263 74 5MB
German Pages XVI, 293 [304] Year 2020
Sozialstrukturanalyse
Sven Broschinski
Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa Betriebliche und arbeitsmarktpolitische Anpassungen während der Eurokrise
Sozialstrukturanalyse Reihe herausgegeben von Rasmus Hoffmann, Institut für Soziologie und Demographie, Universität Rostock, Rostock, Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland Andre Knabe, Insitut für Soziologie und Demographie, Universität Rostock, Rostock, Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland Christian Schmitt, Amt für Statistik und Wahlen, Stadt Leipzig, Leipzig, Deutschland
In der Reihe Sozialstrukturanalyse erscheinen Beiträge, die die Forschung zu sozialer Ungleichheit reflektieren oder neue Sichtweisen aufzeigen. Dazu zählen insbesondere qualitative sowie quantifizierende Analysen zur Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen auf regionaler, nationaler und globaler Ebene sowie zur Wahrnehmung und Deutung von Ungleichheiten. Neben klassischen Dimensionen sozialer Ungleichheit werden dabei auch neuere Dimensionen wie Kultur, sozialräumliche Positionierung und die Einbindung in soziale Beziehungsnetzwerke betrachtet. Die Reihe wurde von 2006 bis 2018 von Peter A. Berger (†) herausgegeben und 1994 von Stefan Hradil gegründet.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12619
Sven Broschinski
Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa Betriebliche und arbeitsmarktpolitische Anpassungen während der Eurokrise
Sven Broschinski Oldenburg, Deutschland Dissertation ander Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 2020.
ISSN 2662-2947 ISSN 2662-2955 (electronic) Sozialstrukturanalyse ISBN 978-3-658-31893-2 ISBN 978-3-658-31894-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich insbesondere Prof. Dr. Martin Heidenreich ganz herzlich dafür danken, dass er mein Interesse an der europäischen Ungleichheitsforschung geweckt hat sowie für die Möglichkeit zur Promotion und seiner Bereitschaft, diese Arbeit zu betreuen und zu begutachten. Mein Dank gilt ebenfalls Prof. Dr. Susanne Pernicka, die sich bereit erklärt hat, das Zweitgutachten für diese Arbeit zu übernehmen. Weiterhin möchte ich meinen ehemaligen Kolleginnen Dr. Jenny Preunkert und Matthias Pohlig für die vielen konstruktiven Gespräche danken und dass sie mir stets mit Rat und Tat beigestanden haben. Schließlich sei hier auch meinem langjährigen Studienfreund Christopher Hanraets für die unzähligen Stunden des Korrekturlesens gedankt. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau, Maria Fichtner, für ihre Geduld und Unterstützung insbesondere während der Endphase dieser Arbeit.
V
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Konzeptionelles Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse aus arbeitsmarkttheoretischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Lohnbildungsprozesse in perfekten Wettbewerbsmärkten: Neoklassische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Arbeitsmärkte ohne Ungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Qualifikatorische Produktivitätsunterschiede . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Unvollständige Information und asymmetrische Informationsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Lohnbildungsprozesse in hierarchischen Abhängigkeitsverhältnissen: Prinzipal-Agent-Ansätze . . . . . . . . . . 2.2.1 Kontrakttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Effizienzlohntheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Insider-Outsider-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Lohnbildungsprozesse in Teilarbeitsmärkten: Segmentationsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Duale Arbeitsmarkttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Dreigeteilter Segmentationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Stamm- und Randbelegschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 4 9 13 17 18 18 20 22 25 26 28 32 35 37 39 41 44
VII
VIII
Inhaltsverzeichnis
3 Betriebliche Anpassungsstrategien in unterschiedlichen institutionellen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Formen der betrieblichen Anpassung und ihre Auswirkungen auf die Lohnverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Dimension der Flexibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Eine Typologie betrieblicher Anpassungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Komplementäre und substitutive Strategien . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Industrielle Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Mindestlöhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Kündigungsschutzgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Lohnersatzleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Aktive Arbeitsmarktpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Steuern und Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Staat als Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zusammenfassung und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47 48 49 51 56 58 60 66 68 71 73 74 76 78
4 Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen Arbeitsmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Ursachen und Verlauf der Eurokrise(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Die Banken- und Finanzkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Die Wirtschafts- und Wachstumskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Staatsschuldenkrise und fiskalische Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die EU-Krisenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Arbeitsmarktreformen in den Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . 4.3 Zusammenfassung und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92 97 98 101 113
5 Daten, Variablen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Der Datensatz: EU-SILC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Verwendete Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Die abhängige Variable . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Die unabhängigen Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 RIF-Regressionen und RIF-Dekomposition . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Lineare Paneldatenregressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117 117 118 118 120 127 127 131
83 84 86 87
Inhaltsverzeichnis
6 Dynamiken von Lohnungleichheiten aus gesamteuropäischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung . . . . . . . . 6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur . . . . 6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Aggregierte Dekomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Detaillierte Dekomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
135 136 147 163 165 170 178
7 Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen der Lohnungleichheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Niveau und Verteilung der Löhne in den Mitgliedsstaaten . . . . . . 7.2 Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends . . . . . 7.3.1 Aggregierte Dekomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Detaillierte Dekomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181 181 191 200 201 203 217
8 Krisen, Schocks und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten . . . . 8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Institutioneller Wandel und makroökonomische Schocks . . . . . . . 8.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221 222 237 252 262
9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
Abkürzungsverzeichnis
AMECO BIP EU Euro-19 EU-SILC EWWU EZB FFL ICTWSS IWF OECD QR UQR
Annual Macro-Economic Database Bruttoinlandsprodukt Europäische Union Eurozone European Survey on Income and Living Conditions Europäische Wirtschafts- und Währungsunion Europäische Zentralbank Fortin, Firpo und Lemieux Database on Institutional Characteristics of Trade Unions, Wage Setting, State Intervention and Social Pacts Internationaler Währungsfonds Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Quantilregression Unkonditionale Quantilregression
Mitgliedstaaten und ihre Abkürzungen AT BE BG CY CZ DE DK EE
Österreich Belgien Bulgarien Zypern Tschechische Republik Deutschland Dänemark Estland
XI
XII
EL ES FI FR HR HU IE IT LT LU LV MT NL PL PT RO SE SI SK UK
Abkürzungsverzeichnis
Griechenland Spanien Finnland Frankreich Kroatien Ungarn Irland Italien Litauen Luxemburg Lettland Malta Niederlande Polen Portugal Rumänien Schweden Slowenien Slowakei Vereinigtes Königreich
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1.1 Abbildung 4.1 Abbildung 4.2 Abbildung 4.3 Abbildung 4.4 Abbildung 4.5 Abbildung 4.6 Abbildung 4.7 Abbildung 4.8 Abbildung 4.9 Abbildung 4.10 Abbildung 4.11 Abbildung 4.12 Abbildung 4.13 Abbildung 4.14 Abbildung 4.15
Konzeptionelles Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preisentwicklung ausgewählter Länder der Eurozone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kumulierte Leistungsbilanzen ausgewählter Länder, 1999–2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung des Wirtschaftswachstums in den Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der Arbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsumausgaben privater Haushalte . . . . . . . . . . . . . . . . Fiskalische Expansion während der Wirtschaftskrise, 2007–2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Staatsverschuldung in Prozent des BIP, 2006–2016 . . . Fiskalische Konsolidierung während der Jahre 2009–2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsmarktreformen in der EU und ihren Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tarifabdeckung und Grad der Koordination von Tarifverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reale Mindestlöhne und Kaitz-Index . . . . . . . . . . . . . . . Kündigungsschutzgesetze für regulär und befristet Beschäftigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höhe und Dauer von Lohnersatzleistungen . . . . . . . . . . Steuer- und Abgabenkeil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 84 85 87 88 89 90 91 93 96 103 105 106 108 109 111
XIII
XIV
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 4.16 Abbildung 6.1 Abbildung 6.2 Abbildung 6.3 Abbildung 6.4 Abbildung 6.5 Abbildung 6.6 Abbildung 6.7 Abbildung 6.8 Abbildung 7.1 Abbildung 7.2 Abbildung 7.3 Abbildung 7.4 Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung
7.5 7.6 7.7 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik pro Prozent Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Häufigkeiten verschiedener Lohngruppen 2006 und 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamteuropäische Lohnverteilung der EU-27, 2006 und 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung der realen Bruttostundenlöhne . . . . . . . . . . Entwicklung der Dezilverhältnisse und des Gini-Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen- und innerstaatliche Anteile am Theil-Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekomposition der Veränderungen in der Lohnverteilung von 2006–2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detaillierte Dekomposition der Veränderungen der Lohnverteilung für die EU-27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detaillierte Dekomposition der Veränderungen der Lohnverteilung für die Euro-19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Box-Plots über die realen Bruttostundenlöhne von 2006 und 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung länderspezifischer Ungleichheitsmaße, 2006–2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung unterschiedlicher Lohndezile (Index: 2006 = 100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse unkonditionaler Quantilregressionen für die Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dekomposition der 90-10-Differenz, 2006–2016 . . . . . . Dekomposition der 90-50-Differenz, 2006–2016 . . . . . . Dekomposition der 50-10-Differenz, 2006–2016 . . . . . . Entwicklung und Streuung der Ungleichheitsmaße . . . . Interaktionseffekte für die 90-10-Differenz . . . . . . . . . . Interaktionseffekte für die 90-50-Differenz . . . . . . . . . . Interaktionseffekte für die 50-10-Differenz . . . . . . . . . . Entwicklung der länderspezifischen Schocks . . . . . . . . .
112 137 139 141 143 146 167 171 172 182 187 189 193 202 213 214 224 227 228 229 238
Tabellenverzeichnis
Tabelle 2.1 Tabelle 3.1 Tabelle 3.2 Tabelle 3.3 Tabelle 4.1 Tabelle 4.2 Tabelle 4.3 Tabelle 6.1 Tabelle 6.2 Tabelle 6.3 Tabelle 6.4 Tabelle 6.5 Tabelle 6.6 Tabelle 7.1 Tabelle 7.2
Arbeitsmarktsegmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Typologie betrieblicher Anpassungsmaßnahmen . . . . . . . . . . Betriebliche Anpassungsformen und deren Auswirkungen auf die Lohnverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen . . . . . . . . . . . Forderungen seitens der Troika gegenüber den Programmländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empfehlungen und Forderungen seitens der EU, 2011– 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsmarktreformen nach Feldern und der Zu- oder Abnahme der Generosität bzw. Regulierung . . . . . . . . . . . . . Unkonditionale Quantilregression auf den Bruttostundenlohn, EU-27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ländereffekte der unkonditionalen Quantilregression, EU-27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unkonditionale Quantilregression auf den Bruttostundenlohn, Euro-19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relative Häufigkeiten bestimmter Merkmale der europäischen Arbeitnehmerschaft (in Prozent) . . . . . . . . . . . Aggregierte Dekomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detaillierte Dekomposition von Lohnungleichheiten (Neugewichtung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lohnungleichheiten innerhalb der Mitgliedsstaaten, 2006 und 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Länderspezifische Trends in der Lohnungleichheit . . . . . . . .
41 55 58 80 94 100 104 148 157 161 164 169 176 185 191
XV
XVI
Tabelle 7.3 Tabelle 7.4 Tabelle 8.1 Tabelle 8.2 Tabelle 8.3 Tabelle 8.4 Tabelle 8.5 Tabelle 8.6 Tabelle 8.7 Tabelle 8.8
Tabellenverzeichnis
Veränderungen in der Häufigkeit bestimmter Merkmale in den Mitgliedsstaaten, 2006–2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsweise des Lohnstruktur- und Kompositionseffekts in den Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . Unbeobachtete Schocks und zeitkonstante Institutionen auf die Lohnungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitkonstante Institutionenvariablen als Abweichung vom EU-Mittelwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unbeobachtete Schocks und zeitkonstante Institutionen: Alternative Spezifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . Korrelation zwischen den drei länderspezifischen Schocks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Länderspezifische Schocks und Lohnungleichheiten . . . . . . Länderspezifische Schocks und zeitkonstante Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lineare Panelregression: zeitvariante Institutionenvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen der Institutionenvariablen zwischen 2006 und 2016 in Prozentpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205 215 225 231 236 240 241 243 253 257
1
Einleitung
In den vergangenen Jahrzehnten ließ sich innerhalb der Europäischen Union (EU) eine rasche und stetige Konvergenz der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse beobachten, was ihr den Beinamen der „Konvergenzmaschine“ (Goedemé und Collado 2016) eingebracht hat, die primär durch die Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes und der Errichtung einer gemeinsamen Währung erreicht wurde. Beides hat zu einem beispiellosen Wirtschaftswachstum und Anstieg des Pro-KopfEinkommens innerhalb der EU beigetragen (Heidenreich und Wunder 2008). Während die Vollendung des gemeinsamen Binnenmarkts und die Errichtung der Währungsunion die wirtschaftliche Integration der europäischen Mitgliedsstaaten deutlich vorangetrieben haben, waren die europäischen Arbeitsmärkte hingegen zum größten Teil nationalstaatlich reguliert – dies gilt in besonderem Maße für die Lohnpolitik (Schulten 2002, S. 185f.). Die Folgen dieser Inkongruenz zwischen den europäischen Märkten und einer gemeinsamen Währung auf der einen und der nationalstaatlichen Regulierung von Arbeitsmärkten sowie den Lohnund Tarifverhandlungen auf der anderen Seite, waren unterschiedliche Produktivitätsentwicklungen zwischen den Mitgliedsstaaten und damit einhergehende makroökonomische Ungleichgewichte (Pernicka et al. 2019a, S. 126). So sind in einigen nord- und westeuropäischen Ländern die nominalen Lohnstückkosten weit unterhalb des Durchschnitts der Eurozone geblieben, mit der Folge, dass der Druck auf die anderen Mitgliedsstaaten, international wettbewerbsfähig zu bleiben, noch weiter erhöht wurde. In den südeuropäischen Staaten plus Irland sind die Lohnstückkosten hingegen seit Euro-Einführung weit über den Durchschnitt hinaus gestiegen. Die Folge war ein Auseinanderdriften der Lohnstückkosten und damit auch der Wettbewerbsfähigkeit entlang der Nord-Süd-Achse. Als zentrale Ursache dieser makroökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone wurden in erster Linie die institutionellen Unterschiede in den © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_1
1
2
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Einleitung
Lohnfindungssystemen identifiziert (vgl. Hall 2014, 2018; Höpner und Lutter 2018; Hancké 2013): Während in den nord- und westeuropäischen Ländern der Eurozone eine angebotsorientierte Lohnpolitik verfolgt wurde, die durch Lohnmoderation – insbesondere in den exportorientierten Sektoren wie der Metallindustrie – die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten bzw. zu steigern versuchte, kam es in den südeuropäischen Staaten zu starken nominellen Lohnsteigerungen aufgrund des nachfrage- und schuldengetriebenen Wachstums (Pernicka et al. 2019a, S. 125). Letzteres lässt sich auf die geringen Kosten für ausländisches Kapital und die hohen Kapitalzuflüsse aus Nordeuropa zurückführen, welche ein nachfrageorientiertes Wachstum basierend auf privater und staatlicher Verschuldung förderten, jedoch nicht zu einer Erhöhung der Produktivität führten (Hall 2014). Während diese makroökonomischen Ungleichgewichte zu Beginn der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) noch relativ gering waren, wuchsen sie über die Jahre immer weiter an. Mit dem Beginn der Finanz- und Bankenkrise in Europa sowie der darauffolgenden Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise – die im Folgenden unter dem Begriff Eurokrise subsumiert werden – wurden die befürchteten Effekte fehlender Ausgleichsmechanismen gegenüber makroökonomischen Ungleichgewichten auf dramatische Weise offenbart. Dadurch, dass flexible Wechselkurse als Anpassungsmechanismus zumindest für die 19 Euro-Länder nicht mehr zur Verfügung standen, wurde der Arbeitsmarkt zum zentralen Puffer gegenüber makroökonomischen Schocks (Heidenreich 2016b, S. 12). Damit erhielt die interne Abwertung, d. h., eine Anpassung des Beschäftigungsniveaus und der Löhne, zunehmend an Bedeutung. Dies spiegelte sich besonders dramatisch in der stark ansteigenden Arbeitslosigkeit wider, insbesondere für Jugendliche (Boeri und Jimeno 2016; Heidenreich 2015). Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise reagierten die politischen Entscheidungsträger sowohl mit geld- als auch mit fiskalpolitischen Maßnahmen auf die absinkende Wirtschaftsleistung und die ansteigende Arbeitslosigkeit. Zwischen Bankenrettungen und Konjunkturprogrammen stieg die Staatsverschuldung in vielen Mitgliedsstaaten – allen voran in den südeuropäischen Staaten plus Irland – so stark an, dass diese aufgrund ihrer großen Leistungsbilanzdefizite und steigender Zinsen nicht mehr in der Lage waren, ihre Schulden zu refinanzieren. Um drohende Staatsinsolvenzen abzuwenden, und damit auch den möglichen Zusammenbruch der gesamten Währungsunion, wurden auf europäischer Ebene Hilfsprogramme entwickelt, die jedoch an strenge haushalts- und wirtschaftspolitische Vorgaben gekoppelt waren. Im Mittelpunkt standen dabei die Sanierung des Staatshaushalts, die Reduzierung der Lohnkosten
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Einleitung
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sowie eine Reformierung der Tarifverhandlungssysteme und Lohnsetzungsmechanismen (van Gyes und Schulten 2015; Schulten und Müller 2015; Glassner und Keune 2012). Im Zuge des europäischen Krisenmanagements hat sich des Weiteren eine neue Form der europaweiten Wirtschaftskoordinierung herausgebildet (European Economic Governance), die als Reaktion auf die Krise eingeführt wurde und auf eine verbindlichere, gesamteuropäische Koordinierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik abzielt und diese überwacht (Degryse 2012; van Gyes und Schulten 2015). Ein zentraler Indikator sind hierbei die bereits oben erwähnten nominalen Lohnstückkosten, die zum elementaren Bestandteil der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung der EU und dessen Indikatoren zur Früherkennung und Behebung makroökonomischer Ungleichgewichte wurden. Aus Perspektive der EU wird die Eurokrise somit als Krise der Wettbewerbsfähigkeit interpretiert (Juncker et al. 2015), weshalb im Kontext der EU-Krisenpolitik die unterschiedlichen Lohnentwicklungen nicht nur als wesentliche Ursache der makroökonomischen Ungleichgewichte gelten, sondern vor allem auch als zentrale Stellschraube, die es zur Wiederherstellung der privatwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit sowie zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte anzupassen gilt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellt sich nun die Frage, wie sich die Krise im Allgemeinen und das Krisenmanagement im Speziellen auf die Lohnentwicklungen in der EU und ihren Mitgliedsstaaten ausgewirkt hat und welche Folgen dies für die Lohnungleichheiten in Europa hat. Bisher sind es vor allem zwei Stränge der Literatur, die sich mit der Entwicklung der Löhne im Kontext der Eurokrise beschäftigt haben. Zum einen sind dies Studien aus dem Bereich der Politischen Ökonomie, die untersucht haben, wie die unterschiedlichen Lohnregime der einzelnen Mitgliedsländer unter den Restriktionen einer gemeinsamen Währung zu ebenjenen makroökonomischen Ungleichgewichten und damit zur Entstehung der Krise beigetragen haben (Höpner und Lutter 2018; Hall 2014, 2018; Nölke 2016). Aus der Perspektive der Industriellen Beziehungen wurden hingegen die Folgen der Krise und insbesondere der EU-Krisenpolitik auf die nationalen lohn- und tarifpolitischen Institutionen untersucht (Schulten und Müller 2015; van Gyes und Schulten 2015; Glassner und Keune 2012; Pernicka 2015; Pernicka et al. 2019b; Marginson und Welz 2015; Erne 2015). Beide Stränge eint, dass in erster Linie aggregierte volkswirtschaftliche Maßzahlen wie die durchschnittlichen Arbeitnehmerentgelte oder die nominalen Lohnstückkosten im Fokus stehen. Zwar sind diese Indikatoren gerade aus Sicht von politischen Entscheidungsträgern einfach und übersichtlich, sie geben jedoch nur indirekt Auskunft über tatsächliche Lohnentwicklungen und lassen keinerlei Rückschlüsse auf deren Verteilung innerhalb
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Einleitung
der Erwerbsbevölkerung zu. Über die konkreten Auswirkungen der Eurokrise und des EU-Krisenmanagements auf die Lohnungleichheiten innerhalb der EU, den Mitgliedsstaaten oder zwischen unterschiedlichen sozio-ökonomischen Gruppen weiß man bisher allerdings noch wenig. Im Folgenden soll daher der bisherige Forschungsstand gesichtet und besprochen werden, um zu verdeutlichen, wie sich die hier vorliegende Arbeit von bisherigen Studien abgrenzt und den bestehenden Forschungsstand erweitern will.
1.1
Forschungsstand
Bislang ist das akademische Interesse an den Folgen der Krise auf die EUweite Lohnverteilung relativ begrenzt und das Thema somit untererforscht, was sich auch in der aktuellen Studienlage widerspiegelt. Im Folgenden sollen jene Studien gesichtet und diskutiert werden, die sich (zumindest teilweise) den Dynamiken von Lohnungleichheiten während der Krise aus einer EU-weiten oder gesamteuropäischen Perspektive widmen. Eine der ersten Studien, die Lohnverteilungen aus einer EU-weiten Perspektive untersucht hat und damit über einfache Ländervergleiche hinausgeht, stammt von Brandolini et al. (2010). Anhand europäischer Mikrodaten (EU-SILC) untersuchen sie die Verteilung der monatlichen Bruttoverdienste (in Vollzeitäquivalenzen) für die EU-25 sowie für die Eurozone. Sie zeigen zum einen, dass es eine klare Rangfolge zwischen den Mitgliedsländern gibt, gemessen an ihrem Lohnniveau, in der die osteuropäischen Mitgliedsstaaten am unteren Ende, die südeuropäischen Staaten in der Mitte und die west- und nordeuropäischen Mitgliedsstaaten am oberen Ende zu finden sind – mit Luxemburg an der Spitze. Zum anderen beobachten sie, dass die Lohnungleichheit in der EU-25 deutlich größer ausfällt als in der Eurozone, bedingt durch die ärmeren osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Die Ungleichheiten in der EU-25 sind daher primär auf zwischenstaatliche Unterschiede im Lohnniveau zurückzuführen und weniger auf die unterschiedliche Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft in den einzelnen Ländern, wie Dekompositionsanalysen zeigen. Da die Untersuchung sich nur auf das Jahr 2006 beschränkt, wird hier weder der Einfluss der Finanz-, Wirtschaftsund Staatsschuldenkrise berücksichtigt, noch werden Entwicklungstrends von Lohnungleichheiten aufgezeigt. Deutlich anschlussfähiger ist dahingehend die Studie von Fernández-Macías und Vacas-Soriano (2015), die für die EU-25 die Lohnungleichheiten aus einer EU-weiten Perspektive untersuchen und dabei sowohl Veränderungen in der Lohnverteilung zwischen 2004 und 2011 untersuchen als auch den Einfluss der
1.1 Forschungsstand
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Finanz- und Wirtschaftskrise mitberücksichtigen. Sie zeigen, dass es bis zum Ausbruch der Krise (2004–2008) einen Trend hin zur Konvergenz der Bruttostundenlöhne gegeben hat, den sie auf eine Angleichung des Lohnniveaus zwischen den Ländern zurückführen, bedingt durch einen starken wirtschaftlichen Aufholprozess seitens der osteuropäischen Mitgliedsländer sowie durch eine Stagnation oder leichten Rückgang der Löhne in den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der EU – Deutschland und Großbritannien. Seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 beobachten sie hingegen eine Unterbrechung und ab 2011 eine Umkehr des Konvergenzprozesses, hin zu einem erneuten Anstieg der EU-weiten Lohnungleichheiten. Allerdings sollte hier angemerkt werden, dass dieser erneute Anstieg lediglich anhand des Gini-Koeffizienten zu beobachten ist und sich nicht in den unterschiedlichen Perzentilverhältnissen widerspiegelt, die eher auf einen Stillstand des Konvergenzprozesses denn auf einen erneuten Anstieg hindeuten. Den erneuten Anstieg der EU-weiten Lohnungleichheiten am Ende des Untersuchungszeitraumes führen sie auf eine krisenbedingte Zunahme innerstaatlicher Lohnungleichheiten zurück. Hinsichtlich nationalspezifischer Entwicklungstrends zeigen sie, dass sich die Lohnungleichheiten in den meisten Mitgliedsstaaten prozyklisch verhalten haben, d. h., sie stiegen mit dem Wirtschaftswachstum bis 2008 an und sanken dann im Anschluss wieder als das Wirtschaftswachstum stagnierte oder einbrach. Den Rückgang in der Lohnungleichheit führen die Autoren zum Teil darauf zurück, dass geringentlohnte Beschäftigtengruppen während der Krise überproportional freigesetzt wurden, was zu einer Kompression der Lohnverteilung führte. Während die Lohnungleichheit in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten über den gesamten Beobachtungszeitraum gesunken sind, sind sie in einigen wenigen nord-westeuropäischen Mitgliedsstaaten (wenn auch im unterschiedlichen Ausmaß) gestiegen. Dreger et al. (2015) beobachten hingegen für einen ähnlichen Zeitraum (2006–2011) einen Anstieg der Lohnungleichheit in rund zwei Drittel der Mitgliedsländer. Allerdings fällt dieser Zuwachs in den meisten Ländern recht gering aus, insbesondere dann, wenn Bruttostundenlöhne statt Monats- oder Jahresverdienste herangezogen werden. Sie zeigen weiterhin, dass dort, wo die Lohnungleichheit während der Krise zunimmt, dies im unteren Teil der Verteilung zugenommen hat und nicht primär im oberen Teil, wie dies in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten war (vgl. OECD 2011). In jenen Ländern ist der Anstieg der Lohnungleichheit also vor allem auf einen größeren Anteil von Niedriglohnarbeit zurückzuführen. Dies bestätigt auch Vacas-Soriano (2018), der die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf den Anteil von Geringverdienern zwischen 2005 und 2013 für die EU-25 untersucht hat. Er kommt
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Einleitung
zu dem Ergebnis, dass in der EU als Ganzes sowie in zwei Drittel der EUMitgliedsstaaten der Anteil an Geringverdienern angestiegen ist. Dies ist in erster Linie durch einen Rückgang der Reallöhne bedingt, was insbesondere in der europäischen Peripherie sowie am unteren Ende der Lohnverteilung stattgefunden hat. Der Reallohnrückgang wäre zum Teil deutlich stärker ausgefallen, wenn dieser nicht durch Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft teilweise überlagert worden wäre, beispielsweise durch den Rückgang des Beschäftigtenanteils von Geringqualifizierten oder Jugendlichen, die tendenziell eher niedrigere Löhne haben und während der Krise vermehrt von Entlassungen betroffen waren. Diese Kompositionseffekte verhinderten somit eine noch größere Ausweitung des Niedriglohnsektors. Auch Dreger et al. (2015) kommen anhand von Dekompositionsanalysen zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Veränderungen in den Lohnungleichheiten nicht etwa auf Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur zurückzuführen sind, sondern primär auf Veränderungen in der Lohnstruktur, d. h. der Reallöhne bestimmter Beschäftigtengruppen. Ebenso wie bei Vacas-Soriano (2018) wird diese Zerlegung in Kompositionsund Lohnstruktureffekte jedoch nicht weiter vertieft, sodass der Erklärungsbeitrag unterschiedlicher Beschäftigtengruppen an diesen Veränderungen unterbelichtet bleibt. Eine solch detaillierte Dekomposition unternehmen hingegen Pereira und Galego (2019) sowie Castellano et al. (2018, 2017). Pereira und Galego untersuchen dabei die Auswirkungen der Krise auf die Dynamiken von Lohnungleichheiten vollzeitbeschäftigter Männer in acht Mitgliedsländern. Sie zeigen, dass die veränderte Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft nach dem Bildungsniveau aber auch nach Berufsgruppen eine zentrale Rolle für den Anstieg der Lohnungleichheiten in einigen der untersuchten Länder gespielt hat. Bildung und Beruf gelten somit als die wichtigsten Treiber steigender Lohnungleichheit – zumindest in Italien und Portugal – und entsprechend damit weitestgehend der These des skilled-biased technological change (Acemoglu und Autor 2011; Card und DiNardo 2002), dass eine steigende Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften, bedingt durch den technologischen Fortschritt, zu mehr Lohnungleichheit führt. In Ungarn und Polen scheint wiederum der starke Anstieg von Mindestlöhnen dazu zu führen, dass Lohnungleichheiten abgenommen haben, während der sinkende Mindestlohn in Griechenland zu einer Zunahme der Lohnungleichheit beigetragen hat. In Großbritannien spielt hingegen ein höherer Anteil von Migranten eine Rolle für die Zunahme der Lohnungleichheit. Was jedoch unerwähnt bleibt, ist, dass der Lohnstruktureffekt einen deutlich größeren Erklärungsanteil an den Veränderungen der Lohnungleichheiten hat als die von ihnen beschriebenen Kompositionseffekte. Das heißt, Veränderungen in den
1.1 Forschungsstand
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Reallöhnen bestimmter Beschäftigtengruppen spielen eine deutlich größere Rolle als Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft. Lediglich für Deutschland und Frankreich, so zeigen Castellano et al. (2018), spielen Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur eine größere Rolle für die Veränderungen in der Lohnverteilung, was sie auf die Polarisierung der Berufsstruktur zurückführen, d. h., dass Arbeitsplätze mit mittleren Qualifikationen zurückgehen und was mit einer Zunahme der unteren und oberen (wie in Deutschland) oder lediglich der Berufe an der Spitze (wie in Frankreich) einhergeht. In den bisher genannten Studien spielen Arbeitsmarktinstitutionen bzw. deren Wandel im Zuge der Krise und wie diese sich auf die Entwicklungen der Lohnungleichheiten auswirken, keine zentrale Rolle. Dabei gibt es überzeugende Hinweise darauf, dass es im Zuge der Krise und der Krisenpolitik zu entscheidenden arbeitsmarktpolitischen Anpassungsprozessen kam (Aumayr-Pintar et al. 2014; Schulten und Müller 2015). Dreger et al. (2015) gehören zu den wenigen, die den Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Dynamiken von Lohnungleichheiten während der Krisenperiode anhand von Panelregressionen tatsächlich untersuchen und damit Länderunterschiede erklären. Zum einen zeigen sie, dass sich die nationalen Lohnungleichheiten tendenziell prozyklisch mit dem Wirtschaftswachstum verhalten, d. h., dass ein Rückgang des Bruttoinlandproduktes zu geringeren Lohnungleichheiten führt. Hinsichtlich der Arbeitsmarktinstitutionen erweisen sich insbesondere der gewerkschaftliche Organisationsgrad, die Tarifabdeckungsrate sowie Mindestlöhne als ungleichheitsreduzierend – sofern Bruttostundenlöhne herangezogen werden. Das heißt, dass die tendenzielle Abnahme des Organisationsgrades und der Tarifabdeckung, die in vielen Mitgliedsstaaten zu beobachten ist, zu steigenden Lohnungleichheiten beigetragen haben – zumindest in der oberen Hälfte der Lohnverteilung – während die steigenden Mindestlöhne zu einem Rückgang der Ungleichheit am unteren Ende der Lohnverteilung beigetragen haben. Um den Einfluss der Krise präziser analysieren zu können, spalten sie ihre Stichprobe in zwei Teilstichproben, d. h. einmal vor der Krise (2004–2007) und einmal nach der Krise (2008–2011). Aufgrund der kurzen Zeiträume sind die Ergebnisse jedoch mit Vorsicht zu interpretieren. So zeigen die Panelregressionen mit fixen Ländereffekten, die die Veränderungen innerhalb der Mitgliedsstaaten untersuchen, keine signifikanten Ergebnisse. Lediglich die Modelle mit zufälligen Ländereffekten, die zwischenstaatliche Unterschiede berücksichtigen, zeigen, dass alle signifikanten Institutioneneffekte (Gewerkschaftlicher Organisationsgrad, staatliche Eingriffe in die Lohnverhandlungen sowie Koordinations- und Zentralisierungsgrad der Lohnverhandlungen) mit einer geringeren Lohnungleichheit einhergehen – jedoch lediglich für die Zeit vor der Krise (2004–2007). Als
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Einleitung
Möglichkeit zur spezifischeren Analyse von Kriseneffekte auf die Lohnverteilung ist dieses methodische Vorgehen somit nur bedingt geeignet, gerade da die Analyse innerstaatlicher Entwicklungen besonders interessant ist, die die Auswirkungen der länderspezifischen Arbeitsmarktreformen einfangen könnte. Da der Untersuchungszeitraum bereits 2011 endet, können zudem Reformtätigkeiten, die erst im Zuge der Staatsschuldenkrise und der Strukturanpassungsprogramme umgesetzt wurden, nicht berücksichtigt werden. Insgesamt zeigt die Sichtung des bisherigen Forschungsstandes, dass es noch große Lücken und ein dementsprechend großen Bedarf nach Studien gibt, die sich der Frage nach den Auswirkungen der Krise(n) auf die EU-weite sowie inner- und zwischenstaatlichen Lohnverteilungen widmen. So resümieren Fernández-Macías und Vacas-Soriano (2015, S. 3): “But there has been no study of wage inequality from a European perspective – an aspect of inequality that is particularly interesting in the context of the Great Recession. […] However, the impact on overall wage inequality at EU level is not known.”
Vor dem Hintergrund der bestehenden Literatur ergeben sich somit folgende Forschungslücken, die mit dieser Arbeit zumindest teilweise adressiert werden sollen: I. Der Untersuchungszeitraum der bisherigen Arbeiten endet häufig im Jahr 2011 bzw. 2013. Eine Erweiterung des Untersuchungszeitraumes um weitere Jahre würde nicht nur die unmittelbaren Effekte der unterschiedlichen Krisen berücksichtigen, sondern auch mittelfristige und strukturelle Veränderungen, zumal die Auswirkungen der Staatsschuldenkrise, der Austeritätsprogramme oder des Wirkens der European Economic Governance frühestens ab 2010/11 sichtbar sind. II. Eine detaillierte Zerlegung der Veränderungen der Lohnungleichheiten in Kompositions- und Lohnstruktureffekte geschah bislang nur für einzelne Länder, nicht aber für die gesamte EU bzw. Eurozone. Dies könnte aber dazu beitragen, die genauen strukturellen Veränderungen und damit die Triebkräfte hinter den Dynamiken der Lohnungleichheiten besser erklären zu können und in welchem Maße Reallohnrückgänge durch kompositionelle Veränderungen überlagert werden. III. Arbeitsmarktinstitutionen spielen in den bisherigen Studien nur eine untergeordnete Rolle, obwohl sie auf mindestens zwei Weisen die Dynamiken der
1.2 Konzeptionelles Design
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Lohnungleichheiten prägen und dadurch nationalspezifische Muster erklären können: Zum einen, indem sie die direkten Auswirkungen der Krisen moderieren und zum anderen, weil sie selbst Gegenstand von krisenbedingten Reformtätigkeiten sind. IV. Bislang wurde die Krise stets als unbeobachtet und für alle Mitgliedsländer als identisch angenommen, d. h. die Krise wurde lediglich als eine bestimmte Periode operationalisiert (meistens nach 2008). Da die Krisenbetroffenheit der einzelnen Mitgliedsländer aber hinsichtlich des Zeitpunkts, der Intensität als auch der Art der Krise (Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise) variiert, ist eine beobachtbare und länderspezifische Operationalisierung der Krise(n) notwendig, um deren Einfluss von weiteren, parallel stattfindenden Prozessen (technologischer Wandel, Globalisierung etc.) zu unterscheiden. Das Ziel der hier vorliegenden Arbeit ist es somit, dazu beizutragen, die oben erwähnten Forschungslücken zu schließen und zu untersuchen, wie sich die Lohnungleichheiten in Europa während der Eurokrise entwickelt haben. Dabei sollen neben einer EU-weiten Perspektive auch die Entwicklungen innerhalb und zwischen den Nationalstaaten berücksichtigt werden, um so mögliche Muster betrieblicher Anpassung zu identifizieren, die auf nationale Strukturen und Arbeitsmarktinstitutionen zurückgeführt werden können. Im Zentrum der Analysen stehen somit die Unternehmen und wie diese ihren Arbeitseinsatz in Folge der makroökonomischen Schocks und institutionellen Veränderungen angepasst haben und welche Auswirkungen dies auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen hatte. Dieses Erkenntnisinteresse lässt sich in den drei folgenden forschungsleitenden Fragen zusammenfassen: (i) Wie haben sich im Zuge der Eurokrise und des Krisenmanagements die EUweiten Lohnungleichheiten entwickelt? (ii) Inwieweit haben unterschiedliche betriebliche Anpassungsprozesse zu länderspezifischen Strukturen und Dynamiken der Lohnverteilung geführt? (iii) Inwieweit sind diese Entwicklungen auf institutionelle Unterschiede und arbeitsmarktpolitische Anpassungsprozesse zurückzuführen?
1.2
Konzeptionelles Design
Das konzeptionelle Design, das dieser Untersuchung zugrunde liegt, ist in Abbildung 1.1 dargestellt und illustriert das Grundargument sowie den Aufbau dieser
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1
Einleitung
Arbeit. Die zentrale Annahme lautet, dass die Dynamiken von Lohnungleichheiten zum einen auf die Veränderungen in der Lohnstruktur zurückzuführen sind, d. h., auf die unterschiedliche Bezahlung bestimmter Arbeitnehmergruppen. Auf der anderen Seite werden diese aber auch von Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur geprägt, also von der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft nach bestimmten lohnrelevanten Merkmalen. Somit lassen sich Veränderungen in der Lohnungleichheit nicht nur durch einen dieser beiden Aspekte vollständig erklären. Dies ist wichtig zu erwähnen, da die Eurokrise erhebliche Turbulenzen in der Beschäftigungsstruktur verursachte, was sich beispielsweise in der hohen Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern dokumentiert. Selbst wenn es zu keinerlei Veränderungen in der Entlohnung der Arbeitnehmerschaft kommt, reicht dies allein aus, um die Lohnverteilung zu verändern und damit zu mehr oder weniger Ungleichheiten zu führen. Die Veränderungen der Lohn- und Beschäftigungsstrukturen sind wiederum von den personalpolitischen Anpassungsstrategien abhängig, die Unternehmen vor dem Hintergrund nationaler Arbeitsmarktinstitutionen wählen, um ihren Arbeitseinsatz an die sich verändernden wirtschaftlichen Umstände anzupassen. Je nach institutioneller Ausgestaltung können bestimmte Flexibilisierungsformen oder Anpassungsstrategien als mehr oder weniger sinnvoll oder rational erscheinen als andere. Die Wahl einer bestimmten Strategie oder Maßnahme hat dann wiederum spezifische Folgen für bestimmte Gruppen von Beschäftigten, je nachdem, ob die Stamm- oder Randbelegschaft davon betroffen ist und ob es sich dabei um Entlassungen, Lohnanpassungen oder andere Formen des flexiblen Arbeitseinsatzes handelt. Im Fokus dieser Arbeit stehen vor allem die veränderten ökonomischen sowie institutionellen Rahmenbedingungen, denen sich die Unternehmen während der Krise anpassen mussten. Dies sind in erster Linie die verschiedenen makroökonomischen Schocks, die im Zuge der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise die europäischen Volkswirtschaften in unterschiedlichem Maße trafen. Ein zentrales Argument dieser Arbeit ist, dass diese Schocks nicht mit denselben Auswirkungen auf die Unternehmen einhergingen, sondern dass die Anpassungsformen erheblich durch nationale Arbeitsmarktinstitutionen moderiert wurden. Das bedeutet, dass selbst bei einem vergleichbaren Schock die Reaktionen der Unternehmen hinsichtlich ihrer personalpolitischen Entscheidungen verschieden ausfallen, was unterschiedliche Konsequenzen für die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen hat und damit auch zu unterschiedlichen Dynamiken der Lohnungleichheit führt. Während es sich bei diesen makroökonomischen Schocks vor allem um kurzfristige Veränderungen in der aggregierten Nachfrage handelt, werden die Unternehmen und ihr Personalbedarf auch durch längerfristigen
Abbildung 1.1 Konzeptionelles Design. (Quelle: Eigene Darstellung)
Lohnungleichheiten
Kurzfrisge Veränderungen in der aggregierten Nachfrage moderiert durch naonale Instuonen
Veränderungen in der Bezahlung der Arbeitnehmerscha
Lohnstruktur
Externe und interne sowie numerische, funkonale und monetäre Maßnahmen
Betriebliche Anpassungsstrategien
Naonale Arbeitsmarknstuonen
Beschäigungsstruktur
Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitnehmerscha
Langfrisge Veränderungen des aggregierten Angebots und der Nachfrage moderiert durch naonale Instuonen
Veränderungen des rechtlichinstuonellen Handlungsrahmens
Finanz- und Bankenkrise Wirtschaskrise Staatsschuldenkrise
Globalisierung Deindustrialisierung Technologischer Wandel
Arbeitsmarktreformen
Makroökonomische Schocks
Langfrisge Trends
1.2 Konzeptionelles Design 11
12
1
Einleitung
Trends beeinflusst, beispielsweise durch die Globalisierung, die Deindustrialisierung oder den technologischen Wandel. Da im Rahmen dieser Arbeit aber die Auswirkungen der Krise im Fokus stehen und der Untersuchungszeitraum relativ kurzgehalten ist, werden diese langfristigen, strukturellen Trends nicht primär untersucht. Ein dritter entscheidender Einflussfaktor auf die betrieblichen Anpassungsstrategien sind die Arbeitsmarktreformen, die während der Krise in vielen der Mitgliedsstaaten stattfanden. Diese veränderten den rechtlich-institutionellen Handlungsrahmen, in dem Unternehmen ihre personalpolitischen Entscheidungen treffen und wirken sich somit indirekt auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen aus. Anhand dieses Designs werden im Folgenden die Dynamiken von Lohnungleichheiten analysiert, die als Ausdruck unterschiedlicher betrieblicher und arbeitsmarktpolitischer Anpassungen auf die Krise und die Krisenpolitik interpretiert werden. Dies soll aus zwei unterschiedlichen, sich aber ergänzenden Perspektiven geschehen: Eine gesamteuropäische Perspektive geht davon aus, dass vor dem Hintergrund der zunehmenden europäischen Integration und ihrer Krisen die wechselseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen der EU-Mitgliedsstaaten und ihrer Bürger ein bisher nie dagewesenes Ausmaß erreicht haben (Heidenreich 2019; Lahusen 2019; Gerhards et al. 2019), sodass die EU sich immer mehr zu einem genuinen europäischen Sozialraum entwickelt, dem ein gesamteuropäisches Schichtungssystem zugrunde liegt. Die Analyse EU-weiter Lohnstrukturen liefert somit Informationen über den Grad der Konvergenz und bestehender Disparitäten hinsichtlich der Verdienste zwischen den europäischen Bürgern. Somit versucht eine gesamteuropäische Perspektive den „methodologischen Nationalismus“ (Beck und Grande 2010) zu überwinden, indem nicht mehr ausschließlich das Lohnniveau oder die Lohnverteilung einzelner Mitgliedsstaaten untersucht oder zwischen ihnen verglichen wird, sondern die individuellen Löhne aller europäischen Arbeitnehmer im Sinne einer EU-weiten Verteilung untersucht werden. Die Zugehörigkeit zu einem Mitgliedsstaat ist aus einer gesamteuropäischen Perspektive daher lediglich eine weitere erklärende Variable, die gleichgewichtig neben anderen personenbezogenen, arbeitsplatz- oder betriebsspezifischen Merkmalen der Individuen steht (Delhey und Kohler 2006, S. 126). Damit schließt die Arbeit direkt an vorherige Studien an, die Armut und Einkommensungleichheiten aus einer solchen EU-weiten Perspektive untersucht haben (Goedemé und Collado 2016; Fahey 2006; Dauderstädt und Keltek 2011; Europäische Kommission 2018; Heidenreich 2010, 2016c) Aus einer inner- und zwischenstaatlichen Perspektive sollen hingegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten
1.3 Aufbau der Arbeit
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in den Blick genommen und herausgearbeitet werden. Die Notwendigkeit einer EU-weiten Betrachtung von Ungleichheiten bedeutet nämlich nicht, dass komparative Betrachtungsweisen obsolet wären (Delhey und Kohler 2006, S. 126). Denn die gesamteuropäische Lohnverteilung ist immer auch das Ergebnis zwischenstaatlicher und innerstaatlicher Entwicklungen, weshalb diese zur Erklärung der EU-weiten Lohnentwicklungen nicht ignoriert werden dürfen. Eine solche Perspektive ist auch vor dem Hintergrund, dass einzelne Mitgliedsländer gänzlich unterschiedliche Erfahrungen hinsichtlich des Zeitpunkts und der Intensität ihrer Krisenbetroffenheit gemacht haben (Jenkins et al. 2013), sinnvoll. Insbesondere die Institutionen der industriellen Beziehungen sowie der staatlichen Regulierung, die den rechtlich-institutionellen Handlungsrahmen der Unternehmen bilden, sind nach wie vor auf nationalstaatlicher Ebene vorzufinden. Zudem kann aus dieser Perspektive gefragt werden, ob sich die Mitgliedsstaaten hinsichtlich ihres Lohnniveaus und ihrer Lohnstrukturen weiter angleichen oder ausdifferenzieren. So sind Szenarien vorstellbar, in denen die EU-weiten Lohnungleichheiten abnehmen, die Disparitäten innerhalb der Mitgliedsländer aufgrund einer zunehmenden Polarisierung innerstaatlicher Lohnstrukturen aber gleichzeitig größer werden. Daher sollte auf eine inner- und zwischenstaatliche Analyse der Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa keinesfalls verzichtet werden.
1.3
Aufbau der Arbeit
Um die Frage nach den Dynamiken von Lohnungleichheiten aus einer europäischen Perspektive zu beantworten, wird wie folgt vorgegangen: In Kapitel 2 werden die Prozesse der Lohnbildung und Lohnverteilung aus arbeitsmarkttheoretischer Perspektive betrachtet und auf ihren Beitrag zur Entstehung von Lohnungleichheiten hin untersucht. Ausgangspunkt ist dabei das Grundmodell der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie, von dem aus sich alle weiteren Ansätze kritisch abgrenzen und um zusätzliche Annahmen zur Entstehung von Ungleichheiten erweitern. Besonders zentral sind dabei die Humankapitaltheorie sowie die Prinzipal-Agent-Ansätze, die die Rolle von Qualifikationen und Transaktionskosten in den Fokus stellen. Das Kapitel endet mit einer Betrachtung institutionalistischer und soziologischer Segmentationsansätze, die Lohnbildungsprozesse innerhalb von Organisationen erklären. Insbesondere die Annahme von verschiedenen Teilarbeitsmärkten, auf denen unterschiedliche Formen der Personalanpassung zu finden sind sowie das damit einhergehende Konzept einer Stamm- und Randbelegschaft, erweisen sich für diese Arbeit als äußerst anschlussfähig und bilden damit die theoretische Grundlage der weiteren Arbeit.
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Einleitung
In Kapitel 3 wird die Literatur zur Arbeitsmarktflexibilisierung gesichtet, um aufbauend auf den segmentationstheoretischen Überlegungen der Frage nachzugehen, wie Unternehmen ihren Arbeitseinsatz in Folge konjunktureller Schwankungen oder makroökonomischer Schocks anpassen können und wie diese personalpolitischen Entscheidungen durch die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen geprägt werden. Dabei wird herausgearbeitet, dass die Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes über unterschiedliche Gruppen der Belegschaft mit verschiedenen Anpassungsinstrumenten erfolgt. Weiterhin lassen sich vier unterschiedliche Wirkungskanäle feststellen, über die Arbeitsmarktinstitutionen einen Einfluss auf die personalpolitischen Entscheidungen nehmen können. Aufbauen auf diesen Überlegungen werden dann abschließend Hypothesen hergeleitet. Kapitel 4 widmet sich dann dem Verlauf der Eurokrise, wobei drei unterschiedliche Arten von ineinandergreifenden und sich wechselseitig verstärkenden Krisen unterschieden werden, die mit unterschiedlichen makroökonomischen Schocks auf die europäischen Volkswirtschaften einhergehen: Die Finanz- und Bankenkrise, die Wirtschaftskrise sowie die Staatsschuldenkrise. Des Weiteren werden die Empfehlungen und Forderungen im Rahmen der EU-Krisenpolitik hinsichtlich der Reformierung von Arbeitsmarktinstitutionen zusammengetragen und überprüft, inwieweit sich diese Reformbemühungen tatsächlich auf ebenjene Institutionen ausgewirkt haben. Mit diesem Kapitel sollen insbesondere die Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen Krisen, dem Krisenmanagement sowie deren Auswirkungen auf die nationalstaatlichen Institutionen verdeutlicht werden. Vor diesem Hintergrund werden dann ebenfalls abschließend Hypothesen zur unterschiedlichen Krisenbetroffenheit formuliert. In Kapitel 5 werden dann die verwendeten Daten und Variablen näher erläutert sowie die Methoden, die zur Analyse der Daten herangezogen werden. Der daran anschließende empirische Teil dieser Arbeit gliedert sich – komplementär zu den drei forschungsleitenden Fragen – in drei Kapitel auf. Zunächst werden die Dynamiken der EU-weiten Lohnungleichheiten aus einer gesamteuropäischen Perspektive betrachtet, aus der die europäischen Arbeitnehmer und ihre Löhne die zentrale Untersuchungseinheit bilden und nicht die Mitgliedsstaaten (Kapitel 6). Anhand von Dekompositionsanalysen werden die Gesamtveränderungen in der Lohnverteilung auf Veränderungen in der Lohn- oder Beschäftigungsstruktur zurückgeführt. Dadurch sollen Rückschlüsse auf den erklärenden Anteil inner- und zwischenstaatlicher Veränderungen gezogen werden. Im Anschluss daran werden dann die länderspezifischen Strukturen und Dynamiken der Lohnverteilung aus einer inner- und zwischenstaatlichen Perspektive im Detail untersucht (Kapitel 7). Im Fokus stehen dabei die betrieblichen Anpassungsstrategien sowie die daraus resultierenden Veränderungen in den nationalen Lohn-
1.3 Aufbau der Arbeit
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und Beschäftigungsstrukturen, die zu bestimmten Mustern der Lohnentwicklungen geführt haben. Primär stehen hier die Unterschiede zwischen den Ländern, die besonders stark von der Krise betroffen waren und denen, die es in einem weit geringeren Maß getroffen hat im Fokus. Das letzte empirische Kapitel verlagert dann die Perspektive von der Mikro- auf die Makroebene und untersucht aus einer institutionellen Perspektive die Auswirkungen der krisenbedingten Schocks auf die Lohnungleichheiten und wie diese durch die nationalen Arbeitsmarktinstitutionen geprägt werden (Kapitel 8). Schließlich stehen dann noch die Auswirkungen der Veränderungen ebendieser Arbeitsmarktinstitutionen im Fokus, die sich auf die Reformtätigkeiten in den jeweiligen Ländern während der Krise zurückführen lassen. Insgesamt soll auf diese Weise sowohl eine statistische als auch eine dynamische Perspektive auf die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen eingenommen werden. Diese Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse und reflektiert diese vor dem Hintergrund des bisherigen und zukünftigen europäischen Integrationsprozesses.
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Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse aus arbeitsmarkttheoretischer Perspektive
Um untersuchen zu können, wie es in Krisenzeiten zu Veränderungen in der Lohnund Beschäftigungsstruktur kommt und welche Faktoren und Mechanismen dafür primär verantwortlich sind, müssen zuvor die Allokations- und Entlohnungsprozesse am Arbeitsmarkt verstanden werden. Es soll herausgearbeitet werden, wie Löhne am Arbeitsmarkt zustande kommen und wie und warum sich dabei Lohnstrukturen herausbilden. Im Folgenden sollen dazu die Prozesse der Lohnbildung und Lohnverteilung aus arbeitsmarkttheoretischer Perspektive betrachtet werden. Dabei existiert die Arbeitsmarkttheorie, als einheitlich kohärentes Erklärungsmodell von Arbeitsmarktprozessen, nicht. Stattdessen handelt es sich um eine Vielzahl von Erklärungsansätzen, die jeweils unterschiedliche Aspekte des Lohnbildungsprozesses in den Fokus rücken (Sesselmeier et al. 2010, S. 73). Dabei lassen sich die einzelnen Denkrichtungen grob danach unterscheiden, welchen Stellenwert sie der ökonomischen Rationalität und dem Marktmechanismus bzw. dessen Unvollkommenheit beimessen und ob Arbeitsmarktprozesse in erster Linie als preisbestimmt betrachtet werden oder nicht (Weingärtner 2019, S. 8). Begonnen wird mit einer Betrachtung des Grundmodells der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie. Trotz seiner Abstraktheit und empirisch nicht haltbaren Annahmen erscheint es dennoch sinnvoll, damit zu beginnen. Zum einen orientieren sich so gut wie alle weiteren Arbeitsmarkttheorien, ob ökonomisch oder soziologisch geprägt, an diesem Grundmodell, indem sie es konstruktiv erweitern oder sich von ihm abgrenzen. Zum anderen sind die Argumente, die während der Krise hervorgebracht wurden, um die makroökonomischen Ungleichgewichte und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit innerhalb Europas zu bekämpfen, im erheblichen Maße am neoklassischen Modell orientieren, d. h. es müssen lediglich die Reallöhne gesenkt werden, um Arbeitslosigkeit abzubauen und die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Zudem werden nicht-marktliche Faktoren, © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_2
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
wie die Institutionen der industriellen Beziehungen oder staatliche Regulierungen oft als Marktverzerrungen betrachtet, die für ein effizientes Funktionieren der Arbeitsmärkte abgebaut werden müssen. Darauf aufbauend werden nach und nach die Grundannahmen des neoklassischen Arbeitsmarktmodells fallen gelassen bzw. modifiziert und beispielsweise um qualifikatorische Produktivitätsunterschiede sowie um eine asymmetrische Informationsverteilung, die zu einem Ungleichgewicht und damit zu Lohnstruktur führen können, erweitert. In den darauffolgenden Prinzipal-Agent-Ansätzen wird dann von Abweichungen des Gleichgewichtslohns innerhalb unvollkommener Märkte ausgegangen, die durch die Existenz von Verträgen Lohnrenten erzeugen. Der letzte Abschnitt widmet sich dann eher institutionalistischen und soziologischen Ansätzen, die Lohnbildungsprozesse und Lohnstrukturen innerhalb von Organisationen erklären und dadurch das theoretische Fundament der weiteren Arbeit bilden.
2.1
Lohnbildungsprozesse in perfekten Wettbewerbsmärkten: Neoklassische Ansätze
Die im Folgenden dargestellten arbeitsmarkttheoretischen Ansätze folgen einer ökonomischen Logik, die die Funktion des Lohns als Kompensation für eingebrachte Leistungen ansieht und damit den Lohnbildungsprozess als Preismechanismus in perfekten Wettbewerbsmärkten betrachtet. Lediglich hinsichtlich der äußeren Umstände innerhalb dieser perfekten Märkte und einiger Grundannahmen variieren diese Ansätze.
2.1.1
Arbeitsmärkte ohne Ungleichheiten
Ungleichheitsproduzierende Prozesse am Arbeitsmarkt lassen sich einfacher nachvollziehen, wenn sie mit einem idealtypischen Modell des Arbeitsmarktes kontrastiert werden, in dem es keine Ungleichheiten gibt. Es scheint daher sinnvoll, mit dem Grundmodell der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie zu beginnen, auch wenn diesem aufgrund seiner abstrakten Annahmen oft lediglich die Rolle einer „Negativfolie“ zukommt (Weingärtner 2019, S. 18). Dennoch leiten sich alle weiteren Erklärungsansätze aus der Kritik an diesem Grundmodell ab, so dass eine kurze Darstellung gerechtfertigt und notwendig erscheint (Sesselmeier und Blauermel 1998, S. 5).
2.1 Lohnbildungsprozesse in perfekten Wettbewerbsmärkten …
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Das neoklassische Grundmodell geht davon aus, dass der Arbeitsmarkt wie jeder andere Markt (Gütermarkt, Geldmarkt) funktioniert, d. h., dass sich Angebot und Nachfrage bei konstanten Randbedingungen aufeinander einstellen und stets ein Gleichgewicht erreichen. Das Angebot von und die Nachfrage nach Arbeitskraft werden über den Preismechanismus, d. h. über die Höhe der Löhne abgeglichen. Unternehmer stellen dabei solange Arbeitskräfte ein, wie deren Ertrag die Kosten übersteigt. Ist das Arbeitskräfteangebot größer als die Nachfrage, so sinken auch die Preise (und damit die Löhne) für eine Arbeitskraft und es können mehr Arbeitskräfte für die gleichen Kosten eingestellt werden. Eine zunehmende Nachfrage nach Arbeitskraft führt wiederum zu steigenden Preisen, was mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt lockt und das Angebot erhöht, sodass sich bald wieder ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage einstellt. Löhne sind somit der Preis menschlicher Arbeitskraft (Gangl 2018, S. 302). Die neoklassische Arbeitsmarkttheorie ist somit lediglich ein Spezialfall der allgemeinen Gleichgewichtstheorie und beruht damit auf denselben idealtypischen Annahmen (Sesselmeier et al. 2010, S. 76): – Auf dem Arbeitsmarkt herrscht vollkommene Konkurrenz. Es herrschen keine Wettbewerbsbeschränkungen (wie Informations- oder Machtasymmetrien) oder institutionalisierte Zutrittsbarrieren. – Das Vorhandensein von Marktmacht wird in diesem Modell ausgeschlossen. – Das Arbeitskräfteangebot ist in diesem Modell homogen, d. h., die Arbeitnehmer unterscheiden sich nicht voneinander hinsichtlich ihrer Produktivität und sind somit jederzeit austauschbar. – Des Weiteren sind die Arbeitnehmer vollkommen mobil, d. h., jederzeit dazu in der Lage und willens, dorthin zu gehen, wo die besten Konditionen vorherrschen. – Die Arbeitnehmer sind vollständig informiert über gegenwärtige sowie zukünftige Zustände des Arbeitsmarktes, d. h. über offene Stellen und Lohnsätze. – Löhne sind vollständig flexibel und daher zu jeder Zeit und sofort anpassbar. – Die Unternehmer können ihre gewinnmaximale Menge immer auf den Gütermärkten absetzen. Es wird somit von einem rationalen und Nutzen maximierenden Homo Oeconomicus als Akteur ausgegangen, der vollständig informiert ist und eindeutige Präferenzen hat. Die Arbeitnehmer, die ihre Arbeitskraft anbieten, versuchen daher ihren Nutzen zu maximieren, der sowohl von der Höhe des Arbeitslohns als auch von der aufgebrachten Arbeitszeit abhängt, während Unternehmer versuchen, ihre Gewinne zu maximieren. Auf diesem perfekten Markt herrscht
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
vollständige Konkurrenz, d. h., dass kein Akteur den Gleichgewichtspreis für Arbeit durch die Veränderung des eigenen Verhaltens beeinflussen kann. Die Arbeitskräfte als auch die Arbeitsplätze werden als homogen betrachtet, d. h., es wird davon ausgegangen, dass alle Arbeitnehmer und Arbeitsplätze gleich (gut) sind. Alle Preise – und damit auch die Löhne – sind vollkommen flexibel und können daher bei Veränderung der Arbeitsnachfrage oder -angebots unmittelbar angepasst werden. Märkte mit solchen Eigenschaften führen immer zu einer vollkommenden Markträumung, d. h. dass das Arbeitsangebot exakt der Arbeitsnachfrage der Unternehmen entspricht. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit kann es im neoklassischen Grundmodell also nicht geben. Denn solange es einen Überschuss am Arbeitskräfteangebot gibt, würde sich der dafür zu zahlende Preis (Lohn) solange senken, bis es sich für die Unternehmer rentiert, alle verfügbaren Arbeitskräfte zum neuen Preis anzustellen. So gelangt der Arbeitsmarkt durch eine Veränderung des Lohnsatzes immer wieder ins Gleichgewicht. Da Homogenität der Arbeitskräfte und Arbeitsplätze gilt, erhält jeder Arbeitnehmer denselben Lohn. Unter der Annahme der Gültigkeit all dieser Prämissen bestimmen allein Angebot und Nachfrage den jeweiligen Gleichgewichtslohn und damit die Einkommenshöhe der Marktteilnehmer. Da dieser Lohnsatz jedoch für alle Individuen identisch ist, erlaubt das neoklassische Modell keine Erklärung von Lohnunterschieden zwischen Erwerbstätigen. Mögliche Faktoren, die zu Abweichungen von diesem Gleichgewicht führen (z. B. industrielle Beziehungen und staatliche Eingriffe), werden ausgeblendet oder als Marktunvollkommenheiten exogenisiert (Weingärtner 2019, S. 29). Da jedoch in Realität immer wieder Verdienstunterschiede sowie unfreiwillige Arbeitslosigkeit zu beobachten sind, müssen weitere Erklärungsansätze herangezogen werden, um die Existenz von Lohnstrukturen verstehen zu können.
2.1.2
Qualifikatorische Produktivitätsunterschiede
Die Humankapitaltheorie (Becker 1964; Mincer 1958) stellt eine der wichtigsten Erweiterungen des neoklassischen Grundmodells dar, ohne die ein Großteil der heutigen sozialwissenschaftlichen Arbeitsmarkttheorien nicht denkbar wäre. Der entscheidende Beitrag der Humankapitaltheorie besteht in der Aufgabe der Homogenitätsannahme über die Arbeitskräfte. Sie nimmt stattdessen an, dass sich Arbeitskräfte hinsichtlich ihrer Produktivität unterscheiden. Dies tun sie nicht etwa nur aufgrund angeborener Talente, sondern aufgrund bewusster Investitionen
2.1 Lohnbildungsprozesse in perfekten Wettbewerbsmärkten …
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in produktivitätsrelevante Fähigkeiten und Wissen (Gangl 2018, S. 272). Investitionen in das Humankapital erhöhen somit die Produktivität eines Arbeitnehmers und damit auch den Preis seiner Arbeitskraft – den Lohn. Lohnungleichheiten spiegeln dieser Theorie zufolge also qualifikatorische Produktivitätsunterschiede zwischen den Arbeitnehmern wider. Rationale und nutzenmaximierende Akteure investieren allerdings nur dann bzw. solange in ihr Humankapital, wie der damit verbundene Aufwand und die Kosten mit einem dementsprechend höheren Lohn kompensiert werden. Die Kosten für diese Investitionen setzen sich aus den direkten Kosten für die Ausbildung (z. B. Gebühren) und den dadurch anfallenden Opportunitätskosten, wie ein verminderter oder entgangener Lohn, zusammen (Sesselmeier et al. 2010, S. 146). Da diese Qualifizierungsmaßnahmen die Produktivität der Arbeitskraft für das Unternehmen steigern, steigt gleichzeitig der zu erzielende Lohn für die Arbeitnehmer an. Somit werden nicht nur die eingesetzte Arbeitszeit, sondern auch die Kosten für die Investitionen in das Humankapital vom Unternehmer entschädigt. Ein rationaler Akteur wägt nun die Investitionskosten und den späteren Nutzen gegeneinander ab und investiert solange in sein Humankapital, wie der Nutzen die Kosten übersteigt. Mit den unterschiedlichen Qualifikationen und den damit einhergehenden Produktivitätsunterschieden zwischen den Arbeitskräften entsteht nun eine Lohnverteilung im Arbeitsmarkt (ebd., S. 272). Lohnungleichheiten sind aus humankapitaltheoretischer Perspektive daher durchaus denkbar, denn sie spiegeln Leistungsunterschiede wider. Eine Ungleichheit, die aus Unterschieden jenseits von natürlicher Begabung, dem freiwilligen Verzicht oder aus der Humankapitalausstattung resultieren (beispielsweise Macht), existiert aus dieser Perspektive jedoch nicht. Des Weiteren lässt sich das Humankapital noch weiter differenzieren, und zwar in allgemeines und spezifisches. Allgemeines Humankapital wird in allgemeinbildenden und vom Betrieb unabhängigen Einrichtungen erworben (schooling). Es ist daher übertragbar auf Tätigkeiten und ermöglicht seinem Besitzer ein problemloses Wechseln zwischen Betrieben. Das spezifische Humankapital wird hingegen im Rahmen einer betrieblichen Ausbildung gebildet (training-on-the-job) und im Falle eines Betriebswechsels vollständig entwertet, da es an den Betrieb gekoppelt ist (Sesselmeier et al. 2010, S. 147). Der Grad der Betriebsgebundenheit des spezifischen Humankapitals wirkt sich zudem auf die Bindungswünsche der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer aus. Dadurch sind die Unternehmer mit steigendem Grad der betriebsspezifischen Qualifikation der Arbeitskräfte im höheren Maße daran interessiert, ebenjene langfristig an das Unternehmen zu binden. Dies gelingt ihnen zum einen dadurch, indem der Arbeitskraft überdurchschnittlich hohe Löhne gezahlt werden. Dieser Bonus würde bei einem Betriebswechsel
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
verloren gehen. Somit spielt neben der Qualifikation auch die Berufserfahrung bzw. die Beschäftigungsdauer (als indirekter Gradmesser für betriebsspezifisches Wissen) eine zentrale Rolle in der Humankapitaltheorie. Dies findet sich auch in der berühmten Lohnfunktion von Mincer (1958) wieder, in der der zu erwartende Lohn einer Arbeitskraft als Funktion der formalen Bildung sowie der Berufserfahrung erklärt wird. Vor diesem Hintergrund weisen Arbeitskräfte mit einem hohen Maß an betriebsspezifischem Humankapital generell höhere Löhne sowie einen besseren Schutz gegen Entlassungen in konjunkturellen Abschwüngen auf (Sesselmeier et al. 2010, S. 148), was zu einer Verschiebung in der Lohnverteilung führen kann, wenn die niedrig und allgemein qualifizierten Arbeitskräfte mit tendenziell niedrigeren Löhnen eher entlassen werden. Dadurch würde sich die Lohnverteilung komprimieren und die aggregierten Lohnungleichheiten sinken. Auch wenn die Humankapitaltheorie in der Lage ist, aufgrund der Abweichung von der stark abstrahierten Homogenitätsannahme der Arbeitskräfte, die Existenz von qualifikationsspezifischen Lohnstrukturen und Entlassungsmustern zu erklären, bleibt sie dennoch relativ abstrakt und den restlichen idealen Annahmen des neoklassischen Grundmodells verhaftet (Sesselmeier et al. 2010, S. 153).
2.1.3
Unvollständige Information und asymmetrische Informationsverteilung
Ein zentrales Problem der Humankapitaltheorie ist, dass die tatsächliche Produktivität der Arbeitskraft zum Zeitpunkt der Einstellung (ex ante) oder oft auch während der Tätigkeit (ex post) nicht direkt beobachtbar ist. Damit sieht sich die Humankapitaltheorie dem Problem unvollständiger Information und asymmetrischer Informationsverteilung ausgesetzt, die neben dem heterogenen Arbeitskräfteangebot einen entscheidenden Einfluss auf die Lohnsetzung und Lohnverteilung nimmt (Sesselmeier et al. 2010, S. 143). Daher haben weitere Ansätze die Annahme vollständiger Information des Grundmodells fallen gelassen bzw. modifiziert. Signaltheorie Vor diesem Hintergrund geht die Signaltheorie (Spence 1973) nun davon aus, dass Arbeitgeber, um diese Informationsasymmetrie abzubauen, auf möglichst verlässliche Signale zurückgreifen, die der Bewerber (bewusst oder unbewusst) sendet und die dabei helfen können, Unsicherheiten über die tatsächliche Produktivität
2.1 Lohnbildungsprozesse in perfekten Wettbewerbsmärkten …
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und Motivation zu überwinden. Beispiele für solche Signale sind Bildungszertifikate, Arbeitserfahrung, Ergebnisse von Einstellungstests oder auch die Dauer vorheriger Arbeitslosigkeit (Arrow 1973). Investitionen der Arbeitskraft in ihre allgemeine und spezifische Bildung dienen der Signaltheorie folgend somit nicht nur dazu, Wissen und Fähigkeiten anzueignen (wie in der Humankapitaltheorie), sondern sie produzieren zudem Signaleffekte, die diesen Bildungstiteln und Zertifikaten eine Bedeutung zuweisen, die über das Erlernen von Fähigkeiten und Wissen hinausgeht. Insbesondere in Fällen, wo die individuelle Produktivität nur schwer Messbar ist, erscheint die Humankapitaltheorie zur Erklärung von Arbeitsmarktprozessen daher unzureichend (Sesselmeier et al. 2010, S. 153). Selbst wenn dem Arbeitgeber sämtliche Zertifikate und Arbeitszeugnisse des Bewerbers offenkundig sind, verbleibt ein Restrisiko, wie die Arbeitsleistung tatsächlich ausfallen wird. Infolgedessen ist es aus Sicht des Unternehmers nur rational, wenn dieser jede mögliche Information, die irgendwie mit der Produktivität des Bewerbers im Zusammenhang stehen könnte, als Entscheidungshilfe heranzieht. Liefern individuelle Informationen über eine Person unzureichende Voraussagen über ihre Produktivität, so versuchen Arbeitgeber über die Gruppenzugehörigkeit des Bewerbers und der durchschnittlich zu erwartenden Arbeitsproduktivität dieser Gruppe sich der tatsächlichen Produktivität des Individuums anzunähern. Die zu erwartende durchschnittliche Arbeitsproduktivität einer Gruppe ergibt sich anhand eigener Erfahrungen, statistischer Daten oder auch landläufigen Meinungen gegenüber bestimmten Gruppen. Mit anderen Worten wird versucht, die vorliegenden Signale über die Produktivität mittels statistischer Diskriminierung zu verdichten. Lohndifferenzen, die aufgrund ebenjener statistischen Diskriminierung entstehen, können als Risikoprämien interpretiert werden. Statistische Diskriminierung kann somit nach bestimmten Kriterien als rationales Unterscheidungsinstrument benutzt werden. Für den Arbeitsmarkt bedeutet dies, dass aus dieser Perspektive nun nicht mehr Humankapitalbestände, sondern Signale gehandelt werden. Die Signaltheorie und die statistische Diskriminierung können somit erklären, warum zwei Personen, die über dieselbe tatsächliche Produktivität verfügen, unterschiedliche Beschäftigungs- oder Entlohnungschancen erwartet. Besonders Jugendliche, Arbeitsmarkteinsteiger oder Gering- und Unqualifizierte, die über wenig Arbeitserfahrung oder mangelnde Zertifikate verfügen, können nur in geringem Maße ihre Produktivität und Motivation unter Beweis stellen (Brzinsky-Fay 2017). Somit ist es ein größeres Risiko für den Arbeitgeber, Bewerber aus dieser Personengruppen einzustellen, da hier die Gefahr für ein mismatch, d. h. die unpassende Besetzung einer Stelle, zu groß ist im Vergleich zu älteren und qualifizierten Bewerbern. Ansätze der statistischen Diskriminierung und Ansätze der Signaltheorie können somit erklären, warum es bspw. Jugendliche
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deutlich schwerer haben, potenzielle Arbeitgeber von ihrer Motivation und Produktivität zu überzeugen und wie die Wirkung dieser Signale vom kulturellen und institutionellen Kontext abhängen. Suchtheorie Während sich die Signaltheorie in erster Linie der Informationsasymmetrie vor dem Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses widmet und damit eher die nachfrageseitige Entscheidungssituation des Unternehmens im Fokus steht, rückt die Suchtheorie (Stigler 1961) nun die Bedingungen des Arbeitsplatzes in den Fokus und nimmt daher eher eine angebotsorientierte Perspektive ein. Dabei bestehen zwei grundsätzliche Abweichungen gegenüber dem neoklassischen Grundmodell: Erstens wird die Annahme der vollständigen Information der Arbeitskräfte über die Arbeitsplatzangebote fallen gelassen. Der Arbeitnehmer weiß somit nicht vollständig über die Eigenschaften des neuen Arbeitsplatzes Bescheid und muss sich erst einmal Informationen verschaffen. Arbeitsplätze sind nämlich genauso wie Arbeitskräfte nicht homogen. Somit können sich Arbeitsplätze hinsichtlich mehr oder weniger (un-)angenehmer Tätigkeiten oder sonstiger Eigenschaften (Schichtdienst, Nachtarbeit, erhöhte Mobilität oder Gefahren) unterscheiden. Löhne gelten aus dieser Perspektive somit eher als Indikatoren für die Qualität eines Arbeitsplatzes. Zweitens wird die Annahme fallen gelassen, dass das Zustandekommen eines Arbeitsverhältnisses ohne Zeitverzögerung und ohne jedwede Kosten stattfindet. Das heißt, die Arbeitsmarktakteure müssen sich erst einmal suchen und finden, wobei Kosten in Form von Zeit, Geld und anderen Ressourcen entstehen und das Ergebnis dieser Bemühungen den Akteuren ex ante noch nicht bekannt ist. Aus suchtheoretischer Perspektive ist die intensive Suche somit nichts anderes als eine Investition, um mehr Informationen über den Arbeitsmarkt zu erhalten und dadurch bessere Konditionen zu erzielen. Die Suchtheorie analysiert somit die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, die dem Optimierungsverhalten der Akteure vor dem Hintergrund unvollständiger Informationen entspringt (Sesselmeier et al. 2010, S. 160). Somit lautet die Grundannahme der Suchtheorie, dass die Dauer der Suche von den mit der Suche einhergehenden Kosten abhängig ist (Mortensen 1986). Je länger die Suche andauert, desto mehr Kosten werden verursacht, beispielsweise in Form abgelehnter Angebote und entgangener Löhne, in der Hoffnung auf ein besseres Angebot. Dazu muss der Suchende jedoch ungefähr wissen, welchen Lohn er aufgrund unterschiedlicher Faktoren erwarten kann. Übersteigen die abzuschätzenden Suchkosten den Erwartungswert an ein weiteres Angebot, wird die Suche abgebrochen und das bestehende Angebot angenommen. Es gilt also: je höher die Suchkosten, desto kürzer die Suchdauer und desto geringer der Anspruchslohn der
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Arbeitssuchenden (Sesselmeier et al. 2010, S. 163). Der Anspruchslohn wird des Weiteren auch von hohen Lohnersatzleistungen geprägt, die aus suchtheoretischer Perspektive ein offensichtlicher Grund für langanhaltende (Such-)Arbeitslosigkeit sein können, da das entgangene Einkommen deutlich geringer ausfällt. Längere Suchzeiten führen tendenziell auch zu einer besseren Passgenauigkeit zwischen Arbeitskraft und Arbeitsstelle, was wiederum mit höheren Löhnen einhergehen sollte.
2.2
Lohnbildungsprozesse in hierarchischen Abhängigkeitsverhältnissen: Prinzipal-Agent-Ansätze
Während die bisherigen Ansätze die zentrale Rolle von Arbeitsorganisationen auf den Lohnbildungsprozess weitestgehend ausgeblendet haben und stattdessen von einem abstrakten Markt ausgegangen sind, in dem die Arbeitsmarktprozesse stattfinden, verschieben die sogenannten Prinzipal-Agent-Ansätze (PAA) den Fokus auf das Arbeitsverhältnis und nehmen somit eine eher organisationale Perspektive auf das Zustandekommen von Löhnen ein. Damit rückt zugleich die Institution des Arbeitsvertrags in den Vordergrund sowie die hierarchischen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem Arbeitgeber (Prinzipal) und dem Arbeitnehmer (Agent), die jeweils diametrale Interessen verfolgen. Die zentrale Frage, die sich PAA widmen ist, wie es dem Prinzipal gelingt, den Agenten dazu zu bewegen, in seinem Sinne zu handeln. Oder auf den Arbeitsmarkt bezogen: Wie kann ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer dazu bringen, eine bestimmte Leistungsbereitschaft zu erbringen (Sesselmeier et al. 2010, S. 210). PAA unterscheiden dabei zwischen zwei zentralen Problemen, die mit hohen Transaktionskosten (Coase 1937) für die Unternehmen einhergehen können (Arrow 1985, 38ff.): Zum einen wird analog zu den Such- und Signaltheorien aus dem vorherigen Abschnitt von einer ex ante Informationsasymmetrie ausgegangen, d. h., wichtige Merkmale der Arbeitskräfte, wie die Leistungsbereitschaft und Fähigkeiten, können vor Vertragsabschluss nicht vollends eingeschätzt werden, womit Unsicherheiten hinsichtlich der tatsächlichen Produktivität der Arbeitskraft entstehen (Problem der hidden information). Zum anderen können die Arbeitskräfte ex post, also nach dem Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses, ihre Arbeitsleistung innerhalb eines gewissen Rahmens variieren, ohne dass dies vom Arbeitgeber kontrolliert werden könnte. Somit leisten sie gegebenenfalls weniger als sie eigentlich im Stande wären oder wie es von ihnen erwartet wird (das Problem der hidden action).
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
Beide Probleme sollen mithilfe von Arbeitsverträgen minimiert werden, in dem Transaktionskosten bei der Vertragsgestaltung bereits berücksichtigt werden und eine vom markträumenden Gleichgewichtslohn abweichende Entlohnung das kooperative Verhalten des Arbeitnehmers erhöhen soll. Arbeitsverträge sind daher aus Sicht der PAA notwendig, damit die gegenseitigen Verhaltenserwartungen festgehalten und die wirtschaftlichen Abläufe möglichst effizient abgewickelt werden können (Weingärtner 2019, S. 33). Im Vergleich zu sogenannten vollständigen Verträgen, die in der Lage sind, Leistungserwartungen klar zu quantifizieren (beispielsweise der klassische Stücklohn, wo die individuelle Produktivität und Entlohnung direkt aneinander gekoppelt sind), zeichnen sich unvollständige Verträge hingegen dadurch aus, dass aufgrund der Art der Tätigkeit der Lohn eben nicht an eine klar definierte Arbeitsleistung gekoppelt werden kann (Gangl 2018, S. 289). Somit sind die beschriebenen Probleme und die damit einhergehenden Transaktionskosten im letzteren Fall deutlich höher und stehen dementsprechend auch im Fokus der im Folgenden vorgestellten Ansätze.
2.2.1
Kontrakttheorie
Die Kontrakttheorie, die in ihren Ursprüngen auf Azariadis (1975), Baily (1974) und Gordon (1974) zurückzuführen ist, gibt die Annahmen des Grundmodells über die vollständige Flexibilität von Preisen und Löhnen sowie die vollständige Informiertheit aller Arbeitsmarktakteure auf und setzt bei der Frage an, warum es bei konjunkturellen Schwankungen eher zu Anpassungen des Beschäftigungsniveaus anstatt zu Lohnanpassungen kommt. Die Rigidität von Löhnen erklärt die Kontrakttheorie aus der Existenz von vertraglichen Vereinbarungen. Dabei wird von drei Grundannahmen ausgegangen (Sesselmeier und Blauermel 1998, S. 146): 1) Arbeitnehmer und Arbeitgeber unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Risikobereitschaft, sodass Arbeitnehmer als risikoavers und Arbeitgeber als risikoneutral betrachtet werden. Diese Differenz lässt sich zum einen mit der Unterscheidung von Sachkapital und Humankapital erklären, wobei letzteres als risikobehafteter gilt, da es untrennbar mit dem Träger verbunden ist. 2) Neben expliziten Verträgen wird auch die Existenz von impliziten oder Quasi-Kontrakten angenommen, die bestimmte Anforderungen und Erwartungen an das Arbeitsverhältnis umfassen, jedoch nicht explizit im Arbeitsvertrag niedergeschrieben sind. 3) Das Abweichen von den vertraglichen Vereinbarungen ist mit hohen Kosten für beide Arbeitsmarktparteien verbunden. Vor diesem Hintergrund sind die risikoaversen Arbeitnehmer prinzipiell dazu bereit, niedrigere Löhne in Kauf zu nehmen, um im Gegenzug eine höhere
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Beschäftigungsstabilität zu erhalten. Dadurch liegt deren Lohnsatz unterhalb des markträumenden Gleichgewichtslohns, wobei diese Differenz als eine Art Versicherungsprämie für einen impliziten Schutz gegenüber Kündigungen interpretiert werden kann. Die Arbeitnehmer versuchen somit durch implizite Vereinbarungen ihren Lohn über einen längeren Zeitraum abzusichern und auch in konjunkturellen Abschwüngen konstant zu halten. Die geringeren Löhne sind auch für die Arbeitgeber von Vorteil, weshalb diese sich auf die Vereinbarungen einlassen und den Arbeitnehmern die Zusage machen, bei Nachfrageschwankungen nicht direkt mit Mengenanpassungen, d. h. mit Entlassungen zu reagieren, sondern erst über eine Arbeitszeitreduktion oder durch das Horten von Arbeitskräften. Umgekehrt gilt auch, dass es in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht direkt zu Neueinstellungen und einem Abbau von Arbeitslosigkeit kommen wird. Stattdessen wird die steigende Nachfrage zuerst durch die bestehenden Arbeitskräfte in Form von Überstunden und Mehrarbeit ausgeglichen. Dadurch erklärt die Kontrakttheorie die Rigidität von Löhnen selbst vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Abschwünge und steigender Arbeitslosigkeit und lässt damit die zentrale Annahme des Grundmodells über die vollkommene Flexibilität der Löhne fallen. Ökonomisch rational sind solche impliziten Versicherungsprämien aus Arbeitnehmerperspektive deshalb, weil der vertraglich fixierte Lohn unter normalen Umständen zwar unterhalb des Gleichgewichtslohns liegt, dieser aber in konjunkturellen Abschwüngen über das markträumende Niveau steigt und die Arbeitnehmer zugleich vor einer unmittelbaren Entlassung geschützt sind. Aus Arbeitgeberperspektive erweisen sich diese Vereinbarungen besonders in wirtschaftlich guten Zeiten als vorteilhaft, da sie andernfalls deutlich höhere Löhne zahlen müssten. Zugleich wird durch die expliziten und impliziten Verträge die Ungewissheit über die Zukunft reduziert, und zwar auf beiden Seiten. Durch die damit gleichzeitig erreichte längerfristige Bindung zwischen Arbeitnehmer und Unternehmen steigt die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit und damit das betriebsspezifische Wissen sowie die Investitionen in das Humankapitel der Belegschaft, da letzteres durch die längerfristige Bindung mit geringeren Risiken und potenziellen Kosten einhergeht. Vor dem Hintergrund dieser humankapitaltheoretischen Überlegungen, lassen sich mit der Kontrakttheorie auch qualifikatorische sowie altersspezifische Ungleichheiten hinsichtlich der Beschäftigungsstabilität als auch in der Lohnhöhe erklären. Geht man davon aus, dass die Beschaffung von qualifizierten Arbeitskräften mit höheren Kosten einhergeht als dies bei Geringqualifizierten der Fall ist, so erscheint es von Seiten des Unternehmens her rational, dass den höher qualifizierten Arbeitskräften auch eine höhere Beschäftigungssicherheit im Rahmen impliziter Verträge zugesprochen wird. Nimmt man weiterhin
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an, dass das Qualifikationsniveau einer Arbeitskraft nicht nur durch die formale (Aus-)Bildung, sondern vor allem auch durch die Dauer der Betriebszugehörigkeit geprägt wird, lassen sich aus Sicht der Kontrakttheorie auch Senioritätsregelungen (Lazear 1981) im Fall von Entlassung und Entlohnung erklären (Giesecke 2006, S. 86). Angesichts dieser Unterschiede hinsichtlich der Beschäftigungssicherheit und der Entlohnung nach den Merkmalen der Betriebszugehörigkeit und des Qualifikationsniveaus, lässt sich daraus auch die Spaltung der Arbeitnehmerschaft in eine höher qualifizierte und stabile Stammbelegschaft, die durch relativ hohe Löhne und ein geringes Entlassungsrisiko gekennzeichnet ist, und eine geringqualifizierte und instabile Randbelegschaft, die tendenziell geringere Löhne sowie ein erhöhtes Entlassungsrisiko aufweist, ableiten (Klein 1984, 226ff.). Aus kontrakttheoretischer Perspektive erfolgt die Lohnfestsetzung also durch das Aushandeln eines vertraglich fixierten Lohnsatzes, der somit für eine bestimmte Zeit die Entlohnung von der tatsächlichen Arbeitsleistung zumindest teilweise entkoppelt. Lohnungleichheiten erklärt die Kontrakttheorie vor allem vor dem Hintergrund unterschiedlicher (spezifischer) Qualifikationen und Betriebszugehörigkeiten, die zu einer Spaltung der Belegschaft entlang unterschiedlicher Entlohnungs- und Beschäftigungschancen führen können. In rezessiven Phasen können aufgrund der impliziten „Versicherungsprämie“ und der vertraglich fixierten Lohnsätze unterschiedliche Entlassungsmuster zwischen Stamm- und Randbelegschaft angenommen werden: Die hohe Lohn- und Beschäftigungsstabilität der Stammbelegschaft wird durch die Lohn- und Beschäftigungsschwankungen innerhalb der Randbelegschaft kompensiert (Giesecke 2006, S. 87).
2.2.2
Effizienzlohntheorie
Im Gegensatz zur Kontrakttheorie, die Löhne unterhalb des markträumendes Gleichgewichtslohns zugunsten höherer Beschäftigungssicherheit zu erklären versucht, interessiert sich die Effizienzlohntheorie (Shapiro und Stiglitz 1984) dafür, warum Arbeitgeber bereit sind, Löhne oberhalb des markträumenden Niveaus zu zahlen. Den Effizienzlohntheorien liegen dabei drei, vom neoklassischen Grundmodell abweichende Annahmen zugrunde: 1) die Arbeitskräfte sind heterogen; 2) Es besteht eine Asymmetrie der Information zwischen den Arbeitsmarktparteien; 3) Es existieren Transaktionskosten. Heterogen sind die Arbeitskräfte deshalb, weil sie mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Talenten oder Qualifikationen ausgestattet sind und über eine unterschiedliche Leistungsbereitschaft verfügen, weshalb sie nicht einfach substituierbar sind.
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Eine Asymmetrie der Information besteht dahingehend, dass nur der Arbeitnehmer selbst seine tatsächliche Leistungsfähigkeit kennt und zudem die Qualität und das Niveau der erbrachten Leistung innerhalb eines bestimmten Rahmens variieren kann. Transaktionskosten können anfallen, wenn versucht wird, die Arbeitsleistung der Angestellten zu kontrollieren (Kontrollkosten) oder im Falle von Neueinstellungen und Entlassungen (Fluktuationskosten) (Sesselmeier et al. 2010, S. 213). Vor diesem Hintergrund ist die zentrale These der Effizienzlohntheorien, dass Löhne positiv mit der Produktivität korreliert sind. So können Löhne oberhalb des markträumenden Niveaus als Anreizmittel genutzt werden, um einerseits die Leistungsbereitschaft zu erhöhen und andererseits Transaktionskosten zu sparen (Gangl 2018, S. 292). Dadurch sind Löhne oberhalb des markträumenden Niveaus effizient, da sie im großen Ganzen die Kosten des Unternehmens reduzieren. Eine Absenkung des Lohns in wirtschaftlich schlechten Zeiten würde daher nicht zu Kostenersparnissen, sondern zu einem Rückgang der Produktivität und damit auch der Gewinne führen. Aus Sicht der Effizienzlohntheorie ist es daher ökonomisch rational, auch bei hoher Arbeitslosigkeit Löhne oberhalb des Marktniveaus zu zahlen, wodurch Lohnrigidität erklärt werden kann (Sesselmeier et al. 2010, S. 211). Es gibt allerdings nicht die eine Effizienzlohntheorie, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, die die beschriebenen Probleme unterschiedlich stark betonen bzw. die Existenz von Effizienzlöhnen mit unterschiedlichen Vorteilen für die Unternehmen in Zusammenhang bringen (ebd., 214ff.). Der shirking-Ansatz betont das Phänomen der „Drückebergerei“, d. h., dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsanstrengung innerhalb eines gewissen Rahmens variieren kann, solange dieses vertragswidrige Verhalten nicht eindeutig beobachtbar ist (Thurow 1984, S. 201). Selbst wenn die potenzielle Leistungsfähigkeit der Arbeitskraft vollständig bekannt ist, so besteht immer noch eine Informationsasymmetrie bezüglich der tatsächlichen Leistungsbereitschaft bzw. der tatsächlich erbrachten Leistung des Arbeitnehmers. Seitens des Arbeitgebers herrscht eine unvollkommene Kontrolle vor, da dieser seine Arbeitskräfte nicht vollständig und zu jeder Zeit überwachen kann. Die Kosten, die mit einer solchen Überwachung einhergingen, wären so hoch, dass diese den Nutzen der Überwachung übersteigen würden. Effizienzlöhne haben aus dieser Perspektive eine disziplinierende Wirkung auf die Arbeitnehmerschaft, sodass ebenjene zu einem vertragskonformen Verhalten angehalten wird (Shapiro und Stiglitz 1984; Stiglitz 1976). Dies gelingt in erster Linie über die höheren Opportunitätskosten, die mit der Zahlung von Effizienzlöhnen einhergehen: Droht die Entlassung aufgrund der entdeckten Drückebergerei, so ist das entgangene Einkommen bei Arbeitslosigkeit im
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Fall zuvor gezahlter Effizienzlöhne deutlich höher als wenn lediglich ein markträumender Lohn gezahlt wurde. Daraus lässt sich ableiten, dass ein höherer Lohn mit einer geringeren Neigung des Arbeitnehmers einhergeht, seine tatsächliche Arbeitsleistung zu variieren, da die damit verbundenen finanziellen Risiken deutlich höher ausfallen. Die Möglichkeit der Leistungskontrolle kann des Weiteren als qualifikationsabhängig betrachtet werden. Einfache oder unqualifizierte Tätigkeiten können in der Regel einfacher überwacht und kontrolliert werden als solche Tätigkeiten, die ein hohes Maß an Komplexität mit sich bringen und daher ein höheres Qualifikationsniveau voraussetzen. Die Zahlung von Effizienzlöhnen scheint daher vor allem bei hochqualifizierten Tätigkeiten sinnvoll zu sein (Giesecke 2006, S. 92). Der adverse-selection-Ansatz betont das Problem der Rekrutierung vor dem Hintergrund unvollständiger Informationen, bei dem die Arbeitgeber nur unzureichend über die tatsächliche Produktivität und Leistungsbereitschaft der potenziellen Arbeitnehmer informiert sind. Somit versucht der Arbeitgeber frühzeitig im Rekrutierungsprozess unpassende Kandidaten auszusortieren, um damit mögliche später anfallende Kosten zu vermeiden. Unter der Annahme, dass die leistungsfähigsten Kandidaten auch die höchsten Lohnansprüche aufweisen, sind die Unternehmen bereit, höhere Löhne zu zahlen bzw. diese den Kandidaten in Aussicht zu stellen. Dadurch sollen Effizienzlöhne die durchschnittliche Qualität der Arbeitsplatzbewerber erhöhen und so das Risiko senken, einen unpassenden oder weniger leistungsfähigen Kandidaten auszuwählen. Dadurch spart das Unternehmen langfristig Einstellungskosten, beispielsweise in Form von Einarbeitung oder Weiterbildung als auch im Falle einer raschen Neubesetzung (Sesselmeier et al. 2010, S. 218). Beim labour-turnover-Ansatz stehen die Fluktuationskosten im Mittelpunkt, die bei Kündigungen der Arbeitnehmer entstehen würden, beispielsweise in Form von Abfindungen, Verlust von (betrieblichen) Wissen oder durch die Nachbesetzung der Stelle. Der Arbeitgeber versucht daher diese Fluktuationskosten weitestgehend zu vermeiden, indem er seinen Arbeitnehmern Löhne oberhalb des markträumenden Niveaus zahlt, um so die Bindung zum Unternehmen als auch die Dauer der Betriebszugehörigkeit zu erhöhen. Dies ist vor allem bei dem Teil der Belegschaft relevant, der über ein hohes spezifisches Humankapital verfügt, da deren Verlust mit deutlich höheren Kosten für das Unternehmen verbunden ist. So ist damit zu rechnen, dass je höher das Qualifikationsniveau und je spezifischer das Wissen der Arbeitskraft ist, desto höher sind die Löhne, die die Arbeitgeber bereit sind zu zahlen, um dadurch eine stärkere Bindung gegenüber dem Unternehmen zu erzielen. Die im Zuge dessen erzielte durchschnittlich höhere Betriebszugehörigkeit geht mit zunehmender Erfahrung und einem wachsenden
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betrieblichen Wissen einher, was zugleich die durchschnittliche Produktivität des Unternehmens erhöht (ebd., S. 219). Beim gift-exchange-Ansatz erhalten soziologische Erklärungsfaktoren, wie Normen und Wertvorstellungen Einzug in die Analyse ökonomischer Entscheidungsprozesse (Akerlof 1982). So wird davon ausgegangen, dass sogenannte Lohngeschenke, d. h. Löhne oberhalb des Marktniveaus, an die Arbeitnehmer dazu führen, dass die durchschnittliche Arbeitsleistung erhöht wird. Dies wird damit begründet, dass die Arbeitnehmer die höheren Löhne als Geschenk seitens des Arbeitgebers betrachten, weshalb sie im Gegenzug zu einer Arbeitsleistung über dem verlangten Leistungsniveau bereit sind (Sesselmeier et al. 2010, S. 215). Die Lohngeschenke stärken somit die Identifizierung mit und die Bindung zum Unternehmen, weshalb das Engagement und die Leistungsbereitschaft höher ausfallen. Es werden also wechselseitig vorteilhafte Abmachungen getroffen, die auf bestimmten Normvorstellungen wie Reziprozität und Fairness beruhen (Akerlof 1982). So kann ein als „unfair“ empfundener Lohn dazu führen, dass der Arbeitseinsatz reduziert wird, während ein als entsprechend „fair“ empfundener Lohn auch mit einer überdurchschnittlichen Leistungsbereitschaft einhergehen kann (Akerlof und Yellen 1990). Aus Sicht der Effizienzlohntheorie sind Löhne das Ergebnis von vertraglich fixierten Verhandlungen, die als Anreizmittel zur Steigerung der Leistungsbereitschaft bei gleichzeitiger Reduktion von Transaktionskosten einen Lohnsatz oberhalb des markträumenden Gleichgewichtslohns festsetzen. Die Höhe dieser Lohnrente ist dabei, je nach Ansatz, von der Qualifikation und Tätigkeit der Arbeitskraft abhängig, da die Leistungskontrolle komplexer und wissensintensiver Tätigkeiten aufwändiger ist (shirking-Ansatz) und die Einstellungs- und Entlassungskosten von hochqualifizierten und spezialisierten Mitarbeitern höher ausfallen als bei Geringqualifizierten (labour-turnover-Ansatz). Damit ist aus Perspektive der Effizienzlohntheorien eine zusätzliche qualifikatorische Lohnungleichheit denkbar, die über die reinen produktivitätsbedingten Unterschiede der Humankapitaltheorie hinausgehen. Eine Anpassung der Löhne in wirtschaftlich schlechten Zeiten erscheint vor dem Hintergrund eines starken positiven Zusammenhangs zwischen Lohnhöhe und Produktivität ungeeignet, um die Personalkosten zu senken, da auf diese Weise auch die Produktivität und damit die Gewinne zurückgehen würden. Aus Sicht der Effizienzlohntheorie ist es daher rational, auch in rezessiven Phasen Löhne oberhalb des Marktniveaus zu zahlen und stattdessen über Entlassungen der geringqualifizierten Mitarbeiter Kosten einzusparen.
32
2.2.3
2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
Insider-Outsider-Theorie
Die Insider-Outsider-Theorie (Lindbeck und Snower 1988) fragt ebenso wie die vorherigen Ansätze nach den Gründen für die Persistenz von (unfreiwilliger) Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig rigiden Löhnen. Während in den bisherigen Ansätzen jedoch davon ausgegangen wurde, dass der zentrale Konflikt am Arbeitsmarkt in den gegensätzlichen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern liegt und dass letztere über die Lohnsetzungsmacht verfügen, geht die Insider-Outsider-Theorie hingegen davon aus, dass der zentrale Interessenkonflikt innerhalb der Arbeitnehmerschaften selbst vorliegt, wo eine Gruppe von Arbeitnehmern über die Lohnsetzungsmacht verfügt (Sesselmeier et al. 2010, S. 231). Dementsprechend unterscheiden Lindbeck und Snower (1988, 2001) drei Gruppen von Arbeitnehmern, die sich hinsichtlich ihrer Stellung am Arbeitsmarkt und dadurch in ihrer Verhandlungsposition unterscheiden: 1) Insider, die sich bereits seit Längerem in einem Beschäftigungsverhältnis befinden; 2) Entrants, die sich gerade in der Einarbeitungsphase befinden; 3) Outsider, die derzeit nicht beschäftigt aber arbeitssuchend sind. Des Weiteren lassen sich vier zentrale Annahmen der Insider-Outsider-Theorie festmachen: 1) Unternehmen sind mit Fluktuationskosten (labour turnover costs) konfrontiert, die sie nicht komplett an die Arbeitnehmerschaft weitergeben können; 2) Insider verfügen über eine gewisse Marktmacht; 3) Wenn Entrants lange genug im selben Unternehmen angestellt sind, werden diese voraussichtlich zu Insidern; 4) Die Entscheidungen über Einstellungen und Entlassungen werden einseitig von den Unternehmen getroffen (Lindbeck und Snower 2001, 166f.). Vor diesem Hintergrund stellt die Insider-Outsider-Theorie nun die Frage, warum – insbesondere in konjunkturellen Abschwüngen – die teuren Insider nicht durch günstigere Outsider unterboten und von ihnen ersetzt werden, und es stattdessen zu Lohnrigidität und unfreiwilliger Arbeitslosigkeit kommt und sich eben kein Gleichgewicht am Arbeitsmarkt einstellt. Die zentrale Annahme, die dieser Theorie zugrunde liegt, ist, dass die Insider ihre Marktmacht dafür nutzen, um ihre Löhne über das markträumende Niveau zu heben, indem sie die Kosten, die bei einem Austausch von Insidern durch Outsider entstehen würden, als sogenannte Lohnrenten teilweise abschöpfen können. Obwohl der Reservationslohn, zu dem die Outsider bereit wären zu arbeiten, deutlich unterhalb des Lohnniveaus der Insider liegt und diese hinsichtlich der Lohnkosten unterbieten, bleiben die Outsider dennoch arbeitslos. Ein Phänomen, welches sich durch die jeweilige Verhandlungsmacht der unterschiedlichen Beschäftigtengruppen (Insider, Outsider, Entrans) erklären lässt. Diese Verhandlungsmacht ergibt sich dabei aus der
2.2 Lohnbildungsprozesse in hierarchischen …
33
Art und Höhe der Kosten, die die jeweiligen Gruppen für das Unternehmen verursachen können oder bereits getan haben. Es lassen sich grob zwei Arten von Fluktuationskosten unterscheiden (Lindbeck und Snower 2001, S. 167): Zum einen produktionsbezogene Kosten, die bei der Suche nach und Einstellung von Arbeitskräften anfallen und direkt mit der Produktion verbunden sind. Darunter fallen unter anderem die Kosten, die für die Suche nach geeigneten Kandidaten anfallen, seien es direkte Suchkosten oder solche, die aufgrund der Vakanz der Stelle für die Dauer der Suche anfallen. Weiterhin entstehen Kosten bei der betrieblichen Ausbildung und Einarbeitung der Entrants. Zum anderen gibt es noch die Kosten, die nicht direkt mit dem Produktionsprozess zusammenhängen, sondern eher mit der Entlassung der Arbeitnehmer verbunden sind. Dazu zählen beispielsweise Abfindungen, Senioritätsregelungen oder etwaige Rechtsstreitigkeiten (Prozesskosten und Kündigungsschutzklagen) genauso wie solche Kosten, die indirekt durch die Entlassung von Mitarbeitern entstehen, beispielsweise durch eine mangelnde Kooperationsbereitschaft zwischen den bestehenden und den neu eingestellten Mitarbeitern, um so deren Produktivität möglichst gering zu halten. Dadurch entsteht ein Produktivitätsunterschied zwischen den alten und den neuen Mitarbeitern, der mit deutlichen Kosten für das Unternehmen einhergeht und es zukünftig daran hindern soll, bestehende Mitarbeiter durch vermeintlich günstigeren Outsider zu ersetzen. Die Insider sind nun dadurch charakterisiert, dass sie bereits Kosten in Form ihrer Einstellung und Einarbeitung verursacht haben. Im Falle einer Entlassung entstünden dem Unternehmen Kosten in Höhe ebenjener Investitionen in die Arbeitskraft, die sich bis zum Zeitpunkt der Entlassung noch nicht amortisiert haben. Aufgrund ihrer längeren Betriebszugehörigkeit und möglichen Senioritätsregelungen können zudem noch hohe Entlassungskosten entstehen – bis hin zu den eben angesprochenen Kooperationsverweigerungen der übriggebliebenen Insider. Im Vergleich dazu sind bei den Entrants zwar auch bereits gewisse Einstellungskosten angefallen, da sie sich aber noch in der Einarbeitungsphase befinden, halten diese sich noch in Grenzen, sodass im Falle einer Entlassung nur ein geringer Anteil der Kosten eines Insiders anfallen würde. Dies liegt vor allem daran, dass noch keine oder kaum Investitionen hinsichtlich des betrieblichen Humankapitals vorgenommen wurden. Auch fallen Entlassungskosten bei neuen Mitarbeitern, die sich noch in der Einarbeitungsphase befinden, selten an. Outsider verursachen dem Unternehmen hingegen keine Kosten, können dementsprechend aber auch keinen Druck auf die Unternehmen ausüben und befinden sich daher in der Hierarchie dieser drei Beschäftigtengruppen in der schwächsten Verhandlungsposition.
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
Vor diesem Hintergrund sind die Insider nun in der Lage, durch kooperatives, strategisches Handeln im Rahmen von Lohnverhandlungen einen Teil dieser Fluktuationskosten abzuschöpfen. Je höher die anfallenden Fluktuationskosten im Falle eines Personalwechsels, desto höher sind auch die potenziellen Lohnrenten, d. h. die Differenz zwischen dem Reallohn und dem markträumenden Gleichgewichtslohn. Insider können so einen nicht-markträumenden Lohnsatz erzwingen und dadurch unfreiwillige Arbeitslosigkeit verursachen. Entrants besitzen dieses Maß an Verhandlungsmacht aufgrund ihrer geringen Betriebszugehörigkeitsdauer und damit einhergehenden geringen Fluktuationskosten im Falle einer Entlassung noch nicht. Das Ersetzen eines Insiders durch einen Outsider ist für das Unternehmen daher nur dann ökonomisch rational, wenn die dadurch entstehenden Fluktuationskosten durch den geringeren Anspruchslohn der Outsider mindestens kompensiert wird. Die Existenz von Outsidern ist somit kein wirkungsvolles Druckmittel auf die Insider, solange deren Löhne nicht die Anspruchslöhne der Outsider zuzüglich der Fluktuationskosten überschreiten (Sesselmeier et al. 2010, S. 232). Anhand des Kostenarguments lassen sich mit der Insider-OutsiderTheorie auch alters- und qualifikationsspezifische Lohnunterschiede und damit die Existenz von Lohnstrukturen erklären: Je höher das Qualifikationsniveau und das betriebsspezifische Wissen der Arbeitskraft ausfallen, desto größer sind die Fluktuationskosten im Falle einer Entlassung oder einer Kündigung seitens der Arbeitskraft, woraus sich wiederum eine stärkere Verhandlungsmacht innerhalb der individuellen Lohnverhandlungen ergibt, die in durchschnittlich höheren Löhnen resultiert. Arbeitnehmer mit geringen und sehr allgemeinen Fähigkeiten, die relativ kostengünstig und problemlos auszutauschen sind, erzeugen hingegen kaum kosten, weshalb ihre Verhandlungsmacht, und dementsprechend auch deren Löhne, deutlich geringer ausfallen. Geht man auch in diesem Falle wieder von einem positiven Zusammenhang zwischen der Betriebszugehörigkeit und dem Qualifikationsniveau aus, so ist auch damit zu rechnen, dass ältere Arbeitnehmer in der Regel eine längere Betriebszugehörigkeit aufweisen als junge Arbeitsmarkteinsteiger und dementsprechend auch eine bessre Verhandlungsposition haben, die zum Teil durch institutionelle Regelungen wie dem Senioritätsprinzip noch weiter gestärkt werden kann. Hinsichtlich der Auswirkungen von Absatzkrisen und Nachfrageschocks, kann mit der Insider-Outsider-Theorie davon ausgegangen werden, dass selbst eine hohe Arbeitslosigkeit kein wirkungsvolles Druckmittel gegenüber den Insidern darstellt, solange deren Löhne nicht die Anspruchslöhne der Outsider zuzüglich der Fluktuationskosten, die mit ihrer Entlassung einhergingen, überschreitet (ebd., S. 232). Sollten sich vor dem Hintergrund einer Krise hingegen
2.3 Lohnbildungsprozesse in Teilarbeitsmärkten: Segmentationsansätze
35
die Anspruchslöhne der Outsider nach unten hin verschieben oder gar die entlassungsbezogenen Fluktuationskosten sinken (beispielsweise, indem gesetzliche Vorschriften bezüglich des Kündigungsschutzes oder der Abfindungszahlungen gelockert werden), können Insider auf unterschiedliche Weise darauf reagieren. Beispielsweise können Insider die höhere Kooperationsbereitschaft untereinander nutzen, um kollektiv auf einen Teil des Lohns zu verzichten und so die Arbeitsplätze zu sichern. Dies setzt allerdings voraus, dass alle Insider auch denselben Entlassungsrisiken ausgesetzt sind. Sollte es, beispielsweise im Zuge von Senioritätsregelungen, dazu kommen, dass eine bestimmte Arbeitnehmergruppen ein geringeres Entlassungsrisiko aufweist, wird deren Bereitschaft zum Lohnverzicht ebenfalls geringer ausfallen. (ebd., S. 234). In diesem Fall ist vor allem davon auszugehen, dass sich mit zunehmender Berufserfahrung und Betriebszugehörigkeit sowohl die Arbeitsplatzsicherheit als auch die Lohnhöhe konstant gehalten werden kann, allerdings auf Kosten derjenigen, die nicht über das gleiche Maß an Betriebszugehörigkeit oder Berufserfahrung verfügen. Die soeben vorgestellten PAA haben die Bedeutung von Arbeitsorganisationen für den Prozess der Lohnbildung bereits herausgearbeitet. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Strukturierung von Arbeitsmärkten, indem durch langfristige Arbeitsverhältnisse in hierarchischen Arbeitsorganisationen bestimmte Positionen vor Konkurrenz und Wettbewerb abgeschirmt werden und damit die Logik des Marktes teilweise außer Kraft gesetzt wird (Hinz und Abraham 2018, S. 60). Dieser Aspekt der Strukturierung und Segmentierung von Arbeitsmärkten wird in den folgenden, stärker soziologisch ausgerichteten Ansätzen als zentraler Erklärungsfaktor noch weiter in den Fokus rücken.
2.3
Lohnbildungsprozesse in Teilarbeitsmärkten: Segmentationsansätze
In Abgrenzung zu den neoklassischen Arbeitsmarktmodellen, die primär marktliche Koordinierungs- und Allokationskriterien (Angebot und Nachfrage) in den Mittelpunkt stellen, betrachten institutionalistische und soziologische Ansätze hingegen stärker die Auswirkungen historisch gewachsener Institutionen und sozialer Beziehungsgeflechte sowie den Einfluss von Machtbeziehungen auf die Tauschund Aushandlungsprozesse (Weingärtner 2019, S. 63). Dabei wird jedoch die Logik des Marktes nicht grundsätzlich abgelehnt. Es kommt jedoch zu zentralen Abweichungen von der Vorstellung, dass Löhne einzig und allein eine Kompensationsfunktion für erbrachte Arbeitsleistung seien und Lohnunterschiede lediglich funktional begründet wären (Gangl 2018, S. 275). Die
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
institutionalistischen und soziologischen Segmentationsansätze beziehen daher solche Faktoren mit ein, die in den mikroökonomischen Modellen entweder als exogen oder als nicht das ökonomische Entscheidungskalkül betreffend betrachtet werden (Sesselmeier et al. 2010, S. 315). Da Marktmacht eine zentrale Rolle in diesen Ansätzen einnimmt, werden Löhne somit nicht allein als Preismechanismus, sondern zusätzlich als ökonomische Renten betrachtet, die Ausdruck von relativen Machtpositionen zu Gunsten einer der Arbeitsmarktparteien sind (Gangl 2018, S. 276). Bei den segmentationstheoretischen Ansätzen handelt es sich eher um ein „Konglomerat von Theoremen“ (Lutz 1987, S. 1) denn um eine eigenständige Theorie, die in der Institutionenökonomik und der Arbeitsmarktsoziologie ihren Ursprung haben und als Reaktion auf das Unvermögen der neoklassischen Theorie, bestimmte Phänomene am Arbeitsmarkt ohne die Zuhilfenahme institutioneller Faktoren erklären zu können, entwickelt worden sind (Doeringer und Piore 1971, S. 1). Daher verfolgen sie das Ziel, eine möglichst realitätsnahe und empirisch fundierte Darstellung des Arbeitsmarktgeschehens als Gegenentwurf zum abstrakten Arbeitsmarktmodell der Neoklassik zu liefern. Dies gelingt ihnen, indem sie unter anderem historische, soziale, rechtliche und institutionelle Faktoren einbeziehen (Sesselmeier et al. 2010, 274f.). Das konstituierende Element aller Segmentationsansätze ist die Annahme einer Unterteilung des Gesamtarbeitsmarktes in Teilarbeitsmärkte oder Segmente, die relativ stark voneinander abgeschirmt sind und die mit jeweils unterschiedlichen Allokations- und Entlohnungsmechanismen einhergehen, die wiederum nicht ausschließlich über den Preismechanismus erfolgen (Groß 2008, S. 163). Die einzelnen Teilarbeitsmärkte oder Segmente lassen sich demnach unterschiedlichen Steuerungsprinzipien wie „Organisation“ oder „Markt“ zuordnen (Krause und Köhler 2012, 12f.). Die zentrale These ist, dass diese spezifischen Steuerungsprinzipien sowohl die Struktur der einzelnen Segmente als auch die daraus resultierenden Allokations-, Qualifikations- und Entlohnungsmuster bedingen (ebd., S. 13). Im Folgenden wird zunächst auf das Konzept dualer Arbeitsmärkte von Doeringer und Piore (1971) eingegangen, die die Existenz von internen und externen Arbeitsmärkten sowie von primären und sekundären Segmenten anhand des USamerikanischen Arbeitsmarktes beschreiben und erklären. Darauf aufbauend wird der dreiteilige Segmentationsansatz von Lutz (1987) und Sengenberger (1987, 1978a) vorgestellt, bei dem der berufsfachliche Arbeitsmarkt eine besondere
2.3 Lohnbildungsprozesse in Teilarbeitsmärkten: Segmentationsansätze
37
Berücksichtigung findet. Abschließend wird in einem dritten Schritt die den Segmentationsansätzen innewohnende Unterscheidung zwischen Stamm- und Randbelegschaft explizit herausgearbeitet und was diese Spaltung der Belegschaften für die Lohnungleichheit bedeutet.
2.3.1
Duale Arbeitsmarkttheorie
Die duale Arbeitsmarkttheorie (Doeringer und Piore 1971) geht von einer horizontalen und einer vertikalen Spaltung des Gesamtarbeitsmarktes aus (Köhler et al. 2008, S. 11). In der horizontalen Dimension lassen sich dabei interne und externe Arbeitsmärkte differenzieren, die sich hinsichtlich ihrer Funktionsprinzipien unterscheiden: Ein interner Arbeitsmarkt ist Doeringer und Piore folgend eine administrative Einheit, innerhalb derer die Alloaktions- und Lohnsetzungsmechanismen sowie die Ausbildung der Arbeitskräfte über institutionelle Regeln bestimmt werden (Doeringer und Piore 1971). Die Prozesse der Allokation, Qualifikation und Gratifikation sind daher primär durch die Logik der Erwerbsorganisation und Hierarchie statt durch Marktkräfte bestimmt (Krause und Köhler 2012, S. 13; Weingärtner 2019, S. 101). Das bedeutet zugleich, dass wenn die Allokation und die Lohnfestsetzung durch institutionalisierte und administrative Entscheidungsprozesse erfolgt, die Anpassung von Arbeitsangebot und -nachfrage nicht mehr über die Löhne erfolgen kann (Doeringer und Piore 1971, S. 33). Daraus ergibt sich des Weiteren, dass das Lohnniveau und die Aufstiegschancen eher an den Arbeitsplatz und weniger an die Arbeitsplatzinhaber und dessen Produktivität gekoppelt (Keller 1993, S. 104). Interne Arbeitsmärkte sind des Weiteren durch interne Mobilitätsketten nach dem Senioritätsprinzip und klare Laufbahnsysteme gekennzeichnet sowie durch interne Systeme der Weiterqualifizierung. Externe Arbeitsmärkte funktionieren hingegen gemäß der neoklassischen Theorie, d. h., die Gesetze des Marktes (Angebot und Nachfrage) bestimmen sowohl die Allokation und Ausbildung der Arbeitskräfte als auch deren Entlohnung (Doeringer und Piore 1971, S. 2). Sie zeichnen sich des Weiteren durch kürzere Betriebszugehörigkeiten und zwischenbetrieblicher statt innerbetrieblicher Mobilität aus. Zwischen diesen beiden Segmenten bestehen relativ hohe Mobilitätsbarrieren, sodass ein Austausch zwischen den beiden Segmenten bzw. der Zugang zum internen Arbeitsmarkt nur an bestimmten Ein- und Austrittspositionen (ports of entry) möglich sind (ebd., S. 2). Nachbesetzungen von freien Stellen erfolgen dabei über die Rekrutierung von Arbeitskräften, die bereits dem
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
internen Arbeitsmarkt angehören. Dementsprechend sind alle weiteren Positionen innerhalb des internen Arbeitsmarktes vom direkten Einfluss des externen Marktes abgeschottet, womit sich in der Regel relativ stabile Beschäftigungsverhältnisse innerhalb von internen Arbeitsmärkten ergeben. Interne und externe Arbeitsmärkte können dabei sowohl innerhalb von Betrieben verlaufen als auch zwischen ihnen (Keller und Seifert 2013, S. 98). Die Entstehung von internen Arbeitsmärkten wird in der dualen Arbeitsmarkttheorie als die logische Konsequenz der Notwendigkeit von betriebsspezifischen Fähigkeiten und Wissen sowie „on-the-job-training“ innerhalb von wettbewerbsorientierten Märkten begründet (Doeringer und Piore 1971, 15ff.). Betriebsspezifische Fähigkeiten, in Anlehnung an die Humankapitaltheorie (Becker 1964), sind solche, die nur in einem einzigen Unternehmen genutzt werden können. Im Gegensatz dazu sind allgemeine Fähigkeiten zwischen vielen Unternehmen übertragbar und werden daher bei einem Arbeitsplatzwechsel nicht entwertet. Die Unternehmen müssen den Arbeitskräften jedoch gewisse Anreize bieten, damit diese sich das betriebsspezifische Wissen unter Einsatz von Zeit und Anstrengungen, auch aneignen wollen, wo es auch Sicht der Arbeitskräfte doch rationaler wäre, sich allgemeine Fähigkeiten anzueignen, da ein Großteil des betriebsspezifischen Wissens nicht transferierbar ist und somit die Verhandlungsposition der Arbeitskraft bei einem Arbeitsplatzwechsel schwächt (Gangl 2018, S. 294). Die Wirkungsweise der Qualifikationsspezifität ist dabei zweifach: Einerseits bringt sie die Arbeitgeber (und nicht die Arbeitnehmer) dazu, in betriebliche Ausbildung zu investieren. Zum anderen ermutigt diese Betriebsspezifizität der Ausbildung die Arbeitgeber dazu, stabile Beschäftigungsverhältnisse einzurichten, die die Fluktuation der Arbeitskräfte begrenzen sollen, damit sich die Investitionen in das betriebsspezifische Humankapital der Beschäftigten für das Unternehmen rentieren (Doeringer und Piore 1971, 15ff.). Die innerbetriebliche Ausbildung ist dabei durch ein hohes Maß an Informalität gekennzeichnet. Sie geschieht quasi beiläufig „on-the-job“. Aufgrund der hohen Spezifizität bestimmter Fähigkeiten oder Wissensinhalte, die im Kontext einer formalen Ausbildung nur schwer unterzubringen sind, ist die direkte Ausbildung am Arbeitsplatz daher die einzige Möglichkeit, die Fertigkeiten und das Wissen von einen auf den anderen Arbeitnehmer zu übertragen (ebd., 24ff.). Damit diese informelle und betriebsinterne Wissensvermittlung auch funktioniert, ist die Bereitschaft der Beschäftigten, ihr Wissen auch an neue Arbeitnehmer weiterzugeben, die zentrale Voraussetzung. Um dies zu ermöglichen versuchen die Unternehmer die Lohnkonkurrenz zwischen den Arbeitskräften, die auf freien Wettbewerbsmärkten vorherrscht, soweit wie möglich einzuschränken, da andernfalls die bestehenden Mitarbeiter kein rationales Interesse
2.3 Lohnbildungsprozesse in Teilarbeitsmärkten: Segmentationsansätze
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daran hätten, ihr Wissen an potenzielle Konkurrenten weiterzugeben (Sesselmeier et al. 2010, S. 286). Durch unterschiedliche administrative Regeln und institutionelle Schließungsprozesse gelingt den Unternehmen somit die Strukturierung von internen Arbeitsmärkten, die von der direkten Konkurrenz gegenüber dem externen Arbeitsmarkt abgeschottet sind. Senioritätsregelungen und Mobilitätsketten sichern den erfahrenen Arbeitnehmern zudem ein hohes Maß an Arbeitsplatzsicherheit und Aufstiegsmöglichkeiten. Im Hinblick auf die vertikale Dimension der dualen Arbeitsmarkttheorie lassen sich nach Doeringer und Piore (1971) weiterhin (und im Anschluss an das Konzept der dualen Ökonomie) primäre Segmente („good jobs“) und sekundäre Segmente („bad jobs“) unterscheiden, die durch unterschiedliche Verdienst- und Beschäftigungsrisiken charakterisiert sind: Während primäre Segmente durch hohe Löhne, gute Arbeitsbedingungen, Aufstiegschancen sowie eine hohe Beschäftigungsstabilität gekennzeichnet sind, weisen sekundäre Segmente genau das Gegenteil auf: tendenziell niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen, eine hohe Fluktuation unter den Arbeitnehmern und nur geringe Aufstiegschancen (ebd., S. 264). Vor dem Hintergrund einer vertikalen und einer horizontalen Dimension der Arbeitsmarktsegmentation ergeben sich somit vier Felder möglicher Arbeitsmarktsegmente, wobei sich die duale Arbeitsmarkttheorie insbesondere auf den primären-internen und den sekundären-externen Arbeitsmarkt fokussiert.
2.3.2
Dreigeteilter Segmentationsansatz
Während das für den US-amerikanischen Arbeitsmarkt entwickelte duale Arbeitsmarktmodell insbesondere den primären-intern und den sekundären-extern Arbeitsmarkt in den Vordergrund stellt, haben insbesondere Sengenberger (1987) und Lutz (1987), vor dem Hintergrund des bundesrepublikanischen Arbeitsmarktes ein dreigeteiltes Arbeitsmarktmodell entwickelt, das insbesondere die Rolle des primären-externen Arbeitsmarktes hervorhebt. Sie unterscheiden dabei drei unterschiedliche Teilarbeitsmärkte, die sich anhand der vorherrschenden Qualifikationsprobleme bzw. Qualifikationsanforderungen differenzieren lassen und damit in der Tradition der Humankapitaltheorie stehen (Lutz und Sengenberger 1974; Lutz 1987; Sengenberger 1987): Der Jedermanns-Arbeitsmarkt besteht aus sehr geringen und (fachlich wie betrieblich) unspezifischen Qualifikationsanforderungen und entspricht in etwa dem sekundären-externen Segment der dualen Arbeitsmarkttheorie. Die Allokations- und Entlohnungsprozesse erfolgen hier wie im neoklassischen
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
Grundmodell über den Preismechanismus von Angebot und Nachfrage und folgen damit der Logik des Marktes. Weiterhin ist dieser Teilarbeitsmarkt durch hohe Einkommens- und Beschäftigungsrisiken in Form von geringen Löhnen, fehlender Aufwärtsmobilität und hohen Fluktuationsraten gekennzeichnet. Der betriebsinterne Arbeitsmarkt zeichnet sich hingegen durch eine starke Bindung zum Betrieb sowie ein hohes Maß an betriebsspezifischen Qualifikationsanforderungen gegenüber den Beschäftigten aus. Als Gegenleistung für eine hohe Loyalität und Bindung gegenüber dem Unternehmen bestehen bestimmte Privilegien für Arbeitskräfte wie gute Qualifizierungs- und Aufstiegschancen, Senioritätsrechte und langfristige Beschäftigungsperspektiven. Hier finden sich vor allem Arbeitskräfte mit hohen betriebsspezifischen und tendenziell geringen überbetrieblichen Qualifikationen. Aufgrund der geringen Transferierbarkeit von betriebsspezifischen Qualifikationen und der hierarchischen Organisation betriebsinterner Arbeitsmärkte, ist die zwischenbetriebliche Mobilität stark begrenzt. Es besteht jedoch eine hohe innerbetriebliche Mobilität in Form von Karriereleitern, die teilweise entkoppelt sind vom Leistungsprinzip zugunsten des Senioritätsprinzips. Der betriebsinterne Teilarbeitsmarkt entspricht dabei dem primären-internen Segment. Der berufsfachliche Arbeitsmarkt geht vornehmlich mit berufsfachlichen Qualifikationsanforderungen einher. Im Gegensatz zum betriebsinternen Arbeitsmarkt stehen hier Investitionen in standardisierte und relativ breit angelegte fachliche Qualifikationen im Vordergrund, die im Rahmen von formalen und normierten Ausbildungsgängen erworben werden, die überbetrieblich organisiert und kontrolliert werden. Anhand dieser berufsfachlichen Qualifikationen herrscht ein hohes Maß an zwischenbetrieblicher Mobilität, da das Wissen und die Fähigkeiten dank einem hohen Maß an Standardisierung relativ leicht zwischen den Betrieben transferiert werden kann. Für die Unternehmen geht dies wiederum mit dem Vorteil einher, dass sie ohne große Transaktionskosten (in Form von Einarbeitung oder verlorenen Investitionen in betriebsspezifisches Humankapital) Personal aufund abbauen können. Im Gegensatz zum Jedermanns-Arbeitsmarkt herrscht hier jedoch eine hohe Beschäftigungssicherheit, die zwar nicht durch die Bindung zum Unternehmen erfolgt, sondern über einen überbetrieblich strukturierten Arbeitsmarkt gewährleistet ist. Marktmechanismen und institutionelle Reglementierung sind im berufsfachlichen Arbeitsmarktsegment in etwa ausgewogen. Teilarbeitsmärkte zeichnen sich somit als abgegrenzte Struktureinheit des Gesamtarbeitsmarktes aus, die durch bestimmte (qualifikatorische) Merkmale der Arbeitskräfte konstituiert werden und bestimmten Regelungen hinsichtlich der Allokation, Gratifikation und Qualifizierung unterliegen (Sengenberger 1978a, S. 39). Sie zeichnen sich weiterhin durch unterschiedliche Mobilitätsmuster
2.3 Lohnbildungsprozesse in Teilarbeitsmärkten: Segmentationsansätze
41
und -barrieren aus, die in Abhängigkeit von der Art und Höhe der getätigten Humankapitalinvestitionen der Betriebe mit unterschiedlichen Kosten einhergehen. Insgesamt lassen sich die Arbeitsmarktsegmente als Bereiche des Gesamtarbeitsmarktes abgrenzen, in denen spezifische Mobilitätsmuster sowie spezifische Entlohnungsmechanismen vorherrschen (Groß 2008, S. 166). Die einzelnen Segmente bzw. Teilarbeitsmärkte des dualen sowie dreigeteilten Segmentationsansatzes sind in Tabelle 2.1 noch einmal zusammenfassend dargestellt worden. Was in diesen klassischen Segmentationsansätzen allerdings oft unberücksichtigt bleibt, ist die Tatsache, dass auch innerhalb von internen Arbeitsmärkten ein sekundäres Segment existieren kann, beispielsweise dort, wo eine hohe Beschäftigungssicherheit mit unterdurchschnittlichen Löhnen und schlechten Karriereaussichten einhergeht (Krause und Köhler 2012, S. 13). Ein Beispiel hierfür können einfache (Hilfs-)Tätigkeiten (Reinigung, Küche, Wachdienst) in größeren öffentlichen Betrieben sein, die trotz ihrer „Jedermanns-Qualifikation“ durch die institutionalisierte Geschlossenheit des öffentlichen Dienstes stärker abgesichert sind als in externen Teilarbeitsmärkten (Köhler et al. 2008, S. 43). Tabelle 2.1 Arbeitsmarktsegmente
Primär
Intern
Extern
Betriebsinterner Arbeitsmarkt Betriebsspezifische Qualifikationen
Berufsfachlicher Arbeitsmarkt Berufsfachliche Qualifikationen
Sekundär
Jedermanns-Arbeitsmarkt Unspezifische Qualifikationen
Quelle: Eigene Darstellung nach Sengenberger (1987).
2.3.3
Stamm- und Randbelegschaft
Den klassischen Segmentationsansätzen ist gemein, dass sie vor dem Hintergrund der beschriebenen Arbeitsmarktstrukturen (duale Spaltung und Dreiteilung) eine Polarisierung der Beschäftigungsstruktur nach verschiedenen Arbeitnehmergruppen folgern (Sesselmeier et al. 2010, S. 288). Dies bezieht sich insbesondere auf die Annahme der vertikalen Segmentation des Arbeitsmarkts in primäre und sekundäre Segmente, die durch eine systematische Spaltung der Belegschaft in einen betrieblichen und einen Jedermanns-Arbeitsmarkt gekennzeichnet ist, die mit unterschiedlichen Verdienst- und Beschäftigungschancen bzw. -risiken verbunden sind (Sengenberger 1987, S. 269). Demnach lässt sich sowohl begrifflich als auch konzeptionell die Stammbelegschaft von der Randbelegschaft unterscheiden: Die Stammbelegschaft zeichnet
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
sich durch eine hohe und dauerhafte Bindung zum Betrieb aus und setzt sich dementsprechend aus Arbeitnehmern zusammen, die wegen ihrer spezifischen Qualifikationen und Fähigkeiten für das Funktionieren des Unternehmens von zentraler Bedeutung sind (ebd., S. 269). Arbeitskräfte bzw. Arbeitsplätze in der Stammbelegschaft gehen mit höheren Löhnen, stabileren Beschäftigungsverhältnissen und besseren Aufstiegschancen einher (Sesselmeier et al. 2010, S. 289). Zudem zeichnen sie sich durch ihr hohes Maß an betrieblicher Loyalität und Bindung als sehr konzessionsbereit aus (Köhler et al. 2008, S. 18). Grundsätzlich entsprechen die Beschäftigungsverhältnisse der Stammbelegschaften dem, was unter einem „Normalarbeitsverhältnis“ (Mückenberger 1985) verstanden werden kann, d. h., in erster Linie unbefristete, geschützte und gut entlohnte Vollzeittätigkeiten (Dütsch und Struck 2011, S. 253). Diese werden aufgrund ihrer spezifischeren Fähigkeiten und größeren Berufserfahrung in erster Linie von Arbeitnehmern mit mittleren und hohen Qualifikationen sowie von tendenziell älteren Arbeitnehmern wahrgenommen. Es wird somit von einer „Kumulation von Vorteilen“ (Groß 2015, S. 134) ausgegangen, d. h., dass die ohnehin schon vorteilhaften Marktpositionen (hochqualifiziert und berufserfahren) dieser Arbeitnehmergruppe zusätzlich noch mit strukturellen Privilegien (Tarifbindung, Kündigungsschutz, Senioritätsregelungen) einhergehen. Die Stammbelegschaft lässt sich in Anlehnung an das Konzept des dreigeteilten Arbeitsmarktes auch noch weiter differenzieren, und zwar in eine unternehmenszentrierte bzw. fachzentrierte Stammbelegschaft, die mit den betriebsinternen bzw. berufsfachlichen Teilarbeitsmärkten korrespondiert (Dostal 1998). Die Randbelegschaft bildet jenes Arbeitskräftesegment, dass mit hoher Diskontinuität und entsprechend geringer Bindung gegenüber dem Betrieb einhergeht (Sengenberger 1987, S. 269). Dementsprechend tragen sie die Hauptlast von Personalanpassungen in wirtschaftlich schlechten Zeiten und weisen somit ein hohes Beschäftigungsrisiko auf (Köhler und Preisendörfer 1988, S. 269). Um diese hohe Flexibilität der Randbelegschaft zu gewährleisten, sind die qualifikatorischen Ansprüche an die Beschäftigten relativ gering, sodass diese in der Regel Jedermanns-Qualifikationen aufweisen (ebd., S. 289). Aufgrund der niedrigen Qualifikationsanforderungen und ihrer zumeist untergeordneten Positionen innerhalb der betrieblichen Hierarchie werden sie demgemäß auch geringer entlohnt und weisen geringere Aufstiegschancen auf, weshalb sie auch langfristig auf diesen untergeordneten Positionen verharren (Köhler und Preisendörfer 1988, S. 269). Arbeitnehmer der Randbelegschaft zeichnen sich daher vor allem durch geringe Qualifikationsprofile sowie durch atypische Beschäftigungsverhältnisse,
2.3 Lohnbildungsprozesse in Teilarbeitsmärkten: Segmentationsansätze
43
d. h. durch Befristungen und Teilzeit, aus1 . Auch Jugendliche können als sogenannte „Entrants“ Teil der Randbelegschaft sein, solange sie sich noch in der Probe- oder Einarbeitungszeit befinden, also an den „ports of entry“ des internen Arbeitsmarktes, und somit erst am Anfang beruflicher Mobilitätsketten stehen. Begründet wird die Existenz von Stamm- und Randbelegschaften von den Segmentationsansätzen vor allem damit, dass die hohe Beschäftigungssicherheit und Unternehmensbindung, die die internen Arbeitsmärkte charakterisieren, auch Risiken mit sich bringen, und zwar in der Gestalt, dass in rezessiven Phasen weder das Lohnniveau noch die Beschäftigungsstruktur an die wirtschaftlichen Veränderungen angepasst werden können (Sengenberger 1987, S. 271). Die dadurch entstandenen Nachteile für das Unternehmen lassen sich durch den Rückgriff auf die Arbeitskräfte des betriebsexternen Arbeitsmarktes – die Randbelegschaft – größtenteils kompensieren, die dadurch eine Pufferfunktion erhalten (Lutz 1987, 270f.). Die Differenzierung nach Stamm- und Randbelegschaft ist also als eine unternehmerische Strategie zu sehen, die eine höhere Anpassungsflexibilität in betrieblichen Arbeitsmärkten ermöglicht und damit ökonomisch rational ist. Auf diese Weise können die Nachteile des Vorhandenseins einer Stammbelegschaft reduziert werden, ohne die mit der Schließung des betriebsinternen Arbeitsmarktes erzeugten Vorteile zu verlieren. Hinsichtlich der Lohnbildung und Lohnverteilung kann angenommen werden, dass eine stärkere Spaltung der Belegschaften in Stamm- und Rand auch Auswirkungen auf die Lohnungleichheiten hat. Zum einen führt sie zu einer stärkeren Polarisierung der Verdienste, durch höhere Löhne an den oberen und niedrigeren Löhnen am unteren Ende der Verteilung, was zugleich mit größeren Lohnungleichheiten einhergeht. Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass die Anpassungen der Belegschaft bei Nachfrageschwankungen nicht egalitär und gleichermaßen über alle Arbeitskräfte erfolgt. Durch die Spaltung in gesicherte und „wichtige“ Positionen auf der einen und ungesicherte und tendenziell „austauschbare“ Positionen auf der anderen Seite, entstehen asymmetrische Anpassungslasten, die häufig zuungunsten der Randbelegschaft ausfallen. Überproportionale Lohnkürzungen bzw. Freisetzungen der Randbelegschaften führen somit zu einer stärkeren Spreizung bzw. Kompression der Lohnverteilung und damit zu Veränderungen hinsichtlich der aggregierten Lohnungleichheit.
1 Was
nicht automatisch bedeutet, dass jeder Arbeitnehmer in Teilzeit oder mit einem befristeten Vertrag zur Randbelegschaft gehört. Gerade hochqualifizierte Fachkräfte in der IT oder Wissenschaft gehen oft mit hohen Löhnen und Karrierechancen einher. Es geht hierbei also vor allem um die Kombination aus geringen Qualifikationen und hoher Unsicherheit.
44
2.4
2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
Zusammenfassung
Das Ziel dieses Kapitels war es die Prozesse der Lohnbildung und Lohnverteilung aus arbeitsmarkttheoretischer Perspektive zu beleuchten, um so einen theoretischen Unterbau für die Analyse der Dynamiken von Lohnungleichheiten in Zeiten der Krise zu erhalten. Dabei wurden sowohl mikroökonomische sowie institutionalistische und soziologische Arbeitsmarkttheorien gesichtet und auf ihren Erklärungsbeitrag hin verglichen. Es wurde gezeigt, dass diese Ansätze sich nicht notwendigerweise widersprechen, sondern stattdessen auf unterschiedliche Aspekte des Lohnbildungsprozesses fokussieren und sich somit durchaus ergänzen. In so gut wie allen Ansätzen spielte die (allgemeine oder spezifische) Qualifikation sowie die Bindung zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen eine zentrale Rolle für das Niveau und die Verteilung von Löhnen. Lediglich in ihrer Herleitung unterscheiden sich die Ansätze. Aus Sicht der Humankapitaltheorie steht das Qualifikationsniveau in einem direkten Zusammenhang mit der Produktivität der Arbeitskraft, weswegen höhere Löhne Ausdruck einer höheren marginalen Produktivität sind. Je spezifischer diese Qualifikationen ausfallen, desto stärker fällt zudem die Bindung zwischen Arbeitnehmer und Unternehmer aus, da letzterer auf diese Fähigkeiten angewiesen ist. Diese Bindung wird zum einen durch überdurchschnittliche Löhne und zum anderen durch die Zusage einer höheren Beschäftigungssicherheit gewährleistet. Auf diese Weise entstehen nicht nur qualifikationsspezifische Lohnstrukturen, sondern auch Entlassungsmuster. In Krisenzeiten kann dies also zu einem überproportionalen Wegfall unterdurchschnittlich entlohnter Arbeitnehmer führen, was gleichzeitig mit einer Kompression der Lohnverteilung und sinkenden Lohnungleichheiten einhergeht, während hochqualifizierte Arbeitnehmer eher erhalten bleiben. Zu denselben Erkenntnissen kommen auch die Prinzipal-Agent-Ansätze, jedoch führen sie diese nicht allein auf qualifikationsspezifische Produktivitätsunterschiede zurück, sondern auf das Problem der Leistungskontrolle, die gerade im Falle von hoch spezialisierten und komplexen Tätigkeiten kaum umsetzbar ist. Aus diesem Grund werden Effizienzlöhne gezahlt, um die Motivation und Leistungsbereitschaft der Arbeitskräfte sicherzustellen, was wiederum mit einem zusätzlich über die Produktivitätsunterschiede hinausgehenden Verdienstunterschied zwischen gering und höher qualifizierten Arbeitnehmern einhergeht. Zusätzlich wird über Arbeitsverträge die relative Dauerhaftigkeit der Beschäftigungsverhältnisse sichergestellt, um gerade die hochqualifizierten Arbeitnehmer an das Unternehmen zu binden. Insbesondere aus Sicht der Insider-OutsiderTheorie wurde deutlich, dass selbst eine hohe Arbeitslosigkeit kein wirkungsvolles Druckmittel gegenüber Arbeitsmarkt-Insidern ist, um deren Löhne zu senken
2.4 Zusammenfassung
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oder sie gegen günstigere Arbeitsmarkt-Outsider auszutauschen. Die hohen Fluktuationskosten, die mit solch einem Austausch einhergehen würden, schützen die Insider weitestgehend vor der Konkurrenz der Outsider, sodass es sich für die Unternehmen als rational erweist, die reguläre Belegschaft selbst in Krisenzeiten zu halten. Als besonders anschlussfähig, im Sinne eines theoretischen Unterbaus für diese Arbeit, haben sich aber vor allem die institutionalistischen Segmentationsansätze erwiesen, die sowohl eine humankapitaltheoretische Fundierung besitzen als auch zentrale Elemente der Prinzipal-Agent-Ansätze aufgreifen. Die Annahme einer Gliederung des Gesamtarbeitsmarktes in unterschiedliche Teilarbeitsmärkte oder Segmente, die mit jeweils eigenen Allokations- und Entlohnungsmechanismen einhergehen und dadurch unterschiedliche Lohnstrukturen hervorbringen, eignet sich als „heuristisches Analyseinstrument“ (Köhler et al. 2008, 61) für diese Studie in besonderem Maße. Dies hat drei Gründe: Erstens liegt der Fokus der Segmentationsansätze, im Vergleich zu den mikroökonomischen Theorien, stärker auf den historisch gewachsenen, rechtlichinstitutionellen Besonderheiten der Arbeitsmärkte, die zu nationalspezifischen Segmentationsmustern beitragen. Dadurch ermöglichen Segmentationsansätze ländervergleichende Analysen von Arbeitsmarktprozessen, die für eine europäische Perspektive auf die Dynamiken von Lohnungleichheiten unerlässlich sind. Zudem lassen sich so Veränderungen in den Arbeitsmarktstrukturen auf Verschiebungen von Machtverhältnissen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zurückführen als auch auf politische Reformbemühungen der rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen (Keller und Seifert 2013, S. 97), die von mikroökonomischen Ansätzen externalisiert werden und damit weitestgehend unberücksichtigt bleiben. Zweitens erlauben Segmentationsansätze somit eine (vorsichtige) Verknüpfung von nationalspezifischen Strukturen und Dynamiken auf dem Gesamtarbeitsmarkt und den personalpolitischen Entscheidungsprozessen auf der betrieblichen Ebene. Auf diese Weise können die Dynamiken von Lohnungleichheiten als Verschiebungen innerhalb sowie zwischen den Teilarbeitsmärkten interpretiert werden. Drittens lässt sich die Spaltung des Gesamtarbeitsmarktes in interne/externe sowie primäre/sekundäre Segmente und in betriebliche Segmentationslinien übersetzen. Das gelingt mit Hilfe des Konzepts der Stamm- und Randbelegschaft, die die strukturell bedingten Spannungsverhältnisse zwischen unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen innerhalb von Betrieben sowie deren unterschiedlichen Beschäftigungs- und Entlohnungschancen bzw. -risiken zum Ausdruck bringen (Köhler et al. 2008, S. 148).
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2 Theoretischer Hintergrund: Lohnbildungsprozesse …
Die theoretische Grundannahme lautet daher, dass die nationalspezifischen, rechtlich-institutionellen Rahmen von Arbeitsmarktprozessen mit unterschiedlichen Segmentationsmustern auf dem Arbeitsmarkt einhergehen, die sich auf betrieblicher Ebene in Form von Stamm- und Randbelegschaften widerspiegeln. Veränderungen in der Lohnungleichheit während der Krise lassen sich dementsprechend auf unterschiedliche betriebliche Anpassungsstrategien bezüglich der unterschiedlichen Belegschaftsgruppen zurückführen. Vor diesem Hintergrund wird im nächsten Kapitel auf mögliche Anpassungsstrategien von Betrieben eingegangen und wie diese durch die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen nationaler Arbeitsmärkte geprägt werden und dadurch länderspezifische Muster hinsichtlich der Dynamiken von Lohnungleichheiten hervorbringen.
3
Betriebliche Anpassungsstrategien in unterschiedlichen institutionellen Kontexten
Nachdem im vorherigen Kapitel aufgezeigt wurde, wie die Lohnbildung innerhalb von bestimmten (Teil-)Arbeitsmärkten vonstattengeht und wie unterschiedliche Allokations- und Entlohnungsmechanismen zur Entstehung von Lohnstrukturen und Lohnungleichheiten beitragen, soll im Folgenden die Frage behandelt werden, wie Unternehmen ihren Arbeitseinsatz in Folge konjunktureller Nachfrageschwankungen und/oder makroökonomischer Schocks anpassen und welche Auswirkungen dies auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen hat. Dabei sollen die bisherigen segmentationstheoretischen Überlegungen mit den betrieblichen Personalanpassungsformen sowie den rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen zusammengeführt werden, um auf diese Weise am Ende des Kapitels Hypothesen herzuleiten, die im späteren Verlauf der Arbeit empirisch überprüft werden sollen. Dazu wird auf einen breiten Kanon der sozialwissenschaftlichen Literatur zur Arbeitsmarktflexibilisierung zurückgegriffen (u. a. Atkinson 1984; OECD 1986; Giesecke 2006; Struck 2006; Keller und Seifert 2007, 2013; Barbieri 2009; Eichhorst et al. 2011; Dütsch und Struck 2011), in deren Fokus Formen der betrieblichen und arbeitsmarktpolitischen Anpassung sowie deren organisationalen, politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen stehen. Dabei wird zwischen zwei Ebenen der Anpassung unterschieden, die häufig gemeinsam unter dem Dach der Arbeitsmarktflexibilisierung zusammengefasst werden: Zum einen, auf der Mikroebene, die Formen betrieblicher Anpassungsstrategien, die durch die spezifische Organisationsstruktur der Unternehmen geprägt und restringiert werden und sich zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen oder Organisationseinheiten (Stamm- und Randbelegschaft) unterscheiden können. Zum anderen, auf der Makroebene, prägen Arbeitsmarktinstitutionen und insbesondere deren Wandel die Anpassungsmöglichkeiten der Unternehmen, sodass © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_3
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3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
sich in unterschiedlichen institutionellen Kontexten verschiedene Formen der Flexibilität und Anpassung als rational erweisen. Die Literatur zur Dualisierung von Arbeitsmärkten (Emmenegger et al. 2012; Rueda 2005; Fervers und Schwander 2015; Palier und Thelen 2010; Biegert 2019, 2017) geht zudem davon aus, dass die Auswirkungen oder der Nutzen regulativer Institutionen nicht gleichermaßen über die gesamte Arbeitnehmerschaft verteilt ist, sondern dass sich institutionalisierte Vorteile oder Privilegien zumeist auf Seiten der Insider bzw. der Stammbelegschaft manifestieren. Der im Folgenden vorgestellte Erklärungsansatz betrachtet daher die Unternehmen als auch die Regierungen als zentrale Akteure des Anpassungsprozesses und die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen, in die die Akteure eingebettet sind, als zentrale Komponente der wirtschaftlichen Anpassungsfähigkeit nationaler Arbeitsmärkte. Auf diese Weise nimmt die vorliegende Arbeit eine neo-institutionalistische Perspektive (Hall und Taylor 1996; Maurer und Schmid 2002) auf das Arbeitsmarktgeschehen ein. Eine separate Betrachtung der institutionell-rechtlichen Rahmenbedingungen auf der Makroebene und den Mustern betrieblicher Anpassung auf der Mikroebene ermöglicht es somit, sowohl gruppenspezifische als auch nationale Unterschiede und Erklärungsmuster herauszuarbeiten. Dies ist für eine europäisch vergleichende Perspektive, wie sie in dieser Arbeit eingenommen wird, unerlässlich. Vor diesem Hintergrund werden erstens verschiedene Formen der betrieblichen Anpassung vorgestellt, deren Anwendungen für unterschiedliche Teile der Belegschaft als mehr oder weniger wahrscheinlich gelten und mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen einhergehen. Zweitens werden im Anschluss daran verschiedene Arbeitsmarktinstitutionen diskutiert, die in ihrer Gesamtheit den rechtlich-institutionellen Handlungsrahmen unternehmerischer Flexibilitätsgestaltung bilden. Vor diesem Hintergrund können sie länderspezifische Muster der betrieblichen Anpassung hervorbringen, indem bestimmte Anpassungsstrategien durch das Zusammenspiel der jeweiligen Institutionen befördert oder gehemmt werden. Drittens wird sodann die Rolle des Staates als Regulator und Arbeitgeber diskutiert und ob der öffentliche und der private Sektor in der betrieblichen Personalpolitik derselben Logik folgen.
3.1
Formen der betrieblichen Anpassung und ihre Auswirkungen auf die Lohnverteilung
Auf welche Weise und mit welchen Maßnahmen können sich Unternehmen angesichts exogener, auch politischer Schocks an veränderte wirtschaftliche Umstände
3.1 Formen der betrieblichen Anpassung und ihre Auswirkungen …
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anpassen? Ganz allgemein gesprochen können Unternehmen mit einer Anpassung ihrer Preise, Margen und/oder Kosten auf Veränderungen ihrer wirtschaftlichen Umwelt reagieren (Fabiani et al. 2015). Da der Fokus dieser Arbeit jedoch auf den sich verändernden Lohn- und Beschäftigungsstrukturen liegt, werden im Folgenden betriebliche Anpassungsstrategien diskutiert, die zur Reduzierung der Arbeitskosten auf eine personelle Flexibilität zurückgreifen. Diese ist definiert „als die Fähigkeit, das Personalvolumen sowie die Personalstruktur an ein quantitativ und/oder qualitativ variierendes Arbeitsaufkommen anpassen zu können“ (Dütsch und Struck 2011, S. 251). Flexibilisierungsmaßnahmen können dabei sowohl innerbetrieblichen Abläufen als auch die Struktur der Unternehmen und ihrer Belegschaften betreffen (Eichhorst und Tobsch 2014, S. 7). Nach Fabiani et al. (2015, S. 5) hängt die Wahl der betrieblichen Anpassungsstrategie im Wesentlichen von drei Faktoren ab: 1) die Art und Intensität des Schocks, 2) die Situation des Unternehmens zum Zeitpunkt des Schocks, sowie 3) vom jeweiligen wirtschaftlichen Umfeld, in dem das Unternehmen tätig ist. Aber auch die Betriebsgröße, die Qualifikationsstruktur sowie die Verhandlungsmacht unterschiedlicher organisationaler Einheiten oder Beschäftigtengruppen – kurz gesagt: die Organisationsstruktur – prägen die Wahl geeigneter Anpassungsmaßnahmen (Eichhorst et al. 2011, S. 10). Bereits bei Atkinson (1984) findet sich eine Differenzierung der Flexibilisierungsmaßnahmen nach Stamm- und Randbelegschaft innerhalb desselben Betriebes. Begründet wird dies damit, dass die Stammbelegschaft primär aus Normalarbeitsverhältnissen besteht, die aufgrund ihres hohen (betrieblichen) Wissens, Erfahrung und Fähigkeiten nur schwer (oder mit hohen Kosten) zu ersetzen sind. Im Gegensatz dazu ist die Randbelegschaft deutlich geringer qualifiziert und ausgebildet und damit wesentlich einfacher und kostengünstiger zu ersetzen. Ihre Qualifikationen und Fähigkeiten sind relativ einfach im externen Arbeitsmarkt zu beschaffen. Das bedeutet, sie können relativ kurzfristig entlassen und bei Bedarf (wieder-)eingestellt werden. Analog zu den sozialwissenschaftlichen Segmentationsansätzen, die ebenfalls der Existenz interner und externer Teilarbeitsmärkte sowie von einer Stamm- und Randbelegschaft ausgehen (Doeringer und Piore 1971; Sengenberger 1987; Lutz 1987), lassen sich dementsprechend auch interne und externe Formen der betrieblichen Anpassung unterscheiden (Atkinson 1984).
3.1.1
Dimension der Flexibilisierung
Interne und externe Flexibilisierungsformen gelten als die zwei Hauptdimensionen der betrieblichen Anpassungsfähigkeit, die sich grundsätzlich hinsichtlich
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3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
der Verwendung und des Zugangs zum (betriebs-)externen Arbeitsmarkt unterscheiden. Unter externer Flexibilität wird somit grundsätzlich der Rückgriff auf Ressourcen verstanden, die außerhalb der Unternehmensgrenzen liegen (Giesecke 2006, S. 46). Damit ist gemeint, dass Unternehmen ihre Beschäftigtenzahl quantitativ über den externen Arbeitsmarkt anpassen können, indem sie Arbeitnehmer entlassen oder bei Bedarf (wieder-)einstellen. Hierunter fallen ebenfalls unterschiedliche Formen der flexiblen Arbeitsvertragsgestaltung, wie beispielsweise befristete Beschäftigung oder Leiharbeit (Keller und Seifert 2013, 82f.). Auf diese Weise sollen die Risiken und Unsicherheiten, mit denen das Unternehmen konfrontiert ist, externalisiert werden (OECD 1986, S. 49). Bei der internen Flexibilität erfolgt die Anpassung des Arbeitseinsatzes hingegen durch den Rückgriff auf innerbetriebliche Ressourcen, ohne die des externen Arbeitsmarktes in Anspruch nehmen zu müssen (Giesecke 2006, S. 46). Dies umfasst vor allem innerbetriebliche kostensenkende Maßnahmen, die die Beschäftigtenzahl relativ unberührt lassen. Somit wird vielmehr eine Anpassung der vorhandenen Arbeitskräfte hinsichtlich der Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, Qualifikation sowie Entlohnung vorgenommen (Dütsch und Struck 2011). Das primäre Ziel dieser Flexibilisierungsformen ist dabei die langfristige Bindung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie die Reduzierung oder Vermeidung von Fluktuation und den damit verbundenen Transaktionskosten (OECD 1986, S. 60). Des Weiteren lassen sich die zwei Hauptdimensionen der Flexibilität in weitere Sub-Formen differenzieren und zwar in numerische, funktionale und monetäre Flexibilität (Atkinson 1984). Numerische Flexibilität bezieht sich vor allem auf die quantitativen Anpassungen des Volumens des Arbeitseinsatzes an den tatsächlichen Arbeitskräftebedarf des Unternehmens und erfolgt primär über die zahlenmäßige Anpassung des Personalbestands oder der geleisteten Arbeitszeit (Dütsch und Struck 2011, S. 252). Der Vorteil dieser Flexibilitätsform ist, dass die Beschäftigungsmenge relativ schnell an etwaige Nachfrageschwankungen angepasst werden kann. Die funktionale Flexibilität entspricht hingegen eher einer qualitativen Anpassung und umfasst dementsprechend eher Maßnahmen für eine variable und flexible Arbeitsorganisation und damit einer eher strategischen Gestaltung betrieblicher Funktionen (ebd.). Diese Form der Anpassung ist hingegen sehr anspruchsund voraussetzungsvoll, setzt sie doch voraus, dass die Beschäftigten in der Lage sind, neue Aufgabenbereiche und Tätigkeiten zu übernehmen und dementsprechend über ein hohes (betriebsspezifisches) Wissen und Fähigkeiten verfügen. Diese Anpassungsform ist vor allem in Großbetrieben vorzufinden, weil sie ausgeprägte betriebsinterne Weiterbildungsmaßnahmen voraussetzen, die wiederum
3.1 Formen der betrieblichen Anpassung und ihre Auswirkungen …
51
durch einen größeren finanziellen Spielraum bedingt sind (Bellmann und Leber 2005). Die monetäre Flexibilität beschreibt hingegen die Fähigkeit von Unternehmen, die Arbeitskosten in kurzer Zeit an das Angebot und die Nachfrage bestimmter Arbeitskräfte innerhalb des Betriebes anzupassen oder auch den Rückgriff auf tarifliche Öffnungsklauseln oder lohnsenkende Beschäftigungs- oder Investitionsvereinbarungen (Streeck und Rehder 2003, S. 348). Dabei sind theoretisch Anpassungen aller Lohnkomponenten denkbar, sowohl des Grundgehalts als auch der flexiblen Sonderzahlungen und Boni.
3.1.2
Eine Typologie betrieblicher Anpassungsmaßnahmen
In der Kombination dieser zwei Haupt- und drei Sub-Formen lassen sich, wie in Tabelle 3.1 dargestellt, sechs Instrumente im Bereich der betrieblichen Personalpolitik ausmachen, die eine Typologisierung klar abgrenzbarer Anpassungsmaßnahmen ermöglicht (Keller und Seifert 2013, S. 83; Eichhorst et al. 2011, S. 7): Extern-numerische Anpassungsstrategien umfassen vor allem klassische Formen des „hire and fire“, also Einstellungen und Entlassungen, um auf diese Weise die Beschäftigtenzahl an die wirtschaftliche Situation des Unternehmens anzupassen. Je schneller und kostengünstiger die Anzahl der Beschäftigten an den tatsächlichen Bedarf angepasst werden kann, desto höher ist das Potential externnumerischer Maßnahmen. Des Weiteren zählen auch befristete Beschäftigung oder der Einsatz von Leiharbeit zu diesem Typus. Mit befristeten Arbeitsverträgen können beispielsweise strikte Kündigungsschutzregelungen umgangen werden, um auf diese Weise Transaktionskosten, die im Falle der Einstellung und Entlassung von Normalbeschäftigten entstehen würden, zu vermeiden. Befristungen werden daher vor allem in wirtschaftlich unsicheren Zeiten und primär in Großbetrieben eingesetzt, da diese häufiger strengeren Kündigungsschutzregelungen unterliegen als Kleinbetriebe (Dütsch und Struck 2011) und zudem einer höheren öffentlichen Aufmerksamkeit unterliegen (Haltiwanger et al. 2006, S. 38). Mittels extern-numerischen Anpassungsmaßnahmen kann somit neben der reinen Anzahl an Beschäftigten auch deren Zusammensetzung hinsichtlich der Qualifikation und Flexibilität angepasst werden (Chahad 2004, S. 4). Während diese Anpassungsmaßnahmen vor allem zu Lasten der Randbelegschaft gehen, quasi als Pufferfunktion für die Stammbelegschaft (Dütsch und Struck 2010, S. 11), bleibt letztere weitestgehend unberührt von solchen Maßnahmen. Dies lässt sich aus einer humankapitaltheoretischen Perspektive so erklären, dass
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3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
die gegenseitige Abhängigkeit und Bindung zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen – und damit auch die Beschäftigungsstabilität – größer ist, je höher und spezifischer das Qualifikationsniveau und je komplexer das Tätigkeitsprofil ist (Becker 1964). Eine exzessive Verwendung extern-numerischer Instrumente kann somit in der Koexistenz stabiler und eher instabiler Beschäftigungsverhältnisse resultieren und eine Dualisierung oder Segmentation des Unternehmens zur Folge haben (OECD 1986, S. 60). Für die Lohnungleichheit hat ein primärer Einsatz extern-numerischer Anpassungsformen folgenden Effekt: Da vor allem die Randbelegschaft unter dem Einsatz von Befristungen und Leiharbeit in krisenhaften Zeiten flexibel entlassen werden kann und die Stammbelegschaft hingegen deutlich stärker geschützt ist, wird durch extern-numerische Maßnahmen die Lohnverteilung komprimiert, da Beschäftigtengruppen mit tendenziell niedrigeren Löhnen häufiger entlassen werden, was – ceteris paribus – zu sinkenden Lohnungleichheiten führt. Extern-funktionale Anpassungsformen beinhalten strategische Entscheidungen des Unternehmens hinsichtlich der Verlagerung von Geschäftstätigkeiten oder Organisationseinheiten an andere (internationale) Standorte, um einen Arbeitskostenvorteil zu erhalten und Beschäftigungsrisiken zu externalisieren (Knuth 2004, S. 16). Derartige Formen der betrieblichen Flexibilisierung finden primär in großen multinationalen Unternehmen oder größeren Unternehmensnetzwerken statt. Dabei geht es nicht, wie bei der intern-funktionalen Flexibilität, um einen Wechsel des Arbeitsplatzes oder Tätigkeit im selben Betrieb, sondern um funktionale Beziehungen zweier Standorte oder Firmen in Form von (internationalen) Auslagerungsaktivitäten (Outsourcing). Extern-funktionale Anpassungsmaßnahmen sind jedoch häufig in Kombination mit extern-numerischen Instrumenten vorzufinden, da nur selten zu erwarten ist, dass dieselbe Belegschaft am neuen Standort eingesetzt werden kann. Im Gegensatz zu den extern-numerischen Maßnahmen, die auf kurzfristige Anpassungen abzielen, ist die extern-funktionale Flexibilität eher als langfristige Strategie zu verstehen, sich an langfristige Trends und Veränderungen der wirtschaftlichen Umstände anzupassen. Sie ist daher weniger oft als Reaktion auf konjunkturelle Nachfrageschwankungen oder temporäre makroökonomische Schocks vorzufinden. Hinsichtlich der Lohnungleichheit kann von der extern-funktionalen Anpassung folgender Effekt erwartet werden: Dadurch, dass vor allem einfache und geringqualifizierte Tätigkeiten ausgelagert werden, fallen diese Arbeitsplätze im Herkunftsland weg, wodurch auch in diesem Fall die Lohnverteilung komprimiert wird. Langfristig betrachtet könnte dies jedoch zu einem Strukturwandel der Arbeitsmärkte führen, indem die Nachfrage nach gering- und unqualifizierter Arbeit sinkt und die nach qualifizierter Arbeit steigt, was die Lohnspreizung
3.1 Formen der betrieblichen Anpassung und ihre Auswirkungen …
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wiederum vergrößert (Baumgarten et al. 2013; Helpman et al. 2010; Feenstra und Hanson 1996). Extern-monetäre Flexibilität beruht auf der Variation der Arbeitskosten durch den Rückgriff auf betriebsexterne Ressourcen. Dies können beispielsweise Lohnkostensubventionen oder andere Formen von Lohnersatzleistungen sein (Seifert 2006, S. 602). Hierbei handelt es sich eher indirekt um eine betriebliche Form der Personalkostenanpassung, da die extern-monetäre Flexibilität vor allem von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Maßnahmen abhängig sind. Es handelt sich daher vielmehr um eine Mischform betrieblicher und sozialpolitischer Flexibilisierungsstrategien. In Krisenzeiten können solche sozialpolitischen Interventionen wie etwa Lohnsubventionen dazu führen, dass vor allem die weniger produktiven Arbeitnehmer in wirtschaftlich schlechten Zeiten gehalten werden können, die ansonsten entlassen worden wären – Unternehmen neigen daher eher zum Horten der Arbeitskräfte. Für die aggregierte Lohnverteilung bedeutet dies, dass diese sich nicht sonderlich verändert, da durch extern-monetäre Instrumente sowohl das Lohn- als auch das Beschäftigungsniveau annähernd stabil gehalten werden kann. Intern-numerische Anpassungsstrategien beinhalten vor allem die Variation des Arbeitsvolumens bei schwankender Auslastung bzw. kurzfristig zu erwartenden Schwankungen, wobei die Anzahl der Arbeitskräfte konstant bleibt (Eichhorst et al. 2011, S. 7). Mögliche Maßnahmen sind beispielsweise die Einrichtung von Arbeitszeitkonten, Mehrarbeit, Arbeitszeitverkürzungen, Teilzeit- oder Kurzarbeit. Die Flexibilisierung der Arbeitszeitgestaltung stärkt dabei die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens, da dieses schnell und kostengünstig auf Nachfrageschwankungen reagieren und die Personalkosten anpassen kann. Internnumerische Anpassungsmaßnahmen gelten jedoch eher als kurzfristig angelegte Instrumente zur temporären Erhöhung bzw. Absenkung der Arbeitszeit bei konjunkturellen Nachfrageschwankungen. Damit verbunden ist das Bestreben, bestehende Arbeitsverhältnisse zu sichern und somit betriebsspezifisches Humankapital in ökonomischen Krisensituationen zu halten und damit Transaktionskosten zu vermeiden. Bei tiefergreifenden, langfristigen Schocks und strukturellem Anpassungsbedarf stößt diese Form der betrieblichen Anpassung jedoch auf Grenzen (Seifert 2006, S. 602). In der Regel beziehen sich solch intern-numerische Instrumente jedoch ausschließlich auf die Stammbelegschaft der Betriebe, weswegen diese eine deutlich höhere Beschäftigungssicherheit in krisenhaften Zeiten aufweist im Vergleich zur Randbelegschaft. Letztere ist in solchen Fällen eher von extern-numerische Maßnahmen betroffen. Solange es sich nicht um tiefgreifende und langfristig wirkende Schocks handelt, führt diese Form der Anpassung zum Erhalt der Arbeitsplätze der Stammbelegschaft, ohne erhebliche Auswirkungen auf die Lohnstruktur zu haben.
54
3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
Lediglich, wenn die Randbelegschaft zusätzlich über extern-numerische Instrumente angepasst werden soll, kommt es auch hier wieder zu einer Kompression der Lohnverteilung in Folge der Entlassungen geringverdienender Arbeitnehmer aus der Randbelegschaft. Intern-funktionale Flexibilität besteht in erster Linie aus der Anpassung der Arbeitsorganisation in Form einer betriebsinternen Reallokation der Arbeitskräfte (Chahad 2004, S. 5). Ein solch variabler Einsatz der Arbeitskräfte setzt jedoch eine breit- und gutausgebildete Arbeitnehmerschaft sowie geeignete Qualifizierungsmöglichkeiten voraus, die die Arbeitskräfte in die Lage versetzt, kurzfristig unterschiedliche Arbeitsplätze und Tätigkeiten zu übernehmen. Investitionen in betriebsspezifisches Humankapital via stetige interne Qualifizierungsmaßnahmen begünstigt eine solche Anpassungsstrategie (Eichhorst et al. 2011, S. 7). Da vor allem die qualifizierte Belegschaft gehalten werden soll, werden solche internfunktionalen Anpassungsformen in erster Linie die Stammbelegschaften betreffen, weil die hohen Investitionen in das betriebliche Humankapital eine enge und langfristige Bindung an das Unternehmen voraussetzen. Derartige Anpassungsmaßnahmen schützen somit vor allem die spezifischund hochqualifizierte Stammbelegschaft vor Entlassungen und können damit zusätzlich zur Arbeitszeitflexibilität die interne Umstrukturierung des Betriebs unterstützen (ebd., 8f.). Auch dieser Typus zielt in erster Linie darauf ab, die Stammbelegschaft während turbulenter Zeiten halten zu können. Sie ist allerdings sehr voraussetzungsvoll und wird daher in erster Linie in Großbetrieben vorzufinden sein, wo zum einen eine betriebsinterne Reallokation der Arbeitskräfte sowie deren betriebsinterne Weiterbildung eher möglich sein werden. Auf die Lohnungleichheit wirkt sich diese Form der Flexibilität wieder nur dann aus, wenn die Stammbelegschaft gehalten werden kann, die Randbelegschaft hingegen vermehrt freigesetzt wird, da die intern-funktionale Flexibilität ein hohes Maß an allgemeinem und betriebsspezifischem Humankapital erfordert, sowie dementsprechend geeignete Qualifizierungsmöglichkeiten, die jedoch größtenteils der Stammbelegschaft zur Verfügung stehen. Intern-monetäre Maßnahmen bilden eine alternative Form der Personalkostenreduktion über die Möglichkeit zur schnellen Anpassung der Arbeitskosten (OECD 1986, S. 9). Solche Maßnahmen umfassen in der Regel das Einfrieren, Kürzen oder Streichen von Sonder- und Zusatzzahlungen sowie (in schwerwiegenden Fällen) das Einfrieren oder Kürzen des Basislohns.
3.1 Formen der betrieblichen Anpassung und ihre Auswirkungen …
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Tabelle 3.1 Typologie betrieblicher Anpassungsmaßnahmen Intern
Extern
Numerisch
Arbeitszeitkonten Teilzeitarbeit Kurzarbeit
Entlassungen/Einstellungen Leiharbeit Befristete Beschäftigung
Funktional
Betriebliche Weiterbildung Variable Arbeitsorganisation
Outsourcing Organisationsnetzwerke Transfergesellschaften
Monetär
Kürzungen des Grundgehalts oder der Sonderzahlungen Tarifliche Öffnungsklauseln
Lohnsubventionen
Quelle: Eigene Darstellung nach Atkinson (1984), Keller und Seifert (2013), Eichhorst et al. (2011) und Dütsch und Struck (2011). Hinweis: Die kursiv gedruckten Maßnahmen sind im Rahmen der empirischen Analyse direkt beobachtbar.
Gerade leistungsabhängige Entlohnungsformen und Gewinnbeteiligung können dabei je nach wirtschaftlicher Lage stark variieren. Neben der individuellen Anpassung der Arbeitnehmerentgelte im Rahmen der betrieblichen Lohnflexibilität, können auch tarifliche Öffnungsklauseln und betriebliche Bündnisse die Optionen intern-monetärer Flexibilität erweitern, und zwar in der Gestalt, dass tarifliche Lohnerhöhungen ausgesetzt oder tarifliche festgelegt Löhne abgesenkt werden. Auch geringere Einsteigertarife für spezifische Beschäftigtengruppen sind möglich (Seifert 2006, S. 603). Die Bandbreite des Einsatzes internmonetärer Instrumente hängt im hohen Maße von der Rigidität der Löhne ab, die wiederum durch die Lohnfindungsinstitutionen sowie von gesetzlichen und branchenspezifischen Mindestlöhnen geprägt werden (Eichhorst et al. 2011, S. 7). Auch in diesem Fall ist wieder damit zu rechnen, dass intern-monetäre Anpassungen primär die Stammbelegschaften betreffen, um diese vor Entlassungen zu schützen. Durch den generell höheren Organisationsgrad der Stammbelegschaften im Vergleich zur Randbelegschaft sind hier vor allem vermehrt kollektive Formen des Lohnverzichts zugunsten einer Stärkung der Beschäftigungssicherheit in krisenhaften Zeiten zu erwarten. Das Potential intern-monetärer Anpassung ist für die Stammbelegschaft in der Regel deutlich höher im Vergleich zur Randbelegschaft, da letztere weniger oft Sonder- oder Zusatzzahlungen erhalten, die gekürzt werden könnten. Das Weiteren sind die niedrigeren Löhne der Randbelegschaft meist nach unten hin durch tarifliche, branchenspezifische oder gar gesetzliche Mindestlöhne in ihrer Anpassung limitiert. Die Folge für die Lohnverteilung ist auch hier wieder eine Kompression, nur in diesem Fall eine, die „von oben“ her ausgeht.
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3.1.3
3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
Komplementäre und substitutive Strategien
Vor dem Hintergrund der soeben vorgestellten betrieblichen Anpassungsmaßnahmen muss davon ausgegangen werden, dass Unternehmen nicht bloß auf eine dieser Maßnahmen zurückgreifen, um sich der veränderten wirtschaftlichen Situation anzupassen, sondern unterschiedliche Formen in Abhängigkeit von den betriebsinternen und -externen Umständen kombinieren (Bosch 2010, S. 654). Diese Maßnahmen können komplementär oder substitutiv sein, sodass sich unterschiedliche Betriebe auf unterschiedliche Art und Weise an neue wirtschaftliche Bedingungen anpassen können (Eichhorst et al. 2011, S. 7). Die gleichzeitige Nutzung verschiedener Flexibilisierungsformen ist jedoch Einschränkungen ausgesetzt. Beispielsweise stehen sich intern-funktionale und extern-numerischen Strategien diametral entgegen – zumindest, wenn sie auf dieselben Beschäftigtengruppen abzielen (Bosch 2010, 654f.). In der sozialwissenschaftlichen Arbeitsmarktforschung hat sich daher die Idee der sogenannten trade-offs zwischen verschiedene Formen der Anpassung etabliert (siehe u. a. Blau und Kahn 2002; Maurin und Postel-Vinay 2005; DiPrete et al. 2006). Der Grund für die wechselseitige Unverträglichkeit von Entlassungen und Qualifizierungsstrategien ist, dass es aus Sicht des Unternehmens nicht rational ist, in das betriebliche Humankapital der Belegschaft zu investieren – als Voraussetzung für intern-funktionale Maßnahmen – wenn gleichzeitig extern-numerische Anpassungsstrategien verfolgt werden. Jedoch kann freilich die Stammbelegschaft über humankapitalintensive, intern-funktionale und die Randbelegschaft über externnumerische Maßnahmen angepasst werden. Auf der anderen Seite können externe Anpassungsstrategien auch durch interne Strategien ersetzt werden, beispielsweise im Rahmen von Beschäftigungssicherungsvereinbarungen, die Arbeitszeitverkürzungen, Kurzarbeit oder Lohnverzicht anstelle von Entlassungen ermöglichen. Zwar können Entlassungen kurzfristig betrachtet die kostengünstigere Anpassungsform sein, langfristig gesehen werden die Transaktionskosten jedoch deutlich höher ausfallen. Damit hängt der jeweilige Einsatz von internen oder externen Maßnahmen ebenfalls vom jeweiligen Zeithorizont der Unternehmensstrategie ab. Vor allem in Teilarbeitsmärkten mit hohen Qualifikationsanforderungen scheint es so zu sein, dass intern-funktionale Anpassungsstrategien bevorzugt werden, da die wechselseitige Bindung von Unternehmen und Arbeitskraft sehr hoch ist. Ist allgemein ein geringes Qualifikationsniveau oder betriebsspezifisches Wissen erforderlich, dann kann davon ausgegangen werden, das extern-numerische Anpassungsmaßnahmen dort häufiger genutzt werden, da Arbeitskräfte zu geringeren Transaktionskosten einfach ausgetauscht werden können (ebd., S. 654). Innerhalb der organisatorischen Grenzen des Betriebes finden sich dann in der
3.1 Formen der betrieblichen Anpassung und ihre Auswirkungen …
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Regel mehrere Beschäftigungssysteme mit unterschiedlichen Mustern in der Arbeitskraftnutzung (Köhler et al. 2008). Hierbei könnten sich dann wiederum Strukturen herausbilden, in denen die geschützte Stammbelegschaft durch die ungeschützte und flexible Randbelegschaften stabilisiert wird (Lutz 1987; Sengenberger 1987). Die parallele Verwendung von Instrumenten der internen und externen Flexibilität für unterschiedliche Beschäftigtengruppen resultiert daher oftmals in einer Segmentierung der Arbeitnehmerschaft und kann in krisenhaften Zeiten freilich große Auswirkungen auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen und damit auf die Lohnungleichheiten haben. Tabelle 3.2 stellt die möglichen personalpolitischen Anpassungsformen und die daraus resultierenden Auswirkungen für die Lohnverteilung dar. Dabei handelt es sich um ein stark vereinfachendes Schema, das die Erkenntnisse aus diesem Abschnitt übersichtlich zusammenfassen und eher als ein heuristisches Analyseinstrument zur Beschreibung und Einordnung der empirischen Befunde dienen soll. Dabei beschreibt jedes der vier Felder ein bestimmtes Muster in der Veränderung der Lohnverteilung, bedingt durch die Kombination unterschiedlicher Anpassungsformen für die Stamm- und Randbelegschaft, die der Einfachheit halber mit dem internen und externen Arbeitsmarkt gleichgesetzt werden. Dabei stehen vor allem die Maßnahmen im Vordergrund, die in der empirischen Analyse untersucht werden (können), d. h. in erster Linie Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur sowie Veränderungen der Löhne. Findet eine Anpassung der Personalkosten beispielsweise primär über interne Maßnahmen für die Stammbelegschaft statt, während die Randbelegschaft vermehrt freigesetzt wird (A), dann führt dies zu einer Kompression der Lohnverteilung „von unten“ aufgrund der unterdurchschnittlichen Löhne letzterer und damit zu einem Rückgang der Lohnungleichheit. Werden hingegen nur die Löhne der Stammbelegschaft reduziert, während die Randbelegschaft über extern-numerische Formen angepasst wird (B), kann dies ebenfalls zu einer Kompression der Lohnverteilung führen und dadurch die Ungleichheiten reduzieren. Erfahren hingegen in erster Linie Beschäftigte aus der Randbelegschaft Reallohnkürzungen, während die Stammbelegschaft über numerisch-funktionale Maßnahmen angepasst wird (C), kann dies erneut zu einer Polarisierung der Lohnverteilung und zu steigenden Ungleichheiten führen. Werden stattdessen die Löhne der Beschäftigten aus beiden Belegschaften (gleichermaßen) angepasst (D), so führt dies zu einer Parallelverschiebung der Verteilung und daher zu keinen Veränderungen hinsichtlich der Lohnungleichheiten. Vor dem Hintergrund segmentationstheoretischer und personalpolitischer Überlegungen wurde somit herausgearbeitet, dass für eine Untersuchung der Dynamiken von Lohnungleichheiten nicht bloß monetäre Anpassungsformen
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Betriebliche Anpassungsstrategien …
relevant sind, sondern jene, die einen Einfluss auf die Beschäftigungsstruktur haben, was die Verwendung einer solch komplexen Typologie der betrieblichen Anpassungsformen für die vorliegende Untersuchung rechtfertigt. Betriebliche Anpassungsstrategien können somit als spezifische Bündel einzelner Flexibilisierungsinstrumente und -maßnahmen konzipiert werden, die mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lohn- und Beschäftigungsstruktur einhergehen und damit die Lohnungleichheit entscheidend prägen. Das Zusammenspiel dieser Maßnahmen bestimmt somit die Fähigkeit der Unternehmen, auf konjunkturelle Nachfrageschwankungen oder tiefgreifende makroökonomische Schocks zu reagieren. In Abhängigkeit vom institutionellen Kontext können einzelne Maßnahmen oder Maßnahmenbündel mehr oder weniger geeignet oder effektiv erscheinen, sich ergänzen oder widersprechen. Deshalb wird im Folgenden der Einfluss unterschiedlicher Arbeitsmarktinstitutionen diskutiert, die den rechtlich-institutionellen Handlungsrahmen für die unternehmerische Flexibilitätsgestaltung darstellen. Tabelle 3.2 Betriebliche Anpassungsformen und deren Auswirkungen auf die Lohnverteilung Stammbelegschaft Interner Arbeitsmarkt Randbelegschaft Numerisch-funktional Monetär Externer Numerisch-funktional A B Arbeitsmarkt „Kompression“ „Kompression“ Monetär
C „Polarisierung“
D „Parallelverschiebung“
Quelle: Eigene Darstellung.
3.2
Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen
Seit den 1990er Jahren wurde der Einfluss von Arbeitsmarktinstitutionen auf die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit von Arbeitsmärkten, sowohl zwischen den Ländern als auch über die Zeit hinweg, in zahlreichen Studien untersucht. Dabei standen sowohl die Entstehung und Persistenz von Arbeitslosigkeit (u. a. Nickell 1997; Siebert 1997; Heidenreich 2004; Nickell et al. 2005; Blanchard 2006; Bassanini und Duval 2006; Boeri 2011) als auch das Niveau und die Struktur von Löhnen (Blau und Kahn 1996; DiNardo et al. 1996; Lee 1999; Nickell und Bell
3.2 Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen
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1996; Card 2001; Nunziata 2005; DiPrete et al. 2006; Salverda und Checchi 2015) im Fokus. Die Literatur ist dahingehend recht eindeutig, dass bestimmte Politiken und institutionelle Arrangements einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung unterschiedlicher Arbeitsmarktmuster haben und zudem die Fähigkeit von Arbeitsmärkten und Unternehmen prägen, auf exogene oder politikbedingte Schocks zu reagieren (Blanchard und Wolfers 2000; Bertola 2017; Nickell et al. 2005; Amisano und Serati 2003). Arbeitsmarktprozesse wie die Allokation und Entlohnung von Arbeitskräften finden daher nicht in einem „luftleeren Raum“ statt. Sie sind eingebettet in historisch gewachsene, konfliktträchtige und handlungsleitende institutionelle Ordnungen. Institutionen werden dabei als legitimierte formale Regeln, Normen und Verhaltensweisen definiert, die die Funktionsweise von Arbeitsmärkten beeinflussen, indem sie die Rechte, pflichten und Restriktionen unternehmerischen Handelns festlegen sowie die Anreize für die Arbeitsmarktakteure setzen (Boeri und van Ours 2013, 3f.). In ihrer Gesamtheit schaffen Institutionen somit einen verbindlichen Handlungsrahmen, die „Spielregeln“ (North 1992) auf dem Arbeitsmarkt, die für die Interaktion unterschiedlicher Arbeitsmarktakteure entscheidend ist. Arbeitsmärkte können somit als „komplexe institutionelle Ordnungen“ (Bosch 2010, S. 644) verstanden werden, welche die Handlungsfähigkeit von Unternehmen prägen und dadurch eine Vielfalt an unterschiedlichen Anpassungsmustern hervorbringen (OECD 1986, S. 9). Die Regulierung von Arbeitsmarktprozessen kann zudem das Vertrauen zwischen den Arbeitsmarktakteuren stärken und dadurch die Zusammenarbeit über längerfristige Horizonte hinweg ermöglichen (Esping-Andersen 2000, S. 71). Auf aggregierter Ebene unterscheiden sich nationale Arbeitsmärkte daher, infolge ihrer rechtlich-institutionellen Besonderheiten, in der Präferenz für bestimmte Anpassungsmaßnahmen (Keller und Seifert 2013, S. 83; Fabiani et al. 2015). Ganz allgemein kann festgehalten werden, dass je schwächer Arbeitsmärkte durch Institutionen und kollektive Akteure reguliert werden, desto eher werden Löhne anstelle von Beschäftigung als Anpassungsvariable zur Abmilderung von ökonomischen Schocks eingesetzt und desto größer sind daher die vorherrschenden Lohnungleichheiten (Blau und Kahn 2002; DiPrete et al. 2006). Umgekehrt bedeutet dies allerdings nicht, dass in bestimmten institutionellen Arrangements nicht auch eine hohe Beschäftigung mit geringen Lohnungleichheiten einhergehen kann. Dies zeigen beispielsweise Länder wie Dänemark oder die Niederlande, die hochentwickelte Wohlfahrtsstaaten sind und starke industrielle Beziehungen und Tarifverhandlungssysteme aufweisen, jedoch eine hohe Erwerbstätigenquote als auch geringere Lohnungleichheiten vorweisen, als beispielsweise die USA oder Großbritannien (Bosch 2009, S. 349). Ein solcher
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Betriebliche Anpassungsstrategien …
trade-off zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnungleichheit ist daher kein zwangsläufiges Resultat mehr oder weniger stark regulierter Arbeitsmärkte, sondern eher das Ergebnis eines ganz spezifischen Zusammenspiels einer Reihe von Institutionen und/oder der Rückgriff auf andere Kanäle der Arbeitsmarktflexibilisierung, wie beispielsweise atypische Beschäftigungsformen (Maurin und Postel-Vinay 2005). Wird von Arbeitsmarktregulierung gesprochen, so lassen sich im allgemeinen drei Formen unterscheiden (Esping-Andersen 2000, 70f.): Zum einen spielen die industriellen Beziehungen sowie die Tarifverhandlungssysteme eine tragende Rolle in der Regulierung von Arbeitsmarktprozessen, indem die kollektive Verhandlungsmacht gestärkt sowie tarifliche Vereinbarungen und Mindeststandards etabliert werden. Zweitens sind staatliche Regulierungen des Kündigungsschutzes und des Einsatzes von atypischen Beschäftigungsformen eine zentrale Säule der Arbeitsmarktregulierung, welche die Transaktionskosten sowie die Möglichkeit zur Akkumulation von Berufserfahrung und betriebsspezifischem Humankapital seitens der Beschäftigten bestimmt. Drittens spielen sozialstaatliche Absicherungen und aktive Arbeitsmarktpolitiken und die damit verbundenen Formen der Finanzierung, eine entscheidende Rolle, da sie den Reservationslohn der Arbeitslosen und Arbeitssuchenden prägen. Im Folgenden werden jene Arbeitsmarktinstitutionen vorgestellt, die in einem engen Zusammenhang zur unternehmerischen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit stehen und deren theoretischen sowie empirischen Einfluss auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen diskutiert. Dies sind die industriellen Beziehungen, gesetzliche Mindestlöhne, Kündigungsschutzgesetze, das Niveau und die Dauer von Lohnersatzleistungen, aktivierende Arbeitsmarktpolitiken sowie der Steuer- und Abgabenkeil (Eichhorst et al. 2011; Fournier und Koske 2012; Koeniger et al. 2007; Clar et al. 2007).
3.2.1
Industrielle Beziehungen
Eine für den Lohnbildungsprozess zentrale Gruppe von Arbeitsmarktinstitutionen sind die industriellen Beziehungen. Aufgrund der unterschiedlichen Machtressourcen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite unterscheidet sich auch die Verhandlungsmacht der beiden Arbeitsmarktparteien. So kann von einem strukturell garantierten Machtüberschuss auf Arbeitgeberseite als entscheidendem Merkmal kapitalistischer Arbeitsmärkte ausgegangen werden (Köhler et al. 2017, S. 276). Kreckel beschreibt dieses Phänomen als die primäre Machtasymmetrie, die nach wie vor „die Grundstruktur (…) des kapitalistischen Arbeitsmarktes“ (Kreckel 1992, S. 167) bildet und das abstrakte Klassenverhältnis zwischen Kapital und
3.2 Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen
61
Arbeit beschreibt. Sie spiegelt die unterschiedliche Interessenlage und ungleiche Chancenverteilung bei der Artikulation und Durchsetzung gesellschaftlicher Interessen wider (ebd., S. 173; siehe auch Fligstein 2011, 131f.). Die Beschäftigten versuchen ihrerseits durch kollektive Aktionen und Organisation sowie durch die Mithilfe des Staates, diese Machtungleichgewichte auszugleichen und somit der Kapitalseite als ebenbürtiger Verhandlungspartner gegenüberzutreten. Industrielle Beziehungen beschreiben somit die Aushandlungs- und Entscheidungsfindungsprozesse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bzw. ihren jeweiligen kollektiven Interessenvertretern (in Form von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden), mit dem Ziel der Regulierung von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsbedingungen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene (Cazes et al. 2012, S. 5). Auch der Staat spielt für die Ausgestaltung der industriellen Beziehungen eine entscheidende Rolle. So setzt dieser nicht nur durch Gesetze und Verordnungen den Rahmen für die Auseinandersetzungen von Kapital und Arbeit, sondern er greift auch direkt ein, indem er reguliert oder vermittelt (Fligstein 2011, S. 55). Die Institutionen der industriellen Beziehungen haben somit einen direkten Einfluss auf die Lohnhöhe und Lohnflexibilität bzw. -rigidität und tragen auf diese Weise zur Erklärung von Veränderungen der Lohn- und Beschäftigungsstruktur bei (Eichhorst et al. 2011, S. 8). Die wohl gewichtigsten Institutionen sind dabei der gewerkschaftliche Organisationsgrad, die tarifvertragliche Abdeckung sowie der Grad der Koordinierung und Zentralisierung der Lohnverhandlungen. Gewerkschaftlicher Organisationsgrad Gewerkschaften sind Zusammenschlüsse von abhängigen Arbeitnehmern zu kollektiven Akteuren und vertreten ebenjene in den Tarifverhandlungen, wo sie die kollektiven Interessen gegenüber den Arbeitgebern artikulieren (Cazes et al. 2012, 5f.). Aus theoretischer Sicht versuchen Gewerkschaften, die Löhne über den Reservationslohn der Arbeitnehmer zu heben, indem sie Lohnrenten gegenüber der Arbeitgeberseite erzielen (Boeri und van Ours 2013, S. 67). Dies setzt einen hohen Organisationsgrad voraus, der den Gewerkschaften – und damit den organisierten Arbeitnehmern – eine größere Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgebern verleiht, was dann wiederum in besseren Arbeitsbedingungen resultieren kann (Ebbinghaus 2015, 55ff., 2010, 200f.; Rueda und Pontusson 2000). Die größere Verhandlungsmacht qua Organisation resultiert daher, dass die Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmern, in Form von Lohnunterbietungswettbewerben, reduziert wird. Aus theoretischer Perspektive wird häufig argumentiert, dass aufgrund ihrer Organisationslogik Gewerkschaften primär die Interessen ihrer Mitglieder vertreten (Lindbeck und Snower 1986, S. 238). Dies führe dazu,
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3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
dass sie in erster Linie darauf abzielen, die Löhne von organisierten Insidern über den markträumenden Lohn zu heben, ohne dabei deren Beschäftigungssicherheit zu verringern, indem sie beispielsweise die Kosten für Entlassungen erhöhen, die Kooperationsbereitschaft mit Outsidern variieren oder durch kollektive Streikandrohung und Arbeitsniederlegung. Nichtorganisierte Arbeitnehmer oder Outsider spielen aus dieser Perspektive keine Rolle für das kollektive Handeln von Gewerkschaften. Im Gegenteil: Es kann sogar zu einer Verschlechterung ihrer Situation beitragen, beispielsweise wenn die von Gewerkschaften ausgehandelten Tariflöhne so hoch sind, dass diese oberhalb der marginalen Produktivität von Arbeitsmarkteinsteigern oder Geringqualifizierten liegen. Dies kann dazu führen, dass diesen Personengruppen ein (dauerhafter) Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt bleibt oder dass die Arbeitskostenanpassungen in erster Linie über die nichtorganisierten Arbeitnehmer innerhalb eines Unternehmens erfolgen. Empirisch steht ein höherer gewerkschaftlicher Organisationsgrad oft im Zusammenhang mit einer geringen Lohnspreizung aufgrund einer Kompression der Lohnverteilung (Freeman 1980; Card et al. 2004; Card 2001; Koeniger et al. 2007). So kann beispielsweise die starke Zunahme der Lohnungleichheiten in den USA der 1980er Jahre zu einem erheblichen Teil auf den rückläufigen Organisationsgrad zurückgeführt werden, der jedoch mit unterschiedlichen Implikationen für die verschiedenen Abschnitte der Lohnverteilung einhergeht. DiNardo et al. (1996) zeigen beispielsweise, dass die deutliche Zunahme der Lohnungleichheit in der oberen Hälfte der Verteilung auf den abnehmenden gewerkschaftlichen Organisationsgrad zurückzuführen ist. Sie begründen dies damit, dass der abnehmende Einfluss von Gewerkschaften vor allem die kollektive Verhandlungsmacht von Arbeitnehmern mit mittleren Qualifikationen betrifft, die in der Regel stärker organisiert sind. Zu diesem Ergebnis kommen auch Firpo et al. (2018), die zudem zeigen, dass starke Gewerkschaften zu deutlich höheren Löhnen in der Mitte der Verteilung führen und dadurch die Lohnspreizung am unteren Ende der Verteilung vergrößern. Dementsprechend ging der Rückgang des Organisationsgrads in den USA gleichzeitig mit einem Rückgang in der Lohnspreizung am unteren Ende der Verteilung einher. Auch Koeniger et al. (2007) bestätigen diese Befunde auf Grundlage von elf OECD-Ländern. Sie zeigen, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad einen ungleichheitsreduzierenden Einfluss auf die Lohnungleichheit insgesamt hat, jedoch am oberen Ende der Verteilung deutlich stärker ausfällt. Im Gegensatz zu den Studien zum US-amerikanischen Arbeitsmarkt, zeigen sie jedoch, dass starke Gewerkschaften ebenfalls die Lohnspreizung am unteren Ende reduzieren, wenn auch in einem deutlich geringeren Maße. Im Anschluss an Kahn (2000) kann dies damit begründet werden, dass ein höherer Organisationsgrad zwar zu
3.2 Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen
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höheren Löhnen, jedoch gleichzeitig auch zu geringeren Beschäftigungschancen für geringqualifizierte und junge Männer führt – zumindest für die OECD-Länder. Starke Gewerkschaften können somit unter bestimmten Umständen dazu beitragen, dass unterdurchschnittlich entlohnte Gruppen vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden oder dass Arbeitskostenanpassungen in erster Linie über diese Gruppen erfolgen – was wiederum eine Kompression der Lohnverteilung am unteren Ende bedeutet. Tarifvertragliche Abdeckung Der Wirkungsgrad starker Gewerkschaften ist jedoch nicht nur vom Organisationsgrad allein, sondern auch von der Abdeckungsrate der Tarifverträge abhängig. Denn die ausgehandelten Tarifabschlüsse gelten auch für diejenigen Arbeitnehmer, die entweder in nichtorganisierten Unternehmen tätig sind oder aber in organisierten Unternehmen, selbst aber nicht gewerkschaftlich organisiert sind (Schulten 2012, S. 486). Die Tarifabdeckung steigt mit einem zunehmenden gewerkschaftlichen Organisationsgrad, wie dies vor allem in den skandinavischen Ländern zu beobachten ist. Sie kann jedoch auch durch eine Ausweitung des allgemeinen Geltungsbereichs von Tarifabschlüssen erweitert werden (Traxler et al. 2001, S. 203). Dies geschieht in erster Linie durch staatliche Regelungen, die den Geltungsbereich von Tarifabschlüssen auch auf nichtorganisierte Arbeitnehmer ausweiten (Herr und Ruoff 2014, S. 21), beispielsweise über das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung (oder funktionaler Äquivalente), mit denen der Geltungsbereich eines Tarifvertrages auch auf nichtorganisierte Unternehmen und Beschäftigte ausgedehnt wird (Schulten 2012, S. 485). Damit greift der Staat direkt in den Lohnfindungsprozess ein, wodurch sich Branchenspezifische Lohnuntergrenzen etablieren können, da die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelten Konditionen für all jene innerhalb des spezifischen Geltungsbereichs gelten. Somit steht eine hohe tarifvertragliche Abdeckung für eine verminderte Konkurrenz auf den Gebieten der Löhne und Arbeitsbedingungen und es lässt sich sagen, dass eine höhere Abdeckungsrate auch zu einer geringeren Lohnflexibilität seitens der Unternehmen führt, da ein höherer Anteil an Beschäftigten von den Tarifvereinbarungen tangiert wird. Aus der Perspektive der Insider-OutsiderTheorie kann eine hohe tarifvertragliche Abdeckung somit zur Etablierung von Löhnen führen, welche oberhalb des Produktivitätsniveaus von Neueinsteigern liegen, weshalb diese den Eintritt in den Arbeitsmarkt nicht (dauerhaft) schaffen (Lindbeck und Snower 1986). Dadurch verhindert eine hohe Tarifabdeckung zwar einen Lohnunterbietungswettbewerb zwischen den Arbeitnehmern, was tendenziell mit höheren Löhnen einhergeht, sie zwingt aber andererseits die Arbeitgeber
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Betriebliche Anpassungsstrategien …
dazu, die Arbeitskosten über andere Kanäle anzupassen – vornehmlich über extern-numerische Instrumente. Jedoch darf hierbei nicht übersehen werden, dass Tarifverträge lediglich Mindeststandards festlegen, die gerade in Großbetrieben deutlich überschritten werden können (Kohaut und Schnabel 2003) und dadurch Potential zur Anpassung von Löhnen zumindest im oberen Bereich der Lohnverteilung bieten. Dies kann zum Beispiel im Rahmen von lohnsenkenden Beschäftigungsvereinbarungen (Streeck und Rehder 2003) geschehen, bei der Arbeitnehmer im Tausch gegen Konzessionen hinsichtlich ihrer Löhne eine Beschäftigungsgarantie erhalten. Die Gewerkschaften selbst können jedoch in einer allzu hohen Abdeckungsrate infolge von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, die Gefahr einer Schwächung ihrer Organisationsmacht sehen, da auf diese Weise Anreize zur Mitgliedschaft verringert werden (Schulten 2012, S. 487). Weiterhin besteht bei einer hohen tarifvertraglichen Abdeckung bei einem gleichzeitig relativ geringem Organisationsgrad die Gefahr, dass in Krisenzeiten eine automatische Ausdehnung von Tarifverträgen vermutlich schneller und einfacher außer Kraft gesetzt werden kann – wie dies auch Bestandteil der europäischen Krisenbewältigungsstrategie war (van Gyes und Schulten 2015) – mit der Folge einer relativ abrupten Zunahme der nach unten gerichteten Lohnflexibilität. In krisenhaften Zeiten, die mit einem hohen Anpassungsdruck einhergehen, zeigen Fabiani et al. (2015), dass hohe tarifliche Abdeckungsraten die monetäre Anpassungsfähigkeit der Unternehmen beschränken und stattdessen zu einer vermehrten Anwendung extern-numerischer Instrumente führen – beispielsweise in Form eines Beschäftigungsabbaus auf Seiten der flexibleren Randbelegschaft. Koordinations- und Zentralisierungsgrad Neben dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad und der tarifvertraglichen Abdeckung steht insbesondere die Struktur der Lohn- und Tarifverhandlungssysteme im Zentrum der industriellen Beziehungen. So lassen sich Tarifverhandlungssysteme nach unterschiedlichen Strukturmerkmalen unterscheiden, beispielsweise dem Koordinierungs- und Zentralisierungsgrad der Tarifverhandlungen, denen ein zentraler Einfluss auf die Struktur und Dynamik von Löhnen im internationalen Vergleich zugeschrieben wird (Traxler 2003). Zentralisierung bezieht sich dabei auf die Ebene, auf der die Tarifverhandlungen primär stattfinden, d. h. auf lokaler, sektoraler oder nationaler Ebene (Calmfors und Driffill 1988). Koordinierung bezieht sich dahingehend auf gemeinsame Verhandlungsrunden, in denen die Forderungen und Interessen abgestimmt und so negative Externalitäten internalisiert werden sollen (Calmfors 1993). In stark zentralisierten und koordinierten Tarifverhandlungssystemen führen vor allem die Dachverbände
3.2 Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen
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der Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen sowie staatliche Akteure die Tarifverhandlungen. Zudem können Gewerkschaften ihre Machtposition gegenüber der Arbeitgeberseite vergrößern, da sie auf ein größeres Mobilisierungspotenzial zurückgreifen können, als dies in dezentralisierten und unkoordinierten Systemen der Fall ist (Traxler 2003, 531ff.; Rueda und Pontusson 2000, S. 360; Blau und Kahn 1996). Weiterhin kann in Bezug auf den Lohnbildungsprozess davon ausgegangen werden, dass in zentralisierten Tarifsystemen Geringverdiener einen größeren Einfluss auf den Lohnbildungsprozess nehmen, da mit Tarifverhandlungen auf nationaler Ebene primär politische Entscheidungsprozesse in den Vordergrund rücken und die Bedeutung von Marktprozessen für die Lohnbildung tendenziell abnehmen (Traxler 2003, S. 532). Theoretisch wird davon ausgegangen, dass Löhne sich besonders dort als flexibel erweisen, wo Lohnverhandlungen dezentral erfolgen, d. h. vor allem auf der Firmenebene stattfinden. So können sie direkt an Veränderungen der Produktund Arbeitskräftenachfrage angepasst werden. Auf der anderen Seite können aber auch stark zentralisierte und koordinierte Tarifverhandlungen eine Lohnmoderation fördern, indem externe ökonomische Faktoren in die Verhandlungsprozesse internalisiert werden und somit kollektiv auf Nachfrageschwankungen oder makroökonomische Schocks reagiert werden kann (Ebbinghaus und Kittel 2005). Somit erlauben sowohl stark zentralisierte als auch stark dezentralisierte Tarifverhandlungssysteme theoretisch ein höheres Maß an Lohnflexibilität im Vergleich zu Tarifverhandlungen auf der Branchenebene, was Calmfors und Driffill (1988) als die umgekehrte U-Form beschreiben. Zentralisierte und dezentralisierte Tarifverhandlungssysteme können jedoch darin unterschieden werden, ob die Lohnflexibilität über kooperative Arbeitsbeziehungen oder über eine erhöhte Wettbewerbsorientierung erreicht wird (Calmfors 1993). Finden Lohnverhandlungen somit primär auf Firmenebene statt, so haben die Lohnforderungen einen direkten Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und dadurch eine mäßigende Wirkung auf die Forderungen der Arbeitnehmervertretungen. In hochkoordinierten Lohnverhandlungssystemen wird davon ausgegangen, dass Gewerkschaften die Kosten überzogener Lohnforderungen vor dem Hintergrund makroökonomischer Entwicklungen verinnerlichen und in den kollektiven Lohnverhandlungen mitberücksichtigen, was ebenfalls eine mäßigende Wirkung auf die Lohnentwicklung haben kann. Empirisch zeigt sich, dass ein höherer Grad der Koordinierung mit einer geringeren Arbeitslosigkeit einhergeht aufgrund der besseren Abstimmungsmöglichkeiten zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, die eine stärkere Lohnmoderation nach sich zieht. Zudem steht ein hoher Koordinations- und/oder
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Zentralisierungsgrad in einem negativen Zusammenhang zur Lohnspreizung und kann damit die aggregierten Lohnungleichheiten reduzieren (Checchi und GarciaPenalosa 2009; Blau und Kahn 1996). Koeniger et al. (2007) zeigen jedoch, dass dieser Effekt nur negativ ist hinsichtlich der Ungleichheit im unteren Bereich der Lohnverteilung und positiv hinsichtlich der Ungleichheit oberhalb des Medians. Die Autoren erklären diesen Befund damit, dass ein hoher Koordinationsgrad eher zu einer Lohnmoderation der mittleren Verdienstgruppen führt, weshalb sich deren Löhne relativ zu den unteren und oberen Verdienstgruppen verringern. Sie führen diesen Befund auf weitere institutionelle Faktoren zurück, die eine (implizite) Lohnuntergrenze etablieren, die die Verhandlungsmöglichkeiten über die Löhne von Geringverdienern begrenzen. In krisenhaften Zeiten kann davon ausgegangen werden, dass Gewerkschaften in hochkoordinierten Systemen einen kollektiven Lohnverzicht zugunsten einer höheren Beschäftigungssicherheit für ihre Mitglieder aushandeln können. So weisen Nickell (1997) als auch Blanchard und Wolfers (2000) darauf hin, dass eine Anpassung der Reallohnentwicklung, in Reaktion auf ein geschwächtes Wirtschaftswachstum, einfacher sein kann, wenn Lohnverhandlungen stark zentralisiert und/oder koordiniert stattfinden, anstatt auf sektoraler oder Firmenebene, wo aggregierte Trends möglicherweise nicht in demselben Maße wahrgenommen oder verstanden werden. Gewerkschaften in hochkoordinierten Systemen können daher eher zu Konzessionen und kollektiven Aktionen bereit sein, beispielsweise in Form eines kollektiven Lohnverzichts oder zu Beschäftigungssicherungsvereinbarungen.
3.2.2
Mindestlöhne
Neben den industriellen Beziehungen spielen noch staatliche Regulierungen des Arbeitsmarktgeschehens eine zentrale Rolle für die Gestaltung von Lohn- und Beschäftigungsstrukturen. Dies gilt vor allem für staatliche Mindestlöhne, deren Rückgang als zentraler Faktor für die steigende Lohnungleichheit der letzten Jahrzehnte insbesondere in den USA und Großbritannien angesehen wird (Autor et al. 2016; Butcher et al. 2012; Lee 1999). Durch Mindestlöhne werden direkte Lohnuntergrenzen festgelegt, die weder durch Tarifvereinbarungen oder individualarbeitsvertragliche Vereinbarungen unterschritten werden dürfen (Rani et al. 2013, 383f.). Die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs seitens des Staates in die Lohnfindungsprozesse rührt meist daher, dass die Ergebnisse von Tarifverhandlungen nicht dem entsprechen, was
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in der Öffentlichkeit oder in der Politik als ein angemessener Lohn im unteren Einkommenssegment angesehen wird. Obwohl es in vielen Ländern einen Mindestlohn gibt, unterscheiden sich diese hinsichtlich der Höhe und Reichweite erheblich. Zudem wird der Mindestlohn in einigen Ländern einseitig von der Regierung festgelegt, während er in anderen Ländern das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Unternehmensvertretern ist (Boeri und van Ours 2013, S. 29). Die Debatte um die Auswirkungen eines Mindestlohns auf die Lohn- und Beschäftigungsstruktur ist ambivalent. Die Gegner eines gesetzlichen Mindestlohns argumentieren, dass dieser zu Arbeitsplatzverlusten führt infolge von zu hohen Kosten für geringproduktive Arbeit, insbesondere für Geringqualifizierte und Arbeitsmarkteinsteiger (ebd., S. 33). Befürworter eines Mindestlohns argumentieren hingegen, dass das Ausmaß potentieller Arbeitsplatzverluste eher gering ist und dass die positiven Effekte hinsichtlich der Armutsreduktion die möglichen Verluste bei weitem übersteigen (Osterman 2008, S. 120). Auch die empirischen Befunde hinsichtlich der Auswirkungen von Mindestlöhnen sind nicht eindeutig. Die Existenz und Höhe von gesetzlichen Mindestlöhnen steht empirisch in einem starken Zusammenhang mit der Reduzierung von Lohnungleichheiten. So kann der nationale Mindestlohn einen wesentlichen Teil der Veränderungen in den Lohnungleichheiten sowohl in den USA als auch Großbritannien erklären (Autor et al. 2016; Butcher et al. 2012; Lee 1999). Im Unterschied zu den Institutionen der industriellen Beziehungen, beeinflusst ein nationaler Mindestlohn hauptsächlich den unteren Abschnitt der Lohnverteilung (Boeri und van Ours 2013, S. 29). Ein Mindestlohn kann zudem auch das Wachstum des Niedriglohnsektors bremsen, indem er den Wettbewerbsdruck auf die Löhne in den unteren Lohnsegmenten reduziert und so eine Abwärtsspirale der Löhne verhindert (Bosch 2009, S. 345). So ist in Ländern mit einem höheren Mindestlohn im Verhältnis zum Durchschnittsverdienst der Niedriglohnsektor im Allgemeinen kleiner als in Ländern mit einem niedrigen Mindestlohn (Grimshaw 2011, S. 24). Abgesehen von seinen direkten Auswirkungen auf die Lohnhöhe von Niedriglohnarbeitern kann ein Mindestlohn auch einen sogenannten ripple effect haben. Das bedeutet, dass die Bezahlung derjenigen, die knapp über dem Mindestlohnniveau verdienen, durch die Erhöhung oder Einführung eines Mindestlohns automatisch verbessert wird, um die Lohndifferenzierung zwischen den unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen zumindest teilweise wiederherzustellen (ebd., S. 26). Daher kann es trotz Einführung oder Erhöhung des Mindestlohns dazu kommen, dass sich die aggregierte Lohnungleichheit nicht (oder nur geringfügig)
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verändert, da dieser auch zu einem Anstieg der mittleren Verdienste führen kann (Boeri und van Ours 2013, 30f.). Freeman (1996) weist jedoch darauf hin, dass je höher das Niveau des Mindestlohns, desto größer ist zwar der potenzielle Umverteilungsgewinn, aber auch das Risiko des Arbeitsplatzverlustes. So verweisen auch andere Studien auf einen tendenziell negativen Effekt bezüglich der Beschäftigungsstruktur. So zeigen Dolado et al. (1996) und die OECD (2006), dass der Mindestlohn die Beschäftigung im Allgemeinen eher negativ beeinflusst, obwohl die Größenordnung der Effekte von Land zu Land und in Abhängigkeit von der Beschäftigtengruppe unterschiedlich ausfällt. Auch die Metastudie von Neumark und Wascher (2007) kommt zu dem Ergebnis, dass die Behauptung der Mindestlohn habe keinen negativen Effekt auf die Beschäftigung, eindeutig falsch ist. Eine beträchtliche Mehrheit an Studien gibt einen relativ eindeutigen Hinweis auf negative Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen. So sind die negativen Beschäftigungseffekte insbesondere für Jugendliche sehr eindeutig (Laporšek 2013). Gesetzliche Mindestlöhne bilden somit eine produktivitätsunabhängige, institutionelle Untergrenze des Lohnniveaus und damit auch der unternehmerischen Lohnflexibilität. Unter der Annahme negativer Effekte von (zu) hohen Mindestlöhnen, insbesondere im Verhältnis zum Durchschnitts- oder Medianlohn, kann dieser in Krisenzeiten die sowieso schon schlechte Situation von Geringqualifizierten und Arbeitsmarkteinsteigern verschärfen und ihnen den Einstieg in den Arbeitsmarkt erschweren. Eine nach unten gerichtete intern-monetäre Anpassung ist daher nicht möglich und müsste vorzugsweise über externe Instrumente, wie Kurzarbeit, Befristung oder gar Entlassungen, kompensiert werden.
3.2.3
Kündigungsschutzgesetze
Die Auswirkungen des gesetzlichen Kündigungsschutzes auf das Arbeitsmarktgeschehen wurden in der Arbeitsmarktforschung intensiv diskutiert. Der Kündigungsschutz umfasst im Allgemeinen Normen und Restriktionen bezüglich Entlassungen, Kündigungsfristen und Abfindungen sowie sonstige gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegte Verfahrensvorschriften, die die Unternehmen bei Einzel- oder Massenentlassungen zu befolgen haben (Boeri et al. 2008, S. 30; Boeri 2011, S. 1209). Das Ziel restriktiver Kündigungsschutzgesetze ist in erster Linie der Erhalt oder die Stärkung der Beschäftigungsstabilität und der Einkommenssicherheit der regulär Beschäftigten. Weiterhin kann die auf diese Weise erreichte größere Unternehmensbindung Anreize für betriebliche Investitionen in das Humankapital der
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Arbeitskräfte fördern, was sich wiederum positiv auf die Beschäftigungsstabilität auswirkt. Durch die Ansammlung betriebsspezifischen Wissens steigt dementsprechend auch die Abhängigkeit des Arbeitgebers gegenüber der Arbeitskraft, wodurch sich die Machtbalance zu Gunsten letzterer verschiebt. Aus theoretischer Perspektive wird davon ausgegangen, dass ein hoher Kündigungsschutz die Neigung der Unternehmen verringert, das Beschäftigungsniveau als Reaktion an veränderte wirtschaftliche Bedingungen anzupassen. Das liegt daran, dass von Unternehmensseite her ein hoher Kündigungsschutz mit einer Zunahme der Fluktuationskosten (labour turnover costs) im Falle einer Entlassung einhergeht (Lindbeck und Snower 1988). Dies liegt zum einen daran, dass eine Kündigung mit direkten Kosten verbunden sein kann (beispielsweise Abfindungen, die oftmals zusätzlich nach dem Senioritätsprinzip gestaffelt sind), oder mit solchen Kosten, die mit einer späteren Wiederbesetzung und Einarbeitung zukünftiger Arbeitnehmer verbunden sind. Dies kann zugleich in einer geringeren Reallokationsgeschwindigkeit und einer eher verhaltenen (Wieder-) Einstellungspraxis seitens der Arbeitgeber resultieren, aufgrund der Unsicherheit bezüglich einer potenziellen Fehlbesetzung, die dann nur unter hohen Kosten wieder entlassen werden kann. Auf diese Weise nimmt der Kündigungsschutz einen direkten Einfluss auf die personalpolitischen Entscheidungen und die numerische Flexibilität seitens der Unternehmen (Thelen 2014, S. 112). Neben der Regulierung von regulären Beschäftigungsverhältnissen fallen unter die Kündigungsschutzgesetze auch die Regelungen und Restriktionen hinsichtlich der Nutzung befristeter Arbeitsverhältnisse (Addison und Teixeira 2001, S. 2). Letztere dokumentieren die Regulierung atypischer Beschäftigungsformen, d. h. wie schwierig es für Arbeitgeber ist, Arbeitnehmer über flexible Verträge anzustellen (Iversen und Soskice 2015a, S. 206). So werden in diesen Regelungen unter anderem die Rahmenbedingungen festgehalten, unter denen befristete Verträge abgeschlossen werden dürfen sowie die Anzahl maximal aufeinanderfolgender Befristungen. Des Weiteren wird dadurch auch geregelt, inwieweit und wie oft in Folge es Unternehmen erlaubt ist, Leiharbeitnehmer zu beschäftigen. Empirisch beharrt ein Großteil der Literatur auf den negativen Auswirkungen strikter Kündigungsschutzgesetze von regulär Beschäftigten auf die Beschäftigungsdynamiken, da Unternehmen bei der Einstellung neuer Mitarbeiter vorsichtiger sind, um kostenintensive Fehlbesetzungen zu vermeiden (Nunziata 2005). Dies dokumentiert sich vor allem in dem eindeutig negativen Effekt strikter Kündigungsschutzgesetze auf die Abströme aus Arbeitslosigkeit, was zu einem höheren Niveau an struktureller Arbeitslosigkeit beiträgt, da die Arbeitskräfte vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden (OECD 2009, S. 55). Dies wirkt sich in erster Linie negativ auf die Beschäftigungschancen von Geringqualifizierten aus
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(Gebel und Giesecke 2011) oder erhöht das Risiko der atypischen Beschäftigung von Jugendlichen (Gebel und Giesecke 2016). Hinsichtlich der aggregierten Lohnungleichheiten zeigt sich hingegen ein negativer Zusammenhang zwischen der Stärke des Kündigungsschutzes für regulär Beschäftigte und dem Trend zu mehr Lohnungleichheit, d. h. ein hoher Kündigungsschutz wirkt sich komprimierend auf die Lohnverteilung aus (Koeniger et al. 2007). Während Koeniger et al. dieses Phänomen damit erklären, dass durch einen höheren Kündigungsschutz insbesondere die Verhandlungsposition von Geringqualifizierten gestärkt und dadurch die Lohndispersion tendenziell verringert wird, ließe sich im Anschluss an die Ergebnisse von Gebel und Giesecke (2011) eine stärkere Lohnkompression durch die beschriebenen negativen Beschäftigungseffekte auf Geringqualifizierte erklären. Im Falle eines strikten Kündigungsschutzes nutzen die Unternehmen Einstellungen und Entlassungen als Anpassungsformen in deutlich geringerem Maße, da vor diesem Hintergrund die Fähigkeit eines Unternehmens verringert wird, Arbeitskräfte als Reaktion auf Nachfrage- oder Produktivitätsschocks auf das gewünschte Niveau anzupassen (Lafontaine und Sivadasan 2009). Stattdessen lässt sich eine erhöhte Beschäftigungsflexibilität unter solchen Umständen vor allem über interne Anpassungsformen erreichen, d. h. vor allem über die Arbeitszeitgestaltung und Lohnanpassungen (Erken et al. 2015, S. 10; Addison und Teixeira 2001, 26f.). Es ist jedoch damit zu rechnen, dass dort, wo neben einem strikten Kündigungsschutz die Löhne nach unten hin beispielsweise durch Mindestlöhne rigide sind, vor allem auf die Beschäftigungssicherheit in Form von Befristungen als Hauptanpassungsmechanismus gesetzt wird, statt auf Lohnanpassungen oder Entlassungen (Boeri et al. 2008, S. 37). Eine strikte Regulierung von befristeten Beschäftigungsverhältnissen steht in einem engen Zusammenhang zu einem geringeren Einsatz von Befristungen, insbesondere bei geringqualifizierten und Jugendlichen (Gebel und Giesecke 2011, 2016), was dazu beitragen kann die Arbeitsmarktpartizipation von Jugendlichen und anderen Gruppen am Rande des Arbeitsmarktes zu verringern (ebd., S. 55). Eine geringere Regulierung von Befristungen kann jedoch auch dazu beitragen, dass Unternehmen ältere Insider durch kostengünstigere und flexiblere Berufseinsteiger ersetzen (Boeri und Garibaldi 2007). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass ein restriktiver Kündigungsschutz für regulär Beschäftigte bei einer gleichzeitig liberalen Verwendung von Befristungen zu einer verstärkten Dualisierung bzw. Segmentierung des Betriebes oder des gesamten Arbeitsmarkts führen kann (Barbieri und Cutuli 2016, S. 503). Somit profitieren nicht alle Arbeitnehmergruppen gleichermaßen von den
3.2 Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen
71
Kündigungsschutzgesetzen. Insbesondere Beschäftigte in befristeten oder Teilzeitarbeitsverhältnissen, Zeitarbeitnehmer und Beschäftigte in kleineren Unternehmen sind oft nicht im selben Umfang geschützt wie regulär Beschäftigte (OECD 1986, S. 94). In Krisenzeiten kann davon ausgegangen werden, dass die flexiblere Randbelegschaft (mit eher unterdurchschnittlichen Löhnen) eher entlassen wird als die oft besser geschützte Stammbelegschaft (mit tendenziell überdurchschnittlichen Löhnen), was somit zu einer Komprimierung der Lohnverteilung und der Abnahme der aggregierten Lohnungleichheiten führen könnte. Dieser Effekt wird umso ausgeprägter sein, je strikter der Kündigungsschutz für regulär Beschäftigte bei gleichzeitig liberaler Verwendung von Befristungen, ausfällt (Barbieri und Cutuli 2016, S. 503; Passaretta und Wolbers 2019, S. 386).
3.2.4
Lohnersatzleistungen
Wohlfahrtsstaatliche Arrangements können ebenfalls einen, wenn auch eher indirekten, Einfluss auf die betrieblichen Anpassungsstrategien haben. Dies gilt vor allem für großzügige Lohnersatzleistungen. Unter den Lohnersatzleistungen werden sowohl die Höhe als auch die Dauer von Transferzahlungen für Arbeitnehmer verstanden, die ihre Arbeit verloren haben. Sie zählen zu den passiven Arbeitsmarktpolitiken und sollen die materiellen Folgen und Risiken von (kurzfristiger) Arbeitslosigkeit abmildern (Eichhorst et al. 2011, S. 8). Aus suchtheoretischer Perspektive (vgl. Abschnitt 2.1.3) funktionieren Lohnersatzleistungen wie indirekte Mindestlöhne und bilden daher eine implizite Lohnuntergrenze. Mit zunehmender Höhe und Dauer von Lohnersatzleistungen erhöht sich auch die (freiwillige) Arbeitslosigkeitsdauer sowie der Reservationslohn, zu dem die Person bereit ist, eine Stelle anzunehmen. Folglich kann dies dazu führen, dass länger nach einer geeigneten und ggf. besser entlohnten Stelle gesucht werden kann, ohne die Notwendigkeit, eine Arbeitsstelle aus finanzieller Not heraus annehmen zu müssen. Dies führt meistens zu einer besseren Passgenauigkeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitsstelle, was wiederum mit höheren Löhnen einhergeht. Arbeitslosenversicherungen und Lohnersatzzahlungen stehen somit immer wieder vor dem Dilemma, die richtige Balance zwischen Wohlfahrtserhalt und Anreizen für eine aktive Arbeitssuche herzustellen (Boeri et al. 2008, S. 43). Insgesamt ist aus theoretischer Perspektive daher zu erwarten, dass hohe und langandauernde Lohnersatzleistungen das Angebot gering entlohnter Arbeit reduzieren oder die Bereitschaft seitens der Arbeitnehmer, diese anzunehmen (Lucifora
72
3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
et al. 2005, S. 274). Beides hat im Allgemeinen eine reduzierende Wirkung auf Lohnungleichheiten, insbesondere im unteren Bereich der Lohnverteilung. Ein anderes Argument wäre, dass die Ansprüche auf Lohnersatzleistungen in der Regel mit Sozialversicherungsleistungen erarbeitetet werden müssen. Daher sind vor allem Beschäftigte der Stammbelegschaft eher in der Lage, diese Ansprüche zu erarbeiten, aufgrund ihrer kontinuierlichen und regulären Arbeitsmarktpartizipation. Somit könnten höhere Lohnersatzleistungen deren Verhandlungsmacht steigern, indem diese länger nach einer geeigneten Stelle suchen können, ohne große Wohlfahrtsverluste hinnehmen zu müssen. Arbeitnehmer mit eher diskontinuierlichen Erwerbsverläufen haben zumeist nur geringe oder gar keine Ansprüche auf Lohnersatzleistungen, was deren Reservationslohn aufgrund mangelnder Alternativen, verringert. Daher ist deren Bereitschaft größer, die erst beste Stelle anzunehmen, die sich ihnen bietet. Empirisch finden sich vor allem negative Beschäftigungseffekte seitens der Lohnersatzleistungen. So konnte u. a. Esping-Andersen (2000, S. 78) zeigen, dass die Lohnersatzraten zwar einen relativ schwachen Effekt auf die allgemeine Arbeitslosigkeit haben, dieser jedoch im Falle von Geringqualifizierten relativ stark sei. Der Effekt der Dauer der Lohnersatzleistungen ist hingegen deutlich stärker und wirkt sich besonders negativ auf die Abwanderungen aus der Arbeitslosigkeit aus (Tatsiramos und van Ours 2014). Weiterhin zeigte sich, dass die Lohnersatzleistungen keinen signifikanten Einfluss auf die Zuflüsse in, jedoch einen negativen Einfluss auf die Abwanderung aus Arbeitslosigkeit hat – insbesondere für ältere Arbeitnehmer (OECD 2009, S. 55). Dies entspricht auch den Ergebnissen weiterer Studien, die eine positive Verbindung zwischen den Lohnersatzraten und der Verweildauer in Arbeitslosigkeit feststellen (Bassanini und Duval 2006; Blanchard und Wolfers 2000). Hinsichtlich der Lohnungleichheit sprechen die Ergebnisse dafür, dass vor allem Geringverdiener durch zu hohe oder zu langandauernde Lohnersatzleistungen vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Im umgekehrten Fall lässt sich auch empirisch zeigen, dass schwindende Lohnersatzraten zu einer größeren Lohnspreizung führt (OECD 2011, S. 31; Koeniger et al. 2007). Im Rahmen fiskalischer Konsolidierungsbemühungen oder struktureller Reformen, beispielsweise infolge einer Krise, können die staatlichen Sozialleistungen und Lohnersatzzahlungen zurückgefahren werden. Dadurch würden die Reservationslöhne der Arbeitnehmer und Arbeitsuchenden sinken und damit die Anreize zur Aufnahme einer auch geringentlohnten Arbeit steigen – mit negativen Folgen für die Lohnverteilung. Sinkende Lohnersatzleistungen im Kontext einer Krise erhöhen jedoch nicht nur für Arbeitssuchende den Anreiz zur Aufnahme einer niedrigentlohnten Beschäftigung. Zusätzlich dazu üben sie auch Druck auf die
3.2 Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen
73
Löhne von Erwerbstätigen aus, insbesondere der Besserverdienenden, indem die finanziellen Unsicherheiten im Falle der Arbeitslosigkeit für diese Gruppe besonders hoch ist und damit auch der Druck, den Arbeitsplatzverlust zu vermeiden. Dadurch wächst die Konzessionsbereitschaft der Arbeitnehmer, auch geringere Löhne oder einen Lohnverzicht zu akzeptieren (Hout 1997).
3.2.5
Aktive Arbeitsmarktpolitik
Im Gegensatz zu passiven Arbeitsmarktpolitiken wie den Lohnersatzleistungen, die die Wohlfahrtsverluste der Arbeitskräfte im Falle von Arbeitslosigkeit reduzieren sollen, zielen aktive Arbeitsmarktpolitiken darauf ab, die Erwerbslosen bei der Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme aktiv zu unterstützen sowie deren Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern und Eigenverantwortung zu fördern. Zudem soll der Einsatz aktiver Programme dazu beitragen, potenziellen Arbeitshemmnissen entgegenzuwirken, die sich aus großzügigen Lohnersatzleistungen ergeben können. Zu den Instrumenten aktiver Arbeitsmarktpolitiken gehören unter anderem die Arbeitsvermittlung und Beratung, Maßnahmen zur beruflichen Fort- und Weiterbildung sowie Lohnsubventionen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Eichhorst et al. 2011, 8f.). Aus theoretischer Perspektive gehen höhere Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitiken mit einer Verbesserung der Beschäftigungschancen bei gleichzeitiger Reduktion der Lohnungleichheiten einher. Insbesondere von den Instrumenten der beruflichen Fort- und Weiterbildung verspricht man sich eine Reduktion in der Niedriglohnbeschäftigung, da die Teilnahme an derartigen Qualifizierungsmaßnahmen das Humankapital und damit die Produktivität der Arbeitslosen steigert (Bosch 2009, S. 348). Gleichzeitig erhöht eine höhere Humankapitalausstattung auch den Reservationslohn der Arbeitskräfte, was mit einer verbesserten Verhandlungsposition einhergeht und gleichzeitig die Bereitschaft senkt, niedrige Löhne zu akzeptieren. Durch diesen negativen Effekt auf das Angebot von Niedriglohnbeschäftigung stehen aktive Arbeitsmarktpolitiken aus theoretischer Perspektive in einem engen Zusammenhang mit einem Rückgang aggregierter Lohnungleichheiten durch eine Kompression des unteren Abschnitts der Lohnverteilung (ebd., S. 348). Dieser angebotsseitige Effekt aktiver Arbeitsmarktpolitiken hängt jedoch stark von dem Druck ab, der auf den einzelnen Arbeitslosen ausgeübt wird, eine Stelle, unabhängig von ihren Konditionen, zu akzeptieren. Bosch (2009) verweist dabei auf zwei verschiedene Modelle der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Das erste,
74
3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
welches er als „empowerment“-Strategie beschreibt, zielt darauf ab, durch fördernde Maßnahmen in das Humankapital von Arbeitslosen zu investieren, was deren Produktivität erhöht und deren individuelle Verhandlungsmacht stärkt. Im Rahmen dieser Strategien sind dann die oben erwähnten Effekte bzgl. Beschäftigungschancen und Lohnungleichheiten zu erwarten. Das andere Modell wird als „work-first“-Strategie bezeichnet, wo bei gleichzeitig niedrig und kurz ausfallenden Lohnersatzleistungen, die Unterstützung bei der Arbeitssuche eher dazu dient, die Arbeitslosen unter Druck zu setzten, so schnell wie möglich wieder in Arbeit zu kommen, was mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einem geringeren Verdienst führt (Bosch 2009, S. 348). Mit dieser Strategie wird also die potenzielle Suchdauer reduziert und damit auch die Möglichkeit, eine bessere Stelle mit entsprechender Entlohnung zu finden. Lohnsubventionen bilden hierbei einen wichtigen Bestandteil dieser Strategie, da so der Anreiz zur Aufnahme niedrig entlohnter Arbeit gesteigert wird, wenn das geringe Arbeitsentgelt mit staatlichen Leistungen aufgestockt wird (King und Rueda 2008, S. 279). Ob aktive Arbeitsmarktpolitiken die Lohnungleichheiten erhöhen oder nicht, hängt somit stark davon ab, welches Leitmotiv dabei verfolgt wird. Empirisch ist das Bild über die Auswirkungen und Effekte aktiver Arbeitsmarktpolitik hingegen uneindeutig bzw. stark abhängig von den jeweiligen Programmen und Zielgruppen (Vooren et al. 2019; Card et al. 2010; Calmfors und Skedinger 1995). Hinsichtlich betrieblicher Anpassungsformen in krisenhaften Zeiten stehen aktive Arbeitsmarktprogramme in einem engen Zusammenhang zu den Formen extern-monetärer Flexibilität, beispielsweise über Lohnkostensubventionen (ebd., S. 602). So können Lohnkostenzuschüsse das Beschäftigungsniveau stabilisieren, indem die Arbeitgeber ihre Lohnkosten reduzieren können, ohne dass die Arbeitskräfte ihr Arbeitsangebot zurückziehen, da letztere durch die Zuschüsse weiterhin dasselbe Entgelt erwarten können. Durch diese Form der Lohnflexibilität kann Entlassungen oder Einstellungshemmnissen entgegengewirkt werden, genauso, wie Reallohnverlusten auf Arbeitnehmerseite. Auf diese Weise kann der Druck auf die Arbeitsmärkte relativiert werden, die Konkurrenz verringert und dadurch das Angebot einigermaßen stabil gehalten werden.
3.2.6
Steuern und Abgaben
Hohe Ausgaben für passive (Lohnersatzleistungen), aber auch aktive Arbeitsmarktpolitiken erfordern auf der anderen Seite auch hohe Einnahmen seitens des Staates oder der Sozialversicherungen. Dies erfolgt überwiegend in Form von
3.2 Die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen
75
Steuern und Sozialabgaben, was ebenfalls einen direkten Einfluss auf die Arbeitskosten und damit auf die betriebliche Personalpolitik hat (Esping-Andersen 2000, S. 77). Als Steuer- und Abgabenkeil wird dabei die Differenz zwischen den für die Arbeitgeber entstehenden Arbeitskosten (Arbeitgeberbruttolohn) und dem Nettoverdienst seitens der Arbeitnehmer bezeichnet. Die Höhe dieses so genannten „tax wedges“ hat einen entscheidenden Einfluss auf die Arbeitsnachfrage als auch auf das Arbeitsangebot, da lohnbezogene Steuern und Abgaben in der Regel sowohl von Arbeitgebern als auch von Arbeitnehmern getragen werden. Theoretisch wird davon ausgegangen, dass ein hoher oder steigender Steuerund Abgabenkeil eines der größten Hindernisse hinsichtlich der Arbeitsplatzschaffung und der Bereitschaft von Erwerbslosen ist, wieder eine Arbeit aufzunehmen. Dies bezieht sich insbesondere auf geringqualifizierte und geringentlohnte Arbeit. Ist die Steuer- und Abgabenlast niedriger Verdienste so hoch, dass die Differenz zwischen dem auf diese Weise erzielten Arbeitnehmernettolohn und den durch Transfer- und Sozialleistungen potentiell zu erzielenden Einkommen zu gering ist, sinkt der Anreiz zur Ausübung einer Erwerbsarbeit und die Arbeitskräfte ziehen ihr Angebot vom Arbeitsmarkt zurück (Esping-Andersen 2000). Sind die Steuer- und Abgabenbelastungen auf Arbeitgeberseite zu hoch und können diese zusätzlichen Kosten nicht auf die Arbeitnehmer umgelegt werden, führt eine hohe Abgabenlast auch zu einer Abnahme der arbeitgeberseitigen Arbeitsnachfrage und damit zu einer Verdrängung insbesondere geringqualifizierter Arbeit. Dadurch wird der Arbeitskräfteeinsatz reduziert, vorwiegend durch extern-numerische Anpassungen, beispielsweise in Form einer Substitution durch den Einsatz von Maschinen oder durch extern-funktionale Anpassungen in Form von Auslagerungen arbeitsintensiver Produktionsprozesse in Regionen mit geringen Arbeitskosten. Ein hoher oder zunehmender Steuer- und Abgabenkeil hat somit theoretisch einen negativen Effekt auf das Beschäftigungsniveau, insbesondere von Geringqualifizierten oder Arbeitsmarkteinsteigern, was wiederum eine Verdrängung von ehemals niedrig entlohnten Arbeitnehmern bedeutet und auf diese Weise mit einer Reduktion von Lohnungleichheiten einhergeht. Empirisch konnte u. a. die OECD (1994) zeigen, dass es einen starken Zusammenhang zwischen den Steuern und Abgaben und dem Beschäftigungsniveau gibt. Es zeigt sich hingegen kein pauschaler Effekt über alle Beschäftigten hinweg. Stattdessen sind hauptsächlich Geringqualifizierte und Jugendliche negativ betroffen (Esping-Andersen 2000, S. 77). Auch neuere Studien (OECD 2009) zeigen einen positiven Effekt des Steuerkeils auf den Zufluss in Arbeitslosigkeit sowie auf das Arbeitslosigkeitsniveau. Insgesamt deuten die Ergebnisse daher darauf hin, dass ein hoher oder zunehmender Steuerkeil über eine Erhöhung der Lohnkosten, die Arbeitsnachfrage drückt (ebd., S. 55). Die Auswirkungen auf die
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3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
Beschäftigungsstruktur hängen jedoch in hohem Maße davon ab, welcher Teil des Anstiegs des Steuer- und Abgabenkeils von den Arbeitgebern getragen wird und welcher Teil auf die Arbeitnehmer umgelegt werden kann (Nunziata 2005, S. 440). Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass ein hoher Steuer- und Abgabenkeil in Zeiten der Krise zu Entlassungen oder Nichteinstellungen insbesondere von Geringqualifizierten und Jugendlichen führt, da deren Lohnkosten, gemessen an ihrer tatsächlichen Produktivität, zu hoch ausfallen würden. Bestimmte Krisenpolitiken, wie beispielsweise die fiskalische Konsolidierung, können neben der Einsparung öffentlicher Ausgaben auch mit einer gleichzeitigen Anhebung der Steuern und Abgaben einhergehen. Tragen diese Erhöhungen der Kosten in erster Linie die Arbeitgeber, so könnte dies zu einer Reduktion niedrigentlohnter Beschäftigung und damit zu einer Kompression der Lohnverteilung und einem Rückgang der Lohnungleichheiten führen.
3.3
Der Staat als Arbeitgeber
In den beiden vorherigen Abschnitten wurden die betrieblichen Anpassungsformen sowie die unterschiedlichen institutionellen Kontexte, in denen diese stattfinden, besprochen. Hierbei galt bisher implizit die Annahme, dass es sich dabei um privatwirtschaftliche Unternehmen handelt, die sich an verändernde wirtschaftliche Umstände anpassen. Vor dem Hintergrund, dass der Staat neben seiner Rolle als regulierende Instanz und als Teil des korporatistischen Dreiecks zugleich der größte Arbeitgeber in allen EU-Mitgliedsländern ist, stellt sich die Frage, ob die diskutierten Anpassungsstrategien im selben Maße auch für den öffentlichen Sektor gelten. Ausgangspunkt für die folgende Argumentation sind segmentations- und demokratietheoretische Überlegungen zur Funktionsweise und Steuerungslogik des öffentlichen Sektors, insbesondere in Krisenzeiten (Broschinski et al. 2018). Der öffentliche Dienst gilt als Idealtyp eines internen Arbeitsmarktes (Sengenberger 1978b), in dem die Beschäftigungsverhältnisse überwiegend durch eine hohe Stabilität, vergleichsweise hohe Gehälter, interne Karriereleitern, betriebliche und überbetriebliche Interessenvertretungen sowie ausgeprägte Systeme interner Qualifizierung geprägt sind (Tepe et al. 2015, 41; Bach und Kessler 2007; Keller 1993, 89ff.). Dadurch werden Anpassungen der Lohn- und Beschäftigungsstrukturen per se deutlich schwieriger. Hinzu kommt, dass die Anpassungsstrategien innerhalb der Privatwirtschaft auf Profitmaximierung und Kosten-Nutzen-Kalkülen beruhen, dies nicht eins zu eins auf den öffentlichen
3.3 Der Staat als Arbeitgeber
77
Sektor übertragen werden kann (Keller 1993, 115ff.). Die Steuerungslogik von öffentlichen Arbeitsmärkten oder Betrieben ist primär durch nicht-marktförmige Mechanismen, d. h. durch soziale Normen, gesetzliche Vorgaben und vor allem politische Faktoren gekennzeichnet (Keller und Henneberger 1999). So spielt der politische Kontext bei der Anpassung des Beschäftigungs- und Lohnniveaus im öffentlichen Dienst eine viel gewichtigere Rolle als in der Privatwirtschaft. Dies resultiert vor allem aus der Doppelfunktion des Staates als Anbieter von öffentlichen Dienstleistungen auf der einen Seite und als Arbeitgeber auf der anderen Seite. Denn im Vergleich zur Privatwirtschaft, hat die breite Öffentlichkeit ein starkes Interesse an der öffentlichen Personalpolitik. Zum einen, weil sie diese über Steuern direkt mitfinanzieren. Zum anderen aber ist die Öffentlichkeit auf die sozialen Dienstleistungen von Seiten des Staates angewiesen. Dies betrifft insbesondere die Schlüsselbereiche wie Bildung und Gesundheit, die sich unmittelbar auf das Alltagsleben der Menschen auswirken (Bryson und Forth 2008). Damit geht eine doppelte Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern einher: Zum einen eine sozialpolitische Verantwortung gegenüber seinen Bürgern, die auf öffentliche Dienstleistungen angewiesen sind bzw. diese von ihm erwarten. Zum anderen hat er eine beschäftigungspolitische Verantwortung gegenüber seinen Angestellten. Beides trägt maßgeblich zur Legitimation und damit auch zum Machterhalt der jeweiligen Regierung bei. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich extern-numerische Maßnahmen, vor allem in Form von Entlassungen, deutlich negativer auf die Legitimation des Staates und der amtierenden Regierung auswirken als andere Anpassungsformen, wie beispielsweise Lohnanpassungen, ein zunehmender Einsatz befristeter Beschäftigungsverhältnisse oder Arbeitszeitreduzierungen. Die öffentlichen Dienstleistungen müssen daher weitestgehend aufrechterhalten werden, zur Not auch über unbezahlte Überstunden, Arbeitszeitkonten oder Kürzungen von Zusatz- und Sonderzahlungen. In Extremfällen kann auch der Staat auf extern-funktionale Maßnahmen zurückgreifen, in Form von Privatisierung oder Auftragsvergabe, indem so die Kosten an flexiblere und häufig günstigere Teilbereiche der Privatwirtschaft ausgelagert werde. Die legitimationsträchtige Steuerungslogik öffentlicher Betriebe kann somit zu gänzlich unterschiedlichen Anpassungsformen im Vergleich zur Privatwirtschaft führen, was bei der Analyse von Arbeitsmarktanpassungen im Zuge von Krisen unbedingt berücksichtigt werden sollte.
78
3
3.4
Betriebliche Anpassungsstrategien …
Zusammenfassung und Hypothesen
Das Ziel dieses Kapitels war es, der Frage nachzugehen, wie Unternehmen ihren Arbeitseinsatz in Reaktion auf Nachfrageschwankungen anpassen können und wie Arbeitsmarktinstitutionen als rechtlich-institutioneller Handlungsrahmen diese unternehmerische Flexibilitätsgestaltung beeinflussen und dadurch länderspezifische Muster in der Dynamik von Lohnungleichheiten hervorbringen. Im Folgenden sollen nun die zentralen Aspekte dieses Kapitels zusammengefasst und als Hypothesen formuliert werden. 1) Es wurde herausgearbeitet, dass für eine Untersuchung der Lohnverteilung nicht bloß monetäre Anpassungsformen relevant sind, sondern eben auch all jene, die einen Einfluss auf die Beschäftigungsstruktur haben und damit die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft verändern. Es wurde deutlich, dass Unternehmen nicht nur auf eine dieser Anpassungsstrategien limitiert sind, sondern gleichzeitig auf unterschiedliche Formen zurückgreifen können. Eine Kombination unterschiedlicher Maßnahmen erfolgt jedoch vor allem über unterschiedliche Beschäftigtengruppen. So werden im Fall der gut ausgebildeten Stammbelegschaft eher interne Anpassungsstrategien bevorzugt, um diese aufgrund der hohen wechselseitigen Bindung zwischen Unternehmen und Arbeitskraft langfristig halten zu können. Für die Randbelegschaft, die meist ein geringeres Qualifikationsniveau und betriebsspezifisches Wissen aufweist, kann eher davon ausgegangen werden, dass externe Anpassungsmaßnahmen Verwendung finden, da der Verlust von Wissen und einmal getätigten Investitionen in diesem Fall überschaubar ist. Die parallele Verwendung von internen und externen Maßnahmen für unterschiedliche Beschäftigtengruppen kann jedoch oftmals in einer Dualisierung der Arbeitnehmerschaft resultieren, was einen großen Einfluss auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen hat. Beispielsweise dann, wenn die qualifizierte und gut entlohnte Stammbelegschaft gehalten wird während die Randbelegschaft, mit üblicherweise unterdurchschnittlichen Löhnen, freigesetzt wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine erste allgemeine Hypothese bezüglich des Zusammenhangs zwischen den betrieblichen Anpassungsformen und deren Auswirkungen auf die Lohnverteilung formulieren: Hypothese 1: Die Dynamiken von Lohnungleichheiten werden im entscheidenden Maße durch das Zusammenspiel verschiedener betrieblicher Anpassungsformen geprägt, die mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen einhergehen.
3.4 Zusammenfassung und Hypothesen
79
2) Weiter zeigte sich, dass der zu erwartende Nutzen dieser Anpassungsformen und die mit ihnen verbundenen Kosten in erheblichem Maße durch die vorherrschende institutionelle Ordnung geprägt werden und damit auch die Fähigkeit der Unternehmen, auf makroökonomische Schocks zu reagieren. Für die relevanten Arbeitsmarktinstitutionen lassen sich unterschiedliche Wirkungskanäle unterscheiden, d. h. wie sich die jeweiligen Institutionen auf die Anpassungsstrategien der Unternehmen auswirken. In Anlehnung an Gerstung (2019), lassen sich vier unterschiedliche Wirkungskanäle unterscheiden, die den einzelnen Institutionen zusammenfassend zugeordnet werden können: 1) direkte Auswirkungen auf die Lohnfestsetzung bzw. die Lohnflexibilität, 2) Beeinflussung des Reservationslohns und die Konzessionsbereitschaft der Arbeitnehmer, 3) die kollektive Verhandlungsmacht und Interessenvertretung der Arbeitnehmer sowie 4) die Transaktionskosten bezüglich Einstellungen und Entlassung (Tabelle 3.3). So kann die kollektive Verhandlungsmacht starker Gewerkschaften zu höheren Löhnen und einer Beschäftigungssicherheit der Stammbelegschaft führen, wodurch Anpassungslasten in erster Linie von der Randbelegschaft getragen werden. In hochkoordinierten Systemen sind zudem kollektive Aktionen wie Beschäftigungssicherungsvereinbarungen und ein kollektiver Lohnverzicht, die eine egalitäre Anpassung ermöglichen, deutlich wahrscheinlicher, da die Interessen der Randbelegschaft hier stärker vertreten werden. Hypothese 2: Je höher der gewerkschaftliche Organisationsgrad und je geringer der Koordinationsgrad, desto eher erfolgen Anpassungen zu Lasten der Randbelegschaft. Gesetzliche Mindestlöhne und eine hohe Tarifabdeckung zeigten sich als institutionelle Lohnuntergrenzen, die die unternehmerische Lohnflexibilität einschränken und stattdessen externe Anpassungsformen begünstigen – insbesondere bei niedrigentlohnten Arbeitnehmern. Hypothese 3: Je höher die gesetzlichen Mindestlöhne und je höher die Tarifabdeckungsrate, desto geringer ist die monetäre Flexibilität der Unternehmen, weshalb diese vermehrt auf Entlassungen der Randbelegschaft zurückgreifen. Ein restriktiver Kündigungsschutz bei einer gleichzeitig liberalen Verwendung befristeter Beschäftigungsformen erschwert hingegen Entlassungen der Stammbelegschaft aufgrund hoher Transaktionskosten, weshalb die Unternehmen in krisenhaften Zeiten ihre Personalkosten vermehrt über die flexible Randbelegschaft anpassen.
×
Aktive Arbeitsmarktpolitik
Steuern und Abgaben
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Gerstung (2019, 129ff.).
× ×
Lohnersatzleistungen
×
×
Reservationslohn
×
×
Kollektive Verhandlungsmacht
×
×
Transaktionskosten
3
Kündigungsschutz
Mindestlöhne
Koordinationsgrad
Tarifabdeckung
Gewerkschaftlicher Organisationsgrad
Lohnfestsetzung
Tabelle 3.3 Wirkungskanäle von Arbeitsmarktinstitutionen
80 Betriebliche Anpassungsstrategien …
3.4 Zusammenfassung und Hypothesen
81
Hypothese 4: Je höher die Differenz zwischen dem Kündigungsschutz für regulär Beschäftigte und der Regulierung atypischer Beschäftigungsverhältnisse, desto eher greifen Unternehmen auf extern-numerische Anpassungen zu Lasten der Randbelegschaft zurück. Des Weiteren scheinen geringere Lohnersatzleistungen in einem engen Zusammenhang zu einer höheren angebotsseitigen Lohnflexibilität zu stehen. So können Unternehmen die Löhne eher nach unten hin anpassen, da die Konzessionsbereitschaft der Arbeitnehmer höher sein wird, weil die finanzielle Unsicherheit im Fall von Arbeitslosigkeit deutlich größer wäre. Die damit einhergehenden geringeren Reservationslöhne erhöhen zudem die Anreize, auch eine geringentlohnte Arbeit aufzunehmen. Aktive Arbeitsmarktpolitiken können durch Lohnsubventionen ebenfalls die Reservationslöhne der Arbeitnehmer senken und damit die Lohnflexibilität der Unternehmen erhöhen. Hypothese 5: Je geringer das Niveau und die Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen und je höher die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitiken, desto ausgeprägter sind die monetären Anpassungen auf beiden Seiten. Hinsichtlich eines hohen Steuer- und Abgabenkeils zeigte sich, dass dieser insbesondere in Zeiten der Krise zu einer Freisetzung oder Nichteinstellung von Geringqualifizierten und Jugendlichen führen kann, da deren Lohnkosten, gemessen an ihrer tatsächlichen Produktivität, zu hoch sind – bedingt durch die hohen Reservationslöhne. Hypothese 6: Je höher der Steuer- und Abgabenkeil, desto eher erfolgen externnumerische Anpassungen zu Lasten der Randbelegschaft. 3) Es wurde zudem diskutiert, ob die eben beschriebenen betrieblichen Anpassungsstrategien sowohl in der Privatwirtschaft als auch im öffentlichen Sektor gleichermaßen zu erwarten sind. Argumentiert wurde, dass die Steuerungslogik von öffentlichen Arbeitsmärkten eine andere wäre und dass diese primär durch nicht-marktförmige Mechanismen charakterisiert ist. So spielt der politische Kontext bei der Anpassung des Beschäftigungs- und Lohnniveaus im öffentlichen Dienst eine viel gewichtigere Rolle als in der Privatwirtschaft. Die legitimationsträchtige Steuerungslogik öffentlicher Betriebe könnte daher zu gänzlich unterschiedlichen Anpassungsformen im Vergleich zur Privatwirtschaft führen, was bei der Analyse von Arbeitsmarktanpassungen berücksichtigt werden sollte, um die Dynamiken von Lohnungleichheiten erklären zu können.
82
3
Betriebliche Anpassungsstrategien …
Hypothese 7: Bei einem hohen Anpassungsdruck auf den öffentlichen Sektor, reagiert der Staat in erster Linie mit einer Anpassung der Löhne und Gehälter und nicht mit einer Anpassung des Beschäftigungsvolumens. Im nachfolgenden Kapitel werden, die bislang nur theoretisch diskutierten, wirtschaftlichen Veränderungen und der damit einhergehende Anpassungsdruck seitens der Unternehmen nun konkretisiert, und zwar am Beispiel der Eurokrise(n), die die EU und insbesondere die Eurozone seit 2008 heimgesucht haben.
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen Arbeitsmärkte
Im vorherigen Kapitel wurde diskutiert, wie Unternehmen ihren Arbeitseinsatz und ihre Personalkosten an sich verändernde wirtschaftliche Umstände anpassen können, wie diese Anpassungsstrategien durch den institutionellen Kontext geprägt werden und welche Auswirkungen diese Entscheidungen sodann auf die Lohnungleichheiten haben. Im Folgenden sollen diese theoretischen Überlegungen auf den Fall der Eurokrise angewandt werden, die seit 2008 die europäischen Volkswirtschaften und insbesondere deren Arbeitsmärkte unter einen enormen Anpassungs- und Veränderungsdruck setzt. Das Ziel dieses Kapitels ist, zu zeigen, mit welchen unterschiedlichen Herausforderungen die Unternehmen und Arbeitnehmer in den einzelnen Mitgliedsstaaten konfrontiert sind und wie sich der rechtlich-institutionelle Handlungsrahmen der Unternehmen im Zuge von Arbeitsmarktreformen im Verlauf der Krise verändert hat. In einem ersten Schritt werden dazu die Ursachen und der Verlauf der Krise beschrieben. Dabei wird deutlich, dass die Mitgliedsstaaten der EU und insbesondere der Eurozone nicht bloß einer Krise ausgesetzt waren, sondern drei ineinandergreifenden und sich gegenseitig verstärkenden Krisen, die mit jeweils unterschiedlichen Schocks für die Arbeitsmärkte einhergingen: Eine Bankenund Finanzkrise, eine makroökonomische Krise sowie eine Staatsschuldenkrise (Shambaugh 2012; Sachverständigenrat 2012). In einem zweiten Schritt werden dann die Empfehlungen und Forderungen im Rahmen der EU-Krisenpolitik gegenüber den Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Reformierung ihrer Arbeitsmarktinstitutionen zusammengefasst und die tatsächlichen Reformbemühungen und Veränderungen ebenjener Institutionen dokumentiert. Vor diesem Hintergrund sollen abschließend Hypothesen bezüglich der unterschiedlichen Krisenbetroffenheit formuliert werden.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_4
83
84
4
4.1
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
Ursachen und Verlauf der Eurokrise(n)
Auch wenn die Ursachen der Eurokrise(n) vielfältig sind und deren jeweiliges Gewicht weiterhin umstritten ist, so hat sich dennoch im öffentlichen und akademischen Diskurs eine Erklärung bisweilen durchsetzen können (vgl. Hall 2018, 2014; Nölke 2016; De Grauwe 2016; Vobruba 2015; Blyth 2014; Shambaugh 2012). Diese bezieht sich auf die Entwicklung makroökonomischer Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone in Folge der Zinskonvergenz auf niedrigem Niveau und dem Zugang zu günstigen Krediten als Konsequenz einer defizitären Institutionalisierung der Währungsunion (Preunkert und Vobruba 2012). So führte die Einführung des Euros zum Wegfall von Wechselkursunsicherheiten, wodurch die Zinsen für die Euro-Länder, insbesondere für diejenigen, die vor der gemeinsamen Währung deutlich höhere Zinsen zu zahlen hatten, stark gesunken sind (Vobruba 2015, S. 219). Dies beförderte sowohl das Investitionsverhalten der Regierungen und Unternehmen, aber auch den schuldenbasierten Konsum. Die überoptimistische Aufnahme von Krediten seitens staatlicher und privater Akteure führte somit nicht nur zu einem Anstieg des materiellen Lebensstandards, sondern auch zu einem Anstieg der Löhne und Preise (vgl. Abbildung 4.1), insbesondere in den südeuropäischen Staaten (Pernicka et al. 2019a, S. 125; Heidenreich 2014, S. 5).
150 EL Index: 1999 = 100
140
ES PT
130 IT
120
AT EZB
110
IE FI
100
DE
Abbildung 4.1 Preisentwicklung ausgewählter Länder der Eurozone. (Quelle: AMECO (ZCPIH), eigene Darstellung. Hinweis: Abgebildet ist die Entwicklung des harmonisierten Verbraucherpreisindex mit 1999 = 100. EZB: Zeigt das jährliche Inflationsziel der EZB von 1,9 Prozent an.)
4.1 Ursachen und Verlauf der Eurokrise(n)
85
Als weitere Ursache für die makroökonomischen Ungleichgewichte werden die institutionellen Unterschiede in den Lohnfindungssystemen Nordwest- und Südeuropas genannt (Hall 2018, 2014; Hancké 2013): Während erstere ihre Wettbewerbsfähigkeit anhand systematischer Lohnmoderation stetig verbessern konnten, haben letztere durch starke Lohnsteigerungen jenseits der Produktivität dazu beigetragen, ihre Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu den anderen Mitgliedsstaaten deutlich zu verschlechtern. Die unterschiedlichen Handlungslogiken, die den nord-westeuropäischen und südeuropäischen Wachstumsmodellen zugrunde lagen, d. h. exportgetriebenes Wachstum durch Lohnzurückhaltung einerseits und schuldenfinanziertes Wachstum andererseits, führten somit, unter den Restriktionen einer gemeinsamen Währung, zu einer institutionellen Asymmetrie innerhalb Europas (Pernicka 2015, S. 606). Dadurch, dass die klassischen Instrumente zur Lösung makroökonomischer Ungleichgewichte, d. h. Wechselkurskorrekturen, im Zuge der Währungsunion nicht mehr zur Verfügung standen und auf supranationaler Ebene keine vergleichbaren Instrumente entwickelt worden waren (Shambaugh 2012, S. 159), führten die steigenden Preise zum Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bei gleichzeitig zunehmenden Importen. Die Folge waren einerseits dauerhafte Leistungsbilanzdefizite in den südeuropäischen Staaten und Irland sowie gleichzeitig konstante Leistungsbilanzüberschüsse in den nord-westeuropäischen Mitgliedsstaaten (vgl. Abbildung 4.2). Infolgedessen sind die südeuropäischen Mitgliedsländer zu den Schuldnern und die nord-westeuropäischen Mitgliedsländer zu den Gläubigern innerhalb der Eurozone geworden (De Grauwe 2016, S. 147).
100
Prozent des BIP
50
DE FI
0
AT IT
-50 -100
IE ES EL
-150
PT
Abbildung 4.2 Kumulierte Leistungsbilanzen ausgewählter Länder, 1999–2016. (Quelle: AMECO (BPM6), eigene Darstellung. Hinweis: Daten für EL erst ab 2002, für BE ab 2003 und für NL ab 2004.)
86
4.1.1
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
Die Banken- und Finanzkrise
Vor dem Hintergrund zunehmender Verschuldung und steigender makroökonomischer Ungleichgewichte in Europa zeichnete sich – scheinbar weit entfernt in den USA – der Beginn der Finanz- und Bankenkrise ab. Die dort vorherrschende Immobilienblase, die so ähnlich auch in Spanien oder Irland zu beobachten war, erreichte ihren dramatischen Höhepunkt mit der Lehman Brothers-Insolvenz am 15. September 2008 (Blyth 2014, S. 78). Das Platzen der Immobilienblase in den USA führte aufgrund der engen Verflechtung des globalen Finanzsystems nicht nur zu einem zunehmenden Risikobewusstsein internationaler Gläubiger, sondern auch zu Zweifeln an der Bonität privater und öffentlicher Schuldner, was diese in unmittelbare (Re-)Finanzierungsprobleme brachte (Vobruba 2015, S. 220). Nachdem daraufhin auch bald die Immobilienblasen in Spanien und Irland platzten, was hohe Kreditausfälle privater Schuldner mit sich zog, brachte dies das europäische Bankensystem endgültig ins Wanken. In vielen Ländern wurden daraufhin die als systemrelevant identifizierten Banken durch öffentliche Mittel rekapitalisiert und binnen kurzer Zeit wurde ein Großteil privater Schulden in Staatsschulden umgewandelt (Blyth 2014, S. 83). Als dann auch noch das Wirtschaftswachstum zurückging, bewertete man das Ausfallrisiko einiger Euro-Länder, welches trotz vorhandener Nichtbeistandsklausel innerhalb der Eurozone bislang weitestgehend ignoriert wurde (Heidenreich 2014), als reales Risiko, weshalb die Zinsen (vgl. Abbildung 4.3) insbesondere für die südeuropäischen Mitgliedsländer und Irland ab 2010 in die Höhe schnellten (Blyth 2014, 83f.). Durch die steigenden Zinsen wurde wiederum die Rückzahlungsfähigkeit privater und öffentlicher Schuldner gefährdet, was die Banken in erhebliche Liquiditätsprobleme brachte. Als Resultat waren die Banken weder fähig noch willens, weitere Kredite zu vergeben. Die mangelnde Fähigkeit inländischer Banken zur Kreditvergabe und der gleichzeitige Vertrauensverlust ausländischer Investoren haben somit zu einer Kreditklemme in der Realwirtschaft geführt, welche die Rezession noch weiter verschärft hat. Den Unternehmen fehlten finanzielle Mittel für Investitionen, zur Refinanzierung von Schulden oder zur Finanzierung von Betriebskapital. Zusätzlich nahmen mit steigenden Zinsen auch die Kosten zu, die Verbraucher für ihre Schulden an ihre Gläubiger zu zahlen hatten. Je mehr private Haushalte für die Finanzierung ihrer Kredite aufwenden müssen oder je schwieriger es wird, Kredite zu annehmbaren Konditionen zu bekommen, desto weniger verfügbares Einkommen können sie für Produkte und Dienstleistungen ausgeben, wodurch die aggregierte Nachfrage weiter sinkt.
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Prozent
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Abbildung 4.3 Entwicklung der Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen. (Quelle: AMECO (ILN), eigene Darstellung.)
Eine sinkende Nachfrage und teures Geld führen dann zu wirtschaftlichen Engpässen, einem Rückgang der Produktion und einem hohen Anpassungsdruck seitens der Unternehmen. Dass führte dazu, dass zahlreiche (auch intakte und produktive) Unternehmen in die Insolvenz gingen. Durch die steigende Anzahl an Insolvenzen kam es wiederum vermehrt zu Kreditausfällen, die die Bankenbilanzen belasteten und die Bankenkrise noch weiter verschärften. Dies führte wiederum dazu, dass die Kreditgeber striktere Bedingungen für die Kreditvergabe einführten und damit die Versorgung der Realwirtschaft mit Kapital weiter verringerten – ein Teufelskreis.
4.1.2
Die Wirtschafts- und Wachstumskrise
Die Schwierigkeiten auf den Finanzmärkten haben sich seit Ende 2008 relativ schnell auf die Realwirtschaft übertragen, was europaweit in eine makroökonomische Krise mündete. Hierbei sind zwei Facetten zu unterscheiden (Shambaugh 2012, S. 170): Zum einen wächst die gesamteuropäische Wirtschaft insgesamt zu langsam, um die hohe Schuldenlast effektiv bekämpfen zu können. Gleichzeitig ist das Wachstum innerhalb der Eurozone sehr ungleich verteilt. So sind die Mitgliedsstaaten, die auf den Finanzmärkten am stärksten unter Druck stehen, zugleich auch jene, die das geringste Wachstum verzeichnen.
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4
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Neben der finanziellen Destabilisierung und den Liquiditätsproblemen, die von der Finanzkrise herrühren, sind die tatsächlichen Schocks, die die europäischen Volkswirtschaften erfahren haben, somit sehr heterogen. Abbildung 4.4 zeigt, dass alle Mitgliedsländer, mit Ausnahme Polens ab 2009 deutliche Rückgänge in ihrer Wirtschaftsleistung erfahren hatten. Selbst in den exportstarken Ländern Nord-Westeuropas lässt sich ein deutlicher Rückgang des BIP im Jahr 2009 verzeichnen. So ist das BIP beispielsweise in Deutschland um rund 5,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen und in Finnland sogar um 8 Prozent.
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Prozent
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2009-2013
2013-2016
Abbildung 4.4 Entwicklung des Wirtschaftswachstums in den Mitgliedsstaaten. (Quelle: Eurostat (nama_10_gdp), eigene Darstellung. Abgebildet ist die prozentuale Veränderung des realen Bruttoinlandsproduktes (in Preisen von 2010) im Vergleich zum Vorjahr.)
Dies ist jedoch wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass aufgrund der steigenden Zinsen der Konsum und damit die Importe im Allgemeinen und insbesondere aus den südeuropäischen Ländern zurückgegangen sind und somit auch ein entscheidender Teil der Exporte der anderen EU-Mitgliedsstaaten. Während letztere sich aber ab 2010 wieder erholen konnten und deutliche Zuwächse im BIP erfuhren (mit einem kurzzeitigen Rückgang im Jahr 2013), stagnierten vor allem die südeuropäischen Mitgliedsstaaten auf einem geringen Niveau bzw. verzeichneten auch weiterhin ein Negativwachstum – insbesondere Griechenland, Zypern, Spanien, Portugal und Italien. Für einen wirtschaftlichen Aufschwung sind diese Länder jedoch auf ein funktionierendes Finanzsystem angewiesen, dass
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die Unternehmen mit ausreichend Krediten versorgen kann, um damit ein erneutes Wachstum überhaupt möglich zu machen (Sachverständigenrat 2012, 3f.). Zwar waren die baltischen Staaten 2009 einem noch stärkeren Einbruch der Wirtschaftsleistung im Vergleich zu den südeuropäischen Staaten ausgesetzt – nämlich von bis zu 15 Prozent – sie erholten sich jedoch kurz darauf bereits wieder und konnten somit 2011 das größte Wirtschaftswachstum innerhalb der EU verzeichnen. Mit den Problemen an den Finanzmärkten und dem Einbruch der Produktion ging gleichzeitig auch eine starke Zunahme der Arbeitslosigkeit einher. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten waren jedoch erheblich (Boeri und Jimeno 2016; Heidenreich 2015, 2016d). Während die Arbeitslosigkeit in Ländern wie Deutschland, Österreich oder Polen relativ stabil oder sogar rückläufig war, stieg sie insbesondere in Griechenland und Spanien bis ins Jahr 2013 weit über 25 Prozent an (vgl. Abbildung 4.5).
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Prozentpunkte
15 10 5 0 -5 -10 LV ES LT EE IE DK HU UK SE IT PT CY CZ FI EL FR SI SK LU BE MT AT NL RO BG HR DE PL
2007-2009
2009-2013
2013-2016
Abbildung 4.5 Entwicklung der Arbeitslosenquoten in den Mitgliedsstaaten. (Quelle: Eurostat (une_rt_a), eigene Darstellung.)
Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise reagierten die politischen Entscheidungsträger sowohl mit geld- als auch mit fiskalpolitischen Maßnahmen auf die absinkende Wirtschaftsleistung und die ansteigende Arbeitslosigkeit. Zum einen senkte die EZB den Leitzins für die Eurozone, sodass dieser im Laufe des Jahres 2009 das Niveau von einem Prozent erreichte. Damit war die Hoffnung verbunden, durch günstigere Kredite das Konsumund Investitionsverhalten positiv zu beeinflussen und das Wirtschaftswachstum
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durch die steigende Nachfrage anzukurbeln. Diese war nämlich im Zuge steigender Zinsen und zunehmender Arbeitslosigkeit (und dem damit einhergehenden Wegfall von verfügbarem Einkommen) drastisch gesunken – insbesondere in den Krisenländern (vgl. Abbildung 4.6). Nachdem erst das globale Finanzsystem und nun auch zunehmend die Realwirtschaft zu kollabieren drohte, kamen auch die Regierungen der EU zu dem Schluss, dass Geldpolitik allein nicht ausreichen würde, um die Krise(n) zu bewältigen und der Realwirtschaft zu helfen (Blyth 2014, S. 88). Auch der IWF vertrat die Auffassung, dass aufgrund des hohen Risikos eines weiteren Nachfrageeinbruchs ein starker fiskalischer Stimulus notwendig sei, da geldpolitische Maßnahmen an ihre Grenzen stoßen würden (Blanchard et al. 2013). Der einzige verbleibende politische Hebel innerhalb der Währungsunion war somit die kurzfristige Erhöhung der Haushaltsausgaben zur Bekämpfung der Rezession (Shambaugh 2012, S. 173). Somit kamen zu Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2009 keynesianische Ideen bezüglich fiskalischer Stimuli kurzzeitig wieder in Mode und schienen zum neuen common sense zu avancieren, wie man mit (vermeintlich temporären) Nachfrageschocks umzugehen hätte (Farrell und Quiggin 2017).
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Index: 2006 = 100
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Abbildung 4.6 Konsumausgaben privater Haushalte. (Quelle: Eurostat (nama_10_pc), eigene Darstellung. Konsumausgaben der privaten Haushalte und privater Organisationen ohne Erwerbszweck (POoE), Verkettete Volumen (2010), Euro pro Kopf. Index: 2006 = 100.)
Als die Dringlichkeit politischer Maßnahmen zur Krisenbewältigung deutlicher wurden, nutzten viele Mitgliedsstaaten fiskalische Anreize, um den Schaden
4.1 Ursachen und Verlauf der Eurokrise(n)
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für ihre Volkswirtschaften zu begrenzen. Der Umfang dieser fiskalischen Expansion war jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich hinsichtlich ihrer Größe, Zusammensetzung und des Zeitraums (OECD 2009, S. 29). Wie Abbildung 4.7 zeigt, waren es insbesondere die Krisenländer Spanien, Irland, Zypern, Griechenland und Portugal, die eine große fiskalischen Expansionen (gemessen am konjunkturbereinigten Primärsaldo) zwischen den Jahren 2007 und 2009 vollzogen haben – von bis zu 9 Prozentpunkten im Falle Spaniens. In den nordwesteuropäischen Mitgliedsstaaten fanden solche Maßnahmen zwar auch statt, jedoch auf einem deutlich geringeren Niveau.
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Prozentpunkte
2 0 -2 -4 -6 -8 -10 ES IE CY EL PT BE UK PL DK NL FI FR SI SK LV AT IT SE CZ LU LT DE HR MT EE HU
Abbildung 4.7 Fiskalische Expansion während der Wirtschaftskrise, 2007–2009. (Quelle: IWF, eigene Darstellung. Hinweis: Abgebildet ist die Veränderung des konjunkturbereinigten Primärsaldos in Prozent des potenziellen BIP zwischen 2007–2009.)
Die Konjunkturprogramme in den südeuropäischen Staaten waren jedoch angesichts des immer weiter fallenden bzw. stagnierenden Wirtschaftswachstum nicht sonderlich erfolgreich. Jedoch darf nicht missachtet werden, dass es aufgrund der Restriktionen der Währungsunion (keine Möglichkeit der externen Abwertung) und dem Misserfolg geldpolitischer Maßnahmen, das einzige Instrument war, welches den Krisenländern der Eurozone zu diesem Zeitpunkt noch zur Verfügung stand (Blanchard et al. 2013, S. 14). Somit stießen sowohl geld- als auch fiskalpolitische Maßnahmen an ihre Grenzen: Der Leitzins lag nahe Null und konnte kaum weiter reduziert werden, sodass nur wenig oder gar kein Spielraum für weitere geldpolitische Maßnahmen übrig blieb. Die fiskalische Expansion und der Rückgang der Staatseinnahmen in Folge der Rezession hatten zudem ein großes Loch
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4
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in die öffentlichen Haushalte gerissen und ebneten dadurch der darauffolgenden Staatsschuldenkrise den Weg.
4.1.3
Die Staatsschuldenkrise und fiskalische Konsolidierung
Im Zuge nationaler Bankenrettungen mittels öffentlicher Gelder, einer expansiven Fiskalpolitik als Reaktion auf die vermeintlich nur temporären Nachfrageschocks und eines Rückgangs der Staatseinnahmen im Zuge sinkender Produktivität kam es zu einem rasanten Anstieg der staatlichen Verschuldung – auch in jenen Mitgliedsstaaten, die zuvor eine vorbildliche Staatsschuldenquote (gemessen an den Maastricht-Kriterien von maximal 60 Prozent des BIP) vorweisen konnten. So ist die Staatsschuldenquote in Irland von 23 (2006) auf 120 Prozent (2012) oder in Spanien von 38 (2006) auf 100 Prozent (2014) gestiegen, während sie im Falle Griechenlands bereits vor der Krise bei 100 Prozent lag und im weiteren Verlauf rund 180 Prozent erreichte (vgl. Abbildung 4.8). Die Bankenkrise und die Staatsschuldenkrise verstärkten sich dabei wechselseitig: Die erheblichen finanziellen Probleme der Staaten schürten die Ungewissheit über die Tragfähigkeit der öffentlichen Schulden noch weiter, was zu noch mehr Misstrauen seitens der Finanzmärkte und zu noch höheren Zinsen auf den Anleihemärkten führte, wodurch die Refinanzierung der Schulden und die Finanzierung des laufenden Haushalts in den südeuropäischen Staaten sowie Irland nicht mehr gesichert war. Die restlichen Euro-Länder standen daraufhin vor der Frage, ob sie sich auch weiterhin an die Nichtbeistandsklausel halten sollten und damit den Staatsbankrott – mit all den zu befürchtenden negativen Effekten, die dieser mit sich bringen würde – in Kauf nehmen sollten (Heidenreich 2014, S. 7). Um die drohenden Staatsinsolvenzen abzuwenden und damit auch den möglichen Zusammenbruch der gesamten Währungsunion, wurden nach anfänglich unkoordinierten und nationalen Alleingängen dann auf europäischer Ebene Hilfspakete in Milliardenhöhe geschnürt. Diese Rettungsfonds bestanden sowohl aus bilateralen Krediten und Mitteln des Internationalen Währungsfonds sowie aus den neugeschaffenen Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (ESFS) und dem späteren Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) (Heidenreich 2014, S. 5). Griechenland erhielt insgesamt drei Rettungspakete (2010, 2012 und 2015) während Irland (2010), Portugal (2011), Spanien (2012) und Zypern (2013) jeweils eines erhielten. Die Hilfsprogramme waren jedoch an strenge haushaltsund wirtschaftspolitische Vorgaben zur Sanierung des Staatshaushalts gekoppelt, um das Vertrauen in die finanzielle Tragfähigkeit der Haushalte wiederherzustellen (Schulten und Müller 2015; van Gyes und Schulten 2015; Glassner und Keune
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Prozent des BIP
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Abbildung 4.8 Staatsverschuldung in Prozent des BIP, 2006–2016. (Quelle: AMECO (UDGG), eigene Darstellung.)
2012; Glassner 2010). Die Umsetzung dieser Forderungen wurde dabei von der Troika – bestehend aus Europäischer Kommission, EZB und IWF – überwacht. Ab 2010 erhielten Sparmaßnahmen somit die oberste Priorität innerhalb Europas und der öffentliche Sektor wurde dabei zum Hauptziel dieser Konsolidierungsbemühungen (Glassner 2010, S. 5). Einem besonders harten Spardiktat waren demnach die fünf Euro-Länder Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern sowie die drei Nicht-Euro-Länder Lettland, Rumänien und Ungarn ausgesetzt, die sich nur noch mit der Hilfe europäischer und internationaler Unterstützung refinanzieren oder ihren Bankensektor stabilisieren konnten. Als Gegenleistung mussten sie weitreichende Auflagen akzeptieren, die in den sogenannten „Memoranda of Understanding“ festgeschrieben wurden. Eine Übersicht der Forderungen findet sich in Tabelle 4.1. Das Ziel dieser Austeritätspolitiken war es, in Form von Ausgabensenkungen oder Steuererhöhungen, die Neuverschuldung der Staaten zu begrenzen sowie das Vertrauen der Finanzmärkte wieder zu stärken und weitere Risikoaufschläge auf Staatsanleihen zu vermeiden, um einer drohenden Zahlungsunfähigkeit zu entgehen. Der auf diese Weise erzielte Rückgang der Zinsen sollte dann wieder die Konsum- und Investitionstätigkeiten privater Haushalte und Unternehmen ankurbeln und so die Wirtschaft stärken und damit auch die Steuereinnahmen wieder erhöhen. Daraufhin wurden in fast allen Mitgliedsstaaten Konsolidierungsmaßnahmen umgesetzt. Am deutlichsten sind diese Anpassungen – gemessen am
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4
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Tabelle 4.1 Forderungen seitens der Troika gegenüber den Programmländern Rettungspaket
Gehaltskürzungen
Stellenabbau
Griechenland I
Einfrieren der Gehälter und Kürzungen von Sonderzahlungen
Nur Wiederbesetzung von 20 % von freiwerdenden Stellen
Griechenland II
Kürzungen von Sonderzulagen
Wiederbesetzungsschlüssel 1:5
Griechenland III
Gehälter und Sonderzulagen bleiben eingefroren
Wiederbesetzungsschlüssel 1:5, allerdings mit Lockerungen ab 2017
Irland
Stellenabbau
Lettland
Kürzungen beim Nominallohn und Streichen von Bonuszahlungen
Stellenabbau, z. B. Stellenkürzung um 5 % in 2008, Stellenkürzung um 10 % bis 2009
Portugal
Gehaltskürzungen in 2011 und Einfrierung der Gehälter 2012–2013
Begrenzte Wiederbesetzung von Stellen in 2012–2013
Rumänien
Gehaltskürzungen in 2009 Besetzungsschlüssel von 1:7 Gehaltseinfrieren in 2010–2011
Ungarn
Gehaltskürzung in 2009
Spanien
Gehaltskürzungen und Streichung von Bonuszahlungen 2012
Zypern
Kürzungen des Nominallohns, Stellenabbau z. B. Kürzung um 3 % in 2014
Stellenabbau in 2009
Quelle: http://ec.europa.eu/economy_finance/assistance_eu_ms/index_en.htm und Broschinski et al. (2018).
konjunkturbereinigten Primärsaldo – in Griechenland zu erkennen: Dort hat sich das Haushaltsdefizit zwischen 2009 und 2013 um 18 Prozentpunkte reduziert, d. h. von einem 10-prozentigen Defizit auf einen 8-prozentigen Haushaltsüberschuss (in Prozent des potentiellen BIP). Aber auch Spanien, Portugal und Irland haben ihren Haushalt deutlich konsolidiert. Jedoch ist dabei zu beachten, dass diesen Sparmaßnahmen zwei Jahre der vorherigen fiskalischen Expansion zugrunde liegen, die die Haushalte der Krisenländer erst in ein solch starkes Defizit geführt hatten. Trotz der umfangreichen Konsolidierungsbemühungen vieler Mitgliedsstaaten, wurden die Wachstumsprognosen der darauffolgenden Jahre wiederholt nach unten korrigiert – insbesondere für die Krisenländer (IWF 2012). Blanchard und Leigh (2013, 2014) folgend, liegt
4.1 Ursachen und Verlauf der Eurokrise(n)
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dies darin begründet, dass die Rückkopplungseffekte der fiskalischen Konsolidierungsmaßnahmen auf das Wirtschaftswachstum von den politischen Akteuren deutlich unterschätzt wurde und damit auch die Größe des fiskalischen Multiplikators. Anhand der fiskalischen Multiplikatoren wird versucht, die Auswirkungen fiskalischer Maßnahmen auf das Wachstum abzuschätzen, d. h. die Auswirkungen veränderter Staatsausgaben auf die Produktion. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die fiskalischen Multiplikatoren zu Beginn der Krise deutlich über 1 statt den angenommen 0,5 lagen, was bedeutet, dass jeder gesparte Euro die Produktion um mehr als einen Euro reduziert hat. Die Sparprogramme gingen so mit einem Schrumpfen der Wirtschaft einher, was die erhofften positiven Effekte der Haushaltskonsolidierung konterkarierte und die anfänglichen Schocks, die durch die Finanz- und Bankenkrise auf die Realwirtschaft übertragen wurden, noch weiter verstärkt hat (Monastiriotis 2018, S. 6). Erklären lässt sich dies anhand der Tatsache, dass mit den reduzierten Ausgaben seitens der Staaten auch deren Konsum- und Investitionstätigkeiten zurückgegangen sind. Zusätzlich führten das Kürzen und Einfrieren der Löhne im öffentlichen Dienst dazu, dass die Kaufkraft privater Haushalte und damit die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen weiter gesunken ist. Das wiederum reduzierte die Steuereinnahmen des Staates, wodurch die Ersparnisse der Ausgabenreduzierung durch die wegfallenden Einnahmen neutralisiert wurden. So haben also die Einsparungen auf der einen Seite die (Abbildung 4.9) Einkommen auf der anderen Seite reduziert, wodurch die Gewinne der Unternehmen sanken. Vor diesem Hintergrund können die Investitionen der Unternehmen zu immer geringeren Anteilen aus den Gewinnen selbst aufgebracht werden, wodurch diese vermehrt auf Fremdkapital angewiesen sind. Bei gleichbleibendem Zinsen steigen jedoch die Investitionen nicht und die Produktion schrumpft. Die Folgen dieser Absatzkrise waren sodann deflationäre Tendenzen fast überall innerhalb der Eurozone: Die Preise sanken und die Gewinnerwartungen seitens der Unternehmen ebenso, weshalb diese weniger investierten und stattdessen versuchten, Kosten einzusparen. Vor dem Hintergrund einer hohen staatlichen und privaten Verschuldung wirken solche deflationären Tendenzen durchaus wachstumshemmend. Denn je niedriger die Inflation, desto höher ist der Realzins und damit die Schuldenlast seitens der Staaten und der Unternehmen, was es ihnen zunehmend erschwert, den Forderungen der Gläubiger nachzukommen und aus der Verschuldung herauszukommen. Für die Unternehmen geht ein solche deflationäres Umfeld zusätzlich mit der Gefahr einher, dass sich die Konsumenten – in der Hoffnung auf weiter fallende Preise – mit größeren Anschaffungen zurückhalten, wodurch die aggregierte Nachfrage weiter absinkt. Durch diese beiden
SE EE FI DK LU DE MT BE FR HR AT PL IT NL HU LV CY SI UK SK LT CZ IE PT ES EL
Abbildung 4.9 Fiskalische Konsolidierung während der Jahre 2009–2013. (Quelle: IWF, eigene Darstellung. Hinweis: Abgebildet ist die Veränderung des konjunkturbereinigten Primärsaldos in Prozent des potenziellen BIP zwischen 2009–2013. Ein höherer Wert entspricht einer Reduzierung des Haushaltsdefizits und damit größeren Konsolidierungsbemühungen.)
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0
4
8
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Prozentpunkte
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4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
97
Tendenzen verringern sich die Unternehmensgewinne bei gleichbleibend hohen Schulden und Kosten, was viele Unternehmen in die Insolvenz oder zu tiefgreifenden Anpassungen zwingt. Derartige Anpassungsprozesse werden jedoch entschieden vom jeweiligen institutionellen Kontext geprägt, der im Zuge des nationalen sowie europäischen Krisenmanagements teilweise gravierenden Wandlungsprozessen ausgesetzt war, die im Nachfolgenden genauer erörtert werden sollen.
4.2
Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
Die europäischen Volkswirtschaften waren mit großen Herausforderungen bezüglich ihrer Finanzsysteme, Realwirtschaften und öffentlichen Haushalte konfrontiert. Dies hatte direkte Auswirkungen auf die nationalen Arbeitsmärkte, indem die Unternehmen auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Intensität einem großen Anpassungsdruck ausgesetzt waren. Dadurch, dass flexible Wechselkurse als makroökonomischer Anpassungsmechanismus zumindest für die 19 Euro-Länder nicht mehr zur Verfügung stehen, wurde der Arbeitsmarkt zum zentralen Puffer makroökonomischer Schocks (Heidenreich 2016b, S. 12). Damit erhält die interne Abwertung, d. h. Anpassung des Beschäftigungsniveaus und der Löhne, zunehmend an Bedeutung. Die Anpassungsfähigkeit und Anpassungsweise an die makroökonomischen Schocks hängt jedoch im entschiedenen Maße von den vorherrschenden Arbeitsmarktinstitutionen und -politiken ab, die den rechtlich-institutionellen Handlungsrahmen für die Unternehmen bilden (Erken et al. 2015). Vor diesem Hintergrund wurde von unterschiedlicher Seite aus einer Deregulierung der Arbeitsmärkte gefordert. Mit der Umsetzung deregulierender Maßnahmen ist im Allgemeinen die Erwartung verbunden, dass sich die Unternehmen besser an die veränderten wirtschaftlichen Umstände anpassen können und somit die Leistungsfähigkeit des Arbeitsmarktes insgesamt gesteigert wird (EspingAndersen und Regini 2000, S. 24). Um die Flexibilität der Unternehmen zu fördern, wurden im Laufe der Krisen bestimmte Struktur- und Arbeitsmarktreformen durchgeführt, die im Folgenden im Fokus des Interesses stehen. Zunächst sollen die Empfehlungen und Forderungen seitens der EU und des IWF gegenüber den Programmländern, aber auch gegenüber den restlichen Mitgliedsstaaten vorgestellt werden. Im Anschluss werden sodann die konkreten Reformbemühungen der einzelnen Länder beschrieben und deren Auswirkungen auf die zentralen Arbeitsmarktinstitutionen diskutiert. Dafür wird größtenteils auf die
98
4
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Datenbank der Europäischen Kommission zu Arbeitsmarktreformen (LABREF) zurückgegriffen (Europäische Kommission 2017).
4.2.1
Die EU-Krisenpolitik
Angesichts der bereits erläuterten Vielfachkrise, die die Schwächen der bisherigen wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene offenbart hatte, reagierte die EU mit der Etablierung einer neuen europaweiten Wirtschaftskoordinierung, die sogenannte European Economic Governance, die auf eine verbindlichere und vor allem gesamteuropäische Koordinierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik abzielt (Degryse 2012; Schulten und Müller 2015; van Gyes und Schulten 2015; Erne 2015). Sie erhielt im Jahr 2011 durch sechs europäische Gesetzgebungsmaßnahmen (das sogenannte „Six-Pack“) ihre rechtliche Grundlage (Pernicka et al. 2019a, S. 119). Das „Six-Pack“ stärkte nicht nur den Stabilitäts- und Wachstumspakt, sondern führte auch ein neues makroökonomisches Überwachungsinstrument ein – das Verfahren für makroökonomische Ungleichgewichte –, das mit der Möglichkeit einhergeht, Sanktionen gegen Länder mit anhaltenden makroökonomischen Ungleichgewichten zu verhängen (van Gyes und Schulten 2015, S. 15). Um wirtschafts- und fiskalpolitisches Fehlverhalten messbar zu machen, wurde das sogenannte „scoreboard“ entwickelt (Koll 2013). Ein zentraler Indikator sind hierbei die Lohnstückkosten, die zum elementaren Bestandteil der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung der EU und dessen Indikatoren zur Früherkennung und Behebung makroökonomischer Ungleichgewichte wurden. Die Verordnungen geben der EU somit die Möglichkeit, auf Reformen der Lohnsetzungssysteme als mögliche Korrekturmaßnahme zu bestehen. Im Kontext der EU-Krisenpolitik gelten Löhne bzw. Lohnstückkosten somit als zentrale Stellschraube, die es zur Wiederherstellung der privatwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit sowie zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte anzupassen gilt (Schulten und Müller 2015). Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass die Krise von Seiten der EU als Krise der Wettbewerbsfähigkeit interpretiert wird, bei der die Lohn- und Arbeitskosten eine zentrale, wenn nicht sogar die Schlüsselrolle spielen (Juncker et al. 2015). Die Lohnzuwächse in den südeuropäischen Ländern im ersten Jahrzehnt des Euro gelten dabei als überzogen, die nun durch interne Abwertung wieder gesenkt werden müssen, um die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder wiederherzustellen (Höpner und Lutter 2018; Hall 2014). Eine größere Flexibilität der Arbeitsmärkte und Lohnverhandlungssysteme wird daher vor allem in jenen Ländern mit großen Ungleichgewichten erwartet, um Anpassungsprozesse seitens der Unternehmen zu unterstützen. Die Dezentralisierung
4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
99
von Tarifverhandlungen auf die Firmenebene steht als Maßnahme zur Anpassung der Löhne an die tatsächliche Produktivität und etwaige Schwankungen dabei im Fokus (van Gyes und Schulten 2015, S. 17). Dies dokumentiert sich vor allem in den länderspezifischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters und in den Forderungen seitens der Troika gegenüber den Programmländern, die in den „Memoranda of Understanding“ festgeschrieben wurden (vgl. Tabelle 4.2). So wurde Belgien, Italien und Spanien beispielsweise nahegelegt, ihre Tarifverhandlungssysteme zu dezentralisieren. Bulgarien, Frankreich, Portugal und Slowenien sollten die Entwicklung der Mindestlöhne mäßigen, während Belgien, Bulgarien, Kroatien, Finnland, Italien, Luxemburg, Slowenien und Spanien ihre allgemeinen Lohnentwicklungen stärker im Einklang mit der realen Produktivität setzen sollten, d. h. vor allem eine Mäßigung der allgemeinen Lohnentwicklung. Deutschland hingegen erhielt eine ähnliche Empfehlung, jedoch mit der Intention, die heimische Nachfrage durch stärkere Lohnzuwächse zu stärken. Schweden und Slowenien sollten vor allem die zu hohen Löhne am unteren Ende der Verteilung angehen. Während es sich dabei eher noch um „freiwillige“ Empfehlungen handelt, um den (möglichen) Ungleichgewichten entgegenzuwirken, sind die vereinbarten Punkte zwischen der Troika und den Programmländern hingegen als klare Forderungen und Bedingungen für die finanzielle Hilfsprogramme zu verstehen. Was für Belgien, Italien und Spanien also nur eine Empfehlung war, wurde für Griechenland, Portugal und Rumänien zur Bedingung für den Erhalt weiterer Hilfsgelder: und zwar die deutliche Dezentralisierung ihrer Tarifverhandlungssysteme. Zusätzlich dazu sollten deutlich restriktivere Kriterien für die Ausdehnung von Tarifverträgen geschaffen werden, um den Geltungsbereich von Tarifverträgen für nicht-organisierte Arbeitnehmer einzuschränken. Weiterhin sollten in Griechenland, Irland, Lettland, Portugal und Rumänien die Mindestlöhne gesenkt oder zumindest eingefroren werden, genauso wie die allgemeinen Verdienste im öffentlichen Dienst. Zypern und Portugal sollten zudem die allgemeine Lohnentwicklung stärker in Einklang mit der realen Produktivität bringen. Neben der EU kamen auch von anderen internationalen Organisationen wie dem IWF Politikempfehlungen zur Reformierung der Arbeitsmarktinstitutionen – insbesondere für die von der Krise besonders stark betroffenen Länder. Demnach wurden insbesondere den Krisenländern folgende Anpassungsmaßnahmen und Arbeitsmarktreformen nahegelegt (Blanchard et al. 2013, 16f.): a) Der Kündigungsschutz regulärer Arbeitsverhältnisse soll gesenkt werden, um einerseits den Prozess der wirtschaftlichen Umstrukturierung zu erleichtern und andererseits dazu beizutragen, die Einstellung von Arbeitslosen in der Phase wirtschaftlicher Erholung zu fördern. b) Die Lohnsetzung soll flexibler werden, damit die
100
4
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Tabelle 4.2 Empfehlungen und Forderungen seitens der EU, 2011–2015 Länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters Dezentralisierung von Tarifverhandlungen
Belgien, Italien, Spanien
Mäßigung der Mindestlohnentwicklung
Bulgarien, Frankreich, Portugal, Slowenien
Mäßigung der allgemeinen Lohnentwicklung/ nominale Löhne im Einklang mit realer Produktivität
Belgien, Bulgarien, Kroatien, Finnland, Italien, Luxemburg, Slowenien, Spanien
Lohnentwicklung im Einklang mit Produktivitätswachstum/zur Unterstützung der heimischen Nachfrage
Deutschland
Beschäftigung mit den hohen Löhnen am unteren Ende der Lohnverteilung
Schweden, Slowenien
Länderspezifische Vereinbarungen zwischen der Troika und den nationalen Regierungen im Rahmen der Memoranda of Understanding Dezentralisierung von Tarifverhandlungen
Griechenland, Portugal, Rumänien
Restriktivere/Strengere Kriterien für die Ausdehnung von Tarifverträgen
Griechenland, Portugal, Rumänien
Reduzierung/Einfrieren von Mindestlöhnen
Griechenland, Irland, Lettland, Portugal, Rumänien
Reduzierung/Einfrieren von Löhnen im öffentlichen Dienst
Griechenland, Ungarn, Irland, Lettland, Portugal, Rumänien
Einfrieren von Löhnen in der Privatwirtschaft
Griechenland
Nominale Lohnentwicklungen im Einklang mit der realen Produktivität
Zypern, Portugal
Quelle: van Gyes und Schulten (2015, S. 16), übersetzt durch den Autor.
Löhne stärker an die Produktivität des jeweiligen Unternehmens angepasst werden können, um so die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Daher werden sowohl Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen sowie die Dezentralisierung von Tarifverhandlungen auf Firmenebene empfohlen ebenso wie eine Reduktion der Löhne im öffentlichen Sektor. Letzteres ist vor allem mit der Hoffnung verbunden, die Haushaltsausgaben zu reduzieren und dass sich diese Entwicklung auch auf die Löhne in der Privatwirtschaft überträgt. Das Absenken des (realen) Mindestlohns wird des Weiteren als effektive Maßnahme angesehen, um die Flexibilität der Unternehmen zu erhöhen und Anpassungen zu erleichtern – allerdings nur dort, wo der Mindestlohn im Verhältnis zu den durchschnittlichen
4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
101
Verdiensten zu hoch ausfällt. Eine weitere Möglichkeit zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ist das Absenken von direkten Steuern und Abgaben. Die Idee dahinter ist, dass die geringeren Arbeitskosten durch Senkungen der Sozialabgaben oder Einkommenssteuern gleichzeitig die Exportpreise senken und dass dadurch die Wettbewerbsfähigkeit steigt.
4.2.2
Arbeitsmarktreformen in den Mitgliedsstaaten
Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Krisen und deren äußerst asymmetrischen Auswirkungen auf die Realwirtschaft ist die Notwendigkeit für Arbeitsmarktreformen besonders deutlich und dringend geworden. Im Zuge dessen kam es in vielen Mitgliedsstaaten zu tiefgreifenden Veränderungen, um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften zu steigern und damit auch die Produktion und Nachfrage wieder zu erhöhen (Turrini et al. 2014, S. 3). Arbeitsmarktreformen zählen zu den am weitesten verbreiteten politischen Maßnahmen, die von den Regierungen in den letzten Jahren ergriffen wurden, um die negativen Auswirkungen der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise zu begrenzen. Diese Interventionen unterscheiden sich jedoch von Land zu Land hinsichtlich ihrer Motivation, des Umfangs und des Interventionsbereichs (Adascalitei und Morano 2015). Insgesamt lassen sich auf nationaler Ebene Reformen in zahlreichen arbeitsmarktrelevanten Bereichen feststellen, die sowohl im Kontext des Europäischen Semesters, im makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahren als auch in den „Memoranda of Understanding“ zu finden sind (Turrini et al. 2014; Eichhorst et al. 2017): 1) die Reformierung von Kündigungsschutzgesetzen, sowohl für reguläre als auch für befristete Beschäftigungsverhältnisse, die die Schaffung neuer Arbeitsplätze fördert und zugleich die Segmentation der Arbeitsmärkte reduzieren soll; 2) Lohnersatzleistungen und aktive Arbeitsmarktprogramme, die den Arbeitslosen Anreize zur Aufnahme einer Arbeit bieten und bei der Suche unterstützen; 3) flexible und an der Produktion orientierte Lohnfindungsinstitutionen sowie 4) eine Besteuerung von Arbeit, die einen Beschäftigungsaufbau fördert. Das mit all diesen Reformbemühungen verbundene Kernziel ist es, zum einen die Regulierung der Arbeitsmärkte zu reduzieren, um damit die Unternehmen bei der Anpassung an die neue wirtschaftliche Realität zu unterstützten und zum anderen, um die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitslosen zu verbessern und gleichzeitig die Anreize zur Aufnahme einer (gering entlohnten) Arbeit zu erhöhen (Adascalitei und Morano 2015).
102
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
Die Ergebnisse dieser Reformbemühungen sind in Abbildung 4.10 zusammengefasst. Die Anzahl der Änderungen in der Arbeitsmarktgesetzgebung hat sich zwischen 2007 und 2012 nahezu verdoppelt. Zu Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 wurden primär Reformen hinsichtlich der Besteuerung von Arbeit, der aktiven Arbeitsmarktpolitik und der Lohnersatzleistungen vorgenommen, um die Auswirkungen der Rezession auf den Arbeitsmarkt abzufedern. Dadurch sollte primär ein übermäßiger Stellenabbau verhindert sowie eine Stärkung der sozialen Sicherheitsnetze erzielt werden. In einer zweiten Phase (ab 2012) wurde sodann eine andere Zusammensetzung der Reformen nach Bereichen sichtbar. Mit dem Fortschreiten der Krise nahmen auch die Arbeitsmarktreformen in den Feldern des Kündigungsschutzes und der Lohnfestsetzung zu. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Krise nun mit einem anhaltenden Rückgang der Gesamtnachfrage verbunden war, was Reformen nach sich zog, die die Verbesserung der Anpassungsfähigkeit des Arbeitsmarktes zum Ziel hatten. Auf der anderen Seite ging die Phase der fiskalischen Konsolidierung in einigen Mitgliedsstaaten mit einem Rückgang der Reformbemühungen in Bereichen einher, die darauf abzielten, die Auswirkungen der Krise auf den Arbeitsmarkt über den Haushalt abzufedern (Turrini et al. 2014, S. 12). Tabelle 4.3 gibt Auskunft darüber, in welche Richtungen die einzelnen Reformen gingen, d. h. ob sie zu einer stärkeren (De-)Regulierung bzw. Generosität geführt haben. Reformen bezüglich der Lohnfestsetzung waren über den gesamten Zeitraum hinweg überwiegend deregulierender Natur. Die absolute Anzahl deregulierender Maßnahmen war jedoch in der Periode 2012–2013, im Zuge der Austeritätspolitik in vielen der Mitgliedsstaaten, am höchsten. Auch der Abbau des Kündigungsschutzes fand vermehrt in den Jahren 2012–2013 statt, wohingegen die Steuern und Abgaben insbesondere 2008–2010, die Phase der fiskalischen Expansion, gesenkt wurden. Bei den aktiven Arbeitsmarktpolitiken ging die überwältigende Mehrheit der Reformen zugunsten einer Stärkung ebenjener aus, sowohl 2008–2010 als auch 2012–2013. Bezüglich der Lohnersatzleistungen waren die Reformen 2008–2010 noch recht ausgeglichen und führten 2012–2013 in der überwiegenden Mehrheit zu einer Erhöhung der Generosität von Lohnersatzleistungen als Reaktion auf die starke Beschäftigungskrise und die hohen Arbeitslosenquoten in Teilen Europas. So wie der Zeitpunkt und die Intensität der einzelnen Krisen von Land zu Land unterschiedlich ausfiel, genau so unterschiedlich fallen auch die Reformbemühungen innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten aus. Von den einzelnen Mitgliedsstaaten haben seit 2008 vor allem Belgien, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Frankreich weit über 100 politische
4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
103
Anzahl an Arbeitsmarktreformen
a) Arbeitsmarktreformen in der EU, 2006-2016 400
350 300 250 200 150 100 50 0 2006
2007
2008
2009
2010
Lohnersatzleistungen Kündigungsschutz Lohnfestsetzung
2011
2012
2013
2014
2015
2016
Akve Arbeitsmarktpolik Steuern und Abgaben
Anzahl an Arbeitsmarktreformen
b) Arbeitsmarktreformen in den Mitgliedsländern, 2008-2016 160 140 120 100 80 60 40 20 0 BE EL IT PT ES FR LV LT UK BG HU EE IE RO SI FI CY AT NL SE PL SK CZ MT DE LU HR DK Lohnersatzleistungen Kündigungsschutz Lohnfestsetzung
Akve Arbeitsmarktpolik Steuern und Abgaben
Abbildung 4.10 Arbeitsmarktreformen in der EU und ihren Mitgliedsstaaten. (Quelle: LABREF, eigene Darstellung.)
Maßnahmen und Reformen hinsichtlich der Lohnersatzleistungen, des Kündigungsschutzes, der aktiven Arbeitsmarktpolitik, der Steuern und Abgaben sowie der Lohnfestsetzung implementiert. Letzteres beinhaltet vor allem die Lohnsetzung im öffentlichen Dienst, gesetzliche Mindestlöhne sowie die staatliche Regulierung des Rahmens für Lohnverhandlungen und Sozialpakte, was insbesondere im Fokus der EU-Krisenpolitik stand. Hierbei erkennt man, ganz im Einklang mit den Empfehlungen und Forderungen seitens der europäischen Ebene, dass es vor allem die südeuropäischen Krisenländer waren, die in diesem Feld die größten Reformanstrengungen unternommen haben.
104
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
Tabelle 4.3 Arbeitsmarktreformen nach Feldern und der Zu- oder Abnahme der Generosität bzw. Regulierung
Lohnfestsetzung
2008–2016
2008–2010
↑
↑
↓
2012–2013
↓
↑
↓
93
158
14
38
22
54
Steuern und Abgaben
151
326
44
125
40
65
Kündigungsschutz
176
197
37
35
66
73
AAMP
846
26
286
4
229
9
Lohnersatzleistungen
108
100
38
33
40
27
Quelle: LABREF, eigene Darstellung. Hinweis: ↑ Zunahme und ↓ Abnahme der Generosität bzw. Regulierung. AAMP: Aktive Arbeitsmarktpolitik.
So ist die Tarifabdeckung in einigen Mitgliedsstaaten drastisch gesunken, und zwar vor allem in den beiden Programmländern Griechenland und Rumänien. Lag die Tarifabdeckungsrate hier noch bei rund 100 Prozent, ist diese im Zuge der Krise auf 25 bzw. 23 Prozent gesunken und liegt damit nur noch knapp über dem Anteil derjenigen, die in einer Gewerkschaft organisiert sind. Das bedeutet, dass Tarifverträge kaum noch auf nichtorganisierte Arbeitnehmer ausgedehnt werden. Die von der EU geforderten restriktiveren Kriterien zur Allgemeingültigkeit von Tarifverträgen wurde demnach erfolgreich umgesetzt. In Portugal war dies mit einem Rückgang von 80 auf 74 Prozent, hingegen nicht der Fall. Weitere Länder, in denen die Tarifabdeckung deutlich zurückgegangen ist, sind Slowenien, Zypern, Luxemburg, Kroatien, Irland, Bulgarien, Estland sowie die Slowakei. In Spanien ist die Tarifabdeckung überraschender Weise sogar gestiegen. Hinsichtlich des Grads der Koordinierung von Tarifverhandlungen zeigt sich eine deutliche Dezentralisierung in Irland, Griechenland und Rumänien. In Irland waren Tarifverhandlungen zuvor durch stark zentralisierte Verhandlungen auf nationaler Ebene charakterisiert, primär durch die Dachverbände mit Beteiligung der Regierung, während sie im Nachgang der Krise nun vor allem auf Branchen und Firmenebene stattfinden, mit einer relativ schwachen Regierungskoordinierung. Ähnlich sieht es auch in Griechenland und Rumänien aus, wo Lohnverhandlungen primär auf der Branchenebene stattfanden (teilweise mit staatlichen Eingriffen) und nun stark fragmentiert und weitgehend auf einzelne Unternehmen oder Betriebe beschränkt sind. In Bulgarien, Estland, Slowenien und der Slowakei fand ebenfalls eine Dezentralisierung statt, jedoch auf einem geringeren und weniger drastischen Niveau (Abbildung 4.11).
4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
105
a) Tarifabdeckung 100
Prozent
80 60 40
20 0 EL RO SI AT FR BE SE FI PT IT ES DK NL DE CY LU HR IE BG SK UK EE CZ HU PL LV LT
b) Grad der Koordinierung 5
Index
4 3 2 1 0 BE IE AT DE DK FI NL SE EL ES IT RO SI SK BG CY EE FR LU PT CZ HR HU LT LV MT PL UK 2006
2011
2016
Abbildung 4.11 Tarifabdeckung und Grad der Koordination von Tarifverhandlungen. (Quelle: ICTWSS, eigene Darstellung. Index zum Koordinierungsgrad von Lohnverhandlungssystemen mit Werten zwischen 1 und 5, wobei 1 = fragmentierte Lohnverhandlungen vornehmlich auf der Firmenebene und 5 = zentralisierte Lohnverhandlungen vornemlich durch Dachverbände. Fehlende Werte für den Koordinationsgrad von MT.)
Auf die Mindestlöhne hatten die Reformen bezüglich der Lohnfestsetzung allerdings nur einen bedingten Effekt. In Griechenland sind die realen Mindestlöhne von 4 auf 3,4 Euro (in Preisen von 2015) leicht gesunken. In Großbritannien fiel der reale Mindestlohn zwischen 2006–2011 von umgerechnet 9,2 auf 7,4 Euro, stieg sodann aber bis 2016 wieder auf 9,2 Euro. In allen anderen Ländern blieb der reale Mindestlohn hingegen recht stabil oder ist sogar
106
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
weiter gestiegen. Das mag zum einen daran liegen, dass die Kürzungen der Mindestlöhne unter anderem gruppenspezifisch waren, d. h. vor allem Jugendliche oder Langzeitarbeitslose betraf (wie in Griechenland) oder dass die Mindestlöhne 2014 (Portugal, Spanien) oder 2016 (Irland) wieder angehoben wurden, nachdem sie seit 2011 eingefroren waren (Abbildung 4.12).
a) Reale Mindestlöhne 12 10
in Euro
8 6 4 2 0 LU UK FR NL BE
IE
EL MT ES
SI
PT HR HU CZ PL EE SK LT LV RO BG DE
b) Kaitz-Index 80
Prozent
60 40
20 0 FR
LU
SI
IE
NL
HU
BE
PT
2006
UK
EL
2011
SK
LT
CZ
PL
ES
RO
EE
LV
DE
2016
Abbildung 4.12 Reale Mindestlöhne und Kaitz-Index. (Quelle: WSIMindestlohndatenbank und OECD, eigene Darstellung. Mindestlöhne in Preisen von 2015. Fehlende Werte für den Kaitz-Index für BG, HR und MT.)
Zudem werden hier die realen Mindestlöhne betrachtet, d. h. sinken die Preise bei einem stabilen (weil eingefrorenen) Mindestlohn – so wie es in den meisten Krisenländern ab 2012 zu beobachten war (vgl. Abbildung 4.1) –, so steigt der preisbereinigte Mindestlohn automatisch an. Hinsichtlich des Kaitz-Index, ein
4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
107
Maß, welches den Mindestlohn ins Verhältnis zum Medianlohn setzt, erkennt man eine ähnliche Entwicklung: lediglich in Irland und den Niederlanden ist dieser Index gesunken. In den restlichen Ländern blieb er weitestgehend stabil oder ist gestiegen. Dies kann ebenfalls daran liegen, dass es sich um ein relatives Maß handelt und die Veränderungen des Medianlohns möglicherweise deutlich stärker ausfielen als die des Mindestlohns. Hinsichtlich der Kündigungsschutzgesetze zeigt sich insbesondere für Portugal ein deutlicher Rückgang in der Striktheit des Kündigungsschutzes für regulär Beschäftigte. Aber auch in Griechenland, Estland und teilweise auch in Spanien, der Slowakei und Ungarn ist eine Deregulierung des Kündigungsschutzes zu beobachten. Hauptbestandteile dieser Reformen waren vor allem das Absenken von Abfindungen im Falle von (unzulässigen) Kündigungen, der Schwellenwerte für Massenentlassungen und der Kündigungsfristen. Zusätzlich dazu wurde die Definition einer „gerechtfertigten“ Kündigung gelockert. In Griechenland, Spanien und Portugal fand zudem eine deutliche Liberalisierung der Nutzung befristeter Arbeitsverhältnisse statt. Die damit verbundene Hoffnung war, dass so Arbeitsmarkt(wieder)einsteigern der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert wird. Dabei standen vor allem die Verlängerung von Höchstzeiten bei Zeitarbeitsfirmen, die Ausweitung in der Verwendung befristeter Verträge sowie neue Ausnahme- und Übergangsregelungen für die Verlängerung von befristeten Verträgen im Fokus. Obwohl in Italien die meisten Maßnahmen und Gesetzesänderungen hinsichtlich des Kündigungsschutzes getroffen wurden – 49 Gesetzesänderungen zwischen 2008 und 2016 – haben sich die beiden quantitativen Indikatoren in diesem Fall nicht sonderlich (Abbildung 4.13). In Bezug auf die Höhe der Lohnersatzleistungen lässt sich nur in wenigen Ländern eine deutliche Veränderung erkennen, dafür aber viele kleinere Schwankungen zwischen den Zeitpunkten, was dafür spricht, dass die Lohnersatzleistungen in den unterschiedlichen Phasen der Krisen auf verschiedene Weisen angepasst wurden. So beispielsweise in Griechenland, Rumänien, Irland und Litauen, wo die Lohnersatzraten im Zuge der Wirtschaftskrise bis 2011 gestiegen, danach aber wieder gesunken sind. Eine Entwicklung ist besonders erwähnenswert: In Italien lässt sich ein ungewöhnlich starker Anstieg der Lohnersatzrate nach 2011 verzeichnen – von rund 16 auf 65 Prozent. Dies lässt sich dadurch erklären, dass insbesondere 2012 eine Vielzahl an Reformen zur Implementierung einer neuen Form der Arbeitslosenunterstützung erlassen wurde: die Sozialversicherung für Beschäftigte (Assicurazione Sociale Per l’Impiego; Aspi). Diese Reformen führten dazu, dass Italien – welches 2006 noch das Schlusslicht innerhalb der EU war – jetzt zum oberen Mittelfeld hinsichtlich der Lohnersatzleistungen gehört und damit auf einem Niveau
108
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
a) Reguläre Beschäigungsverhältnisse 5
Index
4
3
2
1 PT CZ NL EL IT EE LV DE SI SE HR FR LT AT ES LU PL SK FI DK HU BE IE UK
b) Befristete Beschäigungsverhältnisse 4
Index
3
2
1
0 LU FR ES EL PT BE LT HR IT EE SI PL FI SE DK AT CZ HU DE NL LV IE SK UK 2006
2011
2016
Abbildung 4.13 Kündigungsschutzgesetze für regulär und befristet Beschäftigte. (Quelle: OECD, eigene Darstellung. Index zur Striktheit des Kündigungsschutzes und der Regulierung von befristeten Arbeitsverhältnissen, wobei 1 = geringe Regulierung und 5 = sehr strikte Regulierung. Fehlende Werte für CY, BG, MT und RO.)
liegt wie die nord-westeuropäischen Mitgliedsstaaten. Länder, in denen die Höhe der Lohnersatzleistungen stattdessen zurückging, sind Schweden, Polen, Tschechien, Spanien und Portugal sowie im erheblichen Maße auch Ungarn, wo die Lohnersatzrate von 54 auf 28 Prozent gesenkt wurde (Abbildung 4.14). Hinsichtlich der Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen kam es in mehr als der Hälfte der Länder zu Veränderungen. Die größten Veränderungen sind auch hier wieder in Italien zu beobachten, diesmal jedoch in Form einer Halbierung
4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
109
a) Höhe der Lohnersatzraten 100
Prozent
80 60 40 20 0 LU PT DK NL SE FR DE ES BE FI EE HU PL AT MT CZ IE SI RO HR CY EL LT BG LV SK UK IT
b) Dauer der Lohnersatzleistungen 100
Prozent
80 60 40 20 0 AT BG CY CZ DK IT LT LV MT SI SK UK IE BE NL PL ES SE PT FI LU DE HU FR EE RO EL HR 2006
2011
2016
Abbildung 4.14 Höhe und Dauer von Lohnersatzleistungen. (Quelle: OECD, eigene Darstellung. Abgebildet sind a) die durchschnittlichen Lohnersatzleistungen im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit in Prozent des Durchschnittslohns und b) die Dauer der Lohnersatzleistungen als Verhältnis zwischen den Ersatzleistungen im ersten Jahr und denen des zweiten und vierten Jahres der Arbeitslosigkeit. Ein Wert von 100 entspricht somit derselben Höhe der Lohnersatzleistungen wie im ersten Jahr des Bezugs.)
der Bezugsdauer von 100 auf knapp 50 Prozent. Die Lohnersatzleistungen sind somit in ihrer Höhe deutlich gestiegen, die Dauer des Bezugs ist hingegen deutlich gesunken. Ähnliche Tendenzen, jedoch auf deutlich niedrigerem Niveau, sind auch in Dänemark und Lettland zu erkennen. In Frankreich und Kroatien ist die
110
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
Bezugsdauer bis 2016 deutlich angehoben worden. In Griechenland fand hingegen erst eine Reduzierung von 45 auf 36 Prozent statt und dann im Anschluss eine erneute Erhöhung auf 55 Prozent (Abbildung 4.14). Das überraschend wenig Veränderungen hinsichtlich der Höhe und Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen zu beobachten sind, mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass viele Reformen eher auf eine Erweiterung der Anspruchsleistungen oder des Kreises derjenigen, die sich für Sozialleistungen qualifizieren, abzielten. So wurde beispielsweise in Spanien das Alter erhöht, mit dem man Anspruch auf die Lohnersatzleistungen für ältere Arbeitnehmer hat. Das Vermögen spielt bei der Festlegung der Anspruchsvoraussetzungen nun ebenfalls eine größere Rolle und ein Nachweis über die aktive Arbeitssuche wurde zur Voraussetzung für die Lohnersatzleistungen. In Portugal wurde die Anzahl beitragspflichtiger Monate, um einen Anspruch auf Lohnersatzleistungen zu haben, von 15 auf 12 Monate reduziert. Und in Griechenland wurden die Alters- und Einkommenskriterien für das Langzeitarbeitslosengeld verändert. Häufig wurde also lediglich der Personenkreis, der Zugang oder die Anspruchsberechtigung für derlei Leistungen verändert, was keine unmittelbaren Auswirkungen auf die durchschnittliche Höhe oder die Bezugsdauer zur Folge hat. Änderungen in der Besteuerung von Arbeit fanden primär zwischen 2008 und 2009 als direkte Reaktion auf die Wirtschaftskrise und die Rezession statt. Zu diesen Arbeitsmarktreformen zählen sowohl Änderungen in der Lohn- und Einkommenssteuer, beispielsweise eine Erhöhung des Einkommenssteuerfreibetrags oder die Reduktion der Einkommenssteuer, als auch die Reduzierung der Sozialabgaben für bestimmte Unternehmen oder Arbeitnehmergruppen. Damit sollten die Arbeitskosten der Unternehmen gesenkt werden, um Arbeitsplätze zu schaffen, die Aufnahme insbesondere von geringentlohnter Arbeit zu fördern und vor allem Entlassungen entgegenzuwirken. Auch zwischen 2012 und 2014 gab es ein hohes Aufkommen an Reformen bezüglich der Steuern und Abgaben. Dabei wurden wieder primär Absenkungen der Einkommenssteuer und der Sozialabgaben beschlossen, in diesem Falle aber vor allem für Jugendliche, Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose. Dies war eine Reaktion auf die tiefgreifende Beschäftigungskrise in vielen Mitgliedsstaaten. Als Ergebnis findet sich in Abbildung 4.15 überwiegend ein Rückgang des Steuer- und Abgabenkeils, d. h. in der Differenz zwischen dem Arbeitgeberbruttolohn und dem Arbeitnehmernettolohn. Nur in Ungarn, der Slowakei, Portugal, Luxemburg und Irland ist dieser leicht angestiegen. Dies liegt unter anderem daran, dass die Beitragsbemessungsgrenzen der Sozialversicherung angehoben und Ausnahmen in der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für bestimmte Gruppen (beispielsweise für Selbständige und Freiberufler) abgeschafft wurden,
4.2 Krisenmanagement und Arbeitsmarktreformen
111
um die Einnahmen des Staates in Zeiten der Austerität zu erhöhen. Während der Steuer- und Abgabenkeil in vielen nord- und westeuropäischen Ländern weiter gesunken ist, beispielsweise in Belgien, Deutschland Frankreich oder Schweden, hat er sich in den Krisenländern so gut wie gar nicht verändert oder, wie im Falle Portugals, sogar leicht erhöht.
60
Prozent
50
40
30
20
10 BE DE FR SE AT HU IT LT LV SI CZ FI 2006
2011
PL EE EL ES DK SK NL PT UK LU IE 2016
Abbildung 4.15 Steuer- und Abgabenkeil. (Quelle: OECD, eigene Darstellung. Verhältnis von Steuern und Abgaben am Arbeitgeberbruttolohn. Fehlende Werte für CY, BG, HR, MT und RO.)
Eine weitere wichtige Säule der Arbeitsmarktpolitik in krisenhaften Zeiten und zugleich mit insgesamt 889 Gesetzesänderungen zwischen 2008 und 2016 die Säule mit den größten Reformbemühungen, sind die aktiven Arbeitsmarktpolitiken. Darunter fallen u. a. die öffentliche Arbeitsvermittlung, Fort- und Weiterbildungsangebote, Subventionen für bestimmte Beschäftigungsformen sowie direkte Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen. Besonders viele Gesetzesänderungen gab es in den Jahren 2008–2010, mit allein 292 Reformen. Der Schwerpunkt lag dabei vor allem auf der öffentlichen Arbeitsvermittlung als Reaktion auf die Rezession und die hohe Arbeitslosigkeit in vielen Mitgliedsstaaten. In den Jahren 2012/2013 standen dann noch einmal 239 Reformen an, wobei in dieser Phase vor allem spezielle Programme für Jugendliche im Fokus standen, um die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit insbesondere in den südeuropäischen Ländern anzugehen. Die meisten Reformen fanden dementsprechend auch in Portugal, Griechenland und Spanien statt, aber auch in Belgien, Bulgarien, Großbritannien oder Frankreich. Die Frage ist, ob sich diese zahlreichen
112
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
Reformen auch in den Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik widerspiegeln. Hinsichtlich der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik, gemessen in Prozent am BIP pro Prozent Arbeitslosigkeit, lassen sich jedoch in erster Linie Rückgänge feststellen. Dies zum einen in Dänemark (von 0,3 auf 0,23 Prozent), den Niederlanden (0,19 auf 0,08 Prozent) und Irland (0,10 auf 0,05). Aber auch in Spanien, Portugal und Bulgarien sind Rückgänge in den Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik festzustellen, wo wiederum die meisten Reformen verabschiedet wurden (Abbildung 4.16).
0.3 0.25
Prozent
0.2 0.15 0.1 0.05 0 DK NL SE IE AT FI LU FR ES DE IT BE PT BG HU LT SI PL LV CZ EL RO SK CY MT EE UK HR 2006
2011
2016
Abbildung 4.16 Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik pro Prozent Arbeitslosigkeit. (Quelle: Eurostat, eigene Darstellung. Dargestellt sind die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik in Prozent des BIP pro Prozent Arbeitslosigkeit.)
Dies könnte jedoch in der Natur des Indikators begründet sein, der auf Veränderungen des BIP genauso reagiert wie auf Veränderungen in der Arbeitslosenquote. Steigt die Zahl der Arbeitslosen bei gleichbleibenden Ausgaben, sinkt dieser Indikator. Auf der anderen Seite können die strikten Ausgabenkürzungen und die fiskalische Konsolidierung im Nachgang von 2009/2010 angesichts der angespannten öffentlichen Haushalte ebenfalls zu einer Reduzierung der Ausgaben geführt haben.
4.3 Zusammenfassung und Hypothesen
4.3
113
Zusammenfassung und Hypothesen
Im Rahmen dieses Kapitels sollte gezeigt werden, mit welchen Herausforderungen die Unternehmen und Arbeitnehmer in den jeweiligen Mitgliedsstaaten während der Eurokrise(n) konfrontiert waren und wie sich der rechtlich-institutionelle Handlungsrahmen der Unternehmen im Zuge von krisenbedingten Arbeitsmarktreformen verändert hat. In einem ersten Schritt wurden dazu die drei ineinandergreifenden und sich gegenseitig verstärkenden Krisen, die die EU seit 2008 heimgesucht haben, beschrieben und mit welchen makroökonomischen Schocks diese jeweils für die nationalen Arbeitsmärkte einhergingen: Die Finanzkrise hat die Banken in erhebliche Liquiditätsprobleme gebracht, sodass striktere Bedingungen für die Kreditvergabe eingeführt wurden und damit die Versorgung der Realwirtschaft mit Kapital weiter verringert wurde, was eine Kreditklemme nach sich zog. Die Unternehmen verfügten somit über unzureichende finanzielle Mittel für Investitionen, zur Refinanzierung von Schulden oder zur Finanzierung von Betriebskapital. Eine sinkende aggregierte Nachfrage im Zusammenspiel mit teuren Krediten führte sodann zu wirtschaftlichen Engpässen und einem hohen Anpassungsdruck seitens der Unternehmen. Die Wirtschafts- und Wachstumskrise ging mit dem Einbruch der Produktion und einer starken Zunahme der Arbeitslosigkeit einher. Der darauffolgende Rückgang der aggregierten Nachfrage reduzierte die Unternehmensgewinne bei gleichbleibend hohen Schulden und Kosten, was viele Unternehmen in die Insolvenz oder zu tiefgreifenden Anpassungen zwang. Die Folgen dieser Absatzkrise waren deflationäre Tendenzen: Die Preise sanken und die Gewinnerwartungen seitens der Unternehmen ebenso, weshalb diese weniger investierten und stattdessen versuchten, Kosten einzusparen. Die als Reaktion auf die Wirtschaftskrise eingeführten geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen seitens der Regierungen stießen zudem schnell an ihre Grenzen. Der Staatsschuldenkrise wurde der Weg insbesondere durch die nationalen Bankenrettungen als auch durch die fiskalische Expansion als Reaktion auf die Wirtschaftskrise geebnet. Die Folge war, dass insbesondere die Programmländer zu einer strikten Haushaltsdisziplin angehalten wurden, was aufgrund der starken Rückkopplungseffekte die Rezession noch weiter verstärkte. Die fiskalischen Konsolidierungsmaßnahmen führten so zu einem Rückgang der staatlichen Konsum- und Investitionstätigkeiten, was die Gewinne der Unternehmen zunehmend senkte. In einem zweiten Schritt wurden dann die Empfehlungen und Forderungen, die im Rahmen der EU-Krisenpolitik gegenüber den Mitgliedsstaaten formuliert wurden, zusammengetragen und deren tatsächliche Umsetzung durch die
114
4
Die Auswirkungen der Eurokrise(n) auf die europäischen …
Nationalstaaten untersucht. Zum einen konnte gezeigt werden, dass die Krise von Seiten der EU als Krise der Wettbewerbsfähigkeit interpretiert wird, sodass Löhne bzw. Lohnstückkosten als zentrale Stellschrauben gelten, um die privatwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und öffentliche Haushaltskonsolidierung zu unterstützen. Eine größere Flexibilität der Arbeitsmärkte und Lohnverhandlungssysteme wird daher vor allem in jenen Ländern mit großen Ungleichgewichten erwartet, um Anpassungsprozesse seitens der Unternehmen zu unterstützen. Im Zuge dessen zählen Arbeitsmarktreformen zu den am weitesten verbreiteten politischen Maßnahmen, die von den Regierungen getroffen wurden, um die negativen Auswirkungen der Krisen zu begrenzen. Die Reformbemühungen haben sich im Zuge der Krisen von 2006 bis 2012 nahezu verdoppelt. Die zahlreichsten Gesetzesänderungen fanden dabei zu Beginn der Wirtschaftskrise 2008/2009 als auch 2012/2013 statt. Während in der ersten Phase primär Reformen hinsichtlich der Steuern und Abgaben, der aktiven Arbeitsmarktpolitik sowie der Lohnersatzleistungen vorgenommen wurden, um einen übermäßigen Stellenabbau zu verhindern sowie die sozialen Sicherheitsnetze zu stärken, kam es in der zweiten Phase vermehrt zu Änderungen in den Kündigungsschutzgesetzen und der Lohnfestsetzung. Die Auswirkungen dieser Reformen auf die relevanten Arbeitsmarktinstitutionen waren ein deutlicher Rückgang der Tarifabdeckung sowie eine Dezentralisierung von Tarifverhandlungssystemen, insbesondere in den Programmländern. Auf die realen Mindestlöhne sowie den Kaitz-Index hatten die Reformen bezüglich der Lohnfestsetzung allerdings nur einen geringen Effekt. Dies kann beispielsweise dadurch erklärt werden, dass die Veränderungen des Medianlohns möglicherweise deutlich stärker ausfielen als die des Mindestlohns. Hinsichtlich des relativen Kündigungsschutzes zeigte sich in vielen Mitgliedsstaaten eine Deregulierung des Kündigungsschutzes für reguläre Beschäftigungsverhältnisse und in einigen wenigen eine Liberalisierung in der Verwendung befristeter Arbeitsverhältnisse. In Bezug auf die Höhe und Dauer von Lohnersatzleistungen ließ sich nur in vereinzelten Ländern eine deutliche Veränderung beobachten, was vor allem daran liegen dürfte, dass die meisten Reformen eher auf eine Erweiterung der Anspruchsleistungen oder des Kreises derjenigen, die sich für Sozialleistungen qualifizieren, abzielten. Der Steuer- und Abgabenkeil ist nur in fünf Mitgliedsstaaten leicht angestiegen. In den meisten nord- und westeuropäischen Ländern ist dieser hingegen gesunken, während er sich in den Krisenländern überraschenderweise so gut wie gar nicht verändert hat. Hinsichtlich der aktiven Arbeitsmarktpolitiken sind in erster Linie Rückgänge in den Ausgaben pro Arbeitslosen festzustellen – trotz der zahlreichen Gesetzesänderungen, die vor allem eine Stärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik bewirken sollten. Dies
4.3 Zusammenfassung und Hypothesen
115
wurde zum Teil damit erklärt, dass es aufgrund der angespannten öffentlichen Haushalte und der strikten Ausgabenkürzungen zu einer Reduzierung bzw. Stabilisierung der Ausgaben bei gleichzeitig steigender Arbeitslosigkeit in vielen der Mitgliedsstaaten gekommen ist. Weiterhin zeigte dieses Kapitel, dass die Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich von den Krisen getroffen wurden. Am schwersten waren dabei die südeuropäischen Länder der Eurozone betroffen. Sie wiesen die höchsten Einbrüche im Wirtschaftswachstum, die stärksten Anstiege der Zinsen sowie die größten fiskalischen Konsolidierungen auf. Gleichzeitig waren sie im Rahmen der Rettungsprogramme zu massiven Reformen hinsichtlich ihrer Arbeitsmarktinstitutionen gezwungen. Dadurch, dass eine externe Abwertung innerhalb einer Währungsunion als quasi „egalitärer“ Anpassungsmechanismus wegfällt, haben diese Länder dementsprechend den größten Anpassungsdruck auf ihre Arbeitsmärkte erfahren. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass dort auch die stärksten Veränderungen hinsichtlich der Lohnungleichheiten stattgefunden haben. Hypothese 8: In den südeuropäischen Krisenländern fallen die Anpassungslasten und damit die Dynamiken der Lohnungleichheit stärker aus als in den restlichen Mitgliedsstaaten – insbesondere im Vergleich zu den Nicht-EuroLändern. Aufgrund dieser unterschiedlichen Krisenbetroffenheit ist des Weiteren davon auszugehen, dass sich die gesamteuropäische Lohnverteilung während der Krise weiter gespreizt hat und es daher zu einer Zunahme der EU-weiten Lohnungleichheiten kam, wie es Fernández-Macías und Vacas-Soriano (2015) bereits bis zum Jahr 2011 beobachteten. Da die Staatsschuldenkrise sowie die Rettungsprogramme und die damit verbundenen Austeritätsmaßnahmen jedoch erst ab 2010/2011 einsetzten, kann davon ausgegangen werden, dass die gesamteuropäische Lohnungleichheit im Zuge dessen weiter gestiegen ist. Hypothese 9: Die gesamteuropäische Lohnungleichheit ist über die Krisenperiode weiter angestiegen.
5
Daten,Variablen und Methoden
5.1
Der Datensatz: EU-SILC
Um die Dynamiken von Lohnungleichheiten im Zuge der Eurokrisen aus einer gesamteuropäischen sowie ländervergleichenden Perspektive analysieren zu können, sind einige Anforderungen an den zu verwendenden Datensatz zu stellen: 1) Der Datensatz sollte umfangreiche Informationen über die Verdienste der Arbeitnehmer enthalten. Da monetäre Anpassungen häufig und in erster Linie über die flexiblen Komponenten wie Sonder- oder Einmalzahlungen als über das Grundgehalt selbst erfolgen, sollten neben dem regulären Verdienst auch solche Lohnbestandteile erfasst werden. 2) Neben den lohnbezogenen Variablen sollten zudem weitere individuelle, arbeitsplatzbezogene und betriebsspezifische Informationen über die Beschäftigten vorhanden sein, um einerseits die unterschiedliche Betroffenheit von Anpassungsprozessen nach sozio-professionellen Merkmalen festzustellen, als auch, um weitere lohnrelevante Einflussfaktoren kontrollieren zu können. 3) Aufgrund des gesamteuropäischen und ländervergleichenden Ansatzes dieser Arbeit, ist es unabdingbar, dass der zu verwendete Datensatz eine Vielzahl an europäischen Ländern beinhaltet – vorzugsweise alle EU-Mitgliedsstaaten. 4) Da der Fokus dieser Arbeit neben dem Ländervergleich auch auf einer dynamischen Perspektive liegt, d. h. die Entwicklung von Lohnungleichheiten über die Krisenperiode hinweg, sollte der Datensatz zudem mehrere, vorzugsweise direkt aneinandergrenzende Wellen vorweisen, die sowohl die Jahre direkt vor dem Ausbruch der Krisen, deren Höhepunkte als auch einige Jahre der Erholung umfassen. Der einzige Datensatz, der alle vier Anforderungen befriedigend erfüllen kann, ist das EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Condition).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_5
117
118
5
Daten, Variablen und Methoden
Das EU-SILC ist eine seit 2004 jährlich durchgeführte EU-weite Befragung privater Haushalte in Anfangs 15 und mittlerweile in allen 28 Mitgliedsstaaten inklusive Norwegen, Island und der Schweiz und umfasst in etwa 130.000 Haushalte und 270.000 Personen ab 16 Jahren. Der Schwerpunkt dieser Befragung liegt in der harmonisierten Erhebung von einkommensrelevanten Daten sowie Informationen über Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheit und Wohnen (Eurostat 2019). Trotz einiger Probleme in puncto Datenerhebung, Gewichtung und Vergleichbarkeit (vgl. Lohmann 2011; Goedemé 2013) sind die Daten des EU-SILC die bislang am besten geeigneten Daten, um eine europaweite Studie über die Dynamiken von Lohnungleichheiten durchzuführen. Die für die empirischen Analysen verwendete Stichprobe umfasst 27 EUMitgliedsstaaten1 sowie die Wellen 2006-20172 der EU-SILC scientific use files in der Version vom März 2019, die Informationen hinsichtlich der Verdienste für die Jahre 2006–2016 bereitstellen. Weiterhin wird die Stichprobe auf abhängig Beschäftigte im Erwerbsfähigen Alter von 16–64 Jahren begrenzt, die sich zum Zeitpunkt der Befragung in keiner Form der schulischen oder beruflichen Ausbildung befinden (PE010).
5.2
Verwendete Variablen
5.2.1
Die abhängige Variable
Für die im Folgenden durchgeführten Analysen wird der Bruttostundenlohn als zentrale abhängige Variable verwendet. Die Verwendung von Bruttostundenlöhnen ist in der Analyse von Lohnstrukturen aus zwei Gründen angemessen: 1) Trotz Unterschieden in den Systemen der Steuern und Abgaben, lassen sich mit den Bruttoverdiensten ländervergleichende Analysen durchführen. 2) Stundenlöhne sind bereits um die unterschiedlichen Arbeitszeiten bzw. die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden bereinigt, was bei einem jährlichen oder monatlichen Arbeitsentgelt nicht der Fall wäre.
1 Kroatien
wurde aus der Stichprobe ausgeschlossen, da die Daten erst ab der Welle 2010 verfügbar waren. 2 Die Referenz- oder auch Einkommensperiode bezieht sich im EU-SILC immer auf das vorherige Kalenderjahr. In Irland bezieht sich die Einkommensperiode hingegen auf die zwölf Monate direkt vor dem Interview und in Großbritannien auf das Jahr der Befragung – somit entsprechen sich hier Erhebungsjahr und Referenzperiode, weshalb für den Einkommenszeitraum 2006–2016 die Wellen 2006–2017 benötigt werden.
5.2 Verwendete Variablen
119
Da der Bruttostundenlohn im EU-SILC nicht direkt erhoben wird, muss dieser aus dem Bruttojahresverdienst (PY010G), der Anzahl an Monaten, die der Befragte in Vollzeit (PL073) und Teilzeit (PL074) abhängig beschäftigt gewesen ist, sowie aus den durchschnittlichen Wochenarbeitsstunden (PL060 + PL100) berechnet werden. Fehlten letztere bei einem Befragten, wurden diese durch einen geschlechts- und länderspezifischen Wert der mittleren Arbeitsstunden für Volloder Teilzeitbeschäftigte ergänzt. Hat die befragte Person während der Referenzperiode sowohl Voll- als auch Teilzeit gearbeitet, wurden Vollzeit-Äquivalente gebildet, indem die gearbeiteten Monate in Teilzeit mit einem geschlechts- und länderspezifischen Faktor multipliziert wurden, der sich aus dem Verhältnis der mittleren Arbeitsstunden in Teilzeit und den mittleren Arbeitsstunden in Vollzeit ergibt (vgl. Brandolini et al. 2010). Der Bruttojahresverdienst der Beschäftigten ist im EU-SILC definiert als das von einem Arbeitgeber an einen Arbeitnehmer gezahlte Entgelt, das als Gegenleistung für geleistete Arbeit innerhalb der Referenzperiode gezahlt wurde. Dies umfasst sowohl die regulären Löhne und Gehälter als auch Sonder- und Zusatzzahlungen, wie ein dreizehntes Monatsgehalt, Urlaubsgeld, Überstundenvergütungen, Gewinnbeteiligungen und Prämien sowie die vom Arbeitnehmer zu entrichtenden Sozialbeiträge und Einkommenssteuern. Da monetäre Anpassungen in Krisenzeiten beispielsweise auch Maßnahmen wie das Einfrieren, Kürzen oder Streichen von Sonder- und Zusatzzahlungen umfassen, erweist sich diese Variable als besonders geeignet für die geplanten Analysen. Für die Analysen der gesamteuropäischen Lohnverteilung über die Zeit muss die verwendete Lohnvariable sowohl für die unterschiedlichen Preisniveaus zwischen den Ländern korrigiert werden, d. h. die Kaufkraft eines Euros ist in Luxemburg eine andere als in Bulgarien, als auch für die länderspezifischen Preissteigerungen über die Zeit (Preisinflation). Eine Kombination beider Gewichtungsfaktoren ist jedoch nicht möglich, da sie sich diagonal zueinander verhalten (vgl. dazu Milanovic 2010, 2011). Die einzige Alternative, die sich dazu in der Literatur über europäische Lohnstrukturen finden lässt, ist die von Brandolini und Rosolia (2015) vorgeschlagene Variante einer doppelten Preiskorrektur. So wurden die Löhne als erstes anhand des harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für die EU-28 deflationiert, womit alle Werte in den Preisen von 2015 ausgedrückt werden. Zweitens wurden Länderunterschiede in den Lebensunterhaltskosten berücksichtigt, indem der individuelle Bruttostundenlohn durch länderspezifische Kaufkraftparitäten (purchasing power parities) dividiert wird. Diese Korrektur basiert auf der Annahme, dass der EU-weite Preisanstieg annähernd die Inflation in den Mitgliedsstaaten widerspiegelt. Zwar handelt es sich dabei um eine relativ starke
120
5
Daten, Variablen und Methoden
Annahme, jedoch ist dies der einzige Weg, die europäische Lohnverteilung sowohl um regionale Kaufkraftunterschiede als auch temporale Preisveränderungen bereinigen zu können. Weiterhin wurde ein „top-bottom-coding“ durchgeführt, um Ausreißer zu minimieren. Dazu wurden Werte unterhalb des ersten und oberhalb des 99. Perzentils des Bruttostundenlohns auf ebenjene Werte gesetzt.
5.2.2
Die unabhängigen Variablen
Individuelle Bestimmungsfaktoren Auf individueller Ebene werden drei Gruppen von Einflussfaktoren unterschieden, die aus mikroökonomischer Perspektive das individuelle Lohnniveau beeinflussen und zugleich diejenigen Faktoren widerspiegeln, mit der die Strukturierung der Arbeitnehmerschaft in Stamm- und Randbelegschaft einhergehen: personenbezogene, arbeitsplatzbezogene und betriebsspezifische Faktoren. Die personenbezogenen Bestimmungsfaktoren auf der Individualebene sind vor allem jene klassischen Faktoren, die der Humankapitaltheorie entspringen (Becker 1964) und bereits in den 1950er Jahren von Mincer (1958) zur Bestimmung des Lohnniveaus verwendet wurden. Klassischerweise werden hierbei die formale Bildung sowie die Berufserfahrung betrachtet. Im EU-SILC wird das Niveau der formalen Bildung (PE040) anhand der International Standard Classification of Education (ISCED-97) erhoben, die zwischen sieben (später mit ISCED-11 dann neun) so genannte Levels des Bildungsniveaus unterscheidet. Der Einfachheit halber wird das formale Bildungsniveau jedoch für die folgenden Analysen in drei Kategorien zusammengefasst: Geringes Bildungsniveau (Level 0–2), mittleres Bildungsniveau (Level 3–4) und hohes Bildungsniveau (Level 5–6). Die Berufserfahrung wird zwar vom EU-SILC abgefragt, ist jedoch nicht für alle Länder und Jahre vorhanden. Stattdessen wird hierfür auf das Alter (PB140) der Befragten, als Proxy-Variable für die potenzielle Berufserfahrung, zurückgegriffen. Dafür wird das Alter zum Zeitpunkt der Befragung verwendet und in drei Altersklassen unterteilt: Jugendliche (16–24 Jahre), die Kernaltersgruppe (25–54 Jahre) und ältere Arbeitnehmer (55–64 Jahre). Neben der potenziellen Berufserfahrung markieren diese drei Alterskategorien zugleich unterschiedliche Abschnitte in der durchschnittlichen Erwerbsbiografie und gehen zumeist mit bestimmten Positionen am Arbeitsmarkt einher – beispielsweise Jugendliche als klassische Arbeitsmarkteinsteiger (Entrants) mit nur wenig Berufserfahrung, die zunächst erst bestimmte Einstiegspositionen (ports of entry) am Arbeitsmarkt
5.2 Verwendete Variablen
121
besetzen. Des Weiteren werden noch das Geschlecht (PB150), der Migrationshintergrund (PB210 + PB220A), der Familienstand (PB190) sowie der Haushaltskontext (HX060) als wichtige Bestimmungsfaktoren berücksichtigt und als Kontrollvariablen in die Analysen miteinbezogen. Arbeitsplatzbezogene Bestimmungsfaktoren des individuellen Lohnniveaus sind vor allem die Art des Arbeitsvertrags, die geleisteten Arbeitsstunden sowie die ausgeübte Tätigkeit bzw. der Beruf. Die Erfassung des Arbeitsvertrags (PL140) erfolgt über eine dichotome Variable, die zwischen unbefristeten und befristeten Arbeitsverträgen unterscheidet und auf deren zentralen Erklärungsgehalt für Lohnungleichheiten in empirischen Studien immer wieder hingewiesen wird (Giesecke 2006; Giesecke und Groß 2004, 2002). Hinsichtlich der geleisteten Arbeitsstunden (PL031/PL030) wird ebenfalls eine dichotome Variable verwendet, die angibt, ob der Befragte nach eigener Selbsteinschätzung einer Vollzeit- oder Teilzeittätigkeit nachgeht. Die ausgeübte Tätigkeit bzw. der Beruf (PL051/PL050) wird im EU-SILC über die International Standard Classification of Occupations (ISCO3 ) erhoben und unterscheidet darin zwischen zehn Hauptgruppen. Die Streitkräfte wurden aufgrund von zu kleinen Fallzahlen aus der Analyse ausgeschlossen. Die übrigen neun Kategorien wurden weiter zusammengefasst, und zwar in Anlehnung an die ISCO Skill Levels in Akademische Berufe und Führungskräfte (ISCO 1 + 2), in gehobene Fachkräfte (ISCO 3), in einfache Fachkräfte (ISCO 4–8) und in Hilfsarbeitskräfte (ISCO 9). Zusätzlich zu den eben genannten arbeitsplatzbezogenen Faktoren, wird zusätzlich noch kontrolliert, ob die befragte Person über Führungsverantwortung verfügt oder nicht. Betriebsspezifische Faktoren sind zum einen die Betriebsgröße (PL130), die anhand der Frage erfasst wird, wie viele Personen in der örtlichen Betriebseinheit tätig sind. Dabei wurden die Antwortmöglichkeiten „zwischen 11–19 Personen“, „zwischen 20–49 Personen“ und „über 50 Personen“ sowie „weiß nicht, aber mehr als 10 Personen“ und „weiß nicht, aber weniger als 11 Personen“ in zwei Kategorien zusammengefasst, sodass sich eine Dichotomie zwischen kleinen und mittleren Betrieben (weniger als 50 Personen) und Großbetrieben (mehr als 50 Personen) ergibt. Ein weiterer entscheidender Bedingungsfaktor ist der jeweilige Wirtschaftssektor (PL111/PL110), in dem das Unternehmen tätig ist. Dieser wird im EU-SILC über die Nomenclature statistique des activités économiques
3 Bis
2010 wurde im EU-SILC noch mit der ISCO-88 Klassifikation gearbeitet und ab 2011 durch ISCO-08 ersetzt.
122
5
Daten, Variablen und Methoden
dans la Communauté européenne (NACE4 ) erfasst und weist dreizehn unterschiedliche Wirtschaftszweige auf, die in fünf Sektoren weiter zusammengefasst werden: Agrarwirtschaft (NACE 1), Industrie (NACE 2), Baugewerbe (NACE 3), Dienstleistungen (NACE 4–9 + 13) sowie den öffentlichen Dienst (NACE 10–12). Institutionelle Bestimmungsfaktoren Für die Analyse des Einflusses von Arbeitsmarktinstitutionen und deren Wandel im Zuge von Arbeitsmarktreformen, werden folgende Institutionenvariablen aus unterschiedlichen internationalen Datenbanken herangezogen, die sowohl die industriellen Beziehungen als auch die staatliche Arbeitsmarktregulierung abbilden: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad gibt die Anzahl der organisierten Gewerkschaftsmitglieder im Verhältnis zu allen beschäftigten Lohnempfängern an. Die Tarifabdeckung gibt die Anzahl an beschäftigten Lohnempfängern an, die von einem Tarifvertrag abgedeckt sind im Verhältnis zu allen abhängigen Beschäftigten, die ein Recht auf Tarifverhandlungen haben. Dieser Indikator wurde angepasst für die Möglichkeit, dass einige Sektoren oder Berufe vom Verhandlungsrecht ausgeschlossen sind. Der Koordinationsgrad von Tarifverhandlung gibt anhand einer fünfstufigen Skala den Grad der Koordinierung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in den Tarifverhandlungen wieder und integriert dabei den Zentralisationsgrad der Verhandlungsebene: 1) Fragmentierte und unkoordinierte Lohnverhandlungen, die überwiegend auf der Firmenebene stattfinden; 2) Verhandlungen auf Branchen- und Firmenebene, in denen ein gewisser Grad an Koordination und eine schwache staatliche Koordinierung vorherrschen, beispielsweise in Form von Mindestlohnsetzung oder Lohnindexierung; 3) Zentralisierte Verhandlungen, bei denen gewisse Richtlinien vorherrschen, wie Empfehlungen für Lohnforderungen vor dem Hintergrund der Produktivität und Inflation. Diese können sowohl vom Staat als auch den Gewerkschaften und Arbeitgebern angesetzt werden; 4) Normen und Richtlinien hinsichtlich zentralisierter Tarifverhandlungen, die durch Dachverbände mit oder ohne staatlichen Einfluss initiiert wurden; 5) Bindende Normen und Richtlinien hinsichtlich von Höchst- und Mindestlohnsätzen und deren Erhöhung als das Ergebnis von zentralisierten Verhandlungen der Dachverbände mit oder ohne Beteiligung des Staates. Dazu zählen auch einseitige staatliche Lohnfestsetzungen mit oder ohne die vorherige Konsultierung
4 Bis
2010 wurde im EU-SILC noch mit der NACE Rev 1.1 gearbeitet und ab 2011 durch die NACE Rev 2 ersetzt.
5.2 Verwendete Variablen
123
der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Die drei eben genannten Indikatoren (UD, AdjCov und Coord) sind der ICTWSS 5.1 Datenbank (Visser 2016a) entnommen. Die Existenz und die jeweilige Höhe von gesetzlichen Mindestlöhnen werden anhand des Kaitz-Index erfasst. Dieser Index bildet die Relation des Mindestlohns zum jeweiligen Durchschnitts- oder Medianlohn ab und eignet sich aufgrund seiner relativen Natur besonders gut für internationale Vergleiche. In dieser Arbeit werden Medianlöhne anstatt von Durchschnittslöhne verwendet, weil diese nicht im selben Maße durch Ausreißer beeinflusst werden. Da einige Länder in Europa keine gesetzlichen Mindestlöhne haben oder erst im späteren Verlauf der hier untersuchten Periode eingeführt haben, werden die daraus resultierenden fehlenden Werte auf null gesetzt. Damit lässt sich der Kaitz-Index entsprechend so interpretieren, dass der gesetzliche Mindestlohn in diesen Ländern null Prozent vom Medianlohn entspricht. Der Indikator wird der OECD employment database entnommen Für den relativen Kündigungsschutz wird der OECD employment protection legislation index herangezogen (OECD 2013). Dieser Index ist ein synthetisches Maß, der das länderspezifische Niveau des Kündigungsschutzes von Arbeitnehmern, die Beschränkungen der Verwendung von befristeten Verträgen und die Regelung von Arbeitszeiten umfasst. Dabei werden eine Reihe von Normen und Verfahren berücksichtigt, die im Wesentlichen die Einstellungs- und Entlassungspraktiken regulieren. Dabei lassen sich zwei Formen unterscheiden: Einmal der Kündigungsschutz für regulär Beschäftigte, der die Kosten für individuelle und kollektive Entlassungen von regulären Arbeitnehmern regelt. Zum anderen die Regulierung des Einsatzes von Befristungen und anderen atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Beide Indizes können theoretisch Werte von 0–6 annehmen, wobei ein höherer Wert einer strikteren Regulierung entspricht. Da es in der empirischen Analyse vor allem um die unterschiedliche Betroffenheit von Stamm- und Randbelegschaften geht, erweist sich eine Kombination beider Indizes in Form eines relativen Kündigungsschutzes als sinnvoll (vgl. Barbieri und Cutuli 2016). Dazu wird die Differenz der beiden Maße gebildet und als Indikator für eine institutionell bedingte Arbeitsmarktsegmentierung interpretiert. Ein höherer Wert steht somit für eine größere Dualisierung des institutionellen Schutzes von regulär und befristet Beschäftigten zugunsten ersterer. Eine Zunahme über die Zeit kann zudem als marginale Flexibilisierung interpretiert werden, da sie vor allem die Randbelegschaft betrifft. Der Steuer- und Abgabenkeil misst die Belastung der Erwerbseinkommen durch die länderspezifischen Einkommenssteuern und Sozialabgaben, indem die Differenz zwischen dem Arbeitgeberbruttolohn und dem nach Abzug der Steuern
124
5
Daten, Variablen und Methoden
und Abgaben übriggeblieben Arbeitnehmernettolohn berechnet wird. Operationalisiert wird der Steuerkeil im Folgenden als der durchschnittliche Steuerkeil für kinderlose Singles, die zwei Drittel des Durchschnittslohns verdienen. Letzteres wurde gewählt, da davon auszugehen ist, dass ein hoher Steuerkeil insbesondere die Anspruchslöhne von Geringverdienern beeinflussen kann, wenn die Nettolöhne und potenzielle Lohnersatzleistungen zu dicht beieinander liegen. Auch dieser Indikator wird von der OECD (2019) bezogen. Die Höhe und Dauer von Lohnersatzleistungen sind Indikatoren für den Schutz vor Einkommensausfällen im Falle von Arbeitslosigkeit. Bei der Operationalisierung dieser Maße wird sich an (Nickell et al. 2005) orientiert. Die Lohnersatzrate ist demnach der prozentuale Anteil der Lohnersatzzahlungen am vorherigen Nettoverdienst im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit als Durchschnitt über drei Haushaltstypen (Single, abhängiger Partner und Doppel-Verdiener) sowie über zwei Verdienstniveaus (Durchschnittsverdienst und zwei Drittel des Durchschnittverdienstes). Leistungen wie das Wohngeld oder Wohnbeihilfen wurden nicht mitberücksichtigt (ebd.). Mit der Dauer der Lohnersatzleistungen soll eine weitere Dimension der Arbeitslosenversicherung abgedeckt werden, und zwar die Abnahme der Leistungshöhe über die Dauer der Arbeitslosigkeit. Die Berechnung der Lohnersatzdauer erfolgt nach folgender Formel: DLE = (0,6 * LER_2 + 0,4 * LER_4) / LER_1. Dabei entspricht DLE die Dauer der Lohnersatzleistungen, LER_ gibt die Lohnersatzrate im ersten respektive zweiten respektive vierten Jahr der Arbeitslosigkeit an. Dabei werden die Arbeitslosigkeitsphasen unterschiedlich gewichtet, und zwar mit 0,6 für das zweite und 0,4 für das vierte Jahr der Arbeitslosigkeit (ebd., S. 23). Auf diese Weise erhält man eine Rate aus den Lohnersatzleistungen, die im zweiten/vierten Jahr der Arbeitslosigkeit gezahlt werden im Verhältnis zu den Lohnersatzleistungen aus dem ersten Jahr der Arbeitslosigkeit. Die Datengrundlage hierfür ist die OECD social protection and well being Datenbank. Die aktiven Arbeitsmarktpolitiken (AAMP) umfassen alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zur Aktivierung von Arbeitslosen, wie Ausbildungsangebote, Beschäftigungsanreize, geförderte Beschäftigungsverhältnisse, direkte Arbeitsplatzschaffung sowie Gründungszuschüsse. Im Folgenden werden sie operationalisiert anhand der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitiken in Prozent des BIP pro Prozent Arbeitslosigkeit. Die Gewichtung mit der Arbeitslosenquote ist insbesondere vor dem Hintergrund der Krise von großer Wichtigkeit, da die rasch angestiegene Arbeitslosigkeit in einigen Ländern diesen Indikator ansonsten verzerren würde. Die Informationen zu den Ausgaben entstammen der GD EMPL Datenbank der Europäischen Kommission (LMP_IND_EXP).
5.2 Verwendete Variablen
125
Fehlende Werte in den Zeitreihen zwischen 2006 und 2016 wurden linear imputiert, sofern davon ausgegangen werden konnte, dass es sich dabei um zeitvariante Trends handelt (beispielsweise ein stetig sinkender Organisationsgrad). Lagen fehlende Werte in tendenziell zeitkonstanten Variablen vor (wie der Koordinationsgrad), wurden die fehlenden Werte durch die anliegenden ersetzt. Makroökonomische Schocks Um Auswirkungen der unterschiedlichen Eurokrisen auf die Arbeitsmärkte direkt messen zu können, werden im Folgenden drei verschiedene Indikatoren makroökonomischer Schocks operationalisiert, die die jeweiligen Krisen und deren Effekte auf die Arbeitsmärkte möglichst präzise abbilden sollen. Nachfrageschock: Der Rückgang der aggregierten Nachfrage und der Einbruch der Produktivität in der Folge der Wirtschaftskrise, erwies sich als tiefgreifender Einschnitt sowohl für die Güter- als auch für die Arbeitsmärkte, der die Unternehmen unter hohen Anpassungsdruck setzt. Operationalisiert wird dieser Nachfrageschock anhand des realen BIP pro Kopf. Für eine bessere Interpretation und Vergleichbarkeit der Ergebnisse, wird dieser Indikator logarithmiert. Dadurch entsprechen die Veränderungen des realen BIP pro Kopf annähernd prozentualen Veränderungen. Der Indikator wird von Eurostat (nama_10_pc) bereitgestellt. Monetäre Schocks: Die Auswirkungen der Banken- und Finanzmarktkrise sollen anhand der Entwicklung der Zinssätze untersucht werden. Dazu werden die Zinsen für langfristige Anleihen mit einer Laufzeit von etwa zehn Jahren herangezogen, die zu den zentralen Determinanten der unternehmerischen Investitionstätigkeiten zählen. Geringe Zinsen stehen dabei im Zusammenhang mit einer höheren Investitionsneigung der Unternehmen, während hohe Zinsen diese hemmt. Da die Zinssätze jedoch nicht unabhängig von der Preisentwicklung in der Realwirtschaft sind, d. h. inflationsbedingte Wertveränderungen zu beachten sind, ist bekanntlich der Realzins besser dazu geeignet, die Ausgabenentscheidungen der Unternehmen und Haushalte vorherzusagen (Brzoza-Brzezina 2002). Der Realzins ergibt sich aus der Differenz von Nominalzins und Inflationsrate und wird von der AMECO-Datenbank der Europäischen Kommission (ILRV) bereitgestellt. Fiskalische Schocks: Der dritte Indikator bezieht sich auf die Phase der Staatsschuldenkrise und die damit einhergehenden fiskalischen Konsolidierungsbemühungen – die sogenannte Austeritätspolitik. In diesem Fall wird von einem fiskalischen Schock ausgegangen, bei dem die Ausgaben des Staates – und damit dessen Konsum- und Investitionstätigkeiten – in einigen Ländern rapide zurückgegangen waren. Anhand des konjunkturbereinigten Primärsaldos soll diese fiskalische Konsolidierung (oder Expansion) operationalisiert werden. Der Primärsaldo
126
5
Daten, Variablen und Methoden
ist die Differenz zwischen den Ausgaben und Einnahmen des Staates exklusive der zu zahlenden Zinsen für seine Staatsschulden und wird üblicherweise im Verhältnis zum BIP dargestellt. Um tatsächlich Rückschlüsse auf politische Entscheidungen hinsichtlich der Anpassungen der Staatsausgaben ziehen zu können, die nicht auf Schwankungen im Konjunkturzyklus zurückzuführen sind, wird in der ökonomischen Literatur zur Austerität der konjunkturbereinigte Primärsaldo verwendet (Alesina und Ardagna 2010). Die Annahme dahinter lautet, dass auf diese Weise Veränderungen im Primärsaldo tatsächlich auch politische Entscheidungen hinsichtlich der Anpassungen der Staatsausgaben widerspiegeln (Guajardo et al. 2011; Pescatori et al. 2011; Ghosh und Misra 2016; Barrios et al. 2010; Alesina und Ardagna 2010). Ein Anstieg des konjunkturbereinigten Primärsaldos würde dementsprechend auf eine fiskalische Expansion, ein Rückgang hingegen für eine fiskalische Konsolidierung sprechen. Dieser Indikator ist dem Fiskalmonitor des IWF entnommen. Kontrollvariablen auf der Makroebene Um auf der Makroebene noch für weitere langfristige Trends zu kontrollieren, die sich parallel zu den makroökonomischen Schocks und den Arbeitsmarktinstitutionen auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen auswirken können, werden folgende Kontrollvariablen hinzugezogen: Globalisierung wird als wirtschaftlicher Öffnungsgrad in Form des Anteils der Importe und Exporte in Prozent des BIP operationalisiert und soll das Ausmaß internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen widerspiegeln. Der Indikator wird von Eurostat (nama_10_exi) bezogen. Die Arbeitslosenquote gibt den Anteil an Arbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung, die Summe der Erwerbstätigen und Arbeitslosen, an und wird ebenfalls von Eurostat (une_rt_a) bezogen. Der demografische Wandel wird als das Verhältnis zwischen dem Anteil von Personen über 65 und unter 25 Jahren abgebildet. Die Frauenerwerbstätigenquote, als Indikator für die Feminisierung der Arbeitswelt, bildet den Anteil erwerbstätiger Frauen im Alter von 15 bis 64 Jahren an der weiblichen Bevölkerung der gleichen Altersgruppe ab. Die Deindustrialisierung wird als der Anteil der Erwerbstätigen in der Industrie (NACE 2) im Verhältnis zur Gesamtbeschäftigung operationalisiert. Der technologische Wandel, als Verschiebung hinsichtlich der Nachfrage und des Angebots nach qualifizierter Arbeit, wird annäherungsweise über den relativen Anteil erwerbstätiger Personen mit tertiärem Bildungsabschluss abgebildet. Alle vier Indikatoren werden dabei direkt aus den EU-SILC-Daten berechnet.
5.3 Methoden
5.3
127
Methoden
Im Nachfolgenden soll ein Überblick über die verschiedenen Methoden gegeben werden, die in den empirischen Analysen verwendet werden. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Verfahren unterscheiden: Zum einen die RIF-Dekomposition, die eine Zerlegung der Veränderungen der gesamten Lohnverteilung in die Veränderungen der Beschäftigungsstruktur sowie in die der Lohnstruktur ermöglicht. Zum anderen werden lineare Paneldatenregressionen geschätzt, die eine Analyse der Dynamiken von Lohnungleichheiten und deren makroökonomischen und institutionellen Bestimmungsfaktoren über die Zeit erlauben.
5.3.1
RIF-Regressionen und RIF-Dekomposition
Um die Ursachen für den Wandel der gesamteuropäischen als auch der nationalen Lohnverteilungen untersuchen zu können, ist es wichtig, nicht nur die Veränderungen in der Lohnstruktur, sondern auch jene in der Beschäftigungsstruktur zu berücksichtigen, da erst in ihrem Zusammenspiel die Dynamiken von Lohnungleichheiten verstanden werden können. Genau dies ermöglichen Dekompositionsanalysen. Trotz einer Vielzahl unterschiedlicher Verfahren (vgl. Melly 2006, 2005a; Chernozhukov et al. 2013; Juhn et al. 1993; Machado und Mata 2005; Firpo et al. 2009), wird im Rahmen dieser Arbeit die Variante von Firpo, Fortin und Lemieux (2009, 2018) verwendet (im Folgenden: FFL), was im Laufe dieses Abschnitts noch genauer begründet werden soll. Das Verfahren gestaltet sich folgendermaßen: In einem ersten Schritt werden unterschiedliche lohnrelevante Merkmale auf eine bestimmte statistische Verteilung mittels RIF-Regressionen5 untersucht. In einem zweiten Schritt erfolgt auf Grundlage der Berechnungen aus dem ersten Schritt die Zerlegung der Veränderungen in einen Kompositions- und einen Lohnstruktureffekt. Für eine noch detailliertere und technischere Erläuterung dieser Methode siehe (Firpo et al. 2009, 2018; Fortin et al. 2011; Rios-Avila 2019).
5 Recentered
Influence Functions (RIF) sind statistische Verfahren, die von Firpo et al. 2009 zur Analyse von unkonditionellen partiellen Effekten auf eine beliebige statistische Verteilung im Rahmen von Regressionsanalysen entwickelt wurden.
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5
Daten, Variablen und Methoden
RIF-Regression RIF-Regressionen (recentered influence functions) ermöglichen es, auf relativ einfache Weise, den Einfluss einer erklärenden Variable X auf eine beliebige Verteilungsfunktion der abhängigen Variable Y zu berechnen. Sie sind somit besonders gut geeignet, Faktoren zu untersuchen, die aufgrund von marginalen Veränderungen in ihrer Verteilung die Ungleichheiten beeinflussen. RIF-Regressionen können theoretisch anhand jeder beliebigen Verteilungsfunktion berechnet werden. Im Folgenden werden jedoch unkonditionale Quantilregressionen (UQR) herangezogen, die auf der Arbeit von Firpo, Fortin und Lemieux (2009) basieren. Die UQR ist in der Lage, den marginalen Effekt einer erklärenden Variablen auf das unbedingte Quantil einer abhängigen Variablen zu berechnen. Sie unterscheidet sich damit von der klassischen Quantilregression (QR), mit der die marginalen Effekte lediglich auf das konditionale Quantil berechnet werden können. Ein Beispiel soll diesen Unterschied verdeutlichen (Khanna et al. 2016, S. 3): Steigen im Falle der QR die Koeffizienten für das Bildungsniveau mit jedem nächst höheren Quantil an, dann kann dies so interpretiert werden, dass eine größere Anzahl an Hochqualifizierten in der Gesamtheit die Lohnspreizung innerhalb einer bestimmten Gruppe von Individuen, die dieselben Merkmalsausprägungen in den Kovariaten aufweisen, vergrößert. Wenn es aber darum geht, ob ein Mehr an Bildung die Lohnspreizung innerhalb der Gesamtheit erhöht, und zwar unabhängig von den restlichen Kovariaten, werden UQR herangezogen. Die UQR basieren dabei auf sogenannten Einflussfunktionen (influence functions, IF), die die Veränderungen einer Verteilung aufgrund von marginalen Veränderungen in der Stichprobe quantifiziert. Sie kann demnach beschrieben werden als die Funktion des τ ten Quantils der abhängigen Variable Y: I F(Y ; Q τ , F) =
(τ − I {Y ≤ Q τ }) f Y (Q τ )
(1)
Wobei I {.} eine Indikatorfunktion ist, die den Wert 1 annimmt, wenn die Bedingung innerhalb von {} wahr ist und andernfalls den Wert 0 annimmt. f Y ist die Dichte um Q τ , die mittels einer Kerndichteschätzung berechnet wird und der marginalen Verteilung der Löhne entspricht. Da IF um Null zentriert sind, und dementsprechend auch der Erwartungswert Null ist, werden einfach die Kennzahlen des Interesses der IF hinzugefügt und um diese zentriert (recentered). Auf diese Weise erhält man die RIF für das τ te Quantil: R I F(Y ; Q τ ) = Q τ + I F(Y ; Q τ ) = Q τ +
(τ − I {Y ≤ Q τ }) f Y (Q τ )
(2)
5.3 Methoden
129
Damit ist der Erwartungswert der RIF = Q τ . Durch ein einfaches lineares Regressionsmodell kann nun die RIF-Regression modelliert werden, sodass die Koeffizienten als durchschnittliche marginale Effekte der erklärenden variable X auf die Lohnquantile interpretiert werden können: E[R I F(Y ; Q τ )|X ] = X β
(3)
Wobei β dem marginalen Effekt von X auf das τ te Quantil entspricht, wenn alles weitere konstant gehalten wird. Was hier am Beispiel der Quantile durchgeführt wurde, lässt sich auf jede andere Verteilungsfunktion anwenden, wie beispielsweise die des Gini-Koeffizienten (Firpo et al. 2018, S. 15). RIF-Dekomposition Die im ersten Schritt mithilfe der RIF-Regression berechneten Ergebnisse bilden im Folgenden die Grundlage für die im weiteren Schritt durchgeführte RIFDekomposition. Anhand dieses Verfahrens wird die Gesamtveränderung in der Lohnverteilung zwischen zwei Zeitpunkten in zwei unterschiedliche Komponenten zerlegt: 1) Einen Lohnstruktureffekt, der die Veränderung in den Koeffizienten bestimmter Merkmale abbildet; oder anders ausgedrückt: wie sich das Lohnniveau bestimmter Gruppen und damit auch die Lohnstruktur verändert hat. 2) Einen Kompositionseffekt, der die Veränderung in der Zusammensetzung der abhängig Beschäftigten nach bestimmten Merkmalen abbildet, beispielsweise in Form des Anteils geringqualifizierter Arbeitskräfte zum Zeitpunkt 1 im Vergleich zu Zeitpunkt 2. Im Vergleich zu anderen Dekompositionsverfahren (vgl. Melly 2005a, 2006; Chernozhukov et al. 2013; Machado und Mata 2005; Juhn et al. 1993), die zwar auch über die Zerlegung des bloßen Mittelwertes hinausgehen, hat die RIF-Dekomposition einen entscheidenden Vorteil: Zum einen ist eine weitere, detaillierte Zerlegung des Lohnstruktureffekts und des Kompositionseffekts in die Beiträge jeder einzelnen Kovariate möglich. Zum anderen basiert die RIFDekomposition nicht auf klassischen QR, wodurch sich Aussagen über die Veränderungen der gesamten Lohnverteilung treffen lassen. Die RIF-Dekomposition basiert im Grunde auf der klassischen Oaxaca-Blinder Dekomposition (Oaxaca 1973; Blinder 1973), mit dem entscheidenden Vorteil, dass nicht der Mittelwert der abhängigen Variable Y, sondern eine beliebige Verteilungsfunktion von Y der Dekomposition zugrunde liegt. Konkret bedeutet dies, dass mit Hilfe der RIFDekomposition die Veränderungen in der Lohnverteilung v von T = 0 (2006) auf T = 1 (2016) berechnet werden können, indem die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion von Y herangezogen wird (Rios-Avila 2019, S. 16):
130
5
Daten, Variablen und Methoden
v = v1 − v0 = v FY1 − v FY0 = X 1 β 1 − X 0 β 0
(4)
v ist dabei die Differenz der beiden Lohnverteilungen v1 und v0 , die sich jeweils aus X und β zusammensetzen, wobei ersteres die Zusammensetzung nach bestimmten Merkmalen und letzteres die Koeffizienten der jeweiligen Merkmale abbilden. Möchte man nun wissen, wie groß die Anteile des Lohnstruktureffekts und des Kompositionseffekts an der Gesamtveränderung v sind, bedarf es einer kontrafaktischen Verteilung vc , in der die Merkmale aus dem einen Jahr der Lohnstruktur aus dem anderen Jahr zugrunde gelegt werden. Dieses kontrafaktische Szenario lässt ausdrücken als:
vc = v FYc = X 0 β 1
(5)
Für die Dekomposition ist entscheidend, welche kontrafaktische Verteilung für vc gewählt wird und damit, aus welchem Jahr die Lohn- und aus welchem die Beschäftigungsstruktur in diesem kontrafaktischen Szenario stammt. Die in diesem Fall gewählte kontrafaktische Verteilung vc besteht somit aus X 0 , der Merkmalzusammensetzung aus dem Jahr 2006, und β 1 , der Lohnstruktur aus dem Jahr 2016. Mithilfe von vc kann die Gesamtveränderung der Lohnverteilung zwischen 2006 (0) und 2016 (1) in seine zwei Komponenten zerlegt werden:
(6) Wobei v den Gesamteffekt, vx den Kompositionseffekt und vs den Lohnstruktureffekt abbilden. Zusätzlich wird die kontrafaktische Verteilung vc aus X 0 zum Zeitpunkt 2006 und β 1 zum Zeitpunkt 2016 verwendet. Ein Problem, das aufgrund der kontrafaktischen Verteilung entstehen kann ist, dass diese nicht direkt beobachtbar ist, sondern ein theoretisches Szenario darstellt. Um für diesen Umstand zu kontrollieren und sich der kontrafaktischen Verteilung anzunähern, kann DiNardo et al. (1996) folgend ein Neugewichtungsfaktor ω(X ) (im Sinne eines propensity scores) anhand von einfachen Logitoder Probit-Modellen berechnet werden. Dieser wird mit der beobachteten Verteilung bestimmter Merkmale multipliziert. Mit diesem Neugewichtungsfaktor ω(X ) erfolgt die Dekomposition wie folgt:
(7)
5.3 Methoden
131
Durch die Kombination der RIF-Dekomposition mit dem Neugewichtungsfaktor werden Spezifikations- und Gewichtungsfehler ausgegeben. Dabei sind die Komp p ponenten v S + v Se und v X + v eX das, was in (6) der Lohnstruktureffekt und der Kompositionseffekt sind. Beide Komponenten können jedoch nun noch p weiter zerlegt werden, und zwar in einen bereinigten Lohnstruktureffekt v S und p e den bereinigten Kompositionseffekt v X . Zusätzlich dazu ist v S der Gewichtungsfehler, der verwendet wird, um die Qualität der Neugewichtung zu bewerten und läuft mit zunehmender Stichprobengröße gegen Null. v eX ist hingegen der Spezifikationsfehler und gibt die Abweichung von der Linearitätsannahme in den Modellspezifikationen an (Rios-Avila 2019, S. 18). Beide Komponenten können dabei als allgemeine Gütekriterien für das geschätzte Modell verwendet werden. Die RIF-Regressionen werden anhand der Stata-Routine rifreg von Firpo et al. (2009) und die Berechnung der RIF-Dekompositionen anhand von oaxaca_rif von Rios-Avila (2019) durchgeführt.
5.3.2
Lineare Paneldatenregressionen
Aufgrund der Datenstruktur des EU-SILC, das jährliche Querschnittserhebungen von 23 EU-Mitgliedsstaaten (für die alle Makrovariablen vorhanden sind) zu elf Zeitpunkten (2006-2016) umfasst und den Zeitreihendaten der verwendeten Makrovariablen, sind sowohl querschnitts- als auch längsschnittperspektiven auf die aggregierten Lohnungleichheiten möglich. Vor diesem Hintergrund liegen der Analyse also aggregierte Zeitreihen-Querschnittsdaten zugrunde (sogenannte Time-Series-Cross-Section-Data, TSCS), weshalb im folgenden lineare Paneldatenregressionen der bevorzugte Analyseweg sind. Um den Einfluss unbeobachteter und beobachtbarer makroökonomischer Schocks auf die Dynamiken von Lohnungleichheiten berechnen zu können, und wie diese von Arbeitsmarktinstitutionen moderiert werden, wird ein Ansatz verwendet, der von Blanchard und Wolfers (2000) entwickelt und von Iversen und Soskice (2019, 2015b) modifiziert wurde. In einem ersten Schritt werden dazu die makroökonomischen Schocks als unbeobachtet und länderübergreifend, d. h. über alle Länder hinweg als identisch, angenommen und mit zeitkonstanten Institutionenvariablen interagiert. In einem zweiten Schritt werden dann die makroökonomischen Schocks als beobachtbar und länderspezifisch operationalisiert, die ebenfalls mit den Institutionenvariablen interagiert werden. In einem dritten Schritt variieren die Institutionenvariablen dann über die Länder und Zeitpunkte, um deren Veränderungen nun direkt auf die
132
5
Daten, Variablen und Methoden
Veränderungen der Lohnungleichheitsmaße zu berechnen. Die abhängigen Variablen in all diesen Modellen sind die unterschiedlichen Lohnungleichheitsmaße, die auf Grundlage des realen Log-Bruttostundenlohns gebildet werden, wie die Quantilverhältnisse oder der Gini-Koeffizient. Während der Ansatz von Blanchard und Wolfers (2000; siehe auch Bertola 2017) auf nicht-linearen Schätzverfahren basieren, die jedoch recht kompliziert hinsichtlich der korrekten Schätzung der Standardfehler sind, schlagen Iversen und Soskice stattdessen vor, lineare Regressionsmodelle für diesen Zweck zu verwenden. Unbeobachtete und länderübergreifende Schocks Die Berechnung der Effekte unbeobachteter Schocks und die moderierende Rolle der Arbeitsmarktinstitutionen erfolgt in zwei Schritten: Zunächst muss eine sogenannte Schock-Variable erstellt werden, um den Effekt der unbeobachteten und länderübergreifenden Schocks auf die Lohnungleichheitsmaße berechnen zu können. Dafür wird ein Regressionsmodell berechnet, in dem das jeweilige Lohnungleichheitsmaß auf ein Set an Perioden-Dummies und Länder-Dummies regressiert wird. Die berechneten Werte der einzelnen Perioden-Dummies werden in eine neue Variable überführt – die Schock-Variable. Die Länder-Dummies dienen dazu, mittels fixer Ländereffekte (country fixed-effects), für alle länderspezifischen und zeitinvarianten Einflussfaktoren zu kontrollieren. Auf diese Weise wird für jedes Lohnungleichheitsmaß eine eigene Schock-Variable kreiert, die sich lediglich aus den Koeffizienten der Perioden-Dummies für jedes Jahr zusammensetzt. Somit wird die durchschnittliche, europaweite Veränderung in den Lohnungleichheiten als Proxy-Variable für das Ausmaß unbeobachteter Schocks eines jeden Jahres verwendet, die sowohl positiv als auch negativ sein können (Iversen und Soskice 2019, S. 132). Daran anschließend werden die Lohnungleichheitsmaße auf die jeweilige Schock-Variable regressiert. Zusätzlich dazu werden jetzt die zeitkonstanten Institutionenvariablen in das Modell aufgenommen und mit der Schock-Variable interagiert. Bei den zeitkonstanten Institutionenvariablen handelt es sich um die länderspezifischen Mittelwerte über die gesamte Periode 2006–2016, die zusätzlich um den EU-Mittelwert zentriert wurden. Die Schock-Variable gibt die Veränderung in der Lohnungleichheit bei durchschnittlichen Werten aller Institutionenvariablen an, während letztere als Abweichungen vom EU-Durchschnitt interpretiert werden können. Um für weitere unbeobachtete und zeitkonstante Länderunterschiede zu kontrollieren, werden auch hier wieder fixe Ländereffekte verwendet:
5.3 Methoden
133
⎛ Yit = ⎝1 +
⎞ β j X i j ⎠dt + ci + εit
(8)
j
Dabei ist Yit die Lohnungleichheit im Land i zum Zeitpunkt t. ci ist der fixe Ländereffekt für das Land i und dt ist der Periodeneffekt in Form der Schock-Variable (die auf den Werten der Perioden-Dummies einer vorherigen Regression basieren) für Zeitpunkt t. Damit ist X i j der Wert der zeitkonstanten Institution j im Land i. Der Effekt der Schock-Variable dt auf die Lohnungleichheit wird somit durch die Summe der Institutionenvariablen eines jeweiligen Landes moderiert, was in Form des Koeffizienten β j zum Ausdruck kommt. Aufgrund der zugrundeliegenden Datenstruktur (Zeitreihen-Querschnittsdaten; TSCS), kann sowohl von Heteroskedastizität als auch von einer seriellen Autokorrelation ausgegangen werden. Um dies zu berücksichtigen, schlagen Iversen und Soskice vor, für das zweite Modell entsprechend der Spezifikation (8) PraisWinsten Regressionen mit Panel-korrigierten Standardfehlern (panel-corrected standard errors) zu verwenden, sowie eine Korrektur für die serielle Autokorrelation erster Ordnung (AR(1)) vorzunehmen – wie dies von Beck und Katz (1995) im Falle von Zeitreihen-Querschnittsdaten mit relativ kurzen Zeiträumen empfohlen wird6 . Beobachtbare und länderspezifische Schocks Das alle Mitgliedsstaaten dieselben Schocks hinsichtlich des Zeitpunktes und der Intensität erfahren haben, ist freilich eine starke Annahme, die so in der Realität wohl nicht haltbar ist. Jedoch ermöglicht diese provisorische Annahme eine annäherungsweise Beschreibung der Wirkung unterschiedlicher institutioneller Arrangements auf die Lohnungleichheiten in Krisenzeiten. In einem weiteren Schritt wird diese strikte Annahme fallen gelassen und länderübergreifende, unbeobachtete Schocks durch beobachtbare, länderspezifische Schocks ersetzt. Dabei wird der Effekt der länderspezifischen Schock-Variablen auf die Lohnungleichheitsmaße berechnet als auch deren Interaktion mit den zeitkonstanten Institutionenvariablen. Auch in diesem Fall werden wieder Panel-korrigierte Standardfehler und fixe Ländereffekte wie im vorherigen Modell verwendet, sowie zusätzlich fixe Periodeneffekte hinzugefügt um für weitere, länderübergreifende Trends zu kontrollieren:
6 In
Stata erfolgt dieser Schritt über den Befehl xtpcse und der Option corr(A1).
134
5
⎛ Yit = ⎝1 +
j
Daten, Variablen und Methoden
⎞
β j Xi j ⎠ Skit ak + ci + λt + εit
(9)
k
Der unbeobachtete Schock dt aus (8) wird nun durch beobachtbare und länderspezifische Schocks ersetzt, wobei Skit für den Schock k eines Landes i zum Zeitpunkt t steht, die wiederum durch die zeitkonstanten Institutionenvariablen X i j moderiert werden. Institutioneller Wandel und länderspezifische Schocks In einem dritten Schritt wird der Einfluss zeitvarianter Institutionenvariablen auf die Lohnungleichheitsmaße berechnet, d. h. wie sich ein Wandel in den Institutionen auf die Veränderungen in den Lohnungleichheitsmaßen über die Zeit hinweg auswirkt. Dazu werden erneut die Regressionsverfahren aus den vorherigen Modellen verwendet, die wieder fixe Perioden- und Ländereffekte beinhalten: ⎛ ⎞
⎝ ⎠ Yit = 1 + β j X it j + Skit ak + ci + λt + εit (10) j
k
Dabei entspricht (10) im Grunde (9), nur dass jetzt der Wert der Institution X sowohl für das Land i als auch für den Zeitpunkt t variiert. Des Weiteren wird nun auf Interaktionseffekte zwischen den zeitvarianten Institutionen und den länderspezifischen Schocks verzichtet, da in diesem Fall nicht die Wechselwirkungen im Fokus stehen, sondern der Erklärungsbeitrag des institutionellen Wandels, kontrolliert für die parallel stattfindenden makroökonomischen Schocks. Die zeitvarianten Institutionenvariablen sowie die Schock-Variablen werden in diesem Falle um ein Jahr verzögert (lagged independent variable) in die Modelle aufgenommen. Dies trägt der Annahme Rechnung, dass die Auswirkungen institutioneller Veränderungen und makroökonomischer Schocks auf die Arbeitsmärkte nicht unmittelbar sind, sondern leicht verzögert stattfinden können. Auf diese Weise wird auch eine mögliche Gleichzeitigkeitsverzerrung (simultaneity bias) sowie umgekehrte Kausalität (reverse causality) berücksichtigt, d. h. eine Verwechselung in der Wirkungsrichtung abhängiger und unabhängiger Variablen.
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten aus gesamteuropäischer Perspektive
Im Folgenden werden die Strukturen und Dynamiken der Löhne und ihrer Verteilung innerhalb der EU bzw. Eurozone während der Krisenperiode untersucht. Dabei wird eine gesamteuropäische Perspektive eingenommen, d. h., es wird ein gemeinsamer Sozialraum unterstellt, dem ein gesamteuropäisches Schichtungssystem zugrunde liegt. Die Zugehörigkeit zu einem Mitgliedsstaat ist somit lediglich eine weitere erklärende Variable, die gleichgewichtig neben anderen personenbezogenen, arbeitsplatz- und betriebsspezifischen Merkmalen steht. Dazu wird in drei Schritten vorgegangen: Erstens werden anhand deskriptiver Analysen die Veränderungen in der gesamteuropäischen Lohnungleichheit im Zeitraum 2006–2016 aufgezeigt. Dazu werden zum einen die Lohnverteilungen der zwei Zeitpunkte gegenübergestellt und hinsichtlich ihrer Struktur miteinander verglichen. Zum anderen wird die Entwicklung bestimmter Abschnitte der Lohnverteilung über die gesamte Zeitspanne hinweg untersucht und wie sich diese auf unterschiedliche Ungleichheitsmaße ausgewirkt hat. Zweitens werden dann die personenbezogenen, arbeitsplatzund betriebsspezifischen Determinanten der gesamteuropäischen Lohnverteilungen anhand von unkonditionalen Quantilregressionen (UQR) analysiert und wie sich deren Einfluss zwischen den beiden Beobachtungszeitpunkten verändert hat. Auf diese Weise können sowohl gruppenspezifische Lohnunterschiede analysiert werden als auch der Einfluss marginaler Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft auf die gesamteuropäische Lohnverteilung. Drittens werden – aufbauend auf der UQR – Dekompositionsanalysen durchgeführt, die es ermöglichen, die Gesamtveränderungen der Lohnverteilung und der Lohnungleichheitsmaße auf Veränderungen in der Lohn- oder Beschäftigungsstruktur zurückzuführen. Die Ergebnisse erlauben es dann, Rückschlüsse auf die betrieblichen Anpassungsstrategien und -maßnahmen zu ziehen. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_6
135
136
6.1
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung
Um einen ersten Eindruck vom Niveau und der Verteilung der Löhne abhängig Beschäftigter in Europa und deren Veränderungen während der Krise zu erhalten, bietet es sich in einem ersten Schritt an, die Häufigkeiten bestimmter Lohngruppen näher zu betrachten. Abbildung 6.1 bildet dazu die Verteilung der realen Bruttostundenlöhne (Euros in Preisen von 2015 und kaufkraftbereinigt) in der EU (EU-27) sowie der Eurozone (Euro-19) zu den Zeitpunkten 2006 und 2016 ab. Für die EU lässt sich deutlich erkennen, dass insbesondere die Gruppe derjenigen, die weniger als 5 e pro Stunde verdienen, zwischen 2006 und 2016 deutlich gesunken ist – und zwar von rund 24 auf knapp 16 Prozent. Zeitgleich und im Gegensatz dazu ist die Gruppe derjenigen, die 5–10 e pro Stunde verdienen, von 25 auf 32 Prozent angestiegen. Damit verdient rund ein Drittel der europäischen Beschäftigten im Jahr 2016 einen Bruttostundenlohn zwischen 5 und 10 e, die damit auch die zahlenmäßig größte Gruppe bilden. Auf den ersten Blick scheinen die beiden unteren Lohngruppen somit ihren jeweiligen Anteil untereinander ausgetauscht zu haben: Während erstere um rund 8 Prozentpunkte geschrumpft ist, ist die andere um gut 7 Punkte gestiegen. In allen anderen Lohngruppen fallen die Veränderungen hingegen deutlich geringfügiger aus. Diese spräche dafür, dass es in dem hier vorliegenden Beobachtungszeitraum zu einem Anstieg der unteren Verdienste gekommen ist, während die mittleren und oberen Stundenlöhne weitestgehend stagnierten oder, wie im Falle der obersten Gruppe, sogar leicht gefallen sind. Ähnliche Entwicklungen lassen sich ebenfalls für die Eurozone beobachten. Hier lag der Anteil der Beschäftigten mit einem Bruttostundenlohn von unter 5 e im Jahr 2006 jedoch deutlich niedriger (24 statt 17 Prozent). Dennoch ist auch hier der Anteil dieser Gruppe um etwa 5 Punkte geschrumpft. Zudem setzt sich das Muster fort, dass die nächsthöhere Lohngruppe von 26 auf 30 Prozent gestiegen ist. Sowohl für die EU als auch für die Eurozone lässt sich zudem erkennen, dass die oberste Lohngruppe (35 e und höher) zwischen 2006 und 2016 einen leichten Rückgang in ihrem relativen Anteil erfahren hat. Dies spricht auf den ersten Blick für Reallohnanpassungen im Segment der europäischen Spitzenverdiener. Während Abbildung 6.1 einen guten ersten Überblick über die gesamteuropäische Lohnverteilung und deren Veränderung zwischen 2006 und 2016 bietet, geht Abbildung 6.2 noch einen Schritt weiter und schlüsselt die EU-weite Lohnverteilung nach den jeweiligen Anteilen der Mitgliedsstaaten auf. Auf diese Weise lässt sich feststellen, wie sich die Lohnverteilungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu einer gesamteuropäischen Lohnverteilung zusammensetzen (vgl. FernándezMacías und Vacas-Soriano 2015). Der Vorteil einer solchen Darstellungsform liegt
6.1 Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung
137
Abbildung 6.1 Häufigkeiten verschiedener Lohngruppen 2006 und 2016. (Quelle: EUSILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Hinweis: Abgebildet sind die Häufigkeiten der Bruttostundenlöhne (Euros in Preisen von 2015 und kaufkraftbereinigt).)
138
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
darin, dass die Struktur der gesamteuropäischen Lohnverteilung exakt abgebildet werden kann, ohne jedoch die zentrale Rolle, die die einzelnen Mitgliedsstaaten dabei spielen, auszublenden. Zudem hilft diese Betrachtungsform, die Ursprünge der Veränderungen in der EU-weiten Lohnverteilung besser nachvollziehen zu können. Auf der X-Achse sind dazu die Bruttostundenlöhne in kaufkraftbereinigten Euros und in Preisen von 2015 abgetragen. Jeder Balken entspricht dabei einem Intervall von 1 e. Auf der Y-Achse sind die Häufigkeiten der jeweiligen Intervalle in Prozenten abgetragen. Des Weiteren wurde am Ende der X-Achse das oberste Prozent aller Arbeitnehmer zusammengefasst (top-coding), um auf diese Weise eine übersichtlichere Darstellung der obersten Bruttostundenlöhne zu erreichen. Somit lässt sich direkt erkennen, dass bestimmte Abschnitte der Verteilung von bestimmten Mitgliedsstaaten dominiert werden. Während der Bereich von 1–5 e überwiegend von Arbeitnehmern osteuropäischer Mitgliedsstaaten besetzt ist, werden Löhne zwischen 6–15 e insbesondere von südeuropäischen Arbeitnehmern verdient, wohingegen Arbeitnehmer aus den nord-westeuropäischen Mitgliedsstaaten – insbesondere aus Deutschland und Großbritannien – zwischen 8 und 25 e erzielen. Letztgenannte dominieren zudem auch das oberste Prozent der Verteilung: etwa die Hälfte der Spitzenverdiener in der EU waren 2006 Briten und etwa ein Viertel Deutsche, die in beiden Jahren einen Bruttostundenlohn von über 49 e hatten. Erscheint es noch plausibel, dass deutsche und britische Arbeitnehmer vor allem im mittleren und oberen Abschnitt der EU-weiten Lohnverteilung vorzufinden sind, so mag es hingegen überraschen, dass in den unteren Abschnitten auch deutsche (vor allem 2006) und britische (vor allem 2016) Arbeitnehmer in einem nicht unerheblichen Maße vorzufinden sind. Interessant wird diese Betrachtungsform vor allem im Zeitvergleich. So wird deutlich, dass die Häufigkeiten der unteren Stundenlöhne bis 2016 deutlich zurückgegangen sind – analog zu Abbildung 6.1. Dies gilt insbesondere für Bruttostundenlöhne zwischen unter 5 e, die überwiegend von Arbeitnehmern aus Rumänien, Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei aber zum Teil auch aus Deutschland verdient wurden. Die Löhne der britischen Arbeitnehmer haben sich hingegen deutlich komprimiert. Sie nehmen zudem nur noch einen geringeren Anteil im oberen Prozent ein und sind deutlich häufiger in den untersten Bereichen (zwischen 6 und 10 e sowie unterhalb von 5 e) vorzufinden. Dasselbe gilt im Übrigen auch für Spanien, Italien, Portugal und Griechenland. Insgesamt ist die Verteilung nun deutlich komprimierter, d. h., die Verdienstunterschiede zwischen den europäischen Arbeitnehmern sind während der Krisenjahre merklich kleiner geworden.
6.1 Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung
139
Abbildung 6.2 Gesamteuropäische Lohnverteilung der EU-27, 2006 und 2016. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Hinweis: Abgebildet sind die kaufkraftbereinigten Bruttostundenlöhne in Preisen von 2015. Top-coding des obersten 1 %.)
140
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Das liegt zum einen an den höheren Löhnen in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten, zum anderen aber auch an den geringeren Verdiensten in Großbritannien sowie in Südeuropa. Während die beiden vorherigen Abbildungen die Häufigkeiten bestimmter Löhne oder Lohngruppen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten widerspiegeln, legt Abbildung 6.3 einen stärkeren Fokus auf den zeitlichen Verlauf dreier ausgewählter Abschnitte der gesamteuropäischen Lohnverteilung: nämlich des ersten, des fünften und des neunten Dezils1 (im Folgenden: D1, D5 und D9). Die Werte sind dabei für das Jahr 2006 indexiert und können dementsprechend als die prozentuale Veränderung des realen Bruttostundenlohns im Vergleich zu 2006 interpretiert werden. Erneut wird deutlich, dass innerhalb der EU vor allem am unteren Ende der Lohnverteilung starke Veränderungen stattgefunden haben. So ist der Verdienst des D1 im Laufe der Jahre um rund 39 Prozent (139 – 100) gestiegen. Beschäftigte am unteren Ende der EU-weiten Lohnverteilung verdienen 2016 somit relativ gesehen über ein Drittel mehr pro Stunde als noch 2006. Potenzielle Kriseneffekte sind hier auf den ersten Blick somit nicht zu verzeichnen. Auf den zweiten Blick lassen sich aber zwei Plateaus beobachten, an denen die ansonsten starke Steigung kurzfristig ausbleibt – dies sind einmal die Jahre 2008/09 sowie 2012/13. Betrachtet man im Vergleich dazu das D5, also den Medianlohn, sowie das D9, dann zeigt sich eine gänzlich andere Tendenz. Ab 2007 ist hier nämlich in beiden Fällen ein leichter Rückgang in den Stundenlöhnen zu verzeichnen, der bei den oberen Verdiensten noch einmal stärker ausfällt. Erst ab 2014 erreichen die mittleren und ab 2015 die oberen Stundenlöhne wieder ihr Vorkrisenniveau. Im Vergleich zur EU fallen die Veränderungen in der Eurozone hingegen deutlich moderater und zudem nicht so heterogen aus. Hier stiegen die unteren Stundenlöhne nur um etwa 17 Prozent, die mittleren um 10 Prozent und die oberen, wenn auch erst ab 2013, um etwa 5 Prozent. Ein Rückgang, wie er innerhalb der EU zu beobachten war, ist hier hingegen nicht zu erkennen. Eine Erklärung dafür könnte das Fehlen Großbritanniens in der Eurozone sein, welches Abbildung 6.2 folgend eine deutliche Reduktion der oberen Stundenlöhne verzeichnet hat. Daran anschließend mag der Anstieg des D1 in der EU im Vergleich zur Eurozone vor allem auf die osteuropäischen NichtEuroländer – Rumänien, Bulgarien, Tschechien, Ungarn und Polen – zurückzuführen sein. 1 Dezile
(allgemein: Quantile) können als die Schnittpunkte einer aufsteigend sortierten Verteilung verstanden werden, die ebenjene in zehn (oder N) gleich große Teile zerlegt. Das neunte Dezil trennt also exakt die untersten 90 Prozent von den obersten 10 Prozent einer Verteilung.
6.1 Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung
141
Abbildung 6.3 Entwicklung der realen Bruttostundenlöhne. (Quelle: EU-SILC 20072017, eigene Berechnungen. Bruttostundenlohn in Preisen von 2015 und kaufkraftbereinigt. Die Werte sind auf 2006 indexiert und können dementsprechend als die prozentuale Veränderung im Vergleich zu 2006 interpretiert werden.)
142
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Aus den eben beschriebenen Entwicklungen ergeben sich auch Folgen für die vorherrschenden Lohnungleichheiten innerhalb der EU und der Eurozone. Was Abbildung 6.3 somit bereits erahnen lässt, bestätigt sich in Abbildung 6.4, welche die Entwicklungen der Dezilverhältnisse und des Gini-Koeffizienten abbildet. Der starke Anstieg in den unteren Löhnen, bei gleichzeitig stagnierenden bzw. sogar rückläufigen mittleren und oberen Verdiensten, resultiert in einer Abnahme der Lohnungleichheiten, was sich insbesondere durch den Rückgang des D9/D1- und D5/D1-Verhältnisses dokumentieren lässt. Ersteres lag 2006 noch bei einem Wert von 7,3, was bedeutet, dass der Bruttostundenlohn des D9 rund siebenmal höher war als der des D1. Dieser relativ hohe Wert sank jedoch kontinuierlich, bis dieser im Jahr 2016 einen Wert von 5,2 erreichte. Im Vergleich dazu lag das D9/D1Verhältnis in der Eurozone bereits 2006 bei 5,1. Hier sank das Dezilverhältnis dann deutlich geringer, um gerade einmal 0,6 Punkte auf 4,5. Aber auch das D5/D1-Verhältnis hat sich deutlich reduziert. Lag dieses 2006 noch beim 3,4-fachen in der EU und beim 2,5-fachen in der Eurozone, reduzierte es sich auf das 2,5- bzw. 2,3-fache. Bezüglich der Lohnungleichheiten in der oberen Hälfte der Verteilung, dargestellt durch das D9/D5-Verhältnis, lassen sich so gut wie keine Veränderungen erkennen. Diese Stagnation spricht für eine weitestgehend gleichmäßige und parallel verlaufende Entwicklung des Medians und des D9, was sich auch in Abbildung 6.3 sehr gut wiederfinden lässt. Von einer Zunahme der Lohnungleichheiten aufgrund eines zunehmenden Anstiegs der oberen Verdienste, wie dies in der Literatur für die USA bescheinigt wird (Autor et al. 2008, 2006; Katz und Autor 1999; Atkinson 2007), kann im Falle der EU bzw. der Eurozone daher keine Rede sein – jedenfalls nicht für den Zeitraum 2006–2016. Auch weitere Ungleichheitsmaße wie der Gini-Koeffizient die nicht bloß bestimmte Abschnitte der Lohnverteilung und deren Verhältnis zueinander beschreiben, sondern die gesamte Verteilung miteinbeziehen, zeigen in eine ähnliche Richtung. So ist der Gini-Koeffizient seit 2006 stetig gesunken und erreichte 2016 mit 33,7 bzw. 30,9 seinen niedrigsten Wert innerhalb der untersuchten Periode und ist damit sowohl in der EU als auch in der Eurozone um rund 9 Prozent gesunken. Diese Ergebnisse stehen jedoch teilweise im Kontrast zu vorherigen Studien. So kommen Fernández-Macías und Vacas-Soriano (2015, S. 18) zu dem Ergebnis, dass statt eines kontinuierlichen Rückgangs des Gini-Koeffizienten eher ein Anstieg zwischen den Jahren 2009–2011 zu beobachten ist (die Tendenzen in den Dezilverhältnissen sind hingegen gleich). Die Unterschiede hinsichtlich des Gini-Koeffizienten lassen sich möglicherweise durch zwei Faktoren erklären:
6.1 Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung
143
EU-27 8
38
34
Gini
Dezilverhältnis
36 6
4 32
2
30
2006
2008
2010
2012
2014
2016
Jahr
Euro-19 8
38
34
Gini
Dezilverhältnis
36
6
4 32
2
30 2006
2008
2010
2012
2014
2016
Jahr
D9D1
D9D5
D5D1
Gini
Abbildung 6.4 Entwicklung der Dezilverhältnisse und des Gini-Koeffizienten. (Quelle: EU-SILC 2007–2017, eigene Berechnungen.)
144
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Zum einen verwenden die Autoren Bruttomonatsverdienste in VollzeitÄquivalenten statt Bruttostundenlöhne. Zum anderen beinhaltet deren Stichprobe 24 statt der hier verwendeten 27 Mitgliedsstaaten, womit Bulgarien und Rumänien in deren Verteilung fehlen. Ebenjene Länder also, die – Abbildung 6.2 folgend – eine deutliche Verschiebung hinsichtlich ihrer Lohnverteilungen zu verzeichnen haben. Anhand der Zerlegung des Theil-Index kann gezeigt werden, welchen Beitrag innerstaatliche und zwischenstaatliche Ungleichheiten auf die Zu- oder Abnahme der gesamteuropäischen Lohnungleichheit haben. Abbildung 6.5 bildet die Entwicklung des Theil-Index ab, sowie dessen innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Anteile. Für die EU ist die zwischenstaatliche Ungleichheit in der Verteilung der Bruttostundenlöhne seit 2006 deutlich zurückgegangen. Das bedeutet, einfach ausgedrückt, dass sich die Mitgliedsstaaten hinsichtlich ihrer Lohnstrukturen deutlich ähnlicher geworden sind als dies 2006 noch der Fall war. Der innerstaatliche Anteil blieb – trotz Schwankungen– relativ konstant. Die kleineren Rückgänge in den Jahren 2009 und 2012 sprechen dafür, dass die innerstaatlichen Lohnungleichheiten während der größten BIP Einbrüche ebenfalls gesunken sind – vermutlich aufgrund von Anpassungen des Beschäftigungsniveaus. Der innerstaatliche ist im Vergleich zum zwischenstaatlichen Anteil auch deutlich größer, was bedeutet, dass die Lohnungleichheiten in der EU maßgeblich durch innerstaatliche Unterschiede geprägt sind – mit zunehmender Tendenz. Dementsprechend ist es für die individuellen Verdienstchancen zunehmend wichtiger geworden, welche Position ein Arbeitnehmer im länderspezifischen Stratifikationssystem einnimmt, als aus welchem Mitgliedsstaat dieser stammt. Insgesamt lassen sich anhand der gezeigten Abbildungen folgende drei Punkte festhalten: 1) Während die oberen Verdienste innerhalb Europas weitestgehend stagnierten oder sogar zurückgingen, sind die Verdienste der unteren Gruppen deutlich angestiegen. Dies hat insgesamt zu einer Reduktion der aggregierten Lohnungleichheiten geführt. Die Verteilung der Bruttostundenlöhne zwischen den europäischen Arbeitnehmern ist somit über die Krisenperiode hinweg deutlich gleicher geworden – darauf verweist auch der sinkende Anteil zwischenstaatlicher Ungleichheit. Die Annahme, dass die gesamteuropäische Lohnungleichheit über die Krise zugenommen hat, erweist sich damit als falsch (Hypothese 9) 2) Für diese Trends dürften insbesondere zwei Ländergruppen entscheidend gewesen sein: Zum einen die (Nicht-Euro-)Mitgliedsstaaten Osteuropas und zum anderen Großbritannien und die südeuropäischen Mitgliedsstaaten. Während erstere 2016 deutlich seltener in den untersten Lohnklassen vorzufinden
6.1 Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung
145
sind als 2006, hat sich die gesamte Lohnverteilung letzterer eher nach unten verschoben. Insbesondere Großbritannien scheint für den Rückgang des D9 verantwortlich zu sein, da dieser lediglich für die EU und nicht die Eurozone beobachtet wurde. 3) Trotz der relativ eindeutigen Veränderungen in der gesamteuropäischen Lohnverteilung kann an dieser Stelle noch nichts darüber gesagt werden, ob diese tatsächlich auf Veränderungen in der Lohnstruktur zurückzuführen sind oder auf Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur. Lohnverteilungen können nämlich nicht nur dadurch gleicher werden, indem die unteren Löhne steigen oder weil Besserverdiener Lohneinbußen verzeichnen, sondern auch, weil sich die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft verändert. Auf dieses scheinbare Paradoxon steigender Löhne bei sinkender Erwerbstätigkeit wurde bereits in früheren Studien hingewiesen: „There is a weak positive association between the rise in unemployment and wage growth […] This may reflect composition effects, with the average hourly wage tending to rise in countries where large numbers of youth, low-paid and temporary workers have been laid off” (OECD 2010, S. 43).
Eine genaue Bestimmung des Zusammenspiels von Lohnstruktur und Beschäftigungsstruktur kann im Rahmen deskriptiver Analysen nicht geleistet werden. Daher wird in den beiden nachfolgenden Abschnitten dieses Kapitels eruiert, ob und inwiefern die Entlohnung von bzw. die Zusammensetzung aus personenbezogenen, arbeitsplatz- und betriebsspezifischen Merkmalen die Dynamiken der Lohnungleichheiten innerhalb Europas erklären.
146
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Abbildung 6.5 Zwischen- und innerstaatliche Anteile am Theil-Index. (Quelle: EU-SILC 2007–2017, eigene Berechnungen.)
6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur
6.2
147
Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur
Im folgenden Abschnitt werden die Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnverteilungen für die Jahre 2006 und 2016 anhand von unkonditionalen Quantilregressionen (UQR) (Firpo et al. 2018, 2009) analysiert. Auf diese Weise ist es möglich, sowohl Aussagen über gruppenspezifische Lohnunterschiede treffen zu können als auch über deren Beitrag zur aggregierten Lohnungleichheit. Dabei bildet der logarithmierte2 reale Bruttostundenlohn die abhängige Variable, die diesen Regressionsmodellen zugrunde liegt. Als erklärende Variablen sind sowohl individuelle (Alter und Bildung), arbeitsplatzbezogene (Beruf, Vertragstyp und Arbeitszeit) sowie betriebsspezifische Merkmale (Sektor und Betriebsgröße) in den Modellen enthalten. Die zusätzlich in jedem der Modelle enthaltenen Länder-Dummies ermöglichen es, den jeweiligen Beitrag der Mitgliedsstaaten auf die gesamteuropäische Lohnverteilung zu untersuchen. Weiterhin wird für Merkmale wie Geschlecht, Familienstand, Haushaltstyp und Führungsposition kontrolliert. Tabelle 6.1 zeigt die Ergebnisse der UQR für das 10., 50. und 90. Perzentil für die EU. Da die Ergebnisse für die Eurozone (Tabelle 6.3) in ihrer Tendenz sehr ähnlich sind, wird auf diese nur im Falle der Abweichung eingegangen. Die abgebildeten Koeffizienten können als marginale Effekte der erklärenden Variable auf die jeweiligen Quantile des Bruttostundenlohns interpretiert werden, d. h., wie sich das Lohnniveau an einer bestimmten Stelle der Verteilung verändern würde, wenn sich der Anteil von Arbeitnehmern mit ebenjenem Merkmal innerhalb der Arbeitnehmerschaft verändern würde. Monoton steigende (fallende) Koeffizienten entlang der Quantile weisen somit auf einen verstärkenden (reduzierenden) Effekt auf die aggregierte Lohnungleichheit hin. Personenbezogene Lohnunterschiede Ein zentraler Einflussfaktor auf die Lohnverteilung ist das Alter – als grober Indikator für die potenzielle Berufserfahrung der Arbeitnehmer (Mincer 1958; Becker 1964) oder bestimmter senioritätsspezifischer Privilegien (Lazear 1981). Die Ergebnisse der UQR zeigen für die Gruppe der Jugendlichen statistisch
2 Das
Logarithmieren des Bruttostundenlohns erfolgt, weil dadurch die rechtsschiefe Lohnverteilung so transformiert wird, dass annäherungsweise eine Normalverteilung der Löhne erreicht wird. Des Weiteren lassen sich die Koeffizienten so leichter und intuitiver als annährend prozentuale Veränderungen der abhängigen Variablen interpretieren, wodurch relative statt absoluter Veränderungen betrachtet werden können.
2006
10
0,056 (0,029)
(0,019)
(0,039)
0,023
−0,235***
(0,069)
0,085*** (0,016)
(0,069)
(0,026)
(0,043)
0,132
−0,137***
0,003
Befristet
Hilfsarbeitskräfte
Gehobene Fachkräfte
Akademiker/Manager
(0,032) −0,174*** (0,041)
(0,088)
−0,393**
(0,140)
(0,038)
−0,009
(0,014)
0,037*
(0,043)
(0,031) −0,134***
(0,094)
−0,244**
0,151**
(0,083)
0,583***
0,210***
(0,035)
(0,156)
0,219*
0,265***
0,321*
(0,052)
0,224***
(0,029)
−0,105**
(0,051)
0,184**
(0,014)
0,000
90
2016
(0,072)
−0,378***
(0,063)
−0,229**
(0,053)
0,147**
(0,086)
0,181*
(0,052)
0,100
(0,034)
−0,081*
(0,017)
0,014
(0,044)
−0,130**
10
(0,047)
−0,204***
(0,022)
−0,096***
(0,028)
0,208***
(0,043)
0,323***
(0,019)
0,134***
(0,015)
−0,116***
(0,023)
0,069**
(0,037)
−0,182***
50
(Fortsetzung)
(0,041)
−0,033
(0,017)
0,059**
(0,042)
0,117*
(0,075)
0,446***
(0,073)
0,240**
(0,031)
−0,031
(0,025)
0,196***
(0,045)
0,020
90
6
Beruf (Ref.: Einfache Fachkräfte)
Hohes Niveau
Geringes Niveau
50
−0,170*
Bildungsniveau (Ref.: Mittleres Niveau)
Ältere Arbeitnehmer
Jugendliche
Alter (Ref.: Kernaltersgruppe)
Quantile:
Tabelle 6.1 Unkonditionale Quantilregression auf den Bruttostundenlohn, EU-27.
148 Dynamiken von Lohnungleichheiten …
(0,042)
148583
2016
148583
0,188
(0,051)
3,119***
(0,048)
0,134**
155663
0,249
(0,058)
1,771***
(0,026)
0,133***
(0,019)
−0,001
−0,114 (0,065)
(0,025)
(0,019)
−0,053*
(0,034)
−0,030
(0,109)
−0,418***
(0,035)
−0,040
10
155663
0,402
(0,019)
2,646***
(0,019)
0,182***
(0,023)
−0,031
(0,016)
−0,085***
(0,030)
−0,028
(0,045)
−0,207***
(0,028)
−0,147***
50
155663
0,176
(0,031)
3,227***
(0,047)
0,181***
(0,091)
−0,281**
(0,059)
−0,106
(0,082)
−0,193*
(0,066)
−0,220**
(0,032)
−0,048
90
Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnung. Cluster-robuste Standardfehler in Klammern. AV: Realer log. Bruttostundenlohn. Die Referenzgruppe sind deutsche Fachkräfte in der Industrie im Alter von 25–54 Jahren mit mittlerem Bildungsniveau, in Vollzeit, unbefristet und in kleinen/mittleren Betrieben. Länder-Dummies nicht abgebildet. Weiterhin kontrolliert für Geschlecht, Migrationshintergrund, Familienstand, Haushaltstyp und Führungsposition.
148583
N
0,424
(0,028)
(0,088)
0,396
2,688***
(0,029)
1,608***
0,171***
(0,055)
(0,038)
0,150*
0,060
(0,037)
(0,023)
(0,025)
0,083*
(0,020) −0,063*
(0,042)
−0,013
−0,013
−0,096*
−0,030
0,055
(0,042)
(0,030)
−0,100*
−0,159***
R2
Konstante
Großbetriebe
Öffentlicher Dienst
Dienstleistung
Baugewerbe
Agrarwirtschaft
(0,033)
−0,036
(0,063)
(0,026)
(0,039)
90
−0,229**
−0,165***
−0,026
Teilzeit
Sektor (Ref.: Industrie)
50
2006
10
Quantile:
Tabelle 6.1 (Fortsetzung)
6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur 149
150
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
signifikante und negative Koeffizienten, sowohl für das 10. als auch das 50. Perzentil im Jahr 2006. Dies deutet darauf hin, dass Jugendliche (unter 25 Jahre) im allgemein im Vergleich zur Kernaltersgruppe (25–54 Jahre) einen geringeren Bruttostundenlohn bekommen. Dies lässt sich vor allem auf die geringere Berufserfahrung und Unternehmensbindung von Arbeitsmarkteinsteigern zurückführen. Des Weiteren stehen sie noch auf der untersten Stufe betrieblicher Hierarchien und Mobilitätsketten und haben dementsprechend noch keine positionalen Vorteile oder Senioritätsrechte erarbeitet. Die negativen Effekte für die Jugendlichen, die als Verdienstnachteile gegenüber der Kernaltersgruppe interpretiert werden können, nehmen über die Perzentile hinweg zu, sodass der Koeffizient für das 10. Perzentil −0,170 und für den Median (50. Perzentil) −0,235 beträgt. Innerhalb der Eurozone sind diese Verdienstnachteile am 10. Perzentil sogar noch deutlicher ausgeprägt (−0,376). Die Koeffizienten der UQR lassen sich des Weiteren so interpretieren, dass ein höherer (geringerer) Anteil an Jugendlichen innerhalb der Arbeitnehmerschaft mit einem Rückgang (Zunahme) des Lohnniveaus einhergeht, der am Median ausgeprägter ist als am unteren Ende der Lohnverteilung. Daraus würde sich eine Veränderung der aggregierten Lohnungleichheit in Form einer Abnahme des 50/10Verhältnisses ergeben. Gleichzeitig nehmen die 90/10- und 90/50-Verhältnisse zu. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Eine Zunahme jugendlicher Arbeitnehmer um 10 Prozentpunkte (0,1) würde ceteris paribus das untere Lohnniveau um − 0,017 (0,170*0,1) log-Punkte3 reduzieren, was annähernd 1,7 Prozent entspricht. Im Falle des mittleren Lohnniveaus (Median) geht dies stattdessen mit einer Reduktion von −0,024 log-Punkten einher. Dadurch würde der höhere Anteil jugendlicher Arbeitnehmer zu einer Reduktion der Lohnungleichheiten im unteren Bereich der Verteilung um −0,007 log-Punkte (0,024 – 0,017) führen, gleichzeitig jedoch zu einem Anstieg des 90/10- und des 90/50-Verhältnisses um 0,017 bzw. 0,024 (da Jugendliche keinen signifikanten Effekt auf das 90. Perzentil haben). Die negativen Koeffizienten der Jugendlichen sind jedoch zurückgegangen und liegen 2016 nur noch bei −0,130 bzw. −0,182. Damit sind die Lohnunterschiede zwischen Jugendlichen und der Kernaltersgruppe im europäischen Durchschnitt geringer geworden.
3 Logarithmenprozente
(log-Punkte) bezeichnen Veränderungen auf einer logarithmierten Skala und können annährend als prozentuale Veränderung zwischen zwei Werten interpretiert werden. Jedoch nimmt der Unterschied zwischen log-Punkten und Prozentwerten zu, je größer der Wert wird, weshalb für eine exakte Übertragung in Prozentwerte folgende Formel angewandt werden sollte: (Exp(x) – 1)*100.
6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur
151
Ein höheres Alter spielt hingegen besonders für den oberen Bereich der Lohnverteilung eine entscheidende Rolle. So weisen die Koeffizienten älterer Arbeitnehmer (55–64 Jahre) einen signifikant positiven Effekt auf das 90. Perzentil auf. Damit haben sie im allgemeinen höhere Löhne als die Kernaltersgruppe – zumindest im Bereich der Besserverdienenden. Eine Zunahme älterer Arbeitnehmer innerhalb der Arbeitnehmerschaft würde daher mit einem deutlichen Anstieg des Lohnniveaus im obersten Abschnitt der Lohnverteilung einhergehen und dadurch die Lohnspreizung vergrößern. Die altersspezifischen Verdienstunterschiede lassen sich darauf zurückführen, dass ältere Arbeitnehmer häufiger von Entlohnungsmechanismen nach dem Senioritätsprinzip profitieren, d. h., dass sie ungeachtet ihrer tatsächlichen Produktivität mit zunehmendem Lebensalter oder Betriebszugehörigkeit weiterhin steigende Löhne erhalten. Dieser senioritätsspezifische Lohnvorteil hat sich, zumindest für die EU, über die Krise hinweg noch vergrößert, sodass die Lohnunterschiede zwischen der Kernaltersgruppe und älteren Arbeitnehmern von 0,184 auf 0,196 gestiegen sind. Zusätzlich dazu ist der Koeffizient für den Median im Jahr 2016 signifikant, was bedeutet, dass ein höheres Alter nun auch das mittlere Lohnniveau anhebt. Eine mögliche Erklärung für die Veränderungen in der altersspezifischen Lohnstruktur wäre, dass insbesondere die Kernaltersgruppe während der Krise von Lohneinbußen betroffen war. Sie gehören zwar mit höherer Wahrscheinlichkeit zur Stammbelegschaft als beispielsweise Jugendliche, sind jedoch nicht mit denselben alters- und senioritätsspezifischen Privilegien der älteren Arbeitnehmer ausgestattet. Neben dem Alter spielt auch die formale Bildung eine zentrale Rolle für die Strukturierung der Löhne. So sind die Koeffizienten für geringqualifizierte Arbeitnehmer zumindest für das 50. (−0,137) und 90. Perzentil (−0,105) signifikant und negativ. Das bedeutet, dass geringer qualifizierte Arbeitnehmer einen geringeren Stundenlohn aufweisen als Beschäftigte mit einem mittleren Qualifikationsniveau – außer im untersten Abschnitt der Lohnverteilung. Letzteres könnte dadurch erklärt werden, dass in diesem Lohnsegment die Unterscheidung zwischen einer geringen oder mittleren formalen Bildung keinen großen Unterschied hinsichtlich des Lohnniveaus ausmacht, da die Allokation von Arbeitskräften im „JedermannsArbeitsmarkt“ in erster Linie über die Lohnhöhe und nicht über die Qualifikation erfolgt (Dütsch und Struck 2016, S. 6). Zudem ist die Entlohnung in diesem Bereich häufig durch (gesetzliche oder tarifliche) Mindestlöhne nach unten hin begrenzt. Vergrößert sich der Anteil geringqualifizierter Arbeitskräfte in der Arbeitnehmerschaft, so zeigen die negativen Koeffizienten, dass das Lohnniveau am mittleren und oberen Abschnitt
152
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
der gesamteuropäischen Lohnverteilung sinkt und dadurch die aggregierte Lohnungleichheit aufgrund der komprimierenden Wirkung verringert werden würde. Im umgekehrten Fall bedeutet dies, dass mit einer Abnahme geringqualifizierter Arbeit das mittlere und obere Lohnniveau steigen würde. Dieses Szenario erscheint vor dem Hintergrund der Krisen deutlich wahrscheinlicher. Außerdem würde mit dem Anstieg des mittleren und oberen Lohnniveaus auch die Lohnungleichheit in Form des 50/10- und 90/10-Verhältnisses. Die marginalen Effekte eines geringen Bildungsniveaus haben sich bis 2016 noch einmal deutlich verschoben. Zum einen ist der Koeffizient auf das 10. Perzentil jetzt signifikant, d. h., dass die qualifikatorische Lohnspreizung jetzt auch im unteren Bereich der Verteilung vorzufinden ist. Zu erklären wäre dies beispielsweise durch die Erhöhung der nach unten gerichteten Lohnflexibilität, beispielsweise durch Mindestlohnsenkungen. Im Gegensatz dazu sind die relativen Lohnunterschiede zwischen gering und mittel Qualifizierten im mittleren und oberen Abschnitt der Verteilung gesunken bzw. nicht mehr signifikant. Ein höheres Bildungsniveau geht auf der anderen Seite auch mit deutlich höheren Bruttostundenlöhnen im Vergleich zu den mittel Qualifizierten einher. Diese Lohndifferenz ist am 90. Perzentil (0,224) deutlich größer als am Median (0,085). Aber auch in diesem Fall existieren keine signifikanten Lohnunterschiede im unteren Bereich der Lohnverteilung. Dadurch, dass der Verdienstvorteil über die Perzentile hinweg steigt, würde ein höherer Anteil Hochqualifizierter mit einer Zunahme der aggregierten Lohnungleichheiten einhergehen. Ein Mehr an Bildung würde demnach nicht nur das Niveau, sondern auch die Streuung der Löhne erhöhen. Bis 2016 haben sich diese qualifikationsbedingten Lohndifferenzen noch einmal weiter verstärkt, indem die Koeffizienten für Hochqualifizierte um 0,049 (Median) bzw. 0,016 (90. Perzentil) Punkte angestiegen sind. Dies könnte im Sinne der „skill-biased technological change“-Hypothese (Card und DiNardo 2002) mit der zunehmenden Nachfrage nach höher qualifizierten Arbeitskräften im Zuge des technologischen Wandels der Arbeitswelt einhergehen. Dieser Befund spricht zumindest erst einmal gegen die Annahme, dass die gut qualifizierte Stammbelegschaft Konzessionen hinsichtlich ihrer Löhne hinnehmen musste, um ihre Beschäftigungsstabilität zu sichern – zumindest aus einer gesamteuropäischen Perspektive. Das bedeutet aber auch, dass analog zu den Alterseffekten, die hochqualifizierte Belegschaft über die Krisenperiode hinweg ihren Lohnvorteil nicht nur halten, sondern auch noch weiter ausbauen konnte.
6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur
153
Arbeitsplatzspezifische Lohnunterschiede Hinsichtlich der beruflichen Strukturierung der Bruttostundenlöhne lässt sich für 2006 beobachten, dass Akademiker und Manager deutlich höhere Stundenlöhne aufweisen als die Vergleichsgruppe der einfachen Fachkräfte – insbesondere am obersten Rand der Lohnverteilung. Die marginalen Effekte sind zudem monoton steigend entlang der Perzentile: so beträgt der Koeffizient für das 10. Perzentil 0,321, für den Median 0,265 und für das 90. Perzentil 0,583. Dadurch würde eine zunehmende Akademisierung der Arbeitnehmerschaft (ceteris paribus) mit einer deutlichen Lohnspreizung einhergehen, indem das Lohnniveau entlang der Verteilung unterschiedlich stark ansteigen würde. Im Vergleich dazu lassen sich für 2016 insbesondere zwei Veränderungen in der beruflichen Lohnstruktur identifizieren: Zum einen ist der marginale Effekt akademischer Berufe auf das 10. Perzentil nun deutlich geringer, was bedeutet, dass die Lohndifferenzen zwischen Fachkräften und Akademikern am unteren Rand der Lohnverteilung zurückgegangen sind. Weiterhin ist der relative Verdienstvorteil auch am 90. Perzentil leicht zurückgegangen. Beide Tendenzen lassen sich entweder auf höhere Löhne der Fachkräfte oder auf geringere Löhne der Akademiker und Manager zurückführen. Vor dem Hintergrund der veränderten beruflichen Lohnstruktur würde eine zunehmende Akademisierung zwar immer noch die aggregierten Lohnungleichheiten erhöhen, die Spreizung würde allerdings nicht mehr so stark ausfallen wie unter der beruflichen Lohnstruktur von 2006. Gehobene Fachkräfte weisen 2006 vor allem im unteren und mittleren Abschnitt der Verteilung deutlich höhere Verdienstvorteile im Vergleich zu einfachen Fachkräften auf. Eine Zunahme gehobener Fachkräfte würde somit das Lohnniveau über die gesamte Verteilung hinweg anheben und insbesondere die unteren Bereiche bevorteilen, sodass die Lohnverteilung komprimiert und die aggregierte Lohnungleichheit zurückgehen würden. 2016 sind diese Verdienstvorteile allerdings zurückgegangen, insbesondere am 10. Perzentil (0,219 auf 0,147). Es kam daher zu einer Annäherung der Verdienste gehobener Fachkräfte gegenüber den einfachen Fachkräften im Verlauf der Krisenperiode. Ähnlich verhält es sich auch in Vergleich zu den Hilfsarbeitskräften, die 2006 vor allem im unteren Abschnitt der Lohnverteilung deutlich weniger verdienten als einfache Fachkräfte. Bis 2016 hat sich dieser Verdienstnachteil dann aber ebenfalls reduziert. Insgesamt lässt sich somit eine Annäherung der Verdienste zwischen gehobenen und einfachen Fachkräften sowie Hilfsarbeitskräften feststellen, während Akademiker und Manager ihren Verdienstvorsprung (teilweise) ausbauen konnten. Die in der Literatur bereits ausführlich dokumentierten Verdienstunterschiede zwischen befristet und unbefristet Beschäftigten (Perugini und Pompei 2017; Bosio 2009; Giesecke 2006) sind EU-weit besonders stark ausgeprägt und gehen
154
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
mit einem deutlichen Verdienstnachteil für atypisch Beschäftigte einher. Insbesondere hinsichtlich des 10. Perzentils ist kein anderer Faktor so entscheidend für das entsprechende Lohnniveau, wie die Frage, ob es sich um ein befristetes oder unbefristetes Beschäftigungsverhältnis handelt. Hier wird die Spaltung in eine flexible und geringentlohnte Randbelegschaft auf der einen und einer abgesicherten und gut entlohnten Stammbelegschaft auf der anderen Seite deutlich sichtbar. Dieser negative Koeffizient nimmt jedoch über die Lohnverteilung hinweg ab und ist schließlich im oberen Lohnsegment nicht mehr signifikant. Dies könnte auf die Beschäftigten in primär-externen Arbeitsmärkten hinweisen, die zwar eine geringere Arbeitsplatzsicherheit, dafür aber ein hohes Maß an überbetrieblichen und standardisierten Fähigkeiten aufweisen und so in der Lage sind, höhere Löhne zu generieren. Befristete Beschäftigungsverhältnisse gehen somit nicht per se mit Verdienstnachteilen einher. Die negativen und monoton steigenden Koeffizienten bedeuten des Weiteren, dass eine Zunahme von befristeten Arbeitsverhältnissen innerhalb der Arbeitnehmerschaft zu einer deutlichen Absenkung des Lohnniveaus in der unteren Hälfte der Verteilung führen würde und dadurch die allgemeine Lohnspreizung entsprechend vergrößern würde. Ein krisenbedingter Rückgang befristeter Beschäftigungsverhältnisse würde allerdings die aggregierte Lohnungleichheit reduzieren. Der ungleichheitsgenerierende Effekt befristeter Arbeitsverhältnisse auf die unteren Verdienste ist in der EU über die Zeit leicht zurückgegangen, während er in der Eurozone noch einmal deutlich gestiegen ist (von −0,409 auf −0,617). Die Koeffizienten für Teilzeitbeschäftigte sind für die EU lediglich um den Median der Lohnverteilung signifikant. Das bedeutet, dass Arbeitnehmer in Teilzeit unter sonst ähnlichen Bedingungen oder Voraussetzungen weniger verdienen als Beschäftigte in Vollzeit. Für die Eurozone existiert dieser negative Effekt allerdings auch im unteren Verdienstbereich. Dieses arbeitszeitabhängige Lohngefälle geht innerhalb der EU bis 2016 jedoch leicht zurück, während sie in der Eurozone weiter zunehmen. Eine Anpassung der Arbeitnehmerschaft über die Möglichkeit der Arbeitszeitverkürzung (intern-numerische Flexibilität), würde somit sowohl in der EU als auch in der Eurozone das Lohnniveau in der unteren Hälfte der Verteilung absenken und dadurch die Lohnungleichheiten vergrößern. Betriebsspezifischen Lohnunterschiede Neben den individuellen und arbeitsplatzbezogenen Merkmalen, ist zudem der Wirtschaftssektor, in dem das Unternehmen tätig ist, ein weiterer zentraler Bestimmungsfaktor für die Erklärung der europäischen Lohnverteilung. Es zeigt sich zum einen, dass EU-weit Tätigkeiten in der Agrarwirtschaft im Vergleich zur Industrie deutlich schlechter entlohnt werden. Der Verdienstunterschied ist
6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur
155
für den untersten Abschnitt der Lohnverteilung besonders stark ausgeprägt und wird entlang der Perzentile kleiner. Ein weiterer Rückgang agrarwirtschaftlicher Tätigkeiten in der EU zugunsten der Industrie würde somit zu einer Kompression der Lohnverteilung sowie zu einer Abnahme aggregierter Lohnungleichheiten führen. Dies gilt insbesondere für das Jahr 2016, in dem die negativen Effekte für Beschäftigte in der Agrarwirtschaft, gerade im unteren Bereich der gesamteuropäischen Lohnverteilung, noch einmal deutlich ausgeprägter sind (von −0,229 auf −0,418). Das Baugewerbe, als einer der Sektoren, der insbesondere zu Beginn der Krise deutlich von den Auswirkungen der geplatzten Immobilienblase sowie der darauffolgenden Bankenkrise betroffen war, unterscheidet sich hinsichtlich der Verdienstchancen kaum von der Industrie. Der Koeffizient ist lediglich für das 90. Perzentil signifikant negativ, was bedeutet, dass die Spitzenverdiener im Baugewerbe weniger verdienen als jene in der Industrie. Ein Rückgang der Beschäftigung im Baugewerbe zugunsten der Industrie würde somit das Lohnniveau im obersten Abschnitt der Verteilung anheben und dadurch für eine größere Spreizung der Löhne sorgen. Der marginale Effekt des Baugewerbes hat sich zudem über die Krise hinweg nahezu verdoppelt (von −0,096 auf −0,193). Damit sind die Lohndifferenzen zwischen den beiden Sektoren noch einmal stärker geworden, sodass ein höherer Anteil an Arbeitnehmern im Baugewerbe dadurch die Lohnverteilung komprimieren würde. Auch hinsichtlich des Dienstleistungssektors sind Lohnunterschiede im Vergleich zur Industrie lediglich im Bereich des Medians zu beobachten. Der negative Koeffizient deutet darauf hin, dass Beschäftigte im Dienstleistungssektor im Vergleich zur Industrie weniger verdienen. Dass die Koeffizienten am unteren und oberen Rand der Lohnverteilung 2006 nicht signifikant sind, mag der Heterogenität des Dienstleistungssektors geschuldet sein, in dem sowohl Tätigkeiten aus der hochbezahlten IT- und Finanzbranche als auch einfache Dienstleistungen im Handel subsumiert sind. Ein höherer Anteil an Beschäftigten im Dienstleistungssektor relativ zur Industrie, beispielsweise im Zuge des langfristigen Trends der Deindustrialisierung, würde zu einer Abnahme des Lohnniveaus am Median und somit zu einer Polarisierung der Lohnverteilung führen – mit einem abnehmenden 50/10Verhältnis und einem zunehmenden 90/50-Verhältnis. Letzteres gilt insbesondere für das Jahr 2016, in dem die Lohnunterschiede zwischen dem Dienstleistungssektor und der Industrie noch größer geworden sind, sodass diese jetzt auch am 10. Perzentil signifikant sind. Die Entwicklung der sektoralen Lohnstruktur hinsichtlich des öffentlichen Dienstes ist besonders interessant, da dieser während der Krise unter großen Anpassungsdruck hinsichtlich seiner Personalkosten geraten war und in einigen
156
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Ländern zu harschen Sparmaßnahmen verpflichtet wurde (Schulten und Müller 2015). Über die gesamte EU hinweg hatten Beschäftigte im öffentlichen Dienst lediglich am unteren Ende der Verteilung einen Verdienstvorteil gegenüber den Arbeitnehmern aus der Industrie. Dies entspricht weitestgehend den Erkenntnissen früherer Studien über den sogenannten „public-private sector wage gap“ (Tepe et al. 2015; Broschinski et al. 2018; Melly 2005b). Der positive marginale Effekt des öffentlichen Dienstes für das 10. Perzentil verschwand jedoch über den Zeitraum der Krise. Stattdessen besteht 2016 nun ein Verdienstnachteil seitens des öffentlichen Dienstes gegenüber der Industrie am oberen Ende der Lohnverteilung. Diese Entwicklung könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Löhne im öffentlichen Dienst insbesondere in den Krisenländern zurückgegangen sind, beispielsweise im Zuge der Austeritätspolitiken. Ein höherer Anteil an Beschäftigten im öffentlichen Dienst würde dementsprechend in beiden Jahren zu einer Kompression der Lohnverteilung führen: einmal „von unten“ (2006) und einmal „von oben“ (2016), womit gleichzeitig die aggregierten Lohnungleichheiten abnehmen würden. Die Größe des jeweiligen Betriebes wird des Öfteren zur Differenzierung von internen und externen Arbeitsmärkten herangezogen (Blossfeld und Mayer 1988), und ist somit ein entscheidender Faktor für die Strukturierung der Lohnungleichheit. Die Koeffizienten für Großbetriebe weisen über die gesamte Lohnverteilung hinweg einen positiven Effekt auf den Bruttostundenlohn auf, der besonders um den Median recht hoch ausfällt. Ein höherer Anteil an Beschäftigten, die in Großbetrieben tätig sind, würde somit zu einem deutlichen Anstieg des allgemeinen Lohnniveaus führen und gleichzeitig zu einer leichten Abnahme des 90/50- bzw. Zunahme des 50/10-Verhältnisses führen. Die Verdienstvorteile durch Großbetriebe haben sich zwischen 2006 und 2016 noch einmal gesteigert, insbesondere für das obere Ende der Verteilung. Das würde sich beispielsweise dadurch erklären lassen, dass Großbetriebe tendenziell eher in der Lage sind, ihre gut entlohnte Stammbelegschaft (über interne Anpassungsformen) vor Entlassungen oder Lohnkürzungen zu bewahren und meist über eine deutlich flexiblere Randbelegschaft verfügen, die eine solche Pufferfunktion dann erfüllt (Dütsch und Struck 2010, 2011). Dem folgend wären kleine und mittlere Betriebe hingegen eher dazu gezwungen, auch Teile ihrer gut entlohnten Mitarbeiter zu entlassen oder deren Verdienste anzupassen. Länderunterschiede Im Detail wird auf die länderspezifischen Lohnentwicklungen erst im nächsten Kapitel eingegangen. An dieser Stelle soll jedoch kurz der Einfluss der jeweiligen Mitgliedsstaaten auf die Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung
6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur
157
hervorgehoben werden, um dann anschließend diesen länderspezifischen Veränderungen nachzugehen. Deutschland dient dabei als Referenzkategorie, weil es nicht nur das größte Mitgliedsland mit den zahlenmäßig meisten Beschäftigten ist, sondern auch, weil es während der Krise auch das stabilste Lohn- und Beschäftigungsniveau gehabt hat. Tabelle 6.2 lassen sich demnach grob drei entscheidende Ländertrends entnehmen: Tabelle 6.2 Ländereffekte der unkonditionalen Quantilregression, EU-27 2006
2016
Quantile: 10
50
90
10
50
90
AT
0,080
0,105***
0,044
0,038*
0,104***
0,058**
(0,049)
(0,011)
(0,022)
(0,018)
(0,010)
(0,018)
BE
0,137***
0,260***
−0,064*** 0,106***
0,261***
−0,036***
(0,008)
(0,004)
(0,006)
(0,005)
(0,005)
BG
−4,248*** −1,059*** −0,469*** −1,898*** −0,913*** −0,465***
CY
(0,023)
(0,008)
(0,070)
(0,014)
0,009
−0,301*** −0,154*** −0,164*** −0,457*** −0,242***
(0,038)
(0,014)
(0,011)
(0,038) (0,029)
(0,013) (0,012)
(0,016) (0,015)
CZ
−0,329*** −0,975*** −0,443*** −0,315*** −0,846*** −0,513*** (0,056)
(0,011)
(0,024)
(0,031)
(0,010)
(0,014)
DK
0,043**
0,315***
−0,038**
0,014
0,256***
0,016*
(0,013)
(0,005)
(0,012)
(0,007)
(0,003)
(0,007)
EE
−1,571*** −0,964*** −0,509*** −0,881*** −0,798*** −0,542*** (0,027)
(0,015)
EL
0,139*
−0,297*** −0,117*** 0,010
−0,644*** −0,460***
(0,061)
(0,021)
(0,011)
ES
0,167*
−0,326*** −0,195*** −0,282*** −0,385*** −0,395***
(0,076)
(0,025)
0,082*** (0,021)
FR
0,102**
−0,173*** −0,266*** 0,022
−0,125*** −0,340***
(0,030)
(0,009)
(0,007)
HU
−1,640*** −0,960*** −0,437*** −1,224*** −1,006*** −0,635***
FI
(0,061)
(0,014) (0,028)
(0,036)
(0,007) (0,020) (0,015)
−0,041*** −0,271*** 0,122***
0,155***
−0,174***
(0,010)
(0,006)
(0,007)
(0,014) (0,014) (0,026)
(0,035)
(0,008)
(0,015)
(0,013)
(0,023)
(0,014)
(0,012) (0,013) (0,037)
(0,013)
(0,011) (0,021) (Fortsetzung)
158
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Tabelle 6.2 (Fortsetzung) 2006
2016
Quantile: 10
50
90
10
50
IE
0,162***
0,044**
0,170***
0,101***
−0,097*** 0,009
(0,020)
(0,013)
(0,014)
(0,014)
(0,008)
IT
0,164**
−0,117*** −0,086**
−0,076*
−0,170*** −0,261***
(0,050)
(0,013)
(0,034)
(0,012)
LT
−1,941*** −1,014*** −0,559*** −1,298*** −0,948*** −0,586***
LU
(0,024)
90 (0,007) (0,022)
(0,029)
(0,008)
(0,012)
(0,013)
(0,005)
(0,015)
0,133***
0,269***
0,758***
0,139***
0,030
0,389***
(0,026)
(0,021)
(0,019)
(0,026)
(0,022)
(0,010)
LV
−2,187*** −0,930*** −0,421*** −1,110*** −0,855*** −0,500*** (0,061)
(0,019)
MT
0,214***
−0,405*** −0,359*** 0,138***
−0,267*** −0,335***
(0,037)
(0,013)
(0,017)
(0,030)
(0,015)
(0,026)
0,052*
0,298***
0,332***
0,064**
0,218***
0,177***
(0,021)
(0,005)
(0,011)
(0,018)
(0,011)
(0,009)
NL
(0,029)
(0,028)
(0,011)
(0,013)
PL
−1,450*** −0,909*** −0,468*** −0,442*** −0,809*** −0,531*** (0,068)
(0,017)
PT
−0,264**
−0,588*** −0,135*** −0,698*** −0,709*** −0,437***
(0,077)
(0,023)
RO
−3,844*** −1,099*** −0,467*** −2,054*** −1,090*** −0,596*** (0,051)
(0,010)
(0,021) (0,032) (0,019)
(0,030) (0,040) (0,030)
(0,007) (0,011) (0,011)
(0,011) (0,015) (0,013)
−0,191*** −0,058*** −0,334*** −0,035*** 0,025***
−0,309***
(0,008)
(0,004)
(0,010)
SI
−0,008
−0,550*** −0,357*** −0,060**
−0,500*** −0,465***
(0,038)
(0,008)
(0,005)
SK
−2,429*** −1,042*** −0,439*** −0,711*** −0,932*** −0,469***
SE
UK
(0,016) (0,011)
(0,009) (0,018)
(0,006)
(0,010)
(0,069)
(0,017)
(0,033)
(0,044)
(0,014)
0,157***
0,094***
0,100**
0,001
−0,338*** −0,299***
(0,028)
(0,019)
(0,028)
(0,014)
(0,008)
Quelle: vgl. Tabelle 6.1.
(0,026) (0,005)
6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur
159
Zum einen zeigt sich, dass die Verdienste in den osteuropäischen Ländern im Vergleich zu Deutschland erheblich gestiegen sind zwischen 2006 und 2016 und dass diese Veränderungen primär das untere Ende der gesamteuropäischen Lohnverteilung tangieren. Im Falle Bulgariens bedeutet dies, dass der Koeffizient von −4,248 auf −1,898 zurückgegangen ist. Ähnlich, wenn auch nicht so extrem, sieht es in den anderen osteuropäischen Mitgliedsstaaten aus, beispielsweise in Rumänien (−3,844 auf −2,054), Polen (−1,450 auf −0,442) und der Slowakei (−2,429 auf −0,811), sowie in den baltischen Ländern Lettland (−1,941 auf − 1,298), Estland (−1,571 auf −0,901) und Litauen (−1,941 auf 1,298). Weiterhin zeigt sich, dass die südeuropäischen Länder eine ganz andere Entwicklung erfahren haben. Während griechische Arbeitnehmer beispielsweise 2006 am unteren Ende der Verteilung noch gegenüber deutschen Arbeitnehmern einen Verdienstvorteil vorweisen konnten, ist dieser 2016 nicht mehr zu erkennen. Stattdessen sind die Lohnunterschiede zwischen deutschen und griechischen Arbeitnehmern im mittleren (von −0,297 auf −0,644) und oberen Bereich (−0,117 auf −0,460) der Lohnverteilung deutlich gestiegen. Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch für Spanien, Portugal und Italien ab. Des Weiteren lässt sich zusätzlich noch die Entwicklung in Großbritannien hervorheben, das als Mitgliedsland mit der zweithöchsten Erwerbstätigenquote und einem hohen Anteil an Spitzenverdienern (vgl. Abbildung 6.2) einen großen Einfluss auf die EU-weite Lohnungleichheit hat. Auch in diesem Fall zeichnen sich deutliche Veränderungen ab: 2006 verdienten britische Arbeitnehmer über die gesamte Lohnverteilung hinweg noch mehr als Arbeitnehmer aus Deutschland. Die marginalen Effekte Großbritanniens auf die gesamteuropäische Lohnverteilung wurden jedoch nicht nur geringer, sie verschwanden entweder oder kehrten sich 2016 ins Negative um. Insgesamt lässt sich auf Grundlage der Ergebnisse der UQR festhalten, dass sowohl personenbezogene, arbeitsplatz- sowie betriebsspezifische Merkmale und Verdienstunterschiede in einem entscheidenden Maße zur Erklärung der gesamteuropäischen Lohnverteilung beitragen. Die wichtigsten Erkenntnisse lassen sich in vier Punkten zusammenfassen: 1) Hinsichtlich des Alters, des Bildungsniveaus und der beruflichen Tätigkeit lässt sich grob ein gemeinsamer Trend beobachten: So sind die Lohnunterschiede zwischen Jugendlichen und der Kernaltersgruppe, zwischen gering und mittel qualifizierten als auch zwischen Hilfsarbeitskräften, einfachen Fachkräften und gehobenen Fachkräften kleiner geworden, d. h., sie sind konvergiert. Gleichzeitig hat sich jedoch die Lohndifferenz ebendieser Gruppen gegenüber älteren Arbeitnehmern bzw. hochqualifizierten Arbeitnehmern bzw. Akademikern und Managern (überwiegend) vergrößert. Die Ergebnisse sprechen daher für eine
160
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Spaltung der europäischen Arbeitnehmerschaft in diese beiden Gruppen und einer zunehmenden Polarisierung der Verdienstchancen zwischen ebenjenen. 2) Für den Einfluss der Wirtschaftssektoren zeigte sich, dass sich der Verdienstvorteil des öffentlichen Dienstes auf Seiten der Geringverdiener über die Krisenperiode hinweg aufgelöst hat. Stattdessen geht der öffentliche Dienst nun EU-weit mit Lohneinbußen für Beschäftigte in den oberen Lohnsegmenten einher. Dies könnte ein starkes Indiz für die Folgen der politischen Austeritätsprogramme und der fiskalischen Konsolidierung sein, die größtenteils auf Kosten der Beschäftigten im öffentlichen Dienst stattfanden. 3) Großbetriebe konnten ihren Verdienstvorteil gegenüber kleinen und mittleren Betrieben weiterhin ausbauen. Dies spricht dafür, dass Großbetriebe eher dazu in der Lage sind, auf wirtschaftliche Schwankungen mit Anpassungen der flexibleren Randbelegschaft zu reagieren, anstatt die Verdienste ihrer Stammbelegschaften zu reduzieren. Zudem sind innerhalb von Großbetrieben die Möglichkeiten der intern-funktionalen Flexibilität eher gegeben als in kleinen und mittleren Betrieben und sie sind häufiger an Tarifverträge oder anderweitige kollektive Vereinbarungen gebunden, was monetäre Anpassungen der Stammbelegschaft unwahrscheinlicher machen. 4) Während des Beobachtungszeitraums kam es zu ausgeprägten und sehr heterogenen Veränderungen in den Lohnunterschieden hinsichtlich der Mitgliedsstaaten. Arbeitnehmer aus den meisten osteuropäischen Ländern konnten ihre relativen Löhne deutlich steigern. Im Gegensatz dazu zeigte sich, dass Arbeitnehmer aus den südeuropäischen Staaten sowie Großbritannien einen deutlichen Rückgang in ihren Reallöhnen erfahren haben, der sich insbesondere in den oberen Abschnitten der Lohnverteilung zugetragen hat und einer der zentralen Erklärungsfaktoren für den Rückgang der EU-weiten Lohnungleichheit zu sein scheint.
2006
10
0,077 (0,037)
(0,025)
(0,047)
0,037
−0,214***
(0,139)
0,079*** (0,011)
(0,036)
(0,031)
(0,067)
0,053
−0,126***
−0,124
Befristet
Hilfsarbeitskräfte
Gehobene Fachkräfte
Akademiker/Manager
(0,038) −0,175*** (0,028)
(0,045)
−0,409***
(0,062)
(0,036)
−0,044
(0,013)
0,049**
(0,033)
(0,025) −0,128**
(0,029)
−0,280***
0,128**
(0,057)
0,619***
(0,053)
0,244***
(0,031)
−0,074*
(0,044)
0,259***
(0,015)
0,012
90:
0,222***
(0,047)
(0,046)
0,126***
0,296***
0,142**
Beruf (Ref.: Einfache Fachkräfte)
Hohes Niveau
Geringes Niveau
50
−0,376*
Bildungsniveau (Ref.: Mittleres Niveau)
Ältere Arbeitnehmer
Jugendliche
Alter (Ref.: Kernaltersgruppe)
Quantile:
(0,104)
−0,617***
(0,104)
−0,280*
(0,048)
0,150**
(0,074)
0,180*
(0,033)
0,062
(0,075)
−0,232**
(0,034)
0,062
(0,056)
−0,353***
10
2016
Tabelle 6.3 Unkonditionale Quantilregression auf den Bruttostundenlohn, Euro-19.
(0,018)
−0,211***
(0,023)
−0,082**
(0,025)
0,218***
(0,040)
0,329***
(0,021)
0,138***
(0,013)
−0,099***
(0,031)
0,097**
(0,042)
−0,174***
50
(Fortsetzung)
(0,036)
−0,044
(0,015)
0,071***
(0,049)
0,116*
(0,078)
0,478***
(0,071)
0,255**
(0,029)
−0,009
(0,022)
0,214***
(0,044)
−0,006
90:
6.2 Bestimmungsfaktoren der gesamteuropäischen Lohnstruktur 161
101705
101705
0,188
(0,034)
3,036***
(0,047)
0,159**
112560
0,230
(0,062)
2,033***
(0,050)
0,189**
(0,026)
0,015
−0,118 (0,086)
(0,056)
(0,029)
−0,094
(0,076)
−0,068
(0,189)
−0,726**
(0,048)
−0,194***
112560
0,355
(0,013)
2,600***
(0,019)
0,197***
(0,031)
−0,034
(0,018)
−0,093***
(0,021)
−0,083**
(0,038)
−0,193***
(0,027)
−0,126***
50
112560
0,175
(0,024)
3,147***
(0,047)
0,188***
(0,120)
−0,293*
(0,070)
−0,119
(0,099)
−0,222*
(0,089)
−0,246*
(0,024)
−0,033
90:
Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnung. Cluster-robuste Standardfehler in Klammern. AV: Realer log. Bruttostundenlohn. Die Referenzgruppe sind deutsche Fachkräfte in der Industrie im Alter von 25–54 Jahren mit mittlerem Bildungsniveau, in Vollzeit, unbefristet und in kleinen/mittleren Betrieben. Länder-Dummies nicht abgebildet. Weiterhin kontrolliert für Geschlecht, Migrationshintergrund, Familienstand, Haushaltstyp und Führungsposition.
101705
N
0,347
(0,034)
(0,065)
0,320
2,579***
(0,017)
1,943***
0,187***
(0,026)
(0,052)
(0,059)
0,159***
0,071
0,089
(0,027)
(0,043)
R2
Konstante
Großbetriebe
(0,061)
(0,011) −0,050
(0,045)
−0,048
−0,016
−0,096
−0,057***
0,031
(0,054)
(0,024)
−0,083
−0,150***
2016 10
6
Öffentlicher Dienst
Dienstleistung
Baugewerbe
Agrarwirtschaft
(0,032)
−0,032
(0,136)
(0,022)
(0,035)
90:
−0,489**
−0,106***
−0,167***
Teilzeit
Sektor (Ref.: Industrie)
50
2006
10
Quantile:
Tabelle 6.3 (Fortsetzung)
162 Dynamiken von Lohnungleichheiten …
6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten
6.3
163
Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten
Während sich der vorherige Abschnitt in erster Linie den Veränderungen der Lohnstruktur gewidmet hat und wie sich die Verdienstunterschiede zwischen bestimmten Gruppen von Beschäftigten verändert haben, werden im Folgenden die Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur mitberücksichtigt, die in ihrem Zusammenspiel die Dynamiken gesamteuropäischer Lohnungleichheiten erklären sollen. Zunächst wird dazu eine aggregierte Zerlegung der Veränderungen der Lohnverteilung vorgestellt, gefolgt von weiteren, detaillierteren Zerlegungen des Kompositions- und Lohnstruktureffekts. Bevor aber mit der eigentlichen Dekompositionsanalyse begonnen wird, soll zuvor ein Blick auf die Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft geworfen werden, um so eine Interpretation der Dekompositionsanalysen einfacher und nachvollziehbarer zu machen. Tabelle 6.4 bildet die relativen Häufigkeiten bestimmter Merkmale aus der gewichteten Stichprobe für die EU bzw. Eurozone ab und zeigt, dass sich die Merkmalszusammensetzung der europäischen Arbeitnehmerschaft zwischen 2006 und 2016 in der Tat deutlich verändert hat. So ist beispielsweise der relative Anteil jugendlicher Arbeitnehmer von 10,5 auf 7,6 Prozent und damit um 2,9 Prozentpunkte gesunken. Beachtet man dabei das Ausgangsniveau, so ergibt sich ein prozentualer Rückgang von rund 28 Prozent. In der Eurozone fällt dieser mit 3,3 Punkten bzw. 32 Prozent noch drastischer aus. Dies darf jedoch nicht allein als die Folge der Krise(n) interpretiert werden, spielen doch längerfristige Trends wie der demografische Wandel ebenfalls eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Doch nicht nur Jugendliche, sondern auch die Kernaltersgruppe, mit Beschäftigten zwischen 25 und 54 Jahren, ist von den Rückgängen betroffen, sodass sich ihr relativer Anteil um 2,7 bzw. 3,4 Prozentpunkte reduziert – jedoch geschieht dies von einem wesentlich höheren Ausgangsniveau aus, weswegen es relativ betrachtet nicht so drastisch ist wie im Falle der Jugendlichen. Der Anteil älterer Arbeitnehmer über 55 Jahre hat sich dementsprechend merklich vergrößert, und zwar um 5,6 bzw. 6,6 Punkte. Dies entspricht jedoch einer relativen Zunahme von rund 52 bzw. 65 Prozent und weist auf eine deutliche Alterung der europäischen Arbeitnehmerschaft hin. Hinsichtlich des formalen Bildungsniveaus zeigt sich, dass der Anteil geringqualifizierter Arbeitnehmer merklich zurückgegangen ist, und zwar um 3,8 Punkte in der EU und ganze 5,8 Punkte in der Eurozone. Arbeitnehmer mit mittleren Qualifikationen traf es zumindest in der EU ähnlich (−3 Punkte), wohingegen sie innerhalb der Eurozone weitestgehend ihren Beschäftigungsanteil halten konnten. Hochqualifizierte Arbeitskräfte verzeichnen
164
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
hingegen sowohl in der EU als auch in der Eurozone einen relativen Anstieg ihrer Beschäftigungsanteile um ganze 6,8 bzw. 5,6 Punkte. Für einen qualifikations- und tätigkeitsbasierten Bias hinsichtlich der Beschäftigungsentwicklung sprechen auch die veränderten Anteile beruflicher Tätigkeiten. Während einzig die Anzahl an Akademikern und Managern während der Krise gestiegen ist (um 5,5 bzw. 5 Punkte), sind die Beschäftigungsanteile einfacher Fachkräfte sowie der Hilfsarbeitskräfte zurückgegangen, und zwar um 3,4 bzw. 3,2 sowie um jeweils 1,7 Punkte. Weiterhin lassen sich sowohl im Baugewerbe als auch in der Industrie Beschäftigungsrückgänge beobachten. Die stärksten
Tabelle 6.4 Relative Häufigkeiten bestimmter Merkmale der europäischen Arbeitnehmerschaft (in Prozent) EU-27 2006
Euro-19 2016
Diff.
2006
2016
Diff.
Jugendliche
10,5
7,6
−2,9
10,2
6,9
−3,3
Kernaltersgruppe
78,8
76,2
−2,7
79,6
76,3
−3,4
Ältere Arbeitnehmer
10,7
16,3
5,6
10,2
16,8
6,6
Geringes Bildungsniveau
19,7
15,9
−3,8
23,0
17,3
−5,8
Mittleres Bildungsniveau
49,1
46,1
−3,0
45,1
45,2
0,1
Hohes Bildungsniveau
31,2
37,9
6,8
31,9
37,6
5,6
Akademiker/Manager
21,1
26,6
5,5
19,8
24,8
5,0
Gehobene Fachkräfte
18,4
18,0
−0,5
20,1
20,0
−0,1
Einfache Fachkräfte
50,0
46,6
−3,4
49,5
46,3
−3,2
Hilfsarbeitskräfte
10,5
8,8
−1,7
10,6
8,9
−1,7
Befristet
15,2
14,3
−0,8
16,8
16,3
−0,5
Teilzeit
16,2
17,8
1,6
17,6
20,3
2,8
Agrarwirtschaft
2,0
1,8
−0,2
2,1
1,8
−0,3 −1,4
Industrie
20,8
19,0
−1,8
20,0
18,6
Baugewerbe
7,6
5,9
−1,6
7,8
5,6
−2,1
Dienstleistungen
41,0
42,6
1,6
40,8
42,4
1,6
Öffentlicher Dienst
28,6
30,6
2,0
29,3
31,5
2,2
Großbetriebe
37,6
47,0
9,5
45,0
47,2
2,3
Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Abgebildet sind die relativen Häufigkeiten bestimmter Merkmale in Prozent sowie deren Differenz in Prozentpunkten (gewichtet).
6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten
165
Zuwächse gab es hingegen im Dienstleistungssektor sowie im öffentlichen Dienst. Der Anteil abhängiger Arbeitnehmer, die in Großbetrieben tätig sind, ist insbesondere in der EU rapide gestiegen – um ganze 9,5 Punkte. In der Eurozone lag dieser Zuwachs nur bei 2,3 Punkten. Die Anzahl befristet Beschäftigter ist indes relativ konstant geblieben über die Beobachtungsperiode, während der Anteil an Teilzeitbeschäftigten, insbesondere in der Eurozone (2,8 Punkte), weiter angestiegen ist. Analog zu den zuvor beobachteten Veränderungen in der Lohnstruktur, lässt sich auch hinsichtlich des Wandels der Beschäftigungsstruktur ein ähnliches Muster feststellen: So sind vor allem Jugendliche, Geringqualifizierte sowie einfache Fachkräfte und Hilfsarbeiter am stärksten von relativen Beschäftigungsrückgängen zwischen 2006 und 2016 betroffen – was auch durch die einschlägige Literatur gut dokumentiert wird (Heidenreich 2015, 2016d; Boeri und Jimeno 2016; Scarpetta et al. 2010). Demgegenüber stehen ältere Arbeitnehmer, Hochqualifizierte sowie Akademiker und Manager in Großbetrieben, deren Anteil an der Arbeitnehmerschaft deutlich gestiegen ist. Die Beobachtungen passen also zu der Annahme, dass die hochqualifizierte Stammbelegschaft in eher komplexen Tätigkeitsfeldern sich sowohl in puncto Beschäftigungsstabilität als auch Entlohnung ausreichend schützen konnte bzw. durch die flexiblere Randbelegschaft stabilisiert wurde. Aber auch längerfristige Trends, wie die Alterung der Arbeitnehmerschaft oder eine zunehmende Akademisierung der Arbeitswelt könnten bzw. werden ihren Beitrag an dieser Entwicklung geleistet haben. Die Stabilität bzw. relative Zunahme des Beschäftigungsniveaus im öffentlichen Dienst spricht für die Annahme, dass dieser selbst unter hohem Anpassungsdruck nicht über das Beschäftigtenvolumen auf etwaige Krisen reagiert (Broschinski et al. 2018), sondern stattdessen über Lohnflexibilität, Befristungen oder Arbeitszeitreduktion. Letzteres scheint auch gesamtwirtschaftlich zugenommen zu haben, was sich dem steigenden Anteil an Teilzeitbeschäftigung entnehmen lässt. Auf Grundlage dieser Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur nach unterschiedlichen Merkmalen, lassen sich nun die Dekompositionsanalysen durchführen, um die Gesamtveränderungen der EU-weiten Lohnverteilung auf Veränderungen in der Lohn- und/oder Beschäftigtenstruktur zurückzuführen.
6.3.1
Aggregierte Dekomposition
Im Folgenden werden die Ergebnisse der aggregierten Dekompositionsanalyse für die Veränderungen in der Verteilung realer log Bruttostundenlöhne vorgestellt. Die Dekompositionen basieren dabei auf dem kontrafaktischen Szenario, dass der Lohnstruktur von 2016 die Beschäftigungsstruktur von 2006 zugrunde liegt.
166
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Die Ergebnisse der aggregierten Dekompositionsanalyse für die EU sowie für die Eurozone sind in Abbildung 6.6 abgebildet. Sie zeigt die Veränderungen in der Verteilung der realen log. Bruttostundenlöhne (Log-Lohndifferenzial) zwischen den beiden Zeitpunkten 2006 und 2016 für insgesamt 19 Quantile (5. Bis 95. Perzentil). Die Veränderungen werden dementsprechend in Logarithmenprozenten (log-Punkte) angegeben, die annäherungsweise als prozentuale Veränderungen interpretiert werden können. Die schwarze durchgezogene Linie entspricht dabei der zu beobachtenden Gesamtveränderung zwischen den beiden Zeitpunkten (Gesamteffekt). Man erkennt hier deutlich und im Anschluss zu den vorherigen Analysen, dass insbesondere das Lohnniveau am unteren Ende der Verteilung starke Zuwächse erfahren hat – und zwar um bis zu 0,3 log-Punkte (rund 30 Prozent) im Fall des 5. Perzentils und von rund 0,11 log-Punkten für das 20. Perzentil. Insgesamt sind Reallohnsteigerungen in allen Bereichen knapp unterhalb des 80. Perzentils zu verzeichnen, die jedoch am stärksten im untersten Viertel der Lohnverteilung ausfielen. Lediglich für das 90. Perzentil lässt sich ein signifikanter Rückgang des Lohnniveaus in Form eines negativen log-Lohndifferenzials feststellen. Damit fand in insgesamt vier Fünfteln der gesamteuropäischen Lohnverteilung ein Anstieg der realen Bruttostundenlöhne statt, der aufgrund des überproportionalen Anstiegs im untersten Viertel zu einer deutlichen Kompression der Lohnverteilung beigetragen hat und damit auch zu einem Rückgang in der EU-weiten Lohnungleichheit. Das eigentlich Interessante dieser Betrachtungsweise besteht allerdings aus der Zerlegung des eben beschriebenen Gesamteffekts in die entsprechenden Kompositions- bzw. Lohnstruktureffekte auf Grundlage kontrafaktischen Szenarios. Bei der Betrachtung des Kompositionseffekts (gestrichelte Linie) kann nun also davon ausgegangen werden, dass sich die Lohnverteilung entsprechend der gestrichelten Linie verändert hätte, wenn sich lediglich die Beschäftigungsstruktur, d. h., der relative Anteil bestimmter Arbeitnehmergruppen (wie Ältere oder Hochqualifizierte), zwischen 2006 und 2016 verändert hätte, das Lohnniveau bzw. die Lohnunterschiede innerhalb und zwischen ebenjenen Gruppen aber konstant geblieben wäre. Der Verlauf der gestrichelten Linie unterscheidet sich deutlich von dem des Gesamteffekts. So wäre es statt zu einer starken Kompression der Verteilung „von unten“ eher zu einer Parallelverschiebung gekommen, d. h., dass alle Abschnitte der Verteilung in etwa mit den gleichen Reallohnsteigerungen zu rechnen hätten. Die Auswirkungen auf die EU-weiten Lohnungleichheiten wären dementsprechend marginal gewesen. Auf der anderen Seite zeigt der Lohnstruktureffekt (gepunktete Linie) die potenziellen Veränderungen der gesamteuropäischen Lohnverteilung unter der Annahme, dass die Beschäftigungsstruktur seit 2006 unverändert geblieben wäre,
6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten
167
Abbildung 6.6 Dekomposition der Veränderungen in der Lohnverteilung von 2006– 2016. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Dekomposition des logarithmierten Bruttostundenlohns (in Preisen von 2015 und kaufkraftbereinigt) auf Grundlage von RIF-Regressionen nach der FFL-Methode. In die Regression eingeschlossene Merkmale: Alter, Bildungsgrad, Beruf, Wirtschaftszweig, Betriebsgröße, Arbeitszeit, Befristung, Geschlecht, Familienstand, Migrationshintergrund, Führungsposition sowie Länder-Dummies.)
168
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
es also weder zu Entlassungen noch zu Veränderungen hinsichtlich der Zusammensetzung aus jungen und älteren, gering- und hochqualifizierten oder Vollund Teilzeitbeschäftigten gekommen wäre. Unter diesen Umständen sähe die Veränderung zwar relativ ähnlich aus (im Vergleich zu den tatsächlichen Entwicklungen des Gesamteffekts) jedoch auf einem gänzlich anderen Niveau. Zwar hätte das untere Fünftel immer noch signifikante Reallohnsteigerungen erfahren, die restlichen vier Fünftel hingegen Einbußen – und zwar bis zu 0,09 anstatt der tatsächlichen 0,02 log-Punkte im Falle des 90. Perzentils. Dies hätte auch Auswirkungen auf die Entwicklung der aggregierten Lohnungleichheiten gehabt, insbesondere in Form des 90/10- und 50/10-Verhältnisses (vgl. Tabelle 6.5), die noch deutlicher zurückgegangen wären als sie es tatsächlich sind, bedingt durch eine stärkere Kompression „von oben“. Für die Eurozone zeichnet sich ein etwas anderes Bild ab. Zum einen fällt hier der Gesamteffekt deutlich geringer aus, was bereits anhand von Abbildung 6.3 zu erwarten war. Des Weiteren sind die Unterschiede hinsichtlich der Veränderungen zwischen dem oberen und unteren Bereich der Lohnverteilung wesentlich geringer. Bis auf eine etwas stärkere Zunahme am fünften Perzentil und einem leichten aber kontinuierlich verlaufenden Rückgang ab dem 80. Perzentil, bleiben große Veränderungen weitestgehend aus. Der in Tabelle 6.5 zu sehende Rückgang der Lohnungleichheit innerhalb der Eurozone, geht demnach vor allem auf Reallohneinbußen im oberen Fünftel zurück. Hinsichtlich des Verlaufs des Kompositionsund Lohnstruktureffekts lassen sich zwei unterschiedliche Entwicklungen festmachen. Zum einen zeigt sich für den Abschnitt der Lohnverteilung unterhalb des 40. Perzentils ein positiver Lohnstruktureffekt und ein negativer Kompositionseffekt. Das heißt, dass die Veränderungen der in Tabelle 6.4 beschriebenen Merkmale zu einem Anstieg der unteren Lohnsegmente geführt hätte – aufgrund des höheren Anteils an Merkmalen, die üblicherweise mit höheren Löhnen einhergehen. Andererseits zeigt der Lohnstruktureffekt genau in die Gegenrichtung, was auf veränderte Verdienstmöglichkeiten im unteren Bereich hindeutet, die umso positiver werden, je näher man dem Median kommt. Oberhalb des 40. Perzentils kehren sich diese Trends allerdings um, was vor allem auf rückläufige Verdienstvorteile am oberen Rand der Verteilung zurückzuführen ist. Die Ergebnisse der Dekomposition der Gesamtveränderung in einen Kompositions- und einen Lohnstruktureffekt weisen auf bestimmte Entwicklungen hin, die durch eine rein deskriptive Betrachtung der Lohnverteilung oder Ungleichheitsmaße nicht sichtbar gewesen wären. Neben einem Rückgang der Lohnungleichheit bedingt durch eindeutige Reallohnsteigerungen im unteren Bereich der EU-weiten Lohnverteilung wird offensichtlich, dass es des Weiteren zu entscheidenden Veränderungen in der Lohnstruktur gekommen ist. Zwar
6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten
169
auch in Form von Reallohneinbußen, die nicht bloß das oberste Zehntel betreffen, sondern einen erheblichen Anteil der europäischen Arbeitnehmerschaft (ca. vier Fünftel). Diese Veränderungen in der Lohnstruktur werden auf aggregierter Ebene jedoch von den positiven, d. h. das Lohnniveau anhebenden, Kompositionseffekten geprägt bzw. überlagert. Die Rigidität der Löhne, die für Europa seitens der Arbeitsmarktökonomik angenommen wird (Blau und Kahn 2002; kritisch dazu DiPrete 2007), scheint daher geringer zu sein als gedacht, sodass betriebliche oder arbeitsmarktpolitische Anpassungen zu Rückgängen der (oberen) Bruttostundenlöhne und damit auch der aggregierten Lohnungleichheit geführt haben. Welchen Erklärungsanteil daran nun die gruppenspezifischen Beschäftigungs- und Entlohnungschancen bzw. deren Veränderungen haben, soll in einem nächsten Schritt genauer analysiert werden.
Tabelle 6.5 Aggregierte Dekomposition EU-27 Ungleichheitsmaß
90-10
90-50
50-10
Gini
Gesamteffekt
−0,276
−0,032
−0,244
−0,023
2006
1,653
0,727
0,925
0,338
2016
1,928
0,759
1,169
0,361
Kompositionseffekt
0,015
0,008
0,007
0,000
in % Gesamteffekt
5%
25 %
3%
0%
Lohnstruktureffekt
−0,291
−0,040
−0,251
−0,023
in % Gesamteffekt
105 %
125 %
103 %
100 %
Euro-19 Ungleichheitsmaß
90-10
90-50
50-10
Gini
Gesamteffekt
−0,022
−0,033
0,011
−0,006
2006
1,507
0,661
0,846
0,309
2016
1,529
0,695
0,835
0,315
Kompositionseffekt
−0,013
0,004
−0,017
−0,002
in % Gesamteffekt
59 %
12 %
155 %
33 %
Lohnstruktureffekt
−0,009
−0,037
0,028
−0,004
in % Gesamteffekt
41 %
112 %
255 %
67 %
Quelle: vgl. Abbildung 6.6. Anmerkung: Der Gesamteffekt ist die Summe des Lohnstruktur- und Kompositionseffekts. Anteile des jeweiligen Effekts am Gesamteffekt über 100 Prozent bedeuten, dass die Veränderung größer ausgefallen wären als sie es tatsächlich sind.
170
6.3.2
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Detaillierte Dekomposition
Die detaillierte Dekomposition ermöglicht im Weiteren nun die Zerlegung des Kompositions- und Lohnstruktureffekts in die jeweiligen Beiträge individueller, arbeitsplatzbezogener und betriebsspezifischer Merkmale, wie sie in den UQRModellen bereits verwendet wurden. Abbildung 6.7 zeigt die Gesamtveränderung sowie die Kompositions- und Lohnstruktureffekte acht ausgewählter Merkmale. Dabei wurden die jeweiligen Koeffizienten der Merkmalsausprägungen zusammengefasst, um den Gesamteffekt des Merkmals auf die Lohnverteilung zu erfassen. Das erste Feld bildet die altersspezifischen Effekte auf die Veränderungen des log. Bruttostundenlohns zwischen 2006 und 2016 entlang der 19 Quantile (5. Bis 95. Perzentil) ab. Es zeigt sich, dass sowohl Veränderungen in der altersspezifischen Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft als auch die veränderte Lohnstruktur insgesamt zu einem Anstieg des Lohnniveaus beigetragen haben, welches am Ende der Lohnverteilung etwas größer ausfällt. Der Kompositionseffekt dominiert hierbei, insbesondere am oberen Ende der Verteilung. Dies liegt daran, dass der Anteil älterer Arbeitnehmer, die in der Regel höhere Verdienste aufweisen, zugenommen hat. Der geringer werdende Anteil der Jugendlichen hat hingegen aufgrund seiner negativen, marginalen Effekte auf die untere Hälfte der Lohnstruktur dazu beigetragen, dass zugleich das Niveau der unteren Quantile angehoben wurde. Ein geringerer Anteil an jungen Arbeitnehmern geht daher in der EU mit einer geringeren Spreizung der Lohnverteilung einher. Für die Eurozone zeigt der Kompositionseffekt zwar in eine ähnliche Richtung, der Lohnstruktureffekt trägt hier allerdings zu einer Abnahme der oberen Verdienste bei, da im Vergleich zur EU der Verdienstvorteil älterer Arbeitnehmer leicht zurückgegangen ist (Abb. 6.8). Ein wesentlich stärkerer Effekt im Vergleich zum Alter lässt sich hinsichtlich der formalen Bildung erkennen. Die Veränderung in den log. Bruttostundenlöhnen verläuft sowohl in der EU als auch der Eurozone monoton steigend entlang der Quantile, d. h., dass die Reallohnzuwächse in den höheren Bereichen der Lohnverteilung stärker ausfallen als dies in den unteren Bereichen der Fall ist. Dieser Befund spricht für einen entscheidenden Erklärungsbeitrag der formalen Bildung bezüglich einer zunehmenden Lohnungleichheit – insbesondere in Form des 90/10-Verhältnisses. Erklären lässt sich dies durch die Kombination aus höheren Bildungsrenditen (Lohnstruktureffekt) und einem allgemein höheren Bildungsniveau der Arbeitnehmerschaft (Kompositionseffekt) im Vergleich zu 2006: Während auf der einen Seite mehr hochqualifizierte (relativ gesehen) auch immer mehr verdienen, gibt es auf der anderen Seite weniger mittel- und geringqualifizierte Arbeitskräfte, die zugleich aber immer weniger verdienen.
6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten
171
Abbildung 6.7 Detaillierte Dekomposition der Veränderungen der Lohnverteilung für die EU-27. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Vgl. Abbildung 6.6.) (Quelle: EU-SILC, eigene Berechnungen.)
172
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
Abbildung 6.8 Detaillierte Dekomposition der Veränderungen der Lohnverteilung für die Euro-19. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Vgl. Abbildung 6.6.)
6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten
173
Auch die Effekte der Berufsstruktur auf die Veränderungen der Lohnverteilung fallen zwar stark aus, sind aber nicht ganz eindeutig. So kam es durch die Veränderungen in der berufsspezifischen Lohnstruktur zu Rückgängen des Lohnniveaus im unteren Abschnitt. Dies geht darauf zurück, dass der positive Effekt von Akademikern/Managern und gehobenen Fachkräften auf das 10. Perzentil über die Periode hinweg merklich abgenommen hat und dadurch Reallohneinbußen am unteren Ende mit sich brachte. Der Kompositionseffekt hat eine ähnliche Wirkung wie im Falle der Bildung. Die veränderte Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft nach beruflichen Tätigkeiten führt also in der EU als auch in der Eurozone zu einem leichten, monotonen Anstieg des Lohnniveaus entlang der Quantile. Dies geht zurück auf einen zunehmenden Anteil an Akademikern und Managern mit überdurchschnittlichen Löhnen innerhalb der Arbeitnehmerschaft, die auf diese Weise ungleichheitsverstärkende Effekte mit sich bringen. Mit Blick auf die Wirtschaftssektoren lässt sich feststellen, dass die Gesamtentwicklungen insbesondere am oberen Rand der Lohnverteilung tendenziell zu einer Abnahme des Lohnniveaus in der EU und in der Eurozone führten. Bedingt wird dies durch die starken negativen Veränderungen des Lohnstruktureffekts. Dies resultiert in erster Linie aus den Lohneinbußen der Beschäftigten im Baugewerbe und des öffentlichen Dienstes, die zu einer starken Abnahme des Lohnniveaus um das 90. Perzentil geführt haben. Dies hat maßgeblich zur Kompression der Lohnverteilung „von oben“ und damit zu einer Abnahme aggregierter Lohnungleichheiten beigetragen. Der Kompositionseffekt, d. h., die Veränderte Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft nach Wirtschaftssektoren, trägt indes nicht zur Veränderung der Lohnverteilung bei. Anders sieht dies wiederum hinsichtlich der Betriebsgröße aus. Der insbesondere in der EU zunehmende Anteil an Arbeitnehmern in Großbetrieben trägt zu einem allgemeinen Anstieg des Lohnniveaus bei, der über alle Quantile hinweg relativ gleichmäßig ausfällt. Gleichzeitig führt ein monoton steigender Lohnstruktureffekt entlang der Quantile einerseits zu einem Anstieg des Lohnniveaus im oberen Bereich und andererseits (allerdings nur für die EU) zu einem Rückgang im untersten Bereich der Lohnverteilung. Dies lässt sich anhand der relativen Verdienstunterschiede zwischen kleinen/mittleren und Großbetrieben erklären, die während der Krise noch größer geworden sind. Das spricht zum einen für die tendenziell höhere Beschäftigungssicherheit innerhalb von Großbetrieben als auch für eine bessere Bezahlung, die zumeist durch den Rückgriff auf die flexible Randbelegschaft gesichert werden kann. Für die aggregierte Lohnungleichheit bedeutet das insbesondere hinsichtlich des 90/10-Verhältnisses einen Anstieg. Befristungen tragen in der EU hingegen weder über den Kompositions- noch über den Lohnstruktureffekt zur Veränderung der Lohnverteilung bei, obwohl
174
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
nach wie vor im Vergleich zu unbefristet Beschäftigten zu erheblich geringeren Bruttostundenlöhnen führen. Das gruppenspezifische Lohngefälle bleibt also auf hohem Niveau stabil. Auch der Anteil befristeter Beschäftigung an der Arbeitnehmerschaft hat sich kaum verändert, vermutlich, weil sich die vermehrte Freistellung befristetet beschäftigter Arbeitskräfte und die zunehmende Verwendung von befristeten Verträgen bei Neueinstellungen in diesem Zeitraum weitestgehend die Waage halten. Allerdings trägt der Lohnstruktureffekt im Falle der Eurozone zu einer signifikanten Abnahme des Lohnniveaus im unteren Fünftel der Verteilung bei, was auf die zunehmenden Verdienstnachteile befristeter Beschäftigungen in der Eurozone zurückzuführen ist. Hinsichtlich der Arbeitszeit und des Anteils an Teilzeitbeschäftigten zeigt sich, dass diese im Vergleich zu Vollzeitarbeitnehmern ausschließlich mit Veränderungen in der Lohnstruktur zur Gesamtveränderung beitragen, da der Kompositionseffekt exakt auf der Nulllinie liegt. Der Lohnstruktureffekt der EU deutet darauf hin, dass der Verdienstnachteil von Teilzeitangestellten über die Zeit, zumindest am Median, kleiner geworden ist, was in einer umgekehrten U-Form des Effekts resultiert. Für die Eurozone trägt der Lohnstruktureffekt von Teilzeitbeschäftigten hingegen stärker zu einem Rückgang der oberen Verdienste bei. Den mit Abstand größten Effekt auf die Veränderung der gesamteuropäischen Lohnverteilung haben allerdings die Mitgliedsstaaten, d. h., das Land, in dem der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat. Dabei zeigen sich sowohl positive als auch negative Effekte, die in ihrer Kombination zu einer starken Kompression der Lohnverteilung beitragen. Während der Kompositionseffekt vergleichsweise gering ist, und somit die Rolle der Veränderungen in der Zusammensetzung der gesamteuropäischen Arbeitnehmerschaft nach Herkunftsland, dominiert an dieser Stelle eindeutig der Lohnstruktureffekt – insbesondere im Falle der EU. Wie bereits vorher angenommen, bestätigt sich nun die Annahme, dass der Rückgang in den Lohngefällen zwischen den osteuropäischen und deutschen Arbeitnehmern zu einem erheblichen Anstieg des Lohnniveaus im unteren Bereich der Lohnverteilung geführt hat. Zwischen dem 30. und 40. Perzentil ist hingegen das Zusammenspiel aus positivem Kompositionseffekt und negativem Lohnstruktureffekt am stärksten ausgeprägt. Dies dürfte vor allem einen Teil der südeuropäischen Arbeitnehmerschaft repräsentieren. Diese tragen zum einen durch Reallohneinbußen insbesondere im mittleren Abschnitt der Verteilung zu einem Rückgang des Lohnniveaus bei. Zum anderen verzeichnen sie die höchsten Rückgänge in der Beschäftigung, was hingegen mit einem Anstieg des Lohnniveaus an ebenjenem Abschnitt einhergeht. Die Abbildung 6.2 hat zudem gezeigt, dass sich an genau diesem Abschnitt der Verteilung primär die südeuropäischen Mitgliedsstaaten wie Spanien, Italien,
6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten
175
Portugal oder Griechenland konzentrieren. Die starken Rückgänge im 90. Perzentil gehen dabei in erster Linie auf Großbritannien, Griechenland, Portugal und Spanien zurück, die relativ zu Deutschland betrachtet, die höchsten Reallohnrückgänge in diesem Lohnsegment verzeichneten. Da insbesondere Großbritannien und Spanien zu den zahlenmäßig größten Mitgliedsländern zählen, schlagen diese Veränderungen in der Lohnstruktur auch direkt und in einem solch hohen Ausmaß auf die gesamteuropäische Lohnverteilung durch. Somit ist der Rückgang des Lohnniveaus am oberen Rand der Lohnverteilung in erster Linie auf Reallohneinbußen von Beschäftigten mit überdurchschnittlichen Löhnen in Südeuropa und Großbritannien zurückzuführen. Für die Eurozone fällt der Beitrag des Lohnstruktureffekts etwas anders aus. Weil hier viele osteuropäische Mitgliedsstaaten fehlen, ist der Beitrag am Anstieg des Lohnniveaus am unteren Ende der Verteilung vergleichsweise klein und führt eher zu einem Rückgang der Verdienste am 20. Perzentil. Dies ist vor allem mit den großen Lohneinbußen (relativ zu Deutschland) in Spanien und Italien am unteren Abschnitt der Verteilung zu erklären. Der negative Beitrag der Mitgliedsstaaten auf den obersten Bereich der Verteilung fällt hingegen aufgrund des Fehlens Großbritanniens deutlich geringer aus. Die Auswirkungen der einzelnen Merkmale auf die aggregierte Lohnungleichheit in der EU und Eurozone können Tabelle 6.6 entnommen werden. Insgesamt ist dabei ersichtlich, dass in fast allen Fällen die Veränderungen in der Lohnstruktur den größten Erklärungsbeitrag an der Gesamtentwicklung der Lohnungleichheit leisten. Ausnahmen sind lediglich das 90/10-Verhältnis sowie der Gini-Koeffizient in der Eurozone. Dabei haben die Mitgliedsstaaten den größten Erklärungsanteil am Rückgang der Lohnungleichheit, insbesondere in der EU. Demgegenüber stehen Ungleichheit verstärkende Effekte aufgrund von Veränderungen der qualifikationsspezifischen Lohnstruktur sowie nach Betriebsgröße. Die Auswirkungen von beruflichen und branchenspezifischen Effekten unterscheiden sich je nach Ungleichheitsmaß. So haben beide einen ungleichheitsreduzierenden Beitrag im Falle des 90/50-Verhältnisses, aber einen verstärkenden Beitrag auf das 50/10-Verhältnis. Dies deutet darauf hin, dass sich die Verdienste zwischen den einzelnen beruflichen Tätigkeiten und Sektoren am unteren Abschnitt der Verteilung vergrößert, am oberen Abschnitt allerdings verringert haben. In einem einzigen Fall ist der Beitrag des Lohnstruktureffekts hingegen positiv, d. h., er trägt zu einer Vergrößerung der Lohnungleichheit bei, und zwar im Falle des 50/10-Verhältnisses in der Eurozone. Dort sind es insbesondere die qualifikations- und länderspezifischen Verdienste, die zu dieser Zunahme führen. Zum einen, da Geringqualifizierte hier deutlich weniger verdienen als
−0,032
0,008 −25 %
0,006 −0,005 0,000 −0,002 0,000 −0,008 0,000 0,011 −0,040 125 % −0,005
−0,276
1,653
1,928
0,015
−5%
0,008
0,008
0,012
−0,007
0,005
−0,002
0,000
−0,014
−0,004
0,008
−0,291
105 %
−0,002
Gesamt
2006
2016
Komposition
in % Gesamt
Alter
Bildung
Beruf
Branche
Großbetriebe
Befristung
Teilzeit
Länder
Kontrolle
Spezifikationsfehler
Lohnstruktur
in % Gesamt
Alter
0,004
0,003
0,759
0,727
90-50
90-10
Ungleichheitsmaß
EU-27
0,002
103 %
0,000
100 %
−0,023
0,002
−0,002 −0,251
−0,001
−0,003
0,000
0,000
0,000
−0,004
−0,005
0,000
0,000
−0,001
0,002
0,001
0,001
0%
0,000
0,361
0,338
−0,023
Gini
Euro-19
0,000
−0,019
41 %
−0,009
0,008
−0,001
−0,014
−0,015
112 %
−0,037
0,006
−0,000
−0,003
0,000
−0,003
−0,000
−0,000 −0,006
−0,007
−0,010
0,007
0,001
−0,003 0,012
0,004
0,001
−12 %
0,004
−0,013 59 %
0,695
0,661
−0,033
90-50
1,529
1,507
−0,022
90-10
−0,005
233 %
0,028
0,002
−0,001
−0,011
0,000
−0,003
0,000
−0,004
0,006
(Fortsetzung)
−0,003
67 %
−0,004
0,001
0,000
−0,002
0,000
−0,001
−0,000
−0,002
0,002
−0,000
0,000 −0,004
33 % −0,002
−0,002
0,315
0,309
−0,006
Gini
−142 %
−0,017
0,834
0,846
0,012
50-10
6
0,005
−0,002
0,007
0,004
0,005
−3%
0,007
1,169
0,925
−0,244
50-10
Tabelle 6.6 Detaillierte Dekomposition von Lohnungleichheiten (Neugewichtung).
176 Dynamiken von Lohnungleichheiten …
0,112
−0,101
0,021
Konstante
Gewichtungsfehler
0,007
−0,214
−0,024
−0,165
0,011
0,004
0,006
−0,003
−0,033
−0,002
0,000
0,008
−0,008
−0,002
0,007
Gini
Euro-19
0,014
0,054
−0,058
−0,013
0,000
0,023
0,007
−0,033
−0,015
0,032
90-10 0,033
0,006
0,081
−0,023
−0,049
0,004
0,005
0,012
−0,048
0,008
−0,027
−0,036
0,037
−0,004
0,002
0,010
−0,010
−0,004
0,001
0,003
0,003
−0,005 0,018
−0,010
−0,000
0,005
Gini
0,014
−0,004
−0,001 −0,010
50-10
90-50
Quelle: EU-SILC 2006–2017, eigene Berechnungen. Dekomposition auf Grundlage von RIF-Regression nach der FFL-Methode. AV: log. Bruttostundenlohn in Preisen von 2015 und kaufkraftbereinigt. Kontrollvariablen: Geschlecht, Migration, Haushaltstyp, Familienstand, Führungsposition.
0,013
−0,095 −0,024
−0,002
0,000
Teilzeit
−0,260
0,000
−0,005
Befristung
−0,047
0,002
0,028
0,038
Großbetriebe
Kontrolle
−0,004
−0,044
−0,007
Branche
Länder
0,047
−0,033
0,014 0,037
0,049
0,010
0,059
Beruf
50-10
Bildung
90-50
90-10
Ungleichheitsmaß
EU-27
Tabelle 6.6 (Fortsetzung)
6.3 Das Zusammenspiel von Lohnstruktur- und Kompositionseffekten 177
178
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
es noch 2006 der Fall war und zum anderen aufgrund der Reallohneinbußen südeuropäischer Geringverdiener.
6.4
Zwischenfazit
Die Frage, die dieses Kapitel verfolgte, war, wie sich im Zuge der Eurokrise und des Krisenmanagements die EU-weiten Lohnungleichheiten entwickelt haben. Sowohl die deskriptiven Ergebnisse als auch die Befunde der UQR und Dekompositionsanalysen haben deutlich gemacht, dass die gesamteuropäischen Lohnungleichheiten sowohl in der EU als auch in einem etwas geringeren Maße in der Eurozone, zwischen 2006 und 2016 eindeutig zurückgegangen sind. Damit kann die Annahme, dass die gesamteuropäischen Lohnungleichheiten zugenommen hätten, vollständig verworfen werden (Hypothese 9). Dieser Rückgang ist weitestgehend auf eine Kompression der gesamteuropäischen Lohnverteilung zurückzuführen, d. h., aufgrund steigender Reallöhne im unteren Bereich der Verteilung bei gleichzeitig stabilen oder zum Teil sinkenden Verdiensten im oberen Bereich. Die Verteilung der Bruttostundenlöhne zwischen den europäischen Arbeitnehmern ist somit über die Krisenperiode hinweg deutlich gleicher geworden. Auch sind die Ungleichheiten zwischen den Mitgliedsstaaten zurückgegangen, wodurch es für die individuellen Verdienstchancen zunehmend unwichtiger geworden ist, aus welchem Mitgliedsland ein Arbeitnehmer stammt. Viel wichtiger ist hingegen, in welcher Position dieser sich im nationalen Stratifikationssystem befindet. Diese Veränderungen in der gesamteuropäischen Lohnverteilung sind allerdings nicht allein auf höhere Löhne der Geringverdiener zurückzuführen, sondern vielmehr das Resultat eines komplexen Zusammenspiels zwischen Veränderungen gruppenspezifischer Lohnstrukturen sowie der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft. Während letzteres allein zu einem allgemeinen Anstieg des Lohnniveaus über alle Abschnitte der Verteilung hinweg geführt hätte, waren die Veränderungen in den Reallöhnen letztlich dafür verantwortlich, dass es zu einer Reduktion der Ungleichheit kam. Der größte Anteil an diesen Veränderungen ist dabei auf die heterogene Entwicklung des Lohnniveaus zwischen den Mitgliedsstaaten zurückzuführen: Die Arbeitnehmer aus den osteuropäischen Mitgliedsstaaten konnten somit ihr Lohnniveau im erheblichen Maße steigern, wodurch es zu einem Anstieg am unteren Ende der gesamteuropäischen Lohnverteilung gekommen ist – wo ebenjene Arbeitnehmer am häufigsten vorzufinden sind. Im Gegensatz dazu zeigte sich, dass die Arbeitnehmer aus den südeuropäischen Staaten sowie aus Großbritannien einen deutlichen Rückgang in ihren
6.4 Zwischenfazit
179
Reallöhnen erfahren haben, der sich insbesondere auf den mittleren und oberen Abschnitt der EU-weiten Lohnverteilung ausgewirkt hat. Damit lässt sich die Annahme, dass insbesondere die südeuropäischen Länder von starken Lohneinbußen betroffen waren größtenteils bestätigen (Hypothese 8). Jedoch zeigen die Entwicklungen für Großbritannien, dass es ebenfalls in Nicht-Euro-Ländern zu starken Veränderungen kam. In der Mitte der Verteilung wurden die Reallohnrückgänge jedoch durch die veränderte Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft (Rückgang von typischen Geringverdienergruppen wie Jugendliche, Geringqualifizierte und Hilfsarbeitskräfte) überlagert, sodass diese Reallohneinbußen auf den ersten Blick nicht direkt erkennbar sind. Der Rückgang in der gesamteuropäischen Lohnungleichheit ist somit vielmehr einer doppelten Kompression geschuldet – „von oben“ sowie „von unten“ – und spiegelt damit nicht nur den wirtschaftlichen Aufholprozess der osteuropäischen Mitgliedsstaaten wider, sondern auch die Anpassungsprozesse insbesondere in den südeuropäischen Ländern sowie Großbritannien. Auf der individuellen Ebene lassen sich die Veränderungen in der europäischen Lohnstruktur vor allem auf eine Polarisierung der alters- und bildungsspezifischen Verdienstchancen zurückführen, d. h. auf das Verhältnis von Stamm- und Randbelegschaft. Somit fallen die Verdienstvorteile älterer und hochqualifizierter Arbeitnehmer in Großbetrieben über die Krise hinweg noch größer aus. Ein weiterer zentraler Erklärungsfaktor ist der Verdienstvorteil des öffentlichen Sektors im unteren Lohnbereich. Dieser Vorteil ist im Verlauf der Krise allerdings weggefallen. Stattdessen ist im öffentlichen Sektor ein deutlicher Verdienstnachteil im oberen Lohnbereich entstanden. Diese gruppenspezifischen Veränderungen wurden jedoch durch die Lohnentwicklungen in den Ländern, die deutlich stärker auf die gesamteuropäische Lohnverteilung wirkten, weitestgehend überlagert. Zudem kommt hinzu, dass aus dieser gesamteuropäischen Perspektive die bevölkerungsreicheren Länder überproportional zu diesen Ergebnissen beigetragen haben, da sie den Großteil der Beschäftigten in der EU stellen. Daher kann davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse für die EU-weite Lohnverteilung insbesondere durch deutsche und britische Arbeitnehmer geprägt werden – den bevölkerungsreichsten Mitgliedsstaaten. Veränderungen in den Löhnen seitens der griechischen Arbeitnehmer – wo davon ausgegangen werden kann, dass diese stattgefunden haben – werden daher deutlich unterrepräsentiert. Dies ist jedoch nicht als Nachteil zu verstehen, sondern lediglich als Konsequenz einer „echten“ EU-weiten Perspektive auf Arbeitsmarktprozesse. Vor diesem Hintergrund erweist es sich jedoch als sinnvoll, ergänzend zu dieser gesamteuropäischen Perspektive auch die inner- und zwischenstaatlichen Entwicklungen ins Auge zu fassen. Dadurch sollen die länderspezifischen Veränderungen in den individuellen Lohnunterschieden besser herausgearbeitet werden,
180
6
Dynamiken von Lohnungleichheiten …
die aus einer gesamteuropäischen Perspektive als für alle Länder identisch angenommen werden – was ohne Frage eine starke Annahme ist. Im folgenden Kapitel stehen somit die zwischen- und innerstaatlichen Entwicklungen der Lohnverteilung im Fokus.
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen der Lohnungleichheiten
Nachdem im vorherigen Kapitel die Dynamiken der gesamteuropäischen Lohnungleichheiten untersucht wurden – wobei erste Anzeichen einer heterogenen Entwicklung zwischen den Mitgliedsstaaten bereits deutlich wurden – werden im Folgenden die länderspezifischen Strukturen und Dynamiken der Lohnverteilung im Detail untersucht. Dabei stehen neben einfachen Beschreibungen der Lohnentwicklungen auch deren Erklärung auf Grundlage von Veränderungen hinsichtlich der nationalen Lohn- und Beschäftigungsstrukturen im Fokus. Auf diese Weise soll sowohl die Heterogenität zwischen den Mitgliedsstaaten herausgearbeitet werden als auch bestimmte Gemeinsamkeiten und Muster hinsichtlich der Anpassungsweise während der Krisenperiode. Dazu wird auf dieselben statistischen Verfahren wie im vorherigen Kapitel zurückgegriffen, d. h., auf unkonditionale Quantilregressionen (UQR) zur Bestimmung der länderspezifischen Lohnstrukturen, sowie auf Dekompositionsanalysen, um den jeweiligen Beitrag der Lohnund Beschäftigungsstruktur auf die Veränderungen in den nationalen Lohnungleichheiten zu identifizieren. Zuvor erfolgt jedoch eine deskriptive Analyse der Verläufe der inner- und zwischenstaatlichen Lohnungleichheiten während der Krise.
7.1
Niveau und Verteilung der Löhne in den Mitgliedsstaaten
Um einen ersten Überblick über die Heterogenität zwischen den Mitgliedsstaaten hinsichtlich des Niveaus und der Verteilung der realen Bruttostundenlöhne (in Preisen von 2015 und kaufkraftbereinigt) zu erhalten, sind in Abbildung 7.1 Box-Plots über die Mitgliedsstaaten abgebildet, die sowohl die Medianlöhne © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_7
181
182
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
Abbildung 7.1 Box-Plots über die realen Bruttostundenlöhne von 2006 und 2016. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Hinweis: Abgebildet sind die realen Bruttostundenlöhne in Euro (in Preisen von 2015 und kaufkraftbereinigt).)
7.1 Niveau und Verteilung der Löhne in den Mitgliedsstaaten
183
(horizontale Linie), den Interquartilsabstand (vertikale Box) sowie den Abstand zwischen dem Median und der 1,5-fachen Standardabweichung der Bruttostundenlöhne für 2006 und 2016 zusammenfassen. Auf diese Weise kann sowohl das Niveau als auch die Streuung der Bruttostundenlöhne erkannt und zwischen den Ländern verglichen werden. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass große Unterschiede hinsichtlich des Niveaus als auch der Verteilung der Bruttostundenlöhne zwischen den Mitgliedsstaaten bestehen – selbst wenn für die unterschiedliche Kaufkraft in den einzelnen Ländern kontrolliert wird. So lag der mittlere Bruttostundenlohn 2006 in Bulgarien beispielsweise bei 2,4 e, während er in Griechenland rund 10 e und in Luxemburg rund 20 e betrug. Luxemburgische Arbeitnehmer haben damit im Mittel etwa das 8-fache eines bulgarischen Arbeitnehmers verdient. Die innereuropäische Spannweite zwischen den Lohnniveaus war 2006 somit erheblich. Vor diesem Hintergrund lassen sich im Weiteren drei relativ grobe Ländergruppen in Abhängigkeit vom jeweiligen Medianlohn identifizieren. Dies sind zum einen die osteuropäischen Mitgliedsstaaten, die sich allesamt am unteren Ende der nach dem Median sortierten Verteilung befinden. Sie zeichnen sich nicht nur durch ein relativ geringes Lohnniveau, sondern auch durch eine relativ geringe Spreizung aus – zumindest gemessen am Interquartilsabstand, d. h., die mittleren 50 Prozent der Bruttostundenlöhne liegen sehr nahe am Medianlohn. In der Mitte dieser Verteilung finden sich überwiegend die südeuropäischen Mitgliedsstaaten, die sowohl einen deutlich höheren Medianlohn als auch eine größere Spreizung im Vergleich zu den osteuropäischen Ländern aufweisen. Das höchste Lohnniveau herrscht in den nord-westeuropäischen Mitgliedsstaaten vor, die am oberen Ende der Verteilung zu finden sind und zugleich auch mit der größten Lohnspreizung einhergehen. Die Ausnahme bilden hier die skandinavischen Länder, die durch eine geringe Lohnspreizung bei einem gleichzeitig relativ hohen Lohnniveau auffallen. Diese grobe Dreiteilung der EU-Mitgliedsstaaten nach ihrem jeweiligen Lohnniveau lässt sich größtenteils auch 2016 noch vorfinden, jedoch mit einigen Verschiebungen innerhalb dieser Gruppen: Zum einen ist Großbritannien von der oberen in die mittlere Gruppe gerutscht, da sich das mittlere Lohnniveau über die Krise hinweg von 15 auf 11 e pro Stunde reduziert hat. Auf der anderen Seite haben die osteuropäischen Länder deutliche Steigerungen hinsichtlich ihres Lohnniveaus verzeichnen können und nähern sich der mittleren Gruppe nun immer stärker an. Dies gilt insbesondere für Polen, Estland und Tschechien, während die südeuropäischen Länder Portugal und Griechenland 2016 deutlich weiter unten vorzufinden sind. Insgesamt lässt sich somit ein Abschwächen dieser Dreiteilung hin zu einer eher graduell verlaufenden Verteilung der mittleren Bruttostundenlöhne feststellen. Dies bestätigt also noch einmal die Vermutungen
184
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
des vorherigen Kapitels, dass die größten Veränderungen hinsichtlich der Lohnverteilung zum einen auf die osteuropäischen Mitgliedsstaaten und zum anderen auf die südeuropäischen Länder inklusive Großbritannien zurückzuführen sind. Für eine Übersicht der Entwicklungen hinsichtlich der Lohnspreizungen zeigt Tabelle 7.1 die vier bisher verwendeten Ungleichheitsmaße sortiert nach der Höhe des D9/D1-Verhältnisses für das Jahr 2016. Durch das Heranziehen gleich mehrerer Ungleichheitsmaße können präzisere Aussagen über die Muster zuoder abnehmender Ungleichheiten gegeben werden, beispielsweise ob diese primär in der oberen oder unteren Hälfte der Lohnverteilung stattgefunden haben. Dem D9/D1-Verhältnis nach zu urteilen, lagen die größten Ungleichheiten 2016 für die beiden Krisenländer Spanien und Zypern sowie für die beiden osteuropäischen Mitgliedsstaaten Estland und Bulgarien vor. Diese vier Länder sind es auch zugleich, die neben Italien und Malta eine deutliche Zunahme der Lohnungleichheiten aufweisen. Besonders stark zeigte sich das in Spanien (4,2 auf 5,7) und Bulgarien (3,4 auf 4,4). Der Anstieg der Lohnungleichheit ist dabei in Spanien, Estland und Italien ausschließlich auf die Entwicklungen innerhalb der unteren Hälfte der Lohnverteilung zurückzuführen, was durch den Anstieg des D5/D1-Verhältnisses bei gleichzeitig konstantem oder sinkendem D9/D5-Verhältnis dokumentiert wird. In Zypern hingegen ist die Zunahme der Ungleichheit primär auf Veränderungen im oberen Bereich der Lohnverteilung zurückzuführen, während es für Bulgarien und Malta eine Kombination aus beidem war. In allen anderen Mitgliedsstaaten ist das D9/D1-Verhältnis in diesem Zeitraum hingegen gesunken. Darunter auch (und im besonderen Maße) in den drei Programmländern Griechenland (4,7 auf 3,2), Portugal (5,7 auf 4,0) und Rumänien (4,4 auf 2,8). Dies zeigt deutlich, dass weder die Krisen an sich noch die unter der Aufsicht der Troika verhängten Austeritätsprogramme zu einer einheitlichen Entwicklung der Lohnungleichheiten geführt haben, sondern sowohl mit deutlichen Zu- als auch Abnahmen einhergegangen sind. Die Mitgliedsstaaten mit der geringsten Lohnungleichheit im Jahre 2016 sind indes Dänemark (2,4), Belgien (2,5) und die Slowakei (2,5). Somit beträgt die Differenz zwischen dem Mitgliedsstaat mit der höchsten (Spanien) und demjenigen mit der geringsten Lohnungleichheit (Dänemark) ganze 3,3 Punkte. Dies spricht für eine deutliche Heterogenität zwischen den Ländern hinsichtlich der innerstaatlichen Lohnverteilungen. Im Vergleich zum vorherigen Kapitel, das die Verschiebungen innerhalb der gesamteuropäischen Lohnverteilung beschrieb, lassen sich hinsichtlich der nationalen Ungleichheitsmaße nur bedingt ländergruppenübergreifende Aussagen tätigen. Weder die osteuropäischen noch die südeuropäischen Mitgliedsstaaten weisen einheitliche Entwicklungen hinsichtlich ihrer Lohnungleichheiten auf – sie
7.1 Niveau und Verteilung der Löhne in den Mitgliedsstaaten
185
Tabelle 7.1 Lohnungleichheiten innerhalb der Mitgliedsstaaten, 2006 und 2016 D9/D1
D9/D5
D5/D1
Gini
2006
2016
2006
2016
2006
2016
2006
2016
ES
4,2
5,7
2,2
2,2
1,9
2,7
31,3
34,5
CY
4,8
5,1
2,4
2,6
2,0
2,0
33,6
35,7
EE
4,5
5,0
2,2
2,1
2,0
2,3
32,3
33,4
BG
3,4
4,4
2,0
2,3
1,7
2,0
28,4
37,2
LU
4,5
4,3
2,2
2,1
2,1
2,0
32,9
32,0
LV
4,9
4,3
2,1
2,2
2,3
2,0
34,3
32,7
IT
3,8
4,2
2,0
1,8
1,9
2,3
30,0
29,9
IE
4,3
4,1
2,3
2,2
1,9
1,9
32,5
33,2
PT
5,7
4,0
3,1
2,6
1,8
1,6
40,1
34,1
LT
5,0
4,0
2,3
2,2
2,2
1,8
35,3
34,1
UK
3,8
3,8
2,1
2,1
1,8
1,8
31,7
32,9
DE
4,3
3,6
1,8
1,8
2,4
2,0
29,1
27,3
PL
4,8
3,5
2,4
2,2
2,0
1,6
35,1
30,4
AT
3,6
3,5
1,9
1,9
1,9
1,8
29,3
28,3
NL
3,8
3,2
1,9
1,8
2,0
1,8
31,3
26,5
MT
2,6
3,2
1,7
1,8
1,5
1,8
22,1
26,3
EL
4,7
3,2
2,4
1,8
1,9
1,8
34,2
25,2
SI
3,8
3,1
2,0
1,8
1,9
1,7
30,3
27,0
CZ
3,1
3,1
1,7
1,7
1,8
1,8
25,3
24,5
HU
3,5
3,0
2,1
1,9
1,7
1,6
31,4
26,3
SE
5,0
2,9
1,7
1,6
3,0
1,8
29,6
24,5
FR
3,1
2,8
1,8
1,8
1,7
1,6
26,6
25,2
RO
4,4
2,8
2,2
1,7
2,0
1,6
31,9
23,1
FI
3,4
2,6
1,8
1,7
1,9
1,5
27,5
22,4
SK
3,0
2,5
1,8
1,6
1,7
1,6
24,8
20,8
BE
2,7
2,5
1,7
1,6
1,6
1,5
22,6
21,1
DK
2,5
2,4
1,5
1,5
1,6
1,6
21,3
20,8
Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen.
gehen teilweise sogar in völlig konträre Richtungen, wie beispielsweise Spanien (4,2 auf 5,7) und Griechenland (4,7 auf 3,2). Die Auswirkungen der Krisen auf
186
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
die innerstaatlichen Lohnverteilungen sind somit deutlich komplexer, als dass sie mit einer einfachen Nord-Süd-Ost-Heuristik beschrieben werden könnten. Ergänzend zu Tabelle 7.1, stellt Abbildung 7.2 die Entwicklung der jeweiligen Ungleichheitsmaße noch einmal grafisch dar, indem auf der X-Achse der Ausgangswert von 2006 (wobei die gestrichelte vertikale Linie für den ungewichteten Mittelwert steht) und auf der Y-Achse die Veränderung zwischen 2006 und 2016 abgetragen wird. Anhand dieser Punktwolke lässt sich erkennen, ob in irgendeiner Weise ein Zusammenhang zwischen dem Ausgangsniveau und der Veränderung der Lohnungleichheiten existieren könnte. Eine erste vorsichtige Interpretation, die sich vor allem auf das D9/D1-Verhältnis sowie den Gini-Koeffizienten bezieht, ist, dass ein höheres Ausgangsniveau mit einem größeren Rückgang in den Lohnungleichheiten einhergeht. Die theoretische Überlegung dahinter ist, dass ein hohes Maß an Lohnungleichheit (insbesondere zwischen der untersten und obersten Verdienstgruppe) für eine ausgeprägte Spaltung der Arbeitnehmerschaft in ein primäres und sekundäres Segment steht, d. h. in gut entlohnte Stamm- und unterdurchschnittlich entlohnte Randbelegschaften. In Krisenzeiten würde die Anpassung der Arbeits- und Personalkosten dann üblicherweise über die flexiblere Randbelegschaft erfolgen, indem diese freigesetzt wird. Durch das überproportionale Herausfallen von unterdurchschnittlich bezahlten Arbeitnehmern aus der Lohnverteilung folgt dann ein Rückgang in der Lohnspreizung und damit in den Lohnungleichheiten. Der Nachteil solch aggregierter Lohnungleichheitsmaße ist jedoch, dass diese Werte nichts über die dahinterliegenden Prozesse aussagen, d. h., ob ein Rückgang der Ungleichheit durch Zuwächse in den unteren Abschnitten der Lohnverteilung oder durch Reallohneinbußen am oberen Ende der Verteilung stattgefunden haben. Um sich daher den dahinterliegenden Dynamiken zu nähern, sollen im Folgenden die länderspezifischen Entwicklungen der Löhne an drei unterschiedlichen Abschnitten der Lohnverteilung genauer betrachtet werden. Abbildung 7.3 zeigt dazu die Entwicklungen des ersten, fünften und neunten Dezils (D1, D5 und D9) der realen Bruttostundenlöhne über die Jahre 2006–2016. Trotz der zum Teil sehr unterschiedlich verlaufenden Entwicklungen zwischen den Ländern, lassen sich dennoch einige gemeinsame Trends erkennen, die im Folgenden anhand von vier Mustern herausgearbeitet werden sollen. Polarisierung: Für Spanien, Italien und Zypern lässt sich neben dem Rückgang des D5 und D9 vor allem ein starker Rückgang des D1 verzeichnen – und zwar von rund 20 Prozent. Das bedeutet, dass das Lohnniveau am unteren Ende der Verteilung über die Zeit um rund ein Fünftel gesunken ist, was auch die Zunahme der Lohnungleichheiten in diesen Ländern erklärt. Es lässt sich somit eine deutliche Anpassung der unteren Reallöhne über die Krisenperiode hinweg dokumentieren.
7.1 Niveau und Verteilung der Löhne in den Mitgliedsstaaten
187
Abbildung 7.2 Entwicklung länderspezifischer Ungleichheitsmaße, 2006–2016. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Die gestrichelte Linie der X-Achse ist der ungewichteten Durchschnitt über alle Länder.)
188
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
Neben diesen drei südeuropäischen Mitgliedsstaaten kam es hingegen auch noch in den Niederlanden, Tschechien, Malta und Irland zu einem stärkeren Rückgang der unteren Verdienste. In diesen drei Ländern gingen die unteren Löhne nach einer Phase des starken Anstiegs, mit einem deutlichen Rückgang über die Krisenjahre einher, der jedoch bereits 2014 mit einem Wiederanstieg auf das Vorkrisenniveau rasch endete. Bulgarien und Estland weisen ebenfalls einen kurzfristigen Einbruch der unteren Verdienste auf, der jedoch nicht länger als ein Jahr anhielt. Kompression von oben: Griechenland, Portugal, Rumänien und teilweise auch Luxemburg zeichnen sich hingegen durch einen überproportionalen Rückgang der Verdienste am oberen Ende der Lohnverteilung aus, was zugleich die deutliche Verringerung der Lohnungleichheiten insbesondere in Form des D9/D5Verhältnisses, in eben diesen Ländern erklärt. Zwar kam es auch in allen anderen Dezilen zu einem Rückgang der Verdienste, diese fanden jedoch auf einem niedrigeren Niveau statt. Reallohnanpassungen fanden in diesen Ländern also vor allem bei den Besserverdienern statt. Kompression von unten: In den fünf osteuropäischen Ländern Lettland, Litauen, Slowenien, Polen und der Slowakei aber auch in den nordwesteuropäischen Mitgliedsstaaten Schweden, Dänemark, Finnland und Deutschland sind die Lohnentwicklungen zwischen 2006 und 2016 vor allem durch hohe Zugewinne der unteren Verdienste gekennzeichnet. Auch wenn diese zu Beginn der Krise (2009) kurzzeitig zurückgegangen sind, sind sie im Anschluss daran wieder deutlich angestiegen. Somit lag in Deutschland, Finnland und Schweden der Zugewinn der unteren Verdienste weit über denen des D5 und D9. Auch in den osteuropäischen Ländern sind die unteren Reallöhne über die Zeit bis zu 80 Prozent angestiegen, was den starken Rückgang des D5/D1- und D9/D1-Verhältnisses erklärt Parallelverschiebung: Die vierte Gruppe zeichnet sich durch Länder aus, die eine relativ gleichmäßige Entwicklung der drei Dezile aufzeigen. So sind in Belgien, Frankreich und im eingeschränkten Maße auch in Österreich die Löhne über die gesamte Verteilung hinweg angestiegen und tragen somit zu keinen großartigen Veränderungen der Lohnungleichheiten bei. Ähnlich sieht es auch in Ungarn und Großbritannien aus. Allerdings kam es hier zu einem gleichmäßigen Rückgang des Reallohns in allen drei Dezilen von bis zu 20 Prozent. Ausbleibende Veränderungen in den Lohnungleichheitsmaßen gehen somit nicht zwangsläufig mit unveränderten Lohnverteilungen einher. Dahinter können auch große Veränderungen oder Schwankungen in den Reallöhnen liegen, die jedoch einigermaßen gleichmäßig über die unterschiedlichen Verdienstklassen verteilt sind.
7.1 Niveau und Verteilung der Löhne in den Mitgliedsstaaten
189
Abbildung 7.3 Entwicklung unterschiedlicher Lohndezile (Index: 2006 = 100). (Quelle: EU-SILC 2007–2017, eigene Berechnungen. Hinweis: Die Werte sind auf das Jahr 2006 indexiert und können dementsprechend als prozentuale Veränderung gegenüber 2006 interpretiert werden.)
190
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
Abbildung 7.3 (Fortsetzung)
Diese Trends in den Lohnungleichheiten sind in Tabelle 7.2 noch einmal zusammengefasst. Es lassen sich grob vier Muster identifizieren, die mit den theoretischen Erwartungen korrespondieren, die in Kapitel 3 hinsichtlich der möglichen personalpolitischen Anpassungsformen und den daraus resultierenden Auswirkungen auf die Lohnverteilung formuliert wurden. Um die Ursachen
7.2 Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen
191
für diese heterogenen Entwicklungen zwischen den Mitgliedsstaaten erklären zu können, werden im nächsten Schritt die Veränderungen der nationalen Lohnungleichheiten auf den Beitrag der veränderten Lohn- und Beschäftigungsstrukturen hin untersucht, um die Frage zu beantworten, ob die unterschiedlichen Muster in der Lohnentwicklung auf die Veränderten Beschäftigungschancen bzw. -risiken bestimmter Arbeitnehmergruppen oder auf deren Entlohnung zurückzuführen sind
Tabelle 7.2 Länderspezifische Trends in der Lohnungleichheit Mitgliedsstaaten
Trend in der Lohnungleichheit
I
Spanien, Zypern, Italien, Malta, Bulgarien, Estland, (Niederlande, Tschechien, Irland)
Starker Rückgang der unteren Verdienste und Zunahme der Lohnungleichheit – insbesondere D5/D1 (Polarisierung)
II
Griechenland, Portugal, Rumänien, (Luxemburg)
Rückgang der Verdienste am oberen Ende der Lohnverteilung und deutliche Abnahme der Lohnungleichheiten – insbesondere D9/D5 (Kompression von oben)
III
Polen, Lettland, Litauen, Slowenien, Slowakei, Schweden, Finnland, Deutschland, (Dänemark)
Hoher Anstieg der unteren Verdienste und Rückgang der Lohnungleichheiten – insbesondere D5/D1 und D9/D1 (Kompression von unten)
IV
Großbritannien, Belgien, Frankreich, (Österreich, Ungarn)
Löhne über die gesamte Verteilung hinweg angestiegen (gesunken), keine großartigen Veränderungen in der Lohnungleichheit (Parallelverschiebung)
Quelle: Eigene Darstellung. Für die Länder in Klammern gilt der beschriebene Trend nur im eingeschränkten Maße.
7.2
Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen
Im Folgenden sollen die Veränderungen der nationalen Lohnstrukturen näher untersucht werden, die Aufschluss darüber geben können, wie gruppenspezifische Verdienstunterschiede möglicherweise zu den Entwicklungen der aggregierten Lohnungleichheiten beigetragen haben. Dazu werden die Ergebnisse der UQRModelle (Firpo et al. 2018, 2009), wie sie bereits im vorherigen Kapitel verwendet wurden, vorgestellt, die für alle Mitgliedsstaaten für die jeweiligen drei Quantile
192
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
sowie 2006 und 2016 berechnet wurden. Dabei bildet der reale log1 Bruttostundenlohn wieder die abhängige Variable, die diesen Regressionsmodellen zugrunde liegt. Als erklärende Variablen sind erneut personenbezogene (Alter und Bildung), arbeitsplatzspezifische (Beruf, Vertragstyp und Arbeitszeit) sowie betriebsspezifische Merkmale (Sektor und Betriebsgröße) in den Modellen enthalten. Weiterhin wird für Merkmale wie Geschlecht, Familienstand, Haushaltstyp und Führungsposition kontrolliert. Aufgrund der hohen Komplexität, die mit einem solchen Ländervergleich einhergeht (27 Länder * 2 Zeitpunkte * 3 Dezile = 162 Regressionsmodelle), ist es aus Gründen der Übersichtlichkeit notwendig, auf eine vereinfachte Darstellung der Regressionsergebnisse zurückzugreifen. Dazu werden die Koeffizienten der Modelle für die jeweiligen zwei Jahre einfach gegeneinander geplottet, um auf diese Weise länderspezifische Veränderungen zu identifizieren. Dieser erste Schritt wird benötigt, um im weiteren Verlauf die Ergebnisse der Dekompositionsanalyse interpretieren zu können. Das primäre Ziel dieses Abschnitts ist somit keine tiefgreifende Analyse auf der Länderebene, sondern einen Überblick über größere Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen zu geben, um gegebenenfalls Muster hinsichtlich der veränderten Verdienstchancen herauszuarbeiten. Abbildung 7.4 zeigt die gruppenspezifischen Koeffizienten (von oben nach unten) für das 10., das 50. sowie das 90. Perzentil (von links nach rechts), einmal für das Jahr 2006 (X-Achse) und einmal für 2016 (Y-Achse). Dabei sind die Koeffizienten, die oberhalb der Diagonalen liegen, während der Krisenperiode gestiegen, die darunter liegenden hingegen gesunken. Im Grunde entsprechen die Ergebnisse den allgemeinen EU-weiten Entwicklungen, die bereits im vorherigen Kapitel aufgezeigt wurden. Jedoch kommt es Stellenweise zu unterschiedlichen Entwicklungen innerhalb der Länder, auf die im Besonderen eingegangen werden soll. Auch in diesem Fall stehen wieder personenbezogene (Alter, Bildung), arbeitsplatzspezifischen (Beruf, Vertrag, Arbeitszeit) sowie betriebsspezifische (Sektor, Betriebsgröße) Merkmale im Mittelpunkt. Personenbezogene Einflussfaktoren Für Jugendliche lässt sich insgesamt ein Verdienstnachteil am unteren Ende der Lohnverteilung in allen Mitgliedsstaaten konstatieren, der entlang der Quantile
1 Das
Logarithmieren des Bruttostundenlohns erfolgt, weil dadurch die rechtsschiefe Lohnverteilung so transformiert wird, dass annäherungsweise eine Normalverteilung der Löhne erreicht wird. Des Weiteren lassen sich die Koeffizienten so leichter und intuitiver als annährend prozentuale Veränderungen der abhängigen Variablen interpretieren, wodurch relative statt absolute Lohnunterschiede in den Fokus gestellt werden.
7.2 Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen
193
Abbildung 7.4 Ergebnisse unkonditionaler Quantilregressionen für die Mitgliedsstaaten. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnungen. Abgebildet sind die Koeffizienten der länderspezifischen UQR-Modelle für drei Quantile (10., 50. und 90. Perzentil) für die Jahre 2006 und 2016. Koeffizienten oberhalb der Diagonalen stehen für Zuwächse, unterhalb für Abnahmen der marginalen Effekte des jeweiligen Merkmals auf den realen log. Bruttostundenlohn.)
194
Abbildung 7.4 (Fortsetzung)
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
7.2 Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen
Abbildung 7.4 (Fortsetzung)
195
196
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
Abbildung 7.4 (Fortsetzung)
jedoch geringer ausfällt. Somit geht ein höherer Anteil an jugendlichen Arbeitnehmern in allen Mitgliedsstaaten mit einer Zunahme der Lohnspreizung einher, wohingegen ein sinkender Anteil die Lohnverteilung in allen Mitgliedsstaaten komprimieren würde. Besonders in Deutschland, den Niederlanden, Italien und Dänemark war der Verdienstabstand zwischen Jugendlichen und der Kernaltersgruppe im Jahr 2006 stark ausgeprägt. Die einzige Ausnahme bilden Estland und Litauen, wo zumindest 2006 kein signifikanter Verdienstnachteil für jugendliche Arbeitnehmer existierte. Über die Krise hinweg ist dieses altersspezifische Lohngefälle in den meisten Ländern noch größer geworden, beispielsweise in Spanien, wo der Lohnunterschied von −0,21 auf −0,88 log-Punkte gefallen ist. Aber auch in Österreich, Estland, Litauen, Dänemark, Zypern und Frankreich haben Jugendliche Reallohneinbußen im Vergleich zur Kernaltersgruppe erfahren. In Italien, Deutschland, Slowenien sowie in Griechenland und Portugal sind diese Lohnunterschiede allerdings zurückgegangen. Ältere Arbeitnehmer fallen in so gut wie allen Ländern durch Verdienstvorteile gegenüber der Kernaltersgruppe im oberen Abschnitt der Lohnverteilung auf. Diese Alters- bzw. Senioritätslöhne fallen vor der Krise neben Belgien, Zypern und Italien vor allem in Luxemburg am größten aus. Ein steigender Anteil an älteren Arbeitnehmern – bedingt durch den demografischen Wandel, oder dadurch, dass sie während der Krise
7.2 Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen
197
eine höhere Beschäftigungssicherheit genießen – würde demnach zu einem überproportionalen Anstieg des oberen Dezils führen und somit die Lohnspreizung vergrößern. Über die Krise hinweg ist dieser „Senioritätsbonus“ in Ländern wie Estland, Griechenland, Großbritannien, Portugal, Österreich oder Spanien noch weiter gestiegen, während er in Luxemburg am deutlichsten zurückgegangen ist: Aber auch in Italien, Frankreich, Belgien und Irland hat er abgenommen. Damit lässt sich insbesondere für Österreich, Estland und Spanien eine starke altersspezifische Polarisierung der Lohnstruktur beobachten, indem jüngere Arbeitnehmer weniger, ältere dafür mehr verdienen als noch vor der Krise. Hinsichtlich der qualifikationsspezifischen Verdienstunterschiede zeigt sich für geringqualifizierte Arbeitnehmer, dass sie über alle Mitgliedsstaaten hinweg deutlich geringere Löhne aufweisen als mittelqualifizierte Arbeitnehmer – insbesondere in der unteren Hälfte der Lohnverteilung. Über die Krise hinweg ist das Lohngefälle zwischen Gering- und Mittelqualifizierten dann noch weiter angestiegen, insbesondere in den Ländern, die bisher durch eine starke Zunahme der Lohnungleichheiten aufgefallen sind, d. h. in Zypern, Estland, Bulgarien sowie Spanien und Italien. Der Anstieg der Lohnungleichheit in diesen Ländern könnte somit vor allem auf qualifikationsbedingte Veränderungen der Lohnstruktur zurückzuführen sein. In Rumänien, Großbritannien, Österreich, Portugal, Slowenien und Irland fand hingegen eine Angleichung der Löhne zwischen Gering- und Mittelqualifizierten während der Krisenperiode statt. Ob dies an steigenden Löhnen der Geringqualifizierten oder an sinkenden Löhnen der Mittelqualifizierten liegt, kann an dieser Stelle allerdings nicht gesagt werden. Demgegenüber liegen die Verdienste von Hochqualifizierten über alle Quantile hinweg über denen von Mittelqualifizierten. Diese „Bildungsrendite“ lässt sich in allen Mitgliedsstaaten gleichermaßen beobachten. Allerdings fällt sie besonders groß in Portugal aus, aber ebenso in Ungarn, Rumänien und Polen. In den meisten Mitgliedsstaaten ist dieser Lohnvorteil während der Krise jedoch gesunken, insbesondere in den Ländern, in denen dieser zuvor überdurchschnittlich hoch ausfiel, d. h. in Portugal, Ungarn, Rumänien und Polen. Dort hat sich der Verdienstvorteil von Hochqualifizierten beinahe halbiert. In diesen Ländern fanden Anpassungen der Löhne also primär bei den Besserverdienern statt, was auch die starken Rückgänge der Lohnungleichheit im oberen Abschnitt der Verteilung, d. h. im 90/50-Verhältnis, erklärt. Insgesamt kann somit aufgrund von abnehmenden Verdiensten für Geringqualifizierte bei gleichzeitig steigenden Verdiensten für die Hochqualifizierten für Spanien, Bulgarien und Malta eine vertiefende Spaltung der qualifikatorischen Lohnungleichheiten festgestellt werden. Spanien fällt dahingehend auf, dass sowohl eine zunehmende Spaltung zwischen Jugendlichen und Älteren als
198
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
auch zwischen Gering- und Hochqualifizierten zu verzeichnen ist. Damit könnte sich der starke Anstieg des 50/10- und 90/10-Verhältnisses vor allem durch den Rückgang der Verdienste von Geringqualifizierten und Jugendlichen erklären. Arbeitsplatzspezifische Einflussfaktoren Hinsichtlich der berufsstrukturellen Lohnunterschiede zeigt sich analog zu den hochqualifizierten Arbeitnehmern, dass Akademiker und Manager über alle Mitgliedsstaaten hinweg deutlich höhere Stundenlöhne aufweisen als einfache Fachkräfte. Am größten fällt dieser Lohnvorteil in den südeuropäischen Ländern Spanien, Portugal, Zypern, Italien und Griechenland aus, aber auch in Luxemburg, Rumänien und Frankreich. Allerdings waren es zugleich auch die Länder, in denen die größten Lohneinbußen für Akademiker und Manager über die Krisenperiode zu beobachten sind, die teilweise zu einer Halbierung des Verdienstvorteils führten. Nur in wenigen Ländern sind die relativen Löhne von Akademikern und Managern während der Krise weiter gestiegen, beispielsweise in Bulgarien sowie teilweise in Portugal und Irland. Auch gehobene Fachkräfte verdienen über alle Mitgliedsstaaten hinweg und entlang der gesamten Lohnverteilung mehr als einfache Fachkräfte. Diese Verdienstvorteile sind besonders ausgeprägt am Median und am obersten Dezil sowie in Portugal, Großbritannien, Estland, Frankreich, Rumänien und Luxemburg. Doch genau in diesen Ländern sind wiederum die deutlichsten Rückgänge während der Krise zu verzeichnen – ein ähnliches Muster wie bei den Akademikern und Managern. Hilfsarbeitskräfte verdienen in der Mehrheit der Länder weniger als einfache Fachkräfte insbesondere am untersten Dezil und am Median. Dieser Verdienstnachteil hat sich während der Krise vor allem in den Niederlanden, Schweden, Tschechien, Italien, der Slowakei und in Finnland noch weiter vergrößert. Hingegen haben sich die Löhne von Hilfsarbeitern und einfachen Fachkräften insbesondere in Estland, Frankreich, Lettland, Deutschland und Luxemburg und im geringeren Maß auch in Portugal und Polen weiter angeglichen. Verdienstunterschiede zwischen befristet und unbefristet beschäftigten Arbeitnehmern bestehen in so gut wie jedem Mitgliedsland, insbesondere am unteren Ende der Lohnverteilung, d. h. im Niedriglohnsektor. Damit gehen befristete Verträge häufig mit einem doppelten Risiko einher: Nicht nur die Löhne in diesen Arbeitsverhältnissen sind geringer, sondern auch die Beschäftigungssicherheit. Befristete Verträge sind somit in vielen Mitgliedsstaaten ein Paradebeispiel für eine flexible Randbelegschaft im sekundär-externen Arbeitsmarktsegment. Dieser Verdienstnachteil war besonders ausgeprägt in Zypern, Deutschland, Finnland und Rumänien sowie in Estland, Polen und Luxemburg. Im Zuge der Krise haben sich diese vertragsspezifischen Lohnungleichheiten in einem Teil der Mitgliedsstaaten
7.2 Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen
199
noch weiter vergrößert, insbesondere aber in Spanien, Estland und Italien – diejenigen Länder mit der größten Zunahme in den Lohnungleichheiten. Ähnlich wie bei den befristeten Arbeitsverträgen, sieht es auch bei der Teilzeitbeschäftigung aus. Gerade im unteren Abschnitt der Lohnverteilung gehen Teilzeitbeschäftigte im Vergleich zu Arbeitnehmern in Vollzeit gerade im unteren und mittleren Bereich der Lohnverteilung mit zum Teil deutlich niedrigeren Bruttostundenlöhnen einher. Dies ist besonders ausgeprägt in Rumänien, Slowenien und Litauen. In genau diesen Ländern ist das Lohngefälle zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten während der Krise aber noch einmal größer geworden – zumindest im Niedriglohnsegment. Betriebsspezifische Einflussfaktoren Neben den personenbezogenen und arbeitsplatzspezifischen Lohndifferenzen zeigen sich auch hinsichtlich des Sektors, in dem die Unternehmen und Beschäftigten tätig sind, große Unterschiede und Veränderungen während der Krise. Das Baugewerbe ging insbesondere im unteren und mittleren Lohnsegment mit durchschnittlich höheren Verdiensten einher als die Industrie. Diese Verdienstvorteile sind während der Krise allerdings in Spanien sowie in Estland, Zypern Litauen, Irland und Griechenland deutlich zurückgegangen, was vermutlich primär auf die geplatzte Immobilienblase und die Krise des Bausektors zurückzuführen ist. Der Dienstleistungssektor weist im Allgemeinen und im Vergleich zur Industrie eine große Bandbreite an Bruttostundenlöhnen auf. So fallen die Verdienste in der Regel geringer im unteren Abschnitt der Lohnverteilung aus, diese werden jedoch größer, je höher man in der Lohnverteilung kommt. Oder einfacher ausgedrückt: In den meisten Mitgliedsstaaten weist der Dienstleistungssektor sowohl sehr gering entlohnte als auch sehr hoch entlohnte Beschäftigungsmöglichkeiten auf. Insbesondere für Italien und Spanien zeigt sich ein deutlicher Rückgang der Entlohnung ebendieser Tätigkeiten im Dienstleistungssektor am unteren Ende der Lohnverteilung. Für den öffentlichen Dienst verhält es sich genau umgekehrt zum Dienstleistungssektor. Hier fällt vor der Krise in den meisten Staaten der Verdienstvorteil insbesondere am unteren Ende der Lohnverteilung sehr groß aus und nimmt dann entlang der aufsteigenden Quantile ab. Lediglich in den südeuropäischen Ländern zuzüglich Rumäniens findet sich ein Verdienstvorteil des öffentlichen Sektors auch im oberen Abschnitt der Verteilung. Während der Krise ist dieser allerdings in allen Abschnitten der Lohnverteilung deutlich zurückgegangen. Insbesondere die südeuropäischen Mitgliedsstaaten Portugal, Italien, Griechenland und Spanien aber auch in Lettland, Litauen, Bulgarien sowie Großbritannien
200
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
sind die Verdienste im öffentlichen Dienst deutlich gesunken, insbesondere für Besserverdiener. Hinsichtlich der Betriebsgröße lässt sich abschließend festhalten, dass Arbeitnehmer in Großbetrieben über die gesamte Lohnverteilung hinweg und in allen Mitgliedsstaaten einen höheren Bruttostundenlohn aufweisen als Arbeitnehmer in kleinen und mittleren Betrieben. Dieser Lohnvorteil in den Großbetrieben ist während der Krise jedoch insbesondere im unteren Abschnitt der Lohnverteilung in vielen Mitgliedsstaaten zurückgegangen – wie beispielsweise in Malta, Schweden, Ungarn, Rumänien und Slowenien. Damit sind besonders Geringverdiener in Großbetrieben von Lohneinbußen betroffen, die häufig der Randbelegschaft angehören. Die länderspezifische Betrachtung der nationalen Lohnstrukturen macht deutlich, dass sie im Großen und Ganzen den Ergebnissen der gesamteuropäischen Betrachtung entsprechend. Jedoch kommt es stellenweise zu erheblichen Abweichungen und Unterschieden zwischen den Ländern und damit vom EU-weiten Trend. Gerade hinsichtlich der Verdienste von Hochqualifizierten, weichen viele Mitgliedsstaaten vom EU-weiten Trend ab. Das liegt daran, dass die Entwicklungen der Lohnstrukturen in kleineren Mitgliedsstaaten, die dementsprechend einen geringeren Anteil an der gesamteuropäischen Arbeitnehmerschaft haben, in einer EU-weiten Perspektive leicht untergehen können. Dabei zeigen insbesondere die kleineren baltischen Länder aber auch Portugal oder Zypern starke Veränderungen in den nationalen Lohnstrukturen. Um jedoch ein vollständiges Bild über das Zusammenspiel der individuellen Verdienstchancen und den Beschäftigungsstrukturen zu erhalten und auf diese Weise Rückschlüsse hinsichtlich der dominanten Anpassungsformen in den Nationalstaaten ziehen zu können, werden in einem weiteren Schritt die Gesamtveränderungen in Lohn- und Kompositionseffekte zerlegt.
7.3
Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends
Im Folgenden werden die Ergebnisse der länderspezifischen Dekompositionsanalysen präsentiert, die die Veränderungen der Lohnungleichheiten in jedem Mitgliedsstaat in einen Lohnstruktureffekt – wie bereits weiter oben illustriert (vgl. Abbildung 7.4) – sowie in einen Kompositionseffekt zerlegen. Dabei wird sich in erster Linie auf die 90-10-Differenz (die Differenz bzw. Abstand zwischen den log. Bruttostundenlöhnen von Arbeitnehmern im 90. und 10. Perzentil
7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends
201
der Verteilung2 ) fokussiert und nur dort, wo es für das Verständnis der ungleichheitsgenerierenden Prozesse hilfreich ist, um die Ergebnisse für die 90-50- und 50-10-Differenz ergänzt (siehe Abbildung 7.6 und Abbildung 7.7).
7.3.1
Aggregierte Dekomposition
Abbildung 7.5 a) zeigt die Gesamtveränderung (Gesamteffekt) der 90-10Differenz sowie die jeweiligen Anteile des Lohnstruktur- und Kompositionseffekts. Insgesamt zeigt sich, dass in sieben der 27 Mitgliedsstaaten signifikante Zunahmen3 und in 13 Staaten Abnahmen zu verzeichnen sind, während für Frankreich, Irland, die Niederlande, Luxemburg, Großbritannien, Österreich und Tschechien keine signifikanten Veränderungen des Gesamteffekts vorliegen. Abbildung 7.6 und Abbildung 7.7 zeigen zudem, dass insbesondere in Spanien, Italien und Estland aber auch in Schweden, Litauen und Polen die Veränderungen in der Lohnungleichheit vor allem in der unteren Hälfte der Lohnverteilung (50-10) stattgefunden haben, während sie in Bulgarien, Griechenland und Zypern eher auf die obere Hälfte (90-50) zurückzuführen sind. Für Portugal und Rumänien war hingegen eine Kombination aus beidem ausschlaggebend für den starken Rückgang in der Lohnungleichheit. Hinsichtlich des Erklärungsbeitrags von Lohnstruktur- und Kompositionseffekt zeigt sich, dass diese über alle Mitgliedsstaaten hinweg stark variieren. So beträgt der Anteil des Lohnstruktureffekts an der Gesamtveränderung zwischen 0,387 in Spanien und −0,489 log-Punkten in Portugal. Das bedeutet, dass die Lohnungleichheit, gemessen an der 90-10-Differenz, in Spanien um annähernd 39 statt der 33 Prozent gestiegen und in Portugal um 49 statt der 33 Prozent gesunken wäre, wenn die Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft immer noch der von 2006 entspräche. Daran wird ersichtlich, dass nicht bloß Veränderungen in der Lohnstruktur, d. h. in der unterschiedlichen Entlohnung bestimmter Arbeitnehmergruppen, sondern auch die Zusammensetzung der Gesamtarbeitnehmerschaft nach
2 Da
die abhängige Variable (Bruttostundenlohn) logarithmiert wurde, werden die jeweiligen Dezilverhältnisse üblicherweise als Differenzen zwischen den Dezilen angegeben, da der Abstand zwischen zwei logarithmierten Punkten dem Verhältnis ihrer exponenzierten Werte entspricht. 3 Die Werte können ein wenig von denen aus Tabelle 7.1 abweichen, da diese das Ergebnis von Regressionsmodellen sind, wo fehlende Werte für die einzelnen unabhängigen Variablen möglich sind.
202
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
a) Zerlegung des Gesamteffekts
0.4 0.2 0 -0.2 -0.4 -0.6
RO EL SE PT PL LT HU SK SI LV FI DE BE FR IE NL LU UK AT CZ DK CY EE IT MT BG ES Komposion
Lohnstruktur
Gesamt
b) Zerlegung des Komposionseffekts
0.2
0.1
0
-0.1
-0.2 RO EL SE PT PL LT HU SK SI LV FI DE BE FR IE NL LU UK AT CZ DK CY EE IT MT BG ES Alter Sektor
Bildung Großbetrieb
Beruf Kontrolle
Befristung Komposion
Teilzeit
c) Zerlegung des Lohnstruktureffekts
0.6 0.4 0.2 0 -0.2 -0.4 -0.6 -0.8
RO EL SE PT PL LT HU SK SI LV FI DE BE FR IE NL LU UK AT CZ DK CY EE IT MT BG ES Alter Sektor
Bildung Großbetrieb
Beruf Kontrolle
Befristung Konstante
Teilzeit Lohnstruktur
Abbildung 7.5 Dekomposition der 90-10-Differenz, 2006–2016. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnung. RIF-Dekompositionen nach der FFL-Methode.)
7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends
203
diesen unterschiedlichen Gruppen einen entscheidenden Einfluss auf die Gesamtveränderung haben. Sie können dabei entgegengesetzt verlaufen wie in Spanien oder Portugal, aber auch in dieselbe Richtung wirken wie beispielsweise in Italien. Der Kompositionseffekt fällt mit Werten zwischen −0,063 für Spanien und bis zu 0,155 log-Punkten für Portugal jedoch deutlich geringer aus. Demnach wäre die Lohnungleichheit in Spanien – bei konstanten Löhnen – aufgrund der veränderten Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft sogar um 6 Prozent zurückgegangen und in Portugal stattdessen um rund 16 Prozent gestiegen. Das bedeutet einfach gesagt, dass die Entlassungen (oder Einstellungen) bestimmter Arbeitnehmergruppen während der Krisenperiode einen geringeren Einfluss auf die Veränderungen der Lohnungleichheiten genommen haben als die Entlohnung ebendieser. Vor diesem Hintergrund werden die Vorteile einer solchen Dekompositionsanalyse noch einmal deutlich, indem ungleichheitsgenerierende Prozesse aufgedeckt werden, die ansonsten verborgen geblieben wären. Nach dieser aggregierten Darstellung der Gesamtveränderungen soll im Folgenden näher auf die gruppenspezifischen Erklärungsbeiträge zur Lohn- und Beschäftigungsstruktur eingegangen werden, die Hinweise auf die betrieblichen Anpassungsstrategien in den jeweiligen Mitgliedsstaaten geben.
7.3.2
Detaillierte Dekomposition
Abbildung 7.5 b) und c) zeigen die jeweilige Zerlegung des Kompositions- und Lohnstruktureffekts in die erklärenden Anteile der jeweiligen personenbezogenen, arbeitsplatz- und betriebsspezifischen Merkmale für jedes der 27 Mitgliedsstaaten. Die Anteile der Fehlerkomponenten wurden dabei aus Gründen der Übersichtlichkeit außen vor gelassen, weshalb die Summen der einzelnen Effekte nicht immer exakt 100 Prozent ergeben. Auf dem ersten Blick zeigt sich, dass sich nicht nur die Größe, sondern auch die Zusammensetzung der Lohnstruktur- und Kompositionseffekte erheblich zwischen den Ländern unterscheiden. Dennoch lassen sich für den Kompositionseffekt zwei zentrale Bestimmungsfaktoren hervorheben, die in so gut wie allen Ländern zur Veränderung der Beschäftigungsstruktur beigetragen haben: zum einen die beruflichen Tätigkeiten und zum anderen das Bildungsniveau. Das bedeutet, dass die hinsichtlich des Bildungsniveaus und der beruflichen Tätigkeit veränderten Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft mit einer zunehmenden Lohnungleichheit einhergeht. Im Vergleich dazu zeigt sich, dass die Lohnstruktureffekte in den Mitgliedsstaaten deutlich ausgeprägter sind und dementsprechend
204
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
einen größeren Erklärungsbeitrag leisten, sich im Vergleich zum Kompositionseffekt aber keine länderübergreifenden und dominanten Erklärungsfaktoren identifizieren lassen. Sie sind somit im deutlich höheren Maße länderspezifisch ausgeprägt. Der hohe Erklärungsbeitrag der beruflichen Tätigkeiten am Kompositionseffekt lässt sich beispielsweise für Portugal damit erklären, dass in erster Linie der Anteil an Akademikern und Managern stark gestiegen ist (um rund 9 Prozentpunkte, was einer Zunahme von 72 Prozent entspricht, vgl. Tabelle 7.3). Das gilt zum Teil auch für gehobene Fachkräfte (um 2,7 Prozentpunkte bzw. 27 Prozent). Dabei ist der relative Anteil einfacher Fachkräfte und Hilfsarbeitskräfte deutlich zurückgegangen. Für die Lohnverteilung bedeutet dies (und das zeigt der positive Effekt der Berufe), dass der größere Anteil an besserverdienenden Berufsgruppen die Spreizung der Löhne und damit auch die Lohnungleichheit vergrößert. Auch in Österreich, Spanien, Frankreich, Estland und Großbritannien lassen sich ähnliche Trends hinsichtlich einer starken Zunahme von Akademikern und gehobenen Fachkräften bei gleichzeitiger Abnahme von einfachen Fachkräften und Hilfsarbeitskräften erkennen. Letztere wurden somit überproportional aus dem Arbeitsmarkt verdrängt, was für ein höheres Ausmaß an extern-numerischen Anpassungsmaßnahmen bezüglich dieser Beschäftigtengruppen spricht. Dadurch zeichnet sich eine starke Verschiebung der Beschäftigungsstruktur zugunsten höherer qualifizierter und bezahlter Tätigkeiten ab, die zeitgleich zu einer zunehmenden Lohnspreizung beiträgt. Diese Beobachtung entspricht auch weitestgehend der „skill-biased technological change“-Hypothese (Acemoglu 2002; Card und DiNardo 2002), die von einer zunehmenden Nachfrage nach hochqualifizierter Arbeit im Zuge des technologischen Wandels ausgeht und dadurch auch das Arbeitsangebot prägt. So zeigt sich beispielsweise in Slowenien, Polen, Lettland und Litauen aber auch in Dänemark eine starke Akademisierung der Arbeitnehmerschaft, d. h. eine Zunahme von Akademikern und Managern bei einem gleichzeitigen Rückgang aller anderen Berufsgruppen. Auch diese Entwicklung wirkt sich positiv auf die Lohnspreizung in diesen Ländern aus. Italien sticht hingegen dadurch hervor, dass der ungleichheitssteigernde Effekt vor allem durch den Wegfall zahlreicher gehobener und einfacher Facharbeitskräfte zugunsten von Akademikern und Hilfsarbeitskräften erklärt werden kann. Hier handelt es sich also eher um eine Polarisierung der Arbeitnehmerschaft (Goos et al. 2009) in Form einer gleichzeitigen Zunahme hochbezahlter sowie geringbezahlter Tätigkeiten. In der Mehrheit der Mitgliedsstaaten führten hingegen Veränderungen in der Entlohnung unterschiedlicher beruflicher Tätigkeiten
5,9 (63)
-4,0 (-30) -1,6 (-10) -3,5 (-22)
Ältere Arbeitnehmer
9,8 (86)
Akademiker/Manager
-1,4 (-10) 1,8 (34)
2,2 (10) -1,0 (-10) -5,2 (-46)
5,3 (29)
-6,2 (-23) -3,6 (-19) -7,1 (-21)
Industrie
1,3 (4) 4,8 (8)
6,2 (29)
1,0 (2)
Öffentlicher Dienst
Großbetriebe
(7)
0,4 (7)
Dienstleistungen
2,4
0,8 (10)
0,6 (1)
Baugewerbe
-5,2 (-14)
-0,9 (-4)
7,2 (21)
-3,7 (-34)
(-72) -3,7 (-45)
0,3 (4)
-1,3 (-64) -0,5
Befristet
Agrarwirtschaft
7,9 (60)
8,1 (55)
-6,3 (-8)
(55)
(-7)
(-9)
2,7 (12)
-3,7
3,6 (7)
0,1 (2)
7,8
-5,9
0,9 (2)
2,3 (9)
0,4 (1)
-1,3 (-4)
1,6 (7)
6,2 (12)
4,9 (11)
0,5 (2)
2,0 (6)
2,9
0,3
(5)
(1)
0,0 (-0)
(-4)
0,3 (2)
-3,0 (-29) -1,5 (-20) -0,2
-3,9 (-30)
(-34)
-2,0 (-15) -1,3 (-13)
-0,4 (-13)
-1,1 (-15) -2,0 (-33)
0,2 (0)
-0,9 (-51) -1,4 (-34) -0,5
0,7 (6)
2,8 (6)
-3,9 (-28) -1,7 (-15) -6,9 (-35) -1,4 (-29)
1,6 (11)
1,6 (2)
-5,4 (-28) -7,0 (-29) -1,6 (-6)
Teilzeit
0,3 (4) 6,3 (12)
Hilfsarbeitskräfte
2,2 (16)
3,5 (22)
-9,4 (-16) -6,0 (-12)
4,0 (20)
Einfache Fachkräfte
0,3 (2)
7,1 (20)
1,1 (3)
DE
-3,1 (-39) -1,9 (-33)
CZ
-8,2 (-38) -1,8 (-29)
1,6 (13)
-1,6 (-2)
0,0 (-0)
CY
Gehobene Fachkräfte
5,5 (21)
4,8 (19)
14,3 (78)
5,7 (13)
-10,4 (-15) -4,1 (-10) -1,2 (-2)
4,5 (32)
Mittlere Qualifizierte
(56)
Hochqualifizierte
5,9
-1,2 (-2)
Geringqualifizierte
-3,1 (-4)
-2,0 (-17) -2,8 (-40) -3,3 (-44)
-4,0 (-5)
BG
Kernaltersgruppe
BE
Jugendliche
AT
2,3 (4)
4,3 (13)
0,9 (2)
-0,6 (-10)
-3,7 (-21)
-1,0 (-45)
-2,4 (-18)
-1,8 (-20)
-7,1 (-16)
-6,1 (-27)
15,0 (65)
13,2 (43)
-3,5 (-7)
-9,7 (-46)
3,5 (19)
-3,4 (-4)
-0,1 (-2)
DK
Tabelle 7.3 Veränderungen in der Häufigkeit bestimmter Merkmale in den Mitgliedsstaaten, 2006–2016
1,9 (20)
1,1 (1)
-3,1 (-49)
EL
1,9 (5)
3,8 (20)
5,2 (14)
-3,8 (-30)
-4,5 (-17)
-0,8 (-19)
-0,1 (-5)
3,0 (63)
-1,5 (-15)
-5,5 (-11)
2,6 (22)
4,3 (17)
11,3 (35)
-9,3 (-16)
(Fortsetzung)
4,1 (20)
4,4 (16)
4,0 (9)
-5,3 (-58)
-3,1 (-20)
0,0 (0)
-5,2 (-21)
5,7 (72)
0,0 (0)
-4,1 (-7)
-0,7 (-8)
4,8 (23)
11,2 (38)
2,6 (6)
-2,0 (-20) -13,8 (-50)
2,9 (17)
-1,0 (-1)
-1,9 (-22)
EE
7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends 205
6,1 (53)
-2,0 (-2)
-4,3 (-21) -1,2 (-15) -1,0 (-8)
3,0 (25)
-3,7 (-12) -0,4 (-3)
-0,3 (-9)
Teilzeit
Befristet
Agrarwirtschaft
0,0 (-0)
1,8 (6) 0,9 (3)
6,2 (30)
4,6 (14)
4,1 (13) 2,0 (4)
0,2 (0)
4,0 (16)
-1,6 (-5)
Großbetriebe
-1,7 (-4)
Öffentlicher Dienst
4,5 (12)
4,4 (10)
Dienstleistungen
0,0 (-0)
-8,1 (-60) -1,0 (-13) -2,6 (-29) -2,1 (-25)
0,8 (5)
-2,2 (-12) -4,1 (-19)
Industrie
Baugewerbe
-1,1 (-44) -0,7 (-33) -0,2 (-5)
-1,2 (-8)
-1,6 (-27)
4,0 (40)
-6,3 (-13) -4,8 (-8)
-0,9 (-10) -1,5 (-8)
0,1 (0)
-2,8 (-5)
Einfache Fachkräfte
Hilfsarbeitskräfte
0,3 (2)
0,4 (2)
4,4 (22)
-5,0 (-8)
0,6 (4)
8,0 (74)
-6,0 (-7)
IE
IT
4,7 (35)
6,2 (39)
2,0 (5)
-8,3 (-21)
7,7 (68)
-5,3 (-6)
-2,4 (-40)
6,3 (15)
-0,4 (-1)
5,6 (13)
-4,9 (-54)
-0,2 (-1)
-0,2 (-14)
-2,0 (-22)
-1,8 (-8)
1,2 (9)
-2,5 (-5)
-0,7 (-2)
-0,1 (-0)
4,4 (12)
-0,6 (-8)
-4,1 (-15)
0,3 (10)
2,6 (19)
5,2 (47)
1,1 (10)
-2,3 (-4)
7,1 (133) -3,5 (-16)
-5,7 (-18)
20,8 (56)
-5,8 (-16)
-15,0 (-56)
2,8 (22)
3,3 (4)
-6,1 (-46)
LT
6,6 (14)
-1,3 (-5)
10,2 (29)
-4,5 (-43)
-2,9 (-13)
-1,5 (-28)
-4,4 (-57)
0,5 (12)
0,7 (5)
-7,5 (-15)
-0,6 (-7)
7,5 (28)
8,7 (26)
-6,7 (-11)
-2,0 (-33)
7,8 (58)
-7,1 (-9)
-0,7 (-10)
LU
10,7 (21)
3,4 (12)
1,0 (2)
0,3 (3)
-4,1 (-43)
-0,6 (-61)
1,1 (14)
0,8 (5)
-0,3 (-2)
-3,3 (-8)
2,8 (12)
0,8 (4)
5,9 (21)
0,4 (1)
-6,2 (-19)
1,9 (21)
-1,8 (-2)
-0,1 (-2)
LV
(-2)
(-45)
(-6)
(63)
(-14)
(-28)
(Fortsetzung)
4,5 (17)
5,8 (30)
2,9 (7)
-4,2 (-37)
-2,6
-1,9
-5,7 (-91)
2,1
-0,7 (-5)
-6,3 (-12)
-1,0
7,9 (44)
13,3 (59)
-6,4 (-10)
-6,9
6,0 (40)
-1,9
-4,1 (-46)
7
1,7 (9)
2,7 (17)
5,5 (29)
-1,6 (-5)
4,7 (33)
9,5 (32)
-2,9 (-6)
2,4 (25)
6,0 (16)
2,0 (4)
Gehobene Fachkräfte
9,8 (30)
Akademiker/Manager
0,4 (2)
Mittlere Qualifizierte
-10,2 (-24) -8,0 (-49) -6,5 (-28)
Hochqualifizierte
Geringqualifizierte
3,6 (20)
-1,7 (-2)
6,4 (65)
HU
-1,3 (-2)
FR
Ältere Arbeitnehmer
FI
Kernaltersgruppe
ES
-5,0 (-60) -1,9 (-25) -4,1 (-41) -2,0 (-24)
Jugendliche
Tabelle 7.3 (Fortsetzung)
206 Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
-1,6 (-14) -2,1 (-28)
-7,2 (-32)
-0,1 (-2) 8,0 (21)
-0,7 (-41) -3,0 (-20)
-16,8 (-30)
3,9 (14)
13,0 (78)
9,1 (41)
-0,1 (-1)
-5,6 (-11)
-3,4 (-30)
-2,1 (-25)
3,9 (107)
0,0 (-5)
-7,7 (-34)
-1,6 (-28)
4,3 (10)
5,0 (18)
Geringqualifizierte
Mittlere Qualifizierte
Hochqualifizierte
Akademiker/Manager
Gehobene Fachkräfte
Einfache Fachkräfte
Hilfsarbeitskräfte
Teilzeit
Befristet
Agrarwirtschaft
Industrie
Baugewerbe
Dienstleistungen
Öffentlicher Dienst
PT
RO
4,5 (41)
-1,4 (-2) 5,6 (85)
0,2 (0)
0,8 (35)
0,5 (72)
0,0 (-0)
4,2 (12)
-2,7 (-4)
3,8 (10)
-1,4 (-22)
-5,3 (-15)
-0,2 (-19)
0,9 (7)
Großbetriebe 4,1 (8) 12,5 (35) 10,3 (35) -8,6 (-20) 2,6 (6) Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, Veränderungen in Prozentpunkten und Prozenten (in Klammern).
0,3 (1) 2,3 (14)
1,2 (21)
SK
0,0 (-0)
5,2 (10)
-5,0 (-24)
-0,1 (-1)
3,9 (19)
-4,2 (-6)
0,3 (9)
4,1 (37)
-1,8 (-2)
-2,3 (-25)
1,8 (9)
-2,7 (-10)
1,3 (4)
-1,0 (-13)
3,4 (12)
-1,1 (-33)
-2,2 (-17)
2,1 (141) -0,2 (-7)
0,7 (7)
-6,9 (-13)
-2,1 (-11)
8,3 (48)
13,1 (59)
-4,4 (-7)
-8,7 (-49)
6,2 (83)
-4,4 (-5)
2,7 (12)
3,7 (15)
6,8 (19)
-6,7 (-57) -0,1 (-1)
-2,6 (-10) -3,2 (-10) -4,5 (-26)
-1,2 (-38)
1,1 (29)
-6,2 (-12)
-0,3 (-31) -2,1 (-10)
-2,6 (-13) -2,0 (-55)
0,0 (0)
7,0 (27)
6,3 (20)
-6,6 (-12)
-3,9 (-29) -1,9 (-10)
7,0 (39)
8,7 (44)
-3,3 (-5)
-2,5 (-17) -3,3 (-34)
-9,5 (-15)
2,7 (27)
9,3 (72)
9,8 (63)
11,1 (67)
0,3 (2)
1,3 (2) -1,0 (-5)
-2,5 (-3)
SI -1,9 (-36)
-1,0 (-3)
2,7 (8) -0,7 (-3)
1,0 (3)
-1,7 (-18)
0,2 (1)
-0,6 (-20)
-0,1 (-0)
-2,8 (-5)
-0,6 (-5)
5,0 (22)
11,3 (47)
-9,7 (-14)
SE
-3,1 (-39) -3,1 (-45) -0,3 (-4)
-1,6 (-23) -20,9 (-31) -5,4 (-44)
8,0 (93)
4,3 (10)
-1,6 (-30)
0,0 (0)
-5,4 (-13)
-1,6 (-8)
7,1 (23)
10,6 (32)
-3,4 (-8)
5,9 (40)
1,0 (9)
-5,9 (-7)
-5,7 (-7)
5,6 (8)
Kernaltersgruppe
PL -2,1 (-31)
Ältere Arbeitnehmer
NL -0,2 (-4)
MT
-6,6 (-39)
Jugendliche
Tabelle 7.3 (Fortsetzung) UK
2,0 (6)
1,3 (3)
0,4 (7)
-3,0 (-19)
-0,7 (-46)
-0,4 (-9)
-1,0 (-5)
-1,2 (-11)
-6,2 (-13)
0,9 (6)
6,5 (22)
9,1 (24)
-13,4 (-30)
4,3 (26)
0,5 (4)
-0,3 (-0)
-0,3 (-2)
7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends 207
208
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
insbesondere in Großbritannien, Luxemburg, Frankreich, Spanien sowie Rumänien zu einer stärkeren Abnahme der Lohnungleichheiten. In jenen Ländern sind vor allem die Lohnvorteile von Akademikern und Managern (teilweise auch die von gehobenen Fachkräften) gegenüber den einfachen Fachkräften deutlich zurückgegangen (vgl. Abbildung 7.4). In Frankreich und Luxemburg kam es des Weiteren noch zu einer Angleichung in den Verdiensten zwischen Hilfsarbeitskräften und einfachen Fachkräften und damit zu einer zusätzlichen Kompression der Lohnverteilung „von unten“. Insgesamt ist in diesen Ländern also eine Angleichung der Verdienstunterschiede zwischen den beruflichen Tätigkeiten festzustellen, die zu einem Rückgang der Lohnspreizung beitragen. Einzig in Bulgarien und Litauen haben die deutlich gestiegenen Verdienstvorteile von Akademikern und Managern sowie die von gehobenen Fachkräften zu einer Zunahme der Lohnspreizung beigetragen. Analog zu den Befunden der Berufsstruktur zeigen sich ähnliche Entwicklungen auch hinsichtlich des Bildungsniveaus. Insgesamt lässt sich eine Abnahme geringqualifizierter Arbeitskräfte bei gleichzeitiger Zunahme des Anteils hochqualifizierter Arbeitnehmer beobachten, wobei die Muster dieser Veränderungen zwischen den Ländern stark variieren. In insgesamt 14 Staaten kam es zu einer starken Zunahme hochqualifizierter Arbeitskräfte bei einem gleichzeitigen Rückgang sowohl der mittleren als auch der gering qualifizierten Arbeitskräfte. In acht weiteren Mitgliedsstaaten ist hingegen nur ein rückläufiger Anteil der Geringqualifizierten zu erkennen, während sich sowohl der Anteil mittel- als auch hochqualifizierter Arbeitnehmer vergrößert hat. Vier weitere Mitgliedsstaaten, Ungarn, Schweden, Slowakei und Großbritannien, fallen durch eine Polarisierung der Arbeitnehmerschaft (Goos und Manning 2007) ins Auge, indem vor allem der Anteil Hochqualifizierter als auch der der Geringqualifizierten zugenommen hat, während mittlere Qualifikationen zurückgegangen sind. Deutschland ist hingegen das einzige Land in der EU, das einen relativen Rückgang der hochqualifizierten Arbeitnehmer verzeichnet hat, vermutlich dadurch, dass aufgrund des steigenden Beschäftigungsniveaus vermehrt Gering- und Mittelqualifizierte (wieder) in den Arbeitsmarkt gefunden haben (Eichhorst et al. 2019). Die Veränderungen in der qualifikationsspezifischen Lohnstruktur haben insbesondere in Spanien, Bulgarien, Zypern, Großbritannien und Litauen zu steigenden Lohnungleichheiten beigetragen. In Großbritannien und Spanien verdienen Hochqualifizierte im obersten Bereich der Lohnverteilung nun deutlich mehr als Arbeitnehmer mit mittleren Qualifikationen, was zu einer Zunahme der Lohnspreizung beiträgt. Dies steht der Beobachtung bezüglich sinkender Verdienstvorteile von Akademikern und Managern in diesen Ländern entgegen. Hier korrelieren also Bildungsniveau und berufliche Tätigkeit nicht notwendigerweise miteinander. In
7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends
209
Bulgarien ist die Zunahme der Lohnungleichheiten durch eine Polarisierung der Verdienste nach dem Bildungsniveau zu erklären, sodass Hochqualifizierte relative Reallohnzuwächse erfahren haben, während die Geringqualifizierten weniger verdienen als noch vor der Krise. In Litauen und Zypern sind hingegen nur die Geringqualifizierten von Lohneinbußen betroffen, was ebenfalls zu einer Zunahme der Lohnspreizung beiträgt. Deutliche Rückgänge hinsichtlich der Verdienstvorteile von Hochqualifizierten sind hingegen in Rumänien, Ungarn, Polen, Irland, Luxemburg und Italien zu erkennen und führen demnach zu Rückgängen in der Lohnspreizung. Dies kann entweder auf gestiegene Löhne der Gering- und Mittelqualifizierten zurückgeführt werden oder auf tatsächliche Reallohneinbußen der Hochqualifizierten in diesen Ländern. Obwohl diese qualifikations- und tätigkeitsbezogenen Anstiege in der Lohnungleichheit in so gut wie allen Mitgliedsstaaten zu beobachten sind, resultiert sie aus einer unterschiedlichen Betroffenheit der unteren bzw. oberen Hälfte der Lohnverteilung. Während es in Portugal beispielsweise sowohl zu einem Anstieg der 90-50- sowie 50/10-Differenz kam, stehen sich für Malta, Irland und Luxemburg diametrale Effekt gegenüber. Diese resultieren aus der unterschiedlichen Betroffenheit der unteren und oberen Verdienstgruppen, da der Anteil von Geringqualifizierten und einfachen Fachkräften zugunsten von Akademikern und Hochqualifizierten zurückgegangen ist. Erklärt werden kann dies dadurch, dass für erstere der Verdienstnachteil besonders ausgeprägt in der Mitte der Lohnverteilung ist. Somit führt eine Abnahme ebendieser Gruppe zu einem überproportionalen Anstieg des Medians, weshalb die 50-10-Differenz größer, die 90-50-Differenz hingegen kleiner wurde. In Großbritannien, Lettland und Litauen ist genau der umgekehrte Fall zu beobachten. Hier stiegen aufgrund der höheren Anteile an Hochqualifizierten und Akademikern sowohl der Median als auch das 90. Perzentil relativ gleichmäßig, weshalb sich in erster Linie die 50-10-Differenz vergrößert hat. Im Falle Zyperns führt der Wegfall von Hilfsarbeitskräften aber auch von gehobenen Fachkräften hingegen zu einer Zunahme der unteren als auch der oberen Löhne, was zur Folge hat, dass die 50-10-Differenz sinkt, die 90-50-Differenz hingegen zunimmt. Insgesamt sprechen diese Ergebnisse dafür, dass es in den meisten Ländern zu einem Wegfall von einfachen und geringqualifizierten Tätigkeiten zugunsten höherer Beschäftigungsanteile von Hochqualifizierten gekommen ist. Das betrifft insbesondere gehobene Facharbeiter und Akademiker – die klassische Stammbelegschaft. Allerdings mussten letztere zum Teil erhebliche Rückgänge in den relativen Reallöhnen hinnehmen. Diese Beobachtung spricht also für die Annahme, dass die Unternehmen während der Krise im Allgemeinen stärker auf
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7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
externe Anpassungsformen gesetzt haben, während Beschäftigte der Stammbelegschaft gehalten werden konnten, teilweise aber Konzessionen hinsichtlich ihrer Verdienstvorteile hinnehmen mussten. Neben den dominanten Effekten der Qualifikation und der beruflichen Tätigkeit, lassen sich noch weitere einflussreiche Faktoren identifizieren. Beispielsweise der Wirtschaftssektor, in dem die Arbeitnehmer tätig sind. Insgesamt lassen sich dort deutliche Verschiebungen in der Beschäftigung während der Krisenperiode erkennen (vgl. Tabelle 7.3). So kam es in 22 der 27 Mitgliedsstaaten zwischen 2006 und 2016 zu einer Abnahme des Anteils an Beschäftigten in der Industrie und in ebenso vielen Staaten, wenn auch nicht in exakt denselben, zu einem Rückgang im Baugewerbe. Gleichzeitig hat sich der relative Anteil des Dienstleistungssektors in fast allen Ländern deutlich erhöht – mit Ausnahme von Deutschland, Frankreich und Ungarn. Dies überrascht wenig, war doch gerade das Baugewerbe im Zuge der geplatzten Immobilienblase massiv unter Anpassungsdruck geraten. Auch die Industrie war den Schwankungen auf dem Weltmarkt im Zuge der globalen Rezession in viel höherem Maße ausgesetzt als es weite Teile des Dienstleistungssektors oder des relativ abgeschotteten öffentlichen Dienstes waren. Letzterer weist dementsprechend nur in wenigen Ländern einen Rückgang des Beschäftigungsniveaus auf und wenn, dann nur in sehr geringem Maße. In den restlichen Mitgliedsstaaten hat sich der relative Beschäftigtenanteil des öffentlichen Dienstes teilweise sogar erhöht – so auch in den Krisenländern Spanien, Griechenland und Portugal. Dies stärkt die Annahme, dass der öffentliche Dienst – trotz harscher Austeritätsprogramme in einigen Ländern – nicht oder zumindest deutlich weniger als in anderen Wirtschaftssektoren über das Beschäftigungsvolumen auf die Schocks reagiert hat. Wie wirken sich diese strukturellen Veränderungen nun auf die Lohnungleichheiten aus? Die Veränderungen in der sektoralen Beschäftigungsstruktur haben zumindest in Italien, Bulgarien, Litauen, Spanien und Österreich einen Anteil am Kompositionseffekt. In Spanien und Österreich ist dieser negative Effekt auf den Anstieg der relativen Beschäftigung im öffentlichen Dienst zurückzuführen, der 2016 im oberen Bereich der Lohnverteilung mit deutlich geringeren Löhnen einhergeht als die Industrie. In Spanien kommt zudem noch der Rückgang des Baugewerbes hinzu, wo vor allem das Lohnniveau am unteren Ende der Verteilung geringer ausfällt. Beide Entwicklungen führen somit zu einer Kompression der Lohnverteilung. In Bulgarien hingegen trägt vor allem der Rückgang der Beschäftigung im öffentlichen Dienst zu einem Anstieg des 90. Perzentils bei und damit auch zur Lohnspreizung.In Italien geht dies vor allem mit der Zunahme des Dienstleistungssektors einher, der insbesondere im unteren Lohnsegment deutlich geringere Löhne zahlt als die Industrie. Insgesamt wirkten
7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends
211
sich sowohl die ungleichheitssteigernden als auch die ungleichheitsreduzierenden Effekte primär auf die obere Hälfte der Lohnverteilung aus, sodass insbesondere die 90-50-Differenz davon betroffen ist. Für den Lohnstruktureffekt spielen die unterschiedlichen Wirtschaftssektoren eine vergleichsweise größere Rolle, als sie es für den Kompositionseffekt tun. Das bedeutet, dass insbesondere die Verdienstunterschiede zwischen den Sektoren und weniger deren Beschäftigungsanteile für die Zu- oder Abnahmen der Lohnungleichheit verantwortlich sind. Dies gilt insbesondere für die südeuropäischen Länder Spanien, Portugal, Italien und Zypern. In diesen Ländern ist ein positiver Beitrag der sektoralen Lohnunterschiede auf die Lohnungleichheit festzustellen. Dies lässt sich zum einen auf die Verdienste im Baugewerbe zurückführen, die insbesondere im unteren Bereich der Lohnverteilung deutlich gesunken sind. Gleichzeitig ist in diesen Ländern auch der Verdienstvorteil des öffentlichen Dienstes, sowohl im untersten als auch im obersten Dezil, zurückgegangen (außer in Zypern). In Kombination mit den ungleichheitssteigernden Effekten des Baugewerbes, trägt diese Entwicklung somit zu einer Erhöhung der Lohnspreizung bei. Dieser Effekt wirkt insbesondere auf die Lohnungleichheiten in der oberen Hälfte der Lohnverteilung (90-50) und nur im Falle Spaniens primär auf die untere Hälfte (50-10). In der Slowakei verhält es sich hingegen genau umgekehrt: Hier erklärt sich der ungleichheitssteigernde Effekt der Sektoren durch die zunehmenden Verdienstvorteile in den oberen Dezilen, sowohl im Baugewerbe, im Dienstleistungssektor sowie im öffentlichen Dienst im Vergleich zur Industrie. Dass Veränderungen in den sektorenspezifischen Lohnstrukturen aber auch zu einer Abnahme der Lohnungleichheiten beitragen können, zeigen Deutschland, Großbritannien und Irland. Dies lässt sich durch die deutlich gesunkenen Reallöhne von Arbeitnehmern im Baugewerbe, Dienstleistungssektor und insbesondere im öffentlichen Dienst erklären, die primär am oberen Ende der Lohnverteilung stattfanden. Die veränderte Altersstruktur der Arbeitnehmerschaft hat insbesondere in Portugal, Österreich, Italien und Slowenien zu einer Zunahme der Lohnspreizung beigetragen. Dies ist vor allem auf den Anstieg älterer Arbeitnehmer in der Arbeitnehmerschaft zurückzuführen, die häufig mit höheren Verdiensten am oberen Ende der Lohnverteilung zu finden sind – anders als Jugendliche und die Kernaltersgruppe. Auf der anderen Seite führte insbesondere der drastische Rückgang an Jugendlichen in der Arbeitnehmerschaft wie beispielsweise in Spanien und Irland dazu, dass die Lohnspreizung abgenommen hat – dies gilt insbesondere für die 50-10-Differenz. In Griechenland halten sich hingegen der ungleichheitssteigernde Effekt eines zunehmenden Anteils älterer Beschäftigter und der ungleichheitsreduzierende Effekt eines sinkenden Anteils Jugendlicher in etwa
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7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
die Waage, weshalb der Effekt der Altersstruktur in Griechenland – trotz der eklatanten Beschäftigungskrise jugendlicher Arbeitnehmer – kaum zur Erklärung der Veränderungen in den Lohnungleichheiten beiträgt. Im Gegensatz zum Kompositionseffekt fällt der erklärende Beitrag des Alters am Lohnstruktureffekt relativ marginal aus. Lediglich in Österreich, Estland und Spanien haben die altersspezifischen Lohnunterschiede zu einer größeren Lohnungleichheit beigetragen. In Österreich und Estland ist dies auf die deutlich rückläufigen Verdienste der Jugendlichen bei gleichzeitig steigenden Löhnen der älteren Arbeitnehmer am oberen Ende der Lohnverteilung zurückzuführen, in Spanien hingegen aufgrund des starken Verdienstverlusts der Jugendlichen im Vergleich zur Kernaltersgruppe zurückzuführen. In Schweden, Portugal, Irland und Italien sind die Verdienstnachteile von Jugendlichen gegenüber der Kernaltersgruppe zurückgegangen ebenso wie die Verdienstvorteile älterer Arbeitnehmer, wodurch es zu einer weiteren Kompression der Lohnverteilung kam – sowohl „von oben“ als auch „von unten“. Im Unterschied zu den vorherigen Merkmalen, fällt der Erklärungsbeitrag von Großbetrieben, Teilzeitarbeit oder Befristungen hingegen eher gering aus. Während der höhere Anteil an Arbeitnehmern, die in Großbetrieben tätig sind, kaum einen Effekt auf die Lohnungleichheit hat, zeigen die in vielen Ländern deutlich zugenommenen Verdienstvorteile, die mit der Beschäftigung in Großbetrieben einhergehen, zu einer steigenden Lohnungleichheit beigetragen zu haben. Dies gilt insbesondere für Slowenien aber auch für Deutschland und Dänemark. Der Rückgang befristeter Beschäftigungen hat lediglich in Spanien zu einem merklichen Rückgang in der Lohnungleichheit beigetragen. Gleichzeitig ist dort jedoch der Verdienstnachteil von befristeten Verträgen noch größer geworden, was wiederum zu einer zunehmenden Lohnspreizung zwischen regulär und befristeten Arbeitnehmern geführt hat. In Spanien zeigt sich demnach die Spaltung der Arbeitnehmerschaft in eine unsichere und gering entlohnte Belegschaft auf der einen Seite und der relativ stabilen und gut entlohnten auf der anderen Seite in einem besonders ausgeprägten Maße, was primär auf den institutionellen Dualismus hinsichtlich des Kündigungsschutzes für reguläre und atypische Beschäftigungsverhältnisse in Spanien zurückgeführt wird (Bentolila et al. 2012). Anpassungen während der Krise erfolgten hier maßgeblich über die Randbelegschaft. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass in vielen Ländern ein Großteil des Lohnstruktureffekts durch die Konstante bestimmt wird. Diese kann als die Veränderung in der Entlohnung der Referenzgruppe (base group) über die Zeit interpretiert werden. Das bedeutet in diesem Fall, wie sich die Verdienste von männlichen, mittelqualifizierten Fachkräften in der Kernaltersgruppe, die sich in einem Normalarbeitsverhältnis (Vollzeit, unbefristet) befinden und in der Industrie tätig sind verändert haben. Die
7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends
213
a) Zerlegung des Gesammteffekts
0.3 0.2 0.1 0 -0.1 -0.2 -0.3 -0.4
EL RO PT HU PL SK IT SI IE NL EE BE FI FR ES LT LU CZ DE UK AT SE LV DK MT CY BG Komposion
Lohnstruktur
Gesamt
b) Zerlegung des Komposionseffekts
0.1 0.08 0.06 0.04 0.02 0 -0.02 -0.04 -0.06 -0.08
EL RO PT HU PL SK IT SI IE NL EE BE FI FR ES LT LU CZ DE UK AT SE LV DK MT CY BG Alter Sektor 0.6
Bildung Großbetrieb
Beruf Kontrolle
Befristung Komposion
Teilzeit
c) Zerlegung des Lohnstruktureffekts
0.4 0.2 0 -0.2 -0.4 -0.6 EL RO PT HU PL SK IT SI IE NL EE BE FI FR ES LT LU CZ DE UK AT SE LV DK MT CY BG Alter Bildung Beruf Befristung Teilzeit Sektor Großbetrieb Kontrolle Konstante Lohnstruktur
Abbildung 7.6 Dekomposition der 90-50-Differenz, 2006–2016. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnung. RIF-Dekompositionen nach der der FFL-Methode.)
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7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
a) Zerlegung des Gesammteffekts
0.4 0.3
0.2 0.1
0 -0.1 -0.2 -0.3 -0.4 SE RO LT PL LV PT DE EL FI SK SI HU BE AT FR UK LU CZ IE NL CY DK BG MT EE IT ES Komposion
Lohnstruktur
Gesamt
b) Zerlegung des Komposionseffekts
0.12 0.1 0.08 0.06 0.04 0.02 0 -0.02 -0.04 -0.06 -0.08
SE RO LT PL LV PT DE EL FI SK SI HU BE AT FR UK LU CZ IE NL CY DK BG MT EE IT ES Alter Bildung Beruf Befristung Teilzeit Sektor Großbetriebe Kontrolle Komposion
c) Zerlegung des Lohnstruktureffekts
0.6
0.4 0.2 0 -0.2 -0.4 -0.6 SE RO LT PL LV PT DE EL FI SK SI HU BE AT FR UK LU CZ IE NL CY DK BG MT EE IT ES Alter Sektor
Bildung Großbetriebe
Beruf Kontrolle
Befristung Konstante
Teilzeit Lohnstruktur
Abbildung 7.7 Dekomposition der 50-10-Differenz, 2006–2016. (Quelle: EU-SILC 2007 u. 2017, eigene Berechnung. RIF-Dekompositionen nach der FFL-Methode.)
7.3 Dekomposition länderspezifischer Lohnungleichheitstrends
215
Referenzgruppe kann somit quasi als die klassische industrielle Stammbelegschaft betrachtet werden. Bei einem positiven Effekt der Konstanten führen ebendiese Merkmale zu einer Zunahme, bei einem negativen Effekt zu einer Abnahme der Ungleichheit. Die Größe und Richtung der Konstanten hängt dementsprechend von der Wahl der Referenzkategorien ab. In der einschlägigen Literatur ist dies als „base group problem“ oft diskutiert worden, jedoch bisher ohne befriedigende Lösung bzw. Alternativen (Firpo et al. 2018; Fortin et al. 2011).
Tabelle 7.4 Wirkungsweise des Lohnstruktur- und Kompositionseffekts in den Mitgliedsstaaten Kompositionseffekt
Lohnstruktureffekt +
−
+
Bulgarien, Malta, Italien, Estland, Zypern, Dänemark, Tschechien
Rumänien, Griechenland, Schweden, Portugal, Polen, Litauen, Ungarn, Slowenien, Lettland, Niederlande, Luxemburg, Großbritannien, Österreich
−
Spanien
Belgien, Deutschland, Finnland, Slowakei, Frankreich, Irland
Quelle: Eigene Darstellung. +: Ungleichheit steigernd, −: Ungleichheit reduzierend. Ausgegraute Länder haben keine signifikante Veränderung in der 90-10-Differenz erfahren.
Zusammenfassend lässt sich aus den länderspezifischen Dekompositionsanalysen festhalten, dass insgesamt und über alle Mitgliedsstaaten hinweg die Lohnstruktureffekte, d. h., die Veränderungen in der Entlohnung von unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen, den Großteil der Entwicklung der Lohnungleichheiten erklären (vgl. Tabelle 7.4). Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur hatten hingegen einen deutlich geringeren Erklärungsanteil, der zumeist einen ungleichheitssteigernden Einfluss hatte – in erster Linie durch Veränderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigten nach dem Qualifikationsniveau und der beruflichen Tätigkeit. Die Ergebnisse der Dekompositionsanalysen liefern somit Erklärungen für die heterogenen Entwicklungen zwischen den Mitgliedsstaaten, die zuvor als vier grobe Muster der personalpolitischen Anpassung im vorherigen Abschnitt identifiziert wurden. Es zeigte sich, dass diese länderspezifischen Dynamiken in den Lohnungleichheiten auf ähnliche Anpassungsformen zurückgeführt werden können:
216
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
Für die Länder, für die eine Polarisierung der Lohnverteilung festgestellt wurde, geht dies insbesondere auf den starken Rückgang der Verdienste im untersten Lohndezil zurück und nicht durch Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft. Geringverdiener haben demnach die stärksten Lohnrückgänge erfahren, was als primär monetäre Anpassungen der Randbelegschaft interpretiert wird. Auch wenn die Betroffenheit einzelner Gruppen im Detail unterschiedlich ist, so waren von diesen Lohnsenkungen in erster Linie Geringqualifizierte, Hilfsarbeitskräfte und befristet Beschäftigte betroffen, die zur klassischen Randbelegschaft gezählt werden können. Dort, wo hingegen eine Kompression von oben beobachtet wurde, zeigen die Lohnstruktureffekte große Rückgänge in der Entlohnung der oberen Verdienstgruppen (90-50). In Portugal und Rumänien ist dies zum Teil auf das Bildungsniveau und die berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Das bedeutet, dass die Lohneinbußen der Hochqualifizierten und der Akademiker bzw. gehobenen Facharbeitskräfte und damit in erster Linie die überdurchschnittlich entlohnten Beschäftigten der Stammbelegschaften betroffen waren. Für Griechenland besteht der negative Lohnstruktureffekt hingegen fast vollständig aus der Konstanten, die die Veränderungen in der Referenzgruppe darstellen. Vorsichtig ließe sich dies so interpretieren, dass in erster Linie die höheren Verdienste der industriellen Stammbelegschaft gesenkt wurden, was zu zur Kompression der Lohnverteilung von oben geführt hat. Auch für Portugal lässt sich ein beträchtlicher Anteil des Lohnstruktureffekts auf die veränderten Verdienste ebenjener Beschäftigten zurückführen. Beiden Ländern (und auch Rumänien) ist gemein, dass sie vor der Krise durch hohe tarifliche Abdeckungsraten gekennzeichnet waren. Für alle drei Länder wurden jedoch im Zuge der Vereinbarungen mit der Troika eine Dezentralisierung von Tarifverhandlungen sowie restriktivere und strengere Kriterien für die Ausdehnung von Tarifverträgen gefordert und auch umgesetzt. In Griechenland führte dies beispielsweise zu einem Rückgang in der Tarifabdeckung von 100 auf 25 Prozent. Daraus resultiert scheinbar ein enormer Einflussverlust der kollektiven Interessenvertretungen, was zu starken Lohneinbußen für die zuvor überdurchschnittlich entlohnte industrielle Stammbelegschaft führte. Eine ähnliche Beobachtung – nur in die entgegengesetzte Richtung – ließ sich auch für die Länder machen, die zuvor durch eine Kompression von unten aufgefallen waren. Denn auch in Polen, Litauen und Lettland sowie zum Teil auch in Slowenien kam es zu einer deutlichen Abnahme der 50-10-Differenz, die insbesondere auf die Verdienste der industriellen Randbelegschaft zurückzuführen sind. Das bedeutet, dass es in diesen Ländern zu einem deutlichen Anstieg der Löhne ebenjener Beschäftigten kam, die zuvor relativ gering entlohnt wurden,
7.4 Zwischenfazit
217
wodurch sich das untere Lohnniveau deutlich angehoben hat. Zurückzuführen ist dies vermutlich auf das starke und kontinuierliche Wirtschaftswachstum, dass insbesondere durch die Industrie geprägt wurde, deren Anteil an der Bruttowertschöpfung in diesen Ländern überdurchschnittlich hoch ist. Das hat sich auch auf die Löhne der industriellen Stammbelegschaften in diesen Ländern ausgewirkt – und das trotz (oder gerade wegen) der deutlich geringer ausgeprägten industriellen Beziehungen in diesen Ländern. Mitgliedsstaaten, für die eine Parallelverschiebung der Lohnverteilung konstatiert wurde, zeichnen sich hinsichtlich der Veränderungen der Lohn- und Beschäftigungsstrukturen dahingehend aus, dass sich sowohl innerhalb des Kompositionsals auch des Lohnstruktureffekts gegensätzliche Entwicklungen finden lassen, die sich in der Summe weitestgehend aufheben, wodurch auch die Lohnungleichheiten in diesen Ländern relativ stabil geblieben sind. Da es aber dennoch, wie zuvor gezeigt, zu deutlichen Veränderungen in der Reallohnentwicklung gekommen ist, bedeutet dies, dass die Anpassungen relativ gleichmäßig über alle Beschäftigungsgruppen hinweg erfolgten (Großbritannien), genauso wie die Zuwächse in den Verdiensten (Frankreich, Belgien). Eine einseitige Belastung bzw. Bevorteilung der Stamm- oder Randbelegschaft lässt sich in diese Länder daher nicht feststellen – was zumindest für Belgien, Frankreich und Österreich auf die hohe Tarifabdeckung und die relativ starken Gewerkschaften zurückgeführt werden könnte.
7.4
Zwischenfazit
Im Anschluss an eine gesamteuropäische Perspektive auf die Dynamiken der Lohnungleichheit während der Krise, standen in diesem Kapitel die länderspezifischen Entwicklungen und Verläufe im Fokus sowie die Frage, inwieweit unterschiedliche betriebliche Anpassungsprozesse zu länderspezifischen Strukturen und Dynamiken der Lohnverteilung geführt haben. Es wurde somit untersucht, inwieweit sich die Ergebnisse für die EU bzw. Eurozone über alle Mitgliedsstaaten hinweg verallgemeinern lassen und ob zwischen den Mitgliedsstaaten deutliche Unterschiede hinsichtlich der Lohnentwicklungen und deren Ursachen zu beobachten sind. Insgesamt lässt sich festhalten, dass es in der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedsstaaten zu relativ starken Rückgängen in der aggregierten Lohnungleichheit über die Krisenperiode gekommen ist. Lediglich in sechs der 27 untersuchten Länder sind die innerstaatlichen Lohnungleichheiten weiter angestiegen – und zwar in Spanien, Bulgarien, Estland, Zypern, Italien und Malta. Die detaillierte
218
7
Zwischen- und innerstaatliche Entwicklungen …
Betrachtung der länderspezifischen Lohnentwicklungen zeigte zudem, dass eine Kategorisierung der Entwicklungsmuster mithilfe einer einfachen Nord-Süd-OstHeuristik oder der Dichotomie Krisen- versus Nicht-Krisenländer nicht ohne weiteres möglich oder sinnvoll ist. Gerade die diametral entgegengesetzt verlaufenden Entwicklungen in den südeuropäischen Ländern wie Spanien und Italien bzw. Griechenland und Portugal unterstreichen diese Annahme. Inhaltlich lassen sich die Ergebnisse des Kapitels in folgende Punkte zusammenfassen und mit der theoretischen Grundannahme verbinden. 1) Insgesamt zeigte sich, dass sowohl das Lohnniveau als auch die Lohnverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten in erheblichem Maße variieren. Zwar kam es während der Beobachtungsperiode zu einer gewissen Konvergenz, jedoch beträgt das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und dem höchsten mittleren Bruttostundenlohn immer noch das rund 4,5-fache. Auch das Maß der Lohnspreizung zwischen den Ländern fällt mit 90/10-Dezilverhältnissen zwischen 5,7 und 2,4 sehr heterogen aus. Des Weiteren wurde deutlich, dass vor allem diejenigen Länder, mit überdurchschnittlich hohen Lohnungleichheiten zu Beginn der Krise, zugleich auch die größten Rückgänge verzeichneten. 2) Weiterhin ließen sich hinsichtlich der Entwicklung der Reallöhne – im Anschluss an die theoretische Grundannahme – vier unterschiedliche Muster identifizieren. Zum einen eine Polarisierung der Reallöhne in Form eines besonders ausgeprägten Anstiegs der Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung, bedingt durch Reallohneinbußen der unteren Verdienstgruppen. Insbesondere in Spanien lässt sich dieses Muster hinsichtlich der Lohnentwicklungen beobachten. Zum anderen ließ sich eine Kompression der Lohnverteilung „von oben“ beobachten, die mit einem deutlichen Rückgang der Reallöhne in der oberen Hälfte der Lohnverteilung einherging, bedingt durch Reallohneinbußen der Besserverdienenden. Dieses Muster ist besonders deutlich in Griechenland zu erkennen, wo das oberste Dezil einen Reallohnrückgang von annährend 40 Prozent verzeichnet hat. Drittens konnte eine Kompression der Lohnverteilung „von unten“ beobachtet werden, bedingt durch einen Rückgang der Lohnspreizung in der unteren Hälfte der Verteilung im Zuge starker Lohnzuwächse der Geringverdiener. Dieses Muster zeigt sich überwiegend in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten. In Polen ist diese Entwicklung besonders deutlich ausgeprägt. Viertens ließ sich eine relativ gleichmäßige Zu- und Abnahme der Reallöhne über die gesamte Verteilung beobachten, woraus relativ konstante Ungleichheiten resultieren, die als Parallelverschiebung der Lohnverteilung beschrieben werden können. Insbesondere die Lohnentwicklungen in Großbritannien entsprechen diesem Muster im besonderen Maße. In
7.4 Zwischenfazit
219
keinem der vier beschriebenen Entwicklungsmuster konnte hingegen eine deutliche Zunahme der Lohnungleichheiten bedingt durch einen überproportionalen Anstieg der oberen Verdienste beobachtet werden, wie dies in den Jahren vor der Krise noch der Fall war (OECD 2011). 3) Die Ursachen für diese heterogenen Entwicklungen der nationalen Lohnverteilungen lassen sich größtenteils auf die unterschiedlichen Veränderungen in den Lohn- und Beschäftigungsstrukturen der jeweiligen Mitgliedsstaaten zurückführen. Während in so gut wie allen Staaten die überproportionale Zunahme von hochqualifizierten Beschäftigten und akademischen oder gehobenen Fachkräftetätigkeiten zu einer Zunahme der Lohnspreizung beigetragen hat, haben vor allem die Veränderungen der nationalen Lohnstrukturen entweder zu einem Rückgang (durch Kompression) oder zu einer Verstärkung (durch Polarisierung) dieser Entwicklung beigetragen. Somit lassen sich die vier identifizierten Entwicklungsmuster, die zuvor als grobes Schemata der personalpolitischen Anpassungsformen konzeptualisiert wurden, anhand der Dekompositionsanalysen weitestgehend erklären – zumindest deren Ursachen auf der Mikroebene. Die Grundannahme dieser Arbeit, dass ähnliche Dynamiken in der Lohnungleichheit im entscheidenden Maße auf das Zusammenspiel bestimmter betrieblicher Anpassungsformen zurückgeführt werden können (Hypothese 1), scheint durch die Ergebnisse dieses Kapitels bekräftigt zu werden. Die schematische Beschreibung von bestimmten Mustern bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch andere Formen der Personalanpassung in diesen Ländern stattgefunden haben. Die hier beschriebenen Formen erweisen sich lediglich als die dominantesten und prägendsten Entwicklungen, die – so die weiteren Annahmen – vor allem durch die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen der unternehmerischen Flexibilitätsgestaltung geprägt werden, wie bereits angedeutet wurde. Vor diesem Hintergrund sind weitere Analysen notwendig, die die makrostrukturellen und institutionellen Bedingungsfaktoren berücksichtigen, die zu diesen länderspezifischen Entwicklungen und Anpassungsformen beigetragen haben. Dazu zählen vor allem die unterschiedliche Krisenbetroffenheit der Länder – sowohl hinsichtlich der Intensität, der Art sowie der Dauer – als auch die unterschiedlichen rechtlichinstitutionellen Handlungsrahmen der Unternehmen und wie diese sich während der Krisenperiode und im Rahmen von Arbeitsmarktreformen verändert haben.
8
Krisen, Schocks und Institutionen
In den vorherigen Kapiteln wurden sowohl die gesamteuropäischen als auch die nationalstaatlichen Lohnentwicklungen und Lohnungleichheiten untersucht und wie diese durch die Veränderungen in der Beschäftigungs- und Lohnstruktur beeinflusst wurden. Während dabei in erster Linie personenbezogene sowie arbeitsplatz- und betriebsspezifische Merkmale im Fokus des Interesses standen, wird in diesem Kapitel der Einfluss der Makroebene in die Analysen zu den Dynamiken der Lohnungleichheiten miteinbezogen. Dabei stehen sowohl die makroökonomischen Auswirkungen der Eurokrise(n) als auch die Rolle von Arbeitsmarktinstitutionen sowie deren Wandel im Zentrum der folgenden Untersuchung. Dadurch wird die bisher sehr abstrakte Operationalisierung der Krise (als Veränderungen zwischen 2006 und 2016) durch konkrete Variablen ersetzt, um so Veränderungen innerhalb der gesamten Krisenperiode und nicht bloß zwischen zwei Zeitpunkten analysieren zu können. Somit wird eine deutlich dynamischere Perspektive eingenommen, die durch die vorliegenden Zeitreihen-Querschnittsdaten ermöglicht wird. Die zentrale Annahme lautet dabei, dass die heterogenen Dynamiken der Lohnungleichheiten sowohl durch die unterschiedliche Krisenbetroffenheit als auch durch die institutionellen Arrangements in den Mitgliedsstaaten erklärt werden können, die die unternehmerische Flexibilitätsgestaltung beeinflussen und dadurch länderspezifische Anpassungsmuster hervorbringen. Um diese Annahme zu testen, wird in drei Schritten vorgegangen: Erstens wird untersucht, wie die nationalstaatlichen Institutionen einen gemeinsamen, länderübergreifenden Schock auf die Lohnverteilung moderieren. Durch die konstant gehaltene Krisenbetroffenheit kann so der Einfluss der unterschiedlichen Arbeitsmarktregulierung zwischen den Mitgliedsstaaten getestet werden. Zweitens wird dann die Annahme eines gemeinsamen Schocks fallen gelassen und stattdessen werden drei länderspezifische © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_8
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8
Krisen, Schocks und Institutionen
Schocks herangezogen, die die drei unterschiedlichen Phasen der Eurokrise abbilden sollen, um der unterschiedlichen Krisenbetroffenheit der Mitgliedsstaaten Rechnung zu tragen. Drittens wird dann auch noch die Annahme zeitkonstanter Institutionen fallen gelassen, um auf diese Weise die Auswirkungen der Arbeitsmarktreformen, die im Zuge der Krise in so gut wie allen Ländern stattgefunden haben, auf die Dynamiken der Lohnungleichheiten zu untersuchen.
8.1
Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten
In einem ersten Schritt wird angenommen, dass alle Mitgliedsstaaten einen gemeinsamen, unbeobachteten Schock erfahren haben, der in Form eines Periodeneffekts abgebildet werden (Tabelle 8.1). Im Anschluss an Iversen und Soskice (2015b, 2019) sowie Blanchard und Wolfers (2000), werden daher PeriodenDummies verwendet, um den Effekt unbeobachteter und länderübergreifender Schocks auf die aggregierte Lohnungleichheit in Form der log Dezildifferenzen und dem Gini-Koeffizienten zu schätzen. Vereinfacht ausgedrückt werden die (EU-weiten) durchschnittlichen Veränderungen in der Lohnungleichheit als Proxy-Variable für das Ausmaß der Krise in jedem Jahr verwendet. Diese können sowohl positiv als auch negativ ausfallen. Die auf diese Weise berechneten Werte bilden dann die Schock-Variable, die in einem zweiten Schritt mit den länderspezifischen Institutionenvariablen interagiert wird. Letztere bilden dabei den länderspezifischen Durchschnitt über den Untersuchungszeitraum (2006–2016) ab und sind dementsprechend zeitkonstant. Des Weiteren werden sie um den EU-Mittelwert zentriert, sodass sie als nationale Abweichungen vom europäischen Durchschnitt interpretiert werden können (für einen Überblick vgl. Tabelle 8.2). Die Schock-Variable wird somit bedingt durch die Institutionenvariablen und gibt die durchschnittliche Veränderung der Lohnungleichheit an, wenn alle Institutionen dem EU-Durchschnitt entsprechen und hat daher immer den Wert 1. Somit kann anhand dieser Spezifikation folgende Frage beantwortet werden: Wenn ein unbeobachteter Schock die 90-10-Differenz um 1 log-Punkt erhöht, wie groß wäre diese Zunahme dann in einem Land mit über- oder unterdurchschnittlich regulierten Arbeitsmärkten? Auf diese Weise können die unterschiedlichen Muster hinsichtlich der Dynamiken von Lohnungleichheiten – die das zentrale Ergebnis des vorherigen Kapitels waren – als das Resultat der Wechselwirkungen zwischen länderübergreifenden Schocks und länderspezifischen Arbeitsmarktinstitutionen betrachtet werden.
8.1 Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten
223
Vor diesem Hintergrund wird die Eurokrise im Folgenden als gemeinsamer, über alle Mitgliedsstaaten hinweg als identisch angenommener Schock operationalisiert. Dies ist freilich eine ziemliche starke Annahme, die es aber ermöglicht, die Frage empirisch zu beantworten, ob dieselben Schocks in Ländern mit unterschiedlichen institutionellen Arrangements zu einer höheren bzw. niedrigeren Lohnungleichheit führen, indem sie unterschiedliche Anpassungsstrategien seitens der Unternehmen fördern oder beschränken. Dahinter liegt die theoretische Überlegung, dass die Arbeitsmarktinstitutionen die Auswirkungen des Schocks auf die Lohnverteilung über vier Wirkungskanäle beeinflussen können (vgl. Kapitel 3): Über die Lohnfestsetzung bzw. -flexibilität (Mindestlöhne und Tarifverträge), die Reservationslöhne und Konzessionsbereitschaft (Lohnersatzleistungen, aktive Arbeitsmarktpolitik und Steuerkeil), die kollektive Verhandlungsmacht und Interessenvertretung (Organisations- und Koordinationsgrad) sowie über die Transaktionskosten (Kündigungsschutz). Abbildung 8.1 zeigt zunächst die Entwicklung der verschiedenen Lohnungleichheitsmaße sowohl als Durchschnitt über alle Länder (Linie) als auch für die einzelnen Mitgliedsstaaten (Punkte) über die Zeit1 . Auf diese Weise kann ein erster Eindruck über die Streuung der abhängigen Variablen, d. h. der Lohnungleichheiten, um den EU-Mittelwert erfasst werden, der später den unbeobachteten länderübergreifenden Schock abbilden wird2 . Der Zeiteffekt gibt dabei die Veränderung des jeweiligen Ungleichheitsmaßes zwischen 2006 und 2016 an. Somit hat sich die 90-10-Differenz zwischen 2006 und 2016 um 0,127 log-Punkte verringert. Insgesamt erkennt man, dass die durchschnittliche Lohnungleichheit, unabhängig davon, mit welchem Maß diese gemessen wird, während der Krise signifikant abgenommen hat. Im Falle der 90-10-Differenz beispielsweise um 0,127 log-Punkte. Die einzelnen Länderwerte weichen jedoch mehr oder weniger zu bestimmten Zeitpunkten von diesem Durchschnittswert ab. Diese Abweichungen sollen nun durch die jeweiligen Unterschiede in den nationalen Arbeitsmarktinstitutionen erklärt werden.
1 Diese
Werte können leicht von denen aus den vorherigen Kapiteln abweichen, da diese das Ergebnisse aus Regressionsanalysen mit nur noch 23 Ländern sind, für die alle benötigten Variablen auf der Makroebene vorhanden waren, d. h. ohne Bulgarien, Rumänien, Malta und Zypern. 2 Als Schock werden starke und unerwartete Veränderungen der wirtschaftlichen Umwelt verstanden, die sich auf die aggregierte Nachfrage oder das aggregierte Angebot auswirken und die Wirtschaft sowohl negativ als auch positiv beeinflussen können. Der Begriff darf in diesem Kontext nicht normativ verstanden werden.
224
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Abbildung 8.1 Entwicklung und Streuung der Ungleichheitsmaße. (Quelle: EU-SILC 2007–2017, eigene Berechnungen. Hinweis: Abbildungen geben die Entwicklung und Streuung der Ungleichheitsmaße für 23 EU-Mitgliedsstaaten wieder (ohne Bulgarien, Rumänien, Zypern und Malta), sowie den EU-Durchschnitt, der zugleich den unbeobachteten, gemeinsamen Schock abbildet. a Der Zeiteffekt gibt die (signifikante) Differenz der durchschnittlichen Lohnungleichheit zwischen 2006 und 2016 an. Legende: * : p < 0,10; ** : p < 0,05; *** : p < 0,01)
Tabelle 8.1 präsentiert dazu die Ergebnisse der linearen Panelregressionsmodelle, die Abbildung 8.2, Abbildung 8.3 sowie Abbildung 8.4 zusätzlich grafisch dargestellt sind, für eine einfachere Interpretation. In Tabelle 8.3 sind zusätzlich dazu noch einmal alle Modelle berechnet worden, jedoch mit nur einer Institutionenvariablen zur Zeit. Auf diese Weise soll überprüft werden, inwiefern sich die jeweiligen Interaktionseffekte zwischen dem Schock und den Institutionen gegenseitig beeinflussen bzw. als Mediatoren fungieren. Entsprechen die Ergebnisse weitestgehend denen aus den vorherigen Modellen, so kann von einer relativ hohen Robustheit der Ergebnisse ausgegangen werden. Die dargestellten Interaktionseffekte zeigen, wie die Auswirkungen eines
8.1 Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten
225
Tabelle 8.1 Unbeobachtete Schocks und zeitkonstante Institutionen auf die Lohnungleichheit 90-10
90-50
50-10
Gini
1,000***
1,000***
1,000***
1,000***
(0,000)
(0,000)
(0,000)
(0,000)
0,030**
0,012**
0,034*
0,019
(0,014)
(0,005)
(0,020)
(0,012)
Tarifabdeckung
0,004
0,026**
−0,007
0,013**
(0,004)
(0,011)
(0,006)
(0,006)
Koordinationsgrad
−0,313***
−0,381***
−0,300***
−0,211**
(0,090)
(0,102)
(0,103)
(0,106)
Kündigungsschutz
0,503***
0,224***
0,558**
0,517***
(0,170)
(0,080)
(0,252)
(0,137)
Kaitz-Index
0,017
0,023**
0,004
0,031***
(0,011)
(0,011)
(0,012)
(0,012)
Lohnersatzrate
0,004
−0,039*
0,035***
−0,027*
(0,010)
(0,022)
(0,010)
(0,015)
Lohnersatzdauer
−0,017
−0,045***
0,004
−0,046***
(0,013)
(0,016)
(0,012)
(0,013)
AAMP
3,313
1,763
1,956
9,364***
(2,608)
(3,865)
(4,212)
(2,208)
Steuerkeil
0,050***
−0,013
0,083***
0,029
(0,017)
(0,030)
(0,016)
(0,024) 0,933
Schock Organisationsgrad
R2
0,904
0,935
0,839
Länder
23
23
23
23
Länder-Jahre
253
253
253
253
Quellen: EU-SILC 2007–2017, OECD, Eurostat und ICTWSS, eigene Berechnungen. Panel-korrigierte Standardfehler in Klammern. Hinweis: Zur Methode vgl. Abschnitt 6.3.2. Länder-Dummies enthalten. Legende: * : p < 0,10; ** : p < 0,05; *** : p < 0,01.
gemeinsamen, länderübergreifenden Schocks auf die aggregierte Lohnungleichheit durch die jeweiligen Arbeitsmarktinstitutionen moderiert werden. Insgesamt zeigt sich, dass sowohl der gewerkschaftliche Organisationsgrad, der relative Kündigungsschutz sowie der Steuerkeil den Effekt des unbeobachteten Schocks verstärken, während der Koordinationsgrad einen abschwächenden Einfluss auf den unbeobachteten Schock hat. Diese Ergebnisse gelten im Grunde auch für
226
8
Krisen, Schocks und Institutionen
die anderen Ungleichheitsmaße. Abweichungen bestehen hinsichtlich der Tarifabdeckung, dem Kaitz-Index sowie der Lohnersatzdauer, die jeweils nur für die 90-50-Differenz und den Gini-Koeffizienten signifikant sind, sowie die Lohnersatzrate, die für alle Ungleichheitsmaße außer der 90-10-Differenz relevant sind. Wie lassen sich diese Ergebnisse nun interpretieren? Für die 90-10-Differenz bedeutet dies, dass ein gemeinsamer länderübergreifender Schock, der mit einem Anstieg der Lohnungleichheiten um 1 log-Punkt einhergeht, diese in einem Land mit einem überdurchschnittlichen Organisationsgrad (beispielsweise Dänemark mit 41,3 Prozentpunkten über dem EU-Durchschnitt) ceteris paribus um 2,24 log-Punkte stattdessen erhöhen würde (1 + 0,030 * 41,3 = 2,24). Dementsprechend würde dieser Schock in einem Land mit einem unterdurchschnittlichen Organisationsgrad (Beispielsweise Estland mit 20,7 Prozentpunkten unter dem EU-Durchschnitt) die Lohnungleichheit lediglich um 0,38 log-Punkte erhöhen. Ein positiver Koeffizient bedeutet somit, dass die jeweilige Institution den gemeinsamen Schock signifikant verstärkt, während ein negatives Vorzeichen darauf hindeutet, dass sie diesen abschwächt. Die Interaktionseffekte geben somit Information darüber, in welchem Maße bestimmte Institutionen einen gemeinsamen Schock moderieren, d. h., wie hoch die Schwankungen in der Beschäftigung oder der Entlohnung ausfallen. Angesichts dessen, dass die unbeobachteten Schocks allerdings zu einer Abnahme der Lohnungleichheiten beigetragen haben (vgl. Abbildung 8.1), bedeutet dies auch, dass dieser Rückgang der Lohnungleichheit in hochorganisierten Ländern deutlich stärker ausfällt. Eine Erklärung wäre, dass starke Gewerkschaften die Verhandlungsmacht ihrer Mitglieder – die meist der Stammbelegschaft entsprechen – stärken und dadurch auch deren Beschäftigungssicherheit und Löhne erhöhen können. Entlassungen der organisierten Stammbelegschaft werden somit deutlich unwahrscheinlicher. Während einer Krise können kollektive Interessenvertretungen zwei unterschiedliche Anpassungsstrategien verfolgen bzw. unterstützen: Zum einen eine externe Anpassung zu Lasten der deutlich flexiblere und unorganisierte Randbelegschaft, was aufgrund der unterdurchschnittlichen Verdienste zu einer Kompression der Lohnverteilung „von unten“ beiträgt. Zum anderen wäre es in besonders schwierigen Zeiten auch denkbar, dass die Stammbelegschaft zu Konzessionen in Form eines kollektiven Lohnverzichts im Rahmen von lohnsenkenden Beschäftigungsvereinbarungen (Streeck und Rehder 2003) im Tausch gegen Beschäftigungsgarantien bereit ist. Dies würde wiederum eine Kompression der Lohnverteilung „von oben“ nach sich ziehen. Beide Möglichkeiten würden mit rückläufigen Lohnungleichheiten einhergehen. In eine ähnliche Richtung zeigt auch der positive Effekt der Tarifabdeckungsrate, der –kontrolliert für den gewerkschaftlichen Organisationsgrad – lediglich für die Ungleichheit in der oberen
8.1 Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten
227
Abbildung 8.2 Interaktionseffekte für die 90-10-Differenz. (Quelle: Tabelle 8.1 Abgebildet sind die Auswirkungen des unbeobachteten Schocks auf die 90-10-Differenz für überdurchschnittliche (Max) und unterdurchschnittliche (Min) Werte in den Institutionenvariablen.)
Hälfte der Lohnverteilung sowie für den Gini-Koeffizienten signifikant ist. In der Regel profitieren von einer höheren Tarifabdeckung in erster Linie die unteren und mittleren Verdienstgruppen, indem deren Löhne angehoben, gleichzeitig aber auch ihre Beschäftigungschancen verringert werden (Kahn 2000). Letzteres lässt sich dadurch erklären, dass besonders geringqualifizierte Arbeit in Relation zu ihrer Produktivität durch zu hohe Tariflöhne zu teuer wird und damit die Nachfrage zurückgeht. Tarifverträge und deren Allgemeinverbindlichkeit legen somit eine indirekte Lohnuntergrenze fest und limitieren damit die Lohnflexibilität der Unternehmen. Jedoch legen Tarifverträge lediglich Mindeststandards fest, die gerade im oberen Verdienstsegment und in Großbetrieben deutlich überschritten werden können (Kohaut und Schnabel 2003). Dadurch ist das Potential für monetäre Anpassung zumindest bei den Besserverdienenden dennoch gegeben. Im Rahmen von lohnsenkenden Beschäftigungsvereinbarungen können somit
228
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Abbildung 8.3 Interaktionseffekte für die 90-50-Differenz. (Quelle: Tabelle 8.1 Abgebildet sind die Auswirkungen des unbeobachteten Schocks auf die 90-50-Differenz für überdurchschnittliche (Max) und unterdurchschnittliche (Min) Werte in den Institutionenvariablen.)
8.1 Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten
229
Konzessionen hinsichtlich der übertariflichen Bezahlung gemacht werden, die zu einer höheren Beschäftigungssicherheit beitragen. Dadurch würde sich erklären, warum ein unbeobachteter, die Lohnungleichheit reduzierender Schock in Ländern mit einer hohen tarifvertraglichen Abdeckung zu einem höheren Rückgang der Lohnungleichheit im oberen Bereich der Lohnverteilung beitragen kann.
Abbildung 8.4 Interaktionseffekte für die 50-10-Differenz. (Quelle: Tabelle 8.1 Abgebildet sind die Auswirkungen des unbeobachteten Schocks auf die 50-10-Differenz für überdurchschnittliche (Max) und unterdurchschnittliche (Min) Werte in den Institutionenvariablen.)
230
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Hinsichtlich des Koordinationsgrads der Tarifverhandlungssysteme zeigt sich hingegen ein signifikant negativer Interaktionseffekt. Ein länderübergreifender Schock führt in hochkoordinierten Systemen somit zu geringeren Schwankungen in der Lohnungleichheit. Dies könnte daran liegen, dass es beispielsweise leichter ist, eine Verlangsamung des Lohnwachstums als Reaktion auf ein verringertes Produktivitätswachstum zu erreichen, wenn die Verhandlungen auf nationaler statt auf lokaler oder Firmenebene stattfinden, wo eine Koordinierung einer Lohnmoderation schwieriger zu erreichen sein könnte. Erklären lässt sich dies dadurch, dass in hochkoordinierten Systemen makroökonomische Schocks besser wahrgenommen und verstanden werden können und dementsprechend auch besser darauf reagiert und gegengesteuert werden kann als in dezentralisierten und unkoordinierten Systemen. Wenn die Tarifverhandlungen auf nationaler oder branchenübergreifender Ebene stattfinden, können gesamtheitlich Strategien entwickeln werden, beispielsweise in Form von kollektiver Lohnmoderation oder der Anpassungen der Tarifverträge, um dadurch das Lohn- und Beschäftigungsniveau über die gesamte Belegschaft relativ stabil zu halten (Rueda und Pontusson 2000; Streeck und Rehder 2003). Aus denselben Gründen führt ein hoher Koordinationsgrad auch zu einer geringeren Zunahme der Arbeitslosigkeit als Reaktion auf makroökonomische Schocks (Blanchard und Wolfers 2000). Damit werden die Anpassungslasten egalitärer zwischen Stamm- und Randbelegschaft verteilt und im Vergleich zu unkoordinierten und dezentralen Systemen.Ein ausgeprägter institutioneller Dualismus in Form eines deutlich strikteren Kündigungsschutzes für regulär Beschäftigte im Vergleich zu befristet Beschäftigten verstärkt den Effekt des unbeobachteten Schocks auf die Lohnungleichheit. Besonders ausgeprägt ist dieser Interaktionseffekt für die 50-10-Differenz. Das bedeutet, dass je größer der Dualismus zwischen regulär und atypisch beschäftigten Arbeitnehmern ist, desto größer fallen auch die Schwankungen in den Lohnungleichheiten aus. Begründet werden kann dieser Befund damit, dass eine geringere Regulierung von atypischen Beschäftigungsformen bei einem gleichzeitig strikten Kündigungsschutz von regulär Beschäftigten zu einer größeren Spaltung der Belegschaft in eine stabile Stammbelegschaft und eine flexible Randbelegschaft führt (Bentolila et al. 2012; Barbieri und Cutuli 2016). Letztere wird dementsprechend umso wahrscheinlicher und intensiver als „Puffer“ gegenüber konjunkturellen Schwankungen eingesetzt, um die Stammbelegschaft zu schützen. Da atypische Beschäftigungsformen in der Regel mit deutlich geringeren Löhnen einhergehen (Giesecke 2006), u. a. bedingt durch die geringeren Fluktuationskosten, die sie den Arbeitgebern durch ihre Entlassung verursachen (Lindbeck und Snower 1988), führt diese Pufferfunktion zu größeren Schwankungen der Lohnungleichheit. In Krisenzeiten werden die
0,1 −1,5 0,4
0,3
19,3
−33,3
13,6
27,6
26,9
39,0
−35,2
−22,5
20,9
−49,6
−5,5
−40,9
22,6
−41,0
19,5
13,0
−24,8
−28,5
−8,7
41,3
−20,7
−5,0
−10,2
40,5
−19,3
−14,9
3,0
7,8
−18,3
8,3
−13,0
−8,4
−14,1
−8,4
36,8
0,5
−12,4
−1,2
DE
DK
EE
EL
ES
FI
FR
HU
IE
IT
LT
LU
LV
NL
PL
PT
SE
SI
SK
UK
−1,5
0,2
−0,1
0,2
−0,2 −0,4
1,1
1,2
−0,1
1,3
1,2
−2,1
−0,6
0,1
0,1
0,1
−1,8
0,0
−1,2
−0,7
−0,7
0,2
1,0
1,1
−22,8
−24,6
−9,1
9,5
24,3
−6,5
21,1
−22,5
32,2
16,9
16,9
16,9
11,5
9,5
21,2
16,2 −35,9
−1,9
10,8
12,2
10,2
19,0
12,5
−35,9
11,0
14,0
26,8
−35,9
2,3
11,5
−0,05
−0,05
−0,03
0,06
−0,02
−0,01
0,08
−0,05
0,02
−0,04
−0,02
0,00
0,01
0,01
0,04
−0,03
−0,05
−0,05
0,16
−35,9 3,1
0,00
−0,03
0,00
0,05
AAMP
−27,2
2,6
12,0
−35,9
Kaitz-Index
−3,8
0,2
−8,3
16,9
−16,3
12,0
7,7
−28,3 −15,2
12,9
−1,7
−7,0
−17,4
0,3
−39,6
−27,6
10,3
−24,6
14,2
6,0
16,9
Lohnersatzdauer
−4,0
−15,1
17,4
9,0
12,3
−8,9
0,3
23,6
14,1
−19,8
15,5
1,5
−0,5
−1,5
1,5
−1,5
0,5
−0,5
1,2
0,5
−0,6
−1,2
1,5
1,5
−1,5
−2,5
−1,1
Lohnersatzrate
0,5
Kündigungsschutz
Quelle: OECD, Eurostat und ICTWSS, eigene Berechnungen.
30,7
−1,5
−28,3
−12,2
CZ
2,5
1,5
27,2
38,9
36,9
1,5
Koordinationsgrad
BE
Tarifabdeckung
AT
Organisationsgrad
Tabelle 8.2 Zeitkonstante Institutionenvariablen als Abweichung vom EU-Mittelwert
−10,0
−1,6
1,0
3,4
−4,7
−3,5
−5,4
3,5
−8,2
1,4
4,8
−14,8
8,5
7,5
−0,5
−2,2
−1,4
−0,1
−4,1
7,5
1,4
11,5
5,8
Steuerkeil
8.1 Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten 231
232
8
Krisen, Schocks und Institutionen
atypisch Beschäftigten als erstes Entlassen, wodurch sich die Lohnverteilung komprimiert. In Phasen des Aufschwungs wird die Belegschaft zunächst über die Randbelegschaft aufgestockt, da die potenziellen Entlassungskosten für regulär Beschäftigte, bedingt durch den hohen Kündigungsschutz, in diesen Ländern zu hoch sind. Dadurch kommt es zu einem Anstieg der Lohnspreizung. Dementsprechend fällt der Effekt auch stärker am unteren Ende der Lohnverteilung aus, da dort die Lohneinbußen von befristeten Beschäftigten am größten sind (vgl. Kapitel 7). Ein ausgeprägter institutioneller Dualismus geht somit vor allem mit extern-numerischen Flexibilisierungsformen auf Kosten der Randbelegschaft einher, d. h., in erster Linie mit Entlassungen (bzw. Nichtverlängerungen) oder Einstellungen über atypische Arbeitsverhältnisse (Hypothese 4). Gesetzliche Mindestlöhne bilden, ähnlich wie eine hohe Tarifabdeckung, eine institutionelle Lohnuntergrenze, die mit einer geringeren Lohnflexibilität seitens der Unternehmen einhergeht. Theoretisch wird daher angenommen, dass monetäre Anpassungsstrategien unwahrscheinlicher werden – zumindest für die Geringverdiener des Betriebes. Unternehmer werden stattdessen vermehrt auf externe Flexibilisierungsmaßnahmen zurückgreifen oder die Löhne der Besserverdienenden reduzieren. Ähnlich wie die Tarifabdeckung zeigt auch der Kaitz-Index, d. h., das Verhältnis von Mindestlohn zum Medianlohn, lediglich einen signifikanten Effekt auf die 90-50-Differenz sowie den Gini-Koeffizienten. Ohne die Kontrolle weiterer Institutionen, zeigt sich jedoch ein Effekt auf die unteren Lohnungleichheiten (vgl. Tabelle 8.3). Überdurchschnittlich hohe Mindestlöhne tragen somit zu höheren Schwankungen in der Lohnungleichheit im oberen Bereich der Verteilung bei. Dies erklärt sich dadurch, dass Anpassungen der Personalkosten aufgrund sogenannter wage floors nur im eingeschränkten Maße über die Löhne möglich sind und daher vor allem für klassische Niedriglohngruppen auf andere Anpassungsmaßnahmen zurückgegriffen werden muss, wie Befristungen oder gar Entlassungen. Während Geringverdiener jedoch direkt durch den Mindestlohn betroffen sind, wirkt sich dieser auch auf Verdienste knapp oberhalb des Mindestlohns aus. Dieser sogenannte ripple effect beschreibt das Phänomen, dass die Löhne derjenigen, die knapp über dem Mindestlohnniveau verdienen, durch die Erhöhung oder Einführung eines Mindestlohns automatisch erhöht werden, um die Lohnabstände zwischen den unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen zumindest teilweise wiederherzustellen (Grimshaw 2011, S. 26; Boeri und van Ours 2013, 30 f.). Dadurch ist nicht nur direkt die Lohnflexibilität am unteren Ende der Lohnverteilung begrenzt, sondern indirekt auch für mittlere Verdienste. In Ländern mit hohen relativen Mindestlöhnen könnten Anpassungen der Personalkosten dementsprechend stärker über Entlassungen der Beschäftigten mit geringeren Verdiensten
8.1 Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten
233
oder über eine Anpassung der oberen Verdienste erfolgen, wo eine höhere monetäre Flexibilität gegeben ist. Da der Interaktionseffekt lediglich auf die obere Hälfte der Lohnverteilung und den Gini-Koeffizienten signifikant ist, deuten die Ergebnisse daher eher auf die Konzessionen seitens der Besserverdienenden – dies widerspricht jedoch Hypothese 3. Der Einfluss der Lohnersatzrate – die Höhe der Nettoersatzleistungen in Prozent des vorherigen Verdienstes, die im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit gezahlt werden – auf den Schock unterscheidet sich stark in Abhängigkeit von den betroffenen Verdienstgruppen. So wird der Schock in der oberen Hälfte der Verteilung abgemildert, während er in der unteren Hälfte verstärkt wird. Wie Abbildung 8.4 für die 50-10-Differenz zeigt, variiert die Wirkung des unbeobachteten Schocks deutlich stärker in Ländern mit überdurchschnittlichen Lohnersatzraten im Vergleich zu Ländern mit unterdurchschnittlichen Werten. Ein gemeinsamer Schock, der mit einem Rückgang der Lohnungleichheit in der unteren Hälfte einhergeht, führt im Falle von überdurchschnittlichen Lohnersatzraten zu einem deutlich höheren Rückgang der Lohnungleichheit, in Ländern mit unterdurchschnittlichen Lohnersatzraten hingegen zu einem deutlich geringeren. Begründet werden kann dies damit, dass Lohnersatzleistungen wie indirekte Mindestlöhne funktionieren und daher eine implizite Lohnuntergrenze bilden, die sich aus dem erhöhten Reservationslohn der Arbeitskräfte ergibt. Je höher die Ersatzleistungen, desto geringer sind die Anreize der Arbeitssuchenden, eine geringentlohnte Tätigkeit anzunehmen bzw. desto geringer ist die Konzessionsbereitschaft von Arbeitnehmern Lohnkürzungen hinzunehmen. Auf diese Weise sinkt die Lohnflexibilität der Unternehmen und sie müssen auf andere Flexibilisierungsformen zurückgreifen, beispielsweise auf Entlassungen. Hohe Lohnersatzraten gehen dementsprechend mit höheren Arbeitslosigkeitsrisiken, insbesondere für Geringqualifizierte einher (Esping-Andersen 2000, S. 78) und halten diese dementsprechend auch länger vom Arbeitsmarkt fern (OECD 2011, S. 31; Koeniger et al. 2007), was zu einer Kompression der Lohnverteilung „von unten“ und einem Rückgang in der 50-10-Differenz beiträgt. Für die obere Hälfte der Lohnverteilung gehen hingegen unterdurchschnittliche Lohnersatzraten mit deutlich größeren Schwankungen in der Lohnungleichheit einher (vgl. Abbildung 8.3). In dieselbe Richtung zeigt auch der Interaktionseffekt der Lohnersatzdauer, d. h., der Anteil an Nettoersatzleistungen, die auch noch im zweiten bzw. vierten Jahr der Arbeitslosigkeit gezahlt werden. Zu erklären ist dies damit, dass eine unterdurchschnittliche Rate sowie Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen mit einem deutlich höheren monetären Anpassungsdruck auf die Beschäftigten einhergehen. Die drohenden finanziellen
234
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Verluste im Falle der Arbeitslosigkeit führen somit zu einer höheren Konzessionsbereitschaft der Arbeitnehmerschaft, die umso größer ausfällt, je höher ihre Löhne sind. Somit verschlechtert sich die Verhandlungsposition von Arbeitnehmern insbesondere mit höheren Verdiensten, wodurch die unternehmerische Lohnflexibilität zunimmt. Das Resultat ist somit eine stärkere Kompression der Lohnverteilung „von oben“ und sinkende Lohnungleichheiten in der oberen Hälfte der Lohnverteilung. Dies entspricht zumindest hinsichtlich der oberen Verdienstgruppen der Hypothese 5. Das Niveau der Lohnersatzraten und deren Bezugsdauer hat somit einen entscheidenden Einfluss auf die betrieblichen Anpassungsstrategien in Bezug auf die Stamm- und Randbelegschaft. Höhere Lohnersatzraten führen somit eher zu extern-numerischen Anpassungen der geringentlohnten Randbelegschaft aufgrund höherer Reservationslöhne, während geringere Lohnersatzraten und eine geringere Bezugsdauer monetäre Anpassungen der besserverdienenden Stammbelegschaft erleichtern. Die Höhe der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitiken (AAMP) zeigen lediglich einen signifikant positiven Interaktionseffekt im Falle des GiniKoeffizienten. Das könnte darauf hinweisen, dass die Auswirkungen des unbeobachteten Schocks tendenziell weniger an den Rändern als über die gesamte Lohnverteilung hinweg durch aktive Arbeitsmarktpolitiken moderiert wird. Interpretieren lässt sich dieser Interaktionseffekt so, dass ein ungleichheitssteigernder Schock in Ländern, in denen aktive Arbeitsmarktpolitiken eine größere Rolle spielen, stärker ausfällt. Dies könnte beispielsweise dadurch erklärt werden, dass je nachdem was für eine Strategie verfolgt wird – ob empowerment oder work-first (Bosch 2009) – die aktive Arbeitsmarktpolitik auf eine schnelle Wiederbeschäftigung abzielt, wobei die Qualität oder die Konditionen dieser Beschäftigung zweitrangig sind. Aktivierende Maßnahmen in Kombination mit negativen Sanktionen senken dementsprechend den Reservationslohn der Arbeitssuchenden, womit deren Bereitschaft (oder Notwendigkeit) auch geringentlohnte Tätigkeiten anzunehmen, steigt (Clark und Kanellopoulos 2013). Gleichzeitig können Lohnsubventionen einen wichtigen Bestandteil aktiver Arbeitsmarktpolitiken bilden (King und Rueda 2008, S. 279), die das Angebot geringentlohnter Arbeit zusätzlich erhöhen können, da Arbeitnehmer eher dazu bereit sind, Niedriglöhne zu akzeptieren, wenn diese durch staatliche Leistungen aufgestockt werden. Auf diese Weise wird ein höheres Arbeitskräfteangebot, bestehend aus einfachen Qualifikationen und geringen Löhnen, im externen Arbeitsmarkt bereitgestellt auf das die Unternehmen mit vergleichsweise geringen Transaktionskosten flexible zurückgreifen können. Aus Unternehmenssicht werden so kurzfristige und externe Flexibilisierungsstrategien attraktiver. Dementsprechend würde ein wirtschaftlicher Aufschwung in diesen Ländern mit einem schnelleren und kostengünstigerer
8.1 Unbeobachtete Schocks und aggregierte Lohnungleichheiten
235
Beschäftigungsaufbau über die Randbelegschaft erfolgen, was mit einer größeren Lohnspreizung einhergeht. Ein wirtschaftlicher Abschwung würde somit zu einem rascheren und größeren Abbau des Beschäftigungsvolumens auf Kosten der Randbelegschaft erfolgen– was wiederum zu einer geringeren Lohnspreizung beiträgt. Der Interaktionseffekt des Steuerkeils hat sowohl einen signifikanten Einfluss auf die 90-10- sowie die 50-10-Diffferenz. Daraus kann geschlossen werden, dass eine höhere Besteuerung in erster Linie die Auswirkungen des Schocks auf die Geringverdiener moderiert. Dies steht im Einklang mit der Literatur, die einen starken Zusammenhang zwischen hohen Steuern und Abgaben und dem Beschäftigungsniveau von primär Geringqualifizierten und Jugendlichen konstatiert (Esping-Andersen 2000, S. 77; OECD 1994), der dementsprechend auch mit einer Reduktion von Niedriglohnbeschäftigung einhergeht (Clark und Kanellopoulos 2013). Die Höhe des Steuerkeils hat demnach einen entscheidenden Einfluss auf die Arbeitsnachfrage als auch auf das Arbeitsangebot, insbesondere von geringqualifizierter Arbeit. Höhere Steuern und Abgaben führen ebenfalls zu höheren Reservationslöhnen auf Seiten der Arbeitnehmer, da ihr Nettoverdienst mit steigender Abgabenbelastung deutlich geringer ausfällt und dadurch auch die Motivation zur Aufnahme einer geringentlohnten Arbeit. Arbeitgeber müssen demnach höhere Bruttostundenlöhne zahlen, um das Arbeitsangebot aufrecht zu erhalten, was dazu führt, dass die Arbeitskosten geringqualifizierter Arbeit im Verhältnis zur Produktivität steigen. Höhere Steuern und Abgaben fördern zudem die Inanspruchnahme von alternativen, nichtregulären Beschäftigungsformen wie beispielsweise der geringfügigen Beschäftigung, die mit geringeren Steuern und Abgaben, gleichzeitig jedoch auch mit geringeren Löhnen und Beschäftigungssicherheiten einhergehen (Eichhorst et al. 2012; Bosch 2009). Dadurch trägt das Steuern- und Abgabensystem zur Etablierung einer flexiblen Randbelegschaft bei, über die das Beschäftigungsvolumen in Krisenzeiten in erster Linie angepasst wird, und fördert somit extern-numerische Anpassungsformen (Hypothese 6). Dies betrifft in erster Linie Geringqualifizierte und Arbeitsmarkteinsteiger, die in der Regel unterdurchschnittliche Löhne bekommen, was wiederum zu einer Kompression der Lohnverteilung am unteren Ende führt, wenn diese während eines Abschwungs als erstes entlassen werden. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass die Auswirkungen gemeinsamer Schocks auf die Lohnverteilung in hohem Maße durch nationale Arbeitsmarktinstitutionen moderiert werden, indem sie sowohl die Reservationslöhne sowie die kollektive Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer, als auch die Lohnflexibilität und die Transaktionskosten auf Seiten der Unternehmen direkt oder indirekt beeinflussen. Dabei erwiesen sich insbesondere der relative Kündigungsschutz, der Steuerkeil
236
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Tabelle 8.3 Unbeobachtete Schocks und zeitkonstante Institutionen: Alternative Spezifikation 90-10
90-50
50-10
Gini
1,000***
1,000***
1,000***
1,000***
(0,000)
(0,000)
(0,000)
(0,000)
0,014***
−0,011**
0,028***
0,004
(0,005)
(0,005)
(0,006)
(0,006)
Tarifabdeckung
0,006
0,002
0,010**
0,006*
(0,004)
(0,005)
(0,004)
(0,004)
Koordinationsgrad
0,122
−0,215**
0,319***
0,049
(0,087)
(0,084)
(0,060)
(0,082)
Kündigungsschutz
0,306***
−0,059
0,427***
0,222***
(0,075)
(0,078)
(0,153)
(0,067)
Kaitz-Index
−0,007*
0,012**
−0,019***
0,001
(0,004)
(0,006)
(0,003)
(0,004)
Lohnersatzrate
0,010*
−0,008
0,021***
0,009
(0,006)
(0,006)
(0,004)
(0,006)
Lohnersatzdauer
−0,009
−0,026***
−0,000
−0,026***
(0,008)
(0,010)
(0,008)
(0,007)
AAMP
5,128***
−6,800***
11,048***
2,843
(1,674)
(1,717)
(0,966)
(1,857)
Steuerkeil
0,029*
0,002
0,048***
0,021
(0,016)
(0,025)
(0,014)
(0,024)
Schock Organisationsgrad
Länder
23
23
23
23
Länder-Jahre
253
253
253
253
Quelle: EU-SILC 2006–2017, OECD, Eurostat und ICTWSS, eigene Berechnungen. Panelkorrigierte Standardfehler. Hinweis: Selbes Modell wie Tabelle 8.1, nur werden hier alle Institutionenvariablen einzeln in das Modell aufgenommen und getestet. Länder-Dummies enthalten. Legende: * : p < 0,10; ** : p < 0,05; *** : p < 0,01.
und teilweise auch aktive Arbeitsmarktpolitiken als entscheidende Faktoren für externe-Anpassungsformen auf Kosten der Randbelegschaft. Ein hoher Koordinationsgrad ging stattdessen mit einer egalitäreren Verteilung der Anpassungslasten zwischen Stamm- und Randbelegschaft einher, wodurch es zu deutlich geringeren Schwankungen in der Lohnungleichheit kommt. Die Höhe und Bezugsdauer
8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks
237
von Lohnersatzleistungen sowie der gewerkschaftliche Organisationsgrad können zu einer höheren Konzessionsbereitschaft der Stammbelegschaft beitragen, aber auch externe Anpassungsformen auf Kosten der Randbelegschaft fördern. Die Tarifabdeckungsrate sowie gesetzliche Mindestlöhne führen hingegen durch die Einschränkungen der Lohnflexibilität in der unteren Hälfte der Lohnverteilung tendenziell eher zu Konzessionen der oberen Verdienstgruppen. Unabhängig davon, was letzten Endes zum durchschnittlichen Rückgang in der Lohnungleichheit beigetragen hat, tragen die unterschiedlichen institutionellen Arrangements in den EU-Mitgliedsstaaten somit erheblich zu den länderspezifischen Mustern der Lohnanpassung bei. In einem nächsten Schritt geht es nun darum, den bisher als gemeinsam angenommenen Schock durch beobachtbare Schocks zu ersetzen, die nicht nur über die Zeit, sondern auch zwischen den Ländern variieren und damit die unterschiedliche Krisenbetroffenheit der Mitgliedsstaaten widerspiegeln. Damit erreichen die nachfolgenden Modelle zwar ein höheres Maß an Komplexität, nähern sich aber gleichzeitig auch den realen Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedsstaaten während der Krise an und tragen somit zu einem besseren Verständnis für die heterogenen Lohnentwicklungen zwischen den Ländern bei.
8.2
Beobachtbare und länderspezifische Schocks
Im folgenden Abschnitt werden drei makroökonomische Schocks herangezogen, die die Auswirkungen der unterschiedlichen Eurokrisen (vgl. Kapitel 4) operationalisieren sollen, um auf diese Weise die länderspezifischen Auswirkungen der Krise auf die Lohnungleichheiten zu untersuchen und wie diese durch die Arbeitsmarktinstitutionen moderiert werden. Gleichzeitig soll dadurch gezeigt werden, ob die drei länderspezifischen, beobachteten Schocks zu denselben Trends und Entwicklungen beitragen, wie der gemeinsame, unbeobachtete Schock aus dem vorherigen Abschnitt. Auch in diesem Fall werden Interaktionseffekte zwischen den drei Schocks und den Arbeitsmarktinstitutionen zugelassen, sodass die länderspezifischen Schocks mit der Gesamtheit an nationalen Arbeitsmarktinstitutionen variieren können. Im Rahmen dieser Untersuchung werden drei unterschiedliche Formen von makroökonomischen Schocks herangezogen, die die jeweiligen drei Krisen der EU (Shambaugh 2012) grob abbilden sollen. Dies ist zum einen ein Nachfrageschock in Form der Veränderung des realen BIP pro Kopf, der für eine bessere Interpretierbarkeit logarithmiert wird. Dieser soll den Einbruch in der aggregierten Nachfrage während der globalen Wirtschaftskrise abbilden. Zweitens ein
238
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Abbildung 8.5 Entwicklung der länderspezifischen Schocks. (Quelle: IWF, Eurostat und AMECO, eigene Berechnungen. Abbildung gibt die Entwicklung und Streuung der Ungleichheitsmaße für 23 EU-Mitgliedsstaaten sowie den EU-Durchschnitt wieder.)
8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks
239
monetärer Schock, der anhand der Entwicklung der Realzinsen für langfristige Anleihen mit einer Laufzeit von etwa zehn Jahren operationalisiert wird und für die Finanz- und Bankenkrise steht. Und drittens ein fiskalischer Schock in Form von steigenden oder sinkenden Haushaltsdefiziten, gemessen anhand des konjunkturbereinigten Primärsaldos, die als Phasen der fiskalischen Expansion während der Wirtschaftskrise bzw. der fiskalischen Konsolidierung (Austerität) während der Staatsschuldenkrise interpretiert werden können. Abbildung 8.5 zeigt die Verläufe dieser drei Schocks über die Krisenperiode, sowohl als ungewichteter EU-Durchschnitt als auch als Streuung der Mitgliedsstaaten um diesen Mittelwert herum. Die größten Ausschläge sind in allen drei Fällen für das Jahr 2009, dem Jahr der Wirtschaftskrise, zu erkennen. Das reale BIP erreichte in diesem Jahr Einbußen von bis zu 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und zeigte 2012 noch einmal einen Einbruch, bevor es dann im Durchschnitt wieder kontinuierlich zu wachsen anfing. Die Streuung der einzelnen Länder um den Mittelwert war während der Krisenjahre 2009–2011 am größten, d. h., hier zeigt sich die heterogene Betroffenheit und Erholung von der Wirtschaftskrise am deutlichsten. Der Realzins stieg ebenfalls 2009 am stärksten an – mit einigen Ausreißern weit über die 20-Prozent-Marke. Dementsprechend erhöhte sich ab da auch die Divergenz zwischen den Ländern, nach Jahren der vorherigen Zinskonvergenz. Hinsichtlich des konjunkturbereinigten Primärsaldos lässt für das Jahr 2009 die Phase der fiskalischen Expansion und staatlichen Bankenrettung erkennen, die in fast allen Ländern als Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise durchgeführt wurde und zu teils erheblichen Haushaltsdefiziten geführt hat. Ab 2012 sieht man dann die Phase der fiskalischen Konsolidierung, die in vielen Ländern durch Austeritätsmaßnahmen begleitet wurde und zu deutlichen Rückgängen des konjunkturbereinigten Primärsaldos, gemessen am potenziellen BIP, beigetragen hat. Tabelle 8.4 zeigt des Weiteren, dass die drei länderspezifischen Schocks relativ unabhängig voneinander sind. Lediglich das BIP und der konjunkturbereinigte Primärsaldo sind schwach miteinander korreliert. Sie können daher als drei unterschiedliche und voneinander unabhängige makroökonomische Schocks für die europäischen Volkswirtschaften betrachtet und für die folgenden Analysen herangezogen werden. Um den Einfluss dieser drei unterschiedlichen makroökonomischen Schocks auf die Lohnungleichheit zu untersuchen, werden in einem ersten Schritt die Veränderungen in den vier Ungleichheitsmaßen lediglich auf die drei länderspezifischen Schocks regressiert. Letztere sind dabei um ein Jahr verzögert in das Modell aufgenommen, sodass eine mögliche Gleichzeitigkeitsverzerrung (simultaneity bias) sowie eine umgekehrte Kausalität (reverse causality),
240
8
Krisen, Schocks und Institutionen
d. h. eine Verwechselung in der Wirkungsrichtung zwischen abhängiger und unabhängiger Variablen, berücksichtigt werden. Auch in diesem Fall werden lineare Panelregressionen mit fixen Ländereffekten und Panel-korrigierten Standardfehlern herangezogen. Im Gegensatz zu den Modellen mit dem unbeobachteten Schock, werden zusätzlich noch fixe Periodeneffekte in das Modell miteinbezogen, wodurch für gemeinsame bzw. als gleich angenommene langfristige Trends kontrolliert wird, wie beispielsweise die Deindustrialisierung, der technologische oder demografische Wandel. Tabelle 8.4 Korrelation zwischen den drei länderspezifischen Schocks (1)
(2)
(1) Reales BIP pro Kopf (log)
1
(2) Realzins
−0,044
1
(3) Konjunkturbereinigter Primärsaldo
0,225***
0,017
(3)
1
Quelle: IWF, Eurostat und AMECO, eigene Berechnungen.
In Tabelle 8.5 sind die Ergebnisse der linearen Panelregressionen abgetragen, die die Auswirkungen der drei länderspezifischen makroökonomischen Schocks auf die vier Lohnungleichheitsmaße abbilden. Es zeigt sich, dass die Veränderung des realen BIP einen signifikant positiven Effekt auf die 90-50-Differenz und einen signifikant negativen auf die 50-10-Differenz hat. Das bedeutet, dass ein Anstieg des realen BIP im Allgemeinen mit höheren Lohnungleichheiten in der oberen Hälfte sowie mit geringeren Lohnungleichheiten in der unteren Hälfte der Verteilung einhergeht. Erklärt werden kann dies dadurch, dass von einem wirtschaftlichen Aufschwung im Vergleich zu den mittleren Verdienstgruppen in erster Linie die oberen sowie die unteren Verdienstgruppen stärker profitieren. Diese Beobachtung kann beispielsweise den deutlichen Rückgang der Lohnungleichheit in vielen osteuropäischen Mitgliedsstaaten erklären, der durch den überproportionalen Anstieg der unteren Verdienste bedingt wurde. Diese hatten nämlich neben einem temporären Einbruch der BIP um das Jahr 2009 ansonsten ein kräftiges und stetiges Wirtschaftswachstum vorzuweisen. Weiterhin zeigen die Koeffizienten für das reale BIP, dass im Falle einer Rezession die Lohnspreizung in der oberen Hälfte der Verteilung geringer und die in der unteren Hälfte größer werden würde. Dies liegt an den sinkenden Löhnen am oberen und unteren Rand der Verteilung. Neben dem realen BIP zeigt des Weiteren noch der konjunkturbereinigte Primärsaldo einen signifikant negativen Effekt auf die 90-50-Differenz sowie auf den Gini-Koeffizienten. Somit führt ein positiver Anstieg des Primärsaldos, was
8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks
241
in diesem Fall als fiskalische Konsolidierung betrachtet wird, zu einer Reduktion der Lohnungleichheiten, zumindest in der oberen Hälfte der Verteilung. Erklären lässt sich dies dadurch, dass eine Reduktion des Haushaltsdefizits bzw. eine Zunahme der Haushaltsüberschusses primär zu einem Absinken der Löhne im obersten Lohndezil führt, während die unteren und mittleren Löhne relativ unberührt davon sind. Dies wird größtenteils auf Lohnanpassungen von Besserverdienenden im öffentlichen Dienst zurückgehen, wie diese häufig im Rahmen der EU-Krisenpolitik empfohlen bzw. gefordert wurde, um die staatlichen Ausgaben zu reduzieren. Dies bestätigen auch die vorherigen Ergebnisse, die zeigen, dass in den Ländern mit den umfangreichsten Konsolidierungsmaßnahmen, also Portugal, Spanien, Griechenland und Irland (vgl. Kapitel 4), zugleich die größten Einschnitte in den Spitzenverdiensten des öffentlichen Sektors festzustellen sind (vgl. Kapitel 7). Austeritätspolitiken wirken sich somit in erster Linie über die Löhne und Gehälter des öffentlichen Dienstes auf die Lohnungleichheiten aus. Dieses Ergebnis bekräftigt erneut die Annahme, dass der Staat primär über Lohnanpassungen auf etwaige Schocks reagiert hat und nicht über die Freisetzung seiner Bediensteten (Hypothese 7). Es kann somit davon ausgegangen werden, dass fiskalische Schocks sich in erster Linie direkt auf die Beschäftigten im öffentlichen Dienst auswirken. In zweiter Linie kann jedoch durch das veränderte Konsum- und Investitionsverhalten des Staates auch die aggregierte Nachfrage beeinflusst werden und dadurch die Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft betreffen. Diese Auswirkungen wären jedoch deutlich indirekter und daher vermutlich nicht durch die hier vorliegenden Modelle abbildbar. Monetäre Schocks, in Form von Veränderungen der Realzinsen, weisen hingegen auf den ersten Blick keinen direkten Einfluss auf die Veränderungen der Lohnungleichheiten auf. Tabelle 8.5 Länderspezifische Schocks und Lohnungleichheiten
Reales BIP pro Kopf (log) Realzins
90-10
90-50
50-10
−0,080
0,134**
−0,214***
Gini 2,320
(0,111)
(0,068)
(0,071)
(2,272)
−0,000
−0,000
−0,000
−0,004
(0,001)
(0,001)
(0,001)
(0,032) (Fortsetzung)
In einem zweiten Schritt werden diese drei länderspezifischen Schocks, wie im vorherigen Abschnitt, mit den zeitkonstanten Institutionenvariablen interagiert, um zu untersuchen, ob die Einflüsse des realen BIP, der Realzinsen und
242
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Tabelle 8.5 (Fortsetzung) 90-10
90-50
50-10
Gini
Konjunkturbereinigter Primärsaldo
−0,004
−0,004**
−0,001
−0,098**
(0,003)
(0,001)
(0,002)
(0,047)
Konstante
2,283**
−0,692
2,977***
7,486
(1,159)
(0,706)
(0,739)
(23,684) 0,929
R2
0,898
0,933
0,821
Länder
23
23
23
23
Länder-Jahre
253
253
253
253
Quelle: EU-SILC 2007–2017, IWF, Eurostat und AMECO, eigene Berechnungen. Panelkorrigierte Standardfehler in Klammern. Länder- und Perioden-Dummies enthalten. Alle Variablen sind um ein Jahr verzögert. Legende: * : p < 0,10; ** : p < 0,05; *** : p < 0,01.
der Fiskalpolitik auf die aggregierten Lohnungleichheiten durch die institutionellen Arrangements der Nationalstaaten moderiert werden, was wiederum auf die unterschiedlichen Formen der Flexibilitätsgestaltung seitens der Unternehmen zurückzuführen wäre. Tabelle 8.6 zeigt dazu die Interaktionseffekte zwischen den drei makroökonomischen Schocks und den zeitkonstanten Institutionenvariablen, die wieder um den EU-Durchschnitt zentriert wurden (vgl. Tabelle 8.2). Die Koeffizienten der Schock-Variablen sind somit abhängig von den Institutionenvariablen und geben damit die Veränderung des jeweiligen Ungleichheitsmaßes bei durchschnittlichen Werten in allen neun Institutionen wieder. Der Übersichtlichkeit halber ist jeweils immer nur einer der drei Schocks (BIP; Realzins, Primärsaldo) sowie die Interaktionseffekte zwischen diesem Schock und den Institutionen abgebildet. Für die jeweils anderen beiden Schocks wird jedoch kontrolliert. Für das reale BIP zeigt sich, dass ein Anstieg bei durchschnittlichen Werten in alle Institutionenvariablen zu einem Rückgang der 90-10- sowie der 50-10Differenz bei einem gleichzeitigen Anstieg der 90-50-Differenz führt. Dabei zeigt sich insbesondere der Einfluss auf die untere Hälfte der Lohnverteilung als statistisch besonders signifikant und stark ausgeprägt. Die einzigen signifikanten Interaktionseffekte sind im Falle des BIP die gesetzlichen Mindestlöhne, gemessen am Kaitz-Index, sowie der Steuerkeil – beide jeweils nur für die 5010-Differenz signifikant. Überdurchschnittlich hohe Mindestlöhne (relativ zum Medianlohn) verringern somit den ungleichheitsreduzierenden Effekt des realen BIP auf die Lohnungleichheiten im unteren Bereich. Ein Anstieg des BIP um 1 log-Punkt würde bei überdurchschnittlich hohen Mindestlöhnen die 50-10-Differenz lediglich um 0,218 statt der 0,585 log-Punkte
KaitzIndex
Kündigungsschutz
(0,0034)
(0,0101)
(0,1651)
0,0577
0,0137*
−0,0001
0,0138
(0,0080)
(2,4585)
(0,0887)
(0,0003)
−0,0008***
(0,0026)
−0,0034
(0,0001)
−0,0001
(0,0012)
−0,0013
(0,0016)
(0,0001) −0,0005
−0,0002***
(0,0001)
(0,0001)
−1,5722
(0,0799)
(0,0012) 0,0002
−0,0001
−0,0002*
(0,0003)
(0,0031)
(0,1292)
0,0012
(0,0026) 0,0002
(0,0002)
−0,0007***
(0,0018)
−0,0020
(0,0023)
0,0006
(0,0001)
−0,0000
(0,0002)
0,0000
(0,0025)
0,0071***
50-10
(0,0042)
−0,0105**
(0,0488)
−0,0393
(0,0631)
0,0083
(0,0020)
−0,0040**
(0,0041)
0,0053
(0,0372)
0,0290
Gini
−0,0002**
−0,0001
0,0013
−0,0001
(0,0002) (0,0001)
−0,0001
(0,0033) (0,0013)
0,0026
(0,0026) (0,0018)
−0,0007
0,0031*
(0,0002) (0,0001)
0,0000
(0,0003) (0,0001)
0,0002
(0,0031) (0,0013)
−0,0021 −0,0033***
90-50
(0,0002)
−0,0001
(0,0026)
0,0013
(0,0018)
−0,0038**
(0,0001)
0,0001
(0,0002)
0,0004**
(0,0026)
0,0013
50-10
(Fortsetzung)
(0,0037)
−0,0014
(0,0566)
0,0719
(0,0574)
0,1240**
(0,0032)
−0,0026
(0,0039)
−0,0002
(0,0479)
−0,0616
Gini
90-10
−0,0022*
90-50
90-10 0,0051*
Interaktionseffekte mit Primärsaldo als Schock
Interaktionseffekte mit Realzins als Schock
(1,9139)
0,0287
(0,0962)
(0,0533)
1,4533
(0,0888)
(0,0052)
0,1135
(0,0032)
0,0348
0,0106
−0,0040
0,0315
Koordi- 0,1509 nationsgrad (0,1077)
(3,5619) −0,0163
0,0050
(0,0144)
(0,1559)
−0,0088
(0,2039)
(0,0049)
−0,0123
−0,5845***
−2,2427
(0,0149)
(0,0972)
−0,0036
(0,2068)
0,1707*
−0,4146**
Tarifab- 0,0008 deckung (0,0061)
Organisationsgrad
Schock
Interaktionseffekte mit BIP als Schock SchockVariable 90-10 90-50 50-10 Gini
Tabelle 8.6 Länderspezifische Schocks und zeitkonstante Institutionen
8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks 243
−1,5017
(2,1708)
−0,0015
(0,0123)
−2,2937
(1,7933)
−2,4780
(4,8460)
−0,0275
(0,0224)
13,4277**
(6,4662)
23
Länder
Länder- 253 Jahre
(0,4771)
253
23
0,839
(5,4709)
(0,0976)
3,8447***
(0,0003)
0,0006**
253
23
0,931 253
23
0,905
(99,4325) (1,1867)
15,6930*** 165,8597*
(0,0150)
(93,492) −0,2973
−0,0265*
−0,1281
(0,0002)
0,0002
(0,0002)
253
23
0,944
(0,6090)
−0,0217
(0,0002)
0,0003
(0,0318)
−0,0367
(0,0001)
0,0001
(0,0001)
90-50 0,0001
90-10 0,0004**
50-10
253
23
0,846
(0,7531)
3,7774***
(0,0002)
0,0004
(0,0885)
−0,0935
(0,0001)
0,0001
(0,0002)
0,0003**
Gini
90-50 0,0000
(1,5719)
253
23
0,931
(22,9512)
33,6838
(0,0071)
0,0112
253
23
0,898
253
23
0,936
(1,2068) (0,6801)
2,6134**
−0,4832
(0,0003) (0,0001)
−0,0001
−0,0003*
(0,0690) (0,0325)
0,0094
(0,0002) (0,0001) 0,0298
−3,1387**
−0,0000
−0,0000
(0,0003) (0,0001)
−0,0001
90-10
(0,0028)
0,0035
(0,0033)
0,0078**
253
23
0,830
(0,8545)
3,1053***
(0,0003)
0,0002
(0,0574)
0,0202
(0,0001)
0,0000
(0,0002)
−0,0001
50-10
253
23
0,930
(23,4037)
25,4121
(0,0060)
−0,0109*
(1,1203)
−0,0090
(0,0032)
−0,0004
(0,0047)
0,0008
Gini
Interaktionseffekte mit Primärsaldo als Schock
Quelle: EU-SILC 2007–2017, Eurostat, IWF, AMECO, OECD, ICTWSS, eigene Berechnungen. Panel-korrigierte Standardfehler in Klammern. Länder- und Perioden-Dummies enthalten. Alle Variablen sind um ein Jahr verzögert. Jeweils kontrolliert für die zwei anderen Schocks. Legende: * : p < 0,10; ** : p < 0,05; *** : p < 0,01
23
253
0,903
R2
Konstante
Steuerkeil
−105,417
(4,4218)
−1,1220
(0,1489)
−0,2198
(0,1980)
−0,0967
Interaktionseffekte mit Realzins als Schock
8
0,938
(0,0068)
(0,0034)
AAMP
−0,0092
−0,0041
Lohner- −0,0135 satzdauer (0,0089)
(0,0092)
(0,0060)
(0,0109)
−0,0061
−0,0031
Lohner- −0,0095 satzrate
Interaktionseffekte mit BIP als Schock SchockVariable 90-10 90-50 50-10 Gini
Tabelle 8.6 (Fortsetzung)
244 Krisen, Schocks und Institutionen
8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks
245
reduzieren (−0,585 + 0,0137 * 26,8), im Vergleich zu ganzen 1,078 log-Punkten in Ländern ohne gesetzliche Mindestlöhne (Kaitz-Index = 0). Das lässt sich dadurch erklären, dass das Lohnniveau in Ländern ohne Mindestlohn niedriger ist und es daher schneller zu Anstiegen der unteren Löhne in wirtschaftlich guten Zeiten kommt. Im Falle eines Negativwachstums oder gar einer Rezession würde dementsprechend die Lohnungleichheit in Ländern mit unterdurchschnittlichen bzw. gar keinen gesetzlichen Mindestlöhnen deutlich stärker ansteigen. Dies liegt an der höheren Lohnflexibilität seitens der Unternehmen, weil keine institutionellen Lohnuntergrenzen gibt. Löhne können in diesen Ländern daher als Reaktion auf einen Nachfrageschock einfacher nach unten hin angepasst werden, was in erster Linie Geringverdiener betreffen würde und dadurch die Lohnspreizung vergrößert. In Ländern mit hohen Mindestlöhnen führt ein sinkendes BIP hingegen zu einem deutlich geringeren Anstieg der Lohnungleichheit, weil in diesem Fall vermehrt extern-numerische Anpassungsmaßnahmen eingesetzt werden aufgrund der geringeren Lohnflexibilität. Dies führt zu einem Wegfall der Geringverdienergruppen und damit zu einem geringeren Anstieg oder gar einer Reduktion der Lohnungleichheit. Dieser Befund bekräftigt Hypothese 3. Neben den gesetzlichen Mindestlöhnen führt ein überdurchschnittlicher Steuer- und Abgabenkeil zu einem stärkeren ungleichheitsreduzierenden Effekt des BIP. Begründet werden kann dieser Interaktionseffekt dadurch, dass die Reservationslöhne der Arbeitnehmer und Arbeitssuchenden in Ländern mit einer hohen Abgabenbelastung höher ausfallen, weil die Differenz zwischen Brutto- und Nettoverdiensten größer ist. Gerade in Bezug auf Geringverdiener führt ein Wirtschaftswachstum zu einer höheren Arbeitskräftenachfrage, weswegen Unternehmen bereit sind, die höheren Reservationslöhne zu zahlen, wodurch sich die Lohnverteilung „von unten“ her komprimiert. Bei einer geringen Abgabenbelastung sind auch die Reservationslöhne der Geringverdiener niedriger, deren vermehrte Einstellung zu einer Spreizung beitragen. Auch in diesem Fall bestätigt sich der Wirkungskanal des Steuerkeils auf die Reservationslöhne der Arbeitskräfte. Allerdings führen hohe Steuern und Abgaben während eines Abschwungs auch zu einer größeren Zunahme der Lohnungleichheit, da möglicherweise vermehrt auf atypische Beschäftigungsformen zurückgegriffen wird, die diese hohen Steuern und Abgaben umgehen, beispielsweise geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, die zugleich mit geringeren Verdiensten einhergehen (Eichhorst et al. 2012). In Ländern mit geringen Steuern und Abgaben fällt der Anpassungsdruck hingegen geringer aus, sodass sich auch die Lohnungleichheit wenig ändert.
246
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Während der monetäre Schock in Form der Veränderungen der Realzinsen im Modell ohne Institutionen gar keinen Effekt auf die Lohnungleichheit aufwies, zeigt dieser jetzt als konditionaler Haupteffekt auf alle drei Dezildifferenzen einen signifikanten Einfluss. Steigende Realzinsen führen somit – bei durchschnittlichen Werten in allen Institutionenvariablen – zu einer höheren 90-10und 50-10-Differenz bei gleichzeitig abnehmender 90-50-Differenz. Dies spricht wiederum dafür, dass aufgrund des stärkeren und hochsignifikanten Effekts auf die 50-10-Differenz vor allem die unteren Verdienste am härtesten von einem Zinsschock betroffen sind. Dies erklärt sich durch den trade-off von Investitionskosten und Betriebs- bzw. Personalkosten: Sind die Unternehmen aufgrund steigender Realzinsen mit höheren Investitionskosten konfrontiert, geht dies zulasten der Reallöhne von geringqualifizierten und wenig produktiven Arbeitskräften, die nicht unmittelbar notwendig für die Aufrechterhaltung der Kerntätigkeiten des Unternehmens sind. Bei niedrigen Zinsen und dementsprechend geringen Investitionskosten, steigen hingegen die Reallöhne ebenjener Arbeitskräfte, wodurch die Lohnspreizung im unteren Bereich abnimmt. In geringerem Maße sind aber auch die oberen Verdienstgruppen von steigenden Realzinsen betroffen, was sich durch den (deutlich geringeren) negativen Effekt auf die 90-50-Differenz erkennen lässt. Da in der Berechnung der Bruttostundenlöhne neben den regulären Löhnen und Gehältern auch Sonder- und Zusatzzahlungen wie Gewinnbeteiligungen und Prämien berücksichtigt wurden, kann an dieser Stelle angenommen werden, dass diese Sonder- und Einmalzahlungen für Arbeitnehmer im höheren Lohnsegment bei höheren Zinsen – und ergo höheren Investitionskosten der Unternehmen – dementsprechend geringer ausfallen. Die Auswirkungen eines monetären Schocks auf die Lohnungleichheiten werden auf deutlich vielfältigere Weise durch die Arbeitsmarktinstitutionen eines Landes moderiert als im Falle des BIP oder des Primärsaldos. Das spricht dafür, dass Zinsschocks viel unmittelbarere Auswirkungen auf die Unternehmen und damit auf die personalpolitischen Flexibilisierungsmaßnahmen haben, die durch die jeweiligen Institutionen geprägt werden. Hierbei zeigen sich sowohl signifikante Interaktionseffekte mit der Tarifabdeckungsrate, der Höhe der Mindestlöhne und Lohnersatzraten sowie, in etwas eingeschränkterem Maße, auch für aktive Arbeitsmarktpolitiken und den Steuerkeil. Der hochsignifikante negative Interaktionseffekt mit dem Kaitz-Index bedeutet beispielsweise, dass in Ländern mit unterdurchschnittlichen oder gar keinen Mindestlöhnen, der oben beschriebene Effekt noch deutlicher zum Tragen kommt, da eine höhere Flexibilität der Löhne nach unten hin möglich ist und dementsprechend auch geringere Stundenlöhne für geringproduktive Arbeitskräfte gezahlt
8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks
247
werden können (oder dürfen). In Ländern mit überdurchschnittlich hohen Mindestlöhnen reduziert sich der positive Effekt des Realzinssatzes jedoch und wird sogar ab einem Kaitz-Index von mehr als 10 Prozent über dem EU-Durchschnitt negativ. Das liegt daran, dass aufgrund der eingeschränkten Lohnflexibilität geringproduktive Arbeitskräfte bei steigenden Realzinsen und ergo höheren Investitionskosten eher entlassen werden, anstatt deren Reallöhne anzupassen, wodurch die Lohnungleichheit sinkt und eben nicht steigt. Dies entspricht in hohem Maße der Hypothese 3. Ähnlich wie im Falle der Mindestlöhne, wirken sich ebenfalls hohe Lohnersatzraten primär auf die unteren Verdienste aus. In diesem Fall verstärken sie allerdings den ungleichheitssteigernden Effekt eines steigenden Realzinses. Diese Ergebnisse widersprechen der Annahme, dass höhere Lohnersatzleistungen die Reservationslöhne von Geringverdienern erhöhen und diese dadurch einerseits eher vom Arbeitsmarkt fernbleiben und zum anderen weniger konzessionsbereit sind hinsichtlich ihrer Löhne (Hypothese 5). Unter diesen Annahmen müssten hohe Lohnersatzleistungen im Kontext steigender Zinsen und Investitionskosten seitens der Unternehmen zu Entlassungen oder Nichteinstellungen geringqualifizierter Arbeitskräfte führen, was die Lohnungleichheit am unteren Ende reduzieren und nicht erhöhen würde. Eine alternative Erklärung wäre daher, dass aufgrund der höheren Reservationslöhne in Ländern mit überdurchschnittlichen Lohnersatzraten, das Lohnniveau von Geringverdienern im Allgemeinen bereits höher ausfällt bzw. deutlich über dem markträumenden Gleichgewichtslohn liegt, was durch die niedrigen Zinsen kompensiert werden kann. Steigen die Zinsen jedoch und damit auch der Kostendruck der Unternehmen, sind es ebenjene Beschäftigte, deren Löhne entsprechend ihrer tatsächlichen Produktivität als erstes angepasst werden müssen, um die Betriebs- bzw. Personalkosten zu reduzieren. Für dieses Argument müsste allerdings die Annahme einer geringeren Konzessionsbereitschaft und das in Kauf nehmen von Arbeitslosigkeit seitens der Geringverdienenden aufgegeben werden. Gleichzeitig spricht für diese Erklärung, dass Anstiege der Realzinsen in Ländern mit unterdurchschnittlichen Lohnersatzraten mit deutlich geringeren Anstiegen in der Lohnungleichheit einhergehn, weil aufgrund geringerer Reservationslöhne die Löhne für Geringverdiener hier bereits niedriger ausfallen. Der Anpassungsdruck auf die Personalkosten ist dementsprechend geringer als in Ländern mit hohen Lohnersatzleistungen und ergo höheren Reservationslöhnen. Im Gegensatz zum BIP, zeigt auch die Tarifabdeckungsrate einen signifikant negativen Interaktionseffekt mit dem Realzins auf, der auch in diesem Fall wieder primär die oberen Verdienste betrifft wie bereits im vorherigen Abschnitt. Eine überdurchschnittlich hohe Tarifabdeckung verstärkt somit den ungleichheitsreduzierenden Effekt der Realzinsen für die 90-50-Differenz. Das bedeutet, dass eine
248
8
Krisen, Schocks und Institutionen
höhere tarifliche Abdeckung der Arbeitnehmer, von der insbesondere untere und mittlere Verdienstgruppen profitieren, die Löhne stabilisieren, indem sie direkte und branchenspezifische oder -übergreifende Lohnuntergrenzen festsetzen und damit die monetäre Flexibilität der Unternehmen beschränken. Die höheren Investitionskosten im Zuge steigender Zinsen müssen dementsprechend eher über die Verdienste der besserverdienenden Arbeitnehmer kompensiert werden, die in der Regel deutlich über Tarif bezahlt werden (Kohaut und Schnabel 2003), wodurch ein größerer Anpassungsspielraum hinsichtlich der Personalkosten vorhanden ist. Gestärkt wird diese Annahme zudem dadurch, dass die Interaktionseffekte für die 90-10- als auch für die 90-50-Differenz sich in derselben Größenordnung bewegen, d. h., vor allem oder ausschließlich zu Veränderungen des oberen Lohndezils beitragen. Zumindest hinsichtlich der Annahme einer eingeschränkten Lohnflexibilität der unteren und mittleren Verdienste entspricht diese Beobachtung der Hypothese 3. Aktive Arbeitsmarktpolitiken zeigen erneut nur für den Gini-Koeffizienten einen signifikanten Interaktionseffekt, was wieder dafür spricht, dass diese Politiken weniger die Ränder, sondern eher die Gesamtverteilung tangieren. Erklärt werden kann dieser Befund erneut mit der Annahme, dass ein höherer Stellenwert aktiver Arbeitsmarktpolitiken zu einem höheren Arbeitskräfteangebot auf dem externen-sekundären Arbeitsmarktsegment führt, da eine rasche Wiederbeschäftigung, ungeachtet deren Qualität, im Fokus steht und via Sanktionsandrohungen die Reservationslöhne der Arbeitskräfte geringer ausfallen. Unternehmen können daher flexibel und kostengünstig auf das Arbeitskräfteüberangebot des sekundären Segments zurückgreifen, was mit geringeren Transaktionskosten im Falle eines Beschäftigungsabbaus verbunden ist, weshalb kurzfristige und externe Flexibilisierungsstrategien bevorzugt Anwendung finden. Steigt der Arbeitskräftebedarf aufgrund sinkender Zinsen und höherer Investitionen, kann der Beschäftigungsaufbau über die flexiblen und geringer entlohnten Randbelegschaften erfolgen, was mit einer zunehmenden Spreizung der Löhne einhergeht. Steigen die Zinsen und erhöhen dadurch den Anpassungsbedarf der Personalkosten, erfolgen personalpolitische Anpassungen primär über den Abbau der Randbelegschaft, was wiederum zu einer Abnahme der Lohnspreizung führt. Warum jedoch lediglich der Gini-Koeffizient dadurch beeinflusst wird, lässt sich damit erklären, dass nicht bloß die untersten Verdienstgruppen von diesen extern-numerischen Flexibilisierungsmaßnahmen betroffen sind. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass aktive Arbeitsmarktpolitiken zu einer Spaltung der Belegschaften um den Median führen, beispielsweise über den Einsatz von Leiharbeit in gut entlohnten Beschäftigungsbereichen zur Bearbeitung von Auftragsspitzen. Dadurch kommt es nicht bloß zu einer Dualisierung zwischen den Beschäftigtengruppen, sondern auch innerhalb derer.
8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks
249
Der letzte Interaktionseffekt, der im Zusammenhang mit den Realzinsen relevant ist, ist der Steuerkeil. Auch hier kann erneut über den Reservationslohnmechanismus argumentiert werden, dass bei niedrigeren Zinsen und einer größeren Arbeitskräftenachfrage, die höheren Reservationslöhne der Geringverdiener auch tatsächlich von den Unternehmen gezahlt werden, was zu einer Kompression der Lohnverteilung führt, bedingt durch das ansteigende Lohnniveau am unteren Ende der Verteilung. Steigen nun die Zinsen und dadurch auch die Investitionskosten der Unternehmen, versuchen diese in erster Linie die „überteuerten“, d. h. weit über dem markträumenden Gleichgewicht liegenden Löhne der Geringqualifizierten anzupassen, was die Lohnspreizung wiederum erhöht. Bei einer geringeren Steuer- und Abgabenlast fallen dementsprechend die Reservationslöhne und damit auch die tatsächlichen Löhne der Geringqualifizierten geringer aus, was bei einer zunehmenden Arbeitskräftenachfrage die Lohnspreizung erhöht. Diese Erklärung widerspricht jedoch der Hypothese 6, weil die Anpassungen scheinbar nicht primär über das Beschäftigungsniveau erfolgen. In Hinblick auf die Auswirkungen eines fiskalischen Schocks auf die Lohnungleichheiten, der über den konjunkturbereinigten Primärsaldo operationalisiert wird, zeigen sich drei Institutionen als besonders zentral hinsichtlich ihres moderierenden Effekts. Dies sind neben den Steuern und Abgaben vor allem die Institutionen der industriellen Beziehungen, d. h. der gewerkschaftliche Organisationsgrad und der Koordinationsgrad von Tarifverhandlungen. Der konditionale Haupteffekt des Primärsaldos zeigt hingegen nur für die 90-50-Differenz einen signifikanten Einfluss. Das bedeutet, dass bei durchschnittlichen Werten in allen Arbeitsmarktinstitutionen, die Lohnungleichheit am oberen Ende der Verteilung im Zuge einer fiskalischen Konsolidierung zurückgeht. Dies entspricht den vorherigen Ergebnissen aus Tabelle 8.5, dass öffentliche Sparmaßnahmen insbesondere die höheren Verdienstgruppen des öffentlichen Dienstes betreffen, und erweist sich daher als äußerst robust, selbst wenn für die unterschiedlichen institutionellen Arrangements der Länder kontrolliert wird. Dieser negative Haupteffekt wird nun durch einen überdurchschnittlichen Organisationsgrad weiter verstärkt. Starke Gewerkschaften und ein hoher Anteil organisierter Arbeitnehmer können daher mittels kollektiver Aktionen, beispielsweise über Beschäftigungssicherungsvereinbarungen oder der Anwendung von Tariföffnungsklauseln, zugunsten ihrer Beschäftigungssicherheit Konzessionen hinsichtlich der Löhne eingehen. Somit fallen die Lohneinbußen für die oberen Verdienstgruppen im Kontext fiskalischer Konsolidierung in hochorganisierten Ländern deutlich größer aus als dort, wo der Organisationsgrad unterdurchschnittlich hoch ist. Zusätzlich dazu zeigt sich ebenfalls ein signifikanter Interaktionseffekt für die 50-10-Differenz, obwohl der konditionale Haupteffekt insignifikant
250
8
Krisen, Schocks und Institutionen
ist. Das weist darauf hin, dass in Ländern mit einem durchschnittlichen Organisationsgrad, die Zu- oder Abnahme des Haushaltsdefizits keinen Einfluss auf Löhne im unteren Bereich hat. In hochorganisierten Mitgliedsstaaten hat dieser hingegen einen signifikanten Einfluss – und zwar im Einklang mit der vorherigen Argumentation, jedoch mit dem Unterschied, dass in diesem Fall auch die unteren Verdienstklassen Lohneinbußen erfahren. Das entspricht den Ergebnissen aus dem vorherigen Kapitel, wonach der Verdienstvorteil des öffentlichen Dienstes, der insbesondere für Geringverdiener galt, über die Krise weggefallen ist. Eine Erklärung für diese Beobachtung ist dementsprechend, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in Ländern mit starken Gewerkschaften auf eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte eher mit beschäftigungssichernden Maßnahmen auch im Falle der unteren Verdienstklassen reagieren. Das geschieht beispielsweise über einen kollektiven Reallohnverzicht. In Ländern mit unterdurchschnittlich hohen Organisationsgraden werden die unteren Verdienstklassen tendenziell eher entlassen, was zu einer Kompression der Lohnverteilung am unteren Ende führt. Neben dem Organisationsgrad zeigt auch der Koordinationsgrad von Tarifverhandlungen einen signifikanten Interaktionseffekt mit dem Primärsaldo. Dieser wirkt sich hingegen negativ auf die Ungleichheit am unteren Ende und positiv auf die am oberen Ende der Verteilung aus. Aus der Literatur ist bekannt, dass ein hoher Koordinationsgrad empirisch im Zuge von Lohnmoderationen vor allem mit geringeren Medianlöhnen einhergeht und keinen Einfluss auf die unteren und oberen Löhne nimmt (Koeniger et al. 2007). Dementsprechend geht auch in diesem Fall ein fiskalischer Schock in hochkoordinierten Systemen primär mit einer Reduktion der Medianlöhne einher, weshalb die 90-50-Differenz größer und die 50-10-Differenz kleiner wird. Andersherum bedeutet dies auch, dass in Phasen der fiskalischen Expansion als erstes die mittleren Verdienste ansteigen, wenn die Tarifverhandlungen im hohen Maße zentralisiert und koordiniert stattfinden. Insgesamt zeigen die Ergebnisse für die industriellen Beziehungen, dass eine fiskalische Konsolidierung, beispielsweise im Rahmen von Austeritätspolitiken, wie sie in vielen Mitgliedsstaaten während der Krise umgesetzt wurden, in hochorganisierten und gleichzeitig hochkoordinierten Lohnverhandlungssystemen zu Lohneinbußen entlang der gesamten Verteilung führen. Dies kann als Ausdruck kollektiver und koordinierter Aktionen zur Beschäftigungssicherung interpretiert werden, indem Löhne gegen Beschäftigungsgarantien eingetauscht werden. In Verbindung mit den vorherigen Ergebnissen zu den nationalen Lohnstrukturen wird deutlich, dass vor allem die starken Rückgänge der Verdienste von Beschäftigten im öffentlichen Sektor durch ebenjene Prozesse erklärt werden können: In hochkoordinierten Systemen mit starken Gewerkschaften lassen
8.2 Beobachtbare und länderspezifische Schocks
251
sich leichter gemeinsame Strategien für den Umgang mit starken Rückgängen der öffentlichen Ausgaben finden, die nicht nur die Arbeitsplatzsicherheit aller Beschäftigtengruppen erhöht, sondern dementsprechend auch zur Aufrechterhaltung der öffentlicher Dienstleistungen beiträgt (Hypothese 7) – unter der Annahme, dass eine fiskalische Konsolidierung in erster Linie die staatlichen Angestellten betrifft. Ein überdurchschnittlich hoher Steuer- und Abgabenkeil führt zudem im Zuge fiskalischer Konsolidierungsmaßnahmen zu einem stärkeren Rückgang der 9050-Differenz. Dies liegt vor allem daran, dass die oberen Löhne stärker sinken als die mittleren Löhne. Zwei Erklärungen wären an dieser Stelle möglich, die sich wiederum auf den öffentlichen Dienst beziehen: Zum einen könnte diese Beobachtung wieder mit den höheren Reservationslöhnen der Arbeitskräfte erklärt werden, die aufgrund der höheren Abgabenlast zu geringeren Konzessionen hinsichtlich ihrer Löhne bereit sind, weshalb der Großteil der Anpassungslast von den oberen Verdienstgruppen getragen wird. Zum anderen kann eine fiskalische Konsolidierung neben Kürzungen von Ausgaben noch über eine Erhöhung der Staatseinnahmen erfolgen, beispielsweise über die Einkommenssteuer. Das heißt, dass je höher die Steuern sind oder im Zuge der Konsolidierung ansteigen, desto geringer fällt der zusätzliche Anpassungsbedarf über die Löhne aus, insbesondere seitens der unteren und mittleren Verdienstgruppen. Nun handelt es sich bei der Steuerkeil-Variable zwar um zeitkonstante, d. h., eine über alle Jahre gemittelte Variable, jedoch können Steuererhöhungen bereits durch einen höheren Durchschnittswert abgebildet sein. Somit könnte diese Beobachtung vorsichtig reformuliert werden, sodass in Ländern, in denen Steuererhöhungen im Zuge der Krise erfolgten, die fiskalischen Konsolidierungsmaßnahmen die mittleren Verdienste in deutlich geringeren Maßen getroffen haben. Für eine fundierte Überprüfung dieser Annahme sind allerdings zeitvariante Institutionenvariablen notwendig, die die Veränderungen ebenjener im Zuge von Arbeitsmarktreformen abbilden. Vor diesem Hintergrund wird in einem dritten und letzten Schritt die Annahme zeitkonstanter Institutionenvariablen fallen gelassen. Stattdessen wird nun zugelassen, dass die Institutionenvariablen nicht nur zwischen den Ländern, sondern auch über die Zeit variieren dürfen. Auf diese Weise werden nicht mehr bloß die Auswirkungen der Niveauunterschiede hinsichtlich des Grades der Arbeitsmarktregulierung untersucht, sondern der Einfluss des institutionellen Wandels – im Zuge krisenbedingter Arbeitsmarktreformen – auf die Lohnungleichheiten.
252
8.3
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Institutioneller Wandel und makroökonomische Schocks
Nachdem die Auswirkungen der Eurokrise(n) in Form von unbeobachteten als auch beobachteten Schocks auf die Dynamiken von Lohnungleichheiten untersucht worden sind, und wie diese durch nationale Arbeitsmarktinstitutionen moderiert werden, soll in diesem Abschnitt eine dynamische Perspektive hinsichtlich der Arbeitsmarktinstitutionen eingenommen werden. Auf diese Weise soll den zahlreichen Reformtätigkeiten, die während der Krise im Kontext des nationalen aber auch des europäischen Krisenmanagements stattfanden, Rechnung getragen werden. In Abschnitt 4.2 wurde bereits dargestellt, dass es bezüglich einiger der hier relevanten Institutionen teils abrupte und teils inkrementelle Wandlungsprozesse gab, die zu Veränderungen der rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen führen, innerhalb derer die Unternehmen auf die unterschiedlichen Krisen reagieren können. Statt zeitkonstanter Institutionenvariablen, die vor allem die Niveauunterschiede in der Arbeitsmarktregulierung zwischen den Mitgliedsstaaten widerspiegeln, werden im Folgenden länderspezifische und zeitvariante Institutionenvariablen hinzugezogen, die das Ausmaß und die Richtung des institutionellen Wandels in den Ländern abbilden sollen. Zusätzlich wird in weiteren Modellen noch für langfristige Trends kontrolliert, die neben den krisenbedingten Faktoren ebenfalls einen Einfluss auf die Komposition der Beschäftigten als auch direkt auf die Lohnstrukturen haben können: nämlich die Globalisierung und der internationale Handel, die Deindustrialisierung, der technologische sowie demografische Wandel und die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit. Diese stehen aber nicht im Fokus dieser Untersuchung und werden daher nur am Rande diskutiert. Sie dienen eher dazu, zu überprüfen, ob die zeitlichen Veränderungen in den aggregierten Lohnungleichheiten tatsächlich auf Veränderungen in den Institutionen oder dem Ausmaß der drei makroökonomischen Schocks zurückzuführen ist, oder aber auf einen langfristigen Strukturwandel, der neben der Krise weiterhin stattgefunden hat. Des Weiteren wird auch die Arbeitslosenquote mitberücksichtigt, um für die Veränderungen in den Angebots-Nachfrage-Relationen zu kontrollieren. Für gemeinsame, alle Länder gleichermaßen betreffende Entwicklungen über die Zeit, wurden erneut Perioden-Dummies in die Modelle aufgenommen, um für ebendiese zu kontrollieren. Tabelle 8.7 zeigt die Ergebnisse der linearen Panelregressionen mit den zeitvarianten Institutionen und den drei Schocks sowohl mit als auch ohne Kontrollvariablen. Die Ergebnisse für die Schock-Variablen entsprechen im Grunde denen aus den vorherigen Modellen.
8.3 Institutioneller Wandel und makroökonomische Schocks
253
Tabelle 8.7 Lineare Panelregression: zeitvariante Institutionenvariablen 90-10
90-50
50-10
Gini
Reales BIP pro Kopf (log)
−0,121
0,089
−0,212***
2,382
(0,102)
(0,054)
(0,076)
(1,930)
Realzins
−0,001
−0,000
−0,001
−0,014
(0,001)
(0,001)
(0,001)
(0,032)
Konjunkturbereinigter Primärsaldo
−0,003
−0,003*
−0,000
−0,072
(0,003)
(0,001)
(0,002)
(0,047)
Organisationsgrad
0,003
−0,001
0,004*
0,028
(0,003)
(0,001)
(0,003)
(0,045)
Tarifabdeckung
0,002*
0,001**
0,001
0,038**
(0,001)
(0,001)
(0,001)
(0,019)
−0,002
0,001
−0,003
−0,204
(0,008)
(0,005)
(0,006)
(0,204)
Kündigungsschutz
−0,082***
−0,018
−0,065***
−0,935*
(0,028)
(0,013)
(0,018)
(0,497)
Kaitz-Index
−0,002***
0,000
−0,002***
−0,022
(0,001)
(0,000)
(0,001)
(0,015)
0,002**
0,001*
0,002**
0,053***
(0,001)
(0,000)
(0,001)
(0,016)
Lohnersatzdauer
0,001
0,000
0,001
0,018*
(0,001)
(0,000)
(0,001)
(0,010)
AAMP
−0,059
−0,105
0,042
−4,489
(0,191)
(0,116)
(0,171)
(4,089)
Steuerkeil
0,003
−0,002
0,005*
0,019
(0,003)
(0,001)
(0,003)
(0,052)
Koordinationsgrad
Lohnersatzrate
Globalisierung Deindustrialisierung Demografischer Wandel Technologischer Wandel Frauenerwerbstätigkeit Arbeitslosenquote (Fortsetzung)
254
8
Krisen, Schocks und Institutionen
Tabelle 8.7 (Fortsetzung)
Konstante
90-10
90-50
50-10
Gini
2,189**
−0,255
2,470***
−0,927
(1,080)
(0,568)
(0,821)
(19,806)
R2
0,907
0,938
0,850
0,931
Länder
23
23
23
23
Länder-Jahre
253
253
90-10
90-50
50-10
−0,114
0,120*
−0,219**
3,313
(0,144)
(0,070)
(0,096)
(2,927)
−0,001
−0,000
−0,001
−0,016
(0,002)
(0,001)
(0,001)
(0,034)
−0,003
−0,002
−0,001
−0,073
(0,003)
(0,001)
(0,002)
(0,054)
0,004
−0,001
0,005*
0,040
(0,003)
(0,001)
(0,003)
(0,046)
Tarifabdeckung
0,002**
0,001***
0,001
0,042**
(0,001)
(0,000)
(0,001)
(0,018)
Koordinationsgrad
−0,000
0,000
−0,001
−0,156
(0,009)
(0,005)
(0,007)
(0,224)
Kündigungsschutz
−0,100***
−0,026**
−0,071***
−1,230***
(0,024)
(0,460)
Reales BIP pro Kopf (log) Realzins Konjunkturbereinigter Primärsaldo Organisationsgrad
253
253 Gini
(0,012)
(0,019)
−0,002**
0,000
−0,002***
−0,020
(0,001)
(0,001)
(0,001)
(0,016)
Lohnersatzrate
0,002**
0,001*
0,002**
0,051***
(0,001)
(0,000)
(0,001)
(0,016)
Lohnersatzdauer
0,001*
0,000
0,001
0,022**
(0,001)
(0,000)
(0,001)
(0,011)
0,097
−0,076
0,169
−2,205
(0,168)
(0,117)
(0,159)
(4,053)
−0,001
−0,003
0,002
−0,038
(0,004)
(0,002)
(0,003)
(0,064)
Kaitz-Index
AAMP Steuerkeil
(Fortsetzung)
8.3 Institutioneller Wandel und makroökonomische Schocks
255
Tabelle 8.7 (Fortsetzung) 90-10
90-50
50-10
Gini
Globalisierung
0,001**
0,001*
0,001*
0,017*
(0,001)
(0,000)
(0,000)
(0,010)
Deindustrialisierung
0,111
−0,153
0,250
−2,068
(0,293)
(0,150)
(0,240)
(5,973)
Demografischer Wandel
−0,088**
−0,073***
−0,020
−2,089***
(0,042)
(0,021)
(0,036)
(0,742)
Technologischer Wandel
−0,205
−0,107
−0,102
0,230
(0,227)
(0,092)
(0,194)
(4,079)
Frauenerwerbstätigkeit
−0,407
−0,249
−0,147
−8,005
(0,656)
(0,338)
(0,462)
(12,251)
0,003
0,001
0,002
0,058
(0,004)
(0,002)
(0,003)
(0,069)
2,357
−0,337
2,560**
−4,668
Arbeitslosenquote Konstante
(1,491)
(0,717)
(1,032)
(30,496)
R2
0,911
0,944
0,854
0,933
Länder
23
23
23
23
Länder-Jahre
253
253
253
253
Quelle: EU-SILC 2007–2017, Eurostat, IWF, AMECO, OECD, ICTWSS, eigene Berechnungen. Panel-korrigierte Standardfehler in Klammern. Länder- und Perioden-Dummies enthalten. Alle Variablen sind um ein Jahr verzögert. Legende: * : p < 0,10; ** : p < 0,05; *** : p < 0,01.
Eine Zunahme des realen BIP reduziert die Lohnungleichheit am unteren Ende der Verteilung, während eine fiskalische Konsolidierung mit einer Reduktion der Lohnungleichheiten in der oberen Hälfte einhergeht. Die Veränderungen der Realzinsen (unabhängig von den Institutionen) weisen erneut keine signifikanten Effekte auf die Lohnungleichheiten auf. Hinsichtlich des Wandels der industriellen Beziehungen, zeigen sich sowohl für den gewerkschaftlichen Organisationsgrad als auch für die Tarifabdeckung signifikante Zusammenhänge mit der Lohnungleichheit, wohingegen der Koordinationsgrad keinen signifikanten Einfluss aufweist, was dem geschuldet ist, dass dieser sich in den meisten Ländern kaum verändert hat (zumindest diesem Indikator folgend). So steht eine Zunahme des gewerkschaftlichen Organisationsgrades über die Krisenjahre in einem positiven Zusammenhang mit der Lohnungleichheit,
256
8
Krisen, Schocks und Institutionen
allerdings nur in Form der 50-10-Differenz. Der Zusammenhang ist auch dann noch stabil, wenn für langfristige Trends wie die Deindustrialisierung kontrolliert wird. Das bedeutet, dass ein höherer Organisationsgrad die Lohnspreizung in der unteren Hälfte der Lohnverteilung vergrößert und erscheint zunächst kontraintuitiv, stehen starke Gewerkschaften normalerweise für eine Kompression der Lohnverteilung (Card 2001; Card et al. 2003; Koeniger et al. 2007). Dieser Befund lässt sich allerdings darauf zurückführen, dass innerhalb der 23 EUMitgliedsstaaten, die hier untersucht werden, keine Zunahme, sondern ein Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades stattgefunden hat (vgl. Tabelle 8.8). Die Schwächung der Gewerkschaften führt somit zu einem Verlust der ausgehandelten Lohnrenten für Geringqualifizierte, aufgrund der schwindenden kollektiven Verhandlungsmacht, was zu einem Rückgang des mittleren Lohnniveaus führt. Ein Phänomen, welches DiNardo et al. (1996) für die USA in den Jahren zwischen 1979 und 1988 ebenfalls beobachten konnten. Sie führen das Abflachen der unteren Hälfte der Verteilung auf den Rückgang des Organisationsgrades zurück, der insbesondere für höhere Löhne in der Mitte der Verteilung gesorgt hat. Eine andere Erklärung könnte sein, dass der Rückgang des Organisationsgrades besonders stark in den osteuropäischen Ländern ausfiel, wo dieser bereits vor der Krise unterdurchschnittlich hoch war – beispielsweise in der Slowakei, Polen oder Tschechien. Länder, die jedoch mit großen Zuwächsen in den unteren Verdiensten einhergingen. Möglicherweise gehen ein geringerer Organisationsgrad und damit auch schwächere Gewerkschaften mit einer höheren Lohnflexibilität bzw. geringeren Lohnstückkosten in diesen Ländern einher, was sie als Produktionsstandorte innerhalb Europas attraktiv gemacht hat, wodurch deren überproportionaler wirtschaftlicher Aufschwung (trotz Krise) erklärt werden könnte. Welche dieser beiden Erklärungen den Zusammenhang hinter diesem Effekt am ehesten abbildet, kann an dieser Stelle nicht endgültig geklärt oder untersucht werden. Möglich wäre hingegen auch eine Kombination beider Prozesse während der Krise. Die Veränderungen hinsichtlich der Tarifabdeckungsrate scheinen im Gegensatz zum Organisationsgrad einen breiteren Einfluss auf die Lohnverteilung zu haben und insbesondere die oberen und mittleren Verdienste zu betreffen. Auch hier deuten die Ergebnisse erneut darauf hin, dass eine höhere Tarifabdeckung insbesondere die oberen Verdienste beeinflusst. Eine Zunahme der Tarifabdeckung führt dementsprechend zu einer Erhöhung der Verdienste am oberen Rand und vergrößert dadurch die Spreizung der 90-10- sowie 9050-Differenz. Auch hier scheinen die Ergebnisse zunächst den Annahmen zu widersprechen, dass eine höhere Tarifabdeckungsrate die Löhne der unteren und
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Quelle: ICTWSS, OECD, Eurostat, eigene Berechnungen.
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Organisationsgrad Tarifabdeckung Koordinationsgrad Kündigungsschutz Kaitz-Index Lohnersatzrate Lohnersatzdauer AAMP Steuerkeil
Tabelle 8.8 Veränderungen der Institutionenvariablen zwischen 2006 und 2016 in Prozentpunkten
8.3 Institutioneller Wandel und makroökonomische Schocks 257
258
8
Krisen, Schocks und Institutionen
mittleren Verdienstgruppen erhöht bzw. durch tarifliche Lohnuntergrenzen eine größere Abnahme verhindert. Über den Beobachtungszeitraum kann allerdings eine vermehrte Abnahme der tarifvertraglichen Abdeckung der Arbeitnehmer festgestellt werden – von bis zu 75 Prozentpunkten in Griechenland. Zugleich sind dort auch die größten Reallohnrückgänge für das oberste Lohndezil von nahezu 40 Prozent festzustellen (vgl. Kapitel 7). Ein starker und hochsignifikanter Einfluss lässt sich des Weiteren für den relativen Kündigungsschutz beobachten, d. h., die unterschiedliche Regulierung von Normalarbeitsverhältnissen und atypischen Beschäftigungsformen. Ein höherer Wert steht dabei für einen strikteren Kündigungsschutz regulärer Beschäftigungsverhältnisse bei gleichzeitig geringeren Restriktionen hinsichtlich der Verwendung befristeter Arbeitsverhältnisse. Es zeigt sich, dass eine Zunahme des relativen Kündigungsschutzes, die als institutionelle Dualisierung interpretiert werden kann, mit einer Abnahme der Lohnungleichheiten einhergeht, insbesondere in Form der 90-10- und 50-10-Differenz. Erklären lässt sich dies damit, dass vor dem Hintergrund restriktiver Kündigungsschutzgesetze für reguläre Arbeitsverhältnisse eine Liberalisierung der Verwendung atypischer Beschäftigungsformen die Unternehmen dazu veranlasst, vermehrt auf letztere zurückzugreifen – insbesondere im Falle von Arbeitsmarkteinsteigern (Gebel und Giesecke 2016; Dieckhoff und Steiber 2012). Auf diese Weise können Unternehmen ihre personalpolitische Flexibilität erhöhen, da befristete Arbeitsverhältnisse mit deutlich geringeren Transaktionskosten verbunden sind. Eine geringere Regulierung von Befristungen kann jedoch auch dazu führen, dass Unternehmen ältere Arbeitnehmer durch kostengünstigere Berufseinsteiger ersetzen (Boeri und Garibaldi 2007) und dadurch sichere und gut entlohnte Normalarbeitsverhältnisse durch flexiblere atypische Beschäftigungsformen ersetzt oder verdrängt werden. Das hätte einen Rückgang in den oberen oder mittleren Lohndezilen zur Folge und würde somit zu dieser beschriebenen Kompression der Lohnverteilung beitragen. Gleichzeitig könnte allein das Drohpotential, das mit einem zunehmenden Anteil atypisch Beschäftigter in der Belegschaft einhergeht, zu einer höheren Konzessionsbereitschaft der Stammbelegschaften führen, um ihre privilegierten Positionen zu verteidigen. Auf der anderen Seite kann die auf diese Weise erhöhte unternehmerische Flexibilität auch dazu führen, dass gerade in Krisenzeiten die unterdurchschnittlich entlohnten Beschäftigten der Randbelegschaft schneller und häufiger entlassen werden, wodurch sich die Lohnverteilung ebenfalls komprimieren würde – insbesondere am unteren Ende. Beide Erklärungsmöglichkeiten entsprechen den empirischen Ergebnissen einer sinkenden Lohnungleichheit im Zuge einer Dualisierung der Kündigungsschutzgesetze. Der Zusammenhang erweist sich zudem als äußerst robust, auch
8.3 Institutioneller Wandel und makroökonomische Schocks
259
nachdem für andere Trends kontrolliert wurde. Er fällt dadurch sogar noch stärker aus und wird zusätzlich für die 90-50-Differenz statistisch signifikant. Mit Blick auf die Entwicklung des relativen Kündigungsschutzes während der Krise zeigt sich jedoch, dass entgegen vorheriger Trends einer partiellen Deregulierung (Barbieri und Cutuli 2016; Gebel und Giesecke 2011) der institutionelle Dualismus in vielen Mitgliedsstaaten zurückgegangen ist – in erster Linie aufgrund einer stärkeren Deregulierung der Kündigungsschutzgesetze für reguläre Beschäftigungsverhältnisse (vgl. Kapitel 4). Folgt man Koeniger et al. (2007), so ist der negative Zusammenhang zwischen einem strikten Kündigungsschutz für regulär Beschäftigte und der Lohnungleichheit darauf zurückzuführen, dass durch einen höheren Kündigungsschutz insbesondere die Verhandlungsposition von Geringqualifizierten – bedingt durch höhere Transaktionskosten für die Unternehmen– gestärkt und dadurch die Lohnspreizung tendenziell verringert wird. Gleichzeitig verschlechtern sich dadurch jedoch auch die Beschäftigungschancen von Geringqualifizierten (OECD 2009, S. 55; Gebel und Giesecke 2011), die vor allem im unteren Segment der Lohnverteilung vorzufinden sind, womit ebenfalls eine Kompression der Verteilung einhergeht. Im Umgekehrten Fall bedeutet dies freilich, dass mit der Deregulierung des regulären Kündigungsschutzes sowohl der Anteil an Geringqualifizierten zunimmt, aber auch, dass sich deren Verhandlungsposition verschlechtert. Beides trägt somit zu einer größeren Lohnungleichheit bei. Weiterhin steht ein Anstieg in den relativen Mindestlöhnen bzw. dem KaitzIndex ebenfalls in einem negativen Zusammenhang zur Lohnungleichheit, insbesondere in Form der 90-10- und 50-10-Differenz. Auch in diesem Fall fällt die Erklärung für diese Beobachtung wieder zweifach aus. Zum einen heben steigende Mindestlöhne das untere Lohnniveau per Definition an und bilden dadurch institutionalisierte Lohnuntergrenzen, die von den Unternehmen nicht unterschritten werden dürfen. In der Konsequenz führt dies zu einer Kompression der Lohnverteilung. Dies trifft insbesondere auf Länder wie Polen, Lettland und Litauen aber auch Deutschland zu, die zum einen die größten Anstiege in den Mindestlöhnen, zum anderen auch überproportionale Zuwächse in den unteren Lohndezilen erfahren haben. Auf der anderen Seite verringern höhere oder steigende Mindestlöhne aber auch die Möglichkeiten monetärer Anpassungen insbesondere der unteren Verdienste, wodurch Unternehmen auf andere, externe Flexibilisierungsinstrumente zurückgreifen müssen. Dadurch können steigende Mindestlöhne auch Verdrängungseffekte mit sich bringen, sodass unproduktive und geringentlohnte Tätigkeiten wegfallen. Dies würde ebenfalls zu einer Kompression der Lohnverteilung und einer Abnahme der 90-10- und 50-10-Differenz
260
8
Krisen, Schocks und Institutionen
beitragen. Es ist an dieser Stelle schwierig, diese beiden Effekte voneinander zu trennen, da sie sehr wahrscheinlich gleichzeitig aufgetreten sind. Für die Lohnersatzrate zeigt sich ein signifikant positiver Einfluss über alle Lohnungleichheitsmaße hinweg. Damit geht ein steigendes Niveau der Lohnersatzleistungen mit einer Zunahme in den Lohnungleichheiten einher und vice versa. Dies erscheint zunächst erklärungsbedürftig, da die Annahme bislang war, dass höhere Lohnersatzraten mit höheren Reservationslöhnen einhergehen und dadurch vor allem zu einem Anstieg des Lohnniveaus im unteren Bereich beitragen – entweder, weil die höheren Anspruchslöhne tatsächlich gezahlt werden oder weil Geringverdiener häufiger vom Arbeitsmarkt fernbleiben. Für den Zeitraum der Krise zeigt sich, dass es in den meisten Ländern vor allem zu einem Rückgang im Niveau der Lohnersatzleistungen gekommen ist – und zwar primär in der Phase der Staatsschuldenkrise, die häufig mit tiefgreifenden Sparmaßnahmen verbunden war. Der positive Effekt der Lohnersatzrate auf die Lohnungleichheiten verweist somit darauf, dass im Falle sinkender Lohnersatzraten ebenfalls die Lohnungleichheiten sinken würden – insbesondere für die 90-10- und 50-10-Differenz. Erklären lässt sich dies mit dem Argument, dass geringe Lohnersatzraten aufgrund des größeren Einkommensverlusts im Falle der Arbeitslosigkeit mit einem höheren monetären Anpassungsdruck auf die Löhne der Beschäftigten einhergehen. Dadurch verschlechtert sich die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer und insbesondere die besserverdienenden Arbeitnehmer sind zu Konzessionen bereit, sollte ihr Arbeitsplatz bedroht sein. Dies resultiert in einer Kompression der Lohnverteilung, bedingt durch den Rückgang der oberen (und mittleren) Lohndezile. In dieselbe Richtung, jedoch nur für den Gini-Koeffizienten signifikant, zeigt auch der positive Effekt der Lohnersatzdauer. Auch hier geht eine geringere Dauer des Leistungsbezugs ebenfalls mit einer Kompression der Lohnverteilung einher. Während die Lohnersatzrate unter Einbezug weiterer Kontrollvariablen unverändert bleibt, zeigt sich für die Lohnersatzdauer nun ebenfalls ein signifikanter Einfluss auf die 90-10-Differenz, die mit denselben Implikationen für die Lohnverteilung einhergeht, wie im Falle des Gini-Koeffizienten. Dies bestätigt die Annahme, dass mit geringen oder abnehmenden Lohnersatzleistungen die Konzessionsbereitschaft steigt und damit monetäre Anpassungsformen wahrscheinlicher werden – insbesondere für Besserverdiener. Auch der Steuerkeil zeigt einen signifikant positiven Einfluss auf die untere Hälfte der Lohnverteilung. Vor dem Hintergrund überwiegend sinkender Steuernund Abgaben in den meisten Mitgliedsstaaten scheint die Bereitschaft der Arbeitgeber größer geworden zu sein, diese Einsparungen an die Mitarbeiter weiterzugeben, insbesondere an die Geringverdiener. Daraus resultiert eine Abnahme der 50-10-Differenz. Die Höhe des Steuerkeils scheint somit nicht bloß einen
8.3 Institutioneller Wandel und makroökonomische Schocks
261
Einfluss auf die Reservationslöhne der Arbeitnehmer zu haben, die bei geringeren Steuern eher dazu bereit sind, geringere Löhne zu akzeptieren. Er scheint gleichzeitig auch das Lohnniveau zu bestimmen, das Arbeitgeber bereit sind, ihren Angestellten zu zahlen. Insbesondere die Zusammensetzung aus Lohnsteuern und Sozialabgaben, die vom Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu tragen sind, dürften diesen Effekt beeinflussen. Allerdings wird dieser Effekt durch die Hinzunahme der Kontrollvariablen insignifikant und erweist sich daher als wenig robust und sollte daher mit Vorsicht interpretiert werden. Insgesamt zeigen sich die Ergebnisse der linearen Panelregressionen mit zeitvarianten Institutionenvariablen jedoch als relativ Robust gegenüber Kompositionsveränderungen und weiteren strukturellen Trends, die in der Regel mit einem starken Einfluss auf die Lohnungleichheit in Verbindung gebracht werden. Dies liegt vor allem daran, dass – kontrolliert für die drei Schocks und neun Arbeitsmarktinstitutionen – lediglich zwei der sechs Kontrollvariablen einen signifikanten Einfluss auf die Lohnverteilung haben. Die unterschiedlichen Dynamiken von Lohnungleichheiten während der Krisenperiode lassen sich daher besonders durch die makroökonomischen Schocks und institutionellen Veränderungen erklären. Lediglich die Indikatoren für den demografischen Wandel und die wirtschaftliche Globalisierung haben einen zusätzlichen Erklärungsbeitrag. So geht eine Alterung der Bevölkerung mit einem geringeren Anteil junger Arbeitnehmer einher, die tendenziell geringere Löhne verdienen. Dafür steigt der Anteil älterer Arbeitnehmer, die höhere Löhne bekommen. Dies führt im Allgemeinen zu einer Anhebung der unteren und mittleren Löhne und damit zu einer Reduktion der Lohnungleichheit. Eine zunehmende wirtschaftliche Globalisierung, gemessen als Anteil der Importe und Exporte am BIP, zeigt, dass die Lohnungleichheiten zunehmen, da insbesondere die oberen Verdienstgruppen profitieren bzw. die unteren Gruppen dadurch größere Nachteile erfahren. Die insignifikanten Effekte des Anteils an Hochqualifizierten, Frauen und Industriebeschäftigten sowie die Arbeitslosenquote zeigen, dass die beobachteten Veränderungen in der Lohnverteilung nicht auf Veränderungen der Zusammensetzung der Beschäftigten beruhen. Dies deckt sich mit den Ergebnissen des vorherigen Kapitels, dass die Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur einen deutlich geringeren Erklärungsbeitrag für die Veränderungen der Lohnungleichheit hat als die gruppenspezifischen Lohnstrukturen. Die Ergebnisse für den Einfluss des institutionellen Wandels auf die Lohnungleichheit zeigen in eine ähnliche Richtung wie in den vorherigen Abschnitten. So konnten auch in diesem Fall die angenommenen Wirkungskanäle, über die Institutionen die Lohnverteilung beeinflussen, weitestgehend bestätigt werden. Die Arbeitsmarktreformen, die während der Krise in den meisten der EUMitgliedsstaaten stattfanden, führten somit zu einem signifikanten Wandel des
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8
Krisen, Schocks und Institutionen
rechtlich-institutionellen Rahmens, in dem die personalpolitischen Entscheidungsprozesse der Unternehmen stattfinden. Arbeitsmarktpolitische Anpassungen an strukturelle oder makroökonomische Veränderungen haben demnach einen entscheidenden Einfluss auf die unternehmerische Flexibilitätsgestaltung, die zu einer unterschiedlichen Verteilung von Anpassungslasten auf die Stamm- und Randbelegschaften einhergehen und damit die Beschäftigungs- und Entlohnungschancen bzw. -risiken der unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen prägen. Anhand der unterschiedlichen Entwicklungs- und Reformpfade, die während der Krise – ob mit oder ohne das Zutun der europäischen Ebene – in den Mitgliedsstaaten eingeschlagen wurden, lassen sich somit weitere Erklärungsfaktoren für die länderspezifischen Muster hinsichtlich der Dynamik von Lohnungleichheiten identifizieren – zusätzlich zu den generellen Niveauunterschieden in den nationalen Arbeitsmarktinstitutionen und der unterschiedlichen Betroffenheit durch die makroökonomischen Schocks.
8.4
Zwischenfazit
Im Vergleich zu den beiden vorherigen Kapiteln wurde zum einen die Perspektive von der Mikroebene auf die Makroebene verlagert, um so der Frage nachzugehen, inwieweit die nationalspezifischen Entwicklungen auf institutionelle Unterschiede sowie auf arbeitsmarktpolitische Anpassungsprozesse zurückzuführen sind. Somit standen vor allem der Einfluss von makroökonomischen Schocks und institutionellen Faktoren auf die Dynamiken der Lohnungleichheiten im Fokus des Interesses. Zudem wurde die bisherige Operationalisierung der Eurokrise – als die Veränderung zwischen zwei Zeitpunkten – durch konkrete Schock-Variablen zur Messung der Krisenbetroffenheit ersetzt. Die Ergebnisse der linearen Panelregressionsanalysen zeigen insgesamt, dass nationale Arbeitsmarktinstitutionen einen erheblichen Einfluss darauf haben, wie krisenbedingte Schocks auf dem Arbeitsmarkt moderiert werden und dadurch länderspezifische Muster hinsichtlich der Dynamiken von Lohnungleichheiten hervorbringen. Diese können als Ausdruck bestimmter Formen betrieblicher Anpassungsstrategien interpretiert werden, die durch die jeweiligen rechtlich-institutionellen Handlungsrahmen begünstigt oder erschwert werden und mit unterschiedlichen Anpassungslasten gegenüber den Stamm- und Randbelegschaften einhergehen. Die Ergebnisse der verschiedenen Modelle lassen sich in drei Kernaussagen zusammenfassen: 1) Unter der Annahme eines gemeinsamen, länderübergreifenden Schocks zeigt sich, dass dieser in hohem Maße durch nationale Arbeitsmarktinstitutionen moderiert wird, indem sie entweder die Reservationslöhne, die kollektive
8.4 Zwischenfazit
263
Verhandlungsmacht, die Lohnflexibilität oder die Transaktionskosten direkt oder indirekt beeinflussen und damit sowohl extern-numerische Anpassungsstrategien auf Kosten der Randbelegschaft, als auch intern-monetäre Anpassungen in Form von Konzessionen seitens der Stammbelegschaft begünstigen. Ein ausgeprägter institutioneller Dualismus in den Kündigungsschutzgesetzen, hohe Steuern und Abgaben sowie unter bestimmten Umständen auch aktive Arbeitsmarktpolitiken fördern in erster Linie extern-numerische Flexibilitätsformen sowie den Einsatz atypischer Arbeitsverhältnisse. Sie tragen somit zu größeren Schwankungen in den Lohnungleichheiten während eines Auf- bzw. Abschwungs bei. Hingegen führen eine hohe Tarifabdeckung sowie hohe Mindestlöhne zu einer geringeren Lohnflexibilität der unteren und teilweise mittleren Verdienstgruppen, was während eines gemeinsamen Schocks mit größeren Schwankungen auf die oberen Löhne einhergeht. Insbesondere ein hoher Koordinationsgrad geht hingegen mit einer egalitären Verteilung der Anpassungslasten einher, d. h. dass weder Stammnoch Randbelegschaft merklich durch externe- oder monetäre Formen angepasst werden. Dies führt zu deutlich geringeren Schwankungen in der Lohnungleichheit, indem eher durch Lohnmoderation oder andere beschäftigungssichernde Maßnahmen auf makroökonomische Veränderungen reagiert wird, die nicht einzig zu Lasten der Randbelegschaft gehen. 2) Für den Einfluss der drei länderspezifischen Schocks auf die Lohnungleichheiten, die herangezogen wurden, um die drei unterschiedlichen Phasen der Eurokrise zu operationalisieren, zeigte sich, dass diese in hohem Maße durch die nationalen Arbeitsmarktinstitutionen moderiert werden und sich dadurch die unterschiedliche Krisenbetroffenheit zwischen den Mitgliedsstaaten als auch zwischen bestimmten Beschäftigtengruppen erklären lässt. So zeigte sich für das reale BIP, dass ein Rückgang im Allgemeinen mit einer niedrigeren Ungleichheit in der oberen sowie einer höheren Ungleