Ideenkreis anlangt, so gab es ausgesprochen imperialistische Strömungen sowohl in der Fabian Society172 als auch in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlandsl73. In dieser Abhandlung soll nicht entschieden werden, ob dem Konservatismus oder dem Liberalismus ein größerer Anteil an der Ausgestaltung des imperialistischen Ideenkreises und seiner Politikpraxis zukommt. Hier interessiert allein die Frage, wie die Repräsentanten des Konservatismus Kolonialismus und imperialistische Expansion bewerteten. 169 Vgl. dazu auch Christopher Dawson: "Dilke und Seeley, die ... viel dazu beitrugen, daß die Idee des Empire volkstümlich wurde, waren ... Liberale" (Europa. Idee und Wirklichkeit. Aus dem Englischen. München 1953, S. 141). no Bernard Semmel macht darauf aufmerksam, daß die Kolonialreformer der Bentham-Schule wie Roebuck, Sir William Molesworth, Charles Bullerund Edward Gibbon Wakefield "Befürworter von Plänen für eine Kolonisation Australiens und Neuseelands" waren (Die philosophischen Radikalen. Aus dem Englischen. In: Imperialismus. Hrsg. von Hans-Ulrich Wehler. Köln und Berlin 1970, S. 170). Sie können sogar als Vorläufer der Imperialismustheorie angesehen werden. Ihnen zufolge zwinge die kapitalistische Produktionsweise England, "über freien Zugang zu unentwickelten Gebieten ... zu verfügen, in die es seine überschüssige Bevölkerung abfließen lassen konnte, die die Überkapazität seiner Fabriken absorbieren würden und in die es sein überschüssiges Kapital, welches die Profitrate im Innern herabdrückte, exportieren konnte" (ebd.). Dabei seien die Bentham-Anhänger vom Geist der Aggressivität keineswegs frei gewesen. "England solle sich durch entsprechende Drohungen von China Sonderrechte, darunter einige als Handelsstützpunkte zu benutzende Inseln an der chinesischen Küste, abtreten lassen" (ebd., S. 179). m Mill schreibt: "To appreciate the benefits of colonization, it should be considered in its relation, not to a single country, but to the collective economical interests of the human race" (Principles of Political Economy. London 1883, S. 586). Dabei erweist sich die segensreiche Wirkung der Kolonien sowohl unter dem Aspekt der Distribution als auch unter dem der Produktion. "The question is in general treated too exclusively as one of distribution; of relieving one labour-market and supplying another. It is this, but it is also a question of production, and of the most efficient employment of the productive resources of the World" (ebd.). Die Kolonien besitzen Mill zufolge auch den Vorteil, den Weltfrieden zu befördern. "There are strong reasons for maintaining the present slight bond of connection ... It is a step, as far as it goes, towards universal peace, and general friendly co-operation among nations" (Representative Government. In: On Liberty, Representative Government, The Subjection of Women. London 1971, S. 406). Unter der Obhut Englands ist es den Kolonien nicht mehr möglich, Krieg zu führen und eine feindliche Macht zu unterstützen. "It renders war impossible among a !arge number of otherwise independent communities and moreover hinders any of them .. . becoming a source of additional aggressive strength to some rival power, either more despotic or closer at hand, which might not always be so unambitious or so pacific as Great Britain" (ebd.). 172 Vgl. dazu AM. McBriar: Fabian Socialism and English Politics. 1884- 1918. Cambridge 1966, S.l19ff.; Bernard Semmel: Imperialism and Social Reform. S. 235. 173 Vgl. dazu Abraham Ascher: "Radical" Imperialists Within German Social Democracy, 1912- 1918. In: Political Science Quarterly 76 (1961), S. 555ff.; Max Schippel.· Marxismus und koloniale Eingeborenenfrage. In: Sozialistische Monatshefte 1 (1908), S. 273ff.; derselbe: Der Imperialismus auf dem Chemnitzer Parteitag. In: Sozialistische Monatshefte 3 (1912), S. 127lff.
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Am Anfang einer derartigen Analyse muß die Rede auf diejenigen romantischen Autoren kommen, die dem Utiltarismus den Kampf ansagten174. Ihrer Ansicht nach könne man durch eine ökonomisch inspirierte utilitarische Analyse dem Facettenreichtum des Lebens unmöglich gerecht werden. Allein der Rückgriff auf die poetischen und heroischen Seiten des Lebens gestatte eine wirklichkeitsadäquate Analyse der Welt des Menschen. Gerade weil in seiner Geschichte auch andere Kräfte als der rationale Kalkulus am Werke seien, dürfe man den Imperialismus keineswegs auf ökonomische Antriebe allein reduzieren. Zum antiutilitaristischen Politikentwurf gehört demnach auch die Forderung bzw. Anerkennung nach kolonialer Expansion, nach der imperialistischen Größe des eigenen Landes. Zu den einflußreichsten Repräsentanten dieser romantisch-imperialistischen Geschichtsbetrachtung gehörten die sog. "Lake Poets" 175. Als "staunch conservatives" 17&, "imperialists of the Tory brand" 177, haben sie sich aus vollem Herzen für die imperialistische Ausdehnung Englands ausgesprochen1 78 . 17 4 In diesem Zusammenhang muß auch die Frage erörtert werden, welchen Standpunkt Edmund Burke zur Kolonialfrage eingenommen hat. Nach Friedrich Brie gehörte er zu denjenigen Engländern, die "den Gedanken der Kolonien als gleichberechtigte Glieder des Ganzen" vertraten (Imperialistische Strömungen in der englischen Literatur. Zweite Auflage. Halle/Saale 1928, S. 75). Scharf wandte er sich gegen die Politikpraxen von Hastings. Burke behauptete, daß die Herrschaft von Hastings autoritäre Züge trage. Sie sei "despotick to those who are subordinate to it" (Report of a Committee on the Affairs of India. In: Works. Vol. XI. A New Edition. London 1813, S. 253). Carl B. Cone ist also zuzustimmen, wenn er die Haltung Burkes zum Kolonialproblem folgendermaßen resumiert: "It was a moral question, because it involved justice for the people of India, whom history and Providence, it seemed, had placed under British authority. How could that authority be exercised so that order and justice would prevail in India? The imperial trusteeship that England had assumed imposed obligations on the merchants and the British public, but, more importantly, a responsibility before posterity and before God for the well-being of the people of India" (Burke and the Nature of Politics. The Age of the French Revolution. Ohne Ort 1964, S. 96. The University of Kentucky Press). 175 Vgl. dazu Crane Brinton: The Political Ideas of the English Romanticists. Ann Arbor 1966, S. 96ff.; Julius Hashagen: Zur Ideengeschichte des englischen Imperialismus. In: Weltwirtschaftliches Archiv 10 (1917), S. 429 und passim. 176 KlausE. Knarr: British Colonial Theories. 1570- 1850. London 1963, S. 397. 177 Ebd., S. 399. 178 So heißt es bei Samuel Taylor Coleridge: "Colonization is not only a manifest expedient, but an imperative duty on Great Britain. God seems to hold out his finger to usover the sea" (Table Talks, May 4, 1833. London 1884, S. 201). Ähnlich argumentiert Robert Southey: "It is time that Britain should become the hive of nations, and casther swarms; and here are lands to receive them. What is required of government is to encourage emigration by founding Settlements and facilitating the means of transport" (Essays, Moral and Political. Vol. I. London 1832, S. 154). Es ist Southey zufolge die Aufgabe Englands, den anderen Völkern seine Kultur zu übermitteln. Die historische Notwendigkeit gebiete es, "sowing the seeds of civilization in Africa, and ... extending the blessings of Christianity to the degraded nations of the East, the brutalized tribes of Polynesia, the Tartar hordes, the Negroes, and the poor Hottentots" (ebd., S. 18). Thomas de Quincey feierte den "colonising genius of the British People" (Ceylon: In: The Collected Writings. Ed. by David Masson. Vol. VII. Historical Essays and Researches. Edinburgh 1890, S. 429). De Quincey feierte vor allem die imperialistische Politik gegenüber Indien. "We found many kingdoms established, and to these we have given unity; and in process of doing so, by the necessities of the
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Nicht zuletzt Thomas Carlyle hat aus einer Position des Antiutilitarismus heraus einer Politikbetrachtung das Wort geredet, in der der nationalen Größe und der überragenden Bedeutung des historischen Individuums Ieitmotivische Bedeutung zukommt. Wie die Lake Poets, so legt auch er dem utilitaristisch verstellten Blick Entwicklungsweiten frei, in denen der imperialistischen Durchdringung der Welt ein entscheidender Platz eingeräumt wirdl79. Es überrascht deswegen keineswegs, wenn Thomas Carlyle, bei dem die Geschichte so sehr im Zeichen der Heldenverehrung steht, von v. Schulze-Gaevemitz als der "Vater der imperialistischen Gedankenwelt"lSo bezeichnet wurde. Für Heinrich Friedjung bahnte Carlyle "dem Imperialismus den Weg" 181 . Dabei enthüllt sich auf die frappierendste Art, in wie starkem Maße sich seine Lehre vom Recht der Mächtigen mit seiner Auffassung verbindet, den Schwachen dieser Erde zivilisatorische Hilfe zu leisten. Seine Vision von der imperialistischen Aufgabe Englands verdichtet sich zu einem Bild mit geradezu eschatologischen Zügen. Den Engländern gebühre der historische Ehrentitel des auserwählten Volkesls2. "The stream of World-History has altered its complexion; Romansare dead out, English are come in. The red broad mark of Romanhood, stamped ineffaceably on that Chart of Time, has disappeared from the present, and belongs only to the past. England plays its part; England too has a mark to leave, and we will hope none of the least significant1 83." Das Motiv für Carlyles imperialistische Einstellung ist auch in der Hoffnung begründet, daß die kühnen Taten der englischen Kolonialisten Bevölkerungsdruck und Arbeitslosigkeit zu beseitigen in der Lage sind. "England looking on her Colonies, can say: ,Here are Iands and seas, spice-lands, com-lands, timber-lands, overarched by zodiacs and stars, clasped by many-sounding seas; wide spaces of the Maker's building, fit for the cradle yet of mighty Nationsand their Seiences general welfare, or the mere instincts of self-preservation, we have transformed them to an Empire, rising like an exhalation, of our own - a mighty monument of our own superior civilisation" (ebd.). England solle auf dem einmal eingeschlagenen imperialistischen Pfad tapfer weiterschreiten: "The British race would be heard upon every wind, coming on with mighty hurrahs, full of power and tumult .. . and crying aloud to the five hundred millions of Burmah, China, Japan, and the infinite islands, to make ready their paths before them" (ebd., S. 428). 179 Vgl. dazu Else Kemper: Carlyle als Imperialist. In: Zeitschrift für Politik 11 (1919), S. 118; John Holloway: The Victorian Sage. Studies in Argument. London 1953, S. 21 ff.; Isaiah Berlin: Der Nationalismus. In Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte. Aus dem Englischen. Frankfurt am Main 1982, S. 470 und passim. 180 G. von Schulze-Gaevernitz: Britischer Imperialismus und englischer Freihandel. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Leipzig 1906, S. 78. 181 Heinrich Friedjung: Das Zeitalter des Imperialismus. 1884- 1914. Erster Band. Berlin 1919, S. 76. Vgl. dazu auch J. Salwyn Schapiro: Thomas Carlyle. Prophet of Fascism. In: The Journal of Modern History 17 (1945), S. 97ff. 182 Vgl. dazu J. Salwyn Schapiro: Thomas Carlyle, Prophet of Fascism. S. 106. 183 Thomas Carlyle: Chartism. In: Critical and Miscellaneous Essays. In Five Volumes. Volume IV. London 1899, S . 172.
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and Heroisms. Fertile continents still inhabited by wild beasts are mine, into which all the distressed populations of Europe might pour themselves, and make at once an Old World and a New World human. By the eternal fiat of the gods, this must yet one day bel84." Ein derart auf die Erringung imperialistischer Machtpositionen gerichtetes Denken läßt auch den Kolonialkrieg in einem legitimen Licht erscheinen. In Carlyle begegnen wir jener Variante des Imperialismusanwaltes, der sich mit besonderem Engagement für die kriegerische Eroberung überseeischer Gebiete einsetzt. "Foreign wars are sometimes unavoidable. We ourselves, in the course of natural merchandising and laudable business, have now and then got into ambigious situations; into quarrels which needed tobe settled, and without fighting would not settle. Sugar islands, Spiee Islands, Indias, Canadas- these, by the real decree of Heaven, were ours; and nobody would or could believe it, till it was tried by cannon law, and so proved. Such cases happen . .. Therefore many foreign wars, some of them by no means unnecessary185." Zu den proimperialistischen Repräsentanten des englischen Konservatismus, auf die Carlyle einen tiefen Einfluß ausgeübt hat, gehört John Ruskin186. Mit seinem intellektuellen Vorbild verband Ruskin die Auffassung, daß dem Materialismus der industriellen Gesellschaft mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln begegnet werden müsse. "Like Carlyle, Ruskin preached the supremacy of the spiritinan age of materialisml87." Auch Ruskin verband seine Kritik an der Industriezivilisationlas mit dem Aufruf, Englands kolonialen Besitz zu vergrößern. Die imperialistische Aktivität galt für ihn als Antidoton gegen die kulturzerstörenden Wirkungen des Maschinenzeitalters. Dabei sind seine Schriften von der tief eingewurzelten Auffassung durchzogen, daß England von der Geschichte auserwählt sei, dieser wahrhaft säkularen Aufgabe nachzukommen. "Since first the dominion of men was asserted over the ocean, three thrones, of mark beyond all others, have been set upon its sands: the Thrones of Tyre, Venice, and England. Of the First of these great powers only the memory remains; of the Second, the ruin; the Third, which inherits their greatness, if it forget their example, may be led through prouder eminence to less pitied destruction189." Ruskin läßt es wie zuvor schon Carlyle keineswegs an einem herzhaften Bekenntnis zu den Vorzügen seiner eigenen ethnischen Gruppe Thomas Carlyle: Latter-Day Pamphlets. London 1850, S. 129f. Ebd., S. 123. 186 Vgl. dazu J. Salwyn Schapiro: Thomas Carlyle. Prophet of Fascism. S. 114. 187 Ernest Barker: Political Thought in England 1848 to 1914. S. 168. 188 Ruskin machte weitgehende soziale Reformvorschläge. Aus diesem Grunde kann er als Vertreter des Sozialkonservatismus angesehen werden. 189 John Ruskin: The Stones of Venice. VoLl. In: The Works of John Ruskin: Ed. by E. T. Cook and Alexander Wedderburn. Library Edition. Volume IX. London 1903, 184 185
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ermangeln. Auch er ist davon überzeugt, daß den Engländern auf Grund ihrer Superiorität ein erster Platz im Kampf der Nationen um die Weltherrschaft gebührt. "Are we not of a race first among the strong ones of the earth; the blood in us incapable of weariness, unconquerable by grief? Have we not a history of which we can hardly think without becoming insolent in our just pride of it1 90?" Der Rekurs auf die historische Mission Englands und der Lobpreis der eigenen Rasse verbindet Ruskin mit dem Aufruf, eine imperialistische Politik zu betreiben. "Africa and India, and the Brazilian wide-watered plain, arethesenot wide enough for the ignorance of our race? have they not space enough for its pain? Must we remain here also savage, - here at enmity with each other- here foodless, houseless, in rags, in dust, and without hope, as thousands and tens of thousands of us are lying191 ." Der englische Konservatismus hat nicht nur Persönlichkeiten aufzuweisen, die sich als Schriftsteller dem imperialistischen Gedanken widmeten. Er wurde auch von führenden Politikern propagiert. Zu den bekanntesten unter ihnen sind ohne Zweifel Benjamin Disraeli und Viscount Milner zu zählen. Heinrich Friedjung zufolge gehört Disraeli zu den überragenden Gestalten des englischen Imperialismus. "Disraelis große Stellung unter seinen Landsleuten beruht darauf, daß er der Theorie schwächlicher Entsagung die Romantik nationaler Größe entgegenstellte192." Mit stiller Besessenheit habe er die Ideen Carlyles verwirklicht, die kosmopolitischen Vorstellungen der Liberalen ins Fragwürdige gerückt. Es sei Lord Beaconsfield gegönnt gewesen, "als praktischer Staatsmann mit Erfolg den Ideen zu dienen, in denen er sich von Jugend auf mit Carlyle berührte" 193. Disraeli hat sich nicht zuletzt vor dem Hintergrunde der Einsicht für eine imperialistische Politik Englands ausgesprochen, daß die Gründung des Deutschen Reiches die englische Nation vor neue Aufgaben stellte194 • Insbesondere seine berühmte 190 John Ruskin: The Crown of Wild Olive. Four Lectures on Industry and War. Sunnyside, Orpington, Kent 1886, S. 184. 191 Ebd., S. 183. 192 Heinrich Friedjung: Das Zeitalter des Imperialismus. S. 77. Allerdings hat Disraeli die englische Außenpolitik keineswegs von Anfang an in einem imperialistischen Horizonte ausgelegt. In einem Brief vom 13. August an Lord Malmesbury schreibt er: "These wretched Colonies will all be independent, too, in a few years, and are a millstone round our necks" (Zitiert in William Flavelle Monypenny and George Earle Buckle: The Life of Benjamin Disraeli Earl of Beaconsfield. Volume 111. London 1914, S. 385). Vgl. dazu auch S . R. Stembridge: Disraeli and the Millstones. In: Journal of British Studies (1965), S. 122ff. 193 Ebd. Allerdings werden die Verdienste Disraelis um das englische Empire auch bezweifelt. So schreibt C. A. Bodelson: "Disraeli does not seem ever to have been deeply interested in the colonial question. In his politicallife before the Crystal Palace Speech the colonies played an insignificant part, and even after 1872 he cannot be said to have done much to promote the unity of the Empire" (Studies in Mid-Victorian Imperialism. Kopenhagen 1924, S. 121f.). 194 Vgl. dazu William L. Langer: "lt is probably safe to say that his imperialist attitude was inspired directly by the changes that had taken place on the Continent.
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Rede im Kristall-Palast trägt alle Züge eines zutiefst imperialistischen Credos und gibt sich als Dokument zu erkennen, in dem Disraeli ohne Abstriche für die imperialistische Größe England eintritt. "Gentlemen, there is another and second great object of the Tory party. If the first is to maintain the institution of the country, the second is, in my opinion, to uphold the Empire of England195.'' In völliger Übereinstimmung mit allen anderen Panegyrikern des englischen Imperialismus pries er den stetigen Zuwachs an Größe und Bedeutung, die Englands Empire zu verzeichnen hatte. "No Caesar or Charlemagne ever presided over a Dominion so peculiar. Its flags floats on many waters; it has Provinces in every zone . .. Some of them are bound to us by the tie of liberty, fully conscious that without their connection with the Metropolis they would have no security for public freedom and self-government ... There are millions who are bound to us by military sway, and they bow tothat sway because they know that they are indebted to it for order and justice. But ... all these communities agree in recognizing the commanding spirit of these Islands that has formed and fashioned in such a manner so great a partion of the globe196." Für Disraeli schlagen kolonialer Besitz und imperialistische Größe aber auch als Verantwortung zu Buche. Disraelis Imperialismuskonzeption läßt Wertungsgrundsätze erkennen, in denen auch das Bekenntnis zur humanen Verwaltung197 der Kolonien Heimatrecht besitzt. "My Lords, that Empire is no mean heritage; but it is not a heritage that can only be enjoyed- it must be maintained - and it can be only maintained by the same qualities that created it - by courage, by discipline, by patience, by determination, and by a reverence for public law and respect for national rights19s." The triumph of the principle of nationality and the emergence of the powerful German Empire called forth a corresponding feeling of national pride among the English and resulted in a new appreciation of the Empire which was, at bottom, not at all in keeping with Manchester Doctrine" (The Diplomacy of Imperialism. 1890 - 1902. Second Edition. New York 1951, S. 70). Vgl. dazu auch Bruno Bauer: Disraelis romantischer und Bismarcks sozialistischer Imperialismus. Chemnitz 1882, S. 25 ff. 195 Benjamin Disraeli: Speech at the Banquet of the National Union of Conservative and Constitutional Associations, at the Crystal Palace, on June 24, 1872. Wiesbaden 1968, S. 5. Für C. C. Eldridge war diese Rede Disraelis "a piece of political propaganda" (Victorian Imperialism. London 1978, S. 104). Sie habe vor allem dazu gedient, angesichtsder proimperialistischen Stimmung im englischen Volk die Liberalen in ein möglichst negatives Licht zu setzen und ihnen eine anti-imperialistische Gesinnung anzulasten. "His speech was not a statement of Conservative policy but a criticism in retrospect of the Liberal party. There was little historical truth in his survey of Liberalactionsand the ideas he put forward were completely unoriginal" (ebd., S. 103). 196 Benjamin Disraeli (Earl of Beaconsfield): Monday, 8th April, 1878. House of Lords. In: Hansard's Parliamentary Debates. Third Series. Vol. 239. London 1878, s. 777. 197 Was Disraelis eigene Kolonialpolitik anlangt, so fiel sie C. C. Eldridge zufolge nicht gerade vorbildlich aus. "Disraeli had no real understanding of the empire and could not even cope with the most ordinary difficulties of colonial administration" (Victorian Imperialism. S. 102). 198 Ebd.
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Daß der Kolonialimperialismus zur nationalen Größe Englands beigetragen hat, darauf verweist auch Viscount Milner. Auch für ihn kommt der imperialistischen Expansion Englands das Verdienst zu, der Weltgeltung Englands Nachdruck verschafft zu haben. "I am not an individualist and I am not a cosmopolitan. The conception which haunts me is the conception of the people of these islands as a great family, bound by indissoluble ties to kindred families in other parts of the world, and, within its own borders, striving after all that makes for productive power, for social harmony, and, as a result of these, and as the necessary complement and shield of these, for its strength as a nation among the nations of the earth199." Wie Disraeli, so analysiert auch Milner die Weltstellung Englands im Horizonte des Machtanstiegs seiner Rivalen. "Physicallimitations alone forbid that these islands by themselves should retain the samerelative importance among the vast empires of the modern world which they held in the days of smaller states before the growth of Russia and the United States, before united Germany made those giant strides in prosperity and commerce which have been the direct result of the development of her military and naval strength2oo." Die konservativen Autoren traten für Kolonialbesitz und Empireherrschaft nicht nur ein, weil sich die nationale Größe ihres Landes auf diese Weise augenfällig unter Beweis stellen ließ. Sie waren allesamt auch der Auffassung, daß es zu den Pflichten des höher entwickelten Landes den unterentwickelten gegenüber gehört, diesen seine kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften zu übermitteln. Die Klammer, die Kolonialherren und Kolonisierte zusammenhält, ist Thomas Carlyle zufolge das gemeinsame Interesse an der Entwicklung der Menschheit. "To this English People in World-History, there have been, shall I prophesy, Two grand tasks assigned? Hugelooming through the dim tumult of the always incommensurable Present Time, outlines of two tasks disclose themselves: the grand industrial task of conquering some half or more of this Terraqueous Planet for the use of man; then secondly, the grand Constitutional task of sharing, in some specific endurable manner, the fruit of said conquest, and showing all people how it might be done20I." In ähnlicher Weise wies Viscount Milner auf die segensreiche Wirkung der englischen Kolonialherrschaft hin. Sie habe das Leben der Eingeborenen in den Kolonien entscheidend verbessert. "lt is we who have brought peace and justice, and given orderly and humane govemment, to hundreds of millions of the weaker or more backward races of the earth, and put an end to the secular weiter of bloodshed and oppression. These new Iands of immense promise inhabited by men of our race, these ancient lands restored to order and civilisation by our agency are the 199 Viscount Milner: The Nation and the Empire. Being a Collection of Speeches and Addresses: with an Introduction by Lord Milner G. C. B. London 1913, S. 163. 2oo Ebd., S. 140. . 2o1 Thomas Carlyle: Chartism. S. 175.
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two great moral assets of Imperialism. It is this aspect of the Empire ... which gives dignity to the wider patriotism, which makes it such a source of inspiration and such a stimulus to lofty effort202." Die imperialistische Anglisierung der Welt steht insbesondere Archibald Allison2o3 zufolge unter einem ausgesprochen humanen Stern. Der Wahrheitsgehalt seiner humanitär-christlich ausgerichteten Interpretation des englischen Imperialismus ruht für ihn in der Gewißheit, daß nun eine neue, eine bessere Zeit der Kolonialherrschaft angebrochen sei. "The British Colonistsnow setout with the olive branch, not the sword in their hand; with the Cross, not the eagle on their banners. They bring not war and devastation, but peace and civilisation around their steps; and the track of their chariot wheels is followed not by the sighs of a captive, but by the blessings of a renovated world204." Das Zeitalter der drakonischen Kolonialmaßnahmen, der unmenschlichen Behandlung der Kolonialvölker sei nun unwiederbringlich zu Ende. Auf dem Grunde eines neuen Kolonialismusverständnisses gelinge es jetzt, die koloniale Ausbreitung Englands mit einem humanen Vorzeichen zu versehen. "To the Anglo-Saxon race is given the sceptre of the globe - but there is not given the lash of the slave-driver, or the rack of the executioner. The East will not be stained by the same atrocities as the West205." Dabei komme eine derart humanitäre Kolonisationstätigkeit auch der Kolonialnation selber zugute. "Humanising, not destroying, as they advance - uniting with, not enslaving the inhabitants with whom they dwell, the British race may be improved in vigour and capacity2os." Letzten Endes sei der englische Imperialismus nur im Horizonte biblisch-eschatologischer Interpretation adäquat zu begreifen. Die koloniale Ausbreitung Englands liege im Plan der Vorsehung begründet. "Who is there that does not see in these marvellous Viscount Milner: The Nation and the Empire. S. 490. Alison zählt zu den wichtigsten ideologischen Repräsentanten des englischen Konservatismus. Heinz Gollwitzer zufolge wurde seine Abhandlung über die englische Geschichte zur "Bibel der Tory-Partei" (Geschichte des weltpolitischen Denkens. Band I. Vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Beginn des Imperialismus. Göttingen 1972, S. 343). Seine "präimperialistische Deutung der Weltpolitik" habe "starken Widerhall im britischen Publikum" (ebd., S. 345) gefunden. Auch nach G. P. Gooch gehört Alison zu den bedeutendsten konservativen Autoren Englands. Er schreibt: "Toryism found a new champion in Alison" (History and Historians in the Nineteenth Century. Second Edition. London 1913, S. 304). 204 Archibald Allison: Essays. Political, Historical, and Miscellaneous. Vol. II. Edinburgh and London 1850, S. 672f. Gegen diese unkritische Beurteilung des englischen Imperialismus hat G. P. Gooch Protest eingelegt. "Our material strength may be great, but the moral basis is either weak or totally lacking . . . The critical faculty has been thrown off its guard by the fabulous rapidity of our territorial growth in the last few years ... We are exposed today to the temptations that beset a man who suddenly finds hirnself the master of vast possessions. The tone and temper of our public life have already deteriorated" (Imperialism. In: The Heart of the Empire. Discussions of Problems of Modern City Life in England. Ed. by C. F. G. Masterman (1901). New Edition Brighton 1973, S. 311). 2os Ebd., S. 673. 2os Ebd., S. 674. 2o2 203
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events the finger of Providence2D7?" England habe die historische Aufgabe erhalten, der Welt die Errungenschaften der christlichen Zivilisation zu vermitteln. "The British race is indeed the chosen instrument for mighty things, and that to it is given to spread the blessings of civilisation and the light of religion, as far as the waters of the ocean extend208." Wie Konservative und Liberale in gleicher Weise an der Formulierung imperialistischer Expansions- und Herrschaftsentwürfe beteiligt waren, so haben beide ideologischen Strömungen auch einen entscheidenden Anteil an der Exekution dieser Konzeptionen. Sowohl Konservative als auch liberale Politiker waren bemüht, den kolonialen Ruhm ihres Landes zu mehren und dem Aufstieg des englischen Empire tatkräftig Sukkurs zu verleihen. Schon in der Zeit, als die Parteigegensätze in England durch die Whigs und die Tories gekennzeichnet waren, konnte die kolonialistische Expansionspolitik keiner Partei allein imputiert werden. "It cannot be said .. . that the Whigs were less interested in the preservation of the Empire than the Tories. They were merely less interested in the preservation of the basic imperial policies with which the Tories identified themselves. The difference lies in a different conception of Empire209." Auch in der Zeit, als die Gegner der Kolonien sich besonders lautstark zu Wort meldeten, als die Befürworter der Kolonialherrschaft ihre ideologischen Kontrahenten als "Little Engländer"2lO denunzierten, haben die Liberalen Englands keineswegs die Absicht gehegt, das Kolonialreich aufzulösen. Wie ihre konservativen Gegner, so haben die Liberalen einer Politik das Wort gesprochenm, die letzten Endes auf den Ausbau des Imperiums hinauslief212. Die Gründung des Deutschen Reiches haben beide Parteien zum Anlaß genommen, für die Ausdehnung des englischen Empire zu votieren21 3. 2o1 Ebd., S. 659. Vgl. dazu auch: "We stand on the verge of the great Revolution of Time- the descendants of Japhet are about do dwell in the tents of Shem- civilisation is returning to the land of its birth, and another day and another race are beginning to dawn upon the human species" (ebd., S. 673). 208 Ebd. 2o9 Klaus E. Knorr: British Colonial Theories 1570- 1850. S. 406f. Vgl. dazu auch Ernest Barker: "Both parties are ,interventionists' in domestic, as both parties, in a greater or less degree, are interventionists in foreign policy" (Political Thought in England 1848 to 1914. S. 14f.). 21o Ebd., S. 412. 211 Vgl. dazu: "Every reflecting man from the Tories of the right to the Radicals of the left realised in 1853, as in 1828, the ineluctable truth of (William) Huskisson's memorable words England cannot afford tobe little. She must be what she is, or nothing" (John S. Galbraith: Myths of the "Little England" Era. In: American Historical Review 67 (1961/62), S. 35). Vgl. dazu auch R. L. Schuyler: The Climax of AntiImperialism in England. In: Political Science Quarterly 36 (1921), S. 357ff. 212 Vgl. dazu: "In an era of antiannexation the Empire continued to grow in lndia and elsewhere, and the colonies of settlement chose to remain within the imperial framework" (John S. Galbraith: Myths of the "Little England" Era. S. 35). 213 R. B. McDowell schreibt dazu: "Both liberals and conservatives agreed that Great Britain should meet the German challenge by striving to retain an adequate
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Auch der liberale Staatsmann Gladstone war keineswegs so antiimperialistisch eingestellt, wie dies auf Grund seiner Reden und Schriften bisweilen den Eindruck zu vermitteln schien. Er exekutierte eine Politik, der man das Prädikat proimperialistisch kaum verweigern konnte. "Gladstone had always been averse to imperial expansion ... Nevertheless he accepted the principle of moral trusteeship for backward peoples and, in general, had no quarrel with the existence of colonies- it was the system of their government that he objected to ... He approved of the introduction of responsible government into the colonies of white settlement and wished to extend it214." Was die Einstellung der deutschen Konservativen und Liberalen zu den Kolonien anlangt, so haben sich wie in England die Repräsentanten beider ideologischer Strömungen für ein umfängliches deutsches Kolonialreich ausgesprochen. Gerade die sog. "liberalen Imperialisten"215 haben sich enragiert für den Besitz von Kolonien eingesetzt216. Wie in England, so gab es auch in Deutschland nicht nur liberale, sondern auch konservative Imperialisten217. So trifft keineswegs das Gegenteil von margin of supremacy but the conservatives were not satisfied that Asquith's government possessed the will or the staying power to maintain a high enough lead over Germany" (British Conservatism 1832- 1914. Westport Conn. 1974, S. 102). Die Imperial Federation League wurde sowohl von Konservativen als auch von Liberalen unterstützt. William L. Langer schreibt: .,The movement for imperial federation enjoyed the support of Liberals as well as Conservatives" (The Diplomacy of Imperialism.
s. 71).
214 C. C. Eldridge: Victorian Imperialism. S. 92. Heinz Gollwitzer zufolge hat die politische Konstellation .,die an der Macht befindlichen Liberalen mitunter genötigt, Maßnahmen zu ergreifen, die auf eine Erweiterung des Empire hinausliefen und sehr liberale Persönlichkeiten festigten im Dienst kolonialer Reformen das Empire" (Geschichte des weltpolitischen Denkens. Band II. Göttingen 1982, S. 85). 21s Vgl. dazu Ludwig Dehio: Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert. S. 84 und passim. 216 Paul Rohrbach behauptet, daß "zur Politik des deutschen Gedankens .. . der koloniale Gedanke" gehört (Deutschland! Tod oder Leben? München 1930, S. 224). Rohrbachs kolonialer Blick richtet sich besonders nach Afrika: "Innerhalb unseres eigenen unmittelbaren Kolonialgebiets findet sich . . . einiges Land, das eine Entwicklung als eigentliches Auswanderungsgebiet für die weiße Rasse verspricht. Südwestafrika z. B. wird ... wenn es voll besiedelt ist, vielleicht 200 000 weiße Bewohner und eine Jahresproduktion von seiner Viehwirtschaft im Werte von 100- 150 Millionen Mark besitzen. Die Hochländer Ostafrikas sind in ähnlicher Weise besiedlungsfähig . .. Auch Inner-Kamerun bietet gute Aussichten nach dieser Richtung." (Deutschland unter den Weltvölkern. Materialien zur auswärtigen Politik. Berlin-Schöneberg 1912, s. 401). 217 Die Frage, wer in Deutschland als erster konservativer Anwalt von kolonialem Besitz zu gelten hat, ist schwierig zu beantworten. Sicherlich gehört Joseph Görres zu denjenigen, die schon sehr früh aus einem romantisch-konservativen Geiste heraus sich für kolonialistische Gedankengänge erwärmten. Görres legitimiert seine Einstellung von der Warte einer welthistorischen Betrachtung aus. Von ihr aus gesehen stellt sich insbesondere Afrika als Land dar, das für die europäische Herrschaft geradezu prädestiniert ist. Auf diesem Kontinent gibt es Görres zufolge .,nichts denn Herren und Knechte, meist ohne allen Übergang" (Weltlage. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 1 (1838), S. 22). Der Negerstaat sei .,in ganz und gar sozialen Instinkten religiös um den Fetisch, politisch um den Vorsteher, häuslich um das Familienhaupt verbunden" (ebd.). Görres läßt keinen Zweifel aufkommen, daß
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dem zu, was ein konservatives Handbuch zu Beginn des 20. Jahrhunderts behauptete: "Die Konservative Partei darf den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, am tatkräftigsten für die Erwerbung und den Ausbau der deutschen überseeischen Besitzungen eingetreten zu sein218." Der Kolonialbesitz Deutschlands sei ein vorzügliches Mittel, um seine Weltgeltung zu erhöhen. "Wir streben dahin, durch unsere Kolonien die politische und wirtschaftliche Macht des Reiches zu stärken219." Das Handbuch zögert auch nicht, konkrete Anweisungen für eine effiziente Kolonialpolitik zu geben. Zunächst fordert es, die Auswanderung derjenigen tatkräftig zu unterstützen, die sich in den schon gegründeten Kolonien eine neue Existenz schaffen wollen. Man müsse wenigstens "einen Teil ... des Stromes Europamüder nach deutschen überseeischen Gebieten lenken" 220 . Auf diese Weise sei gewährleistet, daß "diese Elemente ... dem Deutschtum erhalten" 221 bleiben. Darüber hinaus müsse dafür gesorgt werden, die Kolonien gegen die Angriffe anderer Kolonialmächte zu schützen. Es sei deshalb dringend geboten, "wertvolle Stützpunkte für unsere militärischen und maritimen Machtmittel in unseren Besitzungen zu schaffen"222. Um die ökonomische Kapazität Deutschlands zu erhöhen, müssen die Kolonien veranlaßt werden, die vom Deutschen Reiche so dringend benötigten Rohstoffe zu liefern. "Unsere wirtschaftliche Macht soll eine Stärkung erfahren, indem wir in unseren Kolonien eine Produktion anstreben, welche uns im Bezuge wichtiger Rohstoffe, die in der Heimat nicht oder nur in ungenügenden Mengen erzeugt oder gefördert werden können, vom Auslande unabhängig machen soll223." Neben den Deutsch-Konservativen haben sich auch die Frei-Konservativen224 dafür ausgesprochen, daß Deutschland einen umfänglichen Kolonialdie von ihm analysierte afrikanische Ordnung inferior ist. Letzten Endes sei die "soziale Einigung hier überall eine eng, beinahe von Haus aus knechtliche; denn sie wird im Blut gewirkt, durch die Seele, die im Blute wohnt" (ebd.). Die Vereinigung des Einzelnen mit dem Allgemeinen ist in Afrika auf einer niederen Entwicklungsstufe stehengeblieben. "Diese Art der Aufhebung des Widerspruchs gehört nur den unteren Lebenskreisen an" (ebd.). Aus diesem Grunde sei es notwendig, eine höhere Daseinsstufe anzusteuern, die sich ohne Zweifel schon in Europa vorfindet. "Wir finden uns also bestimmt, nach einer anderen, höheren Vermittlung als diese uns umzusehen, und da bietet sich uns ein vierter und zwar kleinster, aber in der Geschichte hochbedeutsamer Welttheil, Europa nämlich, dar" (ebd., S. 22f.). Europa gebühre ohne Zweifel die Herrschaft über Afrika. Es ist die "entschiedenste Überlegenheit in allen Gebieten" (ebd., S. 23), die Europa zur Kolonialherrschaft legitimiert. Ähnliche Gedanken finden sich auch bei Friedrich Gentzinseinem Aufsatz "Colonialfrage" (In: Schriften von Friedrich Gentz. Ein Denkmal. Hrsg. von Gustav Schlesier. Fünfter Teil. Mannheim 1840, S. 109). Gentz spricht davon, daß Spanien seine Kolonien "durch seine Beamten, durch seine Missionarien erzogen" habe (ebd., S. 109). 21s Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei. Vierte Auflage. Bearbeitet und herausgegeben vom Hauptverein der Deutsch-Konservativen. Berlin 1911, S. 206. 219 Ebd. Allerdings warnt das Handbuch auch davor, "den Schwerpunkt der politischen Macht des deutschen Reiches von der Heimaterde zu entfernen" (ebd.). 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Ebd. 223 Ebd., S. 206f.
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besitz sein eigen nennen darf. Dabei ist in der Argumentation von Hans Delbrück das Bemühen zu spüren, den Geltungsbereich der deutschen Kultur entscheidend auszudehnen. Seine Haltung wird dabei nicht zuletzt auch von der Hoffnung diktiert, den kulturell-zivilisatorischen Einfluß der Engländer und Franzosen zurückdrängen zu können. "Deutschland muß nachzuholen suchen, was es in den letzten Jahrhunderten leider versäumt hat. Es muß große außereuropäische Gebiete schaffen, in denen die deutsche Nationalität, die deutsche Sprache und das deutsche Geistesleben die Möglichkeit weiterer Entwicklung haben225." Dabei komme es keineswegs nur auf die Beherrschung eines bestimmten Landes als Kolonie an; eine effiziente Kolonialpolitik könne auch darin bestehen, daß man einen bestimmten Staat kulturell penetriert. Delbrück verfällt auf den Gedanken, Indien dem deutschen Einfluß zu öffnen. "Mit unseren überzähligen Assessoren, Doktoren der Philosophie, Technikern und Kaufleuten könnten wir in Indien regieren, so gut wie die Engländer226." Nicht zuletzt die deutsche Orientpolitik sei in diesem Zusammenhang ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Der frei-konservative Politiker sieht als beispielhaft die "Eröffnung und Gewinnung von Tätigkeiten" 227 an, "wie sie sich in Folge der ... letzten Orientreise des Kaisers der Deutschen heute im türkischen Reiche bieten"22s. Der Freikonservative Hans Delbrück setzt sich bei der Formulierung seiner kolonialpolitischen Ziele ganz bewußt von Otto von Bismarck ab. Dessen Haltung zum Kolonialproblem sei zu sehr von der Rücksicht auf die anderen europäischen Mächte geprägt gewesen. Gerade als Konservativer habe er eine Haltung gegenüber dem Kolonialproblem an den Tag gelegt, die mehr als erstaunlich sei. Auch wenn Bismarck von der Kolonialpolitik "nichts hat wissen wollen"229, auch wenn er "zukünftige Konflikte"23o gescheut hat, sei dies für die Konservativen von heute noch lange kein Grund, seine Politik als vorbildlich anzusehen. Bismarcks vorsichtige Haltung sei heute ganz einfach obsolet geworden, entspreche nicht mehr den politischen Bedürfnissen des von ihm gegründeten Reiches. "Deutschland konnte sich unmöglich auf die Dauer mit der rein negativen Politik der Abwehrung Frankreichs, der Erhaltung des Friedens und hier und da eines Kolonisationsversuches unter den Negern begnügen. Ein großes Volk muß große Ziele haben231." 224 Vgl. dazu August Wolfstieg: Die Anfänge der freikonservativen Partei. In: Delbrück-Festschrift. Gesammelte Aufsätze. Professor Hans Delbrück zu seinem sechzigsten Geburtstage (11. November 1918), dargebracht von seinen Schülern. Berlin 1908, S.313ff. 225 Hans Delbrück: Ein nationales Programm (Das Programm der "Preußischen Jahrbücher"). Berlin 1899, S. 8. 226 Ebd., S. 9. 227 Ebd. 22s Ebd., S. 10. 229 Ebd., S. 10. 230 Ebd.
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
Bismarck hatte sich in der Tat beharrlich geweigert, sich in imperialistische Abenteuer zu stürzen. Der preußische Junker, der so viel Wert auf ein europäisches Gleichgewicht232 legte, kam zu einer Bewertung des Imperialismus, in der sich ein gehöriges Quantum an Abneigung gegenüber allen überseeischen Besitzungen zigte. William 0. Aydelotte zufolge widerspreche jeder "Versuch, Bismarck zu einem überzeugten Imperialisten zu stempeln, den großen Linien seiner Politik" 233. Die Bejahung des kolonialen Expansionsgedankens stand im strikten Gegensatz zu "seiner preußischen Orientierung, dem Wunsch, eine Expansionspolitik, welche die Vorherrschaft der Junker erschweren könnte, zu verhindern"234 • Aydelotte weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, daß Bismarck sich immer gegen eine exzessiv betriebene Kolonialpolitik gewehrt habe. "Die Zurückhaltung Bismarcks in der Kolonialpolitik zeigt sich nicht nur darin, daß er die Teilnahme der Regierung an kolonialen Unternehmungen zu beschränken suchte, sondern auch in dem relativ bescheidenen Ausmaß und dem geringen Wert der schließlich erworbenen Kolonien235." Bismarck steht in der deutschen konservativen Ideologielandschaft mit seiner eher skeptischen Bewertung des Kolonialismus und des damit verbundenen Imperialismus allerdings keineswegs allein. Nicht wenige seiner Gesinnungsfreunde teilten seine negative Bewertung der kolonialistischen Expansion. Wie Bismarck so fürchtet auch Martin Spahn, daß durch den 231 Ebd. Der imperialistischen Ausdehnung Deutschlands wurde nicht nur in den konservativen Parteien das Wort geredet. Auch in den Kreisen der konservativ gesinnten Historiker sprach man sich dafür aus, den weltpolitischen Geltungsbereich Deutschlands entscheidend durch imperialistische Aktivitäten auszudehnen. Insbesondere die sog. Neo-Rankeaner haben sich zu den Wortführern einer Gelehrtengruppe gemacht, die konservative Außenpolitik nicht zuletzt auch als effiziente Kolonialpolitik definierten. Erich Marcks schrieb: "Kein Volk unserer Tage ist lebendig ohne den Blick in die Weite; die alte Enge ist für die ausgebildeten Nationen zur erstickenden Unerträglichkeit geworden; sie müßten in ihr verdorren und verkümmern. Die wirtschaftliche Notwendigkeit wird uns von selber, wenn wir leben bleiben und leben wollen, in die Welt hinausweisen" (Der Imperialismus und der Weltkrieg. In: Männer und Zeiten. Aufsätze und Reden zur neueren Geschichte. Zweiter Band. Siebente Auflage. Hrsg. von Gerta Andreas. Stuttgart und Berlin 1942, S. 407). 232 Vgl. dazu Fußnote 63 Kap. III. 233 William 0. Aydelotte: Wollte Bismarck Kolonien? In: Festschrift für Hans Rothfels. Hrsg. von Werner Conze. Düsseldorf 1951, S. 58. 234 Ebd. 235 Ebd., S. 53. In weitgehender Übereinstimmung mit Benjamin Disraeli hat Bismarck allerdings auch den wahlagitatorischen Wert des Imperialismus erkannt. "Man darf keinesfalls übersehen, daß Bismarck die Unterstützung des Reichstages und der Wählermassen dringend brauchte, und zwar aus Gründen, die mit der kolonialen Frage überhaupt nichts zu tun hatten. In der gleichen Weise, wie er sich jingoistischer Gefühle bediente, sie künstlich hervorrief und steigerte, um seine Position in der öffentlichen Meinung Deutschlands zu verbessern und den Reichstag zur Annahme des Militärbudgets zu zwingen, benutzte er auch die Kolonialforderungen, in denen sich das nationale Gefühl dieser Zeit sic~tbar manifestierte. Daß sich derartige imperialistische Appelle . .. nicht mit seiner Uberzeugung deckten, hielt ihn offensichtlich nicht davon ab" (Aydelotte: Wollte Bismarck Kolonien? S. 64f.).
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imperialistischen Wettlauf um Absatzgebiete, Rohstoffquellen und militärische Einflußzonen das Weltgleichgewicht in eine bedenkliche Instabilität hineingeschlittert sei. Nirgends sei in der modernen imperialistischen Ordnung jenes Maß an Gleichgewicht zu erkennen, das die Apologeten des neuen Weltsystems zu seiner Verteidigung in die Debatte werfen. Vor allem gegen die Erwartungen des Liberalismus, ganz gegen seine progressistische Interpretation der Weltgeschichte, "steigerte der wirtschaftspolitische Imperialismus ... die Unruhe unter den Mächten" 236 • Der Imperialismus entbehre all derjenigen Bestimmungsmomente, die zum Aufbau eines stabilen internationalen Gleichgewichts unumgänglich seien. "Ein fester Grundriß, die Grundvoraussetzung für jede, ihre Bedürfnisse und Grenzen überschauende auswärtige Staatskunst, stand dem wirtschaftspolitischen Imperialismus nirgends vor Augen23 7 ." Im Kontrapunkt zu den Zukunftshoffnungen des Liberalismus habe der Imperialismus die Kriegsgefahr, statt sie zu reduzieren, entscheidend erhöht. "Wo er aufkam, wußte kein Staat mehr vom anderen, ob und wie ihn am nächsten Tage dessen Druck treffen und sich eine entzündliche Stelle bilden würde. Kam es aber zum Drucke, bildete sich die entzündliche Stelle, so war die Gefahr eines kriegerischen Austrags so groß wie früher23B." Auch einige Repräsentanten der sog. "Konservativen Revolution" der Weimarer Republik haben einer eher skeptischen Beurteilung des imperialistischen Wettstrebens zwischen den Industriestaaten das Wort geredet. Wie zuvor schon Martin Spahn, so verbindet auch Edgar Julius Jung seine Kritik am Imperialismus mit der Ablehnung des Liberalismus. Jung zufolge sind der liberale Kosmopolitismus und der nationalistische Imperialismus zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beide illegitimen Ordnungsvorstellungen deszendierten aus einer ideologischen Grundhaltung, die der konservativen Welt- und Politikinterpretation diametral entgegengesetzt sei. Beide stammten sie letzten Endes "aus der individualistischen Geisteswelt"239, in der "Kosmopolitismus und Imperialismus ... gewissermaßen als Brüder" 240 ihre geistige Nahrung beziehen. Von seiner antiimperialistischen Warte aus kommtEdgar Julius Jung zu einer scharfen Ablehnung der Tirpitzschen Flottenpolitik. Sie sei letzten Endes ohne die Grundlage eines durchdachten außenpolitischen Planes konzipiert und realisiert worden. "Man schuf . .. eine gewaltige Waffe gewissermaßen ins Blaue hinein: ein Ausdruck einer Zeit, deren Kraftüberschuß nur noch durch ihre politische 236 237 238
Martin Spahn: Die Großmächte. S. 145.
Ebd. Ebd.
239 Edgar Julius Jung: Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich. S. 617. 240 Ebd. Vgl. dazu: "Die lautesten Sprecher des Imperialismus waren ... Liberale und Alldeutsche" (ebd.).
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Ratlosigkeit übertroffen wurde241 ." Es sei zu wenig erkannt worden, daß man durch eine derartige Aufrüstungspolitik "den Widerstand der übrigen Welt"242 herausfordern würde. Jung lehnte die Tirpitzsche Flottenpolitik243 nicht zuletzt auch deswegen ab, weil sie sich allzu willfährig dem imperialistischen Zeitgeist angepaßt hatte. "So wurde die im Blut liegende, aber nicht zwingende Freude der Deutschen an Seegeltung geformt und den wirtschaftsimperialistischen Interessen gleichgeschaltet244 ." Zu den negativsten Begleiterscheinungen dieser Flottenpolitik zähle auch, daß sie das deutsche Volk gänzlich unnötig polarisiert habe. "Die Deutschen des neugegründeten Reiches ... zerfielen in zwei Lager von Individualisten: in einem gebärdete sich der gemeinsame Wille (nicht der Gemeinschaftswille) imperialistisch, im anderen kosmopolitisch245." Die gegen den Liberalismus gerichtete konservative Ablehnung des Imperialismus kommt auch darin zum Ausdruck, daß man den perhorreszierten "Finanzimperialismus"244 dem liberalen Wirtschaftssystem anlastet. Letzten Endes wird bei dieser Form von Imperialismuskritik das moderne Geldwesen als Ausfluß des widernatürlichen, individualistischen Geistes der Modeme bewertet245. In diesem Zusammenhang wird insbesondere den Vereinigten Staaten vorgeworfen, trotz aller verbalen Ablehnung des Imperialismus ein Finanzimperium aufgebaut zu haben, das einer Weltherrschaft mit finanziellen Mitteln gleichkomme. Wilhelm Ziegler zufolge umgreift dieses Imperium fast schon die ganze Erde und zwinge die Völker unter seine Botmäßigkeit. Nun beginne die "Epoche des goldenen Imperialismus"246, der die Staaten dieser Erde an die Kette des amerikanischen Ebd., S. 616f. Ebd., S. 619. 243 Die Tirpitzsche Flottenpolitik stieß in konservativen Kreisen auch auf Kritik, weil viele Anhänger dieser Ideologie den antienglischen Geist des Tirpitzschen Denkens ablehnten. Diese Auffassung war aus einer Position heraus entwickelt, die in England weniger den Feind Deutschlands, sondern seinen Freund erblickte. Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode hat darauf hingewiesen, daß die Tirpitzsche Flottenpolitik "altpreußischer Wesensart" widersprochen habe (Die unentschiedene Generation. Deutschlands konservative Führungsschichten am Vorabend des Ersten Weltkrieges. München und Wien 1968, S. 217). Aus diesem Grunde sei sie im konservativen Politikbereich nicht gerade auf Gegenliebe gestoßen. "In der konservativen Partei, im Beamtentum, in der Diplomatie und nicht zuletzt in der Armee ist der vom Kaiser und von Tirpitz eingeschlagene Kurs eher mit Zurückhaltung, wenn nicht mit ausgesprochener Skepsis verfolgt worden" (ebd.). Dabei hätten historische Erinnerungen ihren Teil dazu beigetragen, die in Rede stehende Flottenpolitik skeptisch zu beurteilen. Insbesondere der deutsch-englische Kampf gegen Napoleon sei als Argument dazu verwendet worden, um die deutsche Wendung gegen das Inselreich abzulehnen. "Die Waffenbrüderschaft von Waterloo war ein gemeinsamer Bestandteil der preußischen und englischen Geschichte" (ebd., S. 216). 244 Wilhelm Ziegler: Einführung in die Politik. Berlin 1927, S. 148. 245 Die konservativen Geldkritiker schließen hier unmittelbar an die romantische Geldlehre an. Vgl. dazu Othmar Spann: Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre auf lehrgeschichtlicher Grundlage. 23. Auflage. Leipzig 1933, S. 183 und passim. 241
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Finanzkapitals lege. "Unter der Decke des Dollarsegens vollzieht sich ein Prozeß zunehmender Hörigmachung247." Der neue Imperialismus der USA zeichne sich im Gegensatz zum alten dadurch aus, daß er sich völlig neuer Eroberungs- und Unterwerfungsmethoden bediene. Man kämpfe nun nicht mehr mit Truppen und Kriegssschiffen, sondern stelle die Waffen des Geldwesens in den Dienst der imperialistischen Eroberung. "Die eigentliche Vorhut ist das Finanzkapital. Ihre Waffe sind Anleihen und Zinsgarantien24B.'' Für die vom Imperialismus Betroffenen unterscheide sich die neue Repression kaum von der alten. Der neue Imperialismus steht dem alten im Hinblick auf seine Herrschaftsintensität kaum nach. "Dieser amerikanische Imperialismus arbeitet mit ganz neuartigen Mitteln. Er unterhöhlt die wirtschaftliche Selbständigkeit der schwächeren Staaten von innen heraus derart, daß sie auch in ihrer politischen und militärischen Bewegungsfreiheit derart gehemmt, ja lahmgelegt werden, daß sie praktisch Hörige der Imperialmacht werden249." Ganz gegen den herkömmlichen, ökonomisch ausgerichteten Imperialismus wendet sich auch Hans Blüher. Diese Ablehnung ist allerdings keineswegs mit einer Zurückweisung des Imperialismusgedankens an sich verbunden. Blühergeht es vielmehr darum, dem liberal eingefärbten ökonomischen Imperialismus einen in einer antiwirtschaftlichen Grundhaltung wurzelnden "Kulturimperialismus"250 entgegenzustellen. Blüher schreibt: "Man muß verstehen, daß händlerische Angelegenheiten niemals Gegenstand heldischer Gesinnung werden dürfen, und man muß verstehen, daß die sogenannten ,geistigen Güter', die von den sogenannten ,Intellektuellen' neben den wirtschaftlichen vertrieben werden, eben wiederum nichts anderes sind als händlerische Angelegenheiten251 ." Nichts wäre unangebrachter, als die überkommene, niedere Form des Imperialismus mit der von Blüher propagierten höheren zu verwechseln. "Wem also die durchaus tätige, revolutionäre, eingreifende und zugleich göttliche Natur des Geistes nicht in Fleisch und Blut übergegangen ist, dem wird es immer wieder passieren, daß er den neuen und ethischen Begriff des Imperialismus mit dem historischen und verwerflichen verquickt252." Dabei ist Blüher dezidiert der Auffassung, daß sein geistig-kulturell ausgerichteter Imperialismus im Gegensatz zum ökonomisch zentrierten den kleineren Völkern durchaus ein Eigenrecht zubilligt. "Wir sind uns darüber einig, daß solch ein Imperialismus keine Gefahr Wilhelm Ziegler: Einführung in die Politik. S. 148. Ebd. 248 Ebd. 24 9 Ebd. Gegen den amerikanischen "Dollarimperialismus" wendet sich auch Giselher Wirsing: Der maßlose Kontinent. Jena 1942, S. 184. 250 Hans Blüher: Der deutsche Imperialismus. Ein Brief an Adolf Grabowsky. In: Gesammelte Aufsätze. Jena 1919, S. 27. 251 Ebd. 252 s. 27f. 246 247
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für irgendein anderes Volk, auch für das kleinste nicht, sein kann; und ich darf nur noch hinzufügen, daß die Unverletzlichkeit von Nachbarvölkern kein Kompromiß und keine Satzung ist, die aus wohlerwogenem Gegenseitigkeitsinteresse Bestand hat, sondern eine innere Notwendigkeit des imperialistischen Ethos. Ein imperialistisches Volk kann gar nicht eroberungssüchtig sein, ohne sein Prestige aufzugeben, wie ein reifgewordener Mensch mit eignem Stolz einen anderen Freien betrügen kann. Um seiner eignen Seelewillen betrügt er nicht253." In einer Zeit, in der die Komplexität der Politik oft auf ein paar wohlfeile Erklärungsformeln reduziert wird, gehört es auch zum guten Ton, dem Imperialismus nur negative Bestimmungsmerkmale zu imputieren. Unter dem rigiden Blick einer konsequent progressiven Geschichts- und Politikanalyse weigert man sich, dem Imperialismus auch andere als nur negative Wirkungen zuzugestehen. Daß der Imperialismus seine eigenen Gesetze entfaltete und auf diese Weise den Uniformismus einer bestimmten Geschichtsbetrachtung entscheidend nuancierte, diese Ansicht wird nicht zuletzt im konservativen Ideenkreis vertreten. So weist Lord Hugh Cecil mit Nachdruck darauf hin, in wie starkem Maße die Politik des britischen Empire auch emanzipatorische Züge aufgewiesen habe. Der englische Imperialismus sei nicht nur im Zeichen von Repression und Ausbeutung gestanden, sondern habe entscheidend auch auf die Hebung des wirtschaftlichen und kulturellen Standards der vom Empire Beherrschten abgezielt. "Our vocation in the world has been to undertake the government of vast uncivilised populations and to raise them gradually to a higher level of life. Those populations form part of the Empire, but naturally can scarcely be reckoned as adding to its strength, at any rate in the earlier stages of development under our rule254.'' Auf die politische Entwicklungsleistung, die das englische Empire ohne alle Zweifel vorzuweisen hat, weist auch Christopher Dawson hin. "Die Stärke dieses Systems besteht darin, daß es einen politischen Rahmen liefert, innerhalb dessen Gemeinschaften auf jeder beliebigen Stufe kultureller und politischer Entwicklung friedlich nebeneinander leben und fortschreitend parlamentarische Einrichtungen entwickeln können, bis sie die volle nationale Unabhängigkeit erreicht haben255." Das britische Empire stellte sich besonders in seiner Hochzeit als eine Föderation von Föderationen dar, "innerhalb derer Völker aller Art sich freie Einrichtungen und ein eigenes Nationalbewußtsein schaffen und trotzdem ... eine gemeinsame
253 S. 26. Vgl. dazu auch: "Der deutsche Imperialismus würde also neben sich nicht nur einen französischen und englischen haben dürfen, sondern auch einen montenegrinischen. Wobei das Wort ,montenegrinischer Imperialismus' mit vollem Ernste auszusprechen ist" (ebd.). 254 Lord Hugh Cecil: Conservatism. London o. J. S. 214. 255 Christopher Dawson: Europa. Idee und Wirklichkeit. Aus dem Englischen. 8.146.
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Rechtsordnung und ein gemeinsames Verteidigungswesen" 256 behalten konnten. 4. Supranationale Schlichtungs- und Regelungsinstanzen in konservativer Perspektive
Viele kriegsmüde und friedenswillige Persönlichkeiten suchten sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert durch die Errichtung supranationaler Institutionen die Rivalität zwischen den Akteuren der internationalen Politikszene in kooperationsbetonte Bahnen zu lenken. Ob derartige supranationale Institutionen257 überhaupt in der Lage sind, einen entscheidenden Beitrag zur Erhaltung des Friedens und der Überwindung des Krieges zu leisten, diese Frage hat auch das konservative Lager bewegt. Dabei ist der Konservatismus auch an diesem Punkte keiner einheitlichen Auffassung. Während die einen einer derartigen Friedenssicherung vehement entgegentraten und treten, sprechen sich andere wiederum für die Etablierung von Institutionen aus, die auf Grund ihrer supranationalen Verfassung in der Lage sind, internationale Streitigkeiten zu schlichten. Was die erste Gruppe anlangt, so ist es ihrer Ansicht nach völlig sinnlos, das Schicksal eines Staates einem supranationalen Entscheidungsgremium anzuvertrauen. Gegen die überzogenen Hoffnungen einer derart antinationalen Einstellung empfehlen die Repräsentanten dieser Denkrichtung den uneingeschränkten Rekurs auf das nationale Eigeninteresse. Getragen von der Furcht, die Politik ihres Staates einem supranationalen Entscheidungsgremium auszuliefern, lehnen sie alle derartigen supranationalen Institutionen ohne Umschweife ab. Zu den enragiertesten Kritikern derartiger Instanzen gehörten nicht zuletzt die preußischen Konservativen nach der Reichsgründung. Stolz auf das deutsche Einigungswerk und die hegemoniale Stellung Preußens im neuen Bundesstaat lehnten sie jeglichen Gedanken an eine Begrenzung ihrer Machtstellung kategorisch ab. Insbesondere die "Kreuzzeitung" hat sich zum Sprachrohrall derjenigen Konservativen gemacht, die eine Beschneidung der nationalen Souveränität durch eine internationale Schiedsgerichtsinstanz bekämpften. Kurz und bündig schrieb sie: "Ein Staat, der sich gezwungen dem Ausspruche eines noch so hochgestellten Richter-Collegiums ... unterwirft, giebt sein Selbstbestimmungsrecht auf und hört damit 25& Ebd. Ähnlich argumentiert Oskar Halecki. Vgl. dazu seine Abhandlung: Das europäische Jahrtausend. Aus dem Amerikanischen. Salzburg 1966, S. 342 und passim. Vgl. dazu auch Heinz Gollwitzer: Visionen vom VölkerkartelL "Pan"-Bewegungen als Alternativen zum Nationalismus. In: Die Welt Nr. 139. 19. Juni 1971. 257 Vgl. dazu Jost Dülffer: Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik. Berlin, Frankfurt/Main und Wien 1981.
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auch auf, souverän zu sein2sa." Sollte eine supranationale Schiedsinstanz tatsächlich installiert werden, stünde Deutschland "vor dem Grabe aller nationalen Freiheit und fortschreitenden Cultur"259. Alle derartigen, aus dem Geiste des Liberalismusaso heraus konzipierten Vorschläge kranken dem Urteil der Kreuzzeitung zufolge daran, das schicksalshafte Geschehen zwischen den einzelnen Staaten und Völkern auf das Prokustesbett einer angeblich fortschrittlichen Vernunft pressen zu wollen. Ganz im Gegensatz zu derlei weltfremden Politikauffassungen gelte es, die produktiven Kräfte der einzelnen Staaten in ihrem Sosein zu akzeptieren und alles zu unterlassen, was auch nur im Entferntesten an die völkerrechtliche Knebelung ihrer ureigensten Lebensinteressen gemahnen könnte. "Die Schicksale der Staaten lassen sich nun einmal nicht entscheiden nach den Paragraphen eines Völkerrechtsbuches, oder nach dem Urteil eines noch so erhabenen Richtercollegiums261." Die "Kreuzzeitung" gibt in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, daß eine internationale Schiedsgerichtsinstanz nur dann effizient arbeiten könnte, wenn alle ihre Mitglieder auch willens sind, sich ihrem Urteilsspruch zu fügen. Alle betroffenen Staaten müssen also bereit sein, einen entscheidenden Eingriff in ihre Souveränität zu dulden und sich einem friedlichen Interessenausgleich verschreiben. Daß eine derartige Situation im Bereich der Möglichkeit liegt, das bezweifelt die "Kreuzzeitung" nachhaltig. "Es ist doch von vornherein klar, daß ein solches Friedensschiedsgericht nur denkbar ist in einer Föderation von Staaten, die sämmtlich dem Kriege abgeschworen haben262." In ähnlicher Weise befürchtet auch das "Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei", daß die nationalen Belange durch eine supranationale Schiedsgerichtsstelle zu Schaden kommen könnten. "Bedenklich ist die immer wieder gepriesene Idee der obligatorischen internationalen Schiedsgerichte263.'' Die historische Erfahrung zeige überdeutlich, in wie starkem Maße derartige Institutionen dazu neigen, vor allem kleinere Staaten zu unterdrücken, ihnen den Willen von Großstaaten aufzuzwingen. Dabei geht das Handbuch davon aus, daß Deutschland zu den weniger mächtigen Staaten zählt. Es schreibt: "Die Gefahr liegt ... sehr nahe, daß auf diesen internationalen Friedenskongressen, wenn sie erst zu einer ständigen Einrichtung werden sollten, Beschlüsse gefaßt werden könnten, die uns mindestens 258 Die Utopie eines internationalen Friedensgerichtes und die Armee. In: Neue Preußische Zeitung 21. Januar 1885. 259 Ebd. 2so Die Kreuzzeitung zeiht insbesondere auch Immanuel Kant eines weltfremden Optimismus: "Eine praktische Anleitung, wie Differenzen und Streitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Staaten . . . geschlichtet werden sollen, giebt Kant unseres Wissens auch nicht" (ebd.). 261 Ebd. 262 Ebd. 263 Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei (1911). S. 44.
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unangenehm werden264 ." Auch wenn Deutschland einen ihm ungünstigen Beschluß nicht akzeptierte, sorgte die öffentliche Weltmeinung in diesem Falle dafür, daß eine derartige Weigerung nicht ohne Folgen bliebe. "Es ist ... im Völkerrecht nicht möglich, daß ein derartiger Beschluß gegen uns angewendet wird, wenn wir ihm nicht zustimmen und ihn nicht ratifizieren. Aber die öffentliche Meinung der Welt, die immerfort mit diesen Ideen genährt wird, würde doch gegen die widersprechenden Staaten und also auch gegen uns Partei nehmen265." Auch die "Konservative Revolution" der Weimarer Republik gab sich als Gegnerin aller supranationalen Organisationen zu erkennen, deren Ziel und Zweck die Friedensstiftung zwischen verfeindeten Staaten war. Der betont nationale Gestus ihrer Schriften ließ weder dem internationalen Ausgleich Raume, noch gewährte es dem supranationalen Souveränitätsverzicht Heimatrecht. Keine antinationale Sünde führt ihrer Ansicht nach so gründlich in die politische Irre wie die Idee, den Frieden zwischen den Völkern einem übernationalen Gremium anzuvertrauen. Insbesondere Max Hildebert Boehm hat sich in einem äußerst pointierten Ton gegen alle Bestrebungen gewandt, mit Hilfe des Völkerbundes zu einer weniger kriegerischen Beziehung zwischen den Staaten zu gelangen. Dabei ist es besonders die parlamentarische Struktur dieser Institution, die ins kritische Fadenkreuz Boehms gelangt. "Der Völkerbund versucht, das westliche individualistische Prinzip auf die Neuordnung der Staatenwelt zu übertragen266." Auf diese Weise bestehe die Gefahr, daß das undeutsche, westliche Raisonnement zur Bestimmungsgröße der deutschen Politik avanciert. "Gerade auf dem Gebiet der Staatenorganisation droht die westierische Gedankenwelt eine jede europäische Gesundung im Keim zu ersticken266." Vor allem Präsident Wilson sei anzulasten, einer weltfremden und genuin antideutschen Politikkonzeption verhaftet gewesen zu sein. "Wenn Wilson und seine Jünger von der künstlichen Schaffung neuer zwischenstaatlicher Formen eine innere Gesundung der Verhältnisse erwarteten, so zeugt das für einen lebensfremden Rationalismus, der durch die Erfahrungen der letzten Jahre zur Genüge widerlegt ist267 ." Der Völkerbund habe niemals die Gleichberechtigung der Völker angestrebt. Es sei niemals in seiner Absicht gelegen, "mit der vielgepriesenen Gleichberechtigung der Völker wirklich erns~ zu machen"268. Letzten Endes zementiere er die Herrschaft der starken Staaten über die internationale Parias. "Eine bis an die Zähne bewaffnete Völkerklasse"269 stehe "einer entwaffneten, zerstückelten, wirtschaftlich und geiEbd. Ebd. 266 Max Hildebert Boehm: Europa Irredenta. Eine Einführung in die Nationalitätenprobleme der Gegenwart. S. 313. 267 Ebd. 268 Ebd., S. 275. 264 265
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stig geknebelten Völkergruppe" 270 gegenüber. Mit aller Gewalt werde versucht, "deren Wiederaufstieg zu Freiheit und Selbstbestimmung mit allen Mitteln zu verhindern"271. Auch für Wilhelm Stapel gibt sich der Völkerbund bei Lichte besehen als eine Herrschaftsordnung der Besitzenden über die Besitzlosen zu erkennen. "Wie in allem wirklichen Recht, so steckt auch in ihm das Unrecht. Die Besitzenden verteidigen durch den Völkerbund das Recht des Besitzes gegen das Recht des Fordernden. Durch ihn hält der, der etwas geworden ist, den Werdenden nieder272." Dieser Ansicht stimmt auch Wilhelm Ziegler zu. "So war dieser Völkerbund von den Westmächten von vornherein bewußt als politisches Machtinstrument gedacht. Und es kann keine Meinungsverschiedenheit darüber geben, daß seine ersten Lebensjahre tatsächlich im Zeichen dieser egoistischen Interessenpolitik gestanden haben27a." Vor allem die französische Völkerbundspolitik sei darauf aus gewesen, betont nationale Ziele zu verfolgen. "Man braucht nur die verschiedenen Noten Briands . . . die im Auftrage und im Namen des Völkerbundes gegen Deutschland und seine Politik in die Welt hinausgegangen sind, zu lesen und wird mit Händen greifen können, wie hier im Gewand des pazifistischen Missionars doch niemand anders spricht als der französische Militarismus oder Imperialismus274." Wie schon die Kreuzzeitung, so sind auch die Vertreter der Konservativen Revolution der Weimarer Republik und des heutigen Konservatismus der Ansicht, daß eine supranationale politische Instanz das dynamische Leben von Völkern und Staaten in starre juristische Paragraphen zwänge und ihm 269 270 271
Ebd. Ebd. Ebd.
272 Wilhelm Stapel: Volksbürgerliche Erziehung. Versuch einer volkskonservativen Erziehungslehre. Dritte Auflage. Hamburg, Berlin und Leipzig 1928, S. 63. Moeller van den Bruck zufolge ist auch der Gedanke eines Vereinten Europa als der Versuch zu werten, Deutschland zu knebeln. "Aber über Deutschland setzen sich die Wortführer des Europagedankens hinweg, weil sie Westler sind. Sie lehren die deutsche Zerstreuung statt der deutschen Zusammenfassung. Deutschland ist zu groß, um eingekreist und umklammert und abgedrosselt zu werden. Europa ist ein doppelt geschlungener Knoten. Und heute ist dieser Knoten ein zerwühlter Knäuel. Der Westen möchte Deutschland in ihm ersticken." (Das Recht der jungen Völker (1932). S. 218). Letzten Endes gibt sich der Europagedanke als ein Produkt westlicher, d.h. deutschfeindlicher Denkweise zu erkennen. "Unser letzter Wahn war die Weltdemokratie. Unser jüngster Wahn scheint Europa werden zu wollen .. . Die Gefahr besteht, daß auf dem Umwege über den Europagedanken, über europäische Einheitswünsche, über paneuropäische Föderationspläne abermals ökumenische Selbsttäuschungen in unser politisches Denken eingeschmuggelt werden, mit denen wir gar keine andere Erfahrung machen können als die einerneuen Enttäuschung" (ebd., S. 214). 273 Wilhelm Ziegler: Einführung in die Politik. Berlin 1927, S. 256. 274 Ebd., S. 263. Ziegler zufolge sei auch "der geistige Kampf gegen das bedrohliche Rußland ... gar oft von den Westmächten unter Begleitung dieser harmonischen Musik des völkerumschlingenden und völkerbeglückenden Völkerbundes geführt worden" (ebd., S. 263f.).
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damit Gewalt antue. Für Wilhelm Stapel bedeutete insbesondere der Völkerbund die Herrschaft des lebensfremden Juristen über den dem Bios verpflichteten Soldaten. Der Völkerbund prämiere durch seine gegen das Leben gerichtete Ordnung die politische Insuffizienz und die biologische Minderwertigkeit. "Je mittelbarer das Leben ist, um so größer sind die Chancen des Untüchtigen. Das Recht des Völkerbundes ist genau so viel schlechter als das Recht des Krieges, wie der Advokat biologisch unerquicklicher ist als der Soldat275." Genauso abzulehnen ist Stapel zufolge die neue Form der Auseinandersetzung, die die Ablösung des Soldaten durch den Juristen mit sich brachte. "Bisher wurde das Recht durch Krieg errungen. Seitdem aber aus dem Kampf von Mann gegen Mann, von Truppe gegen Truppe ein Kampf von Technik gegen Technik geworden ist, hält man es für praktischer, die Errungenschaften des Rechtes nach Möglichkeit auf einen anderen Platz zu verlegen: vom Schlachtfeld in den Konferenzsaat An die Stelle des Soldaten treten die Advokaten. An die Stelle der Kriegslist tritt die Verhandlungslist, an die Stelle der Armeskraft die intellektuelle Gerissenheit. Aus dem heroischen Zeitalter wird das advokatorische Zeitalter. Dem Intellektuellen erscheint das als ein Fortschritt, den redlichen Soldaten ekelt es an276." Diese Herrschaft der lebensfremden Juristen über den politischen Bios der Völker wird Stapel zufolge allerdings nicht ewig dauern. Eines Tages wird sich der Lebensdrang der Völker gegen ihre künstliche Macht auflehnen. "Das Leben fließt weiter, die Völker wachsen oder nehmen ab. Das Volk, das ein Recht zu fordern hat, wird die nächste Gelegenheit wahrnehmen, es geltend zu machen, es wird in einem ,Kampfe' ein neues ,Recht' feststellen. Das Leben bliebe im Fluß, das neue Recht bräche sich in Katastrophen Bahn gegen das alte Recht277.'' Für den amerikanischen Neokonservativen Irving Kristol ist es heute vor allem die UNO, die die Lebensinteressen der USA stetig negiere. "It is all the more important ... that we realize that the UN, as it has developed, is an entity hostile to American interests278." Sie gebe sich als eine Institution zu erkennen, in der insbesondere die sog. Dritte Welt die Lebensinteressen der USA in unziemlicher Weise verletze. "It is the UN which has created the Ebd., S. 64. Ebd. 277 Ebd., S. 63. Adolf Grabowsky weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die vom Völkerbund geknebelten Staaten sich nicht zuletzt ihrer Gebietsverluste besinnen werden, um alles in ihrer Macht stehende zu versuchen, diese rückgängig zu machen. Da jeder Staat ein "Raumorganismus" (Politik. S. 203) sei, müsse sich die internationale Politik daran gewöhnen, daß derartige Lebewesen auf illegalen und illegitimen Gebietsentzug entsprechend aggressiv reagieren. Für den Geopolitiker Grabowsky sind "Staaten, die durch Verträge Gebiet verloren haben" äußerst schwierig zu beruhigen (ebd.). 278 Irving Kristol: Reflections of a Neoconservative. Looking Back, Looking Ahead. New York 1983, S. 229. 275 276
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
,Third World' - a coalition of nations with no real common interests except the political capital to be gained domestically, by striking anti-American, anti-Western, anti-,Colonialist' postures279." Ohne die Existenz der UNO wären die Länder der Dritten Welt kaum in der Lage, ihre Außenpolitik in einer derart verzerrten antiamerikanischen Perspektive zu definieren. "If the UN did not exist, the Third World would not exist. There would be no forum where these nations are compelled, for internal reasons, to define their foreign policy in such an ideological way2B0." Der Zenit der propagandistisch-ideologischen Politik der UNO wird Daniel Patrick Moynihan zufolge in der Israel-Politik erreicht. Dabei habe sich die UNO den außenpolitischen Interessen der Sowjetunion vollständig angepaßt. "Vielleicht ist es gut, zunächst einmal festzustellen, daß die Sowjets mit dem Verständnis der Detente keine Schwierigkeiten haben. Kommen sie an einem Punkt nicht weiter, wechseln sie zu einem anderen über. Die Vereinten Nationen bieten ihnen hierbei nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Im vergangenen Herbst befand die Generalversammlung in einem ihrer infamsten Augenblicke, daß der ,Zionismus eine Form von Rassismus' sei. Diese Resolution ging angeblich auf eine arabische Initiative zurück. Aber war das wirklich so? Die Ukraine beispielsweise fungierte als einer der Hauptbefürworter der Anti-Zionismus-Erklärung, die genau zu längst bekannten Zielen der Sowjets paßte2Bl." Man würde dem polyvalenten Charakter des konservativen außenpolitischen Denkens allerdings keineswegs gerecht, wollte man alle diejenigen Autoren unerwähnt lassen, die sich ohne die geringste Reservatio mentalis für supranationale Schlichtungs- und Regelungsinstitutionen ausgesprochen haben. Es gehört zu den entscheidenden Charakteristika des Konservatismus, daß derartige Institutionen von einigen Repräsentanten durchaus Ebd. Ebd. Kristal nimmt nicht nur die UNO in sein kritisches Visier. Letzten Endes verfallen alle internationalen Organisationen, in denen die USA als Mitglied fungieren, seinem national motivierten, unnachsichtigen Verdikt. Er schreibt: .,The various international organizations to which the United States has subordinated its own foreign policy have become a playground for irresponsible or hostile governments to create mischief for the United States. And the various alliances to which the United States has subordinated its foreign policy have created a tangle of Obligations and commitments that inhibit forceful action" (Foreign Policy in an Age of ldeology. S. l1). 28 1 Daniel Patrick Moynihan: Wir haben unsere Fronten verkürzt (1976). Aus dem Amerikanischen. Abgedruckt in: Bereiten wir den falschen Frieden vor? Vom Gestaltwandel internationaler Konflikte. Hrsg. von Gerd-Klaus Kaltenbrunner. München 1976, S. 154. Moynihan zufolge hatte die Prawda .,schon vor vier Jahren ... in einem zweiseitigen Artikel unter der Überschrift ,Antisowjetismus ist das Anliegen aller Zionisten'- die Juden beschuldigt, Angriffe gegen den Kommunismus auszuhekken, ähnlich wie Hitler ihnen einst Unterstützung für den Kommunismus unterstellt hatte" (ebd.). Der UdSSR sei daran gelegen, .,eine Parallele zwischen Nazismus und Zionismus zu ziehen" (ebd., S. 155). Das werde vor allem beim Studium der sowjetischen Massenmedien deutlich. .,So wurde in einem Fernsehdokumentarfilm das Gesicht Ben Gurions auf jenes von Hitler projiziert" (ebd.). 279
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4. Supranationale Schlichtungs- und Regelungsinstanzen
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als Alternative zu der auf dem souveränen Nationalstaat basierenden Regelung internationaler Streitfälle begriffen wird. Es hieße die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten diffamieren, wollte man sie als untypisch für den konservativen Ideenkreis ansehen. Wenn es ein Leitmotiv gibt, das ihre Gedanken zusammenhält, dann ist es die schon von Metternich gehegte Angst vor den Exzessen des nationalen Prinzips. Hier begegnen wir wiederum einem konservativen Denken, das nicht in den Prämissen des Nationalstaats aufgeht und dem Diktat des Einzelstaates unter allen Umständen gehorcht. Die supranational ausgerichteten Ordnungsvorstellungen dieser Richtung des Konservatismus präsentieren sich als eine Politikkonzeption, in der das nationale und das supranationale Prinzip zur Annäherung bzw. zur Aussöhnung gelangen. Unter dem verheerenden Eindruck des Zweiten Weltkrieges hat insbesondere Jacques Maritain282 dem Gedanken Ausdruck verliehen, das anarchische Tohuwabohu der Staatenwelt seiner Zeit durch eine Ordnung abzulösen, in der der Nationalstaat sich als Teil einer übergreifenden Staatenordnung zu begreifen hat283. Bei seiner Suche nach einer befriedigenden Weltordnung kommt Maritain auf den Gedanken, die thomistische Lehre von der Societas perfectas283 bei der Gestaltung einer neuer Konzeption zu berücksichtigen. "When neither peace nor self-sufficiency can be achieved by particular kingdoms, nations, or states, they are no Ionger perfect societies, and it is a broader society, defined by its capacity to achieve selfsufficiency and peace ... which is to become perfect society284 . " Als ein Haupthindernis für die Erreichung einer friedlichen Weltordnung sieht Maritain die Souveränität der einzelnen Staaten an. Aus diesem Grunde sei es eine dringende Notwendigkeit, das Souveränitätsprinzip aufzugeben. "We must come down to the roots, that is, we must get rid of the Hegelian or pseudo-Hegelian concept of the State as a person, a supra-human person, and understand that the state is only a part . .. in the body politic285. " Im Lichte einer vorurteilsfreien Politikanalyse stellt sich der Souveränitätsverzicht, der von den einzelnen Staaten zugunsten einerneuen Weltordnung gefordert werden. muß, eher als vernünftig dar. Schließlich habe das unbe282 Maritains supranationale Ordnungsvorstellungen wurzeln in der katholischen Staatslehre. Vgl. dazu Irving Louis Horowitz: War and Peace in Contemporary Social and Philosophical Theory. Second edition. London 1973, S. 42ff.; Carl Doka: Kirche und Völkergemeinschaft Augsburg 1930, S. 40ff. 283 Für Irving Louis Horawitz stellt sich der außenpolitische Ordnungsentwurf Maritains ausgesprochen antinationalistisch dar. "What one first notices is the striking cosmopolitanism of Maritain's thoughts on war and peace" (ebd., S. 42). Was dem französischen Staatsphilosophen vorschwebe, sei ein "Thomist World State" (ebd.). Horowitz zufolge wurde Maritain von Reves beeinflußt (ebd.). Emery Reves schrieb: "Wie believe that peace in any country of the world cannot be maintained without the existence of an effective universal government organisation to prevent crime in the inter-national field" (The Anatomy of Peace. London and Aylesbury 1947, S. 222). 284 Jacques Maritain: Man and the State. Chicago Ill. 1951, S. 198. 285 Ebd., S. 195.
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III. Gleichgewicht, Hegemonie und Imperialismus
dingte Pochen auf die eigene nationale Unabhängigkeit die Welt in den Abgrund gestürzt. "They would have to give up something which they have now, but the use of which has become more detrimental than profitable to them, to the nations, and to the world, namely the property of each one of enjoying top independence286 ." Maritain erschließt die politische Struktur seiner Weltgemeinschaft auch mit Hilfe des Pluralismusmodells. Diese Perspektive ist aus einem ausgeprägten Sinn für die Gefahr entwickelt, die den Mitgliedern einer zu autoritären supranationalen Staatengemeinschaft drohen. Maritain ist weit davon entfernt, einem monolithischen Weltstaat das Wort reden zu wollen. "Of course the unity of a world body politic would be quite different from the unity which characterizes kingdoms or nations, and to which our thought is accustomed. It would be not even a federal unity, but rather, let me say, a pluralist unity, taking place only through the Iasting diversity of the particular bodies politic, and fastering that diversity287 ." Eine zukünftige supranationale Weltordnung müßte die politischen Eigenheiten ihrer Mitglieder also respektieren. Eine einheitliche Ausrichtung mit zentralstaatlichem Charakter würde ihrem Wesensprinzip durchaus widersprechen. "We also see in this way how the World State would have a body politic of its own: this pluralist world body politic would be made up, not only of the international and supranational institutions required by the world government, but also, and first of all, of the particular bodies politic themselves, with their own political structures and lives, their own national and cultural heritages, their own multifarious institutions and communities288." Was Maritain also dezidiert ablehnt, ist der omnipotente Überstaat, der seinen Mitgliedern sein Diktat auferlegt und jegliches Eigenleben untergeordneter Instanzen unterdrückt. Aus diesem Grunde kann er sich auch mit dem Gedanken einer Weltregierung im strikten Sinne des Wortes nicht befreunden. "The World government would be an absolute Superstate, or a superior State deprived of body politic and merely superimposed on and interfering with the life of the particular States289," Eine derart zustimmende Einschätzung supranationaler Institutionen führt notwendigerweise auch zu einer affirmativen Beurteilung schon bestehender überstaatlicher Organisationen und Institutionen. Es verwundert deshalb keineswegs, daß Maritain sich im Gegensatz zu vielen anderen konEbd., S. 211. Ebd., S. 209. 288 Ebd., S. 210. Dabei wäre es auch ein Irrtum, das jetzige Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern als Vorbild für eine spätere Relation zwischen supranationalem Staatsgebilde und seinen Einzelstaaten zu betrachten. "A merely governmental theory of world organization would go the wrong way, because from the very start it would pursue the analogy between State with respect to individuals and World State with respect to particular States in the mere perspective of the topmost p