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German Pages 178 [174] Year 2022
Nassima Sahraoui Dynamis
Edition Moderne Postmoderne
Nassima Sahraoui (Dr. phil.) ist eine Philosophin aus Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunke liegen in der Politischen Theorie, an den Schnittstellen von Philosophie und Literatur, der Philosophie der Geschichte und der Geschichte der Philosophie, der Kritischen Theorie und Dekonstruktion. Sie ist Gründungsmitglied der internationalen Workshopreihen Violence in Literature and Philosophy und Walter Benjamin's Philosophy und arbeitet an einem interdisziplinären Projekt über Formen, Figuren und Sprachen des Widerstandes.
Nassima Sahraoui
Dynamis Eine materialistische Philosophie der Differenz
D.30
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dynamis: I. 1. power, might, esp. of bodily strength; generally, strength, power, ability to do anything; 2. outward power, influence, authority; 3. force for war, forces; 4. a power, quantity; 5. means; II. 1. power, faculty, capacity; 2a. elementary force, such as heat, cold; 2b. property, quality; generally, function, faculty; 2c. agencies; 2d. function, meaning; 2e. in Music, function, value, of a note in the scale; 3. faculty, art, or craft; 4a. a medicine; 4b. action of medicines; 5. magically potent substance or object; III. 1a. force or meaning of a word; 1b. phonetic value of sounds or letters; 2. worth or value of money; IV. capability of existing or acting, potentiality, opp. actuality; V. 1a. math., power; 1b. square number; 1c. square of an unknown quantity; 2. square root of a number which is not a perfect square; 3. product of two numbers; VI. concrete, powers, esp. of divine beings; VII. manifestation of divine power, miracle. Henry George Liddell, Robert Scott, Henry Stuart Jones (LSJ), A Greek-English Lexicon
Inhalt Prélude – Die dynamis als geschichtliche Kategorie einer materialistischen Philosophie der Differenz | 11
TEIL I. MATERIALISMUS UND DIFFERENZ I. II. III. IV.
Von der Form zur Materie | 21 Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie | 31 Metapher und Metaphysik | 47 Umweg als Methode des Erkennens (Überlieferung II) | 75
TEIL II. DIE DYNAMIS V. Axiomatik des Denkens. Einige etymologische Anmerkungen | 91 VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin) | 97 VII. Die Zeit der dynamis: Metabolē – l’avenir – Augenblick | 121 VIII. Kraft und Vermögen der Geschichte(n): Rekurs und Ausblick | 149 Literaturverzeichnis | 161 Danksagung | 175
Die Aporie aber im Denken zeigt diesen Knoten in der Sache an; denn im Fragen gleicht man den Gebundenen, denen es nach beiden Seiten unmöglich ist, vorwärts zu schreiten. Aristoteles, Metaphysik Diese Kraft zum Bruch ist … die Struktur des Geschriebenen selbst. Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext de la différence même ressort la ressemblance Félix Ravaisson, Essai sur la métaphysique de l’Aristote it would be of some relevance to notice that the appeal to thought arose in the odd in-between period which sometimes inserts itself into historical time when not only the later historians but the actors and witnesses, the living themselves, become aware of an interval in time which is altogether determined by things that are no longer and by things that are not yet. In history, these intervals have shown more than once that they may contain the moment of truth. Hannah Arendt, Between Past and Future étonnante capacité de résistance Pierre Aubenque, Les origines de la doctrine de l’analogie de l’être
Prélude – Die dynamis als geschichtliche Kategorie einer materialistischen Philosophie der Differenz So hat die Philosophie ihre Elemente … so lange in wechselnde Konstellationen … zu bringen, bis sie zur Figur geraten, die als Antwort lesbar wird, während zugleich die Frage verschwindet. Theodor W. Adorno, Die Aktualität der Philosophie (1931)
Am Ende werde sich zeigen, dass sich die Ideen, die vorliegendem Buch zugrunde liegen, zu einer Konstellation zusammenfügen und eine Gesamtnarration ergeben – im Sinne dieser Worte enden und beginnen die nun folgenden Studien. Sie haben ihren Ausgangspunkt in der allgemeinen Frage, was bestimmte klassische philosophische Begriffe zu einem kritischen Verständnis geschichtlicher Phänomene beitragen können, im vorliegenden konkreten Fall, inwiefern der Begriff der dynamis als geschichtliche Kategorie und vielleicht sogar als Triebfeder der Geschichte selbst gelesen und aktualisiert werden kann. Die hier dargelegten Studien nähern sich einer Antwort auf diese Frage auf zweierlei Weise: einerseits durch eine dekonstruktive Lektüre der philosophischen Ideengeschichte des Begriffs der dynamis sowie andererseits durch die Dekonstruktion des Begriffs der dynamis selbst, welcher seit Aristoteles als Wechselspiel von energeia und dynamis, von Akt und Potenz, von Aktualität und Potentialität, von Verwirklichung und Vermögen gedacht wird. Der Ursprungsgedanke, dass sich nämlich eine dekonstruktive Lektüre und Aktualisierung des aristotelischen Begriffs der dynamis hervorragend eignet, um diesen für eine kritische Deutung gegenwärtiger Phänomene fruchtbar zu machen, geht dabei auf Motive, Eindrücke und Einsichten zurück, welche durch die Auseinandersetzung mit Denkansätzen aus den unterschiedlichsten philosophischen Strömungen, wie dem Materialismus, der Metaphysik oder der Dekonstruktion selbst, geweckt wurden und die sich nicht nur auf den Bereich der Philosophie beschränken, sondern von angrenzenden Disziplinen, wie der Politischen Theorie und der Literaturwissenschaft, bereichert wurden.
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz
Entlang der Dekonstruktion der Begriffe dynamis und energeia kristallisiert sich vor diesem Hintergrund eine Axiomatik des Denkens heraus, welche auf der Aporizität, der Differenzialität oder Pluralität, der Metaphorik sowie der Materialität basiert. Die eben genannten wesentlichen theoretischen Eckpunkte werden elliptisch umkreist und bilden ein konstellatorisches Setting, welches schließlich in der Formulierung einer materialistischen Philosophie der Differenz mündet. Vorliegendes Buch wird in acht Kapiteln das Vorhaben ausführen, die besagte Konstellation zu umreißen und sodann die Grundzüge einer materialistischen Philosophie der Differenz zu konturieren. Im ersten Kapitel Von der Form zur Materie wird zunächst das Problemfeld des Begriffs der dynamis vor dem Hintergrund des seit Aristoteles andauernden Disputs um die Priorisierung entweder der energeia oder der dynamis ideengeschichtlich skizziert. Zwei prominente Traditionen der Philosophiegeschichte stehen sich dabei quasi antagonistisch gegenüber: die materialistische Lesart auf der einen und die metaphysische auf der anderen Seite. Beide jedoch – und das ist ein wesentlicher Punkt – schöpfen aus derselben Quelle, nämlich aus Aristoteles’ Ausführungen zu dynamis und energeia im Buch IX seiner Metaphysik. Während die materialistische Lesart jedoch ihren Ausgang in der „aktiven Potentialität der Materie“1 nimmt, schließt die metaphysische an Aristoteles’ Ausführungen zur reinen energeia an, in welcher der ‚unbewegte Beweger‘ als absolute Zielursache gesetzt wird, der die Bewegungen des Kosmos erst anzustoßen vermag und auf den alles Seiende zuläuft. Wie anhand der Darstellung von Ernst Bloch in seinem Buch über das Materialismusproblem deutlich werden wird, kündigt sich jedoch bereits in der Antike eine Verschiebung im Verhältnis zwischen den beiden Auslegungstraditionen an, welche – folgt man der Prognose Ernst Blochs – vielleicht sogar in einem Paradigmenwechsel zugunsten der dynamis münden könnte. Diese Verschiebung hin zur dynamis enthält einen kritischen Gestus, der sowohl für die Überlieferungsgeschichte als auch für die Analyse geschichtlicher Phänomene von immenser Wichtigkeit ist, weil hierdurch erst ihre immanenten 1 Ernst Bloch, Avicenna und die Aristotelische Linke, in: ders., Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt: Suhrkamp 1972, 494. Anm. zur Zitierweise: Bei Erstnennung der hier verwendeten Literatur werden diese mit vollständigen bibliographischen Angaben in den Fußnoten genannt. Alle weiteren Nennungen werden unter einem Kurztitel angeführt. Aristoteles’ Metaphysik wird weitestgehend aus der modifizierten Übersetzung von Hermann Bonitz, hg. v. Horst Seidl, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2009 zitiert, wie er sie auf der Grundlage des griechischen Textes in der Edition von Wilhelm Christ von 1886 verfasst hat. Nach der üblichen Bekker-Zitierweise wird zuerst die Seitenzahl der Kritischen Akademie Ausgabe (1831), die Spalte und dann die Zeilenzahl angegeben. Sämtliche Zitate aus den Werken von Aristoteles werden unter den gängigen Abkürzungen angegeben. Martin Heidegger wird überwiegend aus der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt: Klostermann 1975f f. zitiert. Sein und Zeit wird nach der bei Max Niemeyer in Tübingen erschienenen Einzelausgabe zitiert (2001, 18. Aufl.).
Prélude
Dynamiken in den Blick genommen werden können. Anstatt nun aber bloß einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, zeigen die vorliegenden Studien, dass sich gerade aus dem Moment ‚zwischen‘ dynamis und energeia ein zentraler Aspekt dieser Dynamiken herauskristallisieren lässt. Ein nicht unerheblicher Teil dieses Buches beschäftigt sich dementsprechend mit dem Moment des Zwischen. Ausgehend von der materialistischen Lesart der dynamis und unter Berücksichtigung des Zwischenspiels von dynamis und energeia werden in den folgenden Kapiteln sowohl die Begriffe selbst als auch die Texte, in denen sie behandelt werden, dargestellt, interpretiert und dekonstruiert. Im ersten Kapitel wird der materialistischen Lesart entsprechend die Materialität als erstes Axiom für die Deutung des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia gesetzt. Exakt an diesen Ausgangspunkt schließt das zweite Kapitel Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie an. Es untersucht nämlich, wie die traditionelle Überlieferungsgeschichte klassisch metaphysischer Begriffe vor dem Hintergrund jener Verschiebung hin zur Materialität der dynamis gelesen werden können. Von der Prämisse, dass es sich zwischen philosophischem Denken und den zu reflektierenden Phänomenen immer um ein aporetisches Verhältnis handelt, werden im Zuge des Kapitels die Begriffe Analogie und Aporie einer Relektüre unterzogen. Für den Gang der Argumentation ist diese Relektüre deswegen wegweisend, weil sich so erstens veranschaulichen lässt, auf welche Weise die metaphysischen Begrifflichkeiten operieren. Dabei stellt sich zweitens heraus, dass ihnen ein nicht-systematischer und aporetischer Charakter zu eigen ist, welcher produktiv für die spätere Dekonstruktion des Begriffs der dynamis aufgegriffen werden kann. Drittens zeigt das zweite Kapitel anhand der Lektüre der Aristoteles-Studien von Pierre Aubenque, dass nicht nur die einzelnen metaphysischen Begriffe aporetisch strukturiert sind, sondern dass die aporetische Struktur eine Eigenschaft der Metaphysik als solcher ist. Diese gilt es nun nicht etwa zu überwinden, sondern als Supplement in eine materialistische Philosophie der Differenz einfließen zu lassen. Neben der Materialität wird daher die Aporizität zum zweiten Axiom erhoben. Nachdem die Aporien der Metaphysik anhand der Dekonstruktion des Begriffs der Analogie ins Zentrum der Analyse gerückt wurden, widmet sich das dritte Kapitel Metapher und Metaphysik zunächst der generellen Frage, ob die Formulierung einer materialistischen Philosophie der Differenz vor dem Hintergrund des bis dahin Ausgeführten möglich sei, und wenn dies der Fall ist, welche weiteren Bedingungen hierfür erfüllt werden müssen. Es zeigt sich dabei, dass das der Metaphysik inhärente Moment des Widerstands gegen ihre Systematisierung und Vereinheitlichung hervorragend mit der wiederum der dynamis immanenten Bewegung eines Zurückhaltens korrespondiert. Bevor letzteres – also das Moment des Widerstands innerhalb der dynamis selbst – im siebten Kapitel detailliert besprochen wird, nimmt das dritte Kapitel zunächst einmal einen methodischen Umweg über eine Betrachtung des Begriffs der Metapher. Dies bietet
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sich zum einen deswegen an, weil davon auszugehen ist, dass jeder Metapher eine Analogie zugrundeliegt und zum anderen, weil sich sukzessive herauskristallisiert, dass der Akt der Übertragung, welcher der Analogie wie auch der Metapher zu eigen ist, für die Überlieferungsgeschichte der hier behandelten Begriffe von ganz außerordentlicher Bedeutung ist. Anhand von Jacques Derridas Dekonstruktion der Lichtmetaphorik, welche die gesamte Geschichte der abendländischen Metaphysik durchzieht, zeigt sich, dass philosophischen Metaphern bereits eine immanente Differenzialität und Aporizität innewohnt, durch die sie dazu tendieren, sich im Moment der Setzung selbst zerstören. Aus dieser autodestruktiven Dynamik heraus wiederum entspringt ein Mehrwert, ein Surplus. Es erweist sich letztlich, dass es wesentliche Überschneidungspunkte zwischen Metapher und Metaphysik gibt, die in ihrer immanenten Aporizität kulminieren. Metaphern sind daher, so die etwas provokative Quintessenz des Kapitels, inhärenter Bestandteil der Philosophie. Dementsprechend fließt die Metaphorizität als drittes Axiom in die Untersuchung der dynamis und ihres Übergangs in die energeia ein. Dass dieser Umweg über den Begriff der Metapher nötig und der Umweg vielleicht selbst immer schon Mittel der Philosophie ist, zeigt das vierte Kapitel Umweg als Methode des Erkennens (Überlieferung II). In Anlehnung an Walter Benjamins Aussage „Methode ist Umweg“2 wird die Urfrage der abendländischen Philosophie: „Was ist das Seiende als Seiendes?“ sowie die Grundannahme, dass die Philosophie selbst mit einem Staunen beginne, hinterfragt. Es bestätigt sich im Verlauf dieses Kapitels, dass die immanente Differenzialität nicht nur eine Besonderheit der philosophischen Begriffe, sondern dass die Differenzialität in die Überlieferungsgeschichte selbst eingeschrieben ist, des Weiteren, dass letztere unmittelbar an den historischen Kontext ihrer Auslegung – und damit letztlich an die geschichtliche dynamis – gebunden ist. In ihr kommt es, so das weitere Fazit des Kapitels, ebenso wie im Übergang von der dynamis zur energeia, zu einer Art differenzieller Kontraktion zweier gegenläufiger Momente: des Übergangs in die Verwirklichung einerseits und des Zurückhaltens in der Potentialität andererseits. Die Differenzialität muss daher als viertes Axiom berücksichtigt werden. Dabei wird die Differenz als so grundlegend erachtet, dass sie im letzten Kapitel als absolute Differenz, die in jedem Moment des Übergangs von einem Vermögen in die Verwirklichung enthalten ist, gedacht wird. Zugleich aber impliziert dieser Übergang eine gewisse Pluralität, die sich aus dem aristotelischen Diktum ergibt, nach dem das Seiende und die dynamis, aber auch die polis und das Gute, auf mehrfache Weisen – und eben nicht nur auf eine einzige Weise – ausge2 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt: Suhrkamp 2006, 208. Sämtliche Zitate aus den Schrif ten Benjamins sind folgender Ausgabe entnommen: Gesammelte Schrif ten, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, 7. Bde. i. 14 Teilbde., Frankfurt: Suhrkamp 1972–1991.
Prélude
sagt werden können. An Franz Brentanos Studie zur Mannigfachen Bedeutung des Seienden3 anknüpfend, nimmt die Pluralität der Differenz somit einen zentralen Stellenwert in unserer Betrachtung ein. Nachdem in den ersten vier Kapiteln die vier Axiome herausgearbeitet wurden, fließen diese im fünften Kapitel zu einer Axiomatik des Denkens zusammen. Nach einer überblickshaften Zusammenfassung der Etymologie des Begriffs der dynamis wird entlang der Axiomatik von Materialität, Aporizität, Metaphorizität und Differenzialität schließlich der Begriff der dynamis und ihr Umschlag in die energeia dekonstruiert. Das sechste Kapitel ist denn auch ganz der Auslegung der dynamis und des Umschlags von der dynamis zur energeia in unserem Sinne einer materialistischen Philosophie der Differenz gewidmet. Um dies auszuführen, beginnt das Kapitel mit einer detaillierten Erläuterung der dynamis-Passagen in Aristoteles’ Metaphysik. Dabei werden diese sowohl in ihren geschichtlichen als auch in ihren philosophischen Kontext eingeordnet. Einerseits zeigt sich hier deutlich, in welcher Beziehung die Passagen über die dynamis zu Aristoteles’ Diktum der Vielfältigkeit des Seienden stehen. Andererseits werden in kleinteiligen Schritten die Begriffe, welche der eigentlichen Definition der dynamis als „Prinzip der Bewegung in einem anderen oder in demselben, insofern es ein anderes ist“ (Metaph. 1046a9–11), zugrunde liegen, sukzessive diskutiert und gedeutet. Dabei erhellt sich, dass die dynamis nicht auf einen rein physikalischen Bewegungsbegriff reduziert werden kann, sondern vielmehr im Hinblick auf den irreduzibel differenziellen Moment des Umschlags – der metabolē – von der dynamis in die energeia gedacht werden muss. Die metabolē ist dann auch Gegenstand des siebten Kapitels Die Zeit der dynamis: Metabolē – l’avenir – Augenblick. In diesem wird unter anderem anhand der Lesart von Giorgio Agamben zunächst einmal konzise illustriert, wie der Zusammenhang zwischen dynamis und ihrer Privation, der sterēsis, zu verstehen ist. Dies geschieht, um ein weiteres Mal ihr widerständiges Moment – ihre „étonnante capacité de résistance“, wie Aubenque es für die Metaphysik selbst formuliert – hervorzuheben. Es erweist sich, dass die dynamis in ständigem Wechselspiel zwischen dem Übergang in die energeia und dem ihr eigenen Moment der Widerständigkeit stehen muss. Daher ist sie kein dionysischer Exzess, sondern bleibt an das intensionale und inversive Moment des Übergangs gebunden, in dem es zu einer differenziellen Kontraktion, also zu einem plötzlichen expansiven Umschlagen in die Verwirklichung bei gleichzeitigem inversiven Zusammenziehen in sich selbst, kommt. In diesem Sinne wird mehrfach im Verlauf des Textes auf die doppelte Aporizität der dynamis hingewiesen. Jener doppelten Aporizität gemäß zeigt sich an der metabolē dementsprechend eine dem Übergang von der dynamis zur 3 Franz Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles, Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaf t 1960 (Nachdr. Freiburg: Herder 1862).
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energeia zugrunde liegende ganz eigentümliche Zeitstruktur. Deren Erläuterung findet hier – sowie an vielen Stellen dieses Buches auch – vor dem Hintergrund von, für und gegen Martin Heideggers Philosophie statt. Die Heidegger’sche Auslegung des dynamis-Begriffs und seiner Annahmen über das Wesen der archē ist dabei für dieses Kapitel besonders interessant. Gerade die archē (Prinzip) sowie die Zeitstruktur des exaiphnēs (Augenblick) erweisen sich als Schlüsselbegriffe zum Verständnis der dynamis, denn an ihnen zeigt sich letztlich ihr disruptiver und widerständiger Charakter, durch welchen im Moment des Umschlags in die energeia ein Zwischenraum generiert wird – eine Art „Kraftfeld“, wie Walter Benjamin es im Theologisch-politischen Fragment4 formuliert. In diesem wiederum, so die Schlussfolgerung des Kapitels, entfaltet sich ihr kraftvolles Potential, durch welches lineare Chronologien radikal entsetzt werden und die dynamis selbst als geschichtliche Kategorie gedacht werden könnte. Am Ende des siebten Kapitels schließt sich gewissermaßen die Ellipse zum ersten Kapitel – nämlich zur Materialität, zur Überlieferungsgeschichte und letztlich zu dem Versuch einer Einbettung der dynamis in den historischen Kontext. Die Frage nach der Geschichtlichkeit der dynamis aufgreifend, findet im achten und letzten Kapitel Kraft und Vermögen der Geschichte(n) schließlich eine ausblicksartige Skizzierung dessen statt, was nun die kraftvolle Eigenschaft der dynamis für geschichtliche Phänomene bedeuten und bewirken könnte. Diese besteht darin, im Moment des Umschlags zu widerstehen und in diesem Widerstehen gleichzeitig einen Zwischenraum zu öffnen, in dem vielleicht eine neue Form der Freiheit erfahrbar wird. Um zu diesem Ausblick zu gelangen, ist der argumentative Durchgang durch die Denkbewegungen der vorherigen sieben Kapitel dieses Buches vonnöten, welche wiederum die prinzipielle Möglichkeit einer geschichtsbewussten Philosophie vorausgesetzt hatten. Nicht vonnöten ist dagegen eine chronologische Lektüre dieses Buches. Der radikalen Entsetzung der linearen Chronologie gemäß, welche sich aus der Beschäftigung mit dem hier zugrundeliegenden Material – mit der Ideengeschichte und mit dem Begriff der dynamis – ergab, sei es dem Leser freigestellt, Anfang und Ende selbst zu setzen oder sich einfach den überwiegend in der Fußnote zu findenden Randgedanken zu widmen. Schlussendlich legt dieses Buch dar, dass aus der hier diskutierten Konstellation heraus – der dekonstruktiven Releküre des Begriffs der dynamis und ihres Umschlags in die energeia entlang der hier vorgelegten Axiomatik – ein Surplus entspringt, welches als kritisches Moment des Widerstands in Richtung einer historischen Freiheit weist, eine Freiheit, in welcher die binäre Strukturierung der Welt in Vermögen und Wirklichkeit endlich konstruktiv hin zur Differenz gewendet wird. Genau zu erläutern, wie dieses Moment des Widerstands konkret aussieht, welche Formen und Figuren es annimmt, würde wiederum weitere phi4 Walter Benjamin, Theologisch-politisches Fragment, GS II.2, Frankfurt: Suhrkamp 2006, 203–204.
Prélude
losophische Fragen, weitere Denkbewegungen, weitere Dekonstruktionen und in letzter Instanz weitere „wechselnde Konstellationen“ erfordern.
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I. Von der Form zur Materie eductio formarum ex materia Avicenna – Averroës
Wie, fragt Franz Brentano in seiner 1882 verfassten Schrift Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles,5 „[w]ie also sollte der Unterschied des Zustandes des Werdens und des Zustandes der Möglichkeit zu derselben Form vor dem Werden von ihr gesetzt sein?“ Seine ebenso bezeichnende wie dogmatische Antwort lautet: „Unmöglich!“ Dieses Zitat umkreist exemplarisch mehrere Problematiken, welche die Rezeptionsgeschichte der aristotelischen Unterscheidung zwischen dynamis und energeia bis hin zu ihrem Einsetzen im Lykeion von Peripatos wie eine Spur durchziehen. Dort, bei den Peripatetikern, kam es bereits zu ersten Differenzen, wie denn nun das Verhältnis zwischen dynamis und energeia zu denken sei. Im Anhang seines Buches über das Materialismusproblem „Avicenna und die Aristotelische Linke“ führt Ernst Bloch den paradigmatischen Ausgang dieses Jahrhunderte andauernden Disputs auf Straton zurück. „Straton“, schreibt er, „das dritte Haupt der peripatetischen Schule […], der den Beinamen des ›Physikers‹ führte, gab dem Aristotelismus die früheste naturalistische Umbiegung“ – d. h. weg von der Dominanz des Denkens im reinen Akt – und setzte so „jenen Zuschlag der höchsten Potenz zur Materie in Gang“.6 Bloch erkennt in diesem Versuch Stratons eine Art erste materialistische Wende in der Interpretation der aristotelischen Lehre zur dynamis und energeia. Es sei, so fügt er hinzu, „[g]enau diese Lehre“, die „ihren ersten Linkseffekt schon am eigenen Ort und so schnell wie die Hegels“7 erfuhr. Aristoteles selbst suchte nun in seinen metaphysischen Abhandlungen – einer Sammlung von Texten, die erst über zweihundert Jahre nach ihrer Abfassung durch Andronikos von Rhodos zu einem Buch, ‚der‘ Metaphysik, zusammengestellt wurde – zu demonstrieren, dass die dynamis zwar einen eigenen Seinsstatus besitze, die energeia gegenüber der dynamis jedoch eine zumindest logisch vorrangige Stellung habe. Es sei schließlich nicht erdenklich, so Aristoteles, irgend5 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 61–62. 6 Ernst Bloch, Avicenna und die Aristotelische Linke, in: Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt: Suhrkamp 1972, 479–546, hier: 493–494. 7 Bloch, Avicenna, 493.
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etwas Mögliches noch vor dessen verwirklichender Manifestation zu erkennen, daher müsse der energeia notwendig ein Vorrang eingeräumt werden, der jedoch den Seinsstatus der dynamis selbst unberührt lässt. Bekanntlich gehen Aristoteles’ Ausführungen so weit, als erstes Seiendes (prōtōs on) – auf dessen Auffinden seine gesamten Überlegungen zulaufen – die reine Tätigkeit zu setzen. „Nun gibt es aber etwas“, führt Aristoteles aus, „was ohne bewegt zu werden selbst bewegt und in Wirklichkeit (in wirklicher Tätigkeit) [energeia on] existiert. […] Von einem derartigen Prinzip [archē] hängen also der Himmel und die Natur ab“ (Metaph. 1072b12–14). Alles innerhalb des kosmologischen Zirkels bewege sich ursächlich erst aufgrund dieses einen unbewegten Bewegers, der bewegt, ohne bewegt zu werden, und der es nicht nur vermag, die Ordnung des Himmels ewig zu bewahren, sondern letztlich auch allen natürlichen Bewegungen den Anstoß zu geben. Jener erste Bewegungsanstoß geht also Aristoteles zufolge von der Aktivität eines unbewegten Bewegers aus, welcher jede weitere Bewegung freisetzt und die Natur, den Kosmos, aber auch das Seiende der Metaphysik umfasst. Bei dieser reinen Tätigkeit handelt es sich, wie Heinz Happ in seinem Opus Magnum Hyle schreibt, um eine „kontinuierliche Ortsbewegung“,8 von der selbst noch die Zeit abhängt, weil in jedem zeitlichen Intervall immer auch der Übergang von einer Potenz in den Akt mitgedacht werden könne, was im Falle des unbewegten Bewegers notwendig ausgeschlossen bleiben muss. Genau genommen kann daher der unbewegte Beweger überhaupt nicht selbst Bewegung sein, denn er ist Prinzip, Ursache und Ursprung jeder Bewegung. Auch Brentano spricht von einer alle Bewegung anstoßenden Ursache, wenn er schreibt: „Alles, was in Möglichkeit etwas ist, wird nicht zur Wirklichkeit überführt, wenn nicht durch den Einfluß einer wirkenden Ursache.“9 Damit ist nicht nur gesagt, dass es einen ursprünglichen Bewegungsanstoß gibt, sondern ebenfalls, dass aus diesem sämtliche Vermögen ausgeschlossen werden müssen, denn diese beinhalten neben der Möglichkeit, zu sein, per se ebenso die Möglichkeit, nicht zu sein. „Unmöglich aber kann die Bewegung entstehen oder vergehen; denn sie war immer“, schreibt Aristoteles daher im Buch XII seiner Metaphysik und fährt dann fort: Gäbe es nun ein Prinzip des Bewegens und Hervorbringens, aber ein solches, das nicht in Wirklichkeit wäre, so würde keine Bewegung stattfinden; denn was bloß das Vermögen hat, kann auch nicht in Wirklichkeit sein. […] Ja, wenn es selbst in Wirklichkeit sich befände, sein Wesen aber bloßes Vermögen wäre, auch dann würde keine ewige Bewegung stattfinden; denn was dem Vermögen nach ist, kann möglicherweise auch
8 Heinz Happ, Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begrif f, Berlin/New York: De Gruyter 1971, 479. 9 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 51.
I. Von der Form zur Materie nicht sein. Also muß ein solches Prinzip [archē] vorausgesetzt werden, dessen Wesen [ousia] Wirklichkeit [energeia] ist. (Metaph. 1071b6–20)
Jeder Bewegungsanstoß und damit auch jede Bewegung wird zunächst einmal als aus dem Akt entspringend gedacht, und zwar so, dass er eigentlich gar nichts anderes als dieser Akt selbst sein kann, denn jedes Vermögen birgt die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung bereits in sich, was wiederum sowohl die Existenz eines ersten Prinzips als auch die Ewigkeit der Bewegung selbst in Frage stellen würde. Innerhalb des aristotelischen Denkens scheint die Rückführung jedes Übergangs von der dynamis auf die energeia daher zunächst notwendig auf den einen unbewegten Beweger, auf diese reine Wirklichkeit oder reine energeia, zuzulaufen. Es ist dieser Vorrang der energeia vor der dynamis, der sich wie ein genealogisches Band über die Jahrhunderte hinweg bis hin zu den großen mittelalterlichen Aristoteles-Kommentatoren und ihrer Beweisführung zur Existenz Gottes spannt. Deren Versuche, die aristotelischen Schriften zu konservieren und fortzuschreiben, und ihr immenses Fortwirken bis in die Moderne hinein können gar nicht hoch genug geschätzt werden. Den Kern ihrer Kommentarien bildet die eben beschriebene aristotelische Bestimmung eines ersten Bewegers als reine Tätigkeit, aus der letztlich die scholastische Gottesbestimmung des actus purus entspringt.10 Jener reine Akt deckt sich mit der ewigen Kreisbewegung, die in Aristoteles’ kosmologischer Vorstellung noch an den Fixsternhimmel gebunden ist und in der sich das Göttliche letztlich selbst setzt. Wie es in der bekannten Stelle aus der Metaphysik heißt, handelt es sich bei dieser Selbstsetzung um nichts Geringeres als reines Denken: „νόησις νοήσεως νόησις“, „das Denken des Denkens ist Denken“ (Metaph. 1074b34–35) – es ist reine Tätigkeit, die im Wechselspiel zwischen dynamis und energeia, zwischen Potenz und Akt, Materie und Form, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit mit letzteren koinzidiert. Das Pico della Mirandola zugeschriebene Diktum „sine Thoma mutus esset Aristoteles“11 – ‚ohne Thomas würde Aristoteles schweigen‘ – illustriert plakativ diese Genealogie theologischer Auslegungen aristotelischer Schriften, ohne welche uns sein Werk vermutlich nie auf diese Weise erhalten geblieben wäre. So bemerkt der Philosoph Ralph McInerny hierzu:
10 So schreibt Thomas in seiner Summa: „Deus est actus purus, non habens aliquid de potentialitate“ (Summa I Q. 3 Art. 2 Resp.), in: Die deutsche Thomas-Ausgabe: Summa theologica, übers. u. kommentiert v. Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, Regensburg: Pustet 1934. Vgl. auch Charles Albert Dubray, Actus Purus, in The Catholic Encyclopedia Bd. 1, New York: The Encyclopedia Press 1913. 11 Zit. nach Franz Brentano, Mannigfache Bedeutung, 181.
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz „There is an old maxim, passed on by Pico della Mirandola: Sine Thoma, Aristoteles mutus esset: without Thomas, Aristotle would be silent. The phrase is a signal tribute to the [Thomistic] commentaries [on Aristotle]. But the reverse of the claim is also true, and true throughout Thomas’ career: Sine Aristotele, Thomas non esset.“12
‚Ohne Aristoteles gäbe es Thomas nicht.‘ – Obgleich es sich hierbei um eine Art hyperbolisierte Verkehrung von Pico della Mirandolas Diktum handelt, verweist sie doch auf den richtigen Sachverhalt, dass es eine aus der aristotelischen Beschreibung des unbewegten Bewegers als reine energeia entspringende Genealogie gibt, in der das Denken des Denkens zur höchsten Daseinsform wird und unmittelbar mit der Wirklichkeit zusammenfällt. Ihren Nachklang findet diese Auslegung wohl noch an prominenter Stelle der Hegel’schen Rechtsphilosophie und dessen dogmatischem und für die Staatstheorie fatalen Kurzschluss zwischen Vernunft und Wirklichkeit.13 Wenn sich nun allerdings zeigen ließe, dass sich jene Rückführung auf einen ersten Akt nicht so zwingend notwendig aus den aristotelischen Schriften ergibt, wie es scheint, wenn also eine andere Lesart der aristotelischen Unterscheidung zwischen dynamis und energeia möglich ist, dann stellt sich die Frage, was genau eine solche Ent-Priorisierung der energeia bedeutet und wie genau sich dann eine andere Lesart gestaltet. Wir können davon ausgehen, dass diese eine Verschiebung des Denkens hin auf den Bereich des ‚Umschlags‘ von der energeia zur dynamis begünstigt, wie Martin Heidegger in seinem Kommentar zum berühmten Buch IX der Metaphysik formuliert.14 Was wäre also, wenn in den aristotelischen Schriften bereits ein anderes Denken dessen, was jener Raum zwischen Verwirklichung und Vermögen im Hinblick auf die Instituierung und das Prinzip selbst bedeutet, angelegt wäre, wenn es also vielmehr auf ein Denken dieses Grenzbereichs oder Zwischenraumes ankäme als auf die Priorisierung der energeia? Inwiefern sich hier unser Denken in Richtung einer materialistischen Philosophie der Differenz bewegt, wird sich im Verlaufe des vorliegenden Textes zeigen. Und es sind letztlich die mittelalterlichen Kommentatoren selbst, bei denen sich diese Richtungsänderung bereits ankündigt. Denn gerade in ihrem Versuch, den aristotelischen Textkorpus gewissermaßen aus sich selbst heraus mit ihren jeweiligen theologischen Dogmen zusammenzudenken, kommt es zu jener Über12 Ralph McInerny: Introduction, in: Thomas Aquinas: Selected Writings, übers. u. hg. v. Ralph McInerny, Harmondsworth: Penguin 1998, xxxi. 13 Bekanntlich heißt es in Hegels Vorrede zur Rechtsphilosophie: „Іδού Ρόδος, ίδού καί τό πήδημα. Hic Rhodus, hic saltus. […] Die Vernunf t als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünf tige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit“, in: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt: Suhrkamp 2000, 26–27. Siehe hierzu v. a. Marxens Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Karl Marx/Friedrich Engels, MEW Bd. 8, Berlin: Dietz 1972. 14 Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der Kraf t (= Wesen und Wirklichkeit der Kraf t), GA 33, hg. v. Heinrich Hüni, Frankfurt: Klostermann 2006.
I. Von der Form zur Materie
lagerung von Theologie und aristotelischer Metaphysik, in deren Resonanzraum sich die spezifisch aristotelische Sprache intensiviert und so ihre hermeneutische Grenze immer schon übersteigt. Während sich dieses Phänomen bei Thomas und den christlichen Denkern noch in der Priorisierung des Aktes manifestiert – dem Akt also, der sein Prinzip (archē) in der Emanation der Form aus der Form als Denken des Denkens hat –, deutete sich vorher schon bei Maimonides die Notwendigkeit an, beide, Form und Materie und damit also dynamis und energeia, in den ursprünglichen Schöpfungsakt mit einzubeziehen. So schreibt Maimonides in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk Führer der Unschlüssigen: [W]ir haben vielmehr gesagt, daß Gott [die Materie] aus Nichts hervorgebracht hat und zwar in dem Zustand, wie sie an sich ist, nachdem sie zum Dasein gelangt ist, nämlich daß alle Dinge aus ihr werden und alles, was aus ihr geworden ist, in sie vergeht. Die erste Materie existiert aber nicht entblößt von der Form, und alles Werden und Vergehen gelangt schließlich zu ihr.15
Ohne an dieser Stelle die theologisch-philosophischen Implikationen der maimonidischen Schrift näher diskutieren zu können, soll dieses Zitat exemplarisch zeigen, dass es sich um den Versuch handelt, Fragen des monotheistischen und hier insbesondere des jüdischen Glaubens mit der aristotelischen Metaphysik zusammenzudenken. Bei Maimonides sind schließlich Akt und Potenz gleichursprünglich mit der creatio ex nihilo Gottes, aus der jede weitere Bewegung, alles „Werden und Vergehen“, wie er schreibt, entspringt.16 Eine andere Justierung hin zur Materie findet sich bei Avicenna und Averroës, von denen letzterer den Beinamen „der Kommentator“17 trägt und auf deren Aristoteles-Auslegungen sich sowohl Maimonides als auch – einige Jahrhunderte 15 Maimonides, Führer der Unschlüssigen, Zweites Buch, übers. v. Adolf Weiß, Leipzig: Meiner 1995, 114. 16 Eine detailliertere Exegese der mittelalterlichen Kommentarien wäre an dieser Stelle sicherlich hilfreich, muss aber aus evidenten Gründen ausgeklammert bleiben. Eine etwas knackige Zusammenfassung der Überlieferungsgeschichte findet sich in Hegels Vorlesung über die Geschichte der Philosophie, wo er schreibt: „Die Bekanntschaf t der Araber mit Aristoteles hat das geschichtliche Interesse, daß auf diesem Wege auch das Abendland zuerst mit Aristoteles bekannt geworden. Die Kommentarien über Aristoteles und Zusammenstellung der Aristotelischen Stellen sind Quelle für die Abendwelt geworden. Die Abendländer haben lange nichts gekannt vom Aristoteles als solche Rückübersetzungen Aristotelischer Werke und Übersetzungen arabischer Kommentare über Aristoteles. Von spanischen Arabern, besonders von Juden im südlichen Spanien und Portugal und in Afrika, wurden diese Übersetzungen nun aus dem Arabischen ins Lateinische gemacht; of t ist also erst noch hebräische Übersetzung dazwischen“, in: Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 19, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, 522–523. 17 Vgl. Otfried Höf fe, „[Averroës’] Kommentare werden vom 13. Jahrhundert an ins Hebräische und Lateinische übersetzt. In der jüdischen und der christlichen Hochscholastik tragen sie dem Verfasser den Ehrennamen ‚der Kommentator‘ für ‚den Philosophen‘: Aristoteles, ein“, in: Höf fe, Kleine Geschichte der Philosophie, München: Beck 2005, 116.
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später – Ernst Bloch berufen. Jede Bewegung von der dynamis zur energeia, jedes Verwirklichen und Formwerden also, so schreibt Bloch mit Verweis auf die arabisch-persischen Philosophen, sei „eductio formarum ex materia“ – ein Hinausoder Überführen der Formen aus der Materie. So fasst Bloch zusammen: Avicenna bereits hatte den Stoff als das Mögliche erinnert, das zum Hervortritt des äußeren Stoßes bedarf; Entwicklung ist bei ihm deutlich eductio formarum ex materia, mit materia wirklich als mater […]. Averroës dazu machte die universale Materie zum Schatzraum der Welt; item: in der Möglichkeit des Stoffs liegen keimartig alle Formen beschlossen und versammelt, die durch den selbst nicht erschaffenen Anhauch der Gottheit, als des actus purus, entwickelt und extrahiert werden. Dadurch ist die Form insgesamt dahin gebracht, als selbständiges Prinzip verlorenzugehen; sie wird bei diesen linken Aristotelikern Eigentümlichkeit des Stoffs selber.18
Bloch illustriert sowohl in der seinem Freund Georg Lukács gewidmeten, eben zitierten Studie über das Materialismusproblem von 1972 als auch in dem bereits einige Jahre zuvor verfassten Überblickstext zu Avicenna eine andere Geschichte des aristotelischen Materiebegriffs: Anders nämlich als in der theologischen Genealogie, in der das Primat der Form – des unbewegten Bewegers, des höchsten Denkens – sich verstetigte und verewigte, könne man in der okzidentalen Lesart bereits eine Abwendung vom Religiösen und damit eine Hinwendung zur Materie erkennen. Dieser etwas eilige Schluss Blochs weist vielleicht darauf hin, dass sich bei Avicenna und Averroës bereits so etwas wie eine atheistische Wende abzeichnete;19 er weist aber vor allem auf eine Verschiebung des bereits bei Aristoteles angekündigten Primats des Aktes vor der Potenz hin. So wie auch schon die Hegel’sche Schule in ihre linke und rechte Strömung unterteilt wurde, gliedert Bloch nun die eben nachgezeichneten Stränge in Rechtsund Linksaristotelismus, wobei er in letzterer Lesart den Verbindungsbogen bis hin zu Giordano Bruno spannt, oder wie er selbst formuliert: „Es gibt eine Linie, die von Aristoteles nicht zu Thomas führt und zum Geist des Jenseits, sondern zu Giordano Bruno und der blühenden Allmaterie.“20 Wie sehr Bloch hier tatsächlich von einer Abkehr jeder theologischen Auslegung ausgeht, wird durch seine Definition dieses „Linkseffekts“ als „die Aufhebung der göttlichen Potenz selber in der aktiven Potentialität der Materie“21 verdeutlicht. Während sich Erklärungen über die Welt in vorphilosophischer Zeit noch auf die Beobachtung der Formen beschränkten, auf welche letztlich alles zurückginge, und sogar noch Platons Ideenhimmel 18 Bloch, Materialismusproblem, 153–154. 19 An einer Stelle formuliert Bloch gar: „Nicht Mohammed, sondern Aristoteles ist für Avicenna und ganz scharf bei Averroes die höchste Inkarnation des Menschengeistes; deutlicher kann die Wissenschaf t als absolutes nicht ausgedrückt werden“ (Bloch, Avicenna, 484). 20 Bloch, Avicenna, 481. 21 Bloch, Avicenna, 494.
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in dieser Hinsicht als eine Abwendung von der Materie zu betrachten sei, der kein eigenständiger Seinsstatus zugesprochen werden könne, sei die Materie erst mit, in und durch die aristotelische Philosophie kein μή όν, kein Nicht-Seiendes mehr, sondern erhalte ihren eigenen Seinsstatus. Die spezifische Neuerung der aristotelischen dynamis-Lehre gegenüber derjenigen Platons bestehe nun darin, nicht mehr bloß Nicht-Sein zu sein, sondern vielmehr überhaupt jeder Form wesentlich zugrunde zu liegen: Sie ist, so fährt Bloch fort, „nicht nur Tragendes, sondern Austragendes, sie stellt überall das Woraus“.22 Daher findet Bloch den für die Geschichte der Philosophie zentralen Wendepunkt darin, dass der „Stoff kein μή όν“ sei, sondern ursprünglich „den Formen ermöglichend zugrunde liegt“.23 Diese Vorstellung einer die Formen erst ermöglichenden Materie ist vor allem aus dem Bereich des Kunstschaffens bekannt, weswegen Bloch sich unmittelbar auf Michelangelo bezieht, um jene grundlegende Stofflichkeit der Form zu illustrieren: Michelangelo glaubte in einem Marmorblock die in ihm schlafenden Gestalten zu sehen; Aristoteles gibt zuweilen Anlaß, seine Möglichkeits-Materie nicht anders zu verstehen, eben als Ort der sich herausbildenden Gestaltformen im Zustand des erst Potentialen. Ja dieses In-Möglichkeit-Sein der Materie enthält bei ihm sogar ein eigenes Vermögen […].24
Allein durch die Formung der in der Materie angelegten Gestalt zeigt sich nach dieser Vorstellung, dass es nicht die Formen sind, welche die Materie in ihrer Form bestimmen, sondern die Materie selbst eigentlich formbestimmend ist und zwar so grundlegend, dass ohne sie die Form selbst nicht denkbar und schon gar nicht verwirklichbar wäre. Es ist also erst die von Bloch so bezeichnete ‚aristotelische Linke‘, durch welche nun endlich genau diese „Aktivierung der Materie“25 und damit die materialistische Geschichtsschreibung in Gang gekommen ist. „Jedes Ding, das neu entsteht“, zitiert Bloch Avicenna aus dessen Metaphysik, „hat vor seinem Werden entweder
22 Bloch, Materialismusproblem, 143. 23 Bloch, Materialismusproblem, 141. 24 Bloch, Materialismusproblem, 143–144. In einem seiner Gedichte fasst Michelangelo dies folgendermaßen: „So wie, indem man abnimmt, langsam nur / innen im harten Berggestein sich findet / ein Niederschlag lebendiger Figur, / der mehr erwächst, je mehr der Stein verschwindet. / So ist von manchem guten Tun die Spur, / darin die Seele bebend sich erwiese, / versteckt durch diese Oberfläche, diese / des eignen Fleisches steinige Natur. / Du kannst allein aus meinen Außenseiten / dieses befrein, wozu aus mir in mir / nicht Wille ist, noch Kraf t, es zu bestreiten“, in: Michelangelo Buonarroti, Dichtungen des Michelangelo, übers. v. Rainer Maria Rilke, Leipzig: Insel Bücherei 1936, 7. 25 Bloch, Avicenna, 518.
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die (stoffliche) Möglichkeit zu existieren oder es ist unmöglich“.26 Und um zu verdeutlichen, wie sehr es sich hierbei um eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia handelt, die wohl auch als eine Wende im Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie betrachtet werden kann, fügt Bloch an anderer Stelle ein Zitat aus Averroës’ Destructio Destructionis hinzu: ‚Generatio nihil aliud est nisi converti res ab eo, quod est in potentia, ad actum‘, jede Hervorbringung eines Dinges ist nichts als die Wendung seiner Potentialität zu der in ihr begründeten Wirklichkeit. Und die Formen gehen einzig aus dem Stoff selber hervor – Entwicklung ist ‚eductio formarum ex materia‘.27
An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die Verkehrung des Primats der energeia hin zu einem Primat der dynamis in jener Exegese vollzogen wurde; so sehr, dass jede Potentialität, nun unmittelbar an die Wirklichkeit geknüpft, gar mit ihr zusammenfällt – ein Sachverhalt, der, wie weiter oben bereits geschildert, eigentlich dem Denken als reine Wirklichkeit vorbehalten war. Auch Marx und Engels zeichnen in Die Heilige Familie ein ähnliches Bild einer materialistischen Wende, wenn sie in Bezug auf Duns Scotus behaupten, dieser habe sich bereits gefragt, „ob die Materie nicht denken könne“, um etwas spitz hinzuzufügen: „Um dies Wunder zu bewerkstelligen, nahm er zu Gottes Allmacht seine Zuflucht, d. h. er zwang die Theologie selbst den Materialismus zur predigen.“28 Von dieser Perspektive aus betrachtet verwundert es nicht, dass Averroës’ unorthodoxes Anliegen, die aristotelische Philosophie mit islamischer Theologie zu verknüpfen, zu seiner Zeit einigen Unmut hervorrief. Seine Destructio Destructionis ist denn auch nichts anderes als eine Antwort auf Al-Ghazalis Destructio Philosophorum, die im Koran und gerade nicht in den Schriften der antiken Philosophen die letzte (oder erste) Wahrheitsinstanz sieht.29 Alle Justierung seitens der 26 Zit. nach Bloch, Avicenna, 525. Vgl. auch Avicenna selbst in: Die Metaphysik Avicennas, enthalten die Metaphysik, Theologie, Kosmologie und Ethik, übers. v. Max Horton, Halle a. S./New York: Rudolf Haupt 1907, 269. 27 Bloch, Avicenna, 501. 28 Karl Marx und Friedrich Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten (1845), MEW 2, Berlin: Dietz 1980, 135. Bekanntlich hat auch Heidegger über Duns Scotus’ vermeintliche Kategorien- und Bedeutungslehre, die Grammatica speculativa, seine Habilitationsschrif t verfasst. Wie sich später allerdings herausstellte, wurde das Werk, auf das sich Heidegger in seiner Habilitation bezog, gar nicht von Duns Scotus, sondern von Thomas von Erfurt verfasst. 29 Ein kleiner Überblick über den Disput zwischen Al-Ghazali und Averroës findet sich in Bertrand Russels Geschichte der Philosophie: „The religious dogmas that Algazel specially upheld against the philosophers were the creation of the world in time out of nothing, the reality of the divine attributes, and the resurrection of the body. Averroes regards religion as containing philosophic truth in allegorical form“, in: Russel, The History of Western Philosophy and its Connection with Political and Social Circumstances from the Earliest Times to the Present Day, London: George Allen and Unwin 1947, 447.
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mittelalterlichen Philosophie richte sich, so Bloch, daher weg von einer göttlichen Schöpferkraft und hin zur „schöpferische[n] Gewalt der natura naturans“,30 die letztlich in Spinozas berühmter Formel „deus sive natura“ kulminiere.31 Damit ist der Abwendung von jener genealogischen Verkettung theologischer Aristoteles-Auslegung und der Hinwendung zu einer Geschichte der Materie der Weg geebnet, und zwar auch, wenn hiermit zunächst einmal die physikalische Natur gemeint ist, die ab jetzt mit der göttlichen Kraft zusammenfällt und aus deren Boden sämtliche Bewegung erwächst. Spätestens seit Marx und Engels jedoch beschränkt sich die Abkehr von der reinen Form, und damit die Hinwendung zur Materie, nicht nur auf den natürlichen Bereich, sondern umfasst ebenso die gesamte Geschichte der Menschheit, als deren dialektische Triebfeder sie gelesen werden kann. Ohne wieder in einen versteckten Theologismus zurückzufallen und gegen eine alleinige Beschränkung auf „Naturkenntnisse“, so schreibt Engels in seiner unvollendeten Dialektik der Natur, offenbart sich hierdurch letztlich jene erkenntnis- und gesellschaftskritische Geste, „die Welt aus sich selbst zu erklären“.32
30 Bloch, Avicenna, 501. 31 Die natura naturans ist nach Spinoza die aktive Kraf t der Natur, welche ihre Wirkursache in sich selbst trägt, im Gegensatz zur natura naturata, bei der ein äußerlicher Kraf tanstoß vorliegen muss. Der kategoriale Unterschied zwischen natura naturans und natura naturata ist am deutlichsten in Spinozas Ethik bestimmt: „Denn ich glaube, es geht schon aus dem Bisherigen hervor, daß wir unter wirkender Natur [natura naturans] das zu verstehen haben, was in sich ist und durch sich begrif fen wird, oder solche Attribute der Substanz, die ewiges und unendliches Wesen ausdrücken, d. h. […] Gott, sofern er als freie Ursache betrachtet wird. Unter gewirkter Natur [natura naturata] verstehe ich alles dasjenige, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden von Gottes Attributen folgt, d. h. alle Daseinsformen der Attribute Gottes, sofern sie als Dinge betrachtet werden, die in Gott sind und ohne Gott weder sein noch gedacht werden können“, in: Baruch de Spinoza, Ethik, übers. v. Carl Vogl, hg. v. Friedrich Bülow, Stuttgart: Alfred Kröner 1982, Teil I, Prop. 29, 32. 32 Friedrich Engels, Dialektik der Natur, MEW 20, Berlin: Dietz 1962, 315. Ein weiterer Klassiker zur Geschichte des Materialismus und seiner Kritik ist Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus von 1866. Im Zuge neokantianischer Versuche, Aristoteles’ Philosophie abzuwehren, schrieb Hermann Cohen, der Langes Student in Marburg war, für die 5. Ausgabe von dessen Werk ein Biographisches Vorwort, in welcher er den Versuch unternimmt, ebenjenen Materialismus zu re-transzendentalisieren. „Metaphysik ist Begrif fsdichtung“, schreibt er dort, um dann etwas nüchtern-kantianisch hinzuzufügen: „Das will positiv sagen: Metaphysik muss Erkenntnistheorie werden. Was Natur sei, geht uns nichts an, sofern wir philosophiren, nicht dichten wollen“, in: Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hg. v. Hermann Cohen, Iserlohn und Leipzig: J. Baedeker 1887, hier: xi. Erst mit seiner Einleitung für den Neudruck in den 1970er Jahren gelang es Alfred Schmidt, Langes Buch zu rehabilitieren. Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung und in der Gegenwart, Frankfurt: Suhrkamp 1974; darin: Alfred Schmidt, Friedrich Albert Lange als Historiker und Kritiker des vormarxschen Materialismus, X–XXI.
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Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie
II. Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie Was nie geschrieben wurde, lesen Hugo von Hofmannsthal, Der Tor und der Tod le silence d’Aristote est plus profond Pierre Aubenque, Le problème de l’être chez l’Aristote
Unsere Ausgangsfrage, nämlich wie wir jene Verschiebung des Denkens von der energeia zur dynamis verstehen sollen, und wie wir also eigentlich den Umschlag von der dynamis zur energeia denken können, ist nun also ideengeschichtlich umrissen. Anhand der Bloch’schen Deutung der Ideengeschichte erhellte sich, dass aus dieser eine Verschiebung im Verhältnis zwischen dynamis und energeia, nämlich weg von der vorrangigen Stellung der Form vor der Materie, herausgelesen werden kann. Wenngleich Engels’ Anspruch, „die Welt aus sich selbst zu erklären“, damit endlich fester Bestandteil einer bestimmten Auslegung der theoretischen Überlieferung, ihrer Einbettung in historische Prozesse und deren dialektischer Relation zueinander ist, entspringt diese wiederum maßgeblich aus einer Negation der metaphysischen Lesart. Durch diese Negation der metaphysischen Auslegungstradition rückt nun einerseits der Bereich der dynamis zwar weiter in den Mittelpunkt der Analyse des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia, wodurch der Boden für eine materialistische Kritik geebnet wird. Andererseits hingegen scheint nun auch eine materialistische Perspektive jene Grenze zwischen dynamis und energeia als festes Gefüge hinzunehmen, indem sie sich zwischen beiden Polen zwar bewegt, schlussendlich aber doch wieder eine Hierarchisierung vornimmt, indem nun die Materie vor der Form bevorzugt wird. Es handelt sich hierbei also zunächst einmal ‚nur‘ um eine Verkehrung des Primats, die so noch keine grundlegende Veränderung in der Weise, wie wir das Verhältnis von dynamis und energeia neu denken können, herbeiführt. Damit dies wiederum gelingt, muss zunächst das Verhältnis zwischen beiden Polen genauer analysiert werden, um so das Moment des Umschlags von einem Vermögen in die Verwirklichung perspektivisch einzufassen. Wollen wir also dieses Verhältnis verstehen, so gilt es zunächst, jenes bewegte Moment des Übergangs in den Fokus zu nehmen. Dies wiederum beinhaltet, dass sowohl die ma-
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terialistische als auch die metaphysische Lesart – anstatt die eine oder die andere schlicht zu negieren – mitgedacht werden müssen, und zwar so, dass dabei ihre Differenzen nicht aus dem Blickfeld geraten.33 Ein anderes oder auch kritisches Denken des Verhältnisses von dynamis und energeia kann also zunächst einmal als Richtungswechsel verstanden werden. Wie dieser Richtungswechsel nun aber genau aussieht, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Hierfür ist es vonnöten, sich erst einmal die spezifisch metaphysische Verwendung einzelner unmittelbar mit dem Verhältnis von dynamis und energeia zusammenhängender Begriffe anzusehen, welche ihren Ursprung in der Metaphysik des Aristoteles haben. Dabei ist davon auszugehen, dass eine Interpretation und Dekonstruktion des Moments des Umschlags ausschließlich entlang jener spezifisch aristotelischen Begriffe gelingen kann. Für das aristotelische Denken zentral sind hierbei die Begriffe der Analogie und der Aporie, welche unmittelbar mit dem Begriff der Metapher verschränkt sind. Widmen wir uns daher im Folgenden den Begriffen der Aporie und der Analogie, um im nächsten Kapitel dann zur Metapher zu gelangen. Am Anfang seines Aporienbuches in der Metaphysik kommt Aristoteles zu einer zentralen Definition der aporetischen Denkbewegung, in der philosophische Problemata auf eine Weise angegangen werden, welche erlaubt, die noch ungelösten Fragen der untersuchten Sachverhalte so zu denken, dass die Möglichkeit der Unmöglichkeit einer Auflösung miteinbezogen wird: Die Aporie aber im Denken [dianoia] zeigt diesen Knoten in der Sache an; denn im Fragen [aporein] gleicht man den Gebundenen, denen es nach beiden Seiten unmöglich [adynaton] ist, vorwärts zu schreiten. (Metaph. 995a30–33, übers. mod.)
Beim aporetischen Denken handelt es sich also zunächst um ein (An-)Gleichen philosophischer Fragen an die ihnen zugrunde liegenden Gegenstände der Untersuchung, wobei es nie zu einer vollständigen Überlappung zwischen Denken und den zu untersuchenden Phänomenen kommt. Dieses (An-)Gleichen wird von Aristoteles mehrfach als Analogisierung bezeichnet, was bedeutet, dass die Aporie einer Analogisierung des Denkens mit den zu denkenden Sachen gleichkommt, bei der es möglich ist, das Verhältnis zwischen Form und Materie zu berücksichtigen. 33 Den Materialismus und Transzendentalismus in einer ideologiekritischen Theorie zusammenzudenken, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts bereits den Mitgliedern der Frankfurter Schule gelungen. Aus evidenten Gründen muss diese Diskussion an dieser Stelle ausgespart werden, jedoch nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es dieses Buch ohne die kritischen Denkbewegungen der Frankfurter Schule nicht gäbe. Vgl. daher: Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1937), in: Horkheimer, Gesammelte Schrif ten Bd. 4, Frankfurt: S. Fischer 1988, 162–216. Siehe auch in der Folge: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung (1944/47), in: Max Horkheimer, Gesammelte Schrif ten Bd. 5, Frankfurt: S. Fischer 1997, 13–238.
II. Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie
Der Begriff der ἀναλογία bezeichnet hierbei eine schwache Übereinstimmung unterschiedlicher Dinge, die sich durch die Analogisierung gegenseitig weder aufheben noch ineinander übergehen, sondern deren Differenz und Mannigfaltigkeit stets vorausgesetzt bleibt.34 Wie Aristoteles im wegweisenden Buch IX – dem Buch also, in dem er das Verhältnis zwischen dynamis und energeia behandelt – analysiert, vermag die Analogie so neben unterschiedlichen Dingen auch unterschiedliche Seinsweisen in einer Perspektive zu integrieren. Für die dynamis und die energeia formuliert Aristoteles sogar, man solle nicht ausschließlich eine Begriffsdefinition für jede einzelne Seinsweise anstreben, sondern vielmehr „auch das Analoge in einem Blick zusammenschauen“ (Metaph. 1048a37)35. Erst durch die Betrachtung, wie sich Vermögen zum Verwirklichen und Verwirklichtes zum Vermögen eigentlich verhalten, können beide wechselseitig adäquat benannt werden. Dieses wechselseitige Benennen beschreibt allerdings eines der zentralen in dieses Verhältnis eingeschriebenen Probleme der Metaphysik, denn die Analogie setzt zunächst voraus, dass beide (oder mehr) Bezugspunkte jeweils an und für sich eine Einheit bilden, dass es sich letztlich also um mehr oder minder gleichwertige Entitäten handelt, die in bestimmten Relationen zueinander stehen. Jedem analogischen Verhältnis wohnt damit eine Dominanz des Einen inne, in welchem es keinen Platz für eine Verschiebung des Denkens hin auf den Bereich des Umschlags und damit hin auf den Bereich der Mannigfaltigkeit und Differenz gibt. Gleichzeitig ist der Begriff der Analogie einer der Dreh- und Angelpunkte des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia, den es daher zunächst zu dekonstruieren gilt, um zu zeigen, ob sich nicht neben der metaphysischen Interpretation schon eine andere Deutung jenes Verhältnisses abzeichnet. Bei jeder Analogie handelt es sich – so auch die gängige deutsche Übersetzung – zunächst einmal um ein Verhältnis. Das griechische Präfix ana- bedeutet ‚hinauf‘, ‚über … hin‘ oder ‚entlang‘;36 ana-logos also dementsprechend über-den-logos-hinauf oder am-logos-entlang, was soviel heißt, wie unterschiedliche Begriffe an der 34 Von der Überfülle an Jahrhunderte andauernder Interpretation ist auch der Begrif f der Analogie (wie auch der Aporie, des Seins, des Einen usf.) nicht ausgenommen. Obwohl dies sicherlich einen Verlust darstellt, verwende ich in diesem Buch nur dann ausgewählte Kommentare, wenn sie mir für den Argumentationsgang notwendig erscheinen. Diese Ausklammerungen sind eher der Notwendigkeit einer Setzung als der Qualität der Arbeiten geschuldet. Dies gilt ebenso für den platonischen Begrif f der Analogie, auf den sich Aristoteles selbstverständlich bezieht. 35 Vgl. auch die Einleitung in die Metaphysik von Horst Seidl; hier: Metaph., XXII. In dieser versucht Seidl gegen die, wie er es nennt, „sprachphilosophische oder semantische Auslegung“ der Metaphysik v. a. durch Pierre Aubenque zu argumentieren (Metaph., XIX–XXV) und verkennt dabei, dass sich beide Auslegungen gegenseitig eigentlich überhaupt nicht ausschließen, was bereits an Aubenques bahnbrechenden Interpretationen abzulesen gewesen wäre. 36 Vgl. Hjalmar Frisk, Griechisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 1: A–Ko, Heidelberg: Winter 1973, 100–101. Siehe auch Pierre Chantraine, Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des mots, Paris: Klincksieck 1970, 82–83.
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Sprache, dem Sprechen, dem Wort hinauf, über die Sprache hinaus oder an ihr entlang zu bestimmen. Einerseits ist die Analogie daher ein Verhältnis des Übersteigens, andererseits eines der Annäherung, bei der es zu keiner unmittelbaren Berührung der sich annähernden Begriffe kommen kann. Die Analogie kann daher als ein Verhältnis sprachlich übersteigernder Annäherung bezeichnet werden. Neben den expansiven und annähernden Momenten weist das im ana- der Ana-logie angezeigte an-, so wie auch sein Privativum a-, darauf hin, dass sie ihr eigenes Moment der Verneinung, ihr eigenes un- eigens fasst, und zwar auf mehrfache Weise. Die an-a-logie entsetzt das schwache Verhältnis, das sie zwischen unterschiedlichen Begriffen schafft, indem sie gleichzeitig ihr doppeltes Nicht setzt. In der Analogie werden die Begriffe in ein solches vielfältiges Verhältnis gesetzt, das als a-logos ein aporetisches Verhältnis zu seinem eigenen Nicht, zu seiner eigenen Unmöglichkeit, und als an-a-logos zugleich dessen Verneinung, die Unmöglichkeit der Unmöglichkeit dieses a-logos, enthält. Der von Aristoteles in obigem Zitat erwähnte ‚Knoten‘ ist die metaphorische (vielleicht sogar allegorische) Darstellung einer solchen Analogie. Die Metapher (oder Allegorie) ist die Form der Analogie schlechthin, denn in ihr geht es gerade um die Schaffung sprachlicher Ähnlichkeiten zwischen Begriffen, die, obwohl sie nie vollständig übereinstimmen, derart angenähert werden, dass es zu Aussagen über bestimmte Sachverhalte kommt, welche die Einzelbegriffe sprachlich übersteigen und einen epistemologischen Überschuss generieren.37 Beim Analogisieren handelt es sich jedenfalls, ebenso wie bei der aristotelischen Philosophie im Allgemeinen, um eine spezifische Weise, grundlegende Verhältnisse zwischen den Begriffen – und wie wir später für den Bereich der dynamis noch sehen werden, auch in den Begriffen – zu lesen und so in eine sprachliche Konstellation zu setzen. Auch der Bestimmung des Seienden qua Seiendes in der Metaphysik liegt dieses Verhältnis im eigentlichsten Sinne zugrunde. Gemäß dieser kann das Seiende niemals vollständig in einem einzigen Sein aktualisiert werden. Das bedeutet, die einzelnen Manifestationen des Seienden lassen sich eigentlich nicht unter einen Begriff fassen, sondern müssen stattdessen in Analogie zueinander gesetzt werden – sie sind damit, wie Aristoteles eindringlich und wiederholt formuliert, pollachōs legomena, vielfältig (Aus-)Gesagte. Ihren konzentrierten Ausgang findet die Frage nach dem Seienden – die eigentliche Frage der Metaphysik also – zu Beginn des Buches IV, das mit der berühmten Formulierung beginnt:
37 Ähnlich fasst es auch Max Jammer in seiner grundlegenden Studie zum Begrif f der Kraf t: „It is no exaggeration to contend that the role of analogy is very important for the progress of knowledge, reducing the unknown and the strange to the terms of the familiar and the known. In this sense all cognition is recognition“, Max Jammer, Concepts of Force, Mineola: Dover Publications 2018, 16.
II. Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie Es gibt eine Wissenschaft [epistēmē], welche das Seiende als Seiendes [to on ē on] untersucht und das demselben an sich Zukommende. (Metaph. 1003a21–22)
In der für die aristotelische Philosophie charakteristischen Ausrichtung auf eine erste Ursache hin läuft auch hier die gesamte Untersuchung auf ein erstes Seinsprinzip zu. So fährt Aristoteles fort: Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt [legetai pollachōs], aber immer in Beziehung auf Eines [pros hen] und auf eine einzige Natur [physis]. (Metaph. 1002b33–34)
Die Seienden sind daher auf dieses erste Eine hin gerichtet, pros hen, wie es heißt, zu dem wiederum eine Art erste Analogie besteht. Weil Aristoteles’ Diktum des to on legetai pollachōs als Keimzelle der Inkohärenz des aristotelischen ‚Systems‘ betrachtet wurde, das es ja gerade vor seinen immanenten Widersprüchen und Aporien zu retten galt, beharrte die gesamte scholastische Tradition auf der Ausrichtung des Seienden auf dieses erste Eine hin. Es musste daher ein Weg gefunden werden, die Mannigfaltigkeit des Seienden mit der pros-hen-Struktur so zusammenzudenken, dass jene Relation selbst der Monokausalität eines ersten Einen unterworfen wird. An dieser Stelle wurde die Analogie als Mittel zur Vereinheitlichung des eigentlich nicht zu Vereinenden zur Arena im Disput um die Deutung jener ersten Sätze der Metaphysik, welche schließlich in der scholastischen analogia entis kulminiert.38 Auf die Frage, wie dieses Zulaufen auf das Eine hin zu deuten sei, antworten daher Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts gleich mehrere der großen Aristoteles-Kommentatoren aus unterschiedlichen Disziplinen. So schließt Joseph Owens in seinem Standardwerk The Doctrine of Being an Werner Jaegers kritische Lesart an, die Metaphysik sei gerade nicht als einheitliches Werk, sondern in ihren hermeneutisch unüberwindbaren Brüchen zu lesen, folgt ihm aber nicht in der wichtigen und richtigen Konsequenz, ihren Inhalt unmittelbar in Verbindung zu ihrer uneinheitlichen Form zu setzen.39 Buch IV habe zwar gezeigt, so Owens, dass die Frage nach dem Seienden als Seiendes ihren Platz im Bereich der Wis38 In seinem Essay Faut-il déconstruire la métaphysique fasst Aubenque den Zusammenhang zwischen der Analogie und Gott folgendermaßen: „Pourtant, saint Thomas croit bon de faire entrer Dieu dans le mouvement même de l’analogie. Dieu est le primum analogatum, ce qui implique qu’il y ait une relation de dépendance entre lui-même et les analogués inférieurs“, in: Aubenque, Faut-il déconstruire la métaphysique, Paris: Presses Univ. de France 2009, 30–31. 39 Joseph Owens, The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, Toronto: Pontifical Institute of Mediaeval Studies 1951. Siehe auch Werner Jaegers einschlägiges Werk Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1912, sowie ders., Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1923.
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senschaft habe, und dies gerade weil sie den Anspruch der Wissenschaft auf Notwendigkeit und Universalität durch die Referenz auf die eine Natur erfülle, um dann jedoch für die Notwendigkeit eines ersten Einen, einer höchsten Form, die die auseinanderfallenden Weisen des Seienden in sich vereint, zu plädieren. Nur so könne es zu einem vollen Verständnis des Seins qua Seiendem kommen, womit die Vielfältigkeit des Seienden in den Hintergrund rücke. Owens steht in seiner Lesart der Metaphysik vielleicht zu sehr und exemplarisch für eine bestimmte Tradition thomistischer Auslegung der aristotelischen Schriften, die letztlich um die Rückführung alles Seienden auf eine erste Entität bemüht ist und der es über Generationen hinweg darum ging, die Unabgeschlossenheit und Inkohärenz der Metaphysik zu überwinden und zu systematisieren und sich so ihrem eigentlichen Gegenstand anzunähern. 40 Ein in der Forschung für lange Zeit dominierender weiterer Versuch der Vereinheitlichung findet sich auch bei G.E.L. Owen, der das pros hen im Sinne eines Subsumierens verschiedener Bedeutungen unter eine einzige Bedeutung ver40 Auch in der für die Aristoteles-Forschung Ende des 19. Jahrhunderts tragenden Kontroverse zwischen Jaeger und Natorp ging es darum, was denn nun der eigentliche Gegenstand der Metaphysik sei. Für Natorp waren Aristoteles’ Theologik und seine Erste Philosophie unvereinbar, was er streckenweise fast schon gewaltsam zu beweisen versuchte, indem er z. B. Teile des Buches K für unecht bzw. nachträglich von den ersten Kommentatoren hinzugefügt erklärte, denn diese stimmten nicht mit der Hauptargumentation der Substanzbücher (Ζ, Η, Θ) überein, wie auch Jaeger in Aristoteles: Grundlegung seiner Geschichte und Entwicklung von 1923 seinen Kontrahenten paraphrasiert (vgl. Jaeger, Grundlegung, 217). Natorp und Jaeger können als Gegner in einer alten Kontroverse betrachtet werden, in der es im Wesentlichen um den Status der Theologie und um das Verhältnis zwischen Theologie und Ontologie ging. Natorp hatte hierzu bereits 1888 zwei einflussreiche Artikel geschrieben: zum einen „Thema und Disposition der aristotelischen Philosophie“ (in: Philosophische Monatshef te 24/1888, Heidelberg: Georg Weiß, 37–65) und zum anderen „Über Aristoteles’ Metaphysik K 1-8, 1065 a 26“ (in: Archiv für Geschichte der Philosophie 1/1888, Berlin: Georg Reimer 1888, 178–194). Auch das Problem der Non-Systematik der aristotelischen Metaphysik ist hier Gegenstand der Diskussion. So schreibt Natorp: „Wir haben es mit einem Torso zu thun, und, was das Schlimmste, mit einem falsch restaurirten“ (Natorp, Thema und Disposition, 38). Ein Torso hat keinen Kopf und ist somit auch nicht der geistigen Betätigung fähig (und in der Regel hat er auch keine Gliedmaßen, d. h. ihm fehlt die Möglichkeit jeder Form von Mobilität). Aristoteles’ Metaphysik wäre demnach ein Korpus ohne Denken, weshalb sich für Natorp die Notwendigkeit ergibt, die einzelnen Teile der Metaphysik in einen anderen, kohärenteren Gesamtkomplex zusammenzusetzen. B ereits im Jahre 1912 erschien Jaegers Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles, in der er zum ersten Mal und mit weitreichenden Konsequenzen die Inkohärenzen und non-systematischen Elemente der aristotelischen Schrif t thematisierte. Es war jedoch erst Pierre Aubenque, der diese Aspekte aus dem Werk des Aristoteles extrahierte und sie zum eigentlichen Gegenstand seiner Analysen machte und damit jenen beindruckenden Denkanstoß lieferte, mit dem die Aristoteles-Interpretation des 20. Jahrhunderts eigentlich einsetzte. 1961 erschien so zunächst der Artikel „Aristoteles und das Problem der Metaphysik“, in: Zeitschrif t für Philosophische Forschung 15/1961, Frankfurt: Klostermann, 321–333), bei dem es sich um eine Art Zusammenfassung seines einflussreichen Werkes Le problème de l’être chez l’Aristote handelt; vgl. Pierre Aubenque, Le problème de l’être chez l’Aristote. Essai sur la problématique aristotelécienne, Paris: Presses Universitaires de France 1962.
II. Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie
steht. Die verschiedenen möglichen Bedeutungen des Seienden ‚fokussieren‘ sich hierbei auf ein Seiendes, weswegen die pros-hen-Relationen des Seienden als „focal meaning“ verstanden werden solle, das auf einer schwachen Analogie beruhe. 41 Erst Pierre Aubenque formuliert aus der fokalen Bedeutung des Seienden qua Seiendem den radikalen Schluss, Aristoteles habe an keiner Stelle impliziert, dass für das Seiende als Seiendes überhaupt ein analogisierender Denkprozess nötig sei, der auf ein höheres Sein (auf das Eine) verweist. Dass sich Aubenques fast schon dekonstruktive Lektüren der aristotelischen Texte allerdings auch auf den Begriff der Analogie selbst ausdehnen lassen, haben wir bereits weiter oben gesehen. Trotz der unübersehbaren Problematiken, die sich sowohl aus der onto-theologischen Struktur der pros-hen-Relation selbst als auch aus deren Deutungen ergeben, reicht es an dieser Stelle, wenn wir uns zunächst wieder der Ausgangsfrage der Metaphysik und damit der Bestimmung der Seienden in ihrer Mannigfaltigkeit zuwenden. Setzen wir also wieder bei der Ausgangsfrage der Metaphysik an: tί τὸ ὂν ᾗ ὄν – Was ist das Seiende als Seiendes? Deren Erkundung ruft unmittelbar die Frage auf, was dieses als (ᾗ) heißt, durch welches es offenbar überhaupt erst möglich wird, das Seiende als – oder qua, wie die lateinische Übersetzung angibt – Seiendes zu lesen. Das ᾗ ist die Verschränkung zueinander gesetzter Begriffe, in der es ‚mittels‘, ‚kraft‘, ‚vermöge‘, ‚durch‘ den einen zu Aussagen über den anderen Begriff kommt. Was im als über den anderen ausgesagt wird, ist jedoch zuallererst, dass es sich tatsächlich um einen anderen Begriff handelt, denn das als markiert die Grenze zwischen beiden, es ist das trennende Moment einer gegenseitigen begrifflichen Verschränkbarkeit. 42 In das Seiende qua Seiendem ist demnach selbst 41 G.E.L. Owen, Logic and Metaphysics in Some Earlier Works of Aristotle, in: ders., Logic, Science, and Dialectic: Collected Papers in Greek Philosophy, hg. v. Martha Nussbaum, London and Ithaca: Cornell UP 1986, 180–199. Jiyuan Yu weist darauf hin, dass Owens Verwendung des Begrif fs der Bedeutung (meaning) irreführend sei. Die pros-hen-Relation sei zunächst und vor allem auf ontologischer Ebene angesiedelt und impliziere noch kein linguistisches Bedeuten; in: Yu, The Structure of Being in Aristotle’s Metaphysics, Dortrecht: Kluwer 2003, 22. 42 Heidegger widmet sich in seiner Freiburger Vorlesung zu den Grundbegrif fen der Metaphysik im Wintersemester 1929/30 ebenso der Frage nach dem qua: „Das ‚als‘ ist somit keine bloße Marotte unserer Sprache, sondern liegt of fenbar im Sinne des Daseins selbst irgendwie begründet. Was bedeutet dieser sprachliche Ausdruck ‚als‘, qua, ᾗ? […] Das ‚als‘ bedeutet eine ‚Beziehung‘, das ‚als‘ für sich gibt es nicht. Es weist auf etwas, was im ‚als‘ steht, und weist ebenso auf anderes etwas, als das es ist. […] Aber dieses Gefüge der Beziehung und der Beziehungsglieder ist selbst nicht freischwebend. […] Das ‚als‘ kann also nur in Funktion treten, wenn Seiendes schon vorgegeben ist, und es dient dann dazu, dieses Seiende als so und so beschaf fenes ausdrücklich zu machen“, in: Heidegger, Die Grundbegrif fe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, GA 29/30, Frankfurt: Klostermann 2004, § 69, 416–417. Wir können Heidegger hier bis zu dem Punkt folgen, an dem er wie selbstverständlich von bereits vorgegebenen Seienden ausgeht, die erst zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen, was wiederum sowohl die
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schon eine Aporie eingeschrieben, in der die Seienden, sich jeder Identität verwehrend, auf den Anderen hin- und verweisen. Wenn das qua eine Analogie ist, dann kann es keineswegs als hierarchische Struktur immer höher werdender Seinsformen verstanden werden, sondern muss gemäß den der Analogie immanenten Aporien gelesen werden, welche gerade die Differenz und nicht die Identität der Begriffe bezeichnet. Das Seiende als Seiendes sei daher „strikt horizontal“ zu denken, wie Aubenque in seinem Essay über die Ursprünge des Analogiebegriffs schreibt: „On pourrait aisément vérifier que l’usage aristotélicien de l’analogie est strictement horizontal, c’est-à-dire ne présuppose aucune hiérarchie entre les domaines qu’il s’agit de rapprocher […]“. 43 So säkularisiert Aubenques horizontale Lesart der metaphysischen Ausgangsfrage gewissermaßen die Metaphysik und verschiebt die Sichtweise von einer vertikalen Idee hin zu einem punktuellen oder fokalen Moment. Das meta- der Metaphysik ist in diesem Sinne nicht nur als zeitliches ‚nach‘ zu fassen, sondern immer auch als epistemologische Übersteigerung bestimmter Sachverhalte (Phänomene), die nicht bloß negiert, sondern in eine andere Begriffskonstellation über-tragen – meta-phorein – und nach-getragen – meta-phorein –, also meta-meta-phorein, zweifach metaphorisiert werden. Auch hier kommt es also zu der verdoppelt-gegenläufigen Dynamik oder vielmehr zu den Aporien, die jedes metaphysische Denken und damit jede Metaphysik von innen nach außen wenden und von außen ihren inneren Kern absorbieren. Der metaphysische Akt der Übersteigerung birgt durch das Ins-Verhältnis-Setzen des Seienden zu sich selbst im als gleichzeitig immer schon ein reduktives Moment. Insofern handelt es sich bei der Analogisierung des Seienden in Richtung des Einen tatsächlich um eine Fokussierung, um ein focal meaning, einen Augenblick elliptischer Verschränkung, in dem es zur punktuellen Überlagerung der Seienden kommt. Die im als gleichzeitig enthaltenen Komponenten der Vor- und Nachträglichkeit illustrieren abermals, dass jenes Moment der Überlappung oder Verdoppelung sich auch auf die Zeit ausdehnt. Dabei ist das differenzielle Moment des als nicht im Sinne einer Linearität vom vor- zum nach- zu verstehen, sondern es markiert die Differenz, die in jene Vorstellung zeitlicher Linearität einbricht. Brüche, Grenzen, Schranken und Verschränkungen oder, um einen Terminus von Jacques Derrida zu verwenden, die différance sind der Metaphysik ebenso immanent wie notwendig. Die Differenz oder Aporie, die durch das qua markiert wird, ist soAnnahme, die Dinge existierten für sich, als auch eine gewisse Nachträglichkeit voraussetzt, die es in dieser Form nicht gibt. Wir wollen hier vielmehr das ‚als‘ als quasi-ontologische Grundstruktur annehmen, anstatt eine letzte Rückführung auf das Seiende für möglich zu halten. 43 Pierre Aubenque, Les origines de la doctrine de l’analogie de l’être: Sur l’histoire d’un contresens, in: Les études philosophiques, No. 1, Aristote et l’Aristotélisme, Paris: Presses Universitaires de France 1978, 3–12, hier: 11.
II. Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie
mit kein Makel, sondern wohnt ihr zwangsläufig inne. Nicht die Frage nach dem Sinn von Sein hat daher die Tradition vergessen, sondern sie hat vergessen zu fragen, wie denn die Relation in der Frage nach dem Seienden zu verstehen, wie also Seiendes qua Seiendem zu lesen sei, ohne dabei letztlich wieder alles unter einer Einheit zu subsumieren. 44 Diese aporetische Bewegung der aristotelischen Metaphysik kann daher auch nicht hermeneutisch überwunden werden, sondern ihr Inhalt muss in engster Verbindung zur der in ihr verwendeten Sprache gelesen werden. Die Bestimmung des Seienden qua Mannigfaltigkeit ist somit nicht von der spezifischen Form aristotelischer Texte zu trennen. Vor allem am Beispiel der Metaphysik zeigt sich, dass sie ihre hermeneutischen Grenzen ebenso setzt wie entsetzt und damit gleichzeitig für eine andere Tradition des Denkens steht, die weniger versucht, Einheiten und Entitäten zu verstetigen, sondern vielmehr im Mäandern an der Grenze jener Momente zwischen Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit ihre eigentliche Kraft – ihre dynamis – erst entfaltet. Denn das qua selbst verweist bereits auf die Grenzen jeder propositionalen Konzeption eines sprachlichen Ins-Verhältnis-Setzens – daher soll und muss die Analogie des Seienden von hier aus verstanden werden. Damit steht die Ausgangsfrage der Metaphysik tί τὸ ὂν ᾗ ὄν jeder Vermittlung, jeder sprachlichen Relation und erst recht jeder philosophischen Auslegung bevor und widersetzt sich so einer vollständigen Vereinheitlichung. 45 Seiendes qua Seiendem verstehen zu wollen, zeigt damit nicht nur die Grenze und den Bruch jener Vermittlung, sondern es ist diese Grenze, die gleichzeitig als limitierend und in ihrem entgrenzenden Exzess gedacht werden muss. Bereits die mittelalterlichen Kommentatoren selbst versuchten einerseits zwar die Offenheit und Brüchigkeit der Metaphysik zu tilgen und evozierten somit erst das Bild, Aristoteles sei ein systematischer Denker. Andererseits jedoch ent44 Auch Heidegger spricht von diesem Vergessen im Zusammenhang mit der Dif ferenz zwischen Sein und Seiendem, er spricht genau genommen von einem „Vergessen der Dif ferenz“. Trotz allen Reizes seiner Thesen und seines Denkens der ontisch-ontologischen Dif ferenz, wie es in Sein und Zeit begonnen hat, könnte sein Denken der Dif ferenz letztlich doch als ein Denken der Einheit gedeutet werden. Auch wenn er hiermit die Einheit in Dif ferenz (zwischen Sein und Seiendem) meint, entspricht dies nicht dem hier gewünschten Nexus des Denkens – dazu ausführlich an späterer Stelle. Vgl. Martin Heidegger, Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, in: Heidegger, Identität und Dif ferenz, GA 11, Frankfurt: Klostermann 2006, 51–80, hier: 73. Takako Shikaya liefert in seiner Schrif t Logos und Zeit einen Überblick darüber, wie Heidegger die Was-Frage vermittels der von ihm methodisch verwendeten ‚formalen Anzeige‘ zur Wie-Frage umdefinierte. Siehe: Takako Shikaya, Logos und Zeit. Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles und der Sprachgedanke, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, 29–37. 45 Es sei an dieser Stelle nur am Rande angemerkt, dass auch der dynamis und der energeia ein solcher Widerstand innewohnt, und mehr noch, dass die dynamis die genaue Bezeichnung dieses verdoppelten aporetischen Moments des Widerstands ist; siehe hierzu ausführlich den zweiten Teil dieser Arbeit.
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grenzten sie die philosophischen Schriften des Aristoteles, indem sie ihre Begriffe intensivierten und so deren hermeneutischen Rahmen überstiegen. Dies bestätigt auch McInerny in seiner bereits zitierten Schrift zu Thomas, in der er berechtigterweise auf die Eigenständigkeit der thomistischen Auslegung gegenüber den aristotelischen Schriften besteht und damit gewissermaßen jenes genealogische Band theologischer Aristoteles-Auslegung zerschneidet: [W]e find many references to Aristotle in Thomas, we find the invocation of doctrines, the quoting of phrases. Confronted with these, we should not consult Aristotle for guidance on what Thomas is saying. Far better to see what Thomas means, how he is using the doctrines or language of Aristotle for his own purposes. It is almost as if Aristotle were a language Thomas used to make independent points of his own.46
As if Aristotle were a language – „als ob Aristoteles eine Sprache wäre“. Die spezifische Verwendung der aristotelischen Sprache gewinnt insofern an Bedeutsamkeit, als dass es sich bei der aristotelischen Metaphysik im Besonderen und seiner Philosophie im Allgemeinen um eine Philosophie handelt, der es darauf ankommt, ihre Begriffe in Momenten einer aporetischen Analogisierung über deren Einzelbedeutung hinaus und an ihnen entlang, und weniger in logisch-notwendigem Zusammenhang, zu bestimmen, ihre Begriffe also als entgrenzende Begriffe in ein Verhältnis zu setzen. „Man kann dem positiven Inhalt der aristotelischen Metaphysik erst gerecht werden“, schreibt Aubenque, „wenn man nicht mehr von ihr erwartet, was nicht darin zu finden ist, nämlich ein System.“47 Philosophische Texte so zu lesen, als ob sie eine Sprache wären, bedeutet vor diesem Hintergrund daher nicht, Sprache wiederum als metaphysische Entität zu setzen, sondern dieses als ob muss verstanden werden als ein Ins-Verhältnis-Setzen unendlich differierender Begriffe, denen ihre eigenen Unterbrechungen bereits eingeschrieben sind. 48 46 McInerny, Thomas Aquinas, xxxi (Hervorh. N. Sa.). 47 Aubenque, Aristoteles und das Problem der Metaphysik, 333. 48 Diese Fragestellung erinnert sogleich an Derridas Dekonstruktion des as if, in der er vor allem den metaphysischen Anspruch darauf, Erkenntnisse über Subjekte oder Objekte „als solches“ gewinnen zu können, in Frage stellt. Hierfür, so kritisiert er, sei die Generierung einer analogischen Struktur des „als ob“ vonnöten, bei der beide in ein Verhältnis zu setzenden Begrif fe bereits als Einheit verstanden werden müssten. Wie Michael Naas schreibt, findet sich Derridas Auseinandersetzung mit dieser Problematik bereits in seinen früheren Kritiken an Platon, wie z. B. in „Plato’s Pharmacy“, in: Derrida, Dissémination, übers. v. Barbara Johnson, Chicago: University of Chicago Press 1981, 67–186. Besonders wichtig scheinen aber vor allem seine späteren Texte, welche die Bande zwischen metaphysischem Einheits- und Wahrheitsdenken und dem Bereich der Bildung oder der Politik aufweisen, wie u. a. in Die unbedingte Universität (übers. v. Stefan Lorenzer, Frankfurt: Suhrkamp 2005) und Schurken (übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt: Suhrkamp 2004). Vgl. auch Michael Naas, Analogy and Anagram. Deconstruction as Deconstruction of the as, in: Naas, Derrida from Now on, New York: Fordham UP 2008, 37–61.
II. Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie
Aristoteles’ noēsis noēseōs, das Denken des Denkens als höchste Form und ursächlichster Bewegungsanstoß, kann in diesem Sinne auch weniger linear und prozessual als Hinführung zum Beweis Gottes, sondern ebenso als sich selbst unterbrechende Begriffskonstellation gelesen werden, und zwar ausschließlich dann, wenn darunter der gesamte Bereich des oben beschriebenen, auf mannigfaltige Weise negierenden, aporetischen, expandierenden und intensivierenden Moments der Analogie selbst mitgedacht wird. Dieses Moment bezeichnet das Moment jenes Verhältnisses, welches in der Analogie angezeigt wird und mit der eigentlich philosophischen Betätigung – des Fragens – zusammenfällt. Die vollständige Passage zu Beginn des Aporienbuches, in der Aristoteles die Aporie an den Anfang und als Voraussetzung der Wissenschaft (epistēmē) setzt, in welcher der Gegenstand und die aporetische – die fragende – Denkbewegung zusammenfallen, lautet daher: Für die gesuchte Wissenschaft [epistēmē] ist es nötig, daß wir uns zuerst dem zuwenden, worüber wir zunächst Fragen stellen [aporein] müssen. Dies sind teils die abweichenden Ansichten, welche manche hierüber aufgestellt haben, teils anderes, was etwa bisher unbeachtet geblieben ist. Für diejenigen nämlich, die einen guten Erfolg der Lösung anstreben, ist eine gute Fragestellung förderlich; denn der spätere Erfolg liegt in der Lösung des vorher in Frage gestellten [prōterōn aporoumenon], auflösen aber kann man nicht, wenn man den Knoten nicht kennt. Die Aporie aber im Denken [dianoias aporia] zeigt den Knoten in der Sache an; denn im Fragen [aporein] gleicht man den Gebundenen, denen es nach beiden Seiten unmöglich ist, vorwärts zu schreiten. (Metaph. 995a24–33)
Damit steht die Aporie am Beginn jeder philosophischen Fragestellung und die philosophische Betätigung dient zunächst dem Auflösen derselben. 49 Gleichzeitig legt dieses Zitat nahe, dass es sich bei diesem Auflösen um eine unabschließbare Bewegung handelt, bei der sich dem Ziel, die Aporie aufzulösen oder, um bei der Metapher zu bleiben, den Knoten zu lösen, bloß angenähert werden kann. Denn wenn die Frage, wie Aristoteles schreibt, der Lösung vorausgeht und die Lösung wiederum überhaupt Kenntnis über die spezifische Problematik (den Knoten) und damit aber eigentlich auch eine Kenntnis über die Frage erfordert, dann haben wir es hier mit einer Perpetuierung und Vervielfältigung dieses Moments des 49 Das sich aus der teleologischen Ausrichtung der Wissenschaf t auf eine ‚gute‘ oder ‚erfolgreiche‘ Lösung ergebende aristotelische ‚Erfolgsdenken‘ ist höchst problematisch, muss aber an dieser Stelle weitgehend ignoriert werden. Wie zu zeigen sein wird, gibt es für das vorliegende Zitat noch eine andere Interpretationsmöglichkeit. Zum Begrif f der Aporie bei Aristoteles siehe v. a. Aubenques Vortrag Sur la notion aristotélicienne d’aporie, den er 1960 auf dem Symposium Aristotelicum in Louvain gehalten hat; in: Suzanne Mansion (Hg.), Aristote et les problèmes de la méthode: Communications présentées au Symposium Aristotelicum, Louvain 1960, Louvain: Publications Universitaires 1961, 3–19.
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Vorher zu tun. Und auch Aristoteles selbst scheint dieses Moment zu evozieren, wenn er von einem proton aporoumenon, eines vorher in Frage Gestellten, spricht, für das vorher schon Kenntnis über den Knoten erforderlich ist, der die „Aporie im Denken“ anzeigt, ihr also gewissermaßen auch voraus ist. Von einem Auflösen oder Lösen der Aporien im Sinne eines Aufhebens oder eines zum-Ende-Bringens kann somit vor diesem Hintergrund nicht die Rede sein. Nicht ein Auflösen der Aporien findet in diesem Moment statt, sondern das Auflösen der Aporien ist gleichzeitig ein Binden, der Knoten ihrer eigenen Unwegsamkeit, ihre a-poria, durch das sie den „Gebundenen gleicht, denen es nach beiden Seiten unmöglich ist, vorwärts zu schreiten“ (Metaph. 995a24–33); und es ist ihnen unmöglich [adynaton], weil es sich genau genommen nicht um eine Bewegung des Vorwärtsschreitens, sondern um ein verdoppeltes Ausholen in ihr eigenes Voraus handelt. Dieses Moment des ihr zugrunde liegenden Vor- ist das Moment der Aporie selbst, das Moment der unendlichen Vervielfältigung ihrer eigens vorgelegten Möglichkeit der Unmöglichkeit eines vollständigen Auflösens. Damit entspricht die Aporie der aristotelischen Konzeption der dynamis und deren Verhältnis zur energeia und kann in diesem Sinne, wie wir später noch sehen werden, analog zu ihr gelesen werden. Beginnen wir noch einmal mit dem von Aristoteles für das (An-)Gleichen verwendeten Begriff paraplēsios, so zeigt sich, dass sich die Aporie zwischen den „beiden Seiten“ befindet, in dem das Fragen dem Knoten angeglichen wird. Dieser Begriff enthält selbst bereits jenes sprachlich übersteigernde Moment der sich perpetuierenden Unmöglichkeit vollständiger Übereinstimmung, wie wir es bereits im Kontext der Analogie gesehen haben. Denn bereits im para- des paraplēsios – im ‚neben‘, ‚entlang‘, ‚über … hinaus‘, ‚(ent-)gegen‘ – wird die Möglichkeit eines Aufeinandertreffens gewissermaßen unendlich auf- und vorgeschoben; und auch plesion bedeutet letztlich nur ‚nahe‘ (oder ‚benachbart‘), para-plēsios also so viel wie neben dem Nahen entlang, über die Nähe hinaus und ihr (ent)gegen – tout près.50 Hierbei haben wir es offenbar mit einer sprachlichen Übersteigung, einem Surplus zu tun, das mit der eigentlichen Struktur jedes aporetischen Moments, und das heißt letztlich mit dem unendlichen Fortschreiben ihrer Unabschließbarkeit, korrespondiert. In diesem Sinne ist es notwendig, dass der Begriff der Analogie mit dem der Aporie zusammen gelesen wird. Dass die aristotelische Verwendung des Begriffs der Analogie für Missdeutungen in der Rezeption, vor allem der thomistischen, geführt hat, wissen wir spätestens seit Aubenques revolutionärer These, es gebe keine einzige Stelle im Gesamtwerk von Aristoteles, in der die Analogie des Seienden explizit als vereinheitlichendes Axiom vorausgesetzt werde. Der Versuch, die vielfältigen Weisen des Seienden zu einer Einheit zu bündeln, so führt Aubenque aus, sei letztlich eine interpretatori50 Vgl. z. B. Chantraine, Dictionnaire étymologique de la langue grecque , 856.
II. Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie
sche Errungenschaft der Kommentatoren, durch die der Begriff der Analogie erst zu einem vereinheitlichenden Bindeglied einzelner Bedeutungen stilisiert wurde; damit ist der Analogiebegriff ebenso durch die lange Tradition metaphysischer Begriffe belastet wie Sein und Substanz, Einheit (oder das Eine) und Identität. Seinen Artikel über die Ursprünge des Analogiebegriffs von 1978 beginnt Aubenque dementsprechend mit folgender These: Une tradition longtemps dominante a prétendu trouver chez Aristote les origines et même les linéaments d’une doctrine qui n’a été en fait soutenue et développée qu’au Moyen Age: celle de l’analogie de l’être. Nous croyons avoir montré que cette doctrine ne se trouvait ni explicitement ni même implicitement dans aucune des parties de l’œuvre d’Aristote et que son attribution rétrospective au philosophe grec ne constituait pas seulement un anachronisme terminologique, mais un contresens pur et simple.51
Aristoteles spricht also Aubenque zufolge gar nicht von einer Analogie des Seienden, weil das hieße, dass die verschiedenen Bedeutungen der Seienden als gleichwertige Begriffe miteinander identifiziert und vereinheitlich werden könnten, was wiederum voraussetzte, dass es eine Identität der Begriffe selbst gäbe und sie an und für sich eins wären.52 Er spricht vielmehr von einer Mannigfaltigkeit der Seienden oder wie Aubenque schreibt: „Le terme être a une pluralité de significations.“53 Nicht in ein ‚synonymes‘, ‚homonymes‘, ‚equivokes‘ oder ‚univokes‘ Verhältnis ließen sich die Bedeutungen des Seienden zueinander setzen, wie es die mittelalterlichen Kommentarien versuchten, zu erweisen, sondern ihre Pluralität macht jedes proportionale, gleichwertige und vergleichende Ins-Verhältnis-Setzen unmöglich. Anhand der Textstelle in der Metaphysik, in der Aristoteles sowohl den Begriff der Analogie als auch den der Vielfalt des Seienden einführt (hier: Metaph. 1070a–1070b), so Aubenque, könne Folgendes festgestellt werden:
51 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 3. 52 Wie Aubenque zeigt, ist die Tatsache, dass es Aristoteles nicht um eine Analogie des Seienden ging, keine neue Entdeckung, sondern wurde bereits durch den Neothomisten Thomas Cajetan in seiner Schrif t De nominum analogia (1498) aufgewiesen; vgl. Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 6. Zum Problem der Analogie bei Cajetan vgl. die Studie von Joshua P. Hochschild, The Semantics of Analogy. Rereading Cajetan’s‚De Nominum Analogia‘, Notre Dame: University of Notre Dame Press 2010. Auch für die Auslegung durch Thomas lässt sich dies zeigen, wie Aubenque anhand eines Zitats von Paul Grenet verdeutlicht, der schreibt: „Non, saint Thomas d’Aquin n’a pas trouvé dans Aristote l’analogia entis, pour la bonne raison qu’elle n’y est pas. Mais, pourtant, saint Thomas a trouvé dans Aristote tout ce qu’il fallait pour la mise au point d’une analogia entis“, zit. nach Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 7. 53 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 3–4.
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz [L]a notion d’analogie intervient dans le même contexte que la doctrine des significations multiples de l’être. Mais l’analogie n’est nulle part invoquée pour unifier ces significations. Au contraire, tout le passage présuppose dans sa radicalité […] l’affirmation de la pluralité des significations de l’être.54
Die Analogie ist also gar kein Mittel, um die Mannigfaltigkeit der Seienden zu vergleichen und zu vereinen, denn sie sind unvereinbar, sie lassen sich nicht reduzieren, sie haben einen „caractère irréductible“,55 der lediglich das kleinste Minimum an Angleichung zulasse, und zwar nicht auf der Ebene der Seienden, sondern auf der ihrer Prinzipien, ihrer archai. Aubenque kommt daher zu folgendem Schluss: „Ce n’est donc pas l’être qui est analogique, mais les principes et les causes dans l’être. […] [P]uisque la définition de l’unité analogique n’implique nullement l’unité.“56 Somit muss die Analogie ohne Einheit gedacht werden, als Verhältnis ohne Proportionalität, als eine Annäherung ohne Berührung. Wie wir bereits gesehen haben, ist dieses Verhältnis zunächst als aporetisches Moment infiniter Annäherung – als paraplēsios – zu verstehen. Insofern kann der Analogiebegriff nur dann gelten, wenn er aus dem Begriff der Aporie heraus verstanden wird, wenn er gar selbst als aporetisches Moment einer nicht-proportionalen oder ungleichwertigen Relation gelesen wird, und damit mit der unsystematischen Struktur der aristotelischen Schriften selbst korrespondiert. Pierre Aubenque zufolge platzierten die Aristoteles-Kommentatoren den Analogiebegriff – verstanden in ihrem Sinne als proportionalisierendes und vereinheitlichendes Scharnier eigentlich unvereinbarer Seiender – immer dort, wo sie eine scheinbare Lücke in der aristotelischen Philosophie vorfanden, eine Lücke, die nicht in Übereinkunft mit der aufstrebenden, vertikalen Formung des höchsten Einen stand, wie sie noch bei Platon zu finden war. Allerdings hätten sie dabei ausgeblendet, dass dieses Vorhaben an der Struktur der aristotelischen Metaphysik selbst scheitern muss, welche durch und durch aporetisch ist. Dass dem so ist, hat Aubenque in seinem Werk Le problème de l’être chez Aristote überzeugend nachgewiesen, in welchem er am Ende zusammenfasst: Ces considérations trop schématiques, qui devraient être confirmées par une étude méthodique de la tradition, n’ont ici d’autre but que de suggérer pourquoi l’Aristote
54 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 5. 55 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 5. Die Ähnlichkeiten zwischen Aubenques Lesart der aristotelischen Schrif ten und Derridas Dekonstruktion sind unübersehbar. Und in der Tat gibt es intensive Bezüge zwischen Aubenque und Derrida, die bei Weitem nicht nur aus deren Freundschaf t resultieren, sondern vor allem theoretisch fundiert sind. So zitiert Derrida Aubenque beispielsweise in seinem frühen Essay Ousia et Gramme, in dem er anhand einer Fußnote aus Heideggers Sein und Zeit die metaphysische und ontologische Tradition dekonstruiert; in: Derrida, Marges de la philosophie, Paris: Editions de Minuit 1972, 31–78. 56 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 6.
II. Eine Frage der Überlieferung: Aporie und Analogie de la tradition est ce qu’il est et pourquoi l’Aristote tel qu’il fut n’est pas l’Aristote de la tradition. S’il est vrai […] que la métaphysique d’Aristote est dialectique, c’est-à-dire aporétique, on conviendra qu’il est deux façons de considérer l’aporie: ou dans ce qu’elle annonce ou appelle, c’est-à-dire sa solution; ou en elle-même, qui n’est aporie que tant qu’elle n’est pas résolue. Résoudre l’aporie, au sens de ‚lui donner une solution‘, c’est la détruire; mais résoudre l’aporie, au sens de ‚travailler à sa solution‘, c’est l’accomplir. Nous croyons avoir montré que les apories de la métaphysique d’Aristote n’avaient pas de solution, en ce sens qu’elles […] n’ont pas de solution qu’il faut toujours chercher à les résoudre et que cette recherche de la solution est finalement la solution elle-même.57
Damit erweist sich die gesamte aristotelische Metaphysik als aporetisch, wobei auch Aubenque darauf insistiert, dass die Aporie hier keineswegs als ein die Möglichkeit eines ‚Lösens‘ oder ‚Auflösens‘ beinhaltendes Problem verstanden werden kann, sondern sich als unlösbares Moment immer schon verstetigt. Endlich haben wir es also hier mit einer Lesart der Metaphysik zu tun, welche auch ihren fragmentarischen, bruchstückhaften Charakter weder versucht zu überwinden noch zu systematisieren, sondern stattdessen ihre Non-Systematik als Mehrwert, als Surplus liest. Den aporetischen Charakter der Analogie mitzulesen, unterscheidet sich also grundlegend von den mittelalterlichen Kommentarien, die den Analogiebegriff immer an die Stelle setzen, an der Aristoteles explizit schweigt. Auch Aubenque weist an mehreren Stellen auf diesen Sachverhalt hin, wenn er schreibt, dass die Kommentatoren immer dort von einer Analogie sprachen, wo Aristoteles davon nicht sprach – „à parler d’analogie là où Aristote n’en parle pas“58 – oder dass Thomas die Analogie an den Stellen in den aristotelischen Text einführte, wo er sie nicht vorfand – „que Thomas d’Aquin a introduit l’analogie dans les textes d’Aristote où il ne la trouvait pas“.59 Dass die Kommentatoren hierbei allerdings lediglich das Schweigen Aristoteles’ ersetzten, anstatt das Schweigen des Aristoteles selbst zu lesen, fasst Aubenque wie folgt: La parole du commentateur se fait d’autant plus abondante que le silence d’Aristote est plus profond; elle ne commente pas le silence, mais s’y substitue; elle ne commente pas l’inachèvement, mais l’achève; elle ne commente pas l’embarras, mais le résout, ou croit le résoudre, et le résout peut-être en effet, mais dans une autre philosophie.60
57 Aubenque, Le problème de l’être chez l’Aristote, 507–508. 58 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 3. 59 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 7. 60 Aubenque, Le problème de l’être chez l’Aristote, 6.
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Um zu dieser anderen Philosophie zu gelangen, so formuliert Aubenque bereits in der Einleitung zum Problème de l’être, müsse Aristoteles’ Metaphysik gegen die Tradition in ihrer Aporizität gelesen werden. Dies beinhalte nicht etwa, der aristotelischen Metaphysik etwas Neues hinzuzufügen, sondern zunächst einmal alles zu vergessen, was die Tradition an die Stelle des Schweigens gesetzt habe.61 „Was nie geschrieben wurde, lesen“ heißt es in Hugo von Hofmannsthals berühmter Sentenz – wir können Aubenques Vergessens der Tradition in diesem Sinne als Aufforderung verstehen, direkt ins Innere der Metaphysik, und damit ins Innere ihres Schweigens, ihrer Differenz, ihrer Grenzen und ihrer Aporien vorzudringen und ihre Begriffe von dort aus zu entsetzen, und weniger, ihnen von außen etwas zuzufügen, wie durch die mittelalterlichen Kommentatoren geschehen.62 Auf diese Weise zeigte sich, was wir schon bei Aristoteles selbst gesehen haben, nämlich dass jeder Versuch des Auflösens der Aporien gleichzeitig ein Binden an ihre eigene Unwegsamkeit ist. Die Aporien stehen damit im Zentrum der metaphysischen Bewegung, sie sind nichts anderes als die Bewegung der Metaphysik, und vielleicht ist die Aporie so die Bewegung der Philosophie selbst, ihre a-poria oder genau genommen ihre an-a-poria, die sie doppelt bindet, die sie bindet an ihr eigenes Gebundensein und es ihr gleichzeitig „unmöglich [macht,] vorwärts zu schreiten“ (Metaph. 995a32–33).
61 „Mais il restera encore à comprendre, à l’intérieur de la philosophie d’Aristote lui-même […] pourquoi la structure de la Métaphysique d’Aristote [est] seulement une structure aporétique“ (Aubenque, Le problème de l’être chez l’Aristote, 15–16). In seinem Artikel Aristoteles und das Problem der Metaphysik (1961) schreibt Aubenque: „Es soll also nicht Zweck dieser Ausführungen sein, einen neuen Kommentar so vielen Kommentaren hinzuzufügen, nicht ein neues Wort über Aristoteles vorzulegen, sondern das Neue über Aristoteles, d. h. das Systematische, das Vollendete, das Befriedigende zu verlernen, um zu versuchen, das schweigende Wort von Aristoteles selbst in seinem verlegenen Ursprung zu hören.“ Und er fügt dem hinzu, dass die Frage nach dem Seienden, wie sie von Aristoteles zu Beginn des Buches Z gestellt wurde, immer schon eine „in Verlegenheit liegende Frage“ (aporoumenon) gewesen sei; in: Aubenque, Aristoteles und das Problem der Metaphysik, 321–322. Der ‚verlegene Ursprung‘ ist selbstverständlich eine Anspielung auf Heideggers Aussage: „[S]o bleibt ‚Metaphysik‘ der Titel für die Verlegenheit der Philosophie schlechthin“, in: Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), GA 3, Frankfurt: Klostermann 1998, 8. Es ist verlockend, den Begrif f der Verlegenheit selbst bereits in seiner immanenten Mehrdeutigkeit von verlegen als ‚an eine andere Stelle legen‘, als Gefühl der Befangenheit und im Sinne von ‚veröf fentlichen‘ auf die Metaphysik anzuwenden. 62 Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Der Tor und der Tod (1893), in: Hofmannsthal.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. I Gedichte. Dramen 1891–1898, hg. v. Bernd Schoeller, Frankfurt: S. Fischer 1979, 279–298, hier: 298. Im Geiste dieses Vergessens stellt Aubenque seinem Artikel über Aristoteles und das Problem der Metaphysik ein polemisches Motto aus einem Brief von Leibniz voran: „Mihi nemo magis Aristotelicae doctrinae ignarus esse videtur, quam ipsi Aristotelici qui vocantur“ (Niemand scheint mir der Aristotelischen Lehre unkundiger zu sein als die selbst, die sich Aristoteliker nennen), aus: Leibniz, Brief an Conring vom 19.3.1678, in Die Philosophischen Schrif ten von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Bd. 1, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1875, 196.
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Aus der Tradition theologischer Auslegung der Metaphysik heraus entspinnt sich ein Netz hermeneutischer Texte, das seine Fäden insbesondere um den Begriff der Analogie zieht. Die scholastische analogia entis – die auf das Eine gerichtete Analogie – bildete das Kernstück jener traditionellen Lesart, welches auf das gesamte Feld metaphysischer Begriffe ausstrahlt, die von dort aus in eine hierarchisierte und proportionalisierte Ordnung gebracht werden sollten. Aufgrund der inhärenten Aporizität der Metaphysik selbst, so zeigte sich, haftet an jedem Versuch, diesen metaphysischen Kern zu konservieren, unmittelbar und notwendig sein Zerfall. Diese eigentlich gegensätzlichen Bewegungen des Institutierens oder Generierens einerseits bei gleichzeitigem Entsetzen andererseits sind inhärente Bestandteile der Metaphysik selbst und bezeichnen die aporetischen Momente ihrer Auto-De-Konstruktion, aus denen heraus erst ihre Dynamiken und Kräfte entspringen. Die Aporien der Metaphysik liegen somit im Zentrum der Analyse und des Diskurses über Metaphysik und sind daher auch für die vorliegenden Studien unverzichtbar, denn sie gelten sowohl für ihre gesamte hermeneutische Tradition als auch für jeden einzelnen ihrer Begriffe und damit zugleich für die Weise, wie diese denkend zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden. Nicht auf ihre vereinheitlichenden und proportionalisierenden Momente ist die Metaphysik daher zu reduzieren, sondern jedes dieser Momente des Ins-Verhältnis-Setzens ist zugleich selbst schon aporetisch und muss dementsprechend gelesen werden. Dadurch bestätigt sich an dieser Stelle abermals Aubenques emphatische Schlussfolgerung, die gesamte Metaphysik sei aporetisch. Dieser Schluss soll nicht nur als verallgemeinernde Aussage zur Kenntnis, sondern in seiner Radikalität ernst genommen werden. Die Aporien der Metaphysik radikal zu fassen, bedeutet, einige ihrer zentralen Begriffe von innen heraus zu dekonstruieren und diese Begriffe in eine neue Konstellation zu setzen, anstatt sie zu verwerfen, wie es noch Aubenque offenbar mit dem Analogiebegriff vorhat, den er als den Kern sämtlicher hermeneutischer Irrungen von Seiten der mittelalterlichen Kommentatoren entlarvt. „L’analogie, c’est la proportionalité“, schreibt Aubenque und fügt hinzu, dass die Analogie zu einem Werkzeug für die theologische Notwendigkeit geworden sei,
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz
die Pluralität des Seienden in ein hierarchisiertes Verhältnis zum (höheren) Einen zu setzen, und damit lediglich Mittel zum Zwecke sei, ein Zweck, der sich in der aristotelischen Metaphysik so nicht finde und der damit auch niemals ohne Vorbehalt gebraucht werden dürfe, der niemals „zufällig“ oder gar „unschuldig“ sei: „Mais en réalité, l’introduction de la notion d’analogie de l’être dans ce débat n’est ni fortuite ni innocente.“63 Dass die Verwendung eines solchen Begriffs wie dem der Analogie zu keiner Zeit „zufällig“ oder „unschuldig“ sein kann, sondern immer im historischen Kontext seiner Genese und Geltung gelesen werden muss, ist ein sehr wichtiger Gedanke, zu dem Aubenques quasi-dekonstruktive Lesart den Impuls zu geben vermochte (wenngleich er damit vielleicht doch eher Heideggers Destruktion als Derridas Dekonstruktion nahesteht).64 Heidegger selbst wiederum beschreibt in seiner 1955/56 gehaltenen Freiburger Vorlesung zum Satz vom Grund seine Haltung zur Tradition, und wie diese immer als in den Kontext ihrer Seinsgeschichte eingebunden verstanden werde solle, folgendermaßen: „Es wäre jedoch töricht zu sagen, die mittelalterlichen Theologen hätten den Aristoteles mißverstanden; vielmehr haben sie ihn anders verstanden, entsprechend der anderen Weise, nach der Sein sich ihnen zuschickte.“65 Und er fährt fort zu erläutern, dass hierbei erst dann ein Problem auftritt, wenn jener anderen Auslegung der dogmatische Gestus eines alleinigen Wahrheits- und Einheitsanspruchs zugrunde gelegt wird: „Zu einem Mißverständnis wird das Andersverstehen erst dort, wo es sich zur einzig möglichen Wahrheit aufspreizt und zugleich unter den Rang des zu Verstehenden hinabfällt.“66 Dass die Metaphysik dieses „Andersverstehen“, eigentlich jedes andere Verstehen und damit ein anderes oder neues, konstellatives Ins-Verhältnis-Setzen ihrer Begriffe bereits evoziert und somit nicht einfach verworfen werden kann, deutete sich bereits anhand einiger zentraler Passagen aus der aristotelischen Metaphysik an. Anhand dieser Passagen ließ sich zeigen, wie die Aporien der Disziplin Metaphysik mit der aporetischen Bewegung philosophischen Denkens zusammenfallen und wie es dabei des Weiteren gleichzeitig zur notwendigerweise differenziellen Korrelation, zum Angleichen, zwischen dem Denken und den zu denkenden Sachen bzw. Sachverhalten kommt, welche abermals nicht anders als aporetisch zu verstehen sind. Daher sind die Aporien der Metaphysik Ausgangspunkt und Methode, durch welche sich auch der Begriff der Analogie dekonstruieren ließ. Im Zuge der Dekonstruktion der Analogie – des Verhältnisses selbst also – kündigte sich überdies bereits jene eigenartige Verdopplung der Aporien an, die der Metaphysik grundsätzlich und prinzipiell eigen ist und die ihr als radikales Prinzip (archē) zugrunde liegt: es handelt sich um jenes doppelt-aporetische Moment der 63 Aubenque, Faut-il déconstruire la métaphysique, 28. 64 Vgl. auch Aubenque, Faut-il déconstruire la métaphysique, insb. Kap. IV–V. 65 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, GA 10, Frankfurt: Klostermann 1997, 117–118. 66 Heidegger, Der Satz vom Grund, 118.
III. Metapher und Metaphysik
Kontraktion, das sowohl eine reduktive Bewegung nach innen als auch ihre eigene Übersteigerung in sich birgt. Erinnern wir an die Ausgangsfrage dieser Untersuchung, nämlich wie wir den Umschlag von der dynamis zur energeia verstehen sollen, so kann an dieser Stelle vorweggenommen werden, dass die Weise, wie wir auf diese Frage antworten, unmittelbar davon abhängt, wie wir die Tradition und damit auch die von ihr ins Zentrum gelegten Begriffe lesen, wie wir also letztlich das Verhältnis – und der ‚Umschlag‘ ist nichts anderes als ein Verhältnis – in ihrer aporetischen Grundstruktur denken sollen. Damit korrespondiert die Frage nach dem Verhältnis unmittelbar mit sämtlichen weiteren Ausführungen zur dynamis und zur energeia, welche letztlich ein Ins-Verhältnis-Setzen von Materie und Form, von Möglichkeit und Wirklichkeit ist. Jeder Versuch, diesen Umschlag zu denken, erfordert es, sich auf den metaphysischen Raum einzulassen und, ohne die metaphysischen Begriffe zu konservieren oder zu zerstören, sie von innen heraus in der differenziellen Kontraktion ihrer Aporien, durch die sie sich gleichzeitig intensivieren und übersteigen, in ein neues konstellatives Verhältnis zu setzen, um so erst richtig gelesen und verstanden werden zu können.67 Wenn sich das Verhältnis als solches und damit auch das Verhältnis zwischen dynamis und energeia anders deuten lässt, wenn es in seiner notwendigen Aporizität gedacht wird – und das zu zeigen haben wir bereits im letzten Kapitel begonnen –, dann ist das meta- der Metaphysik folglich als epistemologische Übersteigerung zu fassen. Diesem ‚mehr als‘, dessen Mehrwert nicht kalkulierbar und ebenso wenig zufällig wie unschuldig ist, liegt ein anderes Denken der Materie zugrunde. Dieses andere Denken der Materie bezieht das differenzielle Moment der Aporien mit ein, ja es operiert gar aus diesem heraus, denn nur von hier aus ist es möglich, jene Übersteigerung gleichzeitig als Kontraktion, das heißt also in ihrer reduktiven, zurückhaltenden Bewegung zu erkennen. Es ist dieses gleichzeitige Zusammentreten der gegenläufigen Momente, aus dem ihre eigentliche Kraft (dynamis) entspringt.68 Wenn es also möglich ist, diese beiden Momente zusammenzuschauen, sie als ein Moment der Überlagerung, der doppelten Aporie zu lesen, dann könnte sich im Resonanzraum dieser beiden Momente eine andere Philosophie und vielleicht auch eine andere Form der Kritik eröffnen. Denn in jener Verschiebung der Denkrichtung verschränken sich die scheinbar gegenläufigen Momente der Reduktion 67 Auch was die Ebene des theoretischen Zugangs betriff t, kommt es hier of fenbar zur Überschneidung der ontologischen Frage nach der dynamis und energeia mit der philosophischen Aufgabe, (physische und metaphysische) Verhältnisse zu denken, welche selbst wiederum unmittelbar an die (logisch-analytisch-)sprachliche Wendung von Begrif fen gebunden ist. Wir können vorerst festhalten, dass alle diese verschiedenen Theorieebenen ein und demselben aporetischen Nexus des Denkens angehören. 68 So fällt die Metaphysik mit der eigentlichen Bewegung des Denkens zusammen, wie Aubenque in seinem Essayband Faut-il déconstruire la métaphysique Kant paraphrasierend feststellt: „[La métaphysique] est, pour le dire avec Kant, la respiration même de la pensée“ (Aubenque, Faut-il déconstruire la métaphysique, 76).
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oder des Zurückhaltens – eines Widerstandes – und der Übersteigerung – eines Surplus. Die Metaphysik ist damit immer weniger und mehr als sie selbst; sie birgt einen gewissen Widerstand, eine „étonnante capacité de résistance“, wie Aubenque gegen die platonische Doktrin des Einen schreibt, um ein paar Zeilen weiter von einem generellen Widerstand gegen jede Vereinheitlichung, Identifizierung und Ausrichtung auf das Eine, gegen die gesamte onto-theologische Tradition also, von einer „résistances du texte aristotélicien à l’interprétation onto-théologique“69 zu sprechen. Unsere Aufgabe besteht nun darin, die Aporien sowie die Differenz selbst in den Mittelpunkt der Lektüre zu rücken, um von hier aus nicht nur die onto-theologischen Tradition zu dekonstruieren, sondern unter Berücksichtigung der materialistischen Lesart die ihr intrinsischen Momente der doppelten Aporie und der in dieses aporetische Verhältnis ebenso eingeschriebenen Differenz wieder sichtbar zu machen, wie es sich im Kern des dynamis-Begriffs selbst und in dessen Relation zur energeia zeigt. Sollte das gelingen, dann wäre der bereits zuvor angekündigten Verschiebung der Denkrichtung hin zu einer materialistischen Philosophie der Differenz der Weg geebnet. Bevor wir uns jedoch dem Verhältnis zwischen dynamis und energeia zuwenden, nehmen wir einen weiteren Umweg über den Begriff der Metapher. Dieser Umweg ist vor allem deswegen wichtig, weil sich an der Metapher einmal mehr zeigen lässt, wie sehr jener Nexus aporetischen Denkens und philosophischen Fragens an die Ebene der Sprache gebunden ist, und er damit exemplarisch anzeigt, wie der (logisch-analytisch-)sprachliche Raum philosophischer Erkenntnissuche mit dem ontologischen-metaphysisch 70 der dynamis und energeia zusammenhängt. Dabei soll die Metapher hier ausschließlich aus dem Blickwinkel einer Dekonst-
69 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 12. 70 Hier wie auch an anderen Stellen dieses Buches wird der Begrif f ‚Ontologie‘ immer in Anführungszeichen gedacht. Dies ist auf das problematische Verhältnis zwischen Metaphysik und Ontologie zurückzuführen. Wenn die Ontologie die Existenz einer substantiellen Grundursache alles Seienden voraussetzt, die Metaphysik, in der diese Ontologie des Seienden ja bewiesen werden soll, jedoch – wie gezeigt – intrinsisch aporetisch ist, d. h. sich selbst dekonstruiert, dann gilt, zumindest für den Fall der aristotelischen Metaphysik, dass diese ‚bloß‘ quasi-ontologisch zu denken ist. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir beide Projekte, das der Metaphysik und das der Ontologie, verwerfen sollten, sondern vielmehr sind beide von ihren Brüchen und Paradoxien aus zu lesen. Somit wäre vielleicht auf einer Ontologie zu beharren, die nicht auf der Annahme einer Einheit des Seins, sondern auf der Dif ferenz besteht, die so vielleicht keine Ontologie mehr ist, sondern eben eine Quasi-Ontologie. E ine aktuelle Diskussion der Metaphysik als Disziplin und dem Verhältnis zwischen Ontologie und Metaphysik findet sich in dem Sammelband Metaphysik heute – Probleme und Perspektiven der Ontologie, hg. v. Matthias Lutz-Bachmann/Thomas M. Schmidt, Freiburg: Karl Alber 2007.
III. Metapher und Metaphysik
ruktion der Metaphysik betrachtet werden und dient dem exemplarischen Eintauchen in die doppelt-aporetische Denkbewegung.71 Es gibt also einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen aporetischem Denken, Sprache und Erkenntnis (oder Wissen) – und, wie wir später sehen werden, Geschichte und Politik –, wie sich bereits im Kontext der Ausführungen zur Aporie andeutete, in welchem ein erster Konnex zwischen Analogie und Metapher über die Einführung der Knotenmetapher („Die Aporie aber im Denken zeigt diesen Knoten in der Sache an“; Metaph. 995a30–33) hergestellt wurde.72 Wie genau über die Analogie sprachliche Ähnlichkeiten zwischen Wörtern und Sachen erzeugt werden, ohne vollständig mit diesen übereinzustimmen, haben wir bereits gezeigt und können zunächst festhalten, dass das Ins-Verhältnis-Setzen durch Analogie in unmittelbarer Beziehung zur Metapher steht, ja dieser sogar kategorial untergeordnet ist, so Aristoteles in seiner Poetik.73 Sie ist gar die häufigste Form der Metapher, wie er wiederum in der Rhetorik hervorhebt, wo es heißt: „Von den vier Arten der Metapher ist die durch Analogie gebildete die beliebteste“ 74. Auch Jacques Derrida bezieht sich in seinem Aufsatz White Mythology aus dem Jahre 1971 auf diese Textstelle, wenn er rekonstruiert, dass von den vier möglichen Arten der Metapher die Bestmögliche die Metapher durch Analogie, dass die Analogie gar die ‚Metapher par excellence‘ sei.75
71 Auf keinen Fall soll eine Genealogie des Metaphern-Begrif fs in all seinen vielfältigen Facetten nachgezeichnet werden. Selbst das kanonische Textkorpus ist zu umfangreich, um es hier aufzulisten. Unbedingt zu nennen wäre Hans Blumenbergs Versuch einer philosophischen Aktualisierung des Metaphern-Begrif fs in: Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt: Suhrkamp 1998. Ein guter Überblick, allerdings mit deutlich ästhetischer Fragestellung, findet sich in Anselm Haverkamps Studie Metapher. Die Ästhetik der Rhetorik, München: Fink 2007. Siehe v. a. auch den von ihm herausgegebenen Sammelband Theorie der Metapher, in der die meisten einschlägigen Texte versammelt sind; in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt: WBG 1983. 72 Zum Zusammenhang zwischen der Generierung von Wissen und Sprache bzw. Metaphorik von Sprache schreibt Max Jammer tref fend: „When studying the historical formation of a concept, one should remember that the metaphor is a powerful agent in the evolution of language as well as of science; it is instrumental in the transference of a word from its ordinary meaning to the designation of a specific concept as a defined construct within the conceptual scheme of science” (Jammer, Concepts of Force, 16). 73 Aristoteles, Poetik, hg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 2012. 74 Aristoteles, Rhetorik, übers. u. hg. v. Gernot Krapinger, Stuttgart: Reclam 2012, 1411 a 1–2. Die anderen drei Arten der Metapher sind: Von der Gattung auf die Art (1), von der Art auf die Gattung (2) und von der Art auf die Art (3). Vgl. Aristoteles, Poetik, 1457 b 6–9. 75 Jacques Derrida, White Mythology. Metaphor in the Text of Philosophy, übers. v. F. C. T. Moore, in: New Literary History 6/1, „On Metaphor“, Baltimore: Johns Hopkins UP 1974, 5–74. Zuerst erschienen auf Französisch als „La mythologie blanche. La métaphore dans le texte philosophique“, in: Poétique. Revue de théorie et d’analyse littéraire 5 (1971). D errida schreibt hier: „Analogy is metaphor par excellence“ (Derrida, White Mythology, 42). An späterer Stelle heißt es dann: „If every metaphor is a simile, or an elliptical analogy, we should now be dealing with a metaphor par excellence” (Derrida, White Mythology, 44). Bei Derrida hat
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Dass es sich bei dem Konnex zwischen Analogie und Metapher um keinen Sonderfall handelt, wird von Aristoteles wiederum in seiner Poetik bestätigt. Im Kapitel über die sprachlichen Formen beschreibt er die unmittelbare Verbindung zwischen Analogie und Metapher, wobei es auch zu einer ersten Definition des Begriffs der Metapher selbst kommt: Eine Metapher [metaphora] ist die Übertragung [epiphora] eines sachfremden [allotrios] Wortes, und zwar entweder von der Gattung [genos] auf die Art [eidos] oder von der Art auf die Gattung, oder von einer Art auf die andere, oder nach den Regeln der Analogie.76
Die Metapher ist also zunächst einmal eine Übertragung von einer auf die andere Sache. Sie ist eine rhetorische Figur der Differenz, durch die sich dasselbe Wort in einer anderen Sache anders wiederholt und ihr so hinzugefügt wird. Der von Aristoteles verwendete Begriff für diese Übertragung bzw. Hinzufügung ist Epiphora: Eine Epiphora ist eine rhetorische Wiederholungsfigur, deren Funktion darin besteht, ein Wort in einem sachfremden Kontext in einem Akt der Wiederholung so zu übertragen, dass es hervorgehoben und betont wird. Allerdings handelt es sich bei dieser Übertragungsleistung nicht um eine einfache Wiederholung, die linear von der einen auf die andere Sache erfolgt; vielmehr beruht diese Übertragung immer schon auf einer unterbrechenden Differenz, welche das in die Übertragung selbst eingeschriebene differenzielle Verhältnis anzeigt, in der sich die sprachliche Disproportionalität zwischen Wort und Sachen perpetuiert. Es verwundert nicht, dass sich die Metapher für einige philosophische Schulen damit als höchst problematisch erweist, enthält sie sich doch notwendig jeder wie auch immer gearteten logisch-notwendigen Rückführung auf Wahrheit und Einheit, von denen gemeinhin angenommen wird, sie verberge, sich in oder hinter den Sachen selbst.77 So weist Heidegger in einem merkwürdigen Einschub im Teil zur „Interpretation der Langweile“ seiner Freiburger Vorlesung von 1929/30 zu den Grundbegrifdie privilegierte Position der Analogie in der Hierarchie der Metaphern (Aristoteles, Rhetorik 1411a1-2) ihren Ursprung in Aristoteles’ Analogie des Seienden. 76 Aristoteles, Poetik 1457b6–9. 77 Selbst (oder gerade) Nietzsche schreibt in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) seine berühmte Passage: „Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metynomien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraf tlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen“; in: Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA III.2, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1973, 367–384, hier: 374–375.
III. Metapher und Metaphysik
fen der Metaphysik darauf hin, dass Metaphern der idealistischen Philosophie seit jeher dazu dienten, Eigenschaften auf Dinge zu übertragen, die ihnen ‚an sich‘ nicht zukommen. Dies, so Heidegger, habe Aristoteles bereits in seiner Poetik an der dichterischen Sprache gezeigt, und er fährt in diesem Kontext mit der Behauptung fort, die metaphorische Verwendung von Sprache sei nicht nur auf subjektive Fähigkeiten zurückführbar, sie sei, wie er schreibt, „doch nicht zufällig und willkürlich, sondern offenbar deshalb, weil wir an den Dingen etwas finden, was gleichsam von sich aus fordert, daß wir sie so ansprechen und benennen und nicht anders“.78 Ähnlich wie die bei Michelangelo im Marmorblock schlummernden Gestalten, klingt es interessanterweise auch bei Heidegger so als seien die Metaphern bereits in den materiellen Dingen selbst angelegt und ließen sich aus ihnen heraus formen. Abermals werden wir an dieser Stelle zur Frage nach dem Verhältnis zwischen den Phänomenen und dem sprachlichen und epistemischen Erfassen derselben zurückgeführt. Bevor wir uns jedoch erneut dieser Problematik zuwenden, wollen wir abermals eine Umweg einschlagen und uns ansehen, in welchem Zusammenhang Metapher und Metaphysik nun eigentlich zueinander stehen. Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass die Metapher eine Wiederholungsfigur, eine Trope der Ähnlichkeit ist, die jedoch nicht auf einer Art (eidos) oder der Gattung (genos) basiert, sondern auf der Ähnlichkeit ihrer Prinzipien (archai), das heißt ihrer strukturellen Beschaffenheit im jeweiligen Kontext, die gerade nicht proportional auf das Eine hin (pros hen) ausgerichtet sind, sondern auf die sie immer schon übersteigende Pluralität ihrer Differenzen. Damit deutet sich bereits die Verschränkung zwischen der Metapher und dem philosophischen Erfragen der Phänomene, aber auch zwischen den Sachen und dem Denken an, die offenbar auch Heidegger evozierte. Unter dieser Voraussetzung wäre jede Metaphysik in ihrer Betätigung als Moment epistemologischer Übersteigerung der zu untersuchenden Phänomene, welche in eine andere Konstellation übertragen werden und als gleichzeitige und unendliche Reduktion des an sprachlicher Bestimmung Möglichen zu verstehen. Es sei an dieser Stelle nur am Rande bemerkt, dass es sicherlich kein Zufall ist, wenn auch in Aristoteles’ methodisch-deskriptivem Vorgehen in der Metaphysik seine Beweise der ersten Prinzipien (oder ersten Substanzen) fast durchweg durch analogische Metaphern illustriert sind.79 Wie also Metapher und Metaphysik – oder vielleicht genereller: Sprache und aporetisches Denken – zusammengehören, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Dass hier nämlich 78 Heidegger, Grundbegrif fe der Metaphysik, 127–128. 79 An einer Stelle schreibt Aristoteles beispielsweise: „Wie sich nämlich das Bauende verhält zum Baukünstler, so verhält sich auch das Wachende zum Schlafenden, das Sehende zu dem, was die Augen schließt, aber noch den Gesichtssinn hat, das aus dem Stof f Ausgegliederte zum Stof f, das Bearbeitete zum Unbearbeiteten. In diesem Glied soll durch das erste Glied die Wirklichkeit, durch das andere das Mögliche bezeichnet werden“ (Metaph. 1048a37–1048b1–6).
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eine Art intrinsische Verschränkung existiert, welche Metapher und Metaphysik unmittelbar aneinanderbindet, ist in Heideggers Satz vom Grund nachzulesen, in dem dieser ebenso emphatisch wie übertreibend verkündet: „Das Metaphorische existiert nur innerhalb der Metaphysik.“80 Eine unmittelbare Verbindung zwischen Metapher und Metaphysik zeigt sich auch schon in der bereits erwähnten Poetik des Aristoteles, in der es in einer Passage fast schon zu einem erläuternden Zusatz zur Knotenmetapher aus der aristotelischen Metaphysik kommt. Wenn es in letzterer nämlich heißt: „Die Aporie im Denken [dianoia] zeigt diesen Knoten in der Sache an“ (Metaph. 995a31–32), so wird das Denken in der Poetik unmittelbar mit der Sprache in Verbindung gebracht: „Zum Denken [dianoia] gehört, was mit Hilfe von Worten [logoi] zubereitet werden soll.“81 Auch wenn sich die Aussage in dieser Passage explizit auf die Kunst des Redens, auf die Rhetorik, bezieht, so bestätigt sie auf allgemeiner Ebene die angekündigte wechselseitige und punktuelle Verschränkung zwischen der Sprache und dem aporetischen Denken. In seiner Rhetorik schreibt Aristoteles daher: „Metaphern sollen, wie oben gesagt, aus verwandten, nicht offenkundigen Dingen gebildet werden, wie es ja auch in der Philosophie Scharfsinn verrät, Ähnliches auch in weit auseinanderliegenden Dingen zu erkennen.“82 In einer interessanten Analogie („wie […] ja auch in der Philosophie“) nähert Aristoteles nun die sprachliche und die philosophische Ebene einander an: Aporetisches Denken ist demzufolge genau dort ‚scharfsinnig‘, wo es die Ähnlichkeiten zwischen den Phänomenen in der Übertragung erkennt und so gleichzeitig sowohl ihre 80 Heidegger, Der Satz vom Grund, 72. Heidegger, der bekanntlich die Metaphysik zu überwinden trachtete, verwehrte sich – wohlgemerkt trotz seiner eigenen metaphorischen Sprache, wie beispielsweise seine wohlklingende Aussage, die „Sprache ist das Haus des Seins“ (Humanismus, 313) illustriert, – gegen den Gebrauch von Metaphern im Bereich des Denkens. Das, was durch die Metaphern verbildlicht werde, sei Bestandteil der Dichtung und eben nicht des Denkens. In seinen Erläuterungen zu Winke, einer Art Sammlung von Nicht-Dichtungen – d. i. „Worte eines Denkens“, das das Sein denkt – von 1941, schreibt Heidegger: „Das Sagen des Denkens ist im Unterschied zum Wort der Dichtung bildlos. Und wo ein Bild zu sein scheint, ist es weder das Gedichtete einer Dichtung noch das Anschauliche eines ‚Sinnes‘, sondern ein ‚Notanker‘ der gewagten, aber nicht geglückten Bildlosigkeit“, in: Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens (1910–1976), GA 13, Frankfurt: Klostermann, 33. Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus (1946), in: Wegmarken, GA 9, Frankfurt: Klostermann. Siehe hierzu auch Derridas Vorlesung zu Heidegger und der Frage des Seins und der Geschichte vom 29. März 1965, in der er explizit auf eben jene metaphorische Geste Heideggers hinweist. In Jacques Derrida, Heidegger: la question de l’Etre et l’histoire. Cours de l’ENS-Ulm 1964–1965, hg. v. Thomas Dutoit u. Marguerite Derrida, Paris: Edition Galilée 2013, 323f f. D emgegenüber macht Blumenberg in seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie den Hinweis, dass die Trennung der Rhetorik und der Dichtung von der Philosophie so einfach nicht zu vollziehen sei: „Der Redner, der Dichter können im Grunde nichts sagen, was nicht auch in theoretisch-begrifflicher Weise dargestellt werden könnte“ (Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 9). 81 Aristoteles, Poetik 1456a37. 82 Aristoteles, Rhetorik 1412a9–12.
III. Metapher und Metaphysik
intrinsischen Differenzen aufzeigt als auch diese übersteigt – wo es eben MetaPhysik und Meta-Phorik ist. Auch Jacques Derrida illustriert in seinem Aufsatz White Mythology, wie sehr Metaphysik und Metapher zusammenhängen, wenn er entlang der Lichtmetaphorik, wie sie im Verlauf der Geschichte der Metaphysik erscheint, das Begriffspaar Metapher/Metaphysik dekonstruiert. Gleich zu Beginn seines Textes erklärt Derrida dementsprechend: Metaphor in the text of philosophy. […] [I]s there metaphor in the text of philosophy? in what form? to what extend? is it necessary or incidental to bring into play the use of philosophical language in its entirety, nothing less than the use of what is called ordinary language in philosophical discourse, that is to say, of ordinary language as philosophical language.83
Um die intrinsische Verwandtschaft zwischen Metapher und Metaphysik nachzuweisen, sei es also zunächst notwendig, zu sehen, wie der alltägliche Sprachgebrauch – und damit ist zunächst einmal das metaphorische Sprechen gemeint – mit der philosophischen Verwendung von Sprache zusammenhängt.84 Sollte es diesen Zusammenhang tatsächlich geben, so müsste der historische und kulturelle Kontext, in dem die jeweilige Interaktion zwischen Philosophie und Metapher stattfindet, ebenso in die Analyse miteinfließen. Es deutet sich an dieser Stelle also an, dass hier neben dem Bereich der Philosophie und der Sprache auch derjenige der Geschichte tangiert ist. Für den Moment jedenfalls kann festgehalten werden, dass die Frage der Metapher eine Frage nach der Metaphysik im Allgemeinen und damit eine der Sprache ist, und zwar sowohl in aporetisch-philosophischer als auch in historisch-kontextueller Hinsicht. Derridas Antwort auf die Frage „What is metaphysics?“ enthält dementsprechend sogleich eine kulturkritische Wendung, wenn er schreibt, sie sei eine „weiße Mythologie“, die die westliche Kultur und ihr Streben nach Einheit, Logos und universeller Vernunft repräsentiere.85 83 Derrida, White Mythology, 6. 84 Dass hier diese Verwandtschaf t zwischen dem alltäglichen Sprachgebrauch bzw. der natürlichen Sprache so präsentiert wird, als sei sie selbsterklärend, ist natürlich höchst problematisch und bedarf eigentlich einer ausführlichen Erläuterung, der wir an dieser Stelle leider nicht nachkommen können. Siehe hierzu stattdessen Serge Margels erhellenden Aufsatz „La métaphore. De la langue naturelle au discours philosophique“, in: Rue Descartes (Collège international de Philosophie) 52 (2006), 16–26. 85 Vgl. Derrida, White Mythology, 11. Gleich darauf fügt Derrida präzisierend hinzu: „What is white mythology? It is metaphysics which has ef faced in itself that fabulous scene which brought it into being, and which yet remains, active and stirring, inscribed in white ink, an invisible drawing covered over in the palimpsest“ (Derrida, White Mythology, 11). Dass Derrida hier, in diesem so zentralen Satz seines Aufsatzes, weitere Metaphern, nämlich die der unsichtbaren
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Wie eng die Verbindung zwischen Metapher und Metaphysik ist, hat sich oben bereits anhand der aristotelischen Textstellen erwiesen. Bei Derrida zeigt sich nun, wie sich die Metapher in eben diese Reihe metaphysischer Begriffe eingliedert und sich zur triadischen Konstellation Metapher (bzw. Analogie), Mimesis und Wahrheit (alētheia) zusammenfügt, die ihn im Laufe seines Textes gar zu der überspitzten Aussage veranlasst: „What makes metaphor possible […] is what makes truth possible“,86 um ein paar Zeilen weiter für den Bereich der Sprache, zu dem die Metapher ja gehört, zu ergänzen: „[L]ogos, mimesis, and alētheia become here one and the same possibility.“87 Die alētheia – die Wahrheit oder „Unverborgenheit“, wie sie Heidegger deutend übersetzt – gehört der langen Tradition eines Diskurses an, dem es um die Enthüllung der (mutmaßlich) verschleierten Wahrheit der Natur durch sogenannte Erleuchtete – in der Regel der Philosoph oder ein Kreis von Philosophen – geht.88 Jene Tinte und des Palimpsest, einführt, macht einmal mehr die auto-dekonstruktive Bewegung der Metaphysik deutlich. Und es wirf t vor allem weitere Fragen auf: Was genau ist eigentlich diese ‚fabelhaf te‘ Ursprungszene der Metaphysik, die in ihr ausgelöscht ist, aber dennoch ‚aktiv‘ ist, die in ‚unsichtbarer Tinte‘ eingeschrieben und durch das Palimpsestieren verhüllt ist? 86 Derrida, White Mythology, 37. 87 Derrida, White Mythology, 38. Wie hier gleichzeitig Elemente aus der Poetik, der Rhetorik und der Metaphysik ineinanderfließen und was dies für den Status der Philosophie bedeutet, erläutert Derrida wie folgt: „Thus metaphor, an ef fect of mimesis and homoiosis, and a manifestation of analogy, will be a means of knowledge. We may say of it what is said of poetry: it is more philosophical and more serious than history (Poetics, 1451 b 5–6), since it not only tells something particular, but expresses what is general, probable, and necessary. However, it is not as serious as philosophy itself, and will, it seems, keep this intermediate status throughout the history of philosophy. We might better say ancillary status: for metaphor, properly controlled, is in the service of truth, but the master cannot be content with it, and must prefer that form of discourse which shows truth in its fullness” (Derrida, Mythology, 38). 88 Für Heidegger ist die Frage nach der Wahrheit unmittelbar an die des Seienden gebunden. In seiner Vorlesung zu Aristoteles’ Metaphysik IX, 1–3. Vom Wesen und Wirklichkeit der Kraf t (1931), die wir später noch ausführlich kennenlernen werden, umreißt er diese Problemstellung folgendermaßen: „Das Seiende, was ist es, was eignet ihm und nur ihm? Antwort: das Sein. Das Seiende ist hier gemeint im Sinne von: das Seiende als solches. ὂν ᾗ ὄν – in diesem ᾗ ὄν wird gleichsam das Seiende festgenommen und festgehalten, damit nur es selbst sich zeige und sage, wie es um es steht“ (Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, GA 33, 25). Wie das dem Sein ‚Eigene‘ an die Metaphysik und die Möglichkeit seines ‚Entbergens‘ gebunden ist, erläutert Heidegger ein paar Jahre später in seinen zwischen 1939 und 1946 entstandenen großen Bänden zu Nietzsche: „Indem [die Metaphysik] das Seiende als solches denkt, streif t sie denkenderweise das Sein, um es auch schon zugunsten des Seienden zu übergehen, zu dem sie zurück und bei dem sie einkehrt. Darum denkt die Metaphysik zwar das Seiende als solches, aber das ‚als solches‘ selbst bedenkt sie nicht. Im ‚als solches‘ wird gesagt: das Seiende ist unverborgen. Das ᾗ im ὂν ᾗ ὄν, das qua im ens qua ens, das ‚als‘ im ‚Seienden als Seiendes‘ nennen wir die in ihrem Wesen ungedachte Unverborgenheit. […] Das ‚als solches‘ streif t nennend die Unverborgenheit des Seienden in seinem Sein. Weil jedoch das Sein selbst ungedacht bleibt, bleibt auch die Unverborgenheit des Seienden ungedacht“ (Heidegger, Nietzsche, GA 6.2., 317). In der Heranführung des ‚als solches‘ in den Zwischenbereich des ᾗ besteht jedoch genau das Problem, denn auch wenn hier die angezeigte (ontisch-ontologische) Dif ferenz zwischen Sein und Seiendem in den Blick rückt und die Metaphysik von hier aus zu entsetzen (d. i. in ihren
III. Metapher und Metaphysik
Metaphorik des Entschleierns basiert auf einem Amalgam aus altägyptischen und altgriechischen Kulten um die Göttin Isis. Die mystische Anziehungskraft der Isis, die sowohl die Natur als auch die Vernunft verkörpert, entzündete sich vor allem an Plutarchs Darstellung der Sage Über Isis und Osiris, in deren Einleitung er beschreibt, wie der Sinn des Philosophierens im Aufspüren der verborgenen Wahrheit der Natur liegt: In letzter (oder höchster) Instanz, so Plutarch, bestehe die Aufgabe des Philosophen darin, das Wort (logos) der Götter zu ergründen, um „über die darin enthaltene Wahrheit (alētheia) [zu] philosophieren“.89 Bekanntlich kulminiert jene mystische Metaphorik in der ebenso faszinierenden wie unheimlichen Verkündigung: „So hatte das Bild der Athene zu Sais, die man auch für die Isis hält, folgende Inschrift: ‚Ich bin alles, was ward, ist und sein wird, noch kein Sterblicher hat jemals meinen Schleier gelüftet.‘“90 Aporien zu lesen) ist, erwecken diese Sätze Heideggers den seltsamen Eindruck, dass hier durch die Hintertür die Ausrichtung nach Einheit und der einen Wahrheit wiedereingeführt werden soll. Auf die Frage „was ist das Sein?“, antwortet er dementsprechend mit folgendem apodiktischen Gestus: „Eben dieses Eine […]: τὸ ὄν τὸ ἕν – das Seiende, das ist eben dieses Eine: Das Sein; das Sein ist das Eine, was das Seiende als solches ist“ (Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 23). Auch wenn dieses eine Sein maßgeblich durch ihr Ausbleiben gekennzeichnet zu sein scheint, wie Heidegger ausführt, bleibt es doch in dieser Ausrichtung auf das Eine gefangen: „Die Ankunf t hält das Seiende als solches in seiner Unverborgenheit und läßt ihm diese als das ungedachte Sein des Seienden. Was geschieht, ist die Geschichte des Seins, ist das Sein als die Geschichte ihres Ausbleibens [seiner selbst als Seiendes]“ (Heidegger, Nietzsche, GA 6.2, 352). Wie wir gesehen haben, ergibt sich diese Heidegger’sche Hinführung auf das ‚als solches‘ nicht zwangsläufig aus der aristotelischen Metaphysik. Von hier aus stellte sich die Frage nach dem Seienden aus einem anderen Blickwinkel, zielt aber ebenso wie Heidegger auf die Fokussierung des qua und damit auch auf die Dif ferenz, und damit letztlich auf die Geschichtsgebundenheit alles Seienden. 89 Plutarch, Über Isis und Osiris, II. Teil: Die Deutung der Sage, übers. u. kommentiert v. Theodor Hopfner, Prag: Orientalisches Institut 1941, Kap. 3, S. 4. Der gesamte Abschnitt lautet: „Denn weder machen der lange Bart und der schäbige Mantel zum Philosophen, Klea, noch zum Isisdiener die Linnengewänder und die Haarschur, sondern der ist in Wahrheit ein Isisdiener, der das, was bezüglich der Götter vorgezeigt und getan wird, wenn er es dem Brauche gemäß überliefert erhielt, mit Worten (logos) erforscht und über die darin enthaltene Wahrheit (aletheia) philosophiert.“ 90 Plutarch, Über Isis und Osiris, Kap. 9, S. 8. In einer Fußnote zum § 49 seiner Kritik der Urteilskraf t ernennt Kant dieser Ausspruch zum erhabensten Satz der Philosophiegeschichte: „Vielleicht ist nie etwas Erhabneres gesagt, oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrif t über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur)“, der es vermag, den Leser „vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüt zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll“, in: Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraf t, Werkausgabe Bd. X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt: Suhrkamp 1996, 253. E s ist sicherlich kein Zufall, wenn dieser obskurantistische Mythos einer verschleierten Wahrheit zur selben Zeit, also im Ausgang des 18. Jahrhunderts, vor allem durch Friedrich Schiller wieder zur Hochblüte gelangte. In seiner Ballade „Das verschleierte Bild zu Sais“, die von der Suche nach Wahrheit und Wissen eines ‚Jünglings‘ erzählt, schreibt Schiller: „Indem sie einst so sprachen, standen sie / In einer einsamen Rotonde still, / Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße / Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert / Blickt er den Führer an und spricht: ‚Was ist’s, / Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?‘ / ‚Die Wahrheit‘, ist die Antwort.
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz
Ohne auch nur annähernd auf sämtliche Implikationen der Metapher des Entschleierns eingehen zu können, wenden wir uns an dieser Stelle jener eigenartigen Lichtmetaphorik zu, die von Anfang an unmittelbar an den Gestus des Entbergens gebunden war und seither die gesamte Geschichte der Philosophie durchflutet, so dass noch (oder gerade) Heidegger in der Einleitung seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 Was ist Metaphysik? behauptet, die Metaphysik hätte das „Sein gelichtet“91. Die Wahrheit – das „Erste des Denkens“ –, so Heidegger dort, könne dementsprechend nur durch das Hinterfragen ihres Grundes in ihrem „entbergenden Wesen“ erkannt werden.92 Damit hängt die Aufgabe der Philosophie an einer bestimmten Vorstellung von Entbergung, Entschleierung, Aufdeckung, und sie hängt damit vor allem an der Vorstellung, dass hier etwas im wörtlichen Sinne ‚erhellt‘ oder ‚erleuchtet‘ wird: sie ist wie ein Funke Wahrheit, der von seiner privilegierten und einmaligen Setzung aus scheinbar Licht in die Hierarchie der Metaphern bringt, ja diese gar erst zu hierarchisieren vermag. Damit arrangiert diese Vorstellung von Philosophie als Erhellung erst onto-theo-logisch die Möglichkeit – ‚Wie?‘ ruf t jener, / ‚Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese / Gerade ist es, die man mir verhüllt?‘ // ‚Das mache mit der Gottheit aus‘, versetzt / Der Hierophant. ‚Kein Sterblicher, sagt sie, / Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe. / Und wer mit ungeweihter, schuldger Hand / Den heiligen, verbotnen früher hebt, / Der, spricht die Gottheit…! – ‚Nun?‘ – ‚Der sieht die Wahrheit‘“, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke Bd. I, hg. v. Gerhart Fricke u. Herbert G. Göpfert, Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaf t 1984, 224–226, hier: 224. 1790, im selben Jahr, in dem auch Kants Kritik der Urteilskraf t erschien, publizierte Schiller seine fragmentarische Vorlesung Die Sendung Moses, in der er – wohl auch nicht zufällig – in Kants anti-judaistische Hetze einstimmt. Dort beschreibt er diejenigen, welche die Wahrheit ‚sehen‘ folgendermaßen: „Diejenigen, welche dieser wichtigen Aufschlüsse teilhaf tig waren, nannten sich Anschauer oder Epopten, weil die Erkennung einer vorher verborgenen Wahrheit mit dem Übertritt aus der Finsternis zum Lichte vergleichbar ist, vielleicht auch darum, weil sie die neuerkannten Wahrheiten in sinnlichen Bildern wirklich und eigentlich anschauten“, in: Schiller, Sämtliche Werke Bd. IV, hg. v. Gerhart Fricke u. Herbert G. Göpfert, Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaf t 1980, 792. Vgl. Schiller, Vom Erhabenen (Zur weitern Ausführung einiger Kantischen Ideen), Sämtliche Werke Bd. V, hg. v. Gerhart Fricke u. Herbert G. Göpfert, Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaf t 1984, 498–512. Siehe hierzu Jan Assmanns Schillerrede von 2006 „Über das Erhabene. Schiller im Licht von Kant und Mozart“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaf t 15 (2006), 166–182. Vgl. ebenso Assmanns wundervolle Studie Moses der Ägypter. Entzif ferung einer Gedächtnisspur (Frankfurt: FTV 2000), in der er u. a. analysiert, wie die Geschichte des Monotheismus unmittelbar mit der Entstehung einer Wahrheit verbunden ist. Siehe auch Pierre Hadots beindruckende wissenschaf tshistorische Studie The Veil of Isis. An Essay on the History of the Idea of Nature, übers. v. Michael Chase, Cambridge, MA/ London: The Belknap Press of Harvard UP 2006. E rnst Bloch wiederum fragt etwas ketzerisch: „Ist das Gesicht hinter dem Schleier der Isis nicht selbst ein Schleier?“, In: Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, Gesamtausgabe Bd. 15, Frankfurt: Suhrkamp 1975, 216. 91 Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, GA 9, Frankfurt: Klostermann 2007, 8. Vgl. zur Lichtmetaphorik v. a. auch Blumenbergs programmatischen Aufsatz Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begrif fsbildung, in: Blumenberg, Ästhetische und metaphorische Schrif ten, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt: Suhrkamp 2008, 139–171. 92 Heidegger, Was ist Metaphysik?, 9.
III. Metapher und Metaphysik
einer Rückführung auf eine Essenz oder Substanz, wie auch immer diese definiert sein mag, anstatt von der Konstellation der metaphysisch-metaphorischen Begriffe selbst auszugehen und, die ihnen immanenten Differenzen und Aporien einbeziehend, damit genau jenen Anspruch auf ein erstes Denken von vornherein mit dem Kopf nicht etwa auf den Boden allein zu stellen, wie dies beispielsweise Hegel in seiner Vorlesung über die Philosophie der Geschichte93 noch meint, sondern auf die sich dazwischen befindlichen übersetzenden Momente. Das Denken wird so letztlich zu seinem differenziellen und materiellen Grund (archē) hingeführt, der es gleichzeitig erst ermöglicht. Dies bedarf einer Justierung der Perspektive und damit einer Entsetzung, eines nach innen gerichteten dekonstruktiven Wiedereinsetzens in eine neue begriffliche Konstellation. In seinem Aufsatz White Mythology jedenfalls gründet Derrida seine Dekonstruktion der Metapher und der Metaphysik auf eine analogische Urszene, die er Platons Politeia entnimmt und die er in seinen eigenen Text in Klammern als Randbemerkung einfügt: (In Plato’s Republic [Books VI–VII], before and after the Line which expounds an ontology by analogies of proportion, there appears the sun. Only to disappear. The sun is there, but as the invisible source of light, in a kind of insistent eclipse. It is more than essential: it produces essence, being and appearing: the essence of that which is. One may not look upon it, on pain of blindness and death. Beyond that which is, it portends
93 In seinen 1837 posthum veröf fentlichten Vorlesungen verwendet Hegel im Kontext der ideengeschichtlichen Entwicklungen rund um die Französische Revolution genau jene berühmte Metapher des Kopfes, der zum Zeitpunkt des historischen Ereignisses der Revolution, so Hegel, zum ersten Male in der Geschichte der Menschheit auf den Boden, d. i. die Wirklichkeit, gestellt worden sei. Nicht zufällig begegnet uns auch hier die Sonne wieder: „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der νοῦς die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen“, in: Hegel, Vorlesung über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt: Suhrkamp 1995, 529. Vgl. zu dieser Hegelstelle auch: Werner Hamacher, The Second of Inversion, in: Premises: Essays on Philosophy and Literature from Kant to Celan, übers. v. Peter Fenves, Stanford: Stanford University Press 1996, 337–388, hier: 339–340. Welch ein Befreiungsschlag muss es dann erst gewesen sein, als der Mensch nicht nur die Welt, sondern schließlich auch sich selbst in seiner materiellen Gegenständlichkeit wiederentdeckte und damit, wie Engels einst schrieb, „die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt“ wurde; in: Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, Berlin: Dietz 1962, 259–307, hier: 293.
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz the Good, of which the sensible sun is the offspring: source of life and visibility, seed and light.)94
Derrida bezieht sich in seiner Randbemerkung auf das für die Geschichte der Philosophie so wichtige Sonnen- sowie auf das Höhlengleichnis aus Platons Politeia, in welchen die Sonne zur Verdeutlichung der Thesen der jeweiligen Dialogpartner als Analogie herangezogen wird.95 Die Eklipse, die verdeckte Sonne, steht hier in Analogie zur verschleierten ersten Wahrheit einer Substanz oder Essenz (ousia oder bei Platon eidos, idea), der alles Leben entspringt, auf die alles vitale Streben ausgerichtet ist und auf die das metaphorische Vermögen des Denkens blickt – allerdings um dabei festzustellen, dass dieser Blick verstellt ist. Die Ontologie qua Substanz oder Essenz wird damit, wie Derrida schreibt, zu einer Ontologie qua Analogie der Proportionalität, und sie wird damit zu einer Ontologie qua Eklipse, die das, was sie enthält, verhüllt, sobald sie erscheint. Dass die Erde nun in elliptischen Kreisen ihre Bahnen um diese ekliptische Sonne zieht, der sie ihre gesamte Weisheit (sophia) entnimmt, ist nur ein weiteres Moment dieses paradoxen Phänomens, das sich bereits bei Aristoteles findet. So tritt auch in der aristotelischen Poetik die Sonnen-Analogie an zentrale Stelle. In der Passage, in der die Problematik derjenigen Analogien diskutiert wird, denen eine der vier nötigen Bezugsgrößen fehlt, erläutert Aristoteles folgendes: In manchen Fällen fehlt eine der Bezeichnungen, auf denen die Analogie beruht; nichtsdestoweniger verwendet man den analogen Ausdruck. So heißt z. B. das Ausstreuen von Samen ‚säen‘; für die Tätigkeit der Sonne hingegen, die ihr Licht ausstreut, gibt es keine spezielle Bezeichnung. Doch verhält sich diese Tätigkeit ähnlich zum Sonnenlicht wie das Säen zum Samen; man hat daher gesagt: ‚Säend das göttliche Licht‘.96 94 Derrida, White Mythology, 43. 95 Siehe Platon, Der Staat (Politeia), übers. v. Friedrich Schleiermacher (1828), Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaf t 2011, Kap. VI, 506b3-509b10 und Kap. VII, 514a1-518b2. Exemplarisch ist folgender Teil des Dialogs: „Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, mußt du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraf t (dynamis) der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Gegend der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit (alētheia) und Vernunf t (nous) hervorbringend, und daß diese sehen muß, wer vernüf tig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öf fentlichen Angelegenheiten“ (Politeia 517a9–c5). 96 Aristoteles, Poetik 1457b25–34.
III. Metapher und Metaphysik
Wir sehen hier, wie Aristoteles’ gesamte Analogie letztlich auf eine Metaphorik des Lichts, der Sonne und damit des Lebens hinstrebt. Allerdings ist diese letzte oder höchste Analogie in der Kette von Analogien unvollständig, es gibt für sie „keine spezielle Bezeichnung“. Die Sonnen-Analogie ist demnach wesentlich durch einen Mangel gekennzeichnet, was nicht nur abermals ihre immanenten Paradoxien bezeugt, sondern diese gar zu unauflöslichen und notwendigen Aporien festschreibt. Derrida dekonstruiert nun zu Recht diese Licht-Metaphorik, denn sie birgt ein ebenso politisch wie ethisch unhaltbares Motiv, dass nämlich das Helle (der, die, das Weiße) – ähnlich dem in seiner Heiligkeit erstrahlenden Himmel – das Wahre in sich trage und offenbare, wohingegen das Dunkle (der, die, das Schwarze) für Unwissen, Abtrünnigkeit, ja gar für das Böse schlechthin stehe. Neben dem richtigen Hinweis auf die in dieses theologisch-kosmologische Gesamtbild eingezeichnete biopolitische Komponente kann von hier aus eine Kette der Heliotropien aufgezeigt werden, welche die Philosophie mitsamt ihrem Bestreben nach Erhellung des Wahren zu einer Heliosophie wendet – einer Heliosophie allerdings, die unvollständig, brüchig und differenziell ist.97 Anstatt also die Bewegung der Metaphern bloß genealogisch nachzuzeichnen oder zu destruieren, muss die onto-theologische Ausrichtung auf die Sonne in sich selbst gewendet werden: Es muss, wie Derrida schreibt, die ihr eigenste „Möglichkeit der Inversion“ („specific possiblity of inversion“98) erkannt werden. Hierbei handelt es sich um eine Notwendigkeit, die sich bereits aus der Trope (τροπή) der Helio-Tropie selbst ergibt, die schließlich – ebenso wie die Metapher selbst – nichts anderes als eine Figur der Wendung ist. Von dieser Trope aus betrachtet birgt jede Heliosophie eine inhärente Aporie, denn jedes Moment, in dem eine Sache dargestellt und präsentiert werden soll, ist zugleich das Moment ihrer Abwendung, jedes Moment ihres Einsetzens ist zugleich ihr entsetzendes Aussetzen. Tropen markieren damit einen merkwürdigen Zwischenbereich, in dem das Unmögliche fast möglich wird, in dem An- und Abwesenheit sich unendlich annähern. Wie am Bild der Eklipse bereits beobachtet, kann die Sache, um die es der Philosophie(geschichte) geht, also die Wahrheit, deren erste Metapher die erhellende Sonne ist, dementsprechend niemals vollständig anwesend und folglich niemals verwirklicht sein: „the sun is never properly present in discourse“, schreibt Derrida daher, und er fügt hinzu: „With every metaphor, there is no doubt somewhere a sun; but each time that there is the sun, metaphor has begun. If the sun is already and always metaphorical, it is not completely natural. It is already and always lustre: one might call it an artificial construction.“99 97 In Gewalt und Metaphysik schreibt Derrida sogar von einer „historischen Gewalt des Lichts“, von der „Heliopolitik“, welche die Philosophiegeschichte durchziehe und die sich v. a. bei Heidegger wiederfinde; in: Derrida, Die Schrif t und die Dif ferenz, Frankfurt: Suhrkamp 2003, 139–142. 98 Derrida, White Mytology, 50. 99 Derrida, White Mythology, 53.
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz
Neben der ihr zugrunde liegenden Aporie von Anwesenheit in Nicht-Anwesenheit werden wir in diesem Zitat mit der weiteren Problematik der konstruktiven Darstellung der Wirklichkeit konfrontiert, in der nämlich der ‚Natur‘ der Dinge sowie sämtlichen natürlichen Abläufen ihre sogenannte Natürlichkeit erst retrospektiv zugeschrieben werden – und zwar metaphorisch. Derrida verweist darauf, dass dies dem Versuch einer Idealisierung und Aneignung der Sache selbst (des Dings an sich) gleichkomme, deren Wahrheit und Wirklichkeit jedoch erst durch die Trope, welche die Metapher ja ist, in den Erkenntnisraum einkehre: The use of a metaphor to convey the ‚idea‘ of metaphor – this is what prohibits definition, but yet metaphorically assigns a stopping place, a limit, and fixed point: the metaphor-home. […] [A]ny metaphor may always be read at once as a particular figure and as a paradigm of the very process of metaphorization: idealization and appropriation. […] The truth of the being that is present is fixed by passing through a detour of tropes in this system.100
Wenn jede Metapher – und damit auch die heliotropische Urspungsmetapher – eigentlich aporetisch ist, wenn des Weiteren jede Verwendung dieser Methapern den Raum zwischen Metapher und Darstellung der Metapher, ihr idealisierendes und aneignendes Ent-Wenden und Ver-Wenden perpetuierend in sich selbst wendet, dann zeigt diese Passage abermals, dass es sich hierbei um eine Verdoppelung des aporetischen Moments handelt, wie wir ihn oben bereits kennengelernt haben; und diese Passage macht deutlich, wie sehr jedes Erkennen der ‚Sache selbst‘ einmal mehr an die von Derrida angeführte „Möglichkeit der Inversion“ gebunden ist. Es ist diese Möglichkeit der Inversion, die eben jene Übertragung (metaphora) der sich nach innen wendenden doppelten Aporie von An- und Abwesenheit einerseits und der Sache und ihrer Darstellung andererseits in sich birgt. An dieser Stelle übersteigt dieses Nach-Innen-Wenden, das anstelle der Abwendung tritt, vielleicht sogar die Möglichkeiten der Dekonstruktion selbst und wäre am ehesten mit Walter Benjamins Vorstellung einer Entstellung und der zeitlichen Dimension der Jetztzeit denkbar: Beide sind eine Art terminus technicus für diese Momente irreversiblen und umkehrenden Entrückens (und explizit nicht eines Aufhebens, wie im Idealismus Hegel’scher Manier) durch gleichzeitiges Absorbieren dialektischer Pole im Augenblick des Jetzt.101
100 Derrida, White Mythology, 55–56. 101 Zur ideengeschichtlichen Einbettung von Walter Benjamins Begrif fen Jetztzeit oder Entstellung vgl. Rainer Nägeles Aufsatz Poetic Grounds Laid Bare (Benjamin reading Baudelaire), in: David S. Ferris (Hg.): Walter Benjamin. Theoretical Questions, Stanford: Stanford UP 1996, 118-138, insb. 119-122. Zu Benjamins Begrif f der Entstellung siehe vor allem auch Sami Khatibs Studie Teleologie ohne Endzweck. Walter Benjamins Entstellung des Messianischen, Marburg: Tectum 2013. Wesentlich wichtiger für uns ist hier der Moment der Inversion.
III. Metapher und Metaphysik
Wenn also die Sonne die Ursprungsanalogie ist, so können wir an dieser Stelle zusammenfassen, dann sind heliotropische Metaphern immer imperfekt.102 Diese Imperfektheit bezieht sich nicht nur auf die Unvollständigkeit ihrer Substanz, die sich immer teleologisch auf eine erste Ursache (die Sonne) ausrichten muss, sondern vor allem auf ihre temporale Struktur, durch die sie für immer eine unvollendete Vergangenheit bleibt, eine Vergangenheit, die sich immer bevorsteht, sich selbst voraus ist, aber niemals überholt. Jedes erste philosophische Bedeuten muss daher aus diesem ursprünglichen metaphorischen und gewissermaßen vorphilosophischen Verhältnis – welches immer ein vorprädikatives Verhältnis des Mangels ist – heraus gedacht werden, das seinen Bestand ebenso erhält wie ihm droht, ihn in jedem einzelnen Augenblick ihres Vollzugs bereits zu verfehlen.103 Das Benennende zu verfehlen ist daher eine Gefahr, die in jede Metapher und in jedes metaphorische Ins-Verhältnis-Setzen von Begriffen und Phänomenen eingeschrieben ist. Daher muss die Metapher immer mit der Möglichkeit ihrer Unmöglichkeit rechnen, wie Derrida ausführt: „If metaphor […] may always fail to attain truth, this is because it has to reckon with a definite absence”.104 Vor dem Hintergrund der Möglichkeit grundsätzlichen Verfehlens stellt sich daher die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit und damit nach dem sogenannten an-sich der Sachen noch einmal neu, weswegen Derrida feststellt: „Metaphor is the moment of possible sense as a possibility of non-truth. It is the moment of detour in which truth can still be lost”.105 Dieses Zitat zeigt sehr schön, wie die Momente der Wendung (in der Metapher) mit denen der Möglichkeit (gelesen als dynamis) koinzidieren, und damit jeder vollständigen begrifflichen Identifikation widerstehen. 102 Derrida, White Mythology, 52. 103 In seiner ideengeschichtlichen Ausarbeitung des Metaphern-Begrif fs weist Anselm Haverkamp auf diesen Moment des ‚vor‘ hin und stellt eine interessante Verbindung zu Foucaults historischem Apriori her; vgl. Anselm Haverkamp, Metapher. Die Ästhetik der Rhetorik, München: Fink 2007, 7–18. 104 Derrida, White Mythology, 42. Wenn die Möglichkeit der Verfehlung, die Möglichkeit ihrer eigenen Unmöglichkeit der Metapher inhärent ist, so stellt sich umgehend die Frage, wie denn das Kriterium zur Feststellung dieser Verfehlung aussehen soll. Derrida weist darauf hin, dass von hier aus die Rede von ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Metaphern nicht weit sei, um dann direkt die Möglichkeit von ‚schlechten Metaphern‘ in Frage zu stellen: „Are [bad metaphors] metaphors at all?“ (Derrida, White Mythology, 41). Diese Frage drängt sich deswegen förmlich auf, denn eine Metapher, die ihren Gegenstand verfehlt, hat keinen Sinn, sie ist ‚Nonsens‘: „In non-sense, language is not yet born. In truth, language should be in a state of plenitude, fulfilment, and actualization to the point of self-ef facement, there being no possible play before the thing (the thought) which is there properly made manifest” (Derrida, White Mythology, 41–42). In seinem Buch zum Kraf tbegrif f greif t auch Christoph Menke jenen dekonstruktiven Gestus, „daß die Bedingung der Möglichkeit zugleich als die der Unmöglichkeit gefaßt werden muss“ (Menke, Kraf t, FN 83, 141), für seine Neuinterpretation des Ästhetischen wieder auf; in: Christoph Menke, Kraf t. Ein Grundbegrif f ästhetischer Anthropologie, Frankfurt: Suhrkamp 2008. 105 Derrida, White Mythology, 42.
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Geoffrey Bennington weist in seinem Text Metaphor and Analogy in Derrida106 darauf hin, dass es Derrida um die Irreduzibilität der Metapher selbst gehe, deren intrinsische Aporizität sie davor bewahrt, vollständig angeeignet zu werden, und die jeden Versuch einer Subsumtion unter ein linguistisches Regelwerk, wie es durch die Einführung der proportionalen Analogie versucht wurde, übersteigt. Die Metapher trägt daher die Möglichkeit einer „radikalen Nicht-Aneigenbarkeit“107 in sich. Diese Möglichkeit der Nicht-Aneignung bezeichnet die Möglichkeit des Widerstandes, welche uns zu Beginn dieses Kapitels bereits in Bezug auf die Metaphysik begegnet ist. Und sie bezeichnet gleichzeitig jenes Moment, in dem sie sich in der radikalen Reduktion, in dem Nach-innen-Wenden, intensiviert und damit sich selbst übersteigen muss und so ein unkalkulierbares Surplus generiert. Demnach begründet jene ursprüngliche heliotropische Setzung zugleich nicht nur ihre Aussetzung, sondern vor allem die Möglichkeit der Entsetzung und damit die einzige Möglichkeit einer Neubestimmung. Die Möglichkeit einer Neubestimmung meint jenes kraftvolle, dynamische, aporetische Moment, in welchem eine Fehlsetzung – eine „errant semantics“,108 wie Derrida schreibt, – zur gefährlichen Möglichkeit wird. Sie meint aber gleichzeitig auch die Möglichkeit der Entsetzung, die den differenziellen Grenzbereich der Unmöglichkeit ihrer Möglichkeit und der Möglichkeit ihrer Unmöglichkeit notwendig miteinbezieht. Woher der dynamische, kraftvolle Charakter jenes aporetischen Moments der Metaphern-Setzung in der Metaphysik eigentlich kommt, entnimmt Derrida einer Textstelle aus dem dritten Buch der Rhetorik, in der Aristoteles illustriert, dass die Metapher in der Dichtung immer für die Aktivierung einer Tätigkeit und damit immer für Bewegung stehe. Aristoteles schreibt, überwiegend aus Homers Ilias und Odyssee zitierend: In all diesen Versen erscheint [phainesthai] die Tätigkeit [energeia] indem etwas belebt wird; denn schamlos sein, stürmen und dergleichen bedeutet Aktivität [energeia]. Das aber verknüpft der Dichter durch die in Analogie gebildete Metapher. Wie sich der Stein zu Sisyphos, so verhält sich der Schamlose zu dem, der schamlos behandelt. Dasselbe macht der Dichter in seinen berühmten Bildern bei unbelebten Dingen: ‚krummgewölbt und beschämt, vorn andere, andere hinten‘, denn er stellt das alles bewegt und lebend dar, Tätigkeit [energeia] aber ist Bewegung [kinesis].109 106 Geof frey Bennington, Metaphor and Analogy in Derrida, in: Zeynep Direk/Leonard Lawlor (Hg.), A Companion to Derrida, West Sussex: Wiley 2015, 89–104. 107 Vgl. Bennington, Metaphor and Analogy, 89–104. 108 Derrida, White Mythology, 41. 109 Aristoteles, Rhetorik 1412a2–8 (Übers. mod.). Derrida erwähnt diesen Sachverhalt nicht, ohne zumindest in einer Fußnote an den Disput um den Vorrang der Philosophie vor der Dichtung zu erinnern; und er beschreibt diesen Sachverhalt nicht, ohne mit seiner Aristoteles-Lesart etwas ketzerisch gegen den ‚Philosophenkönig‘ die herausragende Stellung, die der Dichter gegenüber dem Philosophen einnimmt, zu betonen: „The poet […] is the man of metaphor. While the philosopher is concerned only with the truth of what is meant – his concerns indeed
III. Metapher und Metaphysik
Nach diesem längeren Umweg über den Begriff der Metapher begegnen wir nun endlich wieder der uns bekannten Problematik von dynamis und energeia. Wie es sich jetzt darstellt, ist jede Metapher und vor allem ihr Gebrauch zunächst ein Vermögen, Ähnlichkeiten (mimesis) qua Übertragung (metaphora) herzustellen, wodurch sich die Relata im Verhältnis der Übertragung verwirklichen (energeia), was gemäß der aristotelischen Philosophie gleichbedeutend damit ist, in Bewegung (kinesis) zu geraten. In diesem mimetisch generierten, verwirklichenden Akt kommt es dabei zu einer Verdoppelung des metaphorischen Verhältnisses. Bevor wir uns einmal mehr diesem merkwürdigen vervielfältigenden Moment widmen, sollten wir allerdings fragen, welche Funktion die Metapher (und damit die Analogie als eine mögliche Metapher) innerhalb der Problematik des Umschlags von dynamis zur energeia denn nun eigentlich einnimmt? Wenn die Metapher das aktive Ins-Bild-Setzen verborgener Ähnlichkeiten ist, dann wäre sie – um es in der uns bereits bekannten Terminologie zu formulieren – mit der erscheinenden und scheinbaren Verwirklichung potentieller Verhältnisse gleichzusetzen: Thus metaphor puts before our eyes with vivacity what simile reconstructs indirectly and more cumbersomely. Good metaphor, for Aristotle, has the virtues of putting something before our eyes, making a picture, having a lively effect; and these virtues are regularly associated with the notion of energeia.110
Konzentrieren wir uns auf den Begriff der energeia.111 Dass es einen Zusammenhang zwischen energeia und dem eigentlichen Instituieren begrifflicher Konstellationen gibt, haben wir bereits gesehen. Allerdings handelt es sich bei der in der Metapher dargestellten Bewegung bzw. Tätigkeit bloß um ein mimetisch erzeugtes Bild der Wirklichkeit, durch welches sich die Lücke zwischen dem begrifflich Dargestellten und der ‚Sache selbst‘ zu einer weiteren Lücke zwischen metaphorisch Dargestelltem, Begriff und ‚Sache selbst‘ vervielfältigt und sich damit take him beyond signs and names; and while the sophist manipulates empty signs and derives his ef fects from the contingency of signifiers […] – the poet on the other hand makes play of the multiplicity of things signified in order to come back again to an identity of meaning“ (Derrida, White Mythology, 49, FN 43). Der direkte Seitenhieb gegen Platon und damit gegen das Primat der Philosophie ist mehr als of fensichtlich. 110 Derrida, White Mythology, 39. 111 Obwohl es eines der zentralen Motive ist, überlesen wir an dieser Stelle Derridas Anspielungen auf die Ethik, die sein Verweis auf das Gute und auf die Eigenschaf ten bzw. Tugenden (aretē, virtus) impliziert. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein weiteres wichtiges Detail dieser ethischen Seite der Derrida’schen Dekonstruktion des aristotelischen Metaphern- bzw. Analogiebegrif fs der Wortspielerei mit den Begrif fen des Angemessenen – engl.: proper, appropriate; franz.: approprié; man denke hier auch an appropriation, Enteignung –, des Eigentums – engl.: property; franz.: propriété – und an Sauberkeit bzw. Reinheit – franz.: propreté – bzw. das Adjektiv sauber, rein – franz.: propre – entspringt, und damit an sämtliche politische Implikationen erinnert, die dem Gestus des Erhellens und des Hinausführens aus der Dunkelheit zugrunde liegen.
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nicht minder vielfältig aporetisch nach innen als expressiv nach außen wendet.112 Anstelle diesen Gedanken nun weiterzuführen, plädiert Derrida in seinem Text dafür, diese Lücke nicht weiter zu hinterfragen: „Let us leave open the question of this energy-carrying absence, this mysterious break, that is, this gap which creates stories and scenes“113 – „energy-carrying absence“: ein treffenderes Bild der dynamis könnte an dieser Stelle gar nicht gezeichnet werden. Anstatt, wie angekündigt, den Gedanken tatsächlich offen zu lassen, überträgt Derrida die Frage einfach in eine andere Terminologie und rückt so erst recht (vielleicht ungewollt, vielleicht aber auch gewollt, wir wissen es nicht, denn der Begriff wird in seinem Text nicht erwähnt, er existiert dort nur als Leerstelle) jenes lückenhafte Moment in den Fokus des Geschehens. Es mag nicht verwundern, wenn uns an dieser Stelle die geometrische Figur der Ellipse (ἔλλειψις; Mangel) wiederbegegnet und wir auf diesem Weg zur Metaphorik der Sonne zurückkehren, um die in elliptischen Bahnen die Erde ihre Kreise zieht. Wenn es sich nun, wie oben gezeigt wurde, bei der Sonne tatsächlich um die Ursprungsanalogie handelt, dann haben wir es nun mit einer qua mimetischem Vermögen zum ‚elliptischen Syllogismus‘, qua ‚mimetischer Ellipse‘ generierter Verdoppelung der elliptischen Bewegung zu tun, denn in der Mimesis findet eine Verdoppelung der physis statt und die Metapher ist mit der Möglichkeit der Mimesis gleichzusetzen:114
112 Eine faszinierende Deutung des Verhältnisses zwischen dem Bild bzw. Abbild der ‚Sache selbst‘ und der Sprache findet sich in Giorgio Agambens frühem, Derrida gewidmeten Essay La cosa stessa (dt. Die Sache selbst) von 1984. In diesem führt er die Problematiken jenes Verhältnisses genealogisch auf Platon bzw. eigentlich auf die falsche Übersetzung eines Wortes aus dem 7. Platonischen Brief zurück. In deutlicher Anlehnung an Heidegger schreibt Agamben, dass „die Sache selbst, obwohl sie die Sprache in gewisser Weise transzendiert, nur in Sprache und durch Sprache möglich ist, dass also die Sprache eine Sache der Sprache ist“ (Agamben, Sache, 15). Dabei sei die ‚Sache selbst‘ im eigentlichen Sinne nicht einfach der Sprache „unter-stellt [sup-pone]“ (Agamben, Sache, 18), sondern verhält sich paradoxerweise buchstäblich selbst-referentiell gegenüber dem sie erst Hervorbringenden: „Die Sprache unter-stellt [sup-pone] und verbirgt das, was sie ans Licht bringt, im selben Akt, in dem sie es ans Licht bringt“ (Agamben, Sache, 18). In dieser paradoxen Bewegung verwirkt die ‚Sache selbst‘ ihr eigenstes Merkmal, nämlich eine Sache zu sein. Agamben kommt daher zu einer Art heideggerisierten neoplatonischen Konklusion: „Eine solche Sache, die ohne Bezug zur Sprache wäre, ein solches Nichtsprachliches können wir in Wahrheit nur in der Sprache denken, und zwar durch die Idee einer Sprache, die keinen Bezug zur Sache hat. […] Die Sache selbst ist keine Sache – sie ist Sagbarkeit, die Of fenheit selbst, um die es in der Sprache geht, die die Sprache selbst ist und die wir in der Sprache ständig unterstellen und vergessen, vielleicht weil sie selbst in ihrem Innersten ihre eigene Vergessenheit und Selbstaufgabe ist“, in: Agamben, Die Macht des Denkens, übers. v. Francesca Raimondi, Frankfurt: S. Fischer 2013, 9–26, hier: 20–21. 113 Derrida, White Mythology, 40. 114 Vgl. Derrida, White Mythology, 40–42.
III. Metapher und Metaphysik If every metaphor is a simile, or an elliptical analogy, we should now be dealing with a metaphor par excellence, a metaphorical redoubling, the ellipse of an ellipse. […] The referent is the origin, the unique, the irreplaceable […]. There is only one sun in the system. The proper name is in this case the first mover of metaphor, itself non-metaphorical, the father of all figures of speech. Everything turns on it, everything turns to it.115
Im Kosmos der Metaphern wird die Sonne also zum unbewegten Beweger, zur reinen Form oder reine energeia, welche die ursprüngliche Bewegung der Metapher anstößt. Sollte es gar tatsächlich so sein, dass sich die Analogie als beste Form der Metapher auf die Seite der Verwirklichung, der Tätigkeit, der reinen Aktualität schlägt? In anderen Worten: Deckt sie sich mit dem mittelalterlichen christlich-theologischen Weltverständnis und damit mit der Ausrichtung auf das Eine hin? Ziehen wir das oben Ausgeführte in Betracht, erhellt sich, dass die Sache so einfach nicht ist, denn wie gezeigt ist die Metapher selbst, und damit auch die gesamte heliotropische Tradition, immanent aporetisch und kann niemals völlig ein-deutig, und das heißt eben auch: niemals vollständig auf ein Phänomen (die Sonne) zurückgeführt werden. Die Metapher nährt sich vielmehr aus ihren Aporien, die sie elliptisch an sich bindet und die sie von der physis der ‚Sache selbst‘ und ihrer mimetischen Darstellung differenziert, indem sie den nie glückenden Versuch der vollständigen Überlagerung unternimmt. Aus jener doppelt-elliptischen Wendung der Sonne, deren Grund (archē) demzufolge in der differenzierenden Überlappung der ihr eigenen aporetischen Bewegung liegt, entspringt ihre eigentliche Kraft (dynamis) – diese besteht aber weniger in einer Entäußerung als vielmehr in einem widerständigen Zurückhalten. Deshalb fügt sich die Eklipse (ἔκλειψις: Finsternis, Ausbleiben) in dieses Bild hervorragend ein. Metaphern gibt es daher immer nur im Plural, denn sie sind auf kein System von Begriffen beschränkbar und entrinnen doch gleichzeitig nicht den vorgegebenen Begriffssystemen. Aber sie entsetzen sich von innen und generieren in diesem auto-destruktiven Akt einen Überschuss – ein Surplus, einen Mehrwert –, der, wie bereits gezeigt, immer die Gefahr eines vollständigen Verlusts der ‚Sache selbst‘ birgt.116 Damit bestätigt sich die intrinsische Verwandtschaft zwischen der Verwendung von Metaphern in der Metaphysik und der Aufgabe der Philosophie überhaupt, weshalb Derrida schreibt: „This self-destruction of metaphor is […] deceptively similar to the philosophical form”,117 um ein paar Zeilen später den autodestruktiven Charakter der Metapher auf die Philosophie selbst zu übertragen: „Metaphor, then, always has its own death within it. And its death, no doubt, is
115 Derrida, White Mythology, 44. 116 Derrida, Vgl. White Mythology, 71. Vgl. auch Bennington, Metaphor and Analogy. 117 Derrida, White Mythology, 73.
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also the death of philosophy“.118 Aber welcher Philosophie?, sollten wir an dieser Stelle fragen. Lesen wir Metaphern und damit auch die Metaphysik, wie die theologische Tradition, nur auf das Eine hin, dann wäre das ursprüngliche Bedeuten, jenes erste Ins-Verhältnis-Setzen zur Sonne, das im Augenblick seines Instituierens bereits droht vergessen zu werden, gleichbedeutend damit, die Philosophie rein nach den Regeln der Ökonomie zu verstehen, die mit ihrem eigenen Verlust rechnet und Genesis und Geltung ihrer Begriffe als kalkuliertes Verlustgeschäft betreibt: And does not the metaphysician systematically prefer such loss – which is to say such unlimited surplus value – in choosing, for example, concepts which are negative in form, ab-solute, in-finite, in-tangible, not-being?119
Demnach hat die Selbstzerstörung der Metaphysik einen unbegrenzten Mehrwert. Die Metaphysik ist genuin metaphorisch: Sie überträgt, überlagert und entsetzt ihre eigens gesetzten Grenzen. Diese Selbstzerstörung ist unumkehrbar, aber sie ist kein fortschreitender Prozess, sondern wird in jedem Augenblick ihres Einsetzens – der ja auch ihrer Erhaltung dient – angestoßen. Wir können der paradoxen Bewegung der Metaphysik nicht entrinnen, wir können aber das Moment der Setzung erkenntniskritisch hinterfragen und die Perspektive justieren, um nicht nur ihre Aussetzung, sondern ebenso jenes kraftvolle Moment der Entsetzung in den Blick zu bekommen. Es ist daher notwendig, von einer Differenz als ursprünglicher Setzung und Prinzip (archē) auszugehen, die zugleich immer schon ihre Entsetzung ist, die damit einen Rest unkalkulierbarer Potentialität (dynamis) zurückhält und so der vollständigen Vereinheitlichung widersteht. Jedes philosophische Fragen muss daher ebenso diesen Raum der unkalkulierbaren Möglichkeiten – und damit auch die Metaphern der Metaphysik – berücksichtigen.120 So erhellt sich schließlich die immanente Verbindung zwischen 118 Derrida, White Mythology, 74. 119 Derrida, White Mythology, 9. 120 Dass die Metaphernsprache nicht mathematisch kalkulierbar ist, verdeutlichte auch Hannah Arendt im Kapitel über „Sprache und Metapher“ in Vom Leben des Geistes. Sie macht dies vor allem an der „Nichtumkehrbarkeit“ der Metaphern fest, wofür sie ein Bild aus Homers Ilias heranzieht, „wo der Dichter die herzzerreißende Wirkung von Angst und Kummer auf die Menschen mit dem gleichzeitigen Angrif f von Winden aus verschiedenen Richtungen auf das Wasser des Meeres vergleicht. Denk Dir diese Stürme, die du so gut kennst, so scheint uns der Dichter zu sagen, und du weißt etwas von Kummer und Angst.“ Diese metaphorische Zuordnung funktioniert allerdings nur in die eine Richtung, denn sowohl Kummer als auch Angst lassen keinen Rückschluss auf das Meer zu. Metaphern sind also, so Arendt, von der mathematischen Symbolik – und dazu zählt auch die von Aristoteles zur Erklärung der Metapher herangezogene Gleichung B:A = D:C – zu trennen; in: Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, hg. v. Mary McCarthy, übers. v. Hermann Vetter, München: Piper 2013, 103–129, hier: 110–111.
III. Metapher und Metaphysik
Metaphern und dem philosophischen Denken der Begriffe, dessen Metaphern sie schließlich sind, wie der Untertitel von Derridas Essay Metaphor in the Text of Philosophy bereits angekündigt hat. Genauso, wie Derrida die Metapher zur ihrer onto-theologischen Wurzel zurückführt und sie von hier aus dekonstruiert, ist dieses Zurückführen ebenso das Heraufholen eines wesentlichen Moments. Es ist das Moment, in dem die Metapher und mit ihr die Differenz zwischen der ‚Sache selbst‘ und dem, was über die Sache gesagt wird, erst zur Darstellung gebracht wird. Vielleicht wäre es keine Übertreibung, wenn wir an dieser Stelle formulieren würden, die Differenz sei der eigentliche Ursprung, der das Spiel der Metaphern – und damit möglicherweise auch das philosophische Fragen – erst ermöglicht. Beziehen wir also die Differenz und das doppelt aporetische Moment der Metapher ein, so ist dem Übergang zu allgemeineren Aussagen über das Verhältnis zwischen Philosophie und jener spezifischen Verwendungsweise von Sprache der Weg geebnet. Dieses Verhältnis selbst noch einmal zu denken und seine Aporien zu lesen, ist Anforderung und Anspruch einer kritischen materialistischen Philosophie der Differenz. Eine solches Lesen wiederum spiegelt das hier behandelte Material: es erfordert, das Verhältnis zwischen dynamis und energeia als Bedingungen der Möglichkeit seiner Unmöglichkeit und der Unmöglichkeit seiner Möglichkeit, es also sowohl in der merkwürdigen Verdoppelung der Aporie – dem an-a-logos – als auch als Bedingungen der Unmöglichkeit seiner Unmöglichkeit zu lesen. Sich auf die Erfahrung dieses doch unorthodoxen Lesens zwischen Metapher und Philosophie überhaupt erst einzulassen, ohne dieses überwinden zu wollen, stellt eine Herausforderung und eine Provokation dar. Literarische und poetische Texte zu lesen kommt dieser Erfahrung vielleicht am nächsten. Wie Derrida in einem Interview ausführt : „This accounts for the philosophical force of these experiences, a force of provocation […], a force which is at least potential, a philosophical dunamis—which can, however, be developed only in response, in the experience of reading.”121 Selbstverständlich ist ein Text – sei dieser nun philosophisch oder literarisch – nicht gleichzusetzen mit dem ontologischen Zustand der Welt und es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die dynamis diesem auf dieselbe Weise inhärent ist wie den materiellen Dingen.122 Es ist jedoch der kritische Gestus jener Erfahrung des Lesens und Fragens, der beiden dekonstruktiven Dynamiken anhaftet, der zentral ist. 121 Jacques Derrida, This Strange Institution Called Literature. An Interview, in: Acts of Literature, hg. v. Derek Attridge, London/New York: Routledge 1992, 33–75, hier: 45–46. In welche Richtung genau Derrida selbst den Begrif f der dynamis liest, geht aus seinen Texten nicht klar hervor und reicht von einer Kritik in der Grammatologie bis zu ihrer Deutung als Kraf t/Gewalt in Force de loi bis hin zu einer Dekonstruktion im Zusammenhang mit dem Konzept der Souveränität in La bête et le souverain. Siehe hierzu: Thomas Clément Mercier, We Have Tasted the Powers of the Age to Come: Thinking the Force of the Event—from Dynamis to Puissance, in: The Oxford Literary Review 40.1 (2018), 78–94. 122 So auch Derrida: “potentiality is not hidden in the text like an intrinsic property” (Derrida, Acts of Literature, 46).
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Auch wenn Derrida nun die dynamis in White Mythology nicht explizit nennt, kann seiner dekonstruktiven Geste doch in großen Teilen gefolgt werden. Im Sinne dieser Geste steht denn auch das unglaublich bildgewaltige Ende seines Aufsatzes: Metaphor, then, always has its own death within it. And this death, no doubt, is also the death of philosophy. But this ‘of’ may be taken in two ways. Sometimes the death of philosophy is the death of a particular philosophical form in which philosophy itself is reflected on summed up and in which philosophy, reaching its fulfilment, comes face to face with itself. But sometimes the death of philosophy is the death of a philosophy which does not see itself die, and never more finds itself. This is a homonymy in which Aristotle descried (in that case beneath the traits of the sophist) the very image of that which repeats and threatens philosophy: these two deaths repeat each other and simulate each other in the heliotrope. […] The heliotrope may always raise itself up. And it may always become a dried flower in a book. There is always, absent from any garden, a dried flower in a book; and because of the repetition in which it is endlessly spoilt, no language can bring within its compass the structure of an anthology. Anthology is powerless before this supplemented code in which the field is crossed, the fences endlessly shifted, the line confused, the circle opened. Unless an anthology were also a lithography. Indeed, the heliotrope is a stone too: a precious stone, greenish and veined with red, a kind of Eastern jasper.123
Der Fundort des Mineralsteins Heliotrop liegt, abgesehen von ein paar Ausnahmen, in der östlichen Hemisphäre unseres Planeten. Seine Mineralstruktur ist radial, wie die der Sonnenstrahlen, oder zumindest so, wie uns die Sonnenstrahlen unter bestimmten Umständen optisch verzerrt erscheinen. Die Sonne selbst jedenfalls geht tatsächlich im Osten auf und unterminiert in jedem Moment ihres Erscheinens, mit jedem Sonnenaufgang den okzidentalen Wahrheitsanspruch. Es kommt eben darauf an, unsere Perspektive auf diese intrinsischen Momente der Differenz zu justieren und sie so mitzulesen, die Sonne, die Steine und jenen Zwischenraum, durch den sie zugleich in einem konstellativen Verhältnis zueinander stehen und der es ihnen erlaubt, sich in sich selbst zu wenden. Die metaphorologische Lektüre der Metaphysik, das wurde mit Derrida gezeigt, justiert also unseren Fokus auf den Bereich der Differenz, der für unsere materialistische Lesart der gesamten metaphysischen Tradition, und damit für jede weitere Philosophie, so zentral ist. Wenn daher die Analogie die herausragende Form der Metapher ist und die Metapher also Teil der Philosophie, dann kommt es zu einer unglaublich kraftvollen Annäherung zwischen der aporetisch-analogisch-metaphorischen Bewegung und dem philosophischen Denken. Dies, so haben wir ebenfalls demonstriert, 123 Derrida, White Mythology, 74.
III. Metapher und Metaphysik
entzieht sich jeder vollständigen Proportionalisierung und Kalkulation. Die Sprache der Metaphysik ist eine Sprache voller Analogien, sie ist eine metaphorische Sprache; ja, sie ist, wie Derrida vielleicht im Anschluss an Blumenberg schreibt, eine Metaphorologie.124 Erinnern wir an Heideggers emphatische Aussage im Satz vom Grund, den Derrida in einer Fußnote zitiert: „Das Metaphorische existiert nur innerhalb der Metaphysik“,125 erhellt sich, dass Aristoteles’ Metapherntheorie nur im Kontext seiner Metaphysik und seine Metaphysik nur unter Einbezug der metaphorischen Sprache zu verstehen ist. Allerdings ist es nicht so, als würde die Metaphorologie vollständig in der Metaphysik aufgehen oder gar die Philosophie nur dann zur Philosophie werden, wenn sie sich einer metaphorischen Sprache bedient – dies wäre schlichtweg falsch.126 Vielmehr können sie wechselseitig niemals in Gänze angeeignet, aber auch niemals vollständig getrennt werden, was das intrinsisch aporetische Verhältnis zwischen den Begriffen auch auf die Ebene der Disziplinen hebt. Daher ging es auch weniger darum, einfach die Metaphern der Philosophie alleine aufzuzeigen – das wäre zu wenig, um die Komplexität der doppelt-aporetischen Bewegung der Metaphysik aufzuzeigen; vielmehr sollte analysiert werden, wie die Metaphern als immanent-metaphysische Bewegung 124 In seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie knüpf t Blumenberg eine innere Verbindung zwischen philosophischer Sprache und der Verwendung von Metaphern. Ziel der Blumenberg’schen Metaphorologie ist „an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Untergrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen“. Hierdurch soll ermöglicht werden, so Blumenberg, das „Verhältnis von Phantasie und Logos neu zu durchdenken“, um zu „absolute[n] Metaphern“ zu gelangen, welche „nicht in Begrifflichkeiten aufgelöst werden“ können und die damit „Geschichte in einem radikaleren Sinn als Begrif fe“ seien; in Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 11–13. In ihren Ausführungen zur Metapher bezieht sich auch Arendt in Vom Leben des Geistes auf Blumenbergs Metaphorologie, allerdings leider ohne dessen so wichtige geschichtliche Einbettung des Metaphernbegrif fs – welche erst den Zugang zu jener „Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen“ (Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 13) öf fnet – zu vollziehen (vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes, 117f.). 125 Heidegger, Satz vom Grund, 72. 126 An anderer Stelle schreibt Derrida hierzu: „Den ‚philosophischen Diskurs‘ in seiner Form, seinen Gestaltungsmodi, seiner Rhetorik, seinen Metaphern, seiner Sprache und seinen Fiktionen zu analysieren, in allem, was der Übersetzung widersteht und so weiter, bedeutet nicht, ihn auf die Literatur zu reduzieren“, in: Jacques Derrida, Gibt es eine philosophische Sprache?, in: ders., Auslassungspunkte, Gespräche, übers. v. Karin Schreiner u. Dirk Weissmann, Wien: Passagen 1998, 264. Für den ewigen Kampf zwischen Literatur und Philosophie bedeutet dies, dass weder die Literatur noch die Philosophie die Rolle einer Metasprache übernehmen können: „Die jeweiligen Schreibweisen von Literatur und Philosophie können nicht in der jeweils anderen ihre restlose Übersetzung oder gar ihre metasprachliche Reformulierung finden. So gewinnen Literatur und Philosophie, indem sie sich dem jeweils anderen zuwenden, je auch eigene Kontur: als Widerständigkeit gegen einander, gegen die Übersetzung in die andere Schreibweise. Und zwar im jeweils inneren Widerstreit mit sich selbst“, fassen Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke in ihrer Einleitung zum Sammelband Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur (München: Fink 2006, 11) es zusammen.
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aus dem Inneren der (natürlichen) Sprache heraus zu lesen sind. Wie Serge Margel in seinem Aufsatz La métaphore. De la langue au discours philosophique schreibt, sei es jener Gebrauch der Metaphern aus dem „Interieur der Sprache“ heraus, der den philosophischen Diskurs grundlegend determiniere.127 Es ist fast so, als hätte Aristoteles selbst jenes aporetische Moment gegenseitiger Unterminierung bei gleichzeitiger Produktion eines vorantreibenden Überschusses vor Augen gehabt, als er in seiner Metaphysik Platon adressierend schreibt: „Wenn man aber sagt, die Ideen seien Urbilder und die Einzeldinge hätten teil an ihnen, so sind das leere Phrasen und nichts als poetische Metaphern“ (Metaph. 991a20). Wenn Aristoteles Platon also vorwirft, seine Ideenlehre sei nichts als ein Akt dichterischer Übertragung – und er meint damit jenen Platon, der bekanntlich in seinem Dialog Ion dem Rhapsoden die Fähigkeit zu philosophisch wahrhaften Aussagen abspricht, denn anstatt auf der Betätigung der Vernunft beruhe seine Dichtung auf einer göttlich empfangenen Kraft (theia de dynamis)128 –, dann 127 Vgl. Margel: „L’usage de la langue naturelle comme langue philosophique détermine la structure même ou l’ordre systématique des concepts du discours philosophique. Et cet usage-là relève du métaphorique, ou d’un mouvement de métaphore, d’un déplacement de sens donc. […] Mais de plus, la métaphore permet de déplacer cet usage de la langue naturelle à l’intérieur même de la langue. Elle déplace ou transpose cet usage général de la langue à l’intérieur des formes particulières de la langue. […] La métaphore agit non seulement sur cet usage, mais par cet usage lui-même“ (Margel, La métaphore, 19). In diesem Zitat zeigt sich sehr schön, wie Sprache und Philosophie und Metapher verschränkt sind, und v. a., wie sehr das Moment der Entsetzung erst aus dieser Konstellation heraus sichtbar wird. Margel schließt seinen Aufsatz dementsprechend mit der Aussage, die Philosophie sei ihrerseits ein ‚Produkt‘ des metaphorischen Sprachgebrauchs: „ce discours [philosophique] serait lui-meme le produit d’un certain usage métaphorique du langage par le langage lui-meme“ (Margel, La métaphore 26). 128 Dass Platon hier den Begrif f der dynamis verwendet, ist selbstverständlich ein Umstand, der sofort ins Auge springt. Allerdings, so muss gleich hinzugefügt werden, hat die dynamis bei Platon noch nicht die Bedeutungsvielfalt, die sie erst durch Aristoteles erhält, und wird hier gemäß der Verwendung in vorphilosophischer Zeit als (äußere) Kraf t verwendet. Vgl. Platon, Ion, in: Werke Bd. I, hg. v. Gunther Eigler, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaf t 2011, 1–39, hier: 533 d 3. Interessanterweise beschreibt Aubenque in Aristoteles und das Problem der Metaphysik – ein Titel der auf Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik anspielt – Aristoteles’ gesamte Metaphysik als Rhapsodie: „Würde man dieser Darstellung entgegenhalten, sie sei zu negativ und trage dem nicht genügend Rechnung, was die Metaphysik an positiven Leistungen enthält, könnte erwidert werden, daß das Positive bei Aristoteles nicht so sehr in seiner angekündigten Absicht liegt als vielmehr im Scheitern seines Vorhabens. Er wollte eine erste Philosophie schaf fen, er hat eine Metaphysik geschrieben. Er wollte ein Theologe sein, und er erschöpf t sich in Beweisen, daß eine Theologie menschlich unmöglich ist. Er wollte mit dem Anfang zusammenfallen und vom Anfang her ausgehen, und er endet niemals mit dem vorläufigen Versuch, sich dem Anfang anzunähern. Er wollte die Einheit des Seienden fassen, d. h. was macht, daß das je und je Seiende ein Seiendes ist, und die Suche nach dieser Einheit ersetzt den unmöglichen anschaulichen Besitz der Einheit selber. Es könnte gezeigt werden, daß manche bekannte Lehren des Aristoteles, wie z. B. die Lehre der Kategorien, aus dem Scheitern seiner eigentlichen Absicht entstanden sind. Er wollte beweisen, daß das Seiende
III. Metapher und Metaphysik
ist dies ebenso Kritik wie Kompliment und enthält eine gewisse Selbstironie, die unmittelbar diese immanenten Aporien ins Zentrum rückt. Über das Zurückführen der Metapher auf ihren heliotropischen Ursprung wurde der Blick auf eine Sprache gerichtet, die es vermag, zu widerstehen, die immer einen Teil vor der Aktualisierung zurückhält, und die aus dem Raum der Möglichkeiten ihre radikale Kraft schöpft.129 Wie auch immer wir die Analogisierung von sprachphilosophischen bzw. sprachtheoretischen Annahmen mit einem begrifflich-metaphysischen Überbau im Einzelnen verstehen, macht dies doch deutlich, dass eine klare Zuordnung zu einer einzigen Disziplin weder möglich noch gewollt ist, da sich die Philosophie ebenso wie ihre Begriffe und Phänomene immer in diesem Resonanzraum des Zwischen bewegen muss. Dies verweist zurück auf den wichtigen Sachverhalt, der hier immer schon vorausgesetzt ist: dass nämlich die Begriffe und die Sachen, die sie bezeichnen, notwendig in einem Verhältnis zueinander stehen. Das aber ist bereits eine philosophische These, es ist die philosophische Urthese, nach der es etwas zwischen den Begriffen und den Sachen geben muss, das den Raum für ein mögliches Ins-Verhältnis-Setzen öffnet, der also letztlich das eigentliche Spiel der Metaphern erst eröffnet und so die onto-theologische Ökonomie in und gegen sich selbst wendet. Hierfür bedarf es einer gewissen Verschiebung, Verzerrung oder Entsetzung, die jedoch nicht erst erfunden werden muss, sondern der Sache der Verhältnishaftigkeit selbst immanent zugrunde liegt. Und in der Tat war zumindest den antiken Philosoeins ist, und er entdeckt, daß es mehrere Bedeutungen hat, die nicht auf die Einheit einer Gattung reduziert werden können. […] Aristoteles wollte ohne Zweifel ein System schaf fen und hat uns eine ‚Rhapsodie‘ hinterlassen“ (Aubenque, Aristoteles und das Problem der Metaphysik, 332–333). Dies bestätigt die Analyse dieses Kapitels, dass nämlich die aporetische und metaphorische Bewegung des Denkens selbst grundlegender Bestandteil der Metaphysik und ihrer non-systematischen Struktur ist. Wenn die Philosophie in diesem Sinne als Rhapsodie zu verstehen wäre, so träfe das den Kern der Sache, denn schließlich sind es die Dichter, die, wie Arendt in Über die Revolution schreibt, „über den Vorrat des menschlichen Gedächtnisses Wacht halten“. Hier bezieht sie sich auf den von ihr an zentralen Stellen zitierten René Char, den „Dichter aus der Résistance“, der in einem seiner Aphorismen schrieb „Unserer Erbschaf t ist keinerlei Testament vorausgegangen“, in: René Char, Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis (1943–1944)/Feuillarts d’ hypnos, hg. v. Horst Wernicke, übers. v. Paul Celan, Frankfurt: FTB 1999, hier: 31. Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution, München: Piper 2014, hier: 360. Als Motto vorangestellt hat es Arendt nicht nur einem Kapitel in ihrem Revolutionsbuch (vgl. Arendt, Revolution, 277), sondern damit leitet sie ebenso ihre Essaysammlung zur politischen Theorie ein (Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunf t. Übungen im politischen Denken I, München: Piper 2000, hier: 7). 129 Zur metaphysisch-metaphorologischen Bewegung, die sich selbst immer voraus ist, vgl. auch Bennington: „Nor does this amount to a recommendation on Derrida’s part of some deliberately chosen practice of uncontrolled figural drif t […], still less to a proposal to read philosophy as through it were poetry, but is an attempt to suggest that, ‚before‘ metaphysical opposition set in, an ‚earlier‘ movement can be thought, and shown to be at (variably subversive) work in the very texts that are attempting most strenuously to control it, here exemplarily in Aristotle” (Bennington, Metaphor and Analogy, 89–104).
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phen ein Denken in totalitären Systemen, wie wir es später kennenlernen sollten, völlig fremd. Aristoteles’ Metaphysik im Besonderen ist dafür exemplarisch, denn sie ist weder geschlossen noch ein methodisch oder inhaltlich kohärenter Raum, sondern vielmehr unstatisch und flexibel: Ihre Aussagen fallen momenthaft mit ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext zusammen, wie wir es anhand der gesamten Tradition gesehen haben. Ihre Non-Systematik oder Inkonsistenz ist der eigentliche Gewinn, ihr eigenes kraftvolles Potential. Dass die Philosophie ohne die Öffnung hin zur Differenz und, ohne damit ebenso eine Lithographie zu sein, kraftlos sei, hatte bereits Derrida in den Schlussworten seines Textes geschrieben: „Anthology is powerless before this supplemented code in which the field is crossed, the fences endlessly shifted, the line confused, the circle opened. Unless an anthology were also a lithography.“130 Von nun an können wir davon ausgehen, dass dies richtig ist, denn nicht nur kann jene Justierung des Denkens nicht allein aus einer philosophischen Blumenlese bestehen, und die getrockneten Blumen in den Büchern müssen ebenso wie die Inschriften auf den Steinen auch nicht nur aufgespürt werden, sondern sie müssen in ihrer momentanen Konstellation, wie sie sich in der Übertragung (metaphora) von einer Blume auf die andere zu erkennen geben, gelesen und damit entsetzt werden. Für diese kritische, radikale Wendung im philosophischen Denken, welche ein kraftvolles Potential auch für den historisch-politischen Raum in sich birgt, stellt uns Aristoteles eine Sprache bereit, die in der Geschichte der Philosophie sonst so nirgendwo zu finden ist.
130 Derrida, White Mythology, 74.
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IV. Umweg als Methode des Erkennens (Überlieferung II) In all diesen Punkten ist nicht nur die Auffindung der Wahrheit, sondern selbst eine gute Fragestellung für das Denken nicht leicht. Aristoteles, Metaphysik, 995b15–17 Methode ist Umweg Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels
Dass es sich bei den aristotelischen Schriften und deren Exegese neben der Beschäftigung mit philosophischen Problemata auch um eine besondere Verwendungsweise von Sprache handelt, scheint nun deutlich zu sein und wurde von Martin Heidegger im übertragenen Sinne dem gesamten Sprachraum antiker Philosophie attestiert. So betont er in seinem Vortrag Was ist das – die Philosophie?, den er 1955 auf Einladung Jacques Lacans in Cérisy-la-Salle hielt, die außergewöhnliche Stellung der griechischen Sprache, an der sich das „ursprünglich griechische Wesen der Philosophie“ zeige, um im selben Zug jene genuin griechische Beschaffenheit der Philosophie mit dem „innersten Geschichtsgang“131 Europas gleichzusetzen. Trotz aller nostalgischen Verklärung der hellenischen Sprache verweist Heidegger einige Passagen später auf die für uns wichtige spezifische Weise, in der wir die Überlieferung antiker Schriften im Verhältnis zu Sprache und Philosophie verstehen können und ohne die für Heidegger das Wesen der Philosophie nicht zu verstehen sei. Der griechische Begriff der philosophía bezeichne einen Weg, der anders als das, was gemeinhin Wissenschaft genannt wird, sowohl seinen Gegenstand als auch seine Voraussetzungen selbst umfasse.132 Mit der Anzeige dieses 131 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, in: Identität und Dif ferenz, GA 11, 7–26, hier: 10. In einer Passage formuliert Heidegger gar: „Langsam dämmert nämlich für unsere Besinnung, daß die griechische Sprache keine bloße Sprache ist wie die uns bekannten europäischen Sprachen. Die griechische Sprache ist λόγος“ (Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 13). 132 Deutlich hörbar ist hier das Echo von Heideggers bekanntem und provokativem Ausspruch: „Die Wissenschaf t denkt nicht“ aus seiner Vorlesung von 1951/52 Was heißt Denken?, in: Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, Frankfurt: Klostermann 2002, 9.
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philosophischen Weges antwortet Heidegger auf die rationalistische Tradition im Anschluss an Descartes’ Discours de la méthode, in der die Methode zwar ebenso Weg (Anfang und Ziel) der philosophischen Betätigung ist, den historisierenden Tendenzen in den Geisteswissenschaften jedoch, so Descartes, eine systematische – das bedeutet hier: an den Naturwissenschaften, v. a. an der Mathematik ausgerichtete – Theorie entgegengesetzt werden müsse.133 Ihren Höhepunkt fand die Konfrontation dieser beiden Tendenzen in der Philosophie – dem Annähern an die Naturwissenschaften einerseits und an die Einbettung in die Geschichte andererseits – in der mittlerweile legendären Davoser Disputation von 1929. In dieser kam es zur direkten Konfrontation zwischen Heidegger und Ernst Cassirer, in der ersterer die transzendentale Welt des Marburger Neukantianismus – und damit dessen Versuch, die kantische Philosophie erkenntnistheoretisch gegen den Materialismus in Stellung zu bringen – durch Einführung der „Geschichtlichkeit des Daseins“ als ontologische Kategorie, die auch dann ein Faktum bleibt, wenn sie nicht als solche begriffen wird, aus den Fugen brachte.134 Durch diese Rückkoppelung des Denkens des Seins an das geschichtliche Faktum des Seienden erinnert Heidegger an die immanente Geschichtlichkeit der Philosophie. Sein Versuch einer geschichtlichen Kontextualisierung des Seins nimmt ihren Ausgang in der metaphysischen Urfrage tί τὸ ὂν ᾗ ὄν – Was ist das Seiende als Seiendes? Bekanntlich attestierte Heidegger der gesamten Philosophiegeschichte, eben diese Frage vergessen zu haben. Dieser sogenannten Seinsvergessenheit könne nur entgegengewirkt werden, so Heidegger, wenn endlich jene binäre Codierung zwischen Sein und Seiendem – die „ontisch-ontologische Differenz“ – wieder mitgedacht werde. In einer Art grammatikalischen Umwendung des altgriechischen Begriffs Sein/Seiendes (ὂν) reformuliert er die metaphysische Urfrage nach dem Seienden in seine Kardinalfrage in Sein und Zeit (1927): „Was ist der Sinn von Sein?“ Damit wagte Heidegger den hermeneutischphänomenologischen Versuch, sich dem eigentlichen Wesen des Seins verstehend anzunähern. Für unser Anliegen, den Umschlag von der dynamis zur energeia auf 133 Vgl. René Descartes, Discours sur la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences/Von der Methode des richtigen Vernunf tgebrauchs und der wissenschaf tlichen Forschung, übers. u. hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg: Felix Meiner 1997. 134 Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 2001, § 6 [auch: GA 2]. Eine übersichtliche Rekonstruktion der Debatte findet sich in Peter E. Gordons Buch Rosenzweig and Heidegger: Between Judaism and German Philosophy, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2003, insb. 277f f. Wie eng Geschichte und Philosophie miteinander zusammenhängen, zeigt Heidegger bereits in dem sogenannten Natorp-Bericht von 1922. Hierbei handelt es sich um ein überaus wichtiges Dokument für die Heidegger-Forschung, denn in diesem sind bereits einige der grundlegenden Gedanken aus Sein und Zeit enthalten. Heidegger verfasste den Bericht auf Drängen Paul Natorps, der sich wegen der Nachfolgebesetzung der Lehrstühle von Herman Nohl in Göttingen sowie Nicolai Hartmann in Marburg an Husserl wandte, um sich zu erkundigen, wie denn der Stand von Heideggers Aristoteles-Forschung sei. Hieraus entstand die Studie Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles (Anzeige einer hermeneutischen Situation), mit einem Nachwort hg. v. Hans-Ulrich Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch 6/1989, 237–274.
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der Grundlage einer materialistischen Philosophie der Differenz zu denken, ist sein methodischer Zugriff, nach dem jede systematische Herleitung philosophischer Begriffe nur auf der Grundlage ihrer Differenzen und auf Grundlage der Zeitlichkeit des Daseins erschlossen werden kann, zentral. So wird – ausgehend von einer erkenntnistheoretischen und ontologischen beziehungsweise metaphysischen Perspektive – der geschichtliche, und damit der politische Raum durch eine bestimmte Lesart der philosophischen Traditionen erst eröffnet. Anders als in den sogenannten positiven Wissenschaften, in denen sich das Erkenntnisinteresse einzig auf die zu betrachtenden Gegenstände richtet, fällt bei Heidegger somit jedes Erkennen der Sachen unmittelbar mit dem Beziehungsgeflecht der Sachen in ihrem bestimmten geschichtlichen Kontext zusammen, und folglich mit der Möglichkeit ihrer begrifflich tradierten Erfassung, und das heißt letztlich mit der „Entdeckung […] und Erschließung“135 ihrer Überlieferung. Jede philosophische Frage wird dadurch im eigentlichen Sinne zu einer geschichtlichen Frage: „Die Frage selbst“, so folgert Heidegger in Was ist das – die Philosophie? daher, „ist ein Weg“.136 Für das Fragen selbst bedeutet dies, dass es von dieser Geschichtlichkeit herkommend gedacht werden muss.137 In Sein und Zeit formuliert Heidegger daher folgende Aufgabe: Die Ausarbeitung der Seinsfrage muß so aus dem eigensten Seinssinn des Fragens selbst als eines geschichtlichen die Anweisung vernehmen, seiner eigenen Geschichte nachzufragen, d. h. historisch zu werden, um sich in der positiven Aneignung der Vergangenheit in den vollen Besitz der eigensten Fragemöglichkeiten zu bringen. Die Frage nach dem Sinn des Seins ist gemäß der ihr zugehörigen Vollzugsart, d. h. als vorgängige Explikation des Daseins in seiner Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, von ihr selbst dazu gebracht, sich als historische zu verstehen.138
135 Heidegger, Sein und Zeit, 20. 136 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 12. 137 In strengster Opposition zu Heideggers Geschichtsverständnis stellte sich Walter Benjamin, der in seinem Werk wiederholt gegen Heidegger polemisiert, den er gar „zu zertrümmern“ trachtet, wie er in einem Brief an seinen Freund Gershom Scholem vom 25. April 1930 schrieb (Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, hg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno, Frankfurt: Suhrkamp 1991, 512–514, hier: 513). Mit seiner Passagen-Arbeit legte Benjamin das wohl fruchtbarste Gegenmodell vor. Vgl. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V.1, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt: Suhrkamp 2001. Siehe insbesondere Konvolut N 3, 1. Zum (Nicht-)Verhältnis zwischen Benjamin und Heidegger siehe auch meinen Aufsatz „Wendungen. Zur Destruktion der Destruktion der Philosophie“, in: Jessica Nitsche, Nadine Werner (Hg.), Entwendungen. Walter Benjamin und seine Quellen, München: Fink 2019, 149–168. Die Kritik an Heidegger setzt sich auch bei Adorno fort, der Heidegger einen „Jargon der Eigentlichkeit“ unterstellte. Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt: Suhrkamp 1994. 138 Heidegger, Sein und Zeit, 20–21.
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Diese zunächst einleuchtend klingende Zusammenfassung der Aufgabe von Sein und Zeit ist problematisch, und zwar sowohl in inhaltlicher als auch zum Teil methodischer und vielleicht auch struktureller Hinsicht. Diese Problematik hängt auf das Engste mit der von Heidegger verwendeten ökonomisch-theologischen Terminologie zusammen, damit also, dass hier ‚Anweisungen vernommen‘ und die Vergangenheit ‚angeeignet‘ werden solle. Widerspricht das nicht vielleicht jener Widerständigkeit der Metaphysik, die wir exemplarisch an der Metapher gezeigt haben, oder ist es Bestandteil dieser aporetischen Bewegung? Belassen wir es für den Moment bei dieser Bemerkung. Auch dass Heideggers Verständnis jenes geschichtlichen Raumes überdies politisch äußerst problematisch ist, soll an dieser Stelle nur am Rande erwähnt werden.139 139 Dass die Frage nach dem ‚Wesen‘ der Philosophie und der Geschichtlichkeit des Seins bei Heidegger eine implizit politische Konnotation in der schlimmstmöglichen Form hatte, ist spätestens seit seinem öf fentlichen Ereifern für die nationalsozialistische Ideologie in seiner berüchtigten Freiburger Rektoratsrede von 1933 kein Geheimnis mehr. Dies ist ein Umstand, den wir im wörtlichen und ethischen Sinne ‚mit-denken‘ müssen. Diese Rede, in der sich Heidegger selbst zum „geistigen Führer“ deutschen Denkens stilisierte, bezeugte seine politische Gesinnung und wurde jüngst durch die längst fällige Veröf fentlichung der unter Verschluss gehaltenen Schwarzen Hef te bestätigt. Bestätigt wurde hier abermals der eigentlich of fenkundige Fakt, dass das nationalsozialistische Gedankengut von dem dort propagierten Antisemitismus nicht zu trennen ist, sondern im Gegenteil diesem inhaltlich bzw. ‚wesenhaf t‘ zugrunde liegt. Dass nun auch Heidegger diesem Antijudaismus verhaf tet war, ist zwar abstoßend, liegt aber gewissermaßen in der Natur der Sache. Zu dieser ‚Sache‘ gehört dann auch sein ganzes ‚Gerede‘ von ‚Boden‘, ‚Wurzel‘, ‚Sein‘ und ‚Anwesenheit‘, dem ‚man‘ usf. Ideengeschichtlich betrachtet ist Heideggers Philosophie damit auch – aber ausdrücklich nicht nur – Bestandteil einer Tradition deutschen Denkens und geistiger Mentalität, in dem ein ausgeprägter Antijudaismus – ebenso wie ein Antidemokratismus und Antiliberalismus – nicht bloß plötzlich oder zufällig zutage tritt, sondern ihm strukturell eigen ist. Dabei ist nicht nur an die historisch of fensichtlichen Fälle zu denken, wie Nietzsche in der Philosophie oder Wagner in der Musik, sondern auch an die Sublimen. Es wäre an der Zeit, dieser Paradoxie des ‚deutschen Geistes‘ noch einmal auf den Grund zu gehen. Einen Anfang gemacht hat hiermit Derrida in seiner gründlichen Relektüre von Heideggers Verwendung des Begrif fs ‚Geist‘; vgl. Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt: Suhrkamp 2000. H eideggers jedenfalls, in dessen Schrif ten diese Paradoxie des ‚deutschen Geistes‘ einen ihrer Kulminationspunkte findet – nicht zufällig zeitgleich mit dessen historischer Manifestation –, hüllte sich darüber bis zu seinem Tod in Schweigen. Die Versuchung ist groß, diesen deutschesten aller Denker nun für immer seinem Schweigen zu überantworten, ein Schweigen, von dem noch Paul Celan nach einem Tref fen in Todtnauberg in den 1960er Jahren hoff te, es würde eines Tages durch Heidegger selbst gebrochen werden: „Arnika, Augentrost, der / Trunk aus dem Brunnen mit dem Sternwürfel drauf, / in der / Hütte, / die in das Buch / – wessen Namen nahms auf / vor dem meinen? – / die in dies Buch / geschriebene Zeile von / einer Hof fnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen“ (aus: Paul Celan, Todtnauberg, in: Paul Celan: Lichtzwang, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, hg. v. Barbara Wiedmann, Frankfurt: Suhrkamp 2003, 282–283). Auch wenn sich diese Hof fnung nie erfüllt hat, ist diese Versuchung allerdings unhaltbar, um nicht zu sagen: un-philosophisch, denn sie würde bedeuten, Heideggers fast revolutionäre Geste einer Reformulierung der Philosophie, mit der er so vehement an den Grenzen der angestaubten Akademie gerüttelt
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Heidegger stellt also in Sein und Zeit die Frage: „Was ist der Sinn von Sein?“, wir hingegen fragen hier: „Wie ist der Umschlag von der dynamis zur energeia zu verstehen?“ Beide Fragen verflechten die metaphysische Sphäre mit einem spezifisch geschichtlichen Verständnis von Zeitlichkeit und mit der auf Erkenntnis ausgerichteten philosophischen Befragung eines bestimmten Sachverhaltes. Diese doppelte Verflechtung findet ihren Widerhall unmittelbar in der immanentdynamischen Aporizität des Denkens. Wir erinnern uns, dass die Schriften des Aristoteles und insbesondere seine Metaphysik durch ihre aporetische Grundstruktur gekennzeichnet sind, dass dieser Weg, auf dem die Philosophie an ihre immanente Geschichtsgebundenheit erinnert wird, im eigentlichen Sinne also ein „Mangel an Weg“,140 ein Un-Weg, ist und dass jede Überlieferung der aristotelischen Metaphysik die Aporien mitbedenken muss. Bei Aubenque, der die Aporien der Metaphysik als deren grundlegende Bewegung erkannt hat, ist die Philosophie daher ebenso nicht von der Geschichte ablösbar, weshalb er schreibt, dass jeder Einwand gegen die Überlieferung dies mitbedenken muss: „Nos objections sont de deux ordres: historique et philosophique.“ Die geschichtliche Seite findet Aubenque dann sogleich im aristotelischen Textkorpus selbst angelegt: „L’objection historique consiste essentiellement dans la nature même des écrits d’Aristote“.141 Weil jede Auslegung der Metaphysik sowohl an ihre immanenten Aporien als auch an die Aporien ihrer Überlieferung gebunden ist, entpuppt sich jeder Versuch, eine narrative Gesamtheit, Einheit bzw. Systematik zu erzeugen, als unmöglich. Diese Unmöglichkeit einer begrifflich tradierten Gesamterfassung ist daher – ebenso wie die an Heidegger gezeigte Möglichkeit der begrifflich tradierten Erschließung – eines der hier vorausgesetzten Axiome. Gleichzeitig ist sie die einzige Möglichkeit, überhaupt den Zugang hat, wegzuwischen. Nicht nur Heideggers eigene Philosophie, und damit auch sein Gestus des Denkens, stünde damit am Abgrund, sondern ebenso eine ganze Reihe von Philosophien des 20. Jahrhunderts, wie die von Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre, Jacques Derrida, um nur einige Namen zu nennen. Auch wenn der Hüttenzauber nun einen nicht geringen Teil seiner Magie eingebüßt hat, müssen wir gerade heute umso dringlicher eine Auseinandersetzung mit diesem philosophischen und politischen Heidegger vorantreiben. Wir müssen daher seine Terminologie, mitsamt ihren Paradoxien, ein weiteres Mal aushalten, denn es sind ja gerade die Paradoxien (oder Aporien), welche die auto-dekonstruktiven Möglichkeiten einer Umwendung bereits in sich bergen. Vgl. Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, in: Martin Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, Frankfurt: Klostermann 2000, 107–117. Zu Celan vgl. Werner Hamacher, Wasen. Um Celans Todtnauberg, in: Norbert Haas, Vreni Haas, Hansjörg Quaderer (Hg.): Quaderno III: Paul Celan in Vaduz, Liechtenstein: Eupalinos 2012, 35–84. Die sogenannte Heidegger-Debatte ist alles andere als neu und hatte in Frankreich (nicht in Deutschland) ihre fruchtbarsten Momente. Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, La poésie comme expérience, Paris: Christian Bourgois Editeur 1997 und Lacoue-Labarthe, La fiction du politique: Heidegger, l’art et la politique, Paris: Christian Bourgois 1988 sowie Pierre Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt: Syndikat 1976. 140 Aubenque, Aristoteles und das Problem der Metaphysik, 324. 141 Aubenque, Le problème de l’être chez l’Aristote, 9.
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zur Metaphysik für das Denken zu öffnen; dies wiederum bedeutet, dass jedes Analysieren und Dekonstruieren des Aporetischen (der Metaphysik, der Sachen) selbst bereits auf einer Aporie (des Denkens) beruht. Dies erinnert an den zu Beginn bereits mehrfach zitierten Satz aus Aristoteles’ Metaphysik: „Die Aporie aber im Denken zeigt den Knoten in der Sache an; denn im Fragen gleicht man den Gebundenen, denen es nach beiden Seiten unmöglich ist, vorwärts zu schreiten (Metaph. 995a24–33). Wie wir gesehen haben, wurde der Versuch, die Metaphysik zu systematisieren und zu vereinheitlichen, in der Geschichte der Philosophie vor allem von den mittelalterlichen Kommentatoren und ihrer theologischen Lesart initiiert. Deren besonderes Anliegen bestand gerade darin, die durch die innere Aporizität der Metaphysik erzeugten Risse und Leerstellen – ihr Schweigen, wie Aubenque schreibt, – zu überschreiben und an die Stelle jenes Schweigens ihre jeweilige Lesart zu setzen, anstatt jene Aporizität und damit auch das Schweigen selbst in den Mittelpunkt der Lektüre zu rücken und die Metaphysik so von innen aus ihren Differenzen heraus zu entsetzen. Dieser Duktus der mittelalterlichen Kommentatoren konnte anhand von Pico della Mirandolas Diktum: „sine Thoma, Aristotelis mutus esset“ – „ohne Thomas, würde Aristoteles schweigen“ illustriert werden. Jede Beschäftigung mit der Metaphysik, so formuliert Aubenque in Aristoteles und das Problem der Metaphysik, setze daher die erkenntniskritische Frage nach den Brüchen in der Überlieferung voraus: „So bleibt die Vorfrage jeder Deutung der aristotelischen Metaphysik: was schweigt eigentlich, und was schweigt immer fort in der unvollendeten Untersuchung des Aristoteles über das Seiende? Schweigt Aristoteles oder das Seiende?“142 (Und wie können, müssen, sollen wir das Schweigen Heideggers verstehen?) Wenn die Aporien der Metaphysik immer vorausgesetzt und mitgelesen werden müssen, wenn sie jeder Auseinandersetzung voraus sind und aufgrund der Unmöglichkeit, sie zu überwinden, gleichzeitig immer auch schon jeder Auseinandersetzung bevorstehen, wenn es des Weiteren richtig ist, dass das Denken der Aporien unmittelbar in der Bewegung der Metaphysik widerhallt – und zwar als die immanente Dynamis ihrer Differenzen –, dann stellt sich für die Philosophie die Frage, wie wir Zugang zu diesen Aporien, und damit zur Metaphysik, und damit zu ihrer Überlieferung, und damit letztlich zum eigentlichen Problem von dynamis und energeia finden. Um sich nun den erkenntnistheoretischen Implikationen dieser dekonstruktiven Lesart der Metaphysik zu nähern, wäre es unzureichend, zu fragen, was in den metaphysischen Texten steht; überhaupt scheint die Was-Frage – was also die dynamis oder was der Umschlag von dynamis zur energeia sei – nur einen Aspekt unseres Untersuchungsgegenstandes abzudecken: denjenigen nämlich, der auf die Suche nach dem ontologischen Status der Phänomene abzielt, der also nach
142 Aubenque, Aristoteles und das Problem der Metaphysik, 325.
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dem ti esti – Was ist? – fragt.143 Des Weiteren aber ist die Frage, wie wir den aristotelischen Text und seine Überlieferung lesen – wie wir also den Umschlag von der dynamis zur energeia verstehen sollen – mindestens ebenso wichtig, denn durch sie wird das Panorama der eigentlich bloß onto-theologischen Auslegung jener antiken Begriffe um das wichtige erkenntnistheoretische Moment der differenziellen Kontraktion eben jener Begriffe sowie deren Überlieferung erweitert – also jenes kraftvollen Moments der In-Wendung, der Reduktion und Absorption, das gleichzeitig nach Expansion strebt. Erst durch die Erweiterung des Fragebereichs also ist es möglich, die Aporien der Metaphysik nicht mehr bloß als zu überwindende Hürde, sondern als deren immanentes, dynamisches Agens zu lesen. Dies haben wir exemplarisch an der Analogie und an der Metapher demonstriert. „Methode ist Umweg“, schreibt Walter Benjamin in der Erkenntniskritischen Vorrede seines Trauerspiel-Buches144 – ganz in diesem Sinne ist der Bogen, den wir bis hierhin gespannt haben, daher zwar ebenso Umweg, jedoch ist es einer, welcher der methodischen Notwendigkeit geschuldet ist, der erkenntniskritischen Beschaffenheit dieser gesamten Problematik von der Materie über die Aporie, von der Analogie über die Metaphorik der Metaphysik und ihrer Überlieferung gerecht zu werden. Diese Notwendigkeit begründet sich gewissermaßen aus der Sache selbst heraus, denn das philosophische Denken des Umschlags von dynamis zur energeia ist mit jedem einzelnen dieser Momente der Metaphysik verschränkt: Sie gehören zum selben Nexus materialistisch-differenziellen Denkens. Es ist dieser Nexus, der – wie spektral auch immer er gestreut sein mag – letztlich sowohl zur Auto-Dekonstruktion seiner Begriffe als auch zur inneren Wendung der
143 Jede Antwort auf die Frage ti esti ist an die Suche nach dem sogenannten ‚Wesenswas‘ – dem to ti ēn einai, dem Was-es-war-zu-sein, – gebunden, so Aristoteles in seiner Metaphysik. Vgl. Metaph. 1020b1f f. Die Suche nach dem, was das ‚Wesen‘ eigentlich ist/war, ist genuin theologisch, wie Arendt in einer Fußnote zu Augustinus in ihrer Vita activa für die Frage nach dem ‚Wesen‘ des Menschen erläutert. Gegen eine essentialistische Vorstellung von Politik gerichtet, erläutert sie: „[S]o kann man in Kürze sagen, daß das ‚Wer bin ich?‘ mit dem: Ein Mensch, was immer das sein mag, zu beantworten ist, während die Frage ‚Was bin ich?‘ überhaupt nur von Gott zu beantworten ist, der den Mensch geschaf fen hat. Mit anderen Worten, die Frage nach dem Wesen des Menschen ist genauso eine theologische Frage wie die Frage nach dem Wesen Gottes; beide können nur im Rahmen einer göttlichen Of fenbarung beantwortet werden“, in: Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München: Piper 2002, 418. 144 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS I.1., hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt: Suhrkamp 2006, 203–430, hier 208. Wie sehr diese Methode das ständige Iterieren von und Häsitieren an oder besser in den zu denkenden Phänomenen mit sich bringt, zeigt folgende Passage deutlich: „Darstellung ist der Inbegrif f ihrer Methode. Methode ist Umweg. Darstellung als Umweg – das ist denn der methodische Charakter des Traktats. Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation.“
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Philosophie selbst führt, das heißt zur kraftvollen Verdichtung des Denkens, und zwar entlang ihres Weges, der somit ein Un- und Umweg ist. Demnach haben wir es mit einer erkenntniskritischen Richtungsanzeige zu tun, die sich bereits aus der metaphysischen Urfrage tί τὸ ὂν ᾗ ὄν – Was ist das Seiende als Seiendes? – ergibt, und vermöge des in der Frage enthaltenen als (qua) immer schon auf die differenzielle Kontraktion der Begriffe hinweist, in deren Zwischenraum sich Sachen, Begriffe und ihre jeweiligen Übertragungen und Überlieferungen wechselseitig verschränken. Die Erweiterung des Fragebereichs führt daher auf einen Weg, der nicht-teleologisch ist und insofern auch nicht in eine prozessualen Reihe oder Folge (Frage → Antwort) aufgelöst werden kann.145 Auch scheint es zwar möglich, eine Art genealogische Äquivalenzkette von der Antike, also von der dynamis und energeia her zu spannen, eine letztliche Rückführung auf einen Ursprung, auf eine singulär gedachte archē ist jedoch aufgrund ihrer intrinsischen Aporizität und Differenzialität wiederum ebenso unmöglich. So müssen wir auch in der Erschließung jener antiken Begriffe diese sowohl aus „ihrem Ursprung hören“,146 wie Heidegger schreibt, als auch die Unmöglichkeit eben jenes Wagnisses mitbedenken. Diese Anzeige einer erkenntniskritischen Richtung im Moment des Zusammenfalls von Un-Weg/Um-weg vermag jede lineare Chronologie zu entsetzen und eröffnet so erst die Möglichkeit eines neuen philosophischen Denkens aus der jeweiligen geschichtlichen Konstellation heraus. Die metaphysische Urfrage birgt somit im Kern nicht nur die epistemologische Frage nach den Möglichkeiten des Erkennens, sondern sie ist vor allem auch eine geschichtliche Frage nach den Bedingungen jenes Erkennens; damit jedoch steht in letzter Instanz nichts Geringeres als die Frage nach den Möglichkeiten der Philosophie selbst zur Disposition. Aristoteles’ Aussage, die Philosophie sei die Suche nach den „ersten Ursachen und Prinzipien“ (Metaph. 981b28-29), denn sie seien es, die das „Seiende des Seienden“ (Metaph. 1003a21) ausmachten, wird von Heidegger daher buchstäblich an der Wurzel gepackt, wenn er fragt, was denn das Sein des Seienden eigentlich mit dem Grund (archē) bzw. den Prinzipien (archē) bzw. den Ursachen (archē) zu tun habe.147 Anstatt eine Antwort auf diese 145 In seinem Aufsatz Fragen und Keine. Philosophie de(kon)struiert Werner Hamacher jene „FrageAntwort-Konvention“ in der Philosophie und zersetzt dabei die Selbstverständlichkeit, mit der gemeinhin von einer unmittelbaren Beziehung zwischen Frage und Antwort ausgegangen wird. Stattdessen solle die Philosophie als „Verhältnislosigkeit“ gedacht werden: „Gibt es keine Philosophie, die das Verhältnislose denken könnte; gibt es keine, die eine Frage ohne das Komplement der Antwort; keine die sie in ihrer bloßen Fraglichkeit denken könnte“; in: Hamacher, Fragen und Keine. Philosophie, in: Norbert Bolz (Hg.): Wer hat Angst vor der Philosophie?, Paderborn: Fink 2012, 195–235, hier: 198–200. 146 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 9. 147 Vgl. Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 16. Bei Aristoteles heißt es: „Nach allem eben Gesagten fällt also die gesuchte Benennung derselben Wissenschaf t [epistēmē] zu: Sei muß nämlich eine auf die ersten Prinzipien und Ursachen [proton archōn kai aitiōn] gehende, theoretische sein“ (Metaph. 982b8–10).
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Frage bereitzustellen, wendet Heidegger interessanterweise die Frage nach dem, was die Philosophie sei, hin zu der Frage, wie sie sei, wenn er schreibt: „Was das ist – die Philosophie, lernen wir nur kennen und wissen, wenn wir erfahren, wie, auf welche Weise die Philosophie ist.“148 Dies ist eine bemerkenswerte Wendung, vor allem vor dem Hintergrund, dass Aristoteles selbst auf die metaphysische Urfrage – Was ist das Seiende des Seienden? – nicht unmittelbar antwortet, sondern diese Frage auf eine Beschreibung dessen, wie das Seiende dargestellt werden kann, umleitet: nämlich ausschließlich als pollachōs legomenon, als vielfältig (aus-)gesagt. Inwiefern die vielfältigen Bedeutungen des Seienden in der Überlieferungsgeschichte als pros-hen-Relation auf ein Seiendes hin fokussiert werden sollten und welche Problematiken dies für die Überlieferung insgesamt mit sich bringt, haben wir bereits erläutert. Ausschlaggebend ist, dass sich hier eine Justierung der Frage selbst anbahnt, in der die Frage, was etwas ist, an die Frage, wie etwas ist, gebunden wird, in der es zu einem Angleichen des genuin philosophischen Anliegens eines auf die Sache selbst zielenden Hinterfragens an dessen Übertragung (metaphora) kommt. Wir sehen, wie die Frage nach dem Ursprung (archē) des Seienden an die Frage nach dem Ursprung der Philosophie und damit an die Frage nach dem Ursprung des Fragens gebunden ist. Diese Diskussion wiederum ist freilich ebenso alt wie ihre Disziplin und fällt – zumindest in der abendländischen Philosophie – unter den Begriff des thaumazein, des Staunens. Wenn Platon im Theaitetos seinen Sokrates den berühmten Satz sagen lässt: „Μάλα γὰρ φιλοσόφου τοῦτο τὸ πάθος, τὸ θαυμάζειν: οὐ γὰρ ἄλλη ἀρχὴ φιλοσοφίας ἢ αὕτη.“149 – „Das Staunen [thaumazein] ist die Leidenschaft [pathos] eines Philosophen, ja es gibt keinen anderen Anfang [archē] der Philosophie als diesen“, wie Heidegger übersetzt,150 dann erklingt ein Echo davon auch bei Aristoteles: „Das Staunen [thaumazein] war den Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens“ (Metaph. 982b11–13; Übers. mod). Heidegger verdeutlicht, dass das Staunen hier nicht bloß im Sinne eines Beginns der philosophischen Bewegung verstanden werden darf, sondern vielmehr als „Dis-position“,151 als Ver-Stellung, also als ein potentieller Zustand des Festlegens, der gleichzeitig ein potentieller Zustand des Entrückens und der Widerständigkeit ist. Dieser doppelt-potentielle Zustand, eine Disposition zu haben und ihrer Verwirklichung gleichzeitig zu widerstehen, gleicht einem inneren Winden und wird deshalb häufig mit einem Schwindel oder Taumel assoziiert, wie es sich auch in Theaitetos’ Ausruf ankündigte, welcher der eben zitierten sokratischen Formel vorausgeht: „Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich staune ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hineinsehe, schwin148 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 25 (herv. N.Sa). 149 Platon, Theaitetos, in: Werke Bd. VI, übers. v. Friedrich Schleiermacher, hg. v. Gunther Eigler, griech. Text v. Auguste Diès, Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaf t 2011, 155 d 2–3. 150 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 22. 151 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 23.
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delt mir ordentlich der Sinn.“152 Das doppelte Moment im Staunen, das die Aufmerksamkeit blitzhaft auf das richtet, was erst noch erkannt werden muss, ist in der Tat – mehr noch als ein einfaches Ver-Stellen, wie Heidegger schreibt – ein Moment der Entsetzung innerhalb des Zwischenraumes der Differenzen, das jede Chronologie, Linearität oder Teleologie unterbricht.153 Jenes aporetische Moment der differenziellen Kontraktion ist ein Moment der Entsetzung und als solches in die Philosophie selbst eingeschrieben, und es ist deswegen in sie eingeschrieben, weil die Aporizität und Differenzialität in die Welt eingeschrieben ist, und das wiederum ist bereits ihre erste Übertragungsleistung (metaphora), ihre Übertragungskraft.154 Insofern zielt die metaphysische Urfrage tί τὸ ὂν ᾗ ὄν – Was ist das Seiende als Seiendes? – gerade nicht auf ein transzendentales Sein, sondern die Frage selbst markiert die In-Wendung des Seienden als aporetische Differenz zu sich selbst und zu anderen. Daher erfolgt die bereits erwähnte Justierung der Frage gemäß der intrinsischen Pluralität ihres Gegenstandes – der zu denkenden Sachen –, denen sie ent-spricht, wie Heidegger im zweifachen Sinne von angemessenem Übereinkommen einerseits und zurückweisendem Entgegnen andererseits formuliert. 152 Platon, Theaitetos, 155 c 7–9. Das paradoxe, taumelnde Moment im Staunen wird von John Llewelyn in seinem Essay On Saying that Philosophy Begins in Thaumazein tref fend illustriert: „‚Wonder‘, thaumazein, is one of those wonderful words that face in opposite directions at one and the same time, like Janus and the androgynous creature of whom Aristophanes tells in the Symposium. It seems possible to use it in opposite senses at once; thaumazein both opens our eyes wide and plunges us into the dark. It is both startled start and flinching in bewilderment. Reflection on it might well have made Theatetus’ head swim as much as do the aporias Socrates leads him into in the pages culminating at 155 in Theatetus’s exclamation: ‚By the gods, Socrates, I am lost in wonder (thaumazō) when I think of all these things. It sometimes makes me quite dizzy‘“, in: Af terall. A Journal of Art, Context, and Enquiry, 4 (2001), 48–57. W ie sehr man die Sache mit dem Staunen falsch verstehen kann, wenn man einen Prozess von Staunen → Aporie → Philosophie (bzw. Denken) annimmt, liest man gleich im ersten Satz von Nicholas Reschers Aufsatz Aporetic Method in Philosophy: „Philosophizing may begin in wonder, as Aristotle said, but it soon runs into puzzlement and perplexity.“ Hier wird suggeriert, dass es eine zeitliche Abfolge gäbe, anstatt jene hier bereits am Material gezeigte Gleichursprünglichkeit dieser Momente zu fokussieren. Vgl. Nicholas Rescher, Aporetic Method in Philosophy, in: The Review of Metaphysics 41 (1987), 283–297, hier: 283. 153 Ähnlich beschreibt auch Aubenque diese Absorption der chronologischen Zeit, wenn er in seinem Vortrag Sur la notion aristotélicienne d’aporie schreibt: „Mais l’aei aporoumenon (éternellement aporétique), dont la formule ne se rapporte ni au futur ni au passé, mais englobe l’un et l’autre à la fois, se comprend, nous semble-t-il, dans le cadre d’une conception cyclique du temps“ (Aubenque, Sur la notion aristotélicienne d’aporie, 16). Über die antike Kosmologie beschreibt auch Aubenque hier eine nicht-linear gedachte Zeitvorstellung, bei der er of fenbar eine Art nietzscheanischen Zyklus unendlicher Wiederholung bzw. ewiger Wiederkunf t vor Augen hatte. Wie auch diese Vorstellung die Illusion einer kontinuierlichen – und eben nicht dif ferenziellen und bruchhaf ten – Bewegung evoziert, hat Walter Benjamin im erkenntnistheoretischen Konvolut N seiner Passagen-Arbeit ausgeführt. Vgl. Benjamin, Passagen-Werk, N 9,5, 591. 154 Zum Staunen als initiierendes Moment der Philosophie siehe auch Christoph Menke, Zwischen Literatur und Dialektik, in: Joachim Schulte/ Uwe Justus Wenzel (Hg.), Was ist ein ‚philosophisches‘ Problem?, Frankfurt: FTV, 2001, 114-133.
IV. Umweg als Methode des Erkennens (Überlieferung II)
Aus dem, was wir bisher analysiert haben, ergibt sich, dass die Justierung dieses Denkens weder bedeutet, eine richtige Antwort zu antizipieren, noch sich auf sie linear-teleologisch zuzubewegen, sondern dieses Richtigstellen ist vielmehr die Entsetzung der Frage – und damit der metaphysischen Begriffe und ihrer Überlieferung – aus ihrer geschichtlichen Konstellation heraus.155 Die Aufgabe einer materialistischen Philosophie der Differenz wäre somit, diese Überlieferungen zu destabilisieren, ohne sie zu zerstören, ihnen dabei zu widerstehen ohne sie zu verlieren. Der Weg des Denkens, der eigentlich ein Un-Weg und Um-Weg ist, darf daher nicht auf den binär codierten Polemos des Seins/Seienden beschränkt werden, sondern muss sich an die Pluralität bzw. Mannigfachigkeit der Differenz erinnern. Die un-begriffliche Sprache, durch die Heidegger versucht, die Grenzen der (wissenschafts- und wirtschafts-)philosophischen Sprache zu transzendieren, ist selbst bereits immanent geschichtlich und darf in diesem Sinne ruhig als weiterer Indikator für die Notwendigkeit jener Justierung der Fragestellung verstanden werden. In Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens156 beschreibt Heidegger daher, wie jede Philosophie, unmittelbar in ihre Zeit eingebettet, „ihre eigene Notwendigkeit“157 habe. Analog zum mannigfachen Grund des Fragens besteht auch der Gegenstand der metaphysischen Urfrage, das Seiende, laut Aristoteles’ programmatischem Diktum exakt in jener Pluralität, durch die es ausschließlich als pollachōs legomenon ausgesagt werden kann. Dass wir hier eine Analogie zwischen Fragen und der Mannigfaltigkeit des Seienden, wie wir sie an Aristoteles’ programmatischem Ausspruch to on legetai pollachōs gesehen haben, ziehen können, ist selbstverständlich kein Zufall, sondern weist auf die intrinsische Aporetik jener Angleichungsbewegung zwischen dem Denken und den Sachen hin. Indem wir das Seiende als Seiendes, als aporetisches Verhältnis der übertragenden Differenz, lesen, antworten wir also nicht unmittelbar auf die metaphysische Urfrage. Vielmehr werden die der Metaphysik zugeordneten Begriffe wie Aporie, Verhältnis (Analogie) und Übertragung (Metapher) derart umgeleitet, dass wir die Begriffe aus der Perspektive ihrer jeweiligen geschichtlichen Konstellation in ihrer differenziellen Materialität zu lesen und zu erkennen vermögen.158 155 Inwiefern diese Entsetzung des Denkens auch die Philosophie justiert und ihr so im eigentlichen Sinne erst Gerechtigkeit (engl., franz.: justice) widerfährt, muss an anderer Stelle verhandelt werden. 156 Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, Frankfurt: Klostermann 2007, 67–90. 157 Heidegger, Das Ende der Philosophie, 70. 158 Dies hätte zur Folge, dass wir irgendwann an den Punkt kämen, wo der Begrif f der Geschichte selbst zur Disposition stünde. Die eigentlich gegenläufigen Bewegungen der Metaphysik, ihre Aporizität also, sind daher auch nicht als zu überwindender Widerspruch zu lesen. Wie Derrida in Gewalt und Metaphysik schreibt, handelt es sich hierbei vielmehr um „eine Verschiebung der Begrif fe – diesmal desjenigen der Geschichte – […] der wir folgen müssen“ (Derrida, Gewalt und Metaphysik, 135).
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Was nun eine gute Fragestellung ist, ist tatsächlich „für das Denken nicht leicht“ (Metaph. 995b17) zu beantworten, wie Aristoteles formuliert, denn es hängt davon ab, ob es uns gelingt, die Frage auf den richtigen Fragebereich auszudehnen. Was wiederum der richtige Fragebereich ist, zeigte sich an dem, was wir an der Überlieferung wie lesen sollen, nämlich die (antiken) metaphysischen Begriffe im Moment ihrer differenziellen Kontraktion aus ihrer Pluralität oder Mannigfachigkeit heraus; dies zumindest entspricht unserer jetzigen Lesart zufolge der Intention des aristotelischen pollachōs legomenon, des vielfältig (Aus-)Gesagten, nach dem er sowohl das Seiende als auch die dynamis bestimmt. Wie Franz Brentano in seiner für Heidegger wegweisenden Schrift Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles gezeigt hat, ist gerade die Bestimmung der Seienden und der dynamis qua der ihnen vorausliegenden Mannigfaltigkeit daher wegweisend für das Verhältnis zwischen dynamis und energeia. Mehrfach verwendeten wir bereits die Begriffe des Vermögens oder der Kraft für dieses Moment der differenziellen Kontraktion, in der es zur plötzlichen Überlappung der eigentlich gegenläufigen Bewegungen der Widerständigkeit und der inversen Absorption kommt, in dem jene „Kraft zum Bruch“,159 wie Derrida an anderer Stelle formuliert, als inhärenter Bestandteil der Überlieferung selbst gelesen werden muss. Dieser Bruch ist jedoch kein endgültiger, und er ist schon gar kein Überwinden oder gar Aufheben, sondern vielmehr ein konstanter Bestandteil dieses Resonanzbereichs von Begriff, Sachen, ihren Metaphern sowie der Fortschreibung und gleichzeitigen Öffnung der Überlieferung. „Die Überlieferung liefert uns nicht dem Zwang des Vergangenen und Unwiderruflichen aus“, formuliert Heidegger diesen Sachverhalt, und er fährt fort: „Überliefern, déliver, ist ein Befreien, nämlich in die Freiheit des Gesprächs mit dem Gewesenen.“160 Vom methodologischen Standpunkt aus betrachtet, verdichten sich hier also erkenntnistheoretische, dekonstruktive, materialistisch-geschichtliche Momente der Überlieferung jener metaphysischen Begriffe im kritischen Augenblick der differenziellen Kontraktion. Mehrfach haben wir ferner dieses Moment der Kontraktion aus der Materialität ihrer Differenzen heraus als die Aporien der Metaphysik identifiziert, in denen sich ihre gegenläufigen Bewegungen kraftvoll ineinander wenden und sich hieraus zu einem Surplus intensivieren. Dies wiederum ist aber schon die ureigenste Bewegung der dynamis selbst. Widmen wir uns also
159 Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: Jacques Derrida, Limited Inc, übers. v. Werner Rappl u. Dagmar Travner, Wien: Passagen 2001, 15-48, hier: 27-28. Derrida sieht diese „Kraf t zum Bruch“ der „Struktur des Geschriebenen“ selbst zugrunde gelegt. Nicht zufällig führt Derrida in seinem Essay zur Gewalt und Metaphysik gegen das Schwergewicht der Heidegger’schen Anwesenheitsphilosophie mitsamt seiner hellenistischen ‚Verfügung‘ Levinas an, jenen jüdischen Denker, der den Anderen zum Mittelpunkt und Ausgang jeder weiteren Philosophie und die Philosophie damit genuin zu einer ethischen Angelegenheit erhob. 160 Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 10.
IV. Umweg als Methode des Erkennens (Überlieferung II)
von hier aus endlich dem zentralsten aller Verhältnisse, dem zwischen dynamis und energeia.
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Kurztitel des Kapitels oder Beitrages
V. Axiomatik des Denkens. Einige etymologische Anmerkungen
Wie und was ist also die dynamis? Wie und was ist die energeia? Und wie können wir das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander und damit den Umschlag (metabolē) von der dynamis zur energeia lesen? Im Buch IX der aristotelischen Metaphysik findet sich eine Spur, wie wir jenen Zustand des bloßen Vermögens und denjenigen der Verwirklichung eines Vermögens einer Relektüre unterziehen können, die sowohl die materielle als auch die differenzielle Komponente beider Begriffe sowie deren aporetisch-differenzielle Bewegung zum Ausgangspunkt nimmt. Für diese Relektüre ist es zunächst erforderlich, die Begriffe dynamis und energeia sowie ihre Relation zueinander genauer zu analysieren. Dieses Anliegen ist nicht neu und wurde im Verlauf der über 2000-jährigen Rezeptionsgeschichte seitens der Aristoteles-Kommentatoren auf vielfache Weise unternommen. Wie bereits dargestellt, ist die Auslegung dieses Verhältnisses dabei maßgeblich durch zwei Traditionslinien geprägt: der theologischen Lesart einerseits und der materialistischen Lesart andererseits. Beiden Traditionen ging es primär um den philosophischen und theologischen Beweis, dass entweder die dynamis oder die energeia eine privilegierte Position innehabe. Die philosophische und theologische Auslegung jener so grundlegenden Relation war daher seit jeher durch den antagonistischen Disput um die formelle, begriffliche, logische und ontologische Priorisierung entweder des einen oder des anderen Moments bestimmt. Seit der ersten bekannten Verwendung des Begriffs der dynamis bei den Vorphilosophen jedenfalls erfuhr dieser eine stetige Wandlung, jedoch gelang es erst Aristoteles, der dynamis letztlich jenen eigenen Seinsstatus zuzusprechen, den sie als solchen zuvor noch nicht innehatte und durch den jene so folgenschwere Interpretation und Definition der metaphysisch-ontologischen Konstitution der Welt erst in Gang gebracht wurde.161 In der vorphilosophischen Welt war die 161 Eine ausführliche begrif fs- und ideengeschichtliche Darstellung der dynamis findet sich in David Lefebvres beeindruckender Studie Dynamis. Sens et genèse de la notion aristotélicienne de puissance, Paris: Libraire Philosophique J. Vrin 2018. Ein beachtenswerter Versuch die dynamis
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dynamis zunächst nichts weiter als einer unter vielen Begriffen zur Bezeichnung physikalischer, natürlicher oder göttlicher Kräfte, wie beispielsweise menos die vitalen Kräfte, aber auch eine gewisse Schlagkraft oder sogar Wut, bezeichnet, wohingegen thymos Lebenskraft und sthenos Körperkraft meint.162 Aber auch die etymologischen Wurzeln der das westliche politische Denken determinierenden Begriffe, wie kratos (Macht) oder archē (Prinzip, Herrschaft) – von denen sich die politischen Regierungsformen Demokratie, Aristokratie, Monarchie, Oligarchie und Anarchie ableiten lassen –, sind in dieser Hinsicht als Differenzierungen eines antiken Kraftbegriffs zu verstehen.163 Gerade der Begriff der archē wird, wie wir noch sehen werden, eine maßgebliche Rolle in der genaueren Bestimmung der dynamis spielen. In der Zeit des vorphilosophischen Griechenlands verweist also der Begriff der dynamis entweder auf die Fähigkeit oder das Vermögen des Menschen, bestimmte Tätigkeiten ausführen zu können, oder auf kriegsähnliche Situationen, in denen es um die Verteidigung von Territorien geht. In beiden Fällen meint die dynamis eine Art der Kraftaufwendung gegen innere oder äußere Widerstände.164 kulturgeschichtlich und aus biopolitischer Perspektive zu aktualisieren, findet sich in dem von Antonio Lucci und Thomas Skowronek herausgegebenen Sammelband Potential regieren. Zur Genealogie des möglichen Menschen, Paderborn: Fink 2018. 162 Zu den unterschiedlichen Kraf tbegrif fen in der Antike siehe die Erläuterungen von Bruno Snell in seinem Buch Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011/1975, 28–29. Vgl. auch Damian Stocking, Res Agens: Towards an Ontology of the Homeric Self, in: Kostas Myrsiades (Hg.), Approaches to Homer’s ‚Iliad‘ and ‚Odyssey‘, New York: Peter Lang 2010, 43–72 und Jammer, Concepts of Force, 17. 163 Zur Entwicklung des Begrif fs der Kraf t in der Antike siehe Jammer, Concepts of Force, Kap. 2–3, 16-52. In seinem Artikel Power and Critique setzt Martin Saar ebenfalls bei der ‚ursprünglichen‘ Bedeutung der dynamis an, um dann den Begrif f der Macht für die Politische Theorie und Sozialphilosophie genauer zu bestimmten: Martin Saar, Power and Critique, in: Journal of Power, (1/2010), 7–20. In ihrer Studie Macht und Gewalt kritisiert Hannah Arendt die oben genannte „Reduktion des Politischen“ auf die Herrschaf t: „Macht, Stärke, Kraf t, Autorität, Gewalt – all diese Worte bezeichnen nur die Mittel, deren Menschen sich jeweils bedienen, um über andere zu herrschen; man kann sie synonym gebrauchen, weil sie alle die gleiche Funktion haben“. Der synonymen Verwendung der Begrif fe solle entgegengewirkt werden, um wieder das zu hören, „was die Sprache eigentlich sagt“ und um so „die Wirklichkeit zu sehen und zu erfassen“. Ein Begrif f, der besonders schwer zu fassen ist, ist der Begrif f der Autorität, so Arendt. In: Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München: Piper 2005, 44–48. Eine elegante Auseinandersetzung mit dem Begrif f der Autorität findet sich in dem Essay On the Concept of Authority von Pablo Oyarzún Robles, in: CR: The New Centennial Review 11/3 (2011), 225–252. 164 Im LSJ findet sich unter dynamis folgender Eintrag: „I. 1. power, might, esp. of bodily strength; generally, strength, power, ability to do anything; 2. outward power, influence, authority; 3. force for war, forces; 4. a power, quantity; 5. means; II. 1. power, faculty, capacity; 2a. elementary force, such as heat, cold; 2b. property, quality; generally, function, faculty; 2c. agencies; 2d. function, meaning; 2e. in Music, function, value, of a note in the scale; 3. faculty, art, or craf t; 4a. a medicine; 4b. action of medicines; 5. magically potent substance or object; III. 1a. force or meaning of a word; 1b. phonetic value of sounds or letters; 2. worth or value of money; IV. capability of existing or acting, potentiality, opp. actuality; V. 1a. math., power; 1b. square number;
V. Axiomatik des Denkens. Einige etymologische Anmerkungen
So wird der Begriff der dynamis auch in einigen zentralen Passagen der homerischen Epen verwendet, wie Ludger Jansen gezeigt hat.165 Jansen listet einige dieser Passagen, in denen die dynamis explizit verwendet wird, wie folgt auf: [Odysseus:] but bring ye healing, my friends, for with you is the dynamis (Odyssey X 69) [Telemachos to Nestor:] O that the gods would clothe me with such dynamis, that I might take vengeance on the wooers of their grievous sin (Odyssey III 205–6) [Alexandros to Hector] we will follow with thee eagerly, nor, methinks, shall we be anywise wanting in valour, so far as we have dynamis, but beyond his dynamis may no man fight, how eager soever he be (Iliad XIII 785–787) [Achilles to Apollo:] Verily I would avenge me on thee, had I but the dynamis (Iliad XXII 20).166
Die hier durch Jansen aufgeführten Zitate zeigen, dass die dynamis bestimmte ermöglichende Kräfte bezeichnete, welche entweder auf eine Einflussnahme und Verfügung der Götter zurückzuführen sind oder aus dem Menschen selbst heraus entspringen, allerdings lediglich, um seine unmittelbare Kraft zu demonstrieren und um sich zu verteidigen. Erst während der vorsokratischen Ära findet die dynamis schließlich ihren Eingang in die Philosophie, wo sie ihren Kulminationspunkt bekanntlich im mittelalterlichen Diskurs um das Verhältnis zwischen actus und potentia, wie die lateinischen Übersetzungen für energeia und dynamis lauten, und dem Disput um die Priorisierung des einen oder anderen Moments zugunsten des Versuchs, die Existenz Gottes anhand dieses Begriffspaares zu beweisen, hat. An der Spannbreite der möglichen Übersetzungen der dynamis als Vermögen, Kraft, Möglichkeit und Fähigkeit lässt sich ablesen, mit welcher Komplexität es die Philosophiegeschichte mit diesem Diskurs zu tun hatte, und es lässt sich des Weiteren erahnen, wie sehr jede Entscheidung für eine bestimmte Übersetzung möglicherweise bereits eine, wenn nicht rein theologische, so doch politische Brisanz enthält.
1c. square of an unknown quantity; 2. square root of a number which is not a perfect square; 3. product of two numbers; VI. concrete, powers, esp. of divine beings; VII. manifestation of divine power, miracle.” Vgl. auch Ursula Wolf, Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute, München: Fink 1979, 17. 165 Zum Bedeutungswandel des Begrif fs der dynamis von Homer zu Aristoteles siehe den Aufsatz Aristotle’s Theory of Dispositions. From the Principle of Movement to the Unmoved Mover von Ludger Jansen, in: Gregor Damschen, Robert Schnepf, Karsten R. Stüber (Hg.), Debating Dispositions. Issues in Metaphysics, Epistemology and Philosophy of Mind, Berlin/New York: de Gruyter 2009, 24–46, hier: 25f f. 166 Jansen, Aristotle’s Theory of Dispositions, 25.
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz
Der Versuch, das komplexe Verhältnis zwischen dynamis und energeia zu denken, zog sich also über Jahrtausende hinweg durch die Philosophiegeschichte und hatte noch Ende des 19. Jahrhunderts bei Franz Brentano in seinem einschlägigen Werk Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles einen zentralen Stellenwert: Brentano selbst bezeichnet dort generell die Möglichkeit, das Vermögen in einer gewissen Vorträglichkeit zur energeia zu verstehen, als unmögliches Unterfangen – wir erinnern an das Eingangszitat des ersten Kapitels: „Wie also sollte der Unterschied des Zustandes des Werdens und des Zustandes der Möglichkeit zu derselben Form vor dem Werden von ihr gesetzt sein? Unmöglich!“167 Und in der Tat finden sich im besagten Buch IX der aristotelischen Metaphysik nur wenige Hinweise darauf, wie das Verhältnis zwischen dynamis und energeia anders als von der Seite der Verwirklichung her denkbar wäre. Diese wenigen Passagen zu ergründen, ist das Ziel der nun folgenden Ausführungen. Dabei soll erstens aufgewiesen werden, dass dort anstelle der Priorisierung des einen oder anderen Moments bereits ein differenzielles Denken des Zwischenraums zwischen dynamis und energeia immanent angelegt ist;168 zweitens, dass dieses differenzielle Denken des Zwischenraums auf die aristotelische Bestimmung der dynamis selbst zurückzuführen ist, durch welche sie nicht nur zum ersten Mal in der Ideengeschichte einen eigenen Seinsstatus erhält, sondern die überdies nahelegt, das differenziell-aporetische Moment als Grundstruktur der Welt und unserer Erfahrung und Erkenntnis von ihr zu lesen, welche wiederum drittens einen genuin historisch-politischen Kern hat. Das methodische und inhaltliche Ziel der dekonstruktiven Lektüre jener Passagen aus der Metaphysik wäre demnach, eine geringfügige Justierung auf den Zwischenbereich des Umschlags von der dynamis zur energeia zu bewirken, um durch sie zu einer Formulierung des bereits angekündigten materialistischen Denkens der Differenz zu gelangen. Dieses materialistische Denken der Differenz sollte es im besten Fall ermöglichen, das konstitutive Verhältnis zwischen dynamis und energeia jenseits binärer Codierungen des Seienden zu erfassen. Hierfür ist es notwendig, die von Brentano so dogmatisch verkündete Unmöglichkeit einer Umkehr des Primats des Aktes vor der Potenz mit in die Untersuchung einfließen zu lassen, und zwar um diese Unmöglichkeit selbst als Ermöglichungsbedingung der Konstitution (der Welt, der Erfahrung von ihr, der Theorie über sie und der Kritik an ihr) und nicht als Ausschlusskriterium mitzulesen. Dass es sich hierbei um ein notwendig aporetisches Verhältnis handelt, wurde ebenso deutlich wie die Tatsache, dass diese Aporie nicht nur auf den Bereich zwischen dynamis 167 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 61–62. 168 Dies deutete sich bereits in den Ausführungen des ersten Teils an. Zurückzuführen ist diese Annahme auf den Versuch, eine Schnittmenge zwischen der materiellen und der onto-theologischen Lesart auszumachen und diese mit weiteren theoretischen und methodischen Prämissen der Aporetik und der genuinen Metaphorizität der Metaphysik zusammen zu denken.
V. Axiomatik des Denkens. Einige etymologische Anmerkungen
und energeia beschränkt ist, sondern sich als Grundstruktur auf den gesamten Gegenstandsbereich der Metaphysik erstreckt. Aufgrund dieser immanent aporetischen Grundstruktur nämlich erweisen sich sämtliche Versuche seitens der Kommentatoren, eine narrative Gesamtheit, eine Einheit oder gar Systematik aus dem aristotelischen Werk selbst heraus zu entwickeln, als ebenso unmöglich, wie vor allem anhand der Aubenque’schen Lesart der aristotelischen Philosophie sowie der Derrida’schen Dekonstruktion der gesamten metaphysischen Tradition und dem Aufweis ihrer genuinen Metaphorizität demonstriert wurde. Neben der Differenz oder Pluralität, der Materialität und schließlich der Metaphorik hatten sich daher die Aporien der Unmöglichkeit jeder begrifflich tradierten Gesamterfassung der Metaphysik als eines von vier Ecksteinen des materialistischen Denkens der Differenz erwiesen. Die Formulierung einer anderen Axiomatik des Denkens führt dazu, die traditionellen philosophischen Begriffe sachte aus der systematischen Statik eines ‚an sich‘ oder ‚als solches‘ herauszulösen und sie stattdessen gerade in ihrer differenziellen und aporetischen Dynamik zu verstehen.169 Wie – ausgehend von diesen vier Axiomen – sowohl die dynamis und die energeia als auch das Verhältnis beider zueinander in den prägnanten Passagen des berühmten Buches IX der aristotelischen Metaphysik gelesen werden sollten, ist daher Gegenstand der folgenden intensiven Lektüre, Interpretation und Dekonstruktion der dort aufzufindenden relevanten Passagen.
169 Die Dekonstruktion der klassisch-philosophischen Axiome findet sich an unterschiedlichen Stellen im Derrida’schen Œuvre. Siehe exemplarisch: Jacques Derrida, Gesetzeskraf t. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt: Suhrkamp 1996. Siehe hierzu v. a. das Unterkapitel „Glaube“ und „Axiomatik“ in Christoph Menkes Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt: Suhrkamp 2004, 136–141. Zu Derridas Axiomen vgl. auch Bennington, Axiōma, in: Geof frey Bennington, Scatter 1. The Politics of Politics in Foucault, Heidegger, and Derrida, New York: Fordham UP 2016, 238–282.
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Buchtitel oder Beiträgername
Kurztitel des Kapitels oder Beitrages
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin) Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt Aristoteles, Metaphysik IV, 1003a33 Vermögend und Vermögend-sein [wird] in mehreren Bedeutungen ausgesagt Aristoteles, Metaphysik, 1046a4–5
Das neunte Buch der Metaphysik des Aristoteles gehört zu den sogenannten Substanzbüchern Zeta, Eta und Theta (Z, H und Θ), die den Dreh- und Angelpunkt seiner Ousiologie bilden.170 Gleich im allerersten Satz auf diese verweisend, eröffnet Aristoteles seinen Text mit folgenden Worten: Über das nun, was im primären Sinne seiend ist und worauf alle anderen Kategorien des Seienden zurückgeführt werden, ist gehandelt worden, nämlich über das Wesen (ousia). Nach dem Begriff des Wesens (ousia) nämlich wird alles Übrige als seiend (aus-)gesagt (Metaph. 1045b27-30).171
Das dynamis-Buch beginnt also mit einem Verweis auf das Wesen, nach dem alle Seienden (aus-)gesagt werden. Innerhalb der aristotelischen Philosophie benennt der Begriff der οὐσία – das ist gemäß der traditionell-konservativen Übersetzung das Wesen oder die Substanz – eine Art weltkonstituierende Prämisse der Seienden. Dabei hängen die Weisen, wie Aristoteles die Substanz oder das Wesen deutet, auf das Engste mit seinem Verständnis von Form (eidos) und Materie bzw. Stoff (hylē) zusammen. Anders als sein Lehrer Platon setzt Aristoteles nicht die 170 Weil hier eine Dekonstruktion der traditionellen Problematik von dynamis und energeia vorgenommen wird, welche von der vierfachen Axiomatik des Dif ferenziell-Pluralen, des Materiellen, des Metaphorischen sowie der Aporien der Unmöglichkeit ausgeht, wird jede weitere Einbettung des Buches IX in den Diskurs um die Substanzbücher Zeta, Eta, Theta ausgeklammert. 171 Aristoteles bezieht sich an dieser Stelle auf seine vermutlich früher als die Metaphysik verfasste gleichnamige Schrif t. Vgl. Aristoteles, Die Kategorien, übers. u. hg. v. Ingo W. Rath, Stuttgart: Reclam 2012.
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allgemeine Idee als letzte Aussagereferenz, sondern bei ihm ist es vielmehr allein das Einzelding – das hypokeimenon, also das, was später unter die Bezeichnung ‚Subjekt‘ fällt –, in dem die Merkmale einer ersten Substanz jeweils zusammenlaufen.172 In seinen Kategorien fasst Aristoteles den Begriff der ousia dementsprechend als das, von dem „alles andere […] ausgesagt wird“,173 und in der Metaphysik findet sich ergänzend: „[E]benso wird auch das Seiende [on] zwar in vielfachen Bedeutungen ausgesagt [legetai pollachōs], aber doch alles in Beziehung auf ein Prinzip [archē]“ (Metaph. 1003b5–6). Sich mit dem vorphilosophischen und platonischen Denken der Materie auseinandersetzend, findet Aristoteles das letztgültige Prinzip in nichts Geringerem als in der Materie (hylē) selbst. Wie Heinz Happ schreibt, ist damit sein hylē-Begriff „als wahrhaft umfassendes Seinsprinzip letztes Glied kontinuierlichen Arche-Denkens, das bei den Vorsokratikern beginnt und über Platon bis zu Aristoteles führt“, aufzufassen.174 Der aristotelischen Terminologie gemäß kann das Wesen des Seins also nur in einer Entität gefunden werden, zu dem es notwendig in Relation steht. Das Sein wäre somit immer vor dem Hintergrund dieser immanenten Relationsstruktur zu betrachten, bei dem es nicht auf die transzendentale Referenz auf eine universelle Form angewiesen ist, sondern auf das jeweils zugrunde liegende, und damit vielleicht in letzter Instanz auf eine Relationsstruktur zurückgeht, durch welche eine Annäherung oder sogar Verschränkung der Einzeldinge erfolgt, ohne dass dabei die Differenzen zwischen ihnen und damit ihre Pluralität aufgehoben werden müssten, wie dies noch durch die theologische Aristoteles-Überlieferung angestrebt wurde.175 Innerhalb der aristotelischen Ousiologie jedenfalls ist der Begriff des Wesens oder der Substanz selbst somit sowohl Ausgang als auch Ziel seiner Untersuchung; und es ist vor allem ontologisch als das die Welt konstituierende und konservierende Substrat gedacht, welches die vielfältige (Aus-)Sagbarkeit der Seienden auf ein solches 172 Die ousia hat im Kern drei Merkmale, die als ihre immanente Formursache (und nicht als ihr körperlicher Stof f) bezeichnet werden können: dass sie an-sich (kath’ auto) ist, dass sie des Weiteren von anderen unterschieden wird (choriston) und dass sie ein auf primäre Weise Seiendes (prōtōs on) ist. Vgl. auch Horst Seidls Einleitung in die Metaphysik I–VI, XXIII. 173 Aristoteles, Cat. 2 15. 174 Happ, Hyle, 64. Auch Solmsen zeichnet in seinem Aristotle’s System of the Physical World eine solche Genealogie von den Vorsokratikern über die Akademie bis hin zu Aristoteles. Vgl. Kap. 1-2 seiner Arbeit: Solmsen, Aristotle’s System of the Physical World. A Comparison with his Predecessors, Ithaca: Cornell UP 1960, 3–68. 175 Vgl. hierzu auch Owens, der ausführt, wie Aristoteles’ Substanzdenken generell zur Generierung von Wissenschaf t steht: „Aristotle is evidently drawing them [universality and necessity, N. Sa.] from what belongs to a thing per se or qua itself. Instead of looking to separate forms as the foundation of scientific knowledge, the Stagirite is considering the concrete thing as manifesting itself in dif ferent ways. Each of these dif ferent ways takes the place of a Platonic form. If any of them follows immediately from the thing, it provides knowledge that is commensurately universal. It is present in every random instant. If it does not follow immediately, but only through something else, it is not commensurately universal, even though it happens to be found in every instant” (Owens, Doctrine of Being, 260).
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
ontologisches Fundament setzt, das einen noch vor dem Seienden liegenden primordialen Wirklichkeitsstatus der ‚Seiendheit‘176 besitzt. Obwohl Aristoteles die ousia zur Grundlage seiner Philosophie erhob, auf die alles Seiende teleologisch ausgerichtet sei und die ihm ontologisch zugrunde liege, vermochte er es in allen drei Substanzbüchern nicht, final zu klären, was es nun letztlich wirklich mit dieser ousia auf sich habe. Ohne an dieser Stelle die Diskussion um die ousia weiter zu vertiefen, können wir davon ausgehen, dass die Unmöglichkeit oder auch Widerständigkeit – ihr „erstaunliches Vermögen zur résistance“, welches Aubenque bekanntlich der gesamten Metaphysik attestierte –, jenen primordialen Wirklichkeitsstatus der Seiendheit final zu formulieren, ihren Ursprung in besagtem grundlegenden Merkmal selbst hat: dem Diktum der mannigfachen (Aus-)Sagbarkeit des Seienden – to on legetai pollachōs. Jenes Diktum der mannigfachen (Aus-)Sagbarkeit erwies sich als zwangsläufig problematisch für einen nicht unerheblichen Teil traditioneller AristotelesKommentatoren, die versuchten, das Seiende qua Seienden so zu denken, dass letztere wieder onto-theologisch in einem begrifflich vermittelten Seinsstatus zusammenlaufen, denn durch diesen primordialen Wirklichkeitsstatus, so ihre Annahme, werde erst jene begrifflich vereinheitlichende Zuschreibung ermöglicht, welche die durch das Diktum der Mannigfachigkeit angezeigte Zersplitterung der Welt in ununterscheidbaren Sequenzen zurückzunehmen vermag. Und selbst in Happs gewaltigem hylē-Buch findet sich – anders als in Aubenques aporetischer Lesart – noch jene hierarchische Zuspitzung, nach der das aristotelische Sein, genauso wie das platonische, eine „hierarchische Stufenfolge“177 impliziere, derzufolge sich die verschiedenen Seinsstadien auf einer aufsteigenden Werteskala einsortieren ließen. Wie sehr diese antagonistischen Lesarten in der Komplexität der Sache selbst liegen, wurde bereits demonstriert. Trotz berechtigter, nicht nur philosophisch-argumentativer, sondern auch ethisch-politischer Bedenken bezüglich der generellen Möglichkeit, die aristotelischen Schriften anders als auf diese hierarchisierte Weise zu lesen – Bedenken, die wir selbstverständlich nicht völlig aus dem Blick verlieren dürfen –, decken sich die vorliegenden Studien mit
176 Zur Übersetzung von ousia als ‚Seiendheit‘ schreibt Heidegger in Vom Wesen und Begrif f der Φύσις: „Dieser für das gewöhnliche Ohr wenig schöne Ausdruck ‚Seiendheit‘ ist die allein gemäße Übersetzung für οὐσία. Allerdings sagt dieser Ausdruck auch nicht viel, ja nahezu nichts. Doch hierin liegt sein Vorzug: wir vermeiden die sonst geläufigen ‚Übersetzungen‘, d. h. Auslegungen von ούσία wie ‚Substanz‘ und ‚Wesenheit‘. Φύσις ist οὐσία, d. h. Seiendheit – jenes, was das Seiende als ein solches auszeichnet, eben das Sein.“ Die ousia sei daher als das zu verstehen, was durch fortwährende Präsenz gekennzeichnet ist. Sie sei daher ein „Anwesen“ oder auch das „Vorliegende“, wie Heidegger ergänzt. Martin Heidegger, Vom Wesen und Begrif f der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1 (1939), in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, hg. v. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Frankfurt: Klostermann 1996, 239–301, hier: 259–260. 177 Happ, Hyle, 70.
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jener von der marginalisierten Fragestellung nach den Aporien der Metaphysik ausgehenden dekonstruktiven Lesart.178 Aufgrund der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes ist bis zum heutigen Tage das Problem des richtigen Einordnens des neunten Buches der Metaphysik dementsprechend Diskussionsgegenstand der Forschung: So lesen einige Theoretikerinnen und Theoretiker das dynamis-Buch eindimensional als Erweiterung der Substanzbücher, andere wiederum sind darum bemüht, es – und vor allem die Textstellen mit den expliziten Definitionen der dynamis – aus jener Pluralität der Seienden heraus zu lesen. Ein jüngerer Versuch, letzteren Ansatz erneut zu verteidigen findet sich in der Studie Ways of Being179 von Charlotte Witt, die in ihrer Einleitung Aristoteles’ Vorgehen wie folgt beschreibt: Aristotle introduces a new ontological distinction in book IX, between two ways of being something, which is both important to his understanding of being and not translatable into the language of substance and categorical being. Hence, book IX is neither an alternative vocabulary for describing substance, nor is it Aristotle’s final word on substance.180
Ausgehend von der vierfachen Axiomatik von Aporie (Unmöglichkeit der Möglichkeit und Möglichkeit der Unmöglichkeit), Differenz (bzw. Pluralität qua Differenz), Materialität und schließlich der Metaphorik (nicht nur in ihrer rhetorischen, sondern auch in ihrer erkenntniskritischen Funktion) wollen wir jene von Witt beschriebene Unübersetzbarkeit des Verhältnisses von dynamis und energeia rein in die Sprache der Ousiologie zur Ausgangsthese nehmen und von dieser Perspektive aus jene Passagen des besagten Buches dekonstruieren. En detail bedeutet dies, dass unser philosophisches Verfahren darin besteht, durch die Dekonstruktion der dynamis-Passagen die aporetische Bewegung eines materialistischen Denkens der Differenz in den Mittelpunkt der Lektüre zu rücken. Dabei ist jene Justierung des Denkens unter Berücksichtigung der vier Grundbegriffe 178 Wie sich nun Philosophie und Dekonstruktion generell zueinander verhalten, wird aus unterschiedlichen Perspektiven in dem Sammelband Philosophie der Dekonstruktion diskutiert; in: Andrea Kern/Christoph Menke (Hg.), Philosophie der Dekonstruktion, Frankfurt: Suhrkamp 2002. 179 Charlotte Witt, Ways of Being. Potentiality and Actuality in Aristotle’s Metaphysics, Ithaca/London: Cornell UP 2003. Witt vertritt in ihrem Buch einige starke Thesen, wie z. B., dass Aristoteles’ Metaphysik nicht bloß unter dem Gesichtspunkt einer dualisierenden Geschlechterperspektive gelesen werden kann, in der sein Formbegrif f mit dem Männlichen und der Materiebegrif f mit dem Weiblichen korrespondiert, wie manche Theoretiker meinen, sondern sie geht überdies davon aus, dass Aristoteles seine Metaphysik keineswegs zur Legitimation für die Aufrechterhaltung gesellschaf tlicher Hierarchien verfasst habe, denn er vertrete schließlich keine ‚universelle Teleologie‘. Beide Thesen sind sehr neu und umstritten. Siehe hierzu die Rezension von Friedemann Buddensiek in Bryn Mawr Classical Review (http://bmcr.brynmawr. edu/2003/2003-07-47.html). 180 Witt, Ways of Being, 3–4 (Hervh. N. Sa.)
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
der Axiomatik von grundlegender Notwendigkeit, denn wäre sie dies nicht, wäre vorliegendes Anliegen, das dynamis-energeia-Verhältnis einer Relektüre zu unterziehen, bloß ein weiterer Versuch, das scheinbar eigentliche Problem der Substanz beziehungsweise des Seins zu lösen. Dies jedoch widerspricht wiederum bereits im Ansatz der Hauptthese des neunten Buches, die gerade besagt, dass die dynamis für sich existiert und weder erst durch ein Wesen noch durch den seitens der megarischen Schule proklamierten reinen Aktualismus hindurch vermittelt werden muss. Dass die dynamis für sich existiert, heißt nicht etwa nur, dass sie dann und wann an- oder abwesend oder dass etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich und zu einem anderen unmöglich wäre. Dieses Existieren des Vermögens ist nicht rein im Sinne von Präsenzlogiken oder als Wechselspiel unterschiedlicher Realitätsmodi zu fassen. Vielmehr bezieht sich jenes Existieren des Vermögens überhaupt auf eine andere Realitätsebene,181 welche sich nicht modalitätslogisch im Begriff der Möglichkeit als binärem Gegenpart zur Wirklichkeit, und folglich vielleicht in gar keinem binär codierten Denken erschöpft und sich demnach in einem solchen auch nicht fassen lässt.182 Wie genau dieser seltsame eigene Seins181 Vgl. Witt, Ways of Being, 8–9. 182 Die Deutung der dynamis als Möglichkeit ist populär und bildet einen ganz eigenen Strang innerhalb der philosophischen Forschung, v. a. im Bereich der Modalitätenlehre, bei der es sich um eine Art Aussagen-Typologie handelt. Siehe hierzu Ursula Wolfs umfassende Dissertationsschrif t Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute, München: Fink 1979. Ein Klassiker der Modaltheorie und gleichzeitig ein Versuch, diese neo-ontologisch zu reformulieren, ist Nicolai Hartmanns während des Nationalsozialismus publizierte Studie Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin: de Gruyter 1938. Bei Hartmann nimmt die Modalitätenlehre eine besonders herausragende Stellung ein. So schreibt er im Vorwort seiner Studie: „Daß die Lehre von der Modalität diese Schlüsselstellung innerhalb der verzweigten Problematik des ‚Seienden als Seienden‘ einnimmt, wird noch zu erweisen sein. […] Soviel nur läßt sich zum voraus sagen: die große Frage, was überhaupt ‚Realität‘ ist – d. h. was eigentlich die ‚Seinsweise‘ dieser im ewigen Fluß begrif fenen Welt ist, die unser Leben umfängt, die uns hervorbringt und über uns weggeht, – diese Frage ist, wenn überhaupt, so nur auf die eine Weise zu behandeln, welche die Modalanalyse eröf fnet. Die Modalanalyse dringt in das Gefüge von Möglichkeit und Wirklichkeit, Notwendigkeit und Zufälligkeit ein und gewinnt aus dem eigenartigen Verhältnis, welches die Modi im Zuge des Weltgeschehens miteinander eingehen, den ontologischen Innenaspekt des Realseins als solchen, der seine positive Bestimmung wenigstens mittelbar möglich macht“ (Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, III). Ein interessanter Versuch, die dynamis von analytischer Seite aus u. a. gegen Hartmann neu zu deuten findet sich in Jansens Dissertationsschrif t Tun und Können. Ein systematischer Kommentar zu Aristoteles’ Theorie der Vermögen im neunten Buch der ‚Metaphysik‘, Frankfurt/München/London/Miami/New York: Hänsel-Hohenhausen 2002. Allerdings bleiben Jansens Ausführungen ebenso an den Versuch gebunden, insbesondere aus dem IX. Buch der Metaphysik ein kohärentes und systematisches Ganzes zu machen, obwohl es – wie mit Aubenque gezeigt – wesentlich sinnvoller und fruchtbarer ist, aus ihrer intrinsischen Non-Systematik und ihren Aporien heraus zu denken. In seiner Studie zur Dynamis und Energeia insistiert Josef Stallmach darauf, dass es einen Möglichkeitsbegrif f jenseits der Seinsproblematik gebe: „Der Grund, warum Aristoteles diesen Möglichkeitsbegrif f nicht in die streng ontologische Problematik einbezieht, ist darin zu suchen, daß mit ihm gar nicht von Möglich-Sein und Möglich-Nichtsein, sondern von ‚möglicher-
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status der dynamis zu verstehen ist, hängt unmittelbar mit dem Diktum der Pluralität zusammen und davon, ob es gelingt, dieses wieder an die Stelle einzulesen, der es – wenigstens der aristotelischen Auslegung zufolge – entsprang, und durch welches es vielleicht erst seine physikalische und modalitätenlogische Bedeutung zu übersteigen vermag. Im Zentrum der Dekonstruktion des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia kann daher ausschließlich jenes Diktum der Pluralität der Seienden stehen, welches Franz Brentano zu Recht zum Dreh- und Angelpunkt seiner Lektüre machte. Denn die unterschiedlichen Weisen der (Aus-)Sagbarkeit des Seienden, und damit auch ihre Erkennbarkeit, gelten den aristotelischen Ausführungen zufolge ebenso für das Vermögen (dynamis), seine Verwirklichung (energeia) und seine Vollendung (entelecheia) sowie für das Werk (ergon) selbst. Mit anderen Worten: Es handelt sich hierbei um eine grundlegende Differenzstruktur, nach welcher die dynamis genauso vielfach (aus-)gesagt werden können wie die Seienden. Diese grundlegende Differenzstruktur gilt im Übrigen nicht nur sowohl für die Seienden als auch für die Vermögen, sondern einerseits auch für die Polis, der Aristoteles ebenfalls eine mannigfache (Aus-)Sagbarkeit attestiert, oder wie er in seiner Politik formuliert: pollachōs polis legetai.183 Andererseits findet sich die Pluralität an Aussagemöglichkeiten auch im Bereich der Ethik, denn auch das Gute werde auf vielfache Weise ausgesagt, so Aristoteles in der Nikomachischen Ethik.184 weise wahr‘ und ‚möglicherweise falsch‘ die Rede ist. Es geht also zunächst nicht um den Modus des Seins von Seiendem, sondern um das modifizierte Wahr- oder Falschsein von Urteilen, um das ‚Mögliche-in-Urteilen‘“, in: Josef Stallmach, Dynamis und Energeia: Untersuchungen am Werk des Aristoteles zur Problemgeschichte von Möglichkeit und Wirklichkeit, Meisenheim a. Glan: Anton Hain 1959, hier: 16. 183 Aristoteles, Politik 1278a23. Sean D. Kirkland beschreibt in seinem Artikel On the Ontological Primacy of Relationality in Aristotle‘s Politics and the ‚Birth‘ of the Political Animal (in: Epoché: A Journal for the History of Philosophy 21/2 [2017], 401-420) ausführlich den Zusammenhang zwischen Aristoteles’ Ousiologie und seiner Politik. Hierbei fokussiert er eine äußerst spannende Aussage von Aristoteles, dass nämlich die Polis qua Natur einen primären (Seins-)Status habe: „Hieraus erhellt sich also, daß der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist […]. Daß aber der Mensch mehr noch als jede Biene und jedes schwarm- oder herdenweise lebende Tier ein Vereinswesen ist, liegt amtage. Die Natur macht, wie wir sagen, nichts vergeblich. Nun ist aber einzig der Mensch unter allen animalischen Wesen mit der Sprache begabt. […] Das Wort aber oder die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen. Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, daß sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaf tlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat. Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher als die Familie und als der einzelne Mensch“, in: Aristoteles, Politik, übers. v. Eugen Rolfen, Hamburg: Felix Meiner 1958, 1253a1f f. 184 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. v. Franz Dirlmeier, Stuttgart: Reclam 2003, hier: 1096a23–27: „Nun wird jedoch ‚gut‘ ausgesagt in der Kategorie der Substanz, der Qualität und der Relation. Diese gleicht ja einem Seitensproß und Akzidens des Seienden. Folglich kann es über den genannten Erscheinungsformen von ‚gut‘ keine gemeinsame ‚Idee‘ geben. (2) Ferner: Nachdem ‚gut‘ in ebensoviel Bedeutungen ausgesagt wird wie ‚ist‘ […], kann ‚gut‘ unmöglich
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
Damit deutet sich zum ersten Mal ein direkter Zugriffspunkt auf den ethisch-politischen Raum an, auf den wir an dieser Stelle nur suggestiv hinweisen können. Durch die mannigfache (Aus-)Sagbarkeit jedenfalls wird offenbar ein Merkmal angezeigt, das – um es hyperbolisch zu formulieren – besagten Begriffen grundlegender zugrunde liegt, als es noch das Seiende selbst jemals vermag, und es liegt daher nahe, die dynamis im nun folgenden weniger vom Standpunkt der Ousiologie als vielmehr von jener Pluralität des (Aus-)Sagbaren her zu lesen. Es habe sich gezeigt, so Aristoteles also gleich zu Beginn des neunten Buches, dass alle Seienden als Wesen ausgesagt werden können: „Nach dem Konzept des Wesens (ousia) nämlich wird alles Übrige als seiend (aus-)gesagt“ (Metaph. 1045b29). Weil gemäß der Kategorienlehre eine der Weisen, das Seiende aussagen zu können, in der Bestimmung dessen liegt, wie es der Möglichkeit beziehungsweise der Vollendung (entelecheia) und dem Werk (ergon) nach ist, rückt Aristoteles in diesem Buch die Untersuchung der dynamis und ihres Verhältnisses zur energeia (Verwirklichung) bzw. zur entelecheia (Vollendung) in den Mittelpunkt. Eine erste zentrale Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes in der Metaphysik und damit auch die erste Bestimmung von dynamis und energeia erfolgt sogleich im ersten Absatz ex negativo mit der ausgesprochen wichtigen Behauptung, beide Begriffe würden hier in der Metaphysik ihre ‚eigentliche Bedeutung‘ übersteigen: [D]enn Vermögen und Verwirklichung erstrecken sich weiter als nur auf das in Bewegung Befindliche (Metaph. 1046a1-2).
Die ‚eigentliche Bedeutung‘ beider Begriffe geht zurück auf Aristoteles’ Ausführungen in den Vorlesungen zur Physik, in denen er die grundlegenden Eigenschaften aller natürlichen Dinge zu deuten ersucht.185 Sämtliche natürlichen Dinge befänden sich in einem kontinuierlichen Zustand der Bewegung (kinesis) von einem bloß Möglichen (dynamis) zu ihrer Verwirklichung (energeia) und schließlich zu ihrer Vollendung (entelecheia), so Aristoteles’ Hauptthese dort: „Die natürlichen Gegenstände unterliegen alle oder zum Teil der Bewegung [kinesis].“186 Folgt man etwas Übergreifend-allgemeines und nur Eines sein. Denn sonst könnte es nicht in allen Kategorien ausgesagt werden, sondern nur in einer.“ Vgl. auch die Übersetzung von Ursula Wolf, Nikomachische Ethik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. Dies impliziert eine stark hierachische Lesart des dynamis-energeia-Problems, nach der es eine normative und evaluative Hierarchie der energeia geben muss. Diese These wird u. a. auch von Witt vertreten; vgl. Witt, Ways of Being, 6. 185 Die Physik gehört zu einer ganzen Reihe von Schrif ten über die Natur, die in Aristoteles’ Textkorpus quantitativ eine bedeutende Rolle einnehmen. Sie steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der hier genannten aristotelischen Annahme, allen natürlichen Dingen liege ein Prinzip der Bewegung zugrunde. Vgl. Aristoteles, Physik, 1. Halbband: Bücher I(A)-IV(Δ), übers. v. Hans Günter Zekl, Hamburg, Meiner: 1987. 186 Aristoteles, Phys. 185a12–13.
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der aristotelischen Lehre zur Beziehung zwischen Stoff bzw. Materie (hylē) und Form (morphē, eidos), so ist das Ziel ihrer Bewegung die Vollendung (entelecheia) der energeia, in der die Materie zu ihrer Form drängt. Energeia und entelecheia187 sind hierbei auf das Engste miteinander verknüpft, denn nur wenn es gelingt, dass der Stoff tatsächlich in seine Form übergeht, ist dieser überhaupt erst zur Wirklichkeit gekommen. Insofern kann es nicht einfach nur darum gehen, dass etwas Stoffliches zur Form wird, sondern vor allem gilt es zu erforschen, wie dieses Übergehen zustande kommt. Eine Antwort auf die Frage nach dem Wie erfolgt sodann sukzessive anhand des Verhältnisses zwischen dynamis und entelecheia: Die Vollendung [entelecheia] eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist – das ist Bewegung [kinesis]. […] Die Vollendung des der Möglichkeit nach Seienden, wenn es (das Ding) schon in der Wirklichkeit und tätig ist, nicht insofern es es selbst, sondern insofern es bewegbar ist, das ist Bewegung. […] Die Vollendung des Möglichen, insofern es möglich ist, das ist ganz offenkundig: Bewegung.188
Mit dieser Definition grenzt sich Aristoteles im Wesentlichen gegen die eleatische Schule, allen voran Parmenides, ihren Hauptvertreter, ab, denn die Eleaten dachten das Sein nicht als kontinuierliche Veränderung, sondern als statisches und unveränderbares Eines. Dass Seiendes aus noch nicht Seiendem, aus bloß Potentiellem, generiert werden könnte, erachteten sie vielmehr als gänzlich unmöglich, denn wie es bei Parmenides heißt: „So muss [das Seiende] entweder ganz und gar oder gar nicht sein.“189 Im ersten Buch der Physik beginnt Aristoteles daher 187 Beide Begrif fe, energeia und entelecheia, sind Wortschöpfungen von Aristoteles, die anders als das tatsächlich Verwirklichte, das ergon, auf das Bewegtsein selbst und somit letztlich auf den Übergang von dynamis zur energeia gehen; folgen wir der Übersetzung Heideggers, so bedeutet energeia am-Werk-sein. In seiner Interpretation von Aristoteles’ dynamis-Buch schreibt er: „Das Ausschlaggebende und für das Verständnis und die Auslegung des ganzen Kapitels Leitende ist die Übersetzung des ἐνεργῇ. Ἐνεργεἶν heißt: am Werke sein (nicht einfach: wirklich sein). Wenn ein Vermögen zu etwas ‚am Werk ist‘, d. h. bei der Herstellung dessen, wozu es Vermögen ist, beschäf tigt, dann, sagen wir kurz, ‚verwirklicht‘ sich das, was vordem nur etwas Mögliches war“, in: Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 167. Sehr interessant hierzu sind Lacoue-Labarthes Ausführungen zum Wandel in der Übersetzung des Begrif fs der energeia bei Heidegger, nämlich von am-Werk-Sein zum ins-Werk-Setzen seines Kunstwerkaufsatzes (Philippe Lacoue-Labarthe, Heidegger and the Politics of Poetry, übers. v. Jef f Fort, Urbana/ Chicago: Univ. of Illinois Press, hier: 9–10). 188 Aristoteles, Phys. 201a11-b5 (Übers. mod.). Inwiefern die Bewegung unmittelbar mit der Frage nach dem Wie zusammenfällt, beschreibt Heidegger in einem seiner Texte zur Vorlesung über die Grundbegrif fe der aristotelischen Philosophie folgendermaßen: „Bewegen ist wie ein Wie des Seins, nicht das Sein der Gegenwärtigkeit“, in: Martin Heidegger, Grundbegrif fe der aristotelischen Philosophie, GA 18, Frankfurt: Klostermann 2002, 372. 189 Parmenides schreibt in seinem Lehrgedicht: „So bleibt nur noch ein Weg zu verkünden, dass es ein Sein gibt. […] Es war nie und wird nicht sein, weil es allzusammen nur im Jetzt vorhanden
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
seine Kritik an Parmenides, indem er schreibt: „Im Irrtum ist [Parmenides] damit, daß er annimmt, ‚seiend‘ habe einen einfachen Sprachgebrauch, wo es doch in vielen Bedeutungen (aus-)gesagt wird [legomenon pollachōs].“190 Und bereits zuvor bemängelt er, dass die Eleaten der vielfachen (Aus-)Sagbarkeit des Seienden nicht gerecht werden, da sie, um die Aussage, das Seiende ließe sich als Eines ausdrücken, aufrechterhalten können, bereits von einem bestimmten Sinn des Seienden ausgingen: „pollachōs legetai to on […]: In welchem Sinn verwenden ihn diejenigen, die die Gesamtheit des Seienden für eins erklären?“191 Weil gemäß der aristotelischen Vorstellung sämtliche Naturdinge immer in Bewegung und somit nicht statisch sind, stellt sich für ihn daraufhin die Frage, was denn nun vor dem Hintergrund dieser räumlichen und zeitlichen Unterbestimmtheit das Prinzip (archē) oder die Ursache (aitia) jeder Bewegung sei. Dies, so führt er aus, sei die eigentlich zu beantwortende Frage, denn ohne Kenntnis über das Prinzip der Bewegung könne keine Erkenntnis über die Natur erlangt werden: Da Naturbeschaffenheit Anfangsgrund (archē) von Bewegung (kinesis) und Veränderung (metabolē) ist, diese unsere Untersuchung aber um Naturbeschaffenheit geht, so
ist, eins und unteilbar. […] Denn es ist unsagbar und undenkbar, wie es nicht existiren solle. Welche Verpflichtung hätte es denn auch antreiben sollen, früher oder später mit dem Nichts beginnen und zu wachsen? So muß es also entweder auf alle Fälle oder überhaupt nicht existiren“, in: Parmenides, Lehrgedicht, hg. u. übers. v. Hermann Diels, Berlin: Georg Reimer 1897, 35–36 (Fragm. 8). Mit ähnlich neoeleatischen Worten lässt noch Shakespeare seinen Hamlet den populären Monolog beginnen: „To be, or not to be: that is the question.” Siehe: William Shakespeare, Hamlet. Prince of Denmark, in: Shakespeare, Complete Works, hg. v. William James Craig, London: 1974, 941–982, hier: 3. Akt, 1. Szene. In seiner Vorlesung Fragmente der Vorsokratiker fasst Hermann Diels Parmenides’ Vorstellung des Seienden tref fend zusammen: „Fassen wir zusammen, ist das Sein eine ewige, unveränderliche Einheit, nach allen Seiten hin im Gleichgewicht, begrenzt als Kugel. Eine ἀρχή fehlt, auch ein Gott ist nicht nötig in diesem System. Er hat die Einheitslehre ganz neu begründet. Er ist durchaus verzichtend auf die wirkliche Welt, transcendent. Er ist auf dem Weg zu Plato, zur Idealphilosophie, zu Kant“, in: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Vorlesungsmitschrif t aus dem Wintersemester 1897/98, hg. v. Johannes Saltzwedel, Stuttgart: Steiner 2010, 39. Aristoteles Argumentation gegen die Eleaten ist kompliziert und die Literatur hierzu ausufernd. Weil hier nur deutlich werden soll, wie sich Aristoteles theoretisch gegen welche Schule positioniert, kann auf jede weitere Ausführung an dieser Stelle verzichtet werden. Exemplarisch schreibt er an einer Stelle in der Physik: „Es gibt nämlich gar keinen Anfang mehr, wenn nur eins und in diesem Sinne eines da ist. Denn ‚Anfang‘ [archē] ist immer Anfang ‚von etwas‘, einem oder mehreren. […] Für uns […] soll die Grundannahme sein: Die natürlichen Gegenstände unterliegen entweder alle oder zum Teil der Bewegung“ (Aristoteles, Phys., 185a3–13). Umfangreich diskutiert wird dies in Solmsens Aristotle’s System of the Physical World. Bei Solmsen taucht auch die generelle Frage nach der Systematik bzw. Nicht-Systematik der aristotelischen Philosophie wieder auf; vgl. Solmsen, Physical World, 71–72. 190 Aristoteles, Phys. 186a24–26. 191 Aristoteles, Phys. 185a21–22.
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz darf nicht verborgen bleiben, was Veränderung (kinesis) denn ist. Denn wenn man hier in Unkenntnis ist, ist man es notwendig auch bezüglich des Naturbegriffs.192
Aufgrund der Unmöglichkeit, diese Frage allein aus der reinen Substanzialität und Physikalität natürlicher Einzeldinge heraus zu erläutern, könne sie somit keinesfalls im Rahmen der Physik abgehandelt werden, sondern müsse vielmehr im übergeordneten Rahmen einer ‚Ersten Philosophie‘, ergo der Meta-Physik, diskutiert werden: Was aber den Anfangsgrund ‚nach der Form‘ (eidos) anbetrifft (und die Fragen), ob er eines ist oder viele und welches oder welche, dies in Genauigkeit abzustecken, ist Aufgabe der ‚Ersten Philosophie‘ [prōtē philosophia].193
Während sich die Physik nur sekundär mit der Erkenntnissuche nach der Ursache der Naturdinge befasse, gehe es also der Metaphysik primär um die grundlegende Frage nach dem Ursprung des Seienden qua Seienden, und ob diese letztlich der Form (eidos) oder der Materie (hylē) oder beidem entspringen. Dass Aristoteles’ gesamter Argumentationsverlauf auf den unbewegten Beweger als ursprüngliches Prinzip der Bewegung hinausläuft, ist bereits bekannt und soll an dieser Stelle nicht im Zentrum unserer Lektüre der dynamis-Passagen stehen.194 Denn 192 Aristoteles, Phys. 200b12–15 (Übers. mod.). Von der Frage der Bewegung (kinesis) und auch des für die Definition zentralen Begrif fs der Veränderung bzw. des Umschlags (metabolē) handelt also das dritte Buch der Physik, in dem Aristoteles die Bewegung entlang der Grundmodalitäten des Seienden: der Möglichkeit (dynamis) und Wirklichkeit (energeia) bzw. Vollendung (entelecheia) abhandelt. Hier kommt es zu einer unmittelbaren Annäherung zwischen seiner Physik und seiner Ousiologie, welche zunächst in der Beobachtung besteht, es gäbe ebenso viele Formen der Bewegung bzw. der Veränderung, wie es Seiende gibt. Die Bewegung selbst ist immer als teleologisch ausgerichtet zu verstehen und hat ihren vorläufigen Endpunkt im Vollenden (entelecheia) eines bloß der Möglichkeit nach Gewesenen. „Die Vollendung [entelecheia] des Möglichen [dynaton]“, fasst Aristoteles daher zusammen, „ist ganz of fenkundig: Bewegung [kinesis]“ (Phys. 201b3-5). Alle Bewegungen sind daher nicht als ein Übergeordnetes zu verstehen, sondern als relationale Verknüpfung von etwas mit etwas anderem (vgl. Phys. 200b33). Der etablierte aristotelische Ausdruck für diese Verhältnishaf tigkeit ist das sogenannte pros ti, das ‚im Verhältnis zu‘/ ‚in Bezug auf‘, und wird in den Kategorien zusammengefasst als: „Ein In-bezug-auf wird derartiges genannt, von dem man sagt, daß das, was es selbst ist, in Hinsicht auf ein anderes ist oder was auf andere Weise in bezug auf ein anderes ist“ (Aristoteles, Cat. 6a36–37). In einer seiner Marburger Vorlesungen über die Grundbegrif fe der aristotelischen Philosophie vom Sommersemester 1924, widmet sich Heidegger eingehend der diesem dritten Buch der Physik; siehe: Martin Heidegger, Die aristotelische „Physik“ als ἀρχή-Forschung, in: Grundbegrif fe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 283-329. 193 Aristoteles, Phys. 192a34–36. 194 Trotz seiner Ambition, die Materie ‚gleichberechtigt‘ neben die Form in den Schöpfungsakt einzubeziehen, meinte auch noch Maimonides, dass die Existenz einer natürlichen Kraf t letztlich ihr Prinzip in Gott haben müsse. Dieser wiederum müsse notwendig als reine Aktualität bzw. Form gedacht werden, denn es sei schlichtweg unvorstellbar, dass Gott einen Mangel an Form erleide, also unvollendet sei: „Denn gesetzt, dies wäre möglich, dann wäre Gott dem Ver-
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wichtiger oder auch ‚ursprünglicher‘ noch als Aristoteles’ onto-theologische Suche nach der reinen Form, aus welcher der alles initiierende Bewegungsanstoß hervorbricht, ist die in den Übergang von der dynamis zur energeia eingeschriebene Differenz, für welche Aristoteles zunächst den Begriff der Bewegung für den Bereich der Natur sowie, in den prägnanten Passagen des neunten Buches, den Begriff des Umschlags für sämtliche Übergänge von der dynamis zur energeia, setzt. So wird die Bewegung im Buch K der Metaphysik, in dem Aristoteles die aus der Physik herkommenden Fragen für die Erste Philosophie behandelt, ausdrücklich zur vermittelnden Instanz zwischen dynamis und energeia. Als solche liege die Bewegung nicht außerhalb, sondern in den „bestimmte[n] Seiende[n]“ (Metaph. 1065b6) selbst, weshalb es genauso viele Bewegungen wie Seiende geben müsse, so Aristoteles. Die Seienden selbst sind wiederum an die Differenz zwischen Vermögen und Verwirklichung gebunden, denn was ein Seiendes ist, wird es erst durch die oben beschriebene Bewegung des Übergangs vom Vermögen zur Verwirklichung. Wie in der Physik definiert Aristoteles auch in der Metaphysik die Bewegung qua Bewegung zwischen dynamis und energeia und damit qua Pluralität der (Aus-)Sagbarkeit der Seienden, wobei diese leicht unpräzise erscheinende Definition der Begriffe insofern als methodisches Programm zu verstehen ist, als dass Aristoteles’ Herangehensweise an die Begriffsbestimmungen nicht unmittelbar aus den einzelnen Begriffen selbst heraus erfolgt – so wie es sich einige Philosophen wünschten –, sondern relational aus der Beziehung zwischen den unterschiedlichen Weisen, in denen jene Begriffe aufeinander gerichtet sind, entspringt. Was nun die Bewegung qua Bewegung betrifft, so führt Aristoteles aus: Es gibt also von der Bewegung und Veränderung soviele Arten, wie vom Seienden. Indem nun in jeder Gattung des Seienden das Vermögen von dem Wirklichen geschieden ist, so nenne ich die Wirklichkeit des Vermögens, insofern es möglich ist, Bewegung. […] Die Vollendung [entelecheia] also des dem Vermögen nach Seienden, sobald es in Wirklichkeit seiend tätig ist [entelecheia on energeia], nicht insofern es selbst (wirklich) ist, sondern insofern es bewegbar [kineton] ist, ist Bewegung [kinesis] (Metaph. 1065b14–23).
Wenn ein Seiendes also nicht mehr nur dem Vermögen nach, aber auch noch nicht in die vollendete Wirklichkeit (entelecheia) übergegangen ist, wird die Aktu-
mögen nach vollkommen. Mit dem Vermögen muß aber notwendig eine Beraubung verbunden sein. Was aber aus einem Möglichen zu einem Wirklichen wird, kann dies nur durch ein anderes wirklich Seiendes werden, das es zu einem Wirklichen macht, und daraus folgt, daß in Gott alle seine Vollkommenheiten in Wirklichkeit vorhanden sein müssen und er in keiner Hinsicht etwas nur dem Vermögen nach besitzen kann“ (Maimonides, Führer der Unschlüssigen, 1. Buch, 186).
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alisierung dieses dem Vermögen nach Seienden als Bewegung aufgefasst.195 Die Bewegung ist somit durch den Übergang von der dynamis zur energeia bestimmt; dabei geht die Bewegung oder der Übergang bemerkenswerterweise immer auf sein eigenes Bewegtsein, nicht jedoch rein auf das Verwirklichte zurück. Für den gesamten natürlichen Bereich gilt daher der Satz aus der Physik: „Die Bewegung ist ja ein Bewegendes eines Bewegbaren, und umgekehrt die Bewegung ist bewegbar durch ein Bewegendes.“196 Für die Seienden folgt daraus, dass sie sich in einem beständigen Zustand des Bewegtseins vom Vermögen hin zur Verwirklichung befinden. Was jedoch die Bewegung als solche ist, muss aufgrund ihrer Zugehörigkeit sowohl zum Bereich des Vermögens als auch zu dem der Verwirklichung, wie Aristoteles in folgendem längerem Zitat ausführt, notwendig unterdeterminiert bleiben: Daß aber die Bewegung für unbestimmt gilt, hat darin seinen Grund, daß man sie weder zum Vermögen noch zur Verwirklichung des Seienden rechnen kann […], und die Bewegung scheint zwar eine wirkliche Tätigkeit zu sein, aber eine unvollendete, darum weil das Vermögen unvollendet ist, dessen Verwirklichung sie ist. Darum ist es schwer zu finden, was die Bewegung ist; denn man müsste sie entweder zur Privation [sterēsis] oder zum Vermögen oder zur Verwirklichung an sich rechnen, aber keine dieser Annahmen zeigt sich als zulässig. Also bleibt nur das von uns Ausgesprochene übrig, daß sie Verwirklichung und Nicht-Verwirklichung sei, wie näher bestimmt, was zwar schwer zu fassen, aber doch möglich ist. Offenbar ist die Bewegung in dem Bewegbaren; denn sie ist dessen Wirklichkeit (Metaph. 1066a17-29).
Einerseits gehört demnach die Bewegung zur dynamis und zur energeia, andererseits geht sie auch nicht völlig in ihnen auf. Am nächsten kommt sie daher jenem Bereich, in dem es zu einer Annäherung zwischen Vermögen und Verwirklichung kommt, in dem zwar die dynamis in wirkliche Tätigkeit umschlägt, sich jedoch zu keinem Zeitpunkt vollständig in ihr verwirklicht. Quasi beiläufig erhalten wir hier eine Teildefinition der dynamis, denn die Ursache für dieses paradoxal anmutende Moment des Übergangs vom Vermögen zur Verwirklichung findet Aristoteles in der dynamis selbst, die an sich „unvollendet“ sei und bleibe, wobei die Bewegung somit eben nichts anderes sein könne als die Verwirklichung jenes Unvollendetseins, dass sie also ferner „Verwirklichung und Nicht-Verwirklichung“ sei, wie Aristoteles schreibt. Die Bewegung von der dynamis zur energeia ist folglich ein unvollendetes Verwirklichen, denn sie verweist per se immer auf jene Unvollendbarkeit der dynamis selbst, und damit auf eine unendliche Kette von Vermögen, die nicht nur noch
195 Vgl. auch Aristoteles, Phys. 201b6-7: „[D]aß Bewegung genau dann stattfindet, wenn die Verwirklichung selbst sich vollzieht“. 196 Aristoteles, Phys. 200b31–32.
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
nicht vollständig verwirklicht sind, sondern deren vollständige Verwirklichung prinzipiell unmöglich ist. Gemäß der aristotelischen Vorstellung garantiert jene Unmöglichkeit einer vollständigen Verwirklichung der dynamis ein unendliches Fortschreiten der Bewegung. Auf die Frage, ob die dynamis daher denn überhaupt eine Grenze habe, antwortet Brentano in seiner bereits mehrfach erwähnten Schrift Von der mannigfachigen Bedeutung des Seienden: Sie hat keine Gränze; während sie in Wirklichkeit Eines ist, ist sie in Möglichkeit unendlich vieles. Diese Möglichkeit wird aber nie durch eine Wirklichkeit erschöpft. Niemals werden die unendlich vielen Linien, die jetzt als Theile der Möglichkeit nach in der Einen Linie enthalten sind, als unendlich viele wirkliche Linien existiren. Das Unendliche existirt hier, wie überall, wo es sich um Körperliches handelt, immer nur in einem Zustande der Potenzialität, entweder in dem Zustande der Potenzialität vor der κίνησις (die eine Linie hat unendlich viele Theile), oder als όν κινήσει, wenn eine Theilung ins Unendliche unternommen wird.197
Demzufolge zeichnen sich alle natürlichen Dinge durch diese permanente und immanent paradoxe Bewegung des Übergangs von der dynamis zur energeia aus, und zwar als Teilung ins Unendliche. Jede Bewegung ist des Weiteren bereits im Zustand des Vermögens selbst angelegt, und die physikalische Bestimmung der Seienden qua Bewegung ist folglich nichts anderes als eine, wie Brentano formuliert, Bestimmung qua „Mehrheit der potenziellen Zustände“,198 und damit letztlich eine Bestimmung qua Unendlichkeit. Aber reduziert nun diese physikalische Lesart des Übergangs von der dynamis zur energeia entlang des Prinzips der Bewegung nicht die von Aristoteles gleich zu Beginn des neunten Buches proklamierte Suche nach der ‚eigentlichen‘ Bedeutung der dynamis? Diese schloss ja prinzipiell jede kategorische Definition rein über den Begriff der Bewegung aus, indem sie sowohl für die dynamis als auch für die energeia ein Surplus ausmachte, welches darin besteht, dass beide die Bewegung immer schon übersteigen. Wie passen also diese intensionalen und inversiven Momente der Teilung ins Unendliche mit der nach Expansion strebenden dynamis zusammen?199 197 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 71–72. 198 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 61. 199 Eine so gestellte Frage fordert eigentlich bereits terminologisch eine weitere Auseinandersetzung mit der analytischen Sprachphilosophie heraus. Die Gegenüberstellung von Intension und Extension hat ihre Wurzel in der aristotelischen Logik und wurde – wie viele seiner Schriften – über die Jahrhunderte vielfach kommentiert. Hierbei zentriert sich die Diskussion um Intension vs. Extension um die Fragen nach Inhalt und Umfang von Begrif fen, wobei mit der sukzessiven Bestimmung des Inhalts graduell ein höherer Wirklichkeitsstatus angenommen wird. Der in der Philosophiegeschichte wohl bekannteste Vertreter einer „intensionalen Interpretation der Logik“ ist Gottfried Wilhelm Leibniz. Vgl. Chris Swoyer, „Leibniz on Intension and
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Dynamis – Eine materialistische Philosophie der Differenz
Keineswegs, so führt Aristoteles zunächst aus, dürfe dieses Übergehen von der dynamis zur energeia so verstanden werden, als könne die dynamis vollständig auf die energeia übertragen werden, sondern immer werde auch ein Überschuss, eine Art Mehrwert oder Surplus, aufbewahrt. Dass es eben etwas an der dynamis gibt, das sich auch durch den Akt hindurch erhält und ihr eine Existenz auch ohne Vollendung verleiht, brachte Aristoteles bekanntermaßen vehement gegen jene megarische Doktrin vor, welche besagt, dass alle Möglichkeit per se und ausschließlich in ihrer Aktualisierung existierte, niemals jedoch für sich. Dynamis und energeia unterschiedslos zu denken, so als ob die dynamis immer die Wirklichkeit benötige, um zu existieren, sei daher schlichtweg falsch, denn das wäre gerade so, als sei ein Baumeister nur in dem Moment ein Baumeister, in dem er baut, so Aristoteles’ Analogie an dieser Stelle. Im dritten Kapitel des dynamis-Buches setzt Aristoteles daher mit seiner ausführlichen Kritik an den Megarikern ein, bei der es hauptsächlich darum geht, zu beweisen, dass die Priorisierung der energeia vor der dynamis zugunsten der Bewahrung des Seinsstatus der dynamis zunächst aufgehoben werden muss. Hierbei handelt es sich allerdings um eine methodische und ontologische Prämisse, die – so können wir als Randbemerkung hinzufügen – Aristoteles an späterer Stelle unter anderen Vorzeichen und unter Berücksichtigung des ontologischen Status der dynamis wieder zurücknimmt. Die Auseinandersetzung mit den Megarikern ist an dieser Stelle deswegen erwähnenswert, weil es Aristoteles erst anhand der Diskussion der megarischen Wirklichkeitsdoktrin gelingt, argumentativ den Aufweis eines eigenen Seinsstatus der dynamis herzuleiten. So lauten die ersten Sätze seiner Kritik: Es gibt da einige wie die Megariker, welche behaupten, ein Ding habe nur dann Vermögen, wenn es wirklich tätig sei, wenn jenes aber nicht wirklich tätig sei, habe es auch das Vermögen nicht; z. B. derjenige, der eben nicht baut, vermöge auch nicht zu bauen, sondern nur der Bauende, während er baut, und in gleicher Weise in den anderen Fällen. In welche unstatthaften Folgen diese geraten, ist nicht schwer zu sehen. Denn offenbar könnte hiernach niemand Baumeister sein, wofern er nicht eben baut (Metaph. 1046b29–34).
Anhand der Analogie mit dem Bauen/Baumeister überführt Aristoteles die megarische Doktrin eines tautologischen Trugschlusses: Wenn diese nämlich richtig wäre, so wäre ein Baumeister lediglich in denjenigen Momenten tatsächlich ein Baumeister, in denen er gerade die Tätigkeit des Bauens vollzieht und diese verwirklicht (vgl. Metaph. 1046b29–1047a17). Für Aristoteles ergibt sich hieraus, dass die megarische Vermögenstheorie deshalb unbedingt zu widerlegen sei, weil sie Extension“, in: Nous 29/1 (1995), 96–114. Die enge Verwandtschaf t zwischen der Metaphysik und der Logik verleitete wiederum Heidegger in Wozu Dichter? von 1946 zu der Feststellung: „Nur in der Metaphysik gibt es Logik“, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, Frankfurt: Klostermann 1977, 269–320, hier: 311.
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
das Vermögen unmittelbar an die Verwirklichung bindet, und zwar so unmittelbar, als würde das Vermögen ohne das Moment des Verwirklichens keinerlei eigenen Seinsstatus besitzen, was wiederum jene anhaltende Relationalität zwischen beiden Momenten – durch welche erst das von Aristoteles proklamierte kontinuierliche Bewegtsein dauerhaft in der Welt eingerichtet wird – verunmöglicht. Gegen dieses unmittelbare Ineinanderfallen von Vermögen und Verwirklichung, das – wie wir mit Rekurs auf die Physik bereits gesehen haben – der aristotelischen Weltvorstellung diametral zuwiderläuft und das des Weiteren die für die Bewegung (kinēsis) und das Werden (genesis) (vgl. Metaph. 1047a14) notwendige Grundbedingung des Übergangs von der dynamis zu energeia durch und durch unterminiert, verteidigt Aristoteles vehement die Notwendigkeit einer Differenzierung beider Begriffe: „Ist es nun nicht zulässig, [die megarische Doktrin] zu behaupten, so sind offenbar Vermögen und wirkliche Tätigkeit voneinander verschieden“ (Metaph. 1047a18–19). Die megarische Doktrin ist nun deshalb unzulässig, weil ohne die Differenzierung von dynamis und energeia keine Erkenntnisse über den Übergang zwischen beiden gewonnen werden kann, und dort, wo kein Übergang von einem zum anderen Moment wahrnehmbar ist, muss die Bewegung – und damit auch das Werden, und schließlich der Gang der Welt – im Dunkeln bleiben. Erst dann also, wenn beide Begriffe nicht mehr als unmittelbar ineinanderfallend gedacht werden, wenn sie differenziert werden, ergibt sich die Möglichkeit der sprachlich-begrifflichen Erfassung beider, und nicht nur des nachträglichen Einholens von einem der beiden Momente. Und erst dann ist es schließlich auf ontologischer Ebene möglich, jenen Augenblick, in dem ein Vermögen noch nicht verwirklicht und in dem das Verwirklichte noch nicht an das Vermögen rückgebunden wurde, mit einem eigenen Existenzstatus auszustatten. Deswegen kann Aristoteles davon sprechen, dass die dynamis, und damit auch der Übergang von der dynamis zur energeia, und damit auch letztlich die energeia selbst, sämtlich nicht nur im Rahmen von Bewegungs- oder Werdensprozessen zu verstehen seien – dann nämlich wären sie bloß reine Naturphänomene, wie sie in der Physik beschrieben werden –, sondern über die Bewegung hinausgehen: „daß wir vermögend [dynaton] nicht nur das nennen, was zu bewegen oder von einem bewegt zu werden fähig ist […], sondern möglich auch noch in einem anderen Sinne gebrauchen“ (Metaph. 1048a28–29). Aus seiner Kritik an den Megarikern folgt also letztendlich, dass Vermögen und Verwirklichung unbedingt differenziert werden müssen (vgl. Metaph. 1047a18–19): Genauso wenig wie die Materie in der Form, erschöpft sich demnach die dynamis nicht in der energeia – etwas an der dynamis wird also zurückgehalten und übersteigt die reine Bewegung. Für das Verhältnis zwischen dynamis und energeia ergibt sich hieraus ein zentrales Charakteristikum, dass es sich nämlich hierbei vor allem und immer um eine Veränderung vom einen in den anderen Seinszustand qua Aufrechterhaltung der Differenz handelt. Die revolutionäre Neuerung der aristotelischen Theorie
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gegenüber den vorsokratischen Schulen200 – und hier ist wie soeben gesehen vor allem an die Megariker zu denken – ist nun, dass beide Momente, und eben ausdrücklich auch die dynamis, ihren eigenen Seinszustand erhalten, und zwar nicht nur über den Augenblick des Bewegtseins, sondern auch über deren Vollendung (entelecheia) hinaus. Als Quintessenz kann also vorerst festgehalten werden, dass der Vorrang der energeia vor der dynamis diesem Verhältnis – anders als die Differenz – keineswegs bereits eingeschrieben ist, dass also beide Momente nicht auf eine ‚eigentlich‘ physikalische Bedeutung reduziert werden können. Anders gesagt generieren die dynamis und die energeia qua Differenz einen Überschuss, der weder reine Form noch reine Materie, sondern vielmehr ein ent-substanzialisiertes und unvollendetes Zwischen ist, welches in letzter Instanz auf den eigentümlich differenziell-aporetischen Charakter der dynamis selbst zurückgeht. Wie bereits erwähnt, wird die Priorisierung der energeia vor der dynamis von Aristoteles in der Metaphysik erst als logische und ontologische – und nicht etwa als chronologische – Notwendigkeit nachträglich hinzugefügt.201 200 Hier, wie auch an den restlichen Stellen in dieser Arbeit, wird, mit Ausnahme des Hinweises auf die megarische Schule, auf jede ausführliche Darlegung der aristotelischen Kritik an den Vorsokratikern verzichtet. Die meisten vorsokratischen Doxographien befinden sich in dem 1903 zum ersten Mal von Hermann Diels herausgegebenen Standardwerk Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Walther Kranz, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1960. 201 Der Vorrang der energeia vor der dynamis ergibt sich, wie Aristoteles illustriert, daraus, dass erst nach der Verwirklichung eines bestimmten Vermögens feststellbar ist, ob eine verwirklichte Sache tatsächlich potentiell vorhanden war. Diese Priorisierung sei jedoch nicht rein zeitlich zu verstehen, sondern liege auf der rein logisch-begrifflichen Ebene, nach der es schlichtweg unmöglich sei, sowohl ein spezifisches als auch ein allgemeines Vermögen begrifflich vor dessen wirklicher Manifestation zu erfassen (vgl. Metaph. 1049b4–8). Anders als bei den Megarikern ändert dies freilich nichts am Seinsstatus der dynamis selbst. Anhand von Aristoteles’ Erläuterungen, wie die Priorisierung der energeia zu verstehen sei und warum diese wieder eingeführt werden müsse, kommt es in der Folge zu einer engeren Bestimmung der dynamis, die besagt, dass sich ein Vermögen, um überhaupt als solches erkennbar zu sein, verwirklichen muss, und dass es umgekehrt nur dann zu einer Verwirklichung kommen kann, wenn es potentiell die Möglichkeit dazu gegeben hat. Vermögen und Verwirklichung bleiben also auch hier – trotz des eigenen Seinsstatus’ der dynamis – miteinander verschränkt. Nach der Bestimmung über die Bewegung und den Begrif f entlehnt sich das Primat der energeia vor der dynamis schließlich hauptsächlich aus Aristoteles’ theologisch-kosmologischer Vorstellung einer alle Bewegung anstoßenden reinen Aktualität, nach der zwar jede Verwirklichung die Verwirklichung eines bestimmten Vermögens sei, der ursächliche Bewegungsanstoß aber durch jene reine Aktualität – den unbewegten Beweger, wie es in Buch XII ausgeführt wird, – erfolge. Dies allerdings ist bereits eine Setzung seitens Aristoteles’, die so nicht zwangsläufig aus seiner Auslegung der dynamis folgt. Diese Setzung kann selbstverständlich nicht als rein philosophische verstanden werden, sondern impliziert eine – wenn auch ‚nur‘ dem kosmologischen Weltbild entsprechende – Entscheidung, handelt es sich doch um die Einführung einer gewissen hierarchischen Ordnung. Es verwundert daher nicht, dass wir hier auf die bereits bekannte Heliosophie tref fen, denn da erscheint sie denn auch wieder, die Sonne, die auch hier als Metapher zum deskriptiven Beweis der Unmöglichkeit, dass etwas rein dem Vermögen nach existieren könne, angeführt wird: „Darum sind die Sonne, die Gestirne und der ganze Himmel immer in wirklicher Tätigkeit, und es ist nicht zu fürchten, daß sie einmal stillstehen, wie dies die Naturphilosophen fürchten“ (Metaph. 1050b22–24). Eine Abkehr von dieser Fokus-
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
Anhand dieser Auslegung ergibt sich, dass Brentanos sonst so scharfsichtige Feststellung der Grenzenlosigkeit der dynamis das eigentliche Phänomen des „Zustande[s] der Potentialität“ durch die von ihm verwendete Analogisierung mit der geometrisch-eindimensionalen Linie („Niemals werden die unendlich vielen Linien, die jetzt als Theile der Möglichkeit nach in der Einen Linie enthalten, als unendlich viele wirkliche Linien existieren“) in einer Verkürzung des Sachverhaltes darstellt. Zur Illustrierung der entgrenzenden räumlichen Struktur der dynamis wäre es vielmehr notwendig, ihre Unvollendbarkeit – und damit wiederum die Pluralität ihrer (Aus-)Sagbarkeit – mit ins Bild zu nehmen. Denn schließlich war es nichts Geringeres als die von Brentano in den Mittelpunkt der Szenerie gesetzte Pluralität der (Aus-)Sagbarkeit selbst, an die jede Definition des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia qua Differenz gebunden ist. Wie oben dargestellt, hängt diese erstens mit dem Prinzip der Bewegung und zweitens mit der wichtigen Aussage, die dynamis ließe sich paradoxerweise nicht auf den Begriff der Bewegung reduzieren, zusammen. Was das Prinzip der Bewegung betrifft, so müssen wir vor dem Hintergrund der Unvollendbarkeit der dynamis und dem Diktum der Pluralität an dieser Stelle hinterfragen, was dieses Prinzip der Bewegung eigentlich noch für ein Prinzip sein kann, wo es sich doch gerade nicht als letztgültiger Grund für die dynamis und die energeia erwies, wenn das Prinzip als Prinzip damit also seinen für die Grundstruktur der Welt konstitutiven Status verfehlt? Oder besteht dieser gar in jenem aporetischen Verfehlen selbst?202 Und bedarf dies letztlich nicht auch einer anderen Lesart des Prinzips? Wie also ist das Prinzip der dynamis beschaffen, wenn es paradoxerweise gleichzeitig in der Veränderung (von der dynamis zur energeia) besteht und diese übersteigt? Und was hat es mit diesem Moment des Übersteigens eigentlich auf sich? Um sich diesen grundlegenden Fragen anzunähern, scheint es sich methodisch nun anzubieten, sowohl den Übergang von der Bewegung zur Übersteigerung der Bewegung als auch das Verhältnis zwischen dynamis und energeia sowie die von Aristoteles in der Metaphysik bereitgestellte definitorische Formel der dynamis auf der Grundlage ihrer immanenten Differenzen und Pluralität genauer zu beleuchten. sierung auf die reine Aktualität erfolgte durch Straton, einen Hauptvertreter und späteren Leiter der aristotelischen Schule, bei dem alle Aktivität der Natur letztlich den Kräf ten der Materie zugeschrieben wird, so Bloch in seinem Buch zum Materialismusproblem. Vgl. Teil I, Kap. 1. Ein aktuellerer Artikel zur Priorisierung der energeia vor der dynamis wurde von Jonathan B. Beere unter dem Titel „The Priority in Being of Energeia“ verfasst, in: Dunamis. Autour de la puissance chez Aristote, hg. v. Michel Crubellier, Annik Jaulin, David Lefebvre, Pierre-Marie Morel, Louvain: Édition Peters 2008, 429–456. 202 Daran anschließend könnte gefragt werden, wie diese immanente Aporie in der Deutung des Übergangs von der dynamis zur energeia, wie also letztlich die Aporien des Bewegungsprinzips selbst, mit der Surplus-Bemerkung von Aristoteles verknüpfbar sind. Wenn also dynamis und energeia die Bewegung immer schon übersteigen, heißt das dann, dass sie mehr als die Bewegung selbst sind?
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Wie wir gesehen haben, hatte Aristoteles gleich zu Beginn des neunten Buches seiner Metaphysik behauptet, es sei für die Zwecke der Metaphysik generell zunächst nicht sonderlich hilfreich, die dynamis rein nach dem Prinzip der Bewegung zu definieren. Daraus folgte, dass ihre ‚eigentliche‘ Bedeutung gerade nicht im Rahmen der physikalischen Erkenntnis natürlicher Phänomene erschlossen werden kann, denn in dieser fand die Definition von Vermögen und Wirklichkeit ausschließlich über den Begriff der Bewegung (kinesis) statt. Gleichzeitig jedoch schien es gerade die in das Verhältnis zwischen dynamis und energeia eingeschriebene Definition qua Bewegung zu sein, durch welche die Unterscheidung zwischen Vermögen und Verwirklichung überhaupt erst aufrechterhalten werden kann, war es schließlich nichts Geringeres als die Bewegung von der dynamis zur energeia selbst, welche nicht nur den eigenen Seinsstatus der energeia, sondern auch den der dynamis verbürgte und dadurch jenes Prinzip der Bewegung als unendliche Genealogie natürlicher Prozesse konservierte, ohne welche wiederum die (natürliche) Welt weder erkennbar noch überhaupt denkbar erschien. Bedenkt man daher, dass die gesamte Abhandlung zur dynamis und energeia bereits mit der Vorwegnahme beginnt: „denn Vermögen und Verwirklichung erstrecken sich weiter als nur auf das in Bewegung Befindliche“ (Metaph. 1046a1–2), dass also dort, wo es um die Frage nach dem Prinzip und Ursprung des Seienden geht, beide Begriffe von vornherein ihren ‚eigentlichen‘ Bereich – den physikalischen Bereich der reinen Bewegung – übersteigen, so folgt daraus notwendig die Frage, wie wir jenes Übersteigen natürlicher Bewegungsabläufe seitens der dynamis und der energeia erkenntnistheoretisch jenseits einer rein physikalischen Wesensschau überhaupt erfassen können. Dass beide Begriffe bereits vor jeder rein physikalischen Analyse eine Art metaphysischen Überschuss – ein Surplus – jenseits der Bewegung in sich bergen, ist zunächst einmal eine enorme philosophische These. Spätestens mit der Formulierung der Aussage, sowohl die dynamis als auch die energeia überstiegen reine Bewegungsdynamiken, wird dadurch nämlich jeder Versuch einer Priorisierung des Moments der Verwirklichung vor dem Vermögen zu einem methodischen und vor allem auch zu einem inhaltlichen Supplement, das – davon können wir jetzt ausgehen – einen bestimmten politisch-theologischen Zweck verfolgt oder ein bestimmtes politisch-theologisches Ziel antizipiert.203 Bestand aber nicht das eigentlich revolutionäre Moment der aristotelischen dynamis bereits darin, jenseits jener Teleologie und schicksalhaften Genealogie den Zwischenbereich zwischen Vermögen und Verwirklichung erkannt zu haben, und zwar ohne dass hierbei der 203 Wir können davon ausgehen, dass auch Aristoteles mit der Priorisierung des Aktes vor der Potenz einen bestimmten Zweck verfolgte. Im Bereich der Philosophie ist das aristotelische Primat der energeia vor der dynamis nur vor dem Hintergrund einer Abgrenzung einerseits gegen die von seinem Lehrer Platon vertretene Ideenphilosophie und andererseits gegen einige Naturphilosophen zu verstehen, bei denen ein sich selbst aktualisierendes Potential zu einer dif fusen materiellen Urmasse verschwimmt.
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
existentiale Status des Vermögens entweder aufgehoben oder, wie bei den Megarikern, erst durch die Aktualisierung hindurch hinzugefügt werden müsste? Und radikalisiert sich diese These nicht bereits in dem Augenblick, in dem Aristoteles formuliert, dass sich beide Momente nicht rein in der Bewegung erschöpfen? Es handelt sich hierbei um eine Problematik von immenser Tragweite, welche auf ontologischer und logischer Ebene größtenteils sowohl bereits mit Aristoteles’ eigener physikalischen Weltsicht als auch mit seiner Ousiologie konfligiert, und welche auf epistemologischer Ebene auch zeigt, inwiefern sich im Verlaufe ihrer über zweitausendjährigen Auslegungsgeschichte an diesen Fragen die Geister schieden, wie sehr also dieser Polemos zwischen theologischer und materialistischer Auslegung noch zu sehr im Willen, eine binär codierte Welt zu generieren und zu konservieren, stand. Wie an früherer Stelle bereits gezeigt, bot sich gegen diesen Polemos binär codierten Denkens jene philosophische Vorgehensweise qua Aporizität und Metaphorik an, welche über derart ausreichend erkenntniskritisches Potenzial verfügt, dass sie allein der Differenzialität und Pluralität ihres Gegenstandes gerecht zu werden vermag. Demnach handelt es sich bei der Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen dynamis und energeia letztlich um die Auseinandersetzung mit einem Phänomen, welches in der ‚Natur‘ des Denkens jenes Verhältnisses selbst liegt, das seinerseits von der ihr immanenten Aporizität durchwebt ist, wie an früherer Stelle dieses Textes anhand jenes so einprägsamen Zitats aus der Metaphysik – „Die Aporie aber im Denken zeigt diesen Knoten in der Sache an“ (Metaph. 995a30-31) – demonstriert wurde; durch diese komm es erst zu jener für die erkennende Konstruktion der Welt notwendigen unendlichen Annäherung zwischen Denken und den zu denkenden Sachen. Nachdem nun deutlich wurde, dass die dynamis und damit auch die energeia keineswegs in physikalischen Bewegungsbegriffen aufgehen, dass sie diese sogar übersteigen und so eine Art metaphysischen Überschuss produzieren, stellt sich die Frage, wie genau sie anders als in Begriffen der Bewegung verstanden werden können. Um dies herauszufinden, so Aristoteles in seinem dynamis-Buch, müsse man sich zunächst der Mannigfachigkeit der Bedeutungen des Begriffs der dynamis selbst zuwenden, denn wir wissen es bereits: „Vermögen und VermögendSein“ werden in „mehreren Bedeutungen (aus-)gesagt“ (Metaph. 1046a4–5). Aus diesem Pool mannigfacher Bedeutungen sollen nun diejenigen extrahiert werden, die zu einer Annäherung an die Frage nach der eigentlichen Bedeutung von dynamis und energeia führen. Von allen möglichen Weisen, die dynamis zu lesen, interessieren Aristoteles nur diejenigen Vermögen, welche insofern „derselben Art angehören“ (Metaph. 1046a9), als dass ihnen Prinzipien (archai) zugrunde liegen, deren wesentliches Merkmal darin besteht, „in Beziehung auf ein erstes Vermögen“ (Metaph. 1046a10) zu stehen. Es sei daher nicht notwendig, für jede einzelne Verwendungsweise von Vermögen eine eigene Definition zu finden. Vielmehr solle man sich darauf konzentrieren, „das Analoge in einem Blick zusammenzuschauen“ (Metaph.
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1048a37).204 Damit rückt das relationale Moment des In-Beziehung-Stehens wieder in den Mittelpunkt, auch wenn es sich hierbei zunächst um eine Richtungsanzeige auf ein erstes Vermögen hin handelt. Dieses erste Vermögen, auf das sich alle anderen Vermögen beziehen, gleicht den anderen dem Prinzip nach, was bedeutet, dass ihm die strukturellen – und nicht substantiellen – Eigenschaften einzelner Vermögen prinzipiell zu eigen sind. Innerhalb des aristotelischen Denkens läuft jenes strukturelle Angleichen der unterschiedlichen dynamis scheinbar kohärent auf seinen onto-theologischen Ursprungsmythos des unbewegten Bewegers zu, der als reine Form der verallgemeinerten dynamis vorausgeht und der somit die erste Bewegung anzustoßen vermag, so zumindest der gängige Konsens in der konservativen Aristoteles-Rezeption. Wie bereits ausführlich dargestellt, existiert eine systematische Kohärenz in diesem Sinne jedoch weder für die Gesamtheit des aristotelischen Textkorpus noch für seine Metaphysik, und schon gar nicht für seine Diskussion des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia, sondern wird durch die Priorisierung der energeia vor der dynamis und mit der Einführung des unbewegten Bewegers im Verlauf des Buches erst retrospektiv hinzugefügt. Dieses retrospektive Hinzufügen ist allerdings per se bruchstückhaft, denn exakt an der Stelle, an der eigentlich eine vereinheitlichende Rückkehr in die reine Form zu erwarten wäre, verkehrt Aristoteles selbst jenes Dogma der Priorität des Aktes vor der Potenz, indem er erstaunlicherweise zuallererst der dynamis das differenzielle Moment der pluralen (Aus-)Sagbarkeit als Prinzip zugrunde legt – pollachōs legetai ē dynamis. Worauf nun die Prinzipien der dynamis ausgerichtet sind und wie sie mit der Bewegung verschränkt sind, erläutert Aristoteles zunächst im Buch V, bei dem es sich bekanntlich um eine Art philosophisches Begriffslexikon handelt. Die Leitbedeutung der dynamis wird hier in folgende zentrale Formel gefasst: Vermögen heißt einmal das Prinzip der Bewegung [kinesis] oder Veränderung [metabolē] in einem andern oder insofern es ein anderes ist […]. Einerseits also heißt Vermögen überhaupt das Prinzip der Veränderung oder Bewegung in einem anderen oder insofern es ein anderes ist, andererseits das Prinzip der Veränderung von einem anderen her oder insofern es ein anderes ist. […] [S]o wird auch das Vermögende [dynaton] in der einen Bedeutung das genannt werden, was das Prinzip ist der Bewegung und Veränderung (denn auch das Stillstand Bewirkende ist etwas Vermögendes) in einem andern oder insofern es ein anderes ist […]. Der eigentliche Begriff also von
204 Vgl. hierzu Kap. I.2. Für die energeia schreibt Aristoteles in diesem Kontext: „Doch sagt man nicht von allem in gleicher Weise, daß es der wirklichen Tätigkeit nach sei, ausgenommen der Analogie nach, indem so wie dies in diesem ist oder zu diesem sich verhält, so jenes in jenem ist oder sich zu jenem verhält; einiges nämlich verhält sich wie Bewegung zur Möglichkeit, anderes wie Wesen(heit) zu einem Stof f“ (Metaph. 1048b6–9). Dies gilt natürlich für die dynamis ebenso wie für die Seienden.
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin) Vermögen in erster Bedeutung würde danach sein: Prinzip der Veränderung in einem anderen oder insofern es ein anderes ist“ (Metaph. 1019a15–1020a6).
Demnach ist die dynamis das ursächliche Prinzip der Bewegung oder der Veränderung, das einen Umschlag hervorruft, und zwar in einem anderen Seienden oder in ein und demselben Seienden, insofern in ihm bereits eine Differenz zwischen der Bewegung oder Veränderung und der Ursache der Bewegung besteht. Diese Arten von Vermögen, die allesamt qua Bewegung definiert werden, sind daher als der Bewegung gemäße Vermögen zu betrachten: dynamis kata kinesin.205 Die zunächst synonyme Verwendung der Begriffe Bewegung und Veränderung im Buch V wird im dynamis-Buch zugunsten des Begriffs der Veränderung bzw. des Umschlags aufgehoben: Diejenigen Vermögen aber, welche derselben Art angehören, sind alle gewisse Prinzipien [archai] und werden so in Beziehung auf ein erstes Vermögen ausgesagt, welches ein Prinzip [archē] ist der Veränderung [metabolē] in einem anderen oder in ein und demselben, insofern es ein anderes ist (Metaph. 1046a9–11).
In dieser definitorischen Formel wird die dynamis als „Prinzip der Veränderung in einem anderen oder in ein und demselben, insofern es ein anderes ist“ (Metaph. 1046a10–11) zum relationalen Knotenpunkt für alle anderen dynamis. Jede Einzelaussage über die einzelnen Vermögen ist dabei erstens von der für alle dynamis charakteristischen Eigenschaft, also von der Leitbestimmung der dynamis herkommend, und zweitens aus dem ihnen intrinsischen Veränderungsprinzip heraus zu denken, wobei das eigentlich Innovative nun darin besteht, dass die dynamis nicht mehr nur kata kinesin, sondern als überhaupt existent gedacht wird. Aber auch schon als dynamis kata kinesin ist sie immer auf etwas anderes gerichtet, und in dieser Richtungsanzeige erweise sich, so Heidegger, dass Aristoteles von „vornherein […] die Mannigfaltigkeit des Wesens, seine möglichen Abwandlungen vor Augen zu legen“ vorhatte.206 Ohne diese Richtungsanzeige zum anderen hin, so können wir an dieser Stelle sagen, könnte der Übergang von der dynamis zur energeia nicht als solcher erkannt werden. Das Differenzprinzip, und damit die unbedingte Existenz eben jener Differenzen, wird damit zur notwendigen Voraussetzung für die Bestimmung der dynamis überhaupt: Ganz anders nämlich als in der Natur, die zwar ebenso ein Prinzip der Bewegung ist, jedoch in einer gewissen selbstreferentiellen Kreisbewegung verhaftet bleibt, ist die dynamis ausschließlich a) in Beziehung auf anderes oder b) in Beziehung auf sich selbst als anderes zu verstehen. Wo also die Natur lediglich Bewegung „in einem selbst, insofern dieses es selbst ist“ (Metaph. 205 Vgl. u. a. Wolf, Möglichkeit und Notwendigkeit, 15. 206 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 69; siehe auch 68.
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1049b8–11), sein kann, ergibt sich nun ein weiteres Merkmal der dynamis, das besagt, dass ihr grundsätzlich eine Differenzstruktur eingeschrieben ist, durch die sie sich von anderen (Dingen, Phänomenen, Dynamiken) und in sich selbst unterscheidet. Was dies bedeutet, erschließt sich wiederum allein aus den innerhalb dieser Definition verwendeten zentralen Begriffe ‚Prinzip‘ und ‚Veränderung‘, anhand derer sich die ‚eigentliche‘ Bestimmung der dynamis greifen lässt. Wie ist hier also letzten Endes der Begriff des Prinzips zu lesen und wie unterscheidet sich der Begriff der Veränderung bzw. des Umschlags (metabolē) von dem der Bewegung (kinesis), welcher innerhalb der Erschließung der natürlichen Phänomene als grundlegendes Movens der Natur ausgemacht wurde? „Prinzip“, so erfahren wir gleich zu Beginn des Buches V, wird „das bei einer Sache genannt, von woher einer zuerst eine Bewegung beginnt“ (Metaph. 1012b34– 35). Nachdem Aristoteles die unterschiedlichen Weisen, nach denen Prinzipien eine Bewegung anzustoßen vermögen, auflistet, extrahiert er aus diesen einzelnen Bestimmungen die übergreifende Formulierung: „Allgemeines Merkmal der Prinzipien in allen Bedeutungen ist, daß es ein Erstes ist, wovon her etwas ist, wird oder erkannt wird“ (Metaph. 1013a18–19). Wenn nun unsere bisherige Auslegung richtig ist, dann ist dieses Erste nicht mehr im Sinne eines theologischen Einen oder eines teleologischen Ziels allein zu fassen, sondern es bezeichnet – analog zu der relationalen Struktur der dynamis – jenen relationalen Knotenpunkt, in dem es zur differenziellen Kontraktion der unterschiedlichen Prinzipien kommt. Jedes Herkommen vom ersten Prinzip wäre somit, anders als man es mit Aristoteles üblicherweise meinen würde, nicht chronologisch im Sinne einer gestaffelten Abfolge statischer Intervalle zu verstehen; vielmehr ist das Prinzip etwas, dessen scheinbare Vorgängigkeit sich bar jeder Linearität erst exakt in dem Moment einstellt, in dem es zum Angleichen zwischen verschiedenen Sachen und dem Denken und schließlich zum Erkennen (und Erfahren) jener Korrelation kommt.207 Das Prinzip, die archē, ist somit ebenfalls rein relational zu denken.208 207 Dies hängt mit der grundlegend relationalen Struktur der Bewegung selbst zusammen, die nicht etwa aus sich heraus oder gar als übergeordnete Struktur, sondern immer in Beziehung zu den Dingen betrachtet werden muss. In der Physik schreibt Aristoteles daher den bereits zitierten Satz: „Die Bewegung (kinetikon) ist ja ein Bewegendes (kinetikon) eines Bewegbaren (kineton), und umgekehrt die Bewegung (kineton) ist bewegbar (kineton) durch ein Bewegendes (kineton). Es gibt aber keine Bewegung (kinesis) abgesehen von den Dingen (pragmata)“ (Aristoteles, Phys. 200b31–33). 208 Wenig Sinn macht es daher, die archē als „ausgängliche Verfügung“ zu übersetzen, wie Heidegger dies in Vom Wesen und Begrif f der Φύσις (vgl. u. a. 270–271) vornimmt, suggeriert dies doch, die archē gerade wieder als eine die Bewegung anstoßende Ursache anzusehen. Dabei weist Heidegger eindeutig, wenn auch nicht bis zur letzten Konsequenz, auf den paradoxalen Charakter der archē hin: „Die ἀρχή ist also nicht dgl. wie der Ausgangspunkt eines Stoßes, der dann das Gestoßene wegstößt und ihm selbst überläßt, sondern was dergestalt durch die φύσις bestimmt ist, bleibt in seiner Bewegtheit nicht nur bei ihm selbst, sondern es geht, indem es gemäß der Bewegtheit (des Umschlagens) sich entbreitet, gerade in es selbst zurück“ (Heidegger, Vom Wesen und Begrif f der Φύσις, 254). Diese Erläuterungen sind gewiss im Hin-
VI. Aristoteles’ dynamis und das Prinzip der Bewegung (auf ein Vielfaches hin)
Alle Prinzipien – und also auch alle dynamis als Prinzipien der Bewegung bzw. des Umschlags – haben daher diese archē. Aber diese archē ist selbst keine ontologische Konstante, sondern sie ergibt sich erst aus diesem Moment des Angleichens, der das zusammenhält, was mannigfach zersplittert ist, und so eine notwendige Kohärenz schafft. Anders also als auf einen allgemeinen Grund im Sinne eines Ursprungs hinzuweisen – denn das wäre es, was üblicherweise ein Prinzip auszeichnet –, ist durch diese Lesart eigentlich ein Bruch mit und im Prinzip angezeigt. Am Verhältnis zwischen dynamis und energeia zeigt sich somit erstens, dass das Prinzip, die archē, selbst zu einer Pluralität von Gründen wird, und zweitens, dass somit auch die dynamis als Prinzip der Veränderung das (selbst-)differenzielle Moment bereits in sich birgt. Damit ist das Prinzip der Veränderung, das die dynamis ja ist, eigentlich ein Prinzip und ein Nicht-Prinzip, eine archē und an-archē, deren Feststellbarkeit sich paradoxerweise gerade aus jener uneinheitlichen, unvollendeten und differenziellen Struktur generiert. Ausgehend von dieser Prämisse müsste von jetzt an eigentlich jeder Versuch der Priorisierung entweder der dynamis oder insbesondere der energeia von vornherein unterminiert sein, woraus folgt, dass jeder Versuch, diese Priorisierung dennoch vorzunehmen, anstatt das Moment der Differenz und Aporie selbst als Prinzip in den Blick zu nehmen, bereits eine theologisch-politische und ethische Entscheidung impliziert. Weshalb dieses Prinzip der Differenz als Prinzip des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia sowie als Prinzip der dynamis selbst lesbar ist, ließ sich textimmanent anhand eines schrittweisen Justierens des Bewegungsbegriffs hin zum Begriff der Veränderung festmachen, und zwar von der physikalischen Bestimmung des Verhältnis zwischen dynamis und energeia bis hin zur metaphysischen, durch die sie jede auf die Physis begrenzte Bestimmung übersteigen, wobei dieses Übersteigen im aporetischen Sinne als intensionales und inversives Moment des Überschusses (des Surplus) zu verstehen ist. Daraus erschloss sich, dass die dynamis als archē der metabolē eine archē der Differenz sein muss, die der Pluralität des Seienden, der Vermögen selbst (und der Politiken) aufgrund ihrer intrinsischen Differenzialität und Pluralität Halt gibt. Wenn nun die dynamis das Prinzip, die archē, der Veränderung ist, so können wir vor diesem Hintergrund festhalten, dass diese nicht anders als im Sinne eines relationalen Differenzbegriffs gedacht werden kann, der notwendig zusammenhält, was er trennt. Damit wäre ein grundlegendes Attribut der dynamis angezeigt, welches besagt, dass die dynamis jeder Veränderung als archē und an-archē zugrunde blick auf die Feststellung einer gewissen Selbstreferenzialität der archē richtig, haben aber eine tautologische Note, wenn hier nicht die der archē inhärente dif ferenzielle und aporetische Dynamik als notwendige Voraussetzung mitgedacht wird. Auch wegen ihrer juristischen Konnotation wäre eine Übersetzung der archē als ‚ausgängliche Verfügung‘ – zumindest aus politischer Perspektive – höchst problematisch.
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liegt. Damit wiederum ist jenes aporetische Moment des Umschlags (metabolē) gemeint, in dem etwas in sich zusammengehalten und intensiviert wird, während es gleichzeitig nach außen, nach seiner Manifestation in der Wirklichkeit drängt. Offenbar haben wir es bei der dynamis mit einem jegliche Chronologien entsetzenden Zustand der Kraftverdichtung zu tun, der es vermag, expansive Dynamiken anzustoßen, die sich jedoch nie in unendlichen Weiten auflösen, sondern von denen mindestens ein Teil nach Verwirklichung strebt. Daher ist die dynamis kein dionysischer Exzess, sondern bleibt einerseits an das intensionale und inversive Moment der Differenzialität und Pluralität sowie andererseits an die Notwendigkeit ihrer Verwirklichung und damit letztlich an die Aporizität und Metaphorik der sie beschreibenden Sprache gebunden und schafft dadurch erst eine Art epistemologische Stabilität in einer ebenso aporetisch wie „dynamisch konstituiert[en]“209 Welt. Dies wiederum ist ein abstrakter Sachverhalt, der sich näher erschließen lässt, wenn wir jenes differenzielle, aporetische und kraftvolle Attribut der dynamis im Hinblick auf den Moment des Umschlags (metabolē) ein weiteres Mal in den Blick nehmen.
209 ‚Dynamisch konstituiert‘ ist bei Derrida die dif férance, durch welche diese zwar als verräumlicht verstanden werden kann, jedoch nicht im Sinne eines anwesenden Seienden. So schreibt er: „Cet intervalle se constituant, se divisant dynamiquement, c’est ce qu’on peut appeler espacement, devenir-espace du temps ou devenir-temps de l’espace (temporisation). Et c’est cette constitution du présent, come synthèse ‚originaire‘ et irreduciblement non-simple, donc, stricto sensu, non-originaire, de marques, de traces de rétentions et de protentions […] que je propose d’appeler archi-écriture, archi-trace ou dif férance. Celle-ci (est) (à la fois) espacement (et) temporisation“ (Derrida, Dif férance, 13–14). Nach dem bisher Gezeigten können wir dies zweifelsohne als Grundkonstitution der Welt verstehen. Vgl. exemplarisch: Jacques Derrida, La dif férance, in: Derrida, Marges de la philosophie, Paris: Les éditions de la minuit 1972, 1–30.
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VII. Die Zeit der dynamis: Metabolē – l’avenir – Augenblick Der eigentliche Begriff also von dynamis in erster Bedeutung würde danach sein: Prinzip (archē) der Veränderung (metabolē) in einem anderen oder insofern es ein anderes ist. Aristoteles, Metaphysik, 1020a4–6
Gemäß dieser zentralen Definition im Buch V der aristotelischen Metaphysik besteht die Leitbedeutung der dynamis darin, dass sie die archē jeder Veränderung – jeder metabolē beziehungsweise jedes Umschlags, wie es bei Heidegger heißt, – von einem Vermögen hin zu seiner Verwirklichung ist. Anhand der dekonstruktiven Lektüre der einschlägigen Passagen zur dynamis zeigte sich, dass der Begriff des Prinzips hier nicht im strengen Sinne als Quelle, aus dem jede Bewegung entspringt, verstanden werden darf, sondern vielmehr so justiert werden muss, dass er der aporetischen, differenziellen (und non-systematischen) Axiomatik der Metaphysik gerecht wird. Die archē, die die dynamis ist, zeigte sich in dieser Hinsicht in ihrer vollen Aporie, nach der sie eigentlich ein Prinzip und ein Nicht-Prinzip, archē und an-archē zugleich ist, so dass ihr also eine prinzipielle Differenzialität zu eigen ist. Nicht so ist es daher, dass hierdurch das Verhältnis von dynamis und energeia aufgehoben wäre: Vielmehr bleiben Vermögen und Verwirklichung aporetisch in ihrer Differenzialität aneinandergebunden, und zwar qua dieses Augenblicks des Umschlags, der metabolē. Ein Vermögen muss dementsprechend immer im notwendigen Zusammenhang mit dem Moment seiner Übertragung gedacht werden, und damit letztlich immer auch in seinem Gebundensein an das Moment der Verwirklichung, damit es überhaupt epistemologisch erschlossen werden kann; umgekehrt gilt, dass etwas nur dann verwirklicht wird, wenn es potentiell existierte und gleichzeitig jeder vollständigen Verwirklichung widersteht, wenn es sich also in seiner Potentialität über das Moment der Verwirklichung hinaus erhält210 – in 210 So in etwa auch Brentano: „[S]o scheint nur übrig zu bleiben, daß man [die dynamis] für eine unvollendete energeia erklärt, für eine entelecheia, die keine Vollendung gibt, was doch, wenn man darunter nicht eine Privation versteht, wie ein Widerspruch aussieht. Allein das Räthsel
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dieser Unmöglichkeit einer vollständigen Fixierung auf entweder das eine oder das andere Moment besteht die Aporie. Weil dieses potentielle Existieren des Vermögens nie vollständig in seiner Verwirklichung aufgelöst oder aufgehoben werden kann, müssen daher beide Momente, so Aristoteles’ wichtiges Argument, auch jenseits physikalischer Bewegungsbegriffe gedacht werden, „denn Vermögen und Verwirklichung erstrecken sich weiter als nur auf das in Bewegung Befindliche“ (Metaph. 1046a1–2). Jener durch das ‚Weiter-als‘ produzierte Mehrwert manifestiert sich nun einerseits auf der Seite der energeia durch ihre Entelechie, das heißt durch ihre Vollendung im Werk (ergon), sowie andererseits auf der Seite der dynamis durch den Widerstand eines vollständigen Übergehens in die Form. Während allerdings die energeia durch den Akt der Vollendung im Werk nichts mehr anderes als dieses vollendete Werk sein kann, ist die dynamis durch die immanente Möglichkeit der Veränderbarkeit ausgezeichnet: Sie kann immer, muss aber nicht, auch etwas Anderes sein. Aufgrund dieser Unmöglichkeit eines vollendenden Aufgehens in die Form erhält sich dauerhaft ihre Potentialität. In seiner Schrift über das Materialismusproblem folgert Ernst Bloch deshalb: Als Fazit liegt jedenfalls nahe: die angebliche Gleichgültigkeit des aristotelischen Stoffs dem gegenüber, was aus ihm wird, ist nicht nur das zufällige Auch-AndersSein-Können, sondern ebenso das unabgeschlossene Noch-Nicht-Sein, ja Viel-MehrSein-Können im Vergleich zu den bereits gewonnenen Formen. Die Materialität wäre demnach […] potentiell reicher als jede ihrer bisherigen entelechetisch bestimmten Form-Gestalten, sie ist am wenigsten auf ihre physisch-mechanischen Gestalten beschränkt.211
Wegen dieser Unabgeschlossenheit, wie Bloch es nennt, oder der Unmöglichkeit eines vollendeten Aufgehens in die Form, kann es – übertragen wir diese Ausführungen auf das Verhältnis zwischen Form und Materie – für letztere keine rein positive Charakterisierung im Sinne einer Festschreibung geben.212 Die Materie ist vielmehr allein über die dynamis, und damit gerade durch den Widerstand gegen eine vollständige Aufhebung in die Form bei gleichzeitig notwendigem Gebundensein an diese, gekennzeichnet.213 Dabei ist diese Widerständigkeit als löst sich so: die Bewegung constituirt als energeia etwas im Zustande der Möglichkeit Befindliches als solches, und das Mögliche natürlich ist etwas Unvollendetes, daher ist das, was die Bewegung vollendet, ein Zustand der Nichvollendung, was sie verwirklicht, ein Zustand vor der Wirklichkeit“ (Brentano, Mannigfache Bedeutung, 68–69). Dieser von Brentano beschriebene „Zustand vor der Wirklichkeit“ ist zugleich als das Moment zu verstehen, in dem die dynamis (und die energeia) den physikalischen Rahmen bloßer Bewegungsterminologien übersteigen. 211 Bloch, Materialismusproblem, 144–145. 212 Vgl. auch Owens, Doctrine of Being, 338. 213 Aus diesem Sachverhalt lässt sich auch der Erhalt der Dif ferenz zwischen dynamis und energeia ableiten. Anders interpretiert dagegen Owens, der den Grund der dynamis und der Materie
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ein genuin der dynamis eingeschriebenes Moment der Reduktion, des Zurückhaltens – oder auch des In-Wendens, wie wir es an anderer Stelle genannt haben – zu verstehen, durch das ein Surplus (ein potentielles Mehr-als) erzeugt wird. Der gängige philosophische Begriff für diese Ermangelung an Form, für den reduktiven Mehrwert der dynamis, ist sterēsis oder Privation, und dieser wiederum hängt mit dem für das Verständnis der dynamis zentralen, ihr immanenten Moments des Unvermögens, der adynamía, zusammen. Im Allgemeinen beschreibt der Begriff der sterēsis einen Mangel an Form,214 der einen „Formzustand des Materials vor der Verarbeitung“215 anzeigt, wie Heinz Happ in seinem Hylē-Buch feststellt. Wenn nun gemäß der aristotelischen Vorstellung alles Werden aus Stoff, Form und sterēsis besteht und letztere immer das bezeichnet, was noch nicht Form geworden ist, handelt sich bei der sterēsis um einen Mangel an Form seitens der Materie, welcher jedoch nicht Nichts ist, sondern ebenso wie die Form jeder Materialität als drittes Seins-Moment zugrunde liegt. Die sterēsis ist demgemäß eine noch nicht verwirklichte Form und nicht bloß keine Form.216 Mit anderen Worten: Die sterēsis ist in der Form der adynamía. Deshalb schreibt Giorgio Agamben in seinem Essay Die Macht des Denkens: Es gibt eine Form, eine Präsenz dessen, was nicht aktuell ist, und diese privative Präsenz ist die Potenz. Wie Aristoteles in einem außerordentlichen Passus der Physik rückhaltlos behauptet: ‚Die sterēsis, die Privation ist wie eine Form [eidos ti, eine Art Anblick] (193 b 19–20).217
nicht in der Dif ferenz findet, sondern noch wie in der theologischen Lesart in der Entität sucht: „[Entity] is the reason why matter is“ (Owens, Doctrine of Being, 337). Die Materie könne von sich selbst nichts wissen und erhalte ihre Determination erst durch die Form, so Owens. Damit fallen Form und Materie im Werk zusammen: „The matter, then, is the thing itself. It and the form are one and the same thing. The matter is the thing as potency. In saying that a statue is bronze, you are expressing the Being of the statue. You are saying what it is. Everything in the statue is in some way bronze. But you are expressing the Being of the statue only as potency. If you say: ‚It is a figure of Hercules‘, you are expressing the very same Being, but you are expressing it as act” (Owens, Doctrine of Being, 341). Die Aussage, die Statue sei aus Bronze, impliziert jedoch vielmehr auch die Frage danach, Wie sie ist?, und nicht so sehr einfach, Was sie ist? Es bedarf daher mindestens ebenso einer metaphorologischen anstatt nur einer ontologischen Antwort. 214 Zur sterēsis bzw. Privation existiert eine Fülle an Literatur, welche die gesamte Philosophiegeschichte durchzieht. Für die vorliegende Argumentation soll nur exemplarisch auf diese verwiesen werden, da sie einen Teilaspekt der dynamis bildet. Es ist für das Verständnis daher nicht nötig, an dieser Stelle im Detail auf die Exegese dieses Begrif fs einzugehen. 215 Happ, Hyle, 289. 216 Vgl. den Eintrag „Beraubung“, in: Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begrif fe, Berlin: Mittler und Sohn 1899/1904. 217 Giorgio Agamben, Die Macht des Denkens, übers. v. Emmanuel Alloa, in: Giorgio Agamben, Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, übers. v. Francesca Raimondi, Frankfurt: S. Fischer 2013, 313–330, hier: 318.
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Folgen wir dieser Deutung durch Aristoteles-Aquinas-Agamben, so ist die Materie oder die Potentialität nicht als formlose Urmasse zu verstehen, sondern ihr widerständiges, zurückhaltendes Moment ist bereits auch schon an eine Form gebunden. Der Materie haftet immer ihre sterēsis an, weswegen sie allein in Bezug auf diese gedacht werden kann, denn sie ist Form nur dem Vermögen nach, nicht aber per se – sie ist damit also immer auch im Seinszustand der sterēsis.218 Die sterēsis meint daher das Moment, in dem etwas noch nicht verwirklicht ist, welchem jedoch gleichzeitig jede Verwirklichung (das Formwerden) potentiell zugrunde liegt. Ebenso wie bei der dynamis besteht somit das grundlegendste Merkmal der sterēsis in ihrer Relationalität zur adynamía und dynamis. Aristoteles zufolge ist die adynamía wiederum als die einem „Vermögen entgegengesetzte Privation“ (Metaph. 1046a29–30)219 zu deuten, wobei das Unvermögen und die Privation nicht identisch sind, sondern die sterēsis vielmehr neben dynamis und adynamía einen merkwürdigen dritten Seinsstatus anzuzeigen scheint, durch welchen die Möglichkeit der Existenz des Unvermögens als essentieller Bestandteil dem Vermögen selbst eingeschrieben wird. 220 Wie Daniel Heller-Roazen in seiner erhellenden Einleitung To Read What Was Never Written zu Giorgio Agambens Essaysammlung Potentialities221 schreibt, ist dieser Sachverhalt die notwendige Bedingung für das dauerhafte Bestehen des Vermögens:
218 Ebenso wie die dynamis ist übrigens auch die sterēsis mannigfach aussagbar – „sterēsis legetai pollachōs“ (Metaph. 1046a31–32). 219 Der Eintrag im LSJ zur adynamía lautet wie folgt: „1. want of strengh, debility; 2. generally, inability, incapacity; 3. poverty, lack of resources.“ 220 So auch Emmanuel Alloa in seiner Studie zum Diaphanen mit Verweis auf Agamben: „Denn eine dynamis zeichnet sich nicht allein dadurch aus, dass man etwas in einer konkreten Situation tun kann, sondern auch dadurch, dass man es auch nicht tun kann. Die Nichtaktualisierung würde dann nicht allein auf ein adynaton verweisen, sondern auch auf ein Aufrechterhalten der Möglichkeit der Nichtaktualisierung“, in: Emmanuel Alloa, Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie, Zürich: Diaphanes 2011, 114. In seinem Essay über Aristoteles’ dynamis-Begrif f schreibt wiederum Agamben, dass nur derjenige „authentisch frei“ sein könne, dem es gelinge, sich zu seinem eigenen Unvermögen zu verhalten (Agamben, Macht des Denkens, 321). Agamben orientiert sich hier an Aristoteles’ Erläuterungen zur dynamis aus De anima. Vgl. Aristoteles, Über die Seele (De Anima), hg. v. Hellmut Flashar, übers. v. Willy Theiler, Berlin: Akademie Verlag 1986. Wie sich das Unvermögen nun zum Willen (oder Unwillen) verhält, wird von Dirk Setton eingehend in seiner Studie Unvermögen. Die Potentialität der praktischen Vernunf t beschrieben (Zürich/Berlin: Diaphanes 2012). 221 Daniel Heller-Roazen, Editor’s Note: ‚To Read What Was Never Written‘, in: Giorgio Agamben, Potentialities. Collected Essays in Philosophy, übers. u. m. e. Einl. hg. v. Daniel Heller-Roazen, Stanford: Stanford University Press 1999. Diese Zusammenstellung an Essays erschien bereits 1999, gefolgt von der erweiterten italienischen Ausgabe, auf der auch die deutsche Übersetzung basiert: Giorgio Agamben, La potenza del pensiero. Saggi e conferenze, Vicenza: Neri Pozza 2005.
VII. Die Zeit der dynamis: Metabolē – l’avenir – Augenblick As presented by Aristotle, the notion of potentiality thus constitutively requires that every potential to be (or do) be ‚at the same time‘ a potential not to be (or do), and that every potentiality (dynamis) therefore be an impotentiality (adynamía). After all, if potentiality were always only potential to be (or do), everything potential would always already have been actualized; all potentiality would always already have passed over into actuality, and potentiality would never exist as such.222
Erst durch das Verhältnis des Vermögens zu dem ihm eigenen Unvermögen ist bei Aristoteles daher die Existenz der dynamis gesichert, erst dadurch erhält sie also ihren eigenen Seinsstatus. Der originäre Seinsstatus der dynamis ergibt aus dieser intrinsischen Relationalität zu ihrer eigenen Privation, so Agamben in seinem Essay On Potentiality: „[D]ynamis […] maintains itself in relation to its own privation, its own sterēsis, its own non-Being. This relation constitutes the essence of potentiality.“223 Es ist also die inhärente Relationalität der dynamis zu ihrem eigenen Unvermögen, durch die sie sich auch über ihre Aktualisierung hinaus erhält.224 Deswegen erweist sich die Unmöglichkeit der Möglichkeit – oder das Unvermögen des Vermögens – eines vollständigen Verwirklichens als maßgebliches Charakteristikum für jede Bestimmung sowohl der dynamis als auch des Übergangs von der dynamis zur energeia.225 222 Heller-Roazen, in: Agamben, Potentialities, 16. 223 Agamben, On Potentiality, in Potentialities, 182. 224 Agambens Ansatz ist – trotz aller gegen seine Methode vorgebrachten Kritik – insofern einleuchtend, als dass es ihm gelingt, das Augenmerk auf das wichtige Moment des Unvermögens zu richten und dieses so unter Rückgrif f auf Bartlebys einprägsames „I would prefer not to“ als Moment der Ermöglichung neuer politischer und geschichtlicher Lebensformen zu deuten. Siehe: Herman Melville, Bartleby, the Scrivener. A Story of Wall-Street, in: Melville, The Piazza Tales, Evanston: Northwestern UP 1996, 13–45. Hierzu Agamben, Bartleby oder die Kontingenz: gefolgt von: Die absolute Immanenz, übers. v. Andreas Hiepko u. Maria Zinfert, Berlin: Merve 1998. Bartlebys Zurückweisen jeglicher Tätigkeit birgt – so ‚politisch‘ man das auch gerne denken mag – jedoch gleichzeitig eine unpolitische Seite, die darin besteht, sich von sämtlichen Aktivitäten in der Welt auszuklinken. Das gegenteilige Pendant dazu wäre ein reiner Aktivismus, der für den Bereich des Politischen ebenso ‚inhaltsleer‘ sein könne, wie sich realpolitisch z. B. am US-amerikanischen Wahlkampf von Obama zeigen lasse, so Christoph Menke in seinem Artikel „Yes we can“. Inhaltliche Leere als reines Können, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19. November 2008. 225 So auch Agamben: „Weder löst der Übergang zum Akt die Potenz auf, noch geht sie vollends in den Akt über, vielmehr bleibt sie im Akt als solche erhalten und lässt sich in der eminenten Gestalt eines Vermögens-nicht-zu-sein (sein oder tun) erfassen“ (Agamben, Macht des Denkens, 328–329). Es bleibt bei Agamben unbeantwortet, wie genau das Unvermögen ‚erfasst‘ werden kann, handelt es sich hierbei doch um einen Zustand der sprachlichen Unvermittelbarkeit, wie Werner Hamacher deutlich macht: „Diese im Dunkeln gelassene Kraf t […] ist die Unkraf t, nämlich die Unmöglichkeit der vollständigen Mitteilung, das Unvermögen und die Ohnmacht, zu verstehen und verstehen zu geben – wie jeder leicht wissen kann, nämlich zum Beispiel aus der Aristotelischen Metaphysik, in der es von der Kraf t heißt, sie sei wesentlich Unkraf t in Beziehung auf dasselbe, wofür sie Kraf t ist: dynamis adynamía, Kraf t Unkraf t, Möglichkeit Unmöglichkeit. Als Medium der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Mitteilung ist die Sprache […]
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Diese notwendige Relationalität beschränkt sich nun, so kann vorerst zusammengefasst werden, nicht nur auf das Verhältnis zwischen dynamis und adynamía oder sterēsis, sondern die dynamis bleibt ebenso notwendig an das Moment des Umschlags zur energeia gebunden. In seiner Studie zu souveränen Macht Homo Sacer fasst Agamben den relationalen Charakter der dynamis wie folgt: Das Vermögende kann erst dann zum Akt übergehen, wenn es die Potenz, nicht zu sein (seine adynamía), ablegt. Dieses Ablegen der Impotenz bedeutet nicht ihre Zerstörung, sondern im Gegenteil ihre Erfüllung; die Potenz wendet sich auf sich selbst zurück, um sich sich selbst zu geben. […] Aristoteles […] beschreibt den Übergang zum Akt […] nicht als Veränderung oder Zerstörung der Potenz im Akt, sondern als eine Selbstbewahrung der Potenz.226
Die von Agamben beschriebene – und an anderer Stelle kritisierte227 – für den ontologischen Status der dynamis notwendige Relationalität besteht folglich in einer mehrfachen Gerichtetheit, durch die hindurch sich sowohl das eine als auch das andere Moment erhält, und die des Weiteren als beide Momente aneinanderbindende Differenz den Seinsstatus sowohl für die dynamis als auch für die energeia verbürgt. Die dynamis ist daher nie mit sich selbst identisch, sie ist nie rein selbstreferentiell, sondern immer sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet.
immer eine gebrochene, fragmentarische, von sich selbst entfernte, muß sich in immer anderen Bedeutungen, in einer unkontrollierbaren Flucht vor Allosemen und Allegorien, als immer anderes denn Bedeutung, immer anderes denn Sprache und kann sich nur so als diese ‚selbst‘ darbieten: als ausgesetzte Sprache, Sprache ohne Sprache“, in: Werner Hamacher, Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt: Suhrkamp 2006, 24. 226 Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt: Suhrkamp 2002, 57. 227 Die Kritik von Agamben richtet sich hauptsächlich gegen jene die Ideengeschichte dominierende Vorstellung eines notwendigen Zusammenhangs zwischen Vermögen und Verwirklichung, durch welchen die dynamis auf ihre Aktualisierung reduziert werde und so ihre positive Bedeutung als grundlegend of fene Potentialität verliere. Der relationale Charakter der dynamis, durch den sie sich über die adynamía auf sich selbst zurückwendet und so ihren ontologischen Status manifestiert, sei des Weiteren die Quelle des in der abendländischen Philosophie vorherrschenden „Paradigmas der Souveränität“ (Agamben, Homo Sacer, 57). Um den „souveränen Bann“ zu überwinden sei es vonnöten, so Agamben, die Potenz vom Souveränitätsprinzip und die Politik letztlich von allen „Figuren der Beziehung“ zu lösen (vgl. Agamben, Homo Sacer, 55 u. 57). Dies ist nicht der richtige Ort, um sich den hier von Agamben aufgeworfenen wichtigen Fragen (a. Kann das aristotelische Beziehungsgeflecht dynamis/adynamía/ energeia tatsächlich als Stif tungsmoment von Souveränität gelesen werden?; b. Ist eine Politik „jenseits aller Figuren der Beziehung“ denkbar?) zu widmen. In seinen Seminaren zur Souveränität, die er von 2001 bis 2003 an der EHESS hielt, dekonstruiert Derrida (vielleicht als Antwort auf Agamben) den Zusammenhang von dynamis und Souveränität; vgl. Jacques Derrida, The Beast & the Sovereign Bd. I, übers. v. Geof frey Bennington, Chicago/London: The University of Chicago Press 2009, 230f f. u. 258f f.
VII. Die Zeit der dynamis: Metabolē – l’avenir – Augenblick
Die Relationalität oder Differenzialität der dynamis – die sich, wie demonstriert, wechselseitig verbürgen und daher synonym verwendet werden können – haben nun eine merkwürdige Zeitstruktur, denn sie sind sowohl über jene mehrfache Gerichtetheit als auch über die Unmöglichkeit oder auch Unvollendbarkeit definiert. Durch diese wiederum ist eine Erkenntnis des Übergangs von der dynamis zur energeia, welche sich an der Ökonomie einer linearen Zeitachse entlanghangelt, nicht mehr möglich, weil sich bereits die mehrfache Gerichtetheit ihrer räumlichen und zeitlichen Bewegung nicht mit der gängigen Vorstellung linearer Abläufe deckt. Vielmehr erklärt sich ihre Dynamik aus dem disruptiven Moment des Umschlags heraus, der jede Linearität des Raums und der Zeit zu entsetzen vermag. Aber wie genau ist nun dieses Moment des Umschlags zu verstehen? Zunächst einmal ist der Übergang von der dynamis zur energeia im Sinne eines unvollendeten Verwirklichens zu verstehen, das ist ein Verwirklichen, das immer im Kommen, das immer à venir ist, um es mit Derrida zu reformulieren.228 Anhand dieser dekonstruktiven Lesart der besonderen Struktur des Übergangs von der dynamis zur energeia wird deutlich, dass die Vermögen – anstatt im Übergehen in die Form bloß zu verwirken – letztlich jeder vollständigen Verwirklichung widerstehen und so quasi immer schon bevorstehen.229 Das Besondere dieses Bevorstehens liegt nun darin, dass es als ein Zu-Kommendes sowohl im Hinblick auf den Moment des Umschlags als auch immanent in der dynamis selbst den Raum der Differenzen erst eröffnet. Daher darf dieses Im-Kommen-Sein der dynamis nicht mit einem einfachen temporären Streben in die Zukunft verwechselt werden, denn diese markiert genauso wie die Gegenwart einen zeitlichen Punkt der Anwesenheit und ist gewissermaßen als lineare Verlängerung der Vergangenheit zu betrachten.230 Eine solche Anwesenheit kann jedoch die dynamis und damit der 228 Jacques Derrida führt das Konzept des l‘à-venir oder l’avenir in mehreren unterschiedlichen Texten ein. Vgl. hierzu exemplarisch seine ‚Definition‘ in der biographischen Dokumentation Derrida von Amy Ziering und Kirby Dick: „In general, I try to distinguish between what one calls the future and ‚l’avenir‘. The future is that which – tomorrow, later, next century – will be. There’s a future, l’avenir (to come), which refers to someone whose arrival is totally unexpected. For me, that is the real future. That which is totally unpredictable. The Other who comes without me being able to anticipate their arrival. So if there is a real future beyond this other known future, it’s l’avenir in that it’s the coming of the Other when I am completely unable to foresee their arrival“, in: Amy Ziering Kofman/Kirby Dick, Derrida. Screenplay and Essay on the Film, Manchester: Manchester UP 2005, 52–53. 229 Die Unmöglichkeit einer vollständigen Verwirklichung kann auch so verstanden werden, als dass jede Verwirklichung, da sie an einen bestimmten Akt gebunden ist, als unvollständig betrachtet wird, denn sie könnte vielleicht auch etwas anderes als das, was sie soeben geworden ist, sein. Dies triff t in gewisser Weise zu, impliziert aber eine etwas andere Fragestellung, nämlich die nach den Möglichkeiten des Wahrwerdens bestimmter Tätigkeiten. Das Vermögen, von dem hier die Rede ist, ist dagegen nicht rein modallogisch zu fassen, sondern meint eine ontologische Konstitution. Ich danke Christoph Menke für diesen Hinweis, beide Lesarten von ‚unmöglich‘ zu dif ferenzieren. 230 Jene Öf fnung des Raumes der dif férance durch das l’avenir birgt daher eine Unterbestimmtheit, der Derrida richtigerweise eine gewisse Gefährlichkeit attestiert: „L’avenir ne peut s’anti-
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Umschlag von der dynamis zur energeia gar nicht sein, denn sonst wäre sie bereits in der Aktualität vollendet. Dieser prozessuale Vollendungsgedanke widerspricht jedoch unserer Dekonstruktion der dynamis, denn diese impliziert gerade das inversive und intensionale Moment des Widerstands und des Bruchs bei gleichzeitigem expansiven Aktualisierungsstreben. Die Öffnung des Raumes der Differenzen durch dieselbe ist somit keinesfalls als diffuse Zerstreuung in unendliche Weiten der Potentialität zu verstehen – sie ist eben kein dionysischer Exzess, wie an anderer Stelle bereits betont –, sondern geht mit der gleichzeitigen und notwendigen Gebundenheit an die Momente der Aktualisierung einher, wobei diese Gebundenheit explizit die Struktur einer (doppelten) Aporie hat. Damit lässt sich diese Öffnung qua Umschlag von der dynamis zur energeia nicht in einer reinen Dialektik auflösen, sondern sie ist aporetisch zu verstehen, und zwar insofern, als dass in ihr jene bruchhafte, differenzielle Relationalität nicht etwa aufgehoben ist, sondern vielmehr sowohl im Übergang von der dynamis zur energeia als auch in der dynamis selbst erhalten bleibt. Aus dieser doppeltaporetischen Referenzialität oder Differenzialität heraus, nämlich derjenigen zwischen dynamis und energeia und derjenigen, die als dialektisches Movens zwischen notwendiger Verwirklichung einerseits und dem Widerstand gegen jedes vollständige Verwirklichen andererseits der dynamis inhärent ist, kommt es im Moment des Umschlags zu einer differenziellen Kontraktion, die einen Zwischenraum produziert – ein „Kraftfeld“, um es mit Walter Benjamin zu sagen –,231 der ciper que dans la forme du danger absolu; il ne peut s’annoncer que sous l’espèce de la monstruosité“ (Derrida, De la grammatologie, 14). Aufgrund dieser immanenten Gefährlichkeit jenes Öf fnens zur dif férance hin bedient sich Derrida einerseits des an Levinas angelehnten quasitranszendentalen ethischen Regulativs des Anderen sowie andererseits der zeitlichen Struktur des Futur Antérieur, das ‚wie etwas gewesen sein wird‘ als quasi-normativen Soll-Zustand antizipiert: „Le seul avenir désirable et digne d’intérêt, c’est de laisser se mettre en mouvement la dif férance de l’autre“, in: Jacques Derrida, Psyché. Interventions de l’autre I, Paris: Galilée 1987, 60–61. 231 Vor allem im Konvolut N von Benjamins Passagenarbeit kommt der Begrif f des „Kraf tfeldes“ vor. Mit Ausnahme einer einzigen Stelle in seinem gesamten Oeuvre – nämlich im TheologischPolitischen Fragment von 1920/21, in dem Benjamin seine Auslegung des historischen Messianismus mit dem Satz „Das Reich Gottes ist nicht das Telos der historischen Dynamis“ (GS II.1, 203) eröf fnet, existieren keine weiteren direkten Referenzen zum Begrif f der dynamis. Für die Überprüfung in den Archivbeständen des Walter Benjamin-Archivs danke ich Ursula Marx und Nadine Werner. B enjamins häufiger und zentraler Gebrauch des Begrif fs der Aktualität an wichtigen Stellen seines Werks ist dagegen auf fällig und bedarf einer vertiefenden Auslegung, v. a. im Zusammenhang mit seiner Verwendung der Begrif fe Gewalt, Kraf t und Kraf tfeld. Dem nachzugehen kann nicht Bestandteil vorliegender Studien sein. Ein erster Versuch, dies vor dem Hintergrund von Benjamins berühmtem Essay Zur Kritik der Gewalt und Derridas Exegese desselben in Gesetzeskraf t zu tun, findet sich aber in meinem Aufsatz „A Crystal of Time. (Political) Reflections towards a History of the Now: Benjamin and Derrida”, in: Discontinuous Infinities. Walter Benjamin and Philosophy, hg. v. Jan Sieber, Sebastian Truskolaski, Anthropology and Materialism – A Journal of Social Research (2017). Siehe auch: Walter Benjamin, Passagen-Werk, GS V.1, 517–611. Vgl. hierzu v. a. die beiden Einträge von Werner Hamacher Das Theologisch-Politische
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ein ebenso kraftvolles wie kritisches Potential birgt, worauf wir an späterer Stelle zurückkommen werden. Wie soeben gezeigt, ist also das Verhältnis zwischen dynamis und energeia als ebenso unaufhebbare wie (doppelt-)aporetische Relationalität zu denken, welche dem Übergang zwischen beiden Momenten zugrunde liegt. Folgen wir nun der dekonstruktiven Lesart des Prinzips als archē und an-archē, das die dynamis ja ist, so zeichnet sich der für das Verhältnis zwischen dynamis und energeia (das als Aporie immer auch ein Un-Verhältnis ist) zentrale Moment des Umschlags (metabolē) als dessen eigentliches Charakteristikum aus: Allein durch dieses zentrale Moment des Umschlags von der dynamis zur energeia ist eine teilweise Verzeitlichung und Verräumlichung der dynamis überhaupt möglich, wobei dieses Verzeitlichen und Verräumlichen anders denn als lineare Erstreckung verstanden werden muss.232 Dieses andere Verständnis hat sich deshalb als notwendig herausgestellt, weil es sonst unmöglich wäre, gleichzeitig mit der Erfassung des Umschlags in die Wirklichkeit auch noch die sich qua adynamía/sterēsis erhaltende Potentialität in den Erkenntnisraum einzubeziehen. Wie jedoch ist vor diesem Hintergrund das Moment des Umschlags, der metabolē, von der dynamis zur energeia zu denken? Präziser gefragt: Wie genau können wir den Umschlag von der dynamis zur energeia denken, wenn bereits die dynamis die (doppelte) Aporie der Unmöglichkeit einer vollständigen Verwirklichung enthält, wenn sie also immer als Im-Kommen-Seiendes gedacht werden muss, und wenn ihr gleichzeitig jene differenzielle Relationalität zugrunde liegt? Und wie ist es zu verstehen, dass ebenjenes Moment des Umschlags das bereits erwähnte intensionale und inversive233 Moment einer Kraftverdichtung erhält, aus dem ein Surplus resultiert? Was also ist eigentlich die metabolē, der Umschlag, der Fragment und von Irving Wohlfarth Die Passagenarbeit, in Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Burkhardt Lindner, Stuttgart: Metzler 2006, 175–192 u. 251–276. Zum Benjamin’schen Begrif f der Aktualität als Moment der Entstellung von zeitlicher und historischer Linearität, der aus der Perspektive des historischen Materialismus argumentiert, vgl. v. a. Khatib, „Teleologie ohne Endzweck“. Walter Benjamins Ent-stellung des Messianischen. Siehe auch Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und Theologisch-politisches Fragment, GS II.2, Frankfurt: Suhrkamp 2002, 179–203 u. 203–204 sowie Derrida, Gesetzeskraf t. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frankfurt: Suhrkamp 1996. 232 Dass dies nicht nur für den metaphysischen Bereich bzw. dessen Dekonstruktion gilt, sondern auch für die Ästhetik, hat Emmanuel Alloa gezeigt: „Was aisthetisch bewegt wird, gelangt nirgendwo anders hin, sondern schlägt vielmehr in sich selbst um (μετα-βάλλειν)“ (Alloa, Bild, 101). Versteht man die Aisthesis als dynamis, so schwebt diese im permanenten Zustand des Umschlags und enthält sich notwendig jeder vollständigen Aktualisierung: „Nur indem das Wahrnehmungsvermögen (eine andere) Form annimmt, ohne diese Form auch zu werden, kann es ein Wahrnehmungsvermögen bleiben“ (Alloa, Bild, 103). Dieser permanente Ein- und Entzug kreiert einen „Zwischenraum“, welcher „nicht nur räumlicher, sondern auch zeitlicher Art“ (Alloa, Das durchscheinende Bild, 104) ist. 233 Intension meint hier eine Verdichtung qua In-Wenden im Sinne des lateinischen in-tendere, und steht im Gegensatz zum extensiven Moment der Ausdehnung. Sämtliche Assoziationen zum Bereich der Logik und der Semantik müssen an dieser Stelle leider ausgeklammert bleiben.
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gemäß der aristotelischen Definition im Buch IX neben der archē das zweite Attribut der dynamis bildet? Zunächst einmal ist davon auszugehen, dass jener Umschlag von der dynamis zur energeia vor dem Hintergrund einer Justierung unseres Verständnisses von zeitlichen, geschichtlichen und räumlichen Gefügen gedacht werden muss, handelt es sich hierbei schließlich um eine Übersetzung von etwas bloß Potentiellem in den Raum der Wirklichkeit oder, um es anders zu formulieren, um eine spezifische Formgebung durch die Materie in einem bestimmten Kontext und zu einer bestimmten Zeit – Blochs via Avicenna-Averroës ausgesprochenes Diktum eductio formarum ex materia wäre damit in einen bestimmten zeitlichen Ablauf, in eine bestimmte Geschichtlichkeit eingebunden. Wenn es nun richtig ist, dass jener Umschlag von der dynamis zur energeia als ein Moment differenzieller Kontraktion zu verstehen ist, wie oben ausgeführt, so deutet alles darauf hin, dass damit ausschließlich eine jede Linearität entsetzende Verzeitlichung und Verräumlichung gemeint sein kann. Diese entsetzende Verzeitlichung und Verräumlichung birgt potentiell eine Veränderbarkeit in sich, die sich nie vollständig verwirklicht; ein Rest an Potentialität widersteht vielmehr jeder vollständigen Verwirklichung. Es ist daher methodisch und inhaltlich von zentraler Bedeutung, dieses entsetzende Moment der Veränderbarkeit qua Umschlag von der dynamis zur energeia richtig zu verstehen. In Aristoteles’ Physik wird die metabolē zunächst als grundlegende Bewegung beschrieben, welche an ein bestimmtes Subjekt (hypokeimenon) gebunden ist:
I nvers bezeichnet darüber hinaus den in diesem Übergang von der dynamis zur energeia gleichsam enthaltenen Moment der Inversion, der Umkehr. Als rhetorische Figur wurde sie – um ein prominentes Beispiel zu nennen – von Paul Celan häufig verwendet, so beispielsweise in Mohn und Gedächtnis (München: DVA 2012) oder in Die Niemandsrose (Frankfurt: S. Fischer 1986). Vgl. hierzu v. a. Werner Hamacher, Die Sekunde der Inversion, Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte, in: Werner Hamacher/Winfried Menninghaus (Hg.), Paul Celan, Frankfurt: Suhrkamp 1988, 81–126. Z um Begrif f der Inversion, die gerade auch in der jüdischen Auslegung des Messianismus eine große Rolle spielt, schreibt Agamben in seinem beeindruckenden Kommentar zu Paulus’ Römerbrief: „Eine von Scholems Thesen (genau genommen die dreiundachtzigste), die er 1918 Benjamin zu dessen sechsundzwanzigstem Geburtstag schenken wollte, hält fest: ‚Die Zeit des inversiven Waw ist die messianische Zeit.‘ […] Gemäß der scharfsinnigen Bemerkung Scholems […] ist die messianische Zeit weder das Abgeschlossene noch das Unabgeschlossene, weder die Vergangenheit noch die Zukunf t, sondern deren Inversion. Bei Paulus drückt die typologische Beziehung genau diese konverse Bewegung aus: Sie ist ein Spannungsfeld, in dem die beiden Zeiten zu einer Konstellation zusammengedrängt werden, die der Apostel den nyn kairós nennt: In ihr gewinnt die Vergangenheit (das Abgeschlossene) wieder Aktualität und wird unabgeschlossen, während die Gegenwart (das Unabgeschlossene) eine Art von Abgeschlossenheit erfährt“, in: Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt: Suhrkamp 2007, 89. Ein sehr guter Überblick über die Bedeutung des Messianischen findet sich in Elke Dubbels Figuren des Messianischen in Schrif ten deutsch-jüdischer Intellektueller, 1900–1933, Berlin/Boston: de Gruyter 2011.
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„Der Wandel [metabolē] aus einem Zugrundeliegenden [hypokeimenon] zu einem Zugrundeliegenden [hypokeimenon] ist allein Bewegung.“234 In dieser ersten Definition bezeichnet die metabolē jenen etwas ungewissen oder auch prekären und plötzlichen Moment der Umkehr oder Umwandlung von einem Zustand in einen anderen, der hier im Rahmen der aristotelischen Vorstellung von Natur und Metaphysik noch unmittelbar an das subjectum rückgebunden ist. Dies ist vielleicht eine etwas eng gefasste Beschreibung der metabolē, in der sie auf den physikalischen Raum eingeschränkt bleibt. Obgleich er den Begriff in einigen frühen Texten bereits häufiger verwendet, übersetzt und interpretiert Heidegger in seinen 1939er Ausführungen zum Wesen und Begriff der Φύσις die metabolē als ‚Umschlag‘.235 Mit dieser Übersetzung soll zweierlei erreicht werden: zum einen eine Art Einholen der originären etymologischen und philosophischen Bedeutung des Begriffs und zum anderen eine gleichzeitige interpretative Begriffserweiterung, weg von seinem rein physikalischen Bedeutungshorizont. Diese beiden methodischen Bewegungen bilden zusammengenommen einen Teil der philosophischen Strategie Heideggers und gelten somit nicht nur für die Unterbegriffe der Physik beziehungsweise der Metaphysik, sondern vor allem auch für diese als Disziplin selbst. Weil sogar der griechische Begriff der physis jeder philosophischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur, Natur und Geschichte und schließlich Natur und Gott zugrunde liege, weil also jede Auseinandersetzung mit der physis eigentlich auch eine Metaphysik sei, verkündet Heidegger dementsprechend in seiner Abhandlung mit Nachdruck, dass die Physik des Aristoteles das „verborgene und deshalb nie zureichend durchdachte Grundbuch“ der westlichen Philosophie sei.236 Das, was „nie zureichend durchdacht“ worden sei, sei der von Aristoteles aufgestellte innere Zusammenhang von physis und kinesis beziehungsweise metabolē, wie er ihn gleich zu Beginn des ersten Buches behauptet: „Für uns dagegen soll die Grundannahme sein: Die natürlichen Gegenstände sind entweder alle oder zum Teil ein Bewegtes.“237 Im ersten Satz des dritten Buches fügt Aristoteles hinzu, dass hier nicht nur eine innere, sondern eine unauflösliche Verbindung zwischen physis und Bewegung besteht und schließlich, dass jeder Versuch der Bestimmung der physis ohne genaue Kenntnis dessen, was Bewegung ist, aussichtslos sei: „Da die physis das Prinzip (archē) von Veränderung (kinesis) und des Umschlags (metabolēs) ist, […] so darf nicht verborgen bleiben, was Veränderung denn ist.“238 Aristoteles paraphrasierend, definiert Heidegger den „Grundzug“ der metabolē daher folgendermaßen: „Jede Bewegtheit ist Umschlag von etwas (ἔκ τινος) zu et234 Aristoteles, Phys. 225b35–38. 235 Vgl. Heidegger, Vom Wesen und Begrif f der Φύσις, 249–250. 236 Heidegger, Vom Wesen und Begrif f der Φύσις, 242. 237 Aristoteles, Phys. 185a12–13. 238 Aristoteles, Phys. 200b12–14.
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was (εἴς τι).“239 An späterer Stelle im Text präzisiert er: „Kίνησις ist μεταβολή, das Umschlagen von etwas zu etwas dergestalt, daß im Umschlagen dieses selbst in einem mit dem Umschlagen zum Ausschlag, d. h. zum Vorschein kommt“.240 John Protevi erläutert in seiner Studie Time and Exteriority. Aristotle, Heidegger, Derrida überzeugend, wie diese Gleichsetzung der metabolē mit der Bewegung (kinesis) den eigentlichen Zweck verfolgt, die metabolē gerade von der noch bei Aristoteles anzutreffenden unmittelbaren Gebundenheit an die Vorstellung einer festgefügten Räumlichkeit – und von hier aus letztlich auch von der chronologischen Linearität der Zeit – zu lösen. Protevi führt aus: Metabolé, Heidegger continues, is ‚the most general concept of motion‘, ‚literally‘ Umschlag. Umschlag is an extraordinary rich term for Heidegger. […] The equation of motion and change we note in this passage will be crucial for Heidegger in attempting to free the economy of motion of bare spatial entanglement and hence free time of its insertion in an economy of exteriority that includes bare space.241
Das Moment der metabolē kann dementsprechend ausdrücklich nicht nur in Begriffen einer rein nach außen strebenden Ökonomie der verräumlichenden Bewegung verstanden werden, sondern die metabolē ist ein Moment intensionaler und inversiver Veränderbarkeit und damit zunächst einmal im Sinne einer Kontraktion zu verstehen, welche den zeitlichen und räumlichen Ablauf inwendig zu absorbieren vermag, um so letztlich jenes Zwischen zu produzieren, in dem alle Bewegung immer schon bevorsteht, in dem jede Verwirklichung, jede energeia, immer im Kommen ist; sie ist daher die materielle Grundstruktur einer potentiellen Veränderbarkeit, welche maßgeblich durch den Zustand charakterisiert ist, noch nicht zu sein. Dieses noch nicht Bewegte und Aktu-
239 Heidegger, Vom Wesen und Begrif f der Φύσις, 249. Vgl. auch Aristoteles, Phys. 225a1: „[J]ede Umwandlung erfolgt aus etwas zu etwas hin“. 240 Heidegger, Vom Wesen und Begrif f der Φύσις, 285. 241 John Protevi, Time and Exteriority. Aristotle, Heidegger, Derrida, Lewisburg: Bucknell University Press 1994, 161-162. Weil es sich bei der metabolē um eine Art Grundstruktur des Wandels bzw. der Bewegung handelt, die sowohl in einer bestimmten Gattung als auch außerhalb derselben stattfinden kann, erweiterte schon Alexander von Aphrodisias in seinen Kommentaren richtigerweise die metabolē auf sämtliche Bereiche der Bewegung. Alexander von Aphrodisias war es auch, der den relationalen Charakter der Bewegung stark machte, die trotzdem immer im Sinne eines pros-ti-Verhältnisses gedacht werden müsse, auch wenn Aristoteles darauf bestand, dass im pros-ti keine Bewegung stattfinden könne. Die Bewegung sei jedoch mit dem pros-ti gleichzusetzen und ihr „Wesen [besteht] daher in ihrem Verhältnis zu etwas, nämlich zum Beweglichen“, so Paul Moraux in seiner eindrucksvollen Studie Der Aristotelismus bei den Griechen. Zu Alexanders umfassender Auslegung und Umdeutung des Bewegungsbegrif fs und den sich aus Aristoteles’ Schrif ten ergebenden Ungereimtheiten im Bewegungsbegrif f, siehe v. a. das Kapitel „Die Bewegung“ in derselben Studie: Paul Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias Bd. III, hg. v. Jürgen Wiesner, Berlin/ New York: De Gruyter 2001, 142–147, hier: 145.
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alisierte benennt Heidegger als „etwas bisher Verborgenes und Abwesendes“,242 das erst noch zum Vorschein – zum „Ausschlag“, wie er bildhaft sagt – kommen muss. Dieses Ausschlagen bleibt jedoch an die mehrfach erwähnte doppelte Aporie gebunden, nach der ein Teil jener potentiellen Veränderbarkeit in der dynamis zurückgehalten wird. Es kann somit festgehalten werden, dass die metabolē wohl einen originären Begriff der Veränderbarkeit bezeichnet, der jedoch nicht wie die anderen Begriffe der Bewegung oder des Wandels notwendig an ein bestimmtes Zugrunde-Liegendes, sondern an die zeitliche Struktur des avenir und damit an eine potentielle Offenheit gebunden ist. Der Umschlag von der dynamis zur energeia weist in seiner zeitlichen Struktur des avenir deswegen auf einen potentiell offenen Raum, weil dieser aufgrund seiner Unvorhersehbarkeit nicht unter die Ökonomie der reinen Kalkulierbarkeit fällt. Daher unterscheidet Derrida zwischen der Zukunft und dem avenir: „The future is that which – tomorrow, later, next century – will be. There’s a future, l’avenir (to come), which […] is totally unpredictable.“243 Das avenir, wie es von Derrida als eine Art messianisches Zu-Kommendes gedacht wird, meint damit kein Ereignis, sondern es ist die Verstetigung des Ereignisses als immer Bevorstehendes. Ähnlich wie die archē, die sich bezeichnenderweise ebenso als an-archē entpuppte, ist die metabolē in diesem Sinne allein im aporetischen Sinne in ihrer Unvollendbarkeit zu verstehen. Die metabolē – und damit auch den Übergang von der dynamis zur energeia – auf diese Weise zu dekonstruieren, birgt natürlich einige Schwierigkeiten, denn eine solche Lesart ist nun nicht mehr vollständig kompatibel mit Aristoteles’ Vorstellung von physis und Bewegung und vor allem nicht mit seiner Darstellung zeitlicher Abläufe, die in seiner Theorie unmittelbar an die Bewegungsabläufe gebunden bleiben. Die Zeit sei nämlich, so Aristoteles in der Physik, nichts anderes als eine Abfolge von Davor und Danach, in deren Mitte unteilbare Jetzt-Punkte jeweils die Grenze zwischen ihnen markieren.244 Paradoxerweise bildet das Jetzt nicht nur die Grenze der einzelnen Davor und Danach, sondern dieses unteilbare Jetzt, das letztlich kein Teil der Zeit, sondern ihr Prinzip des „Werden[s] und Vergehen[s]“ ist, garantiert gleichzeitig den linearen und prozessualen Ablauf der Zeit.245 242 Heidegger, Vom Wesen und Begrif f der Φύσις, 249. 243 Ziering/Dick, Derrida, 52–53. 244 Aristoteles’ Ausführungen zum Zeitbegrif f finden sich in den Kapiteln 10–14 im Buch IV seiner Physik. 245 Aristoteles, Phys. 222a8–9. Vgl. auch: „Das Jetzt bildet den Zusammenhang von Zeit, wie gesagt wurde; es hält ja die vergangene und zukünf tige Zeit zusammen. Und es ist die Grenze von Zeit, stellt es doch des einen Anfang, des anderen Ende dar“ (Aristoteles, Phys. 222a10–13). E s ist niemand Geringerer als Heidegger, der überaus klar und deutlich endgültig mit Aristoteles’ Zeitvorstellung bricht. Anstatt wie letzterer die Zeit als Abfolge von durch unteilbare Jetzt-Punkte vermittelten Davor und Danach zu begreifen, auf deren Bahnen der Mensch sich befindet, erläutert er, wie das Dasein selbst konstitutiv für die Zeit sei. In seiner Vorlesung zum Begrif f der Zeit, die er im Juli 1924 in Marburg hielt, konstatiert er, dass das Dasein in seiner Gebundenheit an den eigenen Tod zu diesem immer „vorläuf t“ und nur dann „wahrhaf t exis-
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Aristoteles’ Begriff der Zeit ist also zunächst einmal unmittelbar an seine Vorstellung der dauerhaften Bewegung gebunden. Gleichzeitig mache es jedoch keinen Sinn, so Aristoteles’ kritischer Einwurf, Zeit und Veränderung vollkommen unterschiedslos zu denken: „[S]o ist offenkundig, daß ohne Bewegung (kinesis) und Veränderung (metabolē) Zeit (chronos) nicht ist. Daß somit Zeit nicht gleich Bewegung, andererseits aber auch nicht ohne Bewegung ist, leuchtet ein.“246 Und ein paar Zeilen darunter ergänzt er: „Also: Nicht gleich Bewegung ist die Zeit, sondern insoweit die Bewegung Zahl an sich hat (gehört sie zu ihr).“247 Diese Aussage besagt einerseits, dass die Bewegung gemäß diesem Modell unmittelbar mit der linearen Zeit zusammenhängt, sofern sie berechenbar ist, womit andererseits jedoch nicht ausgeschlossen wird, dass es auch Bewegung jenseits linearer Chronologien geben kann, und dies wiederum ist zentral für das richtige philosophische Einordnen der metabolē in den Kontext der dynamisenergeia-Problematik. Gehen wir von dem bisher Ausgeführten aus, so lässt sich festhalten, dass bereits Aristoteles selbst eine Störung oder Disruption jener Ökonomie der kalkulierten Bewegung, nach der scheinbar der Raum und die Zeit anhand der sie durchziehenden Konstante Linearität berechenbar werden, evozierte, indem er sowohl die dynamis als auch die energeia von bloßen physikalischen Bewegungsterminologien – und damit eben auch von der Idee eines linearen prozesshaften Fortschreitens248 – enthob. tent“ (Heidegger, Zeit, 18) sei, wenn es die Bindung an dieses Vorlaufen – und damit auch an die Zukunf t – aufrechterhält: „Im Vorlaufen ist das Dasein seine Zukunf t, so zwar, daß es in diesem Zukünf tigsein auf seine Vergangenheit und Gegenwart zurückkommt. Das Dasein […] ist die Zeit selbst, nicht in der Zeit“ (Heidegger, Zeit, 19). Der linearen und berechnenden Zeitvorstellung stellt er im Folgenden ein originäres Zeitverständnis gegenüber, das geschichtlich gebunden ist (vgl. Heidegger, Zeit, 20f f.): „Das Dasein aber ist geschichtlich an ihm selbst, sofern es seine Möglichkeit ist“ (Heidegger, Zeit, 25). Bereits in diesem 1924er Vortrag – und vor allem in der darauf basierenden gleichnamigen Abhandlung – sind die meisten Grundgedanken des drei Jahre später erschienenen Pionierstücks Sein und Zeit präsent, wenn auch in stark reduzierter Form. So fasst er zusammen: „Zeit ist Dasein. Dasein ist meine Jeweiligkeit, und sie kann die Jeweiligkeit im Zukünf tigen sein im Vorlaufen zum gewissen aber unbestimmten Vorbei. Das Dasein ist immer in einer Weise seines möglichen Zeitlichseins. Das Dasein ist die Zeit, die Zeit ist zeitlich. Das Dasein ist nicht die Zeit, sondern die Zeitlichkeit. Die Grundaussage: die Zeit ist zeitlich, ist daher die eigentlichste Bestimmung“ (ebd., 26). Siehe: Martin Heidegger, Der Begrif f der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaf t (Juli 1924), hg. v. Hartmut Tietjen, Tübingen: Max Niemeyer, 1995. E ine außerordentlich erwähnenswerte Studie zu Aristoteles’ Zeitbegrif f wurde von Serge Margel unter dem Titel Le concept de temps. Étude sur la détermination temporelle de l’être chez Aristote (Brüssel: Éditions Ousia 1999) publiziert. 246 Aristoteles, Phys. 218b32–33. 247 Aristoteles, Phys. 219b1–2. 248 Dieses prozessuale Fortschreiten hat bei Aristoteles eine eindeutig biologistische Komponente, denn hiermit ist eine beständige, gleichförmige Zeugung (genesis) und Fortpflanzung der Gattung (genos) gemeint. Es handelt sich also um eine Art genealogische Lesart, der eindeutig ein gewisser – und auch in gewissem Sinne ein gefährlicher – Biologismus anhaf tet, die aufgrund ihrer politischen Implikationen unserer dekonstruktiven Lesart diametral entgegen-
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Dieses Entheben von den Möglichkeiten einer bloß physikalischen Welterschließung und die Öffnung hin zur metaphysischen – deren grundlegender Text und damit vielleicht ihre gesamte Tradition sich ja wiederum ganz und gar nicht als ein in sich geschlossenes System erwiesen – geschah durch die explizite Bindung an die metabolē, jenen plötzlichen Moment des Umschlags, denn, wie Aristoteles betont, sowohl die dynamis als auch die energeia übersteigen die bloß physikalischen Bewegungsbegrifflichkeiten. Finden sich also hier, in den antiken Texten des Aristoteles, bereits die Vorboten eines dekonstruktiven, aporetischen und disruptiven Verständnisses des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia, und damit der metabolē, die ja diesen Zwischenraum determiniert? Sollte das oben Ausgeführte richtig sein, sollte also die metabolē tatsächlich als Moment der Diskontinuität und damit als momentane Entsetzung jeglicher Linearität lesbar gemacht worden sein, dann ist diese Frage eindeutig positiv zu beantworten. Wenn nun aber die metabolē bereits bei Aristoteles jene Diskontinuität anzeigt, was genau bedeutet dies dann wiederum für die dynamis und die energeia? Im Hinblick auf Zeitlichkeits- und Räumlichkeitsstrukturen erwies sich die metabolē zunächst einmal als das Moment, welches das vorher Gewesene entsetzt. Dieses Entsetzen war jedoch nicht im Sinne einer Aufhebung des Vergangenen zu verstehen, sondern als momenthafte Absorption und Kontraktion der zeitlichen Trias Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft. Um es präziser zu formulieren: Es handelt sich bei der metabolē damit eigentlich um Momente der Ent-Räumlichung und der Ent-Zeitlichung. Heideggers Übersetzung als ‚Umschlag‘ trifft daher eher ihre Dynamik als beispielsweise die in der Forschung gängige Übersetzung mit ‚Wandel‘ oder ‚Umwandlung‘, denn ein Wandel impliziert immer auch einen Prozess, den es bei der metabolē so nicht gibt, und er impliziert eine Bewegung, die
steht. Ein gelungenes Beispiel für die Dekonstruktion jener natürlich oder biologistisch anmutenden Genealogie findet sich in Derridas Marx’ Gespenster. Dieser ontologisch fundierten Genealogie (oder Genetik) des Zeugens und Erzeugens, welche Derrida auch noch in einem Satz aus Valérys Die Krise des Geistes zu finden scheint, stellt er eine andere Form der Historizität jenseits jener Ontologie gegenüber. Valérys Satz „Kant zeugte Hegel, dieser zeugte Marx, dieser zeugte – wen?“ (Zit. nach Derrida, Marx’ Gespenster, 18) paraphrasiert er zu einer Gespensterkette: „Shakespeare, der Marx zeugte, der Valéry zeugte (und einige andere)“ (Derrida, Marx’ Gespenster, 17). Jene andere Historizität erfordere eine Verschiebung (oder Justierung) der Perspektive weg von der prozessualen Abfolge des Vererbens hin zum Raum zwischen einzelnen Generationen; in: Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, übers. v. Susanne Lüdemann, Frankfurt: Suhrkamp 2004. An anderer Stelle habe ich deutlich gemacht, wie sehr dieser Glaube an die Notwendigkeit einer genetischen und genealogischen Abfolge mit der oben beschriebenen linearen Zeitvorstellung zusammenhängt und wie Derrida diese letztlich zugunsten jener ‚neuen‘ Historizität dekonstruiert. Vgl. meinen Aufsatz „Die messianische Kraf t der Demokratie. Zu Politik, Geschichte und Zeitlichkeit bei Jacques Derrida“, in: Oliver Flügel-Martinsen, Franziska Martinsen (Hg.), Demokratietheorie und Staatskritik aus Frankreich. Neue Diskurse und Perspektiven, Stuttgart: Franz Steiner 2015, 205–222.
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die metabolē ja noch nicht ist. Die metabolē ist daher ein Phänomen des Zwischen mit einer diskontinuierlichen Struktur von Zeit und Raum. Diese diskontinuierliche Zeitstruktur weist in Richtung des avenir, des Zu-Kommenden, und zwar nicht als einfache oder lineare Zukunft, sondern als das, was nicht im Sinne einer prozesshaften Chronologie fortschreitet oder gar vorhersehbar ist. Wenn die dynamis das Prinzip der metabolē („in einem anderen oder in demselben, insofern es ein anderes ist“) ist (vgl. Metaph. 1046a10-11), so können wir von nun an davon ausgehen, dass sie selbst im Wesentlichen erstens einen Zwischenraum und zweitens eine die lineare Zeitvorstellung potentiell entsetzende zeitliche Diskontinuität anzeigt, und zwar indem sie den zeitlichen Verlauf für einen kontraktiven Moment in sich selbst wendet – und ihn so für einen Moment stillstellt, ihn gewissermaßen kristallisiert249 – und damit in Richtung jenes avenir weist. Jede Bewegung von der dynamis zur energeia ist folglich im Sinne einer die linearen Kontinuitäten entsetzenden Inversion qua Kontraktion gekennzeichnet, indem es für einen Moment zur Kristallisation des zeitlichen und historischen Verlaufs kommt; dieser Moment ist der Moment des Öffnens des Raumes der Differenzen, es ist der Moment der Intension, der Kraftverdichtung – es ist der Moment der dynamis selbst. Um dies nun wiederum richtig zu verstehen, bedarf es einer noch genaueren Darstellung der Zeitstruktur der metabolē. Eine der präzisesten Darstellungen der zeitlichen Struktur der metabolē findet sich in Platons berühmtem Dialog Parmenides. In der Passage, in der es um den Übergang des Einen von der Ruhe in die Bewegung geht, betont Platon, wie jenes Umschlagen vielmehr in seinem momenthaften und plötzlichen Charakter als in
249 E s würde wesentlich mehr Raum brauchen, als in diesem Kontext zur Verfügung steht, um die unübersehbare Anlehnung an Benjamins Begrif f des Stillstands zu erläutern. Benjamin verwendet den Begrif f an vielen Stellen seines Werkes, wo dieser unmittelbar mit seiner Kritik sowohl am Fortschrittsdenken als auch mit der an zyklischen bzw. periodischen Zeitvorstellungen à la Nietzsche oder Blanqui sowie mit einigen seiner Denkfiguren, wie vor allem seinen Begrif fen ‚Bild‘ und ‚Jetztzeit‘ zusammengedacht werden muss. Die wohl einprägsamste Stelle, an der der Begrif f des Stillstands vorkommt, findet sich in dem bereits erwähnten Konvolut N der Passagen-Arbeit, in dem Benjamin die bekannte Formel „Bild ist die Dialektik im Stillstand“ (GS V.1, N 2a, 3, 577) formuliert. An anderer Stelle habe ich bereits ausführlich den Zusammenhang zwischen ‚Stillstand‘, ‚Jetztzeit‘, ‚Bild‘ und ‚Kraf tfeld‘ erläutert: „The Now is immediately linked to the image, and the sudden emergence of the image implements a standstill. But what exactly are the implications of this standstill, and what does happen in this specific moment of the Now? If the dialectic movement has been interrupted – if it has crystallized – this could suggest that the moment contains nothing. But history is not nothing. Rather, the standstill absorbs what-has-been in one particular point of time. This absorption creates an immense tension because it designates exactly the moment before a new event, before something must happen. The dialectical image and the object of materialistic historicism coincide within this ‚force field‘ (Kraf tfeld)“; in: Sahraoui, Crystal of Time. Zur ‚Dialektik im Stillstand‘ vgl. v. a. Rolf Tiedemanns kanonischen Kommentar Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins, Frankfurt: Suhrkamp 1983.
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Begriffen festgefügter zeitlicher und räumlicher Kontinuitäten gedacht werden müsse: Aber es kann doch nicht umgeschlagen sein, ohne umzuschlagen? – Nicht glaublich. – Wann also schlägt es um? Denn weder in der Ruhe noch während der Bewegung kann es umschlagen noch während es in der Zeit ist. – Freilich nicht. – Ist es also etwa jenes Wundersame, worin es dann ist, wenn es umschlägt? – Welches denn? – Der Augenblick [το ἐξαίφνης]. Denn das Augenblickliche scheint dergleichen etwas anzudeuten, daß von ihm aus etwas umschlägt in eins von beiden. Denn aus der Ruhe geht nichts weder noch während des Ruhens über noch aus der Bewegung während des Bewegt-Seins; sondern dieses wundersame, ortlose Wesen [φύσις ἄτοπος ], der Augenblick, liegt zwischen [μεταξύ] der Bewegung und der Ruhe als außer aller Zeit seiend, und in ihm und aus ihm schlägt das Bewegte über zur Ruhe und das Ruhende zur Bewegung.250
Mit dem Hinweis auf den Augenblick – das exaiphnēs – ist natürlich die Tür zu einer umfassenden Bibliothek – einem „Universum“, wie Borges in seiner Bibliothek von Babel formuliert – aufgestoßen, die wesentlich größer als das ist, was im Rahmen des vorliegenden Textes ausgeführt werden kann.251 Vor dem Hintergrund unserer dynamis-energeia-Analyse und des hierfür zentralen Begriffs der metabolē ist das exaiphnēs insofern zentral, als dass es der einzige Begriff zu sein scheint, der in dieser Präzision die zeitliche Struktur jenes Übergangs und Eröffnens des Raums der unterschiedlichen Potentialitäten auszudrücken vermag. Äußerst wichtig zum Verständnis des exaiphnēs-Begriffs ist zunächst einmal seine metaphysisch-religiöse Exegese, findet sich in der Bibel doch die bekannteste Referenzstelle in den berühmten Versen aus Paulus’ Brief an die Korinther über die Auferstehung: „Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune.“252 In der philosophischen und theologischen Literatur wird diese Bibelstelle unmittelbar mit Platons exaiphnēs in Verbindung gebracht, obwohl er dort nicht wortwörtlich verwendet wird, sondern vielmehr metaphorisch zur Beschreibung des Moments des Umschlags als ‚Augen-Blick‘. Als Illustration des ‚Augen-Blicks‘ handelt diese Bibelstelle vom Ende der Zeit (eschaton) beziehungsweise dem Stillstellen der 250 Platon, Parmenides, in: Werke Bd. V, übers. v. Friedrich Schleiermacher, hg. v. Gunter Eigler, Darmstadt: Wissenschaf tliche Buchgesellschaf t 2011, 156 c 8–e 3. 251 Vgl. Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, in: Fiktionen [Ficciones]. Erzählungen 1939–1944, übers. v. Karl August Horst, Wolfgang Luchting u. Gisbert Haefs, Frankfurt: S. Fischer 2003, 67–76. 252 1 Kor 15,51–52. Der darauf folgende Satz lautet: „[D]enn posaunen wird es, und die Toten werden auferweckt werden, unvergänglich (sein), und wir werden verwandelt werden“, zitiert nach: Elberfelder Bibel. Altes und Neues Testament. Revidierte Elberfelder Übersetzung, Wuppertal: R. Brockhaus 2006. Ich danke Caroline Sauter für wichtige Erläuterungen zu dieser Bibelstelle.
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linearen Zeitabfolge, wie sie plötzlich stattfindet, wobei dieser plötzliche Augenblick nicht weniger als den Übergang vom irdischen, körperlichen Leben in die Unsterblichkeit und Ewigkeit bergen soll. Die zeitliche Dauer dieses Übergangs wird mit dem Blinzeln des Auges – mit dem Augen-Blick – gleichgesetzt: „und das plötzlich [en atomō], in einem Augenblick [en ripē ophthalmou], zur Zeit der letzten [eschate] Posaune“ (1. Kor 15,52). Der Theologe und Philosoph John P. Manoussakis gibt in seiner Studie God after Metaphysics eine kurze und treffende Beschreibung des Begriffs: The exaiphnēs, as a technical philosophical term, appears most mysteriously for a very brief time in Plato’s Parmenides. […] Some of its standard translations include ‚the instant‘, ‚the moment‘, and ‚the sudden‘ – all of which, however, fail to convey those specific semantics that Plato himself explicitly refers to when he writes ‚the exaiphnēs seems to signify that from which something changes to something else‘ […]. The ‚from which‘ alludes to the presupposition ‚ex-‘ (‚ek-‘) that means ‚from out of…‘ Out of what? The etymology of the term informs us, ‚Ex-a-phanes‘, that is, ‚out of the in-visible‘.253
Aus der Un-Sichtbarkeit – dem ex-a-phanes – heraus würde der Umschlag von der dynamis zur energeia gemäß dieser metaphysisch-theologischen Lesart erfolgen: aus dem also, was nicht sichtbar ist, aus dem, was noch aufgedeckt, was noch zu entschleiern sein wird, um auf unsere anfängliche Allegorie der Göttinen Isis/ Aletheia zurückzuverweisen; aus dem also letztlich, was noch im Dunkeln ist, was daher erhellt werden soll, wie die unvermeidlich sich hier aufdrängende Lichtmetaphorik – jene uns bereits bekannte, die okzidentale Philosophie durchziehende Heliotropie – nahelegt.254 Aber wären wir damit nicht wieder bei unserem Aus253 John Panteleimon Manoussakis, God af ter Metaphysics: A Theological Aesthetics, Bloomington: Indiana UP 2007, 64. 254 Vgl. Kap. 3 in vorliegendem Buch. Auch in Agambens Die Macht des Denkens finden sich zwei kleine Unterkapitel (Vom Dunklen und Vermögen zur Dunkelheit), in denen er gegen die Kritiker der die Philosophiegeschichte durchziehenden Heliotropie polemisiert. In Klammern fügt er in seinen Text ein: „(Der Gemeinplatz, wonach die antike Metaphysik eine Lichtmetaphysik gewesen sei, ist in dieser Hinsicht ungenau. Es handelt sich vielmehr um eine Metaphysik des Diaphanen, dieser anonymen physis, die sowohl der Dunkelheit wie auch des Lichts fähig ist.)“ Dies ist ein sehr interessanter Hinweis, könnte er doch zu einer Aufhebung der binären Codierung hell/dunkel führen. Die Dunkelheit gehört bei Agamben zum essentiellen Merkmal der dynamis: „Die Dunkelheit ist wahrlich die Farbe der Potenz, und die Potenz ist wesentlich die Verfügbarkeit einer sterēsis, das Vermögen nicht-zu-sehen“ (Agamben, Macht des Denkens, 321). Damit wäre das Dunkle ein „unbeschriebener Möglichkeitsraum“, wie Emmanuel Alloa tref fend formuliert (Alloa, Das durchscheinende Bild, 107). Mit seinem erhellenden Buch zum Kraf tbegrif f liefert Christoph Menke eine ergänzende Studie des Dunklen, in der er dieses in den Bereich der Ästhetik übersetzt. Im Anschluss an Herder und Mendelssohn wird das Dunkle hier zur (unbewussten) Quelle menschlicher Kraf t. Diese unterscheide sich vom (neoaristotelischen) Verständnis des Ästhetischen als subjektiven Vermögens, wie sie noch bei Baumgarten via Leibniz zu finden sei. Erst das „Wirken einer ‚dunklen‘ Kraf t“, so Menke, begründe eine „Anthropologie der Dif ferenz zwischen Kraf t und Vermögen, zwischen Mensch
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gangspunkt, nämlich der metaphysischen Grundlegung jeder Exegese der Begriffe dynamis und energeia, die eigentlich systematisch zugunsten der differenziellen und aporetischen und nicht zuletzt der materialistischen Lesart justiert werden sollte? Es ist vor diesem Hintergrund der theologisch-metaphysischen Lesart sicherlich kein Zufall, dass sich wiederum alles in Heideggers Parmenides – einer im Wintersemester 1942/43 in Freiburg gehaltenen Vorlesung – um die Entbergung jenes Unsichtbaren dreht, wo die a-lētheia gemäß ihrer etymologischen Wurzeln als ‚Un-verborgenheit‘ schlechthin gedeutet wird255 (das Privativum a- zeigt eine Negation oder Nichtvorhandenheit an und lēthē ist die Verborgenheit oder Vergessenheit; in der griechischen Mythologie wiederum ist Lethe einer der Flüsse der Unterwelt: Es ist der Fluss des Vergessens, aus dem die Seelen trinken – freilich nicht die der Privilegierten, diese tranken aus Mnemosyne, dem Fluss der Erinnerung –, um ihr irdisches Leben hinter sich zu lassen und Zugang zur Unterwelt zu erhalten, er ist also die Grenze zwischen dies- und jenseitigem Leben). Dieses Festhalten an der Notwendigkeit einer Sichtbarmachtung, Erhellung, Entschleierung und Unverborgenheit ist genuin metaphysisch, und es bleibt auch an denjenigen Stellen metaphysisch, an denen sich Heidegger mit seinem Programm der Destruktion der Metaphysik gegen sie stemmt; und dies, obwohl seine Destruktion der Metaphysik neben dem Zerstörerischen auch das der Rekonstruktion und damit eine Umdeutung traditioneller Begrifflichkeiten enthält, die es ihm erlaubt, trotz der paradoxen Nähe zu metaphysischen Begrifflichkeiten gleichzeitig eine starke Abwendung von klassischen metaphysischen Schemata zu vollziehen, ohne diese jedoch vollständig hinter sich lassen zu können256 – ein Paradox, das, und Politik“ (Menke, Kraf t, 9–10), und damit letztlich Freiheit (vgl. Menke, Kraf t, 128). Dabei ist die wirkende Kraf t nicht im Sinne einer Erkenntnisleistung zu verstehen, die sich nach äußerlich festgelegten und prozessualen Reglements richtet, sondern sie ist ein „innere[s] Prinzip […] der Fortbildung“ (Menke, Kraf t, 54), welches vor jeder biologischen oder mechanischen Bestimmung des Menschen als Subjekt, die dunkle Kraf t vorsubjektiv als ästhetisches Wirken der Seele fasst (vgl. Menke, Kraf t, 57–58). Gekennzeichnet ist dieses Wirken der Seele durch die dynamisch-gegenläufigen Bewegungen von Expansion hin zum Vermögen und Kontraktion in sich selbst, wie Menke im Anschluss an Herder und Mendelssohn formuliert (vgl. Menke, Kraf t, 59; 81–82). Dieser „doppelte Prozeß“ (Menke, Kraf t, 84; vgl. auch 104f f.) deckt sich mit dem, was hier als ‚doppelte Aporie‘ und ‚in-wendige dif ferenzielle Kontraktion‘ der dynamis identifiziert wurde. 255 Martin Heidegger, Parmenides, GA 54, Frankfurt: Klostermann 1982. 256 Zur Destruktion der Metaphysik siehe die 1927er Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie, in der Heidegger noch eine klar fundamentalontologische Stoßrichtung hat und in der er Aristoteles’ Zeitbegrif f interpretiert: Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, Frankfurt: Klostermann 1997. In der 1928er Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz weist Heidegger darauf hin, dass die Destruktion der Metaphysik nicht ihre völlige Verwerfung bedeute: „Gerade wenn wir dagegen die Logik metaphysisch begründen wollen, bedarf es der Kommunikation mit der Geschichte der Philosophie, weil die Begründung der Metaphysik selbst damit neu gefordert wird; denn wir besitzen nicht eine fertige Metaphysik, um die Logik dahineinzubauen, sondern die Destruktion der Logik ist
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wie wir gesehen haben, bereits aus der aporetischen Dynamik der Metaphysik selbst entspringt. Heideggers Ansatz in dieser Vorlesung ist jedenfalls – allen innovativen Formulierungen zum Trotz – durchaus problematisch. Die Problematik basiert vor allem auf der Weise, wie er die alētheia auf den historisch-politischen Bereich hinführt: In seinem Parmenides fällt diese nämlich mit einer strukturellen Offenheit und damit letztlich mit der Freiheit zusammen. Zunächst scheint dies richtig zu sein, würde er nicht im nächsten Schritt die polis in einem Akt nostalgisch-platonischer Verklärung als den eigentlichen Ort nicht etwa der von Menschen gegründeten politischen Gemeinschaft, sondern der Verwirklichung von Wahrheit ausgemachen,257 an dem allein es überhaupt uneingeschränkt möglich sein soll, das ‚Wesen der alētheia‘ so zu erhellen, wie es dem Menschen ‚zugeschickt‘ werde.258 In seinen noch von der Wesensfrage (ti estin) völlig durchdrungenen Ausführungen stellt er zunächst fest: „Das Wesen der Unverborgenheit gibt uns die Weisung auf das Offene und die Offenheit.“259 Auf die Frage, was denn das Wesen der alētheia sei, antwortet Heidegger demnach einerseits mit einer sich unter Rückgriff auf die antike griechische Begriffsetymologie von der Metaphysik deutlich loslösenden, anderseits aber in deren Grundfesten – und vor allem in deren Metaphorik des Entschleierns und Erhellens – verweilenden These. Gegen jegliches Einordnen des von ihm so Ausgeführten in die Metaphysik sich verwehrend, fügt er sogleich hinzu, dass dieses nämselbst ein Stück der Begründung der Metaphysik; diese aber ist nichts anderes als die prinzipielle Auseinandersetzung mit der gesamten Tradition“, in: Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang an Leibniz, GA 26, Frankfurt: Klostermann 1978, 70. Tobias Keiling hat illustriert, wie sich das Programm der Destruktion vom frühen bis zum späten Heidegger sukzessive ändert. Siehe: Tobias Keiling, Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation und Kritik der Spätphilosophie Heideggers, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, hier: § 1. 257 Vgl. Heidegger, Parmenides, 130f f. 258 So beschreibt Heidegger in seiner Vorlesung Hölderlins Hymne „Der Ister“ (1942) die Polis als „of fene Stätte […] der Schickung, aus der sich alle Bezüge des Menschen zum Seienden, und d. h. immer zuerst die Bezüge des Seienden als solchen zum Menschen, bestimmen“, in: Martin Heidegger, Hölderlins Hymne „Der Ister“, GA 53, Frankfurt: Klostermann 1993, 102. Z u beachten ist hierbei vor allem der politisch fragwürdige Vorrang der sich dem Menschen aufbürdenden Seinsgeschichte, an die sich Heidegger zu klammern scheint, als hätte es nie den Weckruf seitens Marx’ gegeben, der genau davor schon über 100 Jahre zuvor in seinem 18. Brumaire eindringlich warnte: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäf tigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaf fen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen“ (Marx, Der 18. Brumaire, 115). 259 Heidegger, Parmenides, 212–213.
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lich keinesfalls im streng metaphysischen Sinne so verstanden werden könne, als sei das Offene hier die Quelle, aus der das Unverborgene entspringt. Vielmehr sei die Bewegung des Offenen in zweifacher Richtung zu verstehen, nach der das Offene gleichzeitig vorausliegt und bevorsteht: [A]uf seinem Wege zeigt [sich], daß das Offene keineswegs erst und nur das Ergebnis und die Folge der Entbergung, sondern der Grund und Wesensanfang der Unverborgenheit ist. Denn entbergen, d. h. ins Offene erscheinen lassen, kann nur, was dies Offene zum voraus vorgibt und also in sich selbst öffnend und dafür offenes Wesen ist. Wir sagen statt dessen auch: was von sich aus schon ‚frei‘ ist. Das noch verhüllte Wesen des Offenen als des anfänglich Sich-Öffnenden ist die Freiheit. […] Jetzt aber gilt es, das Wesen der Freiheit in der Wesenseinheit mit der anfänglicher gedachten ἀλήθεια zu denken, und zwar im Hinblick darauf, daß sich so das Wesen des Offenen erhellt. Dies ist dann das Freie, in das der Mensch seinem Wesen nach erst gekommen sein muß, damit er im Offenen überall das Seiende sein lassen kann, was es als das Seiende ist.260
Zentral an dieser Passage ist, dass „das Offene“ von Heidegger in zweifacher Richtung, eben als gleichzeitig vorausliegend und bevorstehend, gedacht wird. In diesem Hinweis auf die im Offenen verborgene zweifache Richtung verbirgt sich wiederum eine überraschende, weil für Heidegger ganz untypische, dialektische Dynamik, die der alētheia immanent zugrunde zu liegen scheint. Diese dialektische Dynamik ist jedoch eher im Sinne einer Aporie zu verstehen, wie bereits mehrfach demonstriert. Erst aus dieser Aporie des immer Bevorstehenden – also des Noch-Nicht oder des avenir, um es in unsere dekonstruktive Terminologie zurückzuführen –, wird erstens jener Moment des Umschlags von der dynamis zur energeia verständlich. Zweitens illustrieren Heideggers Ausführungen unmissverständlich, wie sehr jener Umschlag eine Offenheit und damit auch das potentielle Moment der Freiheit birgt. Daran anschließend kristallisiert sich drittens ebenfalls sehr deutlich heraus, wie dringend sich hier die Notwendigkeit aufdrängt, die dynamis und damit auch den Umschlag von der dynamis zur energeia als genuin historische und vor allem als genuin politische Frage neu zu denken. Dieses Neudenken der politisch-historischen Frage anhand der dekonstruktiven und materialistischen Relektüre des Begriffs der dynamis sowie des Umschlags von der dynamis zur energeia richtet sich explizit gegen die Verlockungen eines noch zu klassisch metaphysisch gedachten Zusammenhangs zwischen den Narrativen einer Geschichte der Metaphorik des Entschleierns und der Heliotropie einerseits und der aporetischen und differenziellen Struktur derselben andererseits. Nur auf dem Wege jener Relektüre wäre die Möglichkeit einer auf der dynamis (und damit historisch-materialistisch) basierten Politik der Differenz, und eben nicht 260 Heidegger, Parmenides, 213.
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einer essentialistischen Politik der Sichtbarkeit, in der die politische Gemeinschaft auf die „Stätte des Wesens“261 reduziert wird, aufgezeigt. Bei Heidegger jedenfalls enthüllt sich das „Wesen des Offenen“ letztlich noch ganz und gar im Denken des Seins. Erst durch dieses Denken, so Heidegger, erhalte dieses schließlich seine geschichtliche Einbettung, womit es in letzter Instanz zum seinsgeschichtlichen Denken werde.262 Das exaiphnēs – um nach diesem kleinen Exkurs wieder darauf zurückzukommen – wäre demzufolge ein Moment, in dem das Denken plötzlich und augenblicklich das Sein in seinem Sein, wie es ist, also wie es geschichtlich als Dasein existiert, erkennt, und zwar als „unmittelbare[n] Ein-fall des Seins in das zugleich und nur so als Seiendes erscheinende Seiende“.263 Dieses wiederum habe keinen letztgültigen Grund – sonst wäre es ja wieder metaphysisch –, außer das „Offene der Möglichkeit“,264 welches wiederum das Freie eröffne, so Heidegger. Zur Öffnung dieses Freien wiederum, so Heidegger weiter, bedürfe es vielmehr einer „anfänglicher gedachten“265 alētheia – einer vor dem Anfang, und also vor dem Offenen, liegenden Unverborgenheit, eines Ur-Grundes, prinzipieller als ein Prinzip, also einer archē der archē oder anders formuliert: eines ex-a-a-phanes, eines Aus-der-Un-Un-Sichbarkeit-heraus. Warum? Sollte von hier aus nicht besser die differenzielle Struktur jenes Öffnens bedacht werden, so wie es Heidegger eigentlich an vielen anderen Stellen bereits denkt?266 Bedarf es vielleicht nicht vielmehr einer an-archē, so müssen wir an dieser Stelle 261 Heidegger, Parmenides, 133. 262 Vgl. Heidegger, Parmenides, 222. 263 Heidegger, Parmenides, 223. 264 Heidegger, Parmenides, 224. 265 Heidegger, Parmenides, 213 (Herv. N. Sa.). 266 In seiner späten überarbeiteten Seminarübung Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik von 1956/57 beispielsweise fragt Heidegger nach dem Zwischen, „in das die Dif ferenz eingeschoben werden soll“ (Heidegger, Identität und Dif ferenz, 69). Heidegger führt aus, dass in diesem Zwischen die zwei gegenläufigen Bewegungen ‚Überkommnis‘ und ‚Ankunf t‘ zusammenkommen: „Die Dif ferenz von Sein und Seiendem ist also der Unter-schied von Überkommen und Ankunf t: der entbergend-bergende Austrag beider. Im Austrag waltet Lichtung des sich verhüllend Verschließenden, welches Walten das Aus- und Zueinander von Überkommnis und Ankunf t vergibt. Indem wir versuchen, die Dif ferenz als solche zu bedenken, bringen wir sie nicht zum Verschwinden, sondern folgen ihr in ihre Wesensherkunf t“ (Heidegger, Onto-theo-logische Verfassung, 71). Verlassen wir nun den Grund und Boden der Heidegger’schen Terminologie und übersetzen diese in das oben Demonstrierte, so zeigt sich abermals, dass er trotz all seiner Bemühungen, die traditionell metaphysischen Begrif fe unter andere Vorzeichen zu setzen, doch in diesen inhaltlich verhaf tet bleibt, und dass des Weiteren Heideggers Denken stark von den Enthüllungs- und Entschleierungsmythen sowie dementsprechend auch den Heliotropien abendländischen Denkens geprägt ist. In diesem seien wir schließlich, so Heideggers eigener Einwand, bereits qua Sprache gefangen, sind doch die abendländischen Sprachen jeweils „Sprachen des metaphysischen Denkens“ (Heidegger, Onto-theo-logische Verfassung, 78). Schlussendlich stellt sich also die grundsätzliche Frage, ob es jemals möglich sei, dass „diese Sprachen andere Möglichkeiten des Sagens, d. h. zugleich des sagenden Nichtsagens, gewähren“? (Heidegger, Onto-theo-logische Verfassung, 78–79).
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hinterfragen, in der sich der differenzielle Moment des Umschlags in seiner vollen aporetischen Blüte zwischen Aktualisierung und Widerstand zeigt? Erst in der Bestimmung der alētheia als Ur-Ur-Sprung jedenfalls – einer irritierend an Hegels doppelte Negation erinnernde Konstruktion –, in der das Wesen der alētheia mit dem geschichtlichen Dasein des Menschen zusammenfällt, kann Heidegger zufolge letztlich das Freie begründet werden: „Dann ist ein Anfang der Geschichte“,267 wie er pathetisch schlussfolgert. Heideggers Pathos vom Anfang der Geschichte hat nun wenig mit Hannah Arendts von Augustinus entlehnten Formel initium ut esset, creatus homo – „Damit ein Anfang sei, ward der Mensch geschaffen“268 – zu tun, nach welcher dem Moment des Initiierens niemand und schon gar nicht Nichts (auch kein doppelt negiertes) vorausgehen kann, dem somit auch nichts ‚zugeschickt‘ wird und der folglich dem Versuch einer Einfassung in ein substanzialistisches Geschichtsverständnis widersteht.269 Dagegen fällt in Heideggers Parmenides die historisch-politische Frage nach dem Offenen, und damit letztlich die Frage nach der Freiheit, und damit wiederum in letzter Instanz die Frage nach dem Umschlag von der dynamis zur energeia noch ganz und gar mit der Seinsgeschichte zusammen, und zwar mit einer in der Polis verorteten Seinsgeschichte, in der die Wahrheit als Unverborgenheit sich idealerweise ‚lichten‘ soll. Anhand der Parmenides-Vorlesung zeigt sich, dass diese Umdeutung Heideggers – trotz aller kritischen und wichtigen Intention – letztlich einer Art geographischer Vermessung entlang den Achsen Sein/Seiendes/Dasein270 gleicht, anhand derer das eigentliche Wesen des Seins zum Vorschein kommen soll, welches äquivalent zu dem der Polis, dieser „Stätte des Wesens“,271 ist. In Heideggers Parmenides findet sich also einerseits eine sinnvolle Hinführung zum Offenen, der mit dem Moment des Umschlags, des Augenblicks sowie letztlich mit dem Zwischenraum, dem Atopos der Differenzen, auf das Engste zusammenhängt, und in der des Weiteren die Phänomenalität und disruptive Zeitlichkeitsstruktur der dynamis deutlich wird. Andererseits ist die aus seinen 267 Heidegger, Parmenides, 224. 268 Zit. nach Hannah Arendt, Freiheit und Politik, in: Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunf t, 220. Vgl. auch Augustinus, De civitate dei, XII.20. 269 Zu dem für Arendt zentralen Begrif f des Anfangs und dem damit verbundenen Begrif f der Natalität siehe exemplarisch: Arendt, Vita Activa, 215–217. Eine umfassende Studie zu Dif ferenzen, Grenzen und Überschneidung zwischen Heideggers und Arendts theoretischen Ansätzen, welche ohne ‚Romantisierungen‘ der Beziehung zwischen beiden auskommt, findet sich in Dana Villa, Arendt and Heidegger. The Fate of the Political, Princeton: Princeton UP 1996. Siehe v. a. 266–267. 270 Wie sehr Heideggers Auslegung der alētheia vor dem Hintergrund einer gewissen Geographie des Seins gelesen werden muss und damit einer Topologie im Sinne Celans vor allem auch politisch gegenübersteht, habe ich in meinem Aufsatz Meridians of Truth. From Heidegger’s Geography of Being to Celan’s Topology of Language deutlich gemacht, in: Florian Grosser/Nassima Sahraoui (Hg.), Heidegger in the Literary World. Variations on Poetic Thinking, London/New York: Rowman & Littlefield 2021, 81–102. 271 Heidegger, Parmenides, 133.
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Überlegungen sich ergebende Konsequenz im Hinblick auf den Umschlag von der dynamis zur energeia aufgrund ihrer Tendenz zur metaphysischen Hyperbolisierung – oder besser aufgrund ihres „metaphysischen Gestus“, wie Derrida formuliert272 – wenig hilfreich, evoziert sie letztlich doch eine fast noch metaphysische Suche nach einem Ursprung, nach dem zu erhellenden ominösen Dunkel, die Heidegger mit seiner anfänglicher als anfänglich gedachten alētheia auf die Spitze treibt.273 Diese als eine Art Ur-Ur-Sprung gedachte alētheia unterscheidet sich damit wesentlich von der hier vorausgesetzten doppelt aporetisch und differenziell gedachten an-/archē der dynamis, die das Prinzip ihrer metabolē ist. Kehren wir zurück zu Platons Parmenides, bei dem die metabolē mit dem kraftvollen Moment des exaiphnēs, des Augenblicks, zusammenfällt: „Ist es also jenes Wundersame, worin es dann ist, wenn es umschlägt? – Welches denn? – Der Augenblick. Denn das Augenblickliche scheint dergleichen etwas anzudeuten, daß von ihm aus etwas umschlägt in eins von beiden.“274 Nach dem bisher Ausgeführten kann das exaiphnēs folglich als der die Zeit plötzlich entsetzende Übergang von der dynamis zur energeia betrachtet werden, welcher sich jedoch nicht innerhalb eines statischen Raumgefüges unmittelbar lokalisieren lässt, denn die metabolē ist noch nicht die Bewegung selbst. Sie ist vielmehr, wie Platon schreibt, ein Atopos,275 der die Struktur eines Un-Ortes, eines Non-Präsenten, eben eines Zwischen 272 Jacques Derrida, Vom Geist, Heidegger und die Frage, 50. In dieser Schrif t dekonstruiert Derrida die Verwendung des Begrif fs des Geistes in der deutschen Philosophie anhand von Heidegger und der Frage seiner politischen Haltung während der Zeit des Nationalsozialismus. In Bezug auf Heideggers berüchtigte Rektoratsrede von 1933 in Freiburg schreibt Derrida: „Man kann nicht einfach sagen, daß Heidegger in der Rektoratsrede ein Risiko eingeht. Wenn deren Programm diabolische Züge annimmt, so deshalb, weil es – nichts dabei ist dem Zufall zuzuschreiben – das Schlimmste in sich vereint, kapitalisiert, zwei Übel zugleich: es bürgt für den Nazismus und enthält einen Gestus, der noch ein metaphysischer Gestus ist. […] Die Metaphysik kehrt stets zurück, wie ein Gespenst, wie ein wiederkehrender Geist; am verhängnisvollsten ist die Rückkehr des Geistes, die Rückkehr, die die Gestalt des Geistes annimmt“ (Derrida, Vom Geist, 50). 273 Gadamer versucht Heideggers Destruktion von jedem Verdacht einer Suche nach einer ‚dunklen‘ archē zu retten: „‚Destruktion‘ meint bei Heidegger niemals Zerstörung, sondern Abbau. Sie soll erstarrte Begrif fsprägungen auf ihre ursprüngliche [sic!] Denkerfahrung zurückführen, um diese zum Sprechen zu bringen. Eine solche Destruktion dient durchaus nicht dem Zwecke, auf einen dunklen Ursprung, eine ‚Archē‘ oder was immer es sei, zurückzuweisen. Das ist ein fatales Mißverständnis, das man vor allem dem späten Heidegger geltend zu machen pflegt“, in: Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik im Überblick, Gesammelte Werke Bd. 10, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1995, 145. Dieses ‚Missverständnis‘, wie es Gadamer Heidegger gegenüber wohlwollend nennt, resultiert of fenbar aus dessen Texten selbst und lässt sich schwerlich leugnen. 274 Platon, Parmenides, 156 d 2–4. 275 Vgl. Platon, Parmenides, 156 d 1. In seinem Essay Amistad y Alteración – der eine sehr spannende ethische Lektüre des Moments des Umschlags und des Augenblicks im Hinblick auf Freundschaf t und den Anderen bietet – erläutert Mauricio González das Atopische des Augenblicks folgendermaßen: „Pues atópico no es simplemente aquello que ‚pasa‘ entre ser y no ser
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hat. Weil die metabolē nun noch keine Bewegung ist, sondern sich „zwischen Bewegung und Ruhe“276 befindet, wie Platon es für den Augenblick schreibt, ist sie weder in räumliche noch in zeitliche Chronologien einzufügen. Der Moment des Umschlags ist daher als jener Un-Ort des Zwischen zu verstehen, in dem es potentiell zu einem möglichen Eintreten in die Bewegung und damit in den Raum der energeia kommt, mit der die dynamis aporetisch verschränkt bleibt. Der wiederum von Platon verwendete Begriff zur Anzeige jenes augenblicklichen Un-Orts, den wir als Un-Ort der metabolē identifiziert haben, deren Prinzip wiederum die dynamis ist, ist nicht zufällig Zwischen (metaxy). Das Zwischen bezeichnet eben jenen differenziellen Raum des Übergangs also, in dem etwas noch nicht bewegt und nicht mehr Ruhe ist. Zurückgeführt auf die dynamis kann dies nur heißen, dass, sofern sie „Prinzip [archē] des Umschlags [metabolē] in einem anderen oder insofern es ein anderes ist“ (Metaph. 1020a1–2) ist, wie Aristoteles im Buch IX formuliert, sie an dieses Zwischen gebunden bleibt, in der sie die Differenz zum anderen, die Differenz im anderen und die immanente Differenz in sich anzeigt. Vermittels ihres Herkommens aus der Materie wäre damit dem hierarchischen Streben der reinen energeia nach Aufhebung der Differenz und jenes Unortes des Zwischen Widerstand geboten und so „jene[r] Zuschlag der höchsten Potenz zur Materie in Gang“277 gebracht, wie sie Ernst Bloch Straton zusprach, dem Urheber der materialistischen Wende in der Deutung des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia. Diese dynamische Wende beinhaltet eine gewisse Instabilität, nach der die energeia bloß punktuelle Formwerdung im materiellen Kräftefeld ist, die sich, sollte sie sich nicht im Werk verstetigen, ebenso auch wieder verflüchtigen – oder sagen wir: potentialisieren – kann. Gegen ebendiese Instabilität verwahrt sich Aristoteles, indem er ihr seine Teleologie entgegensetzte nach der die energeia unmittelbar mit der Vollendung des Werks zusammenfällt. An einer Stelle in der Metaphysik schreibt er demgemäß: „Denn das Werk [ergon] ist das Ziel [telos], die Wirklichkeit [energeia] aber ist das Werk [ergon]. Daher ist auch der Name Wirklichkeit vom Werk her ausgesagt [legetai kata to ergon] und zielt auf Vollendung [entelecheia]“ (Metaph. 1050a21-23). Wie bereits mehrfach demonstriert, gipfelt dieses teleologisch-kosmologische Weltbild letztlich in der Notwendigkeit, sämtliche Bewegung – sei diese physikalisch oder metaphysisch – auf die reine energeia (den unbewegten Beweger) zurückzuführen. Gemäß der hier vorgelegten Interpretation galt es dagegen, die Perspektive auf das Verhältnis zwischen dynamis und energeia so zu justieren, dass wir der Axiomatik (devenir), antes bien: es aquello que difícilmente se deja nombrar, aquello que se resiste en todo pasaja, que no pasa, que detiene o interrumpe todo fluir y todo devenir“, in: Mauricio González, Amistad y Alteración, in: Margarita Cepeda/Alfonso Arango (Hg.), Amistad y alteridad. Homenaje a Carlos B. Gutiérrez, Bogotá: Ediciones Uniandes 2009, 137–146, hier: 142. 276 Platon, Parmenides, 156 d 7. 277 Bloch, Avicenna, 493.
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dieser Relation – also der Differenzialität oder Pluralität, der Materialität, der Metaphorizität sowie der Aporetik – gerecht werden. Damit wird die Unterbestimmtheit der Form, und damit die grundsätzliche Widerständigkeit des Vermögens, als genuin existent angenommen. Mehr noch als Aristoteles selbst – der ja den Seinsstatus der dynamis gegen die Megariker stark machte – betont Franz Brentano in seinem Buch über die Mannigfache Bedeutung des Seienden diese widerständige Seite der dynamis, nach der ein Teil von ihr immer schon der vollendeten Verwirklichung widersteht und ihr damit das Moment der doppelten Relationalität oder Aporetik oder der „doppelten Potentialität“, wie es bei ihm heißt, strukturell zugrunde liegt: Es steht also unzweifelhaft fest, es kann hinsichtlich derselben Form einen doppelten Zustand der Potenzialität geben. Wo immer aber eine solche Mehrheit der potenziellen Zustände sich findet, da muß der eine wenigstens, als solcher, durch Aktualität constituirt (formirt) sein.278
Demnach ist jeder Umschlag von der dynamis zur energeia kein endgültiger, denn bei der Verdoppelung des Vermögens, von der Brentano spricht, handelt sich um die uns bereits bekannte Tatsache, dass sich eben nur ein Teil der dynamis verwirklicht wohingegen ein anderer wiederum jeder Vollendung widersteht und somit die Gefahr eines vollständigen Übergehens der dynamis in die energeia bzw. entelecheia zu keinem Zeitpunkt besteht. Vor diesem Hintergrund ist die dynamis als Voraussetzung der energeia zu betrachten, jedoch nicht im Sinne eines zeitlichen Voraus, sondern als eine die Differenzen ermöglichende Vor-Aus-Setzung. Wie gezeigt, trennt diese Vor-AusSetzung die dynamis nicht etwa von der energeia, sondern garantiert erst ihre unaufhebbare Verschränkung im Moment des Umschlags, in dem die dynamis zugleich in die energeia eingeht und ihr widersteht. Es ist diese differenzielle Relation zwischen dynamis und energeia – dieser Zwischenraum –, der die Existenz beider sichert und aus dem allein die der dynamis immanente, unaufhebbare Aporie eines gleichzeitigen Nach-außen-Treibens einerseits und Nach-innen-Zurückhaltens andererseits – oder wie es Heidegger formuliert: aus dem „Entzug“, dem „Ertragen“ der Kraft (der dynamis) und dem „Einbezug“ (der Umwelt)279 – zum 278 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 61. Brentano demonstriert diese „doppelte Potentialität“ anhand der doppelten Verwiesenheit der dynamis auf die Form, nach der sie einerseits in Beziehung zum Übergang von dynamis zur energeia und andererseits in Beziehung auf das dessen entelechie, das ergon steht: „Das Subject ist demnach hier in einer doppelten Potenzialität, 1) zum Werden der Form, 2) zur Form selbst, und dennoch ist dieser doppelte Zustand der Potenzialität nur ein einziger schlechthin und dem Begrif fe nach […]. Es gibt also einen doppelten Zustand der Potenzialität hinsichtlich derselben Wirklichkeit“ (Brentano, Mannigfache Bedeutung, 56–59). 279 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 105 u. 109.
VII. Die Zeit der dynamis: Metabolē – l’avenir – Augenblick
plötzlichen Umschlag in die Wirklichkeit führt. Hierin besteht die doppelte Aporie – oder „doppelte Potentialität“,280 wie Brentano wiederum in seiner für Heidegger so zentralen Studie zeigten – der dynamis als solchen sowie des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia. Die dynamis ist, um es zusammenzufassen, als ein die zeitliche Linearität entsetzender Moment im Sinne eines augenblicklichen Umschlags zu verstehen, in dem es zu einer differenziellen Kontraktion, zu einem intensionalen und inversiven Zusammenziehen jeglicher linearen Chronologien kommt. Im Hinblick auf das Moment inversiver Kontraktion der dynamis wäre – übertragen wir diese Lesart letztlich auf den historisch-politischen Raum – der zeitliche Verlauf und damit der geschichtliche Ablauf nicht mehr nur als „leere homogene Zeit“ zu betrachten, wie es Walter Benjamin kritisch in seiner XIV. Geschichtsthese formuliert, sondern er ist ganz und gar mit Zeit aufgeladen.281 Dies bildet, so können wir weiterhin im Anschluss an Benjamin formulieren, den Kristallisationspunkt, in dem ein „Kraftfeld“ generiert wird.282 Der Umschlag von der dynamis zur energeia ist dementsprechend kein rein logisch-physikalisches Programm, sondern muss differenzlogisch und immanent aus dem Zwischenspiel von dynamis und energeia heraus und unter Berücksichtigung der aus der dynamis herkommenden doppelten Aporie sowie aus ihrer Materialität verstanden werden. Folglich ist der Umschlag von der dynamis zur energeia auch ohne das Festhalten an einem wesensmäßigen Fortschreiten denkbar, und die metabolē von der dynamis zur energeia manifestiert sich konkret und materiell in der Geschichte, und zwar nicht irgendwie, sondern plötzlich, sie ist disrup280 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 59. 281 Walter Benjamin, Über den Begrif f der Geschichte, GS I.2, 691–704, hier 701. Die genannte Stelle lautet: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“ Sämtliche Revolutionen müssten daher das „Kontinuum der Geschichte aufsprengen“ (Benjamin, Geschichtsthesen, GS I.2, 701), indem sie das Vergangene zitierten, um es so – ebenso wie die Zukunf t – im Moment des Jetzt zu absorbieren. 282 Benjamin, Passagen-Werk, GS V.1, N 7, 8, 587. Vor allem vor dem Hintergrund des dynamis-energeia-Verhältnisses ist es ausgesprochen interessant, dass Benjamin davon ausgeht, dass ein „Hineinwirken“ der Aktualität notwendige Bedingung für jenes Absorbieren des Vergangenen und der Zukunf t im Moment des Jetzt, und damit eben auch Bedingung für jenes „Kraf tfeld“ ist: „Die Vor- und Nachgeschichte eines historischen Tatbestandes erscheinen kraf t seiner dialektischen Darstellung an ihm selbst. Mehr: jeder dialektisch dargestellte historische Sachverhalt polarisiert sich und wird zu einem Kraf tfeld, in dem die Auseinandersetzung zwischen seiner Vorgeschichte und Nachgeschichte sich abspielt. Er wird es, indem die Aktualität in ihn hineinwirkt“ (Benjamin, Passagen-Werk, GS V.1, 587). Allerdings, so muss sogleich erläuternd hinzugefügt werden, ist Benjamin kein Aristoteliker, so dass sein Begrif f der Aktualität hier im Rahmen aristotelischer Begrif fsbestimmungen nur im weitesten Sinne von Bedeutung ist. Dagegen wäre es überaus wichtig, Benjamins Vorstellung von der Jetztzeit, in der das Vergangene mit dem Zukünf tigen absorbiert wird, mit Platons-Paulus’-Kierkegaards Augenblick und der metabolē zusammenzudenken. Dies erfordert unter anderem eine umfassende Diskussion über Messianismus und Eschatologie, kairos und chronos sowie über die christliche Vorstellung der Wiederauferstehung, welche dem Begrif f des Augenblicks zugrunde liegt.
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tiv und widerständig. Jedes epistemologische und phänomenale Erkennen der dynamis betrifft daher genuin den historisch-politischen Raum. Sie ist, wie Søren Kierkegaard in einer Fußnote seines 1844 veröffentlichten Werks Der Begriff Angst richtig bemerkt, „in Richtung auf die historische Freiheit zu verstehen“.283
283 Søren Kierkegaard, Der Begrif f Angst, übers. u. hg. v. Liselotte Richter, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1996, 76. Kierkegaard veröf fentlichte dieses Buch als Vigilus Haufniensis, einem seiner vielen Pseudonyme. Kierkegaard weist hier auf die enge Verbindung zwischen dem Augenblick und dem exaiphnēs als zeitlich-unzeitlichen Moment hin: „Ein Blick ist daher eine Bezeichnung der Zeit, aber wohlgemerkt der Zeit in dem schicksalsträchtigen Konflikt, da sie berührt wird von der Ewigkeit. Das, was wir Augenblick nennen, nennt Platon τό ἐξαιφνής [wörtlich: das Plötzliche]“ (Kierkegaard, Begrif f Angst, 81). Dieses Buch Kierkegaards ist insbesondere für das Kapitel „Dasein und Zeitlichkeit“ in Heideggers Sein und Zeit prägend. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 45f f.
Kurztitel des Kapitels oder Beitrages
VIII. Kraft und Vermögen der Geschichte(n): Rekurs und Ausblick Der Umschlag von der dynamis zur energeia ist, wie wir aus den bisherigen Ausführungen ableiten können, jenseits eines binär codierten Denkens zu verstehen, in dem sich die metaphysische Lesart auf der einen und materialistische Lesart auf der anderen antagonistisch gegenüberstehen (vgl. Kap. I). Es zeigte sich des Weiteren, wie sich aus der dekonstruktiven Lektüre der hier behandelten Begriffe heraus eine Justierung des Denkens auf den Zwischenraum einstellt, in dem sich der Umschlag (metabolē) von der dynamis zur energeia ereignet. Diese Justierung des Denkens der dynamis ist methodologisch an die vierfache Axiomatik von Materialität, Differenzialität und Pluralität, Aporizität und Metaphorik gebunden, durch die ein kritisches Umdenken metaphysischer Begrifflichkeiten und ihrer Narrative stattfand (vgl. Kap. V). Sie führt zu dem, was hier mit einer materialistischen Philosophie der Differenz gemeint ist. Bevor diese nun ausblicksartig skizziert wird, sei im Folgenden die bisherige Argumentation kurz zusammengefasst. Aus der Axiomatik von Materialität, Differenzialität oder Pluralität, Aporizität und Metaphorik heraus fand ein Richtungswechsel in der Exegese des Verhältnisses zwischen dynamis und energeia statt, bei der sich das der dynamis eigentümliche Moment zwischen dem Übergehen in und dem Zurückhalten vor der Bewegung als Widerständigkeit gegen ihre vollständige Aktualisierung aufweisen ließ. Aus der Materialität herkommend manifestiert sich der Umschlag von der dynamis zur energeia unterdessen nicht als dionysischer Exzess, sondern bleibt an das konkrete Moment seiner Verwirklichung, und damit auch an den historischen Kontext gebunden. Als solcher ist er – um es mit Kierkegaard zu formulieren – nicht anders als „in Richtung auf die historische Freiheit“284 zu verstehen, denn er eröffnet erst jenen kraftvollen Zwischenraum, in dem eine „historische Freiheit“ möglich und erfahrbar werden könnte. Dies wurde anhand des Begriffs exaiphnēs sowie der kritischen Lektüre einiger Passagen aus Heideggers Parmenides-Vorlesung demonstriert (vgl. Kap. VII). Auch wenn die dynamis dabei an die energeia gebunden bleibt, erhält sich das aus ihr herkommende Moment der Widerständigkeit über ihre Verwirklichung 284 Kierkegaard, Begrif f der Angst, 76.
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hinaus. Es ist eben dieses widerständige Moment, welches das disruptive Vermögen der dynamis, ihre „Kraft zum Bruch“285, wie es bei Derrida heißt, verbürgt. Dabei handelt es sich in gewisser Weise um dieselbe Dynamik des Widerstandes – jene „étonnante capacité de résistance“286 –, die Aubenque als maßgebliches Charakteristikum der Metaphysik gegen jeden Versuch, sie zu systematisieren, aufgewiesen hat (vgl. Kap. III). Wie im Verlauf dieses Buches dargestellt, ist dies im Sinne einer Angleichung der zu untersuchenden Sache, nämlich des ontologischen Begriffs des Vermögens, sowohl an seine Analyse und Dekonstruktion als auch an seine Überlieferungsgeschichte zu verstehen, mit der sich vielleicht jener beeindruckende Satz des Aristoteles bestätigt, welcher der Ausgangspunkt unserer Dekonstruktion des Begriffs der dynamis war: „Die Aporie aber im Denken zeigt diesen Knoten in der Sache an; denn im Fragen gleicht man den Gebundenen, denen es nach beiden Seiten unmöglich ist, vorwärts zu schreiten“ (Metaph. 995a30-33). Im Sinne dieser Angleichung galt es sowohl den Begriff der dynamis zu dekonstruieren als auch seine Überlieferungsgeschichte – welche ihren „ersten Linkseffekt schon am eigenen Ort“287 erfuhr, wie Bloch feststellte – auf eine bestimmte Weise auszulegen, und zwar unter Berücksichtigung der ihrer metaphysischen Lesart zugrunde liegenden Aporien wie auch im Sinne und in Richtung der ihr immanenten Materialität (vgl. Kap. II). Schließlich gelangten wir auf diese Weise zu der besagten materialistischen Philosophie der Differenz, die aus dem ideengeschichtlichen Widerstreit zwischen metaphysischem und materialistischem Dogmatismus ihre kritische Kraft schöpft.288 Auf je eigene Weise zeigte sich das Motiv einer kraftvollen Aneignung der Überlieferung und ein Umdenken metaphysischer Begriffe bei allen in diesem Buch diskutierten Philosophen: von Heideggers Destruktion über Aubenques quasi-dekonstruktive Deutung (Kap. II u. III) bis hin zu Derridas Dekonstruktion (Kap. III) und schließlich – obgleich nur kurz besprochen – bei Agambens hyperbolisierend-genealogischem Gestus (Kap. VII). Diesem Motiv entsprechend schreibt Heidegger in seiner Vorlesung über Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik von 1956/57:
285 Derrida, Signatur Ereignis Kontext, 27f. 286 Aubenque, Origines de la doctrine de l’analogie de l’être, 12. 287 Bloch, Avicenna, 493. 288 Dies entspricht gewissermaßen der Aufgabe der Dekonstruktion, wie Derrida ausführt: „Es gibt keinen metaphysischen Begrif f an sich. Es gibt eine – metaphysische oder nicht-metaphysische – Arbeit an Begrif fssystemen. Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begrif f zum anderen überzugehen, sondern eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nichtbegriffliche Ordnung, an die sie geknüpf t ist, umzukehren und zu verschieben“ (Derrida, Signatur Ereignis Kontext, 45).
VIII. Kraft und Vermögen der Geschichte(n): Rekurs und Ausblick Für uns ist die Maßgabe für das Gespräch mit der geschichtlichen Überlieferung dieselbe, insofern es gilt, in die Kraft des früheren Denkens einzugehen. Alleine wir suchen die Kraft nicht im schon Gedachten sondern in einem Ungedachten, von dem her das Gedachte seinen Wesensraum empfängt. Aber das schon Gedachte erst bereitet das noch Ungedachte, das immer neu in seinen Überfluß einkehrt.289
Dieses Eingehen in die Kraft der geschichtlichen Überlieferung bedeutet Heidegger zufolge nicht, die unterschiedlichen Lesarten einfach zu wiederholen, sondern zu ‚lesen, was nie geschrieben wurde‘, um es wie auch schon zuvor mit Hofmannsthals Sentenz umzuformulieren, welche wiederum Walter Benjamin häufig zitierte.290 Mit dem Lesen des Ungeschriebenen ist im vorliegendem Buch der Versuch gemeint, erstens bestimmte Auslegungstraditionen philosophischer Begriffe in Beziehung zu den immanenten Aporien der hier behandelten Texte zu setzen, wodurch zweitens ihre eher marginalisierten Dynamiken in den Mittelpunkt der Analyse rücken.291 Drittens berücksichtigt das Denken der geschichtlichen Überlieferung in dem hier angestrebten Sinne einer Dekonstruktion gleichzeitig neuere Philosophien sowie viertens die Rückbindung an den historischen Kontext. Dies alles zu einer Konstellation zusammenzufügen und aus der Kraft der geschichtlichen Überlieferung heraus ‚zusammenzudenken‘, war Ausgangspunkt und Telos der Dekonstruktion und der Reformulierung der dynamis sowie des Umschlags von der dynamis zur energeia (vgl. Kap. I u. VII). Dass eine geschichtsbewusste Lesart philosophischer Problemata unabdingbar ist, erläuterte auch Ernst Tugendhat, als er die Notwendigkeit beschrieb, dass ihre Überlieferung nicht bloß in einer „abbildende[n] Rekonstruktion wiederholt“292 werden könne – vielmehr sollten die traditionell metaphysischen Begriffe und Problemata nicht einfach rekonstruiert werden, sondern eine geschichtsbewusste Philosophie erfordere ein Supplement, durch welches „die Tradition in gewisser Weise überstiegen [und] neu aufgerollt werde.“293 Dieses Neuaufrollen ähnelt dem Hofmannsthal’schen Pathos einer Art Spurensuche nach dem Ungelesenen und es erfordert ein Einholen des Marginalisierten, welches wiederum die „Kraft zum Bruch“ begünstigt. Im Verlauf der vorliegenden Studien stellte sich heraus, dass für ein Eingehen in die Kraft der geschichtlichen Überlieferung 289 Heidegger, Onto-theo-logische Verfassung, 57 (Herv. NSa). Bei Heidegger geht dieses kraf tvolle Aneignen der Überlieferung mit einem Akt der Befreiung einher: „Die Überlieferung liefert uns nicht einen Zwang des Vergangenen und Unwiderruflichen aus. Überliefern, déliver, ist ein Befreien, nämlich in die Freiheit des Gesprächs mit dem Gewesenen“ (Heidegger, Was ist das – die Philosophie?, 10). 290 Hofmannsthal, Tor und Tod, 298. 291 Zum Marginalisierten bei Derrida vgl. exemplarisch den Essayband Marges de la philosophie, Paris 1972. 292 Ernst Tugendhat, Tí katà tinós. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegrif fe, Freiburg/München: Karl Alber 1958, 2 293 Tugendhat, Tí katà tinós, 2.
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weniger eine Geographie der Anwesenheit des Seins, wie sie noch Heidegger formulierte, als vielmehr eine Topologie des Lesens bereitgestellt werden müsste. Es ist freilich kein Zufall, dass die Kraft der geschichtlichen Überlieferung hier mit jener „Kraft zum Bruch“ korrespondiert. Weshalb ist nun aber im Kontext der dynamis so häufig von Kraft die Rede? Besteht nicht der Vorteil der dynamis darin, eben nicht nur den Aspekt der Kraft, sondern auch den des Vermögens, der Fähigkeit und der Möglichkeit zu umfassen? Es ist ja gerade die Vielfältigkeit der dynamis, ihre Unübersetzbarkeit, welche, weil sie der metaphorischen Übertragung bedarf, ein besonderes erkenntnistheoretisches Potential birgt, wie sich aus unserer dekonstruktiven Lektüre ergab (vgl. Kap. III u. IV).294 In der Tat gibt es jedoch einen auffälligen Traditionsstrang, der sich insbesondere in den hier behandelten Texten von Brentano und Heidegger aufweisen lässt, in der die aristotelische dynamis zwar nicht als „Kraft zum Bruch“, sondern als Kraft im Sinne einer „wirkenden Ursache“295 oder als gar als Ur-Sprung übersetzt und gedeutet wird. Dies soll in folgendem abschließenden Exkurs zum Kraftbegriff illustriert werden. „Alles, was in Möglichkeit etwas ist“, schreibt beispielsweise Brentano, „wird nicht zur Wirklichkeit überführt, wenn nicht durch den Einfluß einer wirkenden Ursache.“296 Was also nun letztlich vermögend ist, bedarf, damit es überhaupt verwirklicht werden kann, eines ursächlichen Anstoßes.297 Brentano bezieht sich hier auf die aristotelische Definition der dynamis, welche bereits ausführlich erläutert wurde. Nach dieser ist die dynamis ein „Prinzip des Umschlags [metabolē] in einem anderen oder in ein und demselben, insofern es ein anderes ist“ (Metaph. 1046a10–11). Um diesen Übergang von etwas Vermögendem zu seiner Verwirklichung also zu verstehen, sei es vonnöten, die Relation zwischen dem „wirkenden Princip“ und dem Vermögen detaillierter zu betrachten. „Alles in Möglichkeit Seiende als solches“, ergänzt Brentano deswegen an später Stelle seines Textes, „steht in Beziehung zu einem wirkenden Princip“, und er fährt fort:
294 Zur Metaphorik der dynamis siehe auch Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 56–67. 295 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 51 u. 64. 296 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 51. 297 Brentano sieht diese anstoßende Ursache für den Bereich der Natur in dieser selbst und für den der Kunst außerhalb derselben, quasi als Initiationskraf t des Künstlers: „Jedem in Möglichkeit Seienden entspricht also eine bestimmte wirkende Ursache und ihre Thätigkeit, sei es nun eine künstliche, wo dann das Princip der Vollendung dem in Möglichkeit Seienden äußerlich ist, oder sei es eine natürliche, wo es diesem innewohnt. Immer aber ist etwas dann in Möglichkeit, wenn die Natur oder die Kunst durch eine einzige Action es in Wirklichkeit versetzen kann. Möglich durch Kunst ist es eben dann, wenn nicht ein äußeres Hindernis dazwischen tritt […]. Möglich durch die Natur aber ist etwas dann, wenn, wo äußerlich nichts hindert, etwas durch das ihm eigenthümliche active Princip, durch die ihm innewohnende natürliche Kraf t zur Wirklichkeit geführt werden kann“ (Brentano, Mannigfache Bedeutung, 51).
VIII. Kraft und Vermögen der Geschichte(n): Rekurs und Ausblick Daher werden auch jene Zustände der Möglichkeit, die als solche durch eine Actualität constitutirt sind, in Bezug auf ein wirkendes Princip und dessen Wirkung zu betrachten sein. Ein solcher Zustand der Möglichkeit zu etwas besteht also in einem Subjecte entweder vor dem Wirken, oder während des Wirkens, oder nach dem Wirken der Kraft, durch deren Thätigkeit es in den Zustand der Wirklichkeit überführt wird.298
Nachdem Brentano hier die unterschiedlichen zeitlichen Beziehungen („davor“, „danach“ oder „während“) aufgeführt hat, in denen ein Vermögendes zum „Wirken der Kraft“ steht, schließt er zunächst jede Vor- oder Nachträglichkeit des einen vor oder nach dem anderen Moment aus. Der Zustand des „Wirkens der Kraft“ sei vielmehr der einer unaufhebbaren Verschränkung zwischen dynamis und energeia. In dieser wichtigen Einsicht, dass das „Wirken der Kraft“ sich in der notwendigen Verschränkung zwischen dynamis und energeia ereignet, sind wir Brentano gefolgt. Allerdings rückt Brentano nun nicht die Verschränkung – mitsamt ihrer Aporizität und Differenzialität – ins Zentrum seiner Relektüre der dynamis, sondern bei ihm ist anstelle des Fokus auf den differenziellen Charakter der dynamis, diese noch ganz und gar „durch eine Actualität constituirt“.299 Obgleich Brentanos Ausführungen für die philosophische Forschung wegweisend sind, reiht er sich damit letztlich auch in die Linie derjenigen Exegeten ein, welche die energeia vor der dynamis priorisieren, was freilich aus der Darstellung des Aristoteles und seinem Insistieren auf der reinen energeia als kosmologischem Urgrund selbst resultiert. Dass sich aus demselben Text jedoch auch eine ganz andere Lesart ergeben kann, haben wir anhand des doppelt aporetischen Charakters der dynamis demonstriert. Aus dieser ergab sich auch für Aristoteles’ Definition der dynamis als „Prinzip [archē] des Umschlags [metabolē]“ (Metaph. 1046a10) eine etwas andere Auslegung als die hier von Brentano vorgelegte. In unserer Lesart zeigte sich nämlich, dass die Differenzialität auch nicht vor dem Prinzip – der Ursache – haltmacht und dass diese daher in Wahrheit gar nicht als monokausaler Ausgangspunkt für alle weiteren Bewegungsanstöße betrachtet werden kann (vgl. Kap. II u. III). Stattdessen ergab die Dekonstruktion des Begriffs der archē in Aristoteles’ Definition, dass die dynamis gleichzeitig ein Prinzip und ein NichtPrinzip, eine archē und an-archē ist, und dass aus dieser absoluten Differenzialität heraus – möchte man diese Terminologie überhaupt verwenden – ihre „wirkende Kraft“ oder vielleicht besser, ihre dynamis entspringt. In seiner Vorlesung von 1931 über das Buch IX der aristotelischen Metaphysik widmet sich auch Heidegger der dynamis als Kraft.300 An Brentanos Analysen der 298 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 64 (Herv. N. Sa). 299 Brentano, Mannigfache Bedeutung, 65. 300 Heideggers Analyse in dieser Vorlesung zielt letztlich auf die Frage, wie die an den logos gebundene dynamis – also die spezifisch menschliche, am Gebrauch der Vernunf t ausgerichtete dynamis – im Unterschied zu der nicht an den logos gebundenen zu verstehen ist. Dabei bezieht
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dynamis im Kontext der mannigfachen Aussagbarkeit des Seienden anknüpfend, erklärt er diese zur „fundamental neue[n] Stellung“301 innerhalb der Philosophiegeschichte. Bei dieser „fundamental neue[n] Stellung“ handelt es sich um das Diktum der mannigfachen (Aus)Sagbarkeit, wie Aristoteles programmatisch für das Seiende als to on legetai pollachōs – „Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt“ (Metaph. 1002b33–34) –, aber auch für die dynamis formuliert (vgl. Metaph. 1046a4–5). Dies wurde – wie an mehreren Stellen dieses Buches dargestellt – als Keimzelle der Inkohärenz des aristotelischen ‚Systems‘ betrachtet (vgl. Kap. VI). Wie Heidegger im Anschluss an Aristoteles ausführt, sei diese Mannigfaltigkeit des Seienden nun nicht als beliebiges Auseinanderdriften in einen kontingenten Raum zu verstehen, sondern sie laufe vielmehr in einer Ursache zusammen, und was für das Seiende gelte, lasse sich dann auch auf die dynamis übertragen: „Und was geschieht mit der gebräuchlichen und ursprünglichen, eigentlichen Bedeutung von δύναμις, Kraft?“302, fragt Heidegger daher an einer Stelle. Er beantwortet diese Frage in mehreren Schritten: Zunächst einmal lasse sich die mannigfache Bedeutung des Begriffs der dynamis „wie Kraft, Fähigkeit, Kunst, Begabung, Vermögen, Befähigung, Eignung, Geschicklichkeit, Gewalt, Macht“303 nicht leugnen, denn schließlich gebe es diese Begriffe wirklich und sie werden zur Benennung jeweils spezifischer Phänomene verwendet. Die Verschiedenheit ihrer Bedeutung sei daher ernst zu nehmen, denn sie bezeichne zwar ähnliche, aber dennoch unterschiedliche Dinge. Bei dem Versuch der Einordnung all dieser einzelnen Bedeutungen jedoch werde gemeinhin angenommen, ihre Ähnlichkeit bestehe darin, dass sie alle einen unmittelbaren Bezug zum „Können“ haben, wie folgendes längeres Zitat deutlich macht: er sich auf Aristoteles’ Auseinandersetzung mit dieser Unterscheidung im zweiten Kapitel des neunten Buches. Trotz ihrer prinzipiellen Wichtigkeit ist diese Unterscheidung jedoch für die Argumentation in vorliegendem Buch nicht ausschlaggebend. Eine Erläuterung von Heideggers Auslegung der dynamis meta logou, des sprachlichen (vernünf tigen) Vermögens, findet sich in Günter Figal, Heidegger’s Philosophy of Language in an Aristotelian Context: Dynamis meta logou, in: Heidegger and the Greeks, hg. v. Drew A. Hyland u. John Panteleimon Manoussakis, Bloomington: Indiana UP 2006, 83–92. Siehe hierzu auch den Artikel „Heidegger on Aristotle: dunamis as Force and Drive“ von Rudolf Bernet, in: Heidegger’s Question of Being. Dasein, Truth, and History, hg. v. Holger Zaborowski, Washington: The Catholic University of America Press, 49–70. O hne voreilige Rückschlüsse von der Philosophie Heideggers auf sein politisches Engagement ziehen zu wollen, so deutet doch einiges darauf hin, dass seine Verwendung des Begrif fs der Kraf t in der Zeit vor und kurz nach der Machtergreifung durch die NSDAP durchaus problematisch ist. So spricht er beispielsweise in seiner Rektoratsrede von 1933 von der „jungen und jüngsten Kraf t des Volkes“ – also die der nationalsozialistischen Strömung –, welches sich nun auf den Weg gemacht habe, seinen „geschichtlichen Auf trag [zu] erfüll[en]“, in: Heidegger, Rektoratsrede, 117. 301 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 13. 302 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 67. 303 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 72.
VIII. Kraft und Vermögen der Geschichte(n): Rekurs und Ausblick All dieses Vielfältige – ist es ein Beliebiges und Belangloses, oder jenes, worin sich uns ein Grundwesentliches eines jeglichen Seienden und jeglicher Weise des Seienden darbietet? Kraft – die Kräfte der materiellen Natur; was wäre die Natur ohne Kräfte? Fähigkeit – die Fähigkeiten des Lebewesens; Vermögen – das und die Vermögen des Menschen; Kunst – die Kunst Michelangelos, van Goghs; was verstünden wir von beiden, wenn wir nicht Kunst verstehen? Gewalt – die Gewalt Napoleons; Macht – die Macht des Göttlichen, die Macht des Glaubens.304
Die Zurückführung der unterschiedlichen Bedeutungen der dynamis auf ein Können sei eine Verkürzung, welche sich einer „naiven Weltansicht“305 verdanke, polemisiert Heidegger gegen jene Strömungen. Diese „naive Weltansicht“ wiederum bestehe hauptsächlich in dem Glauben, dass sich eine Auslegung des Begriffs der dynamis auf „subjektive Erfahrungen“306 reduzieren lasse. Um allerdings genau dies zu vermeiden und um überhaupt herausfinden zu können, was das Wesen der dynamis ausmache, sei es deshalb vonnöten, sich eher auf den Begriff der Kraft zu beziehen, statt auf den subjektiven Erfahrungsbereich.307 Die dynamis in ihrer Auslegung als Kraft, wie sie hier von Brentano und Heidegger gelesen wird, läuft daher auf eine Art ursprüngliches Prinzip hinaus: Was jedoch bei Brentano noch ein „Wirken der Kraft“ war, wird nun von Heidegger in Richtung des Ursprungscharakters der dynamis als archē umgedeutet. Für die unterschiedlichen (Aus-)Sagbarkeiten der dynamis gelte jedenfalls, so fasst
304 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 73. Heidegger fasst dies wie folgt: „In all dem, könnte man versucht sein zu sagen, liegt durchgängig ein Können; also handelt es sich um bestimmte Arten des Könnens, und das Können ist der allgemeine Begrif f, unter den diese Arten fallen. Und was ist das Können? Das ist ein Letztes und läßt sich nicht weiter definieren. Damit ist die Philosophie fertig.“ 305 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 73. 306 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 74. 307 In seinem Buch Die Kraf t der Kunst hat Christoph Menke gezeigt, dass eine solche Verkürzung auf den subjektiven Bereich des Könnens schon deswegen ungünstig ist, weil sie eine bestimmte Messbarkeit und Kalkulierbarkeit entlang ökonomischer Wertmaßstäbe impliziere. Dies zeige dies deutlich am Begrif f des Vermögens, dessen inhaltliche Transformation unmittelbar mit der Herausbildung des modernen Subjekts zusammenhänge, welches gemäß der marktwirtschaf tlichen Ordnung dazu sozialisiert wird, etwas können zu müssen. Hierfür bedarf es der Unterordnung der Einzelnen unter die geltenden kulturellen, pädagogischen und sozio-ökonomischen Strukturen und Institutionen, wodurch die ‚Vermögen‘ anhand der geltenden Wertordnung messbar werden. Dagegen stehen die Kräf te, welche unermesslich sind: „Die Kraf t […] kann nicht objektiv als vorliegend bewiesen oder festgestellt werden“ (Menke, Die Kraf t der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2013, 171). Menke führt aus, dass die Kraf t somit als „Voraussetzung“ betrachtet werden müsse, und zwar insofern, dass sie der Subjektbildung vorausgeht (vgl. Menke, Kraf t der Kunst, 13 u. 172). Hierbei handelt es sich um eine sozialpolitische Einbettung des Problems zwischen subjektiven Vermögen und Fähigkeit und einer vorsubjektiven Kraf t, die bei Heidegger völlig unreflektiert bleibt beziehungsweise sich sogar ins politisch äußerst fragwürdige Gegenteil verkehrt.
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Heidegger seine Lesart der dynamis als Kraft308 zunächst zusammen, dass sie in einem inneren Prinzip zusammenlaufen müssen: Die Kraft hat den Charakter des Ursacheseins; Ur-sache: eine ursprüngliche, entspringenlassende Sache, eine solche, von der aus etwas ist, nämlich als so und so Bewegtes und dieses wieder dergestalt, daß dieses Bewegte in seiner Bewegung eine andere Sache ist als die Ur-sache.309
Wir sehen hier, dass Heidegger in seiner Definition der dynamis als Kraft diese zunächst auch von der Bewegung her denkt. Trotz der unübersehbaren Nähe zu Brentanos Studie zur Mannigfachigkeit des Seienden, die er wohl genauestens studiert hat, distanziert sich Heidegger von dessen Deutung der Ursache allein als „wirkendes Prinzip“, und damit eben auch von der Versuchung, die dynamis zu sehr als kinetisches Vermögen zu lesen. Die unterschiedlichen Varianten der dynamis sollten vielmehr unter eine allen Vermögen zugrunde liegende strukturelle Eigenschaft subsumieren werden. Heidegger bezieht sich dabei auf Aristoteles’ Aussage, alle dynamis „derselben Art“ (auto eidos; Metaph. 1046a9) stünden in Relation zu einer ihnen vorausgehenden dynamis, welche äußerlich eine ihnen allen gemeinsame Eigenschaft in sich trage.310 Anstelle des sonst in der deutschen Übersetzung gewählten Wortes ‚Art‘ oder ‚Form‘, übersetzt Heidegger eidos nun mit ‚Aussehen‘, womit er auf die „Leitbedeutung“311 der dynamis als archē hinweisen möchte. Dabei müsse die archē der Leit-dynamis im Sinne eines ursächlichen Anstoßes verstanden werden – dies gelte es „in einer ursprünglicheren Enthüllung des von [Aristoteles] Gefaßten“312 herauszufinden. Wir belassen es an dieser Stelle dabei, denn Heideggers Ambition, eine „ursprünglichere Enthüllung“ zu vollziehen und somit eine Ur-Sache aufzufinden, die prinzipieller ist als ein Prinzip – eine archē der archē also –, wurde detailliert an früherer Stelle dieses Buches nachgezeichnet (vgl. Kap. VII). Dort wurde dargelegt, dass der von Aristoteles in seiner Definition der dynamis verwendete Begriff des Prinzips, der archē, gemäß unserer dekonstruktiven Lesart als absolute Differenz gedeutet werden muss: Er ist daher genau genommen nicht im Sinne einer Quelle, aus dem jede Bewegung entspringt, zu verstehen. Aus der Analyse der archē ergab sich vielmehr, dass dieses Prinzip und Nicht-Prinzip der metabolē, zugleich eine archē und an-archē des 308 Heideggers Auslegung der dynamis als Kraf t ist wohl auch auf seine Auseinandersetzung mit Leibniz’ Kraf tbegrif f zurückzuführen, wie sie an einigen zentralen Stellen seines Buches stattfindet. Vgl. Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 87–102, v. a. 94f f. Eine besonders erwähnenswerte Studie, die von Aristoteles herkommend sich ebenfalls auf Leibniz’ vis activa bezieht und in welcher der aristotelische Begrif f der hexis – der Disposition oder Haltung – diskutiert wird, ist Félix Ravaissons De l’habitude (1883), New York: Continuum 2008. 309 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 80. 310 Vgl. Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 68. 311 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 67f f. 312 Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 82. Zur archē als Ursache vgl. 83.
VIII. Kraft und Vermögen der Geschichte(n): Rekurs und Ausblick
Umschlags von der dynamis zur energeia ist. In diesem differenziellen Moment des Umschlags entfaltet die dynamis ihre Kraft und zeigt sich in ihrer ganzen Aporie zwischen Aktualisierung und Widerstand.313 Dieser Exkurs über den Begriff der Kraft sollte exemplarisch einen kleinen Ausblick geben, in welche Richtung der Begriff der dynamis nun weitergedacht werden sollte, nämlich weniger als ur-sächliche Kraft als vielmehr jenseits ökonomischer Kalkulierbarkeit und in Richtung der ihr immanenten Widerständigkeit. Hierfür ist – um es zum Schluss noch einmal zusammenzufassen – die Dekonstruktion des Begriffs der dynamis sowie eine genaue Analyse und Relektüre des Umschlags von der dynamis zur energeia vonnöten. Anhand des alten Disputs um die Priorisierung des einen oder des anderen Moments – der dynamis oder der energeia, der Potenz oder des Aktes, des Vermögens oder der Verwirklichung – zeigte sich, dass eine Auseinandersetzung mit den hierfür zentralen metaphysischen Begriffen – Aporie, Analogie, Metapher und Prinzip – die notwendige Voraussetzung für jene dekonstruktive Auslegung ist (vgl. Kap. I, II, III, VI). Dies führte zur Setzung der vierfachen Axiomatik von Differenzialität und Pluralität, Metaphorizität, Aporizität und nicht zuletzt Materialität (vgl. Kap. V). Diese als Ausgangspunkt für eine Aktualisierung des Begriffs der dynamis vorauszusetzen schien unabdingbar, um jene bloße Wiederholung zu vermeiden, vor der Tugendhat warnt. Eine bloße Wiederholung sollte nicht zuletzt deswegen vermieden werden, weil jede zu enge metaphysische Auslegung der Begriffe lediglich dazu führen würde, diese in einer höheren oder kosmologischen Ordnung zusammenzuführen und konservieren zu wollen. Dieser Konservatismus jedoch unterminiert das Dynamische der geschichtlichen Überlieferung, denn er bekommt gar nicht erst die ihr zugrunde liegenden Differenzen und Aporien in den Blick, und wo er sie in den Blick bekommt, ist er bestrebt, diese zu absorbieren, zu vereinheitlichen, zu identifizieren und zu systematisieren. Es zeigte sich jedoch, dass die Berücksichtigung der Differenzialität und Aporizität für unsere Lesart der dynamis als möglicher Moment des Widerstands gegen jene konservativen Bestrebungen notwendig ist (vgl. Kap. VII). Erst wenn 313 Auch Heidegger fokussiert nun den widerständigen Charakter der dynamis, und seine wirkliche Abwendung von der Brentano’schen Auslegung findet just an der Stelle statt, an der er, anstatt die dynamis von einer „wirkenden Ursache“ her zu verstehen, ihre „Ur-Sache“ vielmehr in Bezug auf die Widerständigkeit denkt: „Allein wir stehen jetzt vor einer ganz anderen Sachlage: Wenn wir im Erfahren von Widerständigem durch dieses hindurch wirkende Kräf te erfahren, dann ist der Widerstand nicht als Wirkung einer dahintersteckenden Ursache genommen und erklärt, sondern das Widerstehende selbst ist das Kräf tige, die Kraf t“ (Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 91). Heidegger zufolge steht die archē der dynamis also nicht nur in Relation zu ihrem widerständigen Moment. Vielmehr identifiziert er dieses mit der Kraf t selbst. Es müsse daher mehrere Kraf tbegrif fe geben, weswegen der ontische und der ontologische Kraf tbegrif f voneinander getrennt werden sollen (vgl. Heidegger, Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 107f.).
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diese sowie die ihr immanente Materialität314 nämlich berücksichtigt werden, wird ein Umdenken von demjenigen möglich, was „historische Freiheit“ aus dieser Perspektive bedeuten könnte. Und es wird deswegen möglich, weil die Möglichkeit zur Freiheit aus der differenziellen Kontraktion und der potentiellen Offenheit der dynamis entspringt und gemäß dem Dargelegten eben vor allem auch materialistisch gedacht werden sollte (vgl. Kap. VII). Denn die Materie steckt schließlich in allen diesen Momenten der dynamis, und alle ihre dynamischen Momente müssen als in Relation zueinander stehend betrachtet werden.315 Es ist dieser immanente Zusammenhang zur Materie, der es letztlich ermöglichen sollte, die dynamis als geschichtliche Kategorie zu konkretisieren. Dies wurde durch die materialistische Tradition der Exegese des Begriffs bestätigt. Aufgrund dieses intrinsischen Zusammenhangs zwischen dynamis und Materie erwies sich die Materialität als Teil der hier vorgelegten Axiomatik. Die dynamis wiederum – in ihrer facettenreichen und eigentlich nicht übersetzbaren, aber übertragbaren Bedeutung als Vermögen, Kraft, Möglichkeit und Fähigkeit – hat ihren Kulminationspunkt im Moment des Umschlags von der dynamis zur energeia. Anhand der Analyse des Moments der metabolē zeigte sich letztlich, dass ein wesentliches Merkmal der dynamis in ihrer disruptiven Zeitstruktur besteht, wie entlang der Ausführungen zum Augenblick (dem exaiphnēs) und dem avenir erläutert wurde (vgl. Kap. VII). Demzufolge geht die dynamis eben 314 Vgl. Aristoteles, Metaph. 1032a20–22: „Alles aber, was wird, sei es durch Natur, sei es durch Kunst, hat einen Stof f [hylē]; denn ein jedes Werdende hat das Vermögen sowohl zu sein als auch nicht zu sein, und das ist in einem jeden der Stof f.“ Freilich geht es hier um die Bestimmung des Werdenden, jedoch ist interessant, dass Aristoteles das Vermögen ‚zu sein‘ oder ‚nicht zu sein‘ mit der hylē identifiziert. Owen erläutert diese Stelle folgendermaßen: „The matter of a thing, therefore, is the capacity or potency to become something else. For the matter is a permanent principle, that can be either according to a form or according to the privation of the form“ (Owen, Doctrine of Being, 339). Das dritte Moment, nach der die dynamis sich auch über jenes Übergehen von der Materie zur Form hinaus erhält, wie wir es bei Aristoteles kennengelernt hatten, wird von Owen nicht genannt. Damit verbleibt auch er in jenem bipolaren Verständnis von Form/energeia einerseits und Materie/dynamis andererseits, welches notgedrungen eine Entscheidung für das eine oder eben das andere Moment abverlangt, anstelle jenes der dynamis intrinsische Moment mitzulesen, das sich erst aus der Unmöglichkeit eines vollständigen Aufgehens in die Form erschließen lässt. 315 Wie wichtig das relationale Moment für den gesamten hylē -Begrif f ist, wird von Happ ausführlich beschrieben; vgl. Hyle, 784f f., 798f f. Happ schreibt: „Hyle ist nichts inhaltlich Fixiertes, sondern Glied einer Relation, die […] beliebig of t ‚wiederholt‘ und ‚übertragen‘ werden kann“ (Happ, Hyle, 798). Daraus schließt Happ nun leider nicht auf eine infinitesimale Äquivalenzkette, was vor dem Hintergrund des der dynamis inhärenten Moments der Reduktion wesentlich spannender gewesen wäre, sondern er führt die hylē-Relationen teleologisch auf eine „Ur-Relation ‚Hyle an sich (reine Hyle)‘: ‚reine Form‘“ (Happ, Hyle, 799) zurück. Seine Definition des Begrif fs der hylē bei Aristoteles lautet dementsprechend: „Das aristotelische Hyle-Prinzip ist – dies lässt sich nur noch bildlich sagen – nach allen Stufen of fene ‚reine‘ Möglichkeit, ein Urgrund, in welche die Wirklichkeiten schlummern, und zugleich aktive Quelle aller Bewegungen, die ateleologisch verlaufen und doch stets die teleologische Überformung erstreben“ (Happ, Hyle, 710).
VIII. Kraft und Vermögen der Geschichte(n): Rekurs und Ausblick
nicht bloß linear in die Bewegung über, sondern birgt gleichzeitig das Potential ebendiese Linearität zu entsetzen. Übertragen wir dies nun auf den historischen Bereich, so ließe sich aufweisen – so die ausblickshafte und vielleicht etwas gewagte Schlussthese –, dass sich exakt an diesem Kulminationspunkt der differenziellen Relation zwischen dynamis und energeia sowie zwischen der dynamis und des ihr immanenten widerständigen Moments zeigt, dass die dynamis selbst als Triebfeder der Geschichte gelesen werden kann. So betrachtet müsste sie vielleicht sogar nicht nur als ein Bestandteil der Geschichte, sondern als das betrachtet werden, was Geschichte erst ermöglicht.316 Was aber bedeutet es, die dynamis als Triebfeder der Geschichte zu lesen? Es bedeutet, die ihr eigentümliche Zeitstruktur der metabolē, deren archē und an- archē sie ist und durch die sie die lineare Zeitvorstellung zu durchbrechen vermag, nicht zu ignorieren, sondern sie bei der philosophischen Betrachtung historischer Ereignisse mitzudenken. Denn das Besondere an der Zeitstruktur der metabolē ist ja gerade, dass es in ihr zu jenem Kristallisationspunkt – oder um es noch einmal mit Benjamin zu sagen: zu jenem „Kraftfeld“317 – kommt, welcher wiederum jene Derrida’sche „Kraft zum Bruch“ – jenes disruptive Vermögen – (wenigstens potentiell) enthält. Wie die vorliegenden Studien gezeigt haben, entspringt diese „Kraft zum Bruch“ sowohl aus dem doppelt aporetischen Moment der dynamis, aus ihrem Umschlag in die energeia, mit der sie nie wirklich identisch sein kann, als auch aus der ihr immanenten Widerständigkeit, durch welche sie nicht mehr auf Begriffe der Bewegung reduziert werden kann, sondern die Bewegung übersteigt, wie schon Aristoteles betont hat (vgl. Metaph. 1046a1–2). Dieses Zwischenspiel318 zwischen den relationalen Momenten der dynamis – also vom Vermögen in die Verwirklichung umzuschlagen, in welche sie jedoch nie völlig eingeht und an die sie doch gleichzeitig notwendig gebunden bleibt (sie ist schließlich kein beliebiges Auseinanderdriften in den kontingenten Raum) – ist es, was die dynamis letztlich auszeichnet. Die unaufhebbare Relation zwischen ihren unterschiedlichen Momenten ist die Bedingung der Möglichkeit ihrer Unmöglichkeit und die der Unmöglichkeit ihrer Möglichkeit. Sie ist das, was ihre Aporizität ausmacht, durch welche es erst zu jener differenziellen Kontraktion 316 Dieser Gedanke findet sich ähnlich bei Derrida, der in Kraf t und Bedeutung zeigt, dass die Dif ferenz im ewigen Wettstreit zwischen Dionysos und Apollon, zwischen „Antrieb und Struktur“, nicht einfach Teil der Geschichte ist, sondern diese erst eröf fnet und ermöglicht. Jacques Derrida, Kraf t und Bedeutung, in: ders., Die Schrif t und die Dif ferenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt: Suhrkamp 2003, 9–52, hier: 50. 317 Benjamin, Passagen-Werk, GS V.1, N 7, 8, 587. 318 Heidegger bezeichnet dies als „Wechselspiel“ (vgl. Heidegger, Vom Wesen und Wirklichkeit der Kraf t, 115). Der Begrif f des Zwischenspiels scheint hier besser zu passen, da er explizit auf die Öf fnung des Zwischenraums hinweist.
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kommt, in der die dynamis eine Art Mehrwert, ein Surplus, qua Intension und In-Wendung oder Inversion produziert (vgl. Kap. VI). Übertragen wir dies nun ein weiteres Mal auf den geschichtlichen Raum, dann ist die dynamis, und mit ihr der Übergang zur energeia, nicht im Sinne einer linearen Fortschrittsbewegung und ebenso wenig als eine auf ein Absolutes zustrebende Kette von Aufhebungsmomenten zu verstehen. Aus letzterer bestand das „Telos der historischen Dynamis“319 ja gerade nicht, wie schon Benjamin in seinem Theologisch-Politischen Fragment festgestellt hat. Zwar können ohne Linearität und Chronologie auch keine fortlaufenden geschichtlichen Abläufe gedacht werden, aber die der Geschichte inhärente Kette von Verwirklichungsmomenten birgt in jedem dieser Momente, in denen ein Vermögen plötzlich (exaiphnēs) in die Wirklichkeit umschlagen kann, eine „Kraft zum Bruch“ und somit die Möglichkeit des Widerstandes und letztlich auch die Möglichkeit zur Freiheit. Genau diese Seite der dynamis, ihr Widerständiges, das Moment ihres potentiellen Widerstands gegen jede lineare Chronologie, entfaltete sich sukzessive und wurde so gewissermaßen Anfang und Ziel der vorliegenden Studien zu einer materialistischen Philosophie der Differenz. Das Herauslösen des widerständigen Moments aus der Ideengeschichte könnte von nun an eine kritische Sicht auf die reale Geschichte freimachen. Die dynamis, in ihrer doppelten Aporizität und Differenzialität, nach der sie plötzlich in die energeia umschlagend an diese gebunden bleibt und sich gleichzeitig immer ein stückweit zurückhält, generiert so erst jenen Zwischenraum, aus dem ein Surplus jenseits ökonomischer Kalkulierbarkeit, aus dem ein mehr an historischer Freiheit erwächst. Sie ist die wahre dynamis der Geschichte.
319 „Das Reich Gottes ist nicht das Telos der historischen Dynamis“ (Benjamin, Theologisch-politisches Fragment, 203).
Kraft und Vermögen der Geschichte(n): Rekurs und Ausblick
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Kurztitel des Kapitels oder Beitrages
Danksagung Als ich vor einiger Zeit mit der Arbeit an diesem Buch begann – damals noch als Dissertation –, war die Grundidee, den Begriff der dynamis über eine bestimmte Lesart seiner Tradition zu dekonstruieren und für die kritische Deutung gegenwärtiger Phänomene zu aktualisieren, bereits gedanklich verankert. Um dieser Grundidee inhaltlich und formal Gestalt zu geben, bedurfte es des Anstoßes einer Denkbewegung, welche sowohl die jahrhundertelange Exegese des Begriffs berücksichtigt als auch mithilfe moderner Philosophien zu einer neuen und kritischen Perspektive gelangt. Dies war und ist, in knappen Worten, das Vorhaben der vorliegenden Studien. Gelungen wäre diese Suche nach Fragen und Antworten freilich nicht ohne andauernde Inspiration durch all diejenigen, mit denen ich über die dynamis Gespräche führen konnte. Dank geht in erster Linie an Christoph Menke für die hervorragende Betreuung und das Vertrauen in die Arbeit, die sorgfältige Lektüre und die kritischen und hilfreichen Kommentare, und nicht zuletzt dafür, mir den nötigen Freiraum für die Vollendung des Projekts ermöglicht zu haben. Ebenso danke ich Matthias Lutz-Bachmann, der mir mit Rat zur Seite stand. Wichtige Denkanstöße, Kommentare und Kritik zu einzelnen oder auch mehreren Passagen dieses Buches gaben mir liebe Freundinnen und Freunde und Kolleginnen und Kollegen: Emmanuel Alloa, Christian Janecke, Sami Khatib, Elad Lapidot und Ronald Mendoza-de Jesús – herzlichstes Dankeschön! Ein herzlicher Dank geht auch an Ilit Ferber, Adam Lipszyc, Aïcha Messina, María del Rosario Acosta López und Andrea Potestà, die es mir über Jahre hinweg ermöglichten, den Begriff der dynamis in seinen unterschiedlichsten Facetten im Rahmen unserer gemeinsam organisierten Workshop-Reihe Violence in Literature and Philosophy zu erproben. Weitere erhellende Impulse erhielt ich durch die fruchtbaren Diskussionen im Kolloquium für Praktische Philosophie von Christoph Menke. Wegweisend für den Fortgang meiner Studien war zudem die Teilnahme am Kolloquium des 2017 verstorbenen Werner Hamacher – bei letzterem hätte ich mich gerne persönlich für wesentliche theoretische Einsichten bedankt. Ferner trugen die Studentinnen und Studenten aus meinen Seminaren am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität durch
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ihre aufmerksame Teilnahme und kritischen Rückfragen dazu bei, einige Gedanken zu schärfen und die Dinge einmal aus anderer Perspektive zu betrachten. Alles dreht sich bezeichnenderweise um Begriff und Praxis von Aktualität in der von Stefano Marchesoni, Sebastian Truskolaski, Tom Vandeputte und mir gestalteten Workshop-Reihe zu Walter Benjamins Philosophie – ihnen verdanke ich zahlreiche wichtige Anregungen. Es kommt selten vor, dass ausgerechnet eine der kritischsten Leserinnen gleichzeitig eine der besten Freundinnen ist – dafür bin ich Caroline Sauter zu ganz besonderem Dank verpflichtet. Für Freundschaft, moralische Unterstützung, rege Diskussionen und Ideen danke ich außerdem Benjamin Brewer, Matthias Dreyer, Mauricio González Rozo, Federica Gregoratto, Sandra Groll, Hanna Haas, Daehun Jung, Mareike Kajewski, Joachim Kreiter, Haeng-Nam Lee, Juliane Rebentisch, Martin Saar, Arvi Särkäla, Orr Scharf, Tatjana Sheplyakova, Rosa Sierra, Irini Siouti, Thomas Telios, Ellen Wagner, Christoph Wiesner, Julia Zissu, Hans Zitko und vor allem meiner Familie. Ohne die vielen Gespräche innerhalb und außerhalb der Akademie wäre dieses Buch nicht das geworden, was es ist. Danken möchte ich auch Eltje Böttcher, die dieses Buch mit Geduld und Sorgfalt korrigiert hat sowie Uwe Adam, der mit professionellem und aufmerksamem Blick dem Buch erst die nötige Form verliehen hat. Die großzügige Förderung internationaler Konferenzreisen und Veranstaltungen durch die Vereinigung der Freunde und Förderer der Goethe-Universität, das Promotionskolleg des Fachbereichs 08, die Institute für Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie das „Philosophische Kolloquium: Kritische Theorie“/ Dr. Thomas Regehly haben mir zu wichtigen Begegnungen sowie wertvollen Denkanstößen und Eindrücken verholfen. Gedankt sei auch Jürgen Manemann, Anna Maria Hauk und Ana Honnacker am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover für die vielen inspirierenden Impulse und die schöne Zeit am Institut. Cornelia Zumbusch, Frank Fehrenbach, Matthias Glaubrecht, Caroline Herfert am DFG-Kolleg „Imaginarien der Kraft“ der Universität Hamburg danke ich für den lebendigen interdisziplinären und vielseitigen Diskurs am Kolleg. Zum Schluss möchte ich noch allen Ko-Fellows für den anregenden Austausch während meiner Aufenthalte vor Ort danken. Sie alle trugen dazu bei, die Beschäftigung mit der dynamis auch über die Abfassung des Manuskripts hinaus lebendig zu halten. Dieses Buch ist den Frauen in meiner Familie gewidmet, insbesondere meiner Tochter Rania Penelope, die mit der ihr eigenen wundervollen und staunenden Aufmerksamkeit den Geschichten über die dynamis gelauscht hat.
Frankfurt am Main, Januar 2017/Juli 2021
Philosophie Die konvivialistische Internationale
Das zweite konvivialistische Manifest Für eine post-neoliberale Welt 2020, 144 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung 10,00 € (DE), 978-3-8376-5365-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5365-0 ISBN 978-3-7328-5365-6
Pierfrancesco Basile
Antike Philosophie September 2021, 180 S., kart., Dispersionsbindung 20,00 € (DE), 978-3-8376-5946-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5946-1
Karl Hepfer
Verschwörungstheorien Eine philosophische Kritik der Unvernunft Juli 2021, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 5 SW-Abbildungen 25,00 € (DE), 978-3-8376-5931-3 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5931-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Philosophie Ashley J. Bohrer
Marxism and Intersectionality Race, Gender, Class and Sexuality under Contemporary Capitalism 2019, 280 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4160-8 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4160-2
Jürgen Manemann
Demokratie und Emotion Was ein demokratisches Wir von einem identitären Wir unterscheidet 2019, 126 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-4979-6 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4979-0
Anke Haarmann
Artistic Research Eine epistemologische Ästhetik 2019, 318 S., kart., Dispersionsbindung 34,99 € (DE), 978-3-8376-4636-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4636-2 EPUB: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4636-8
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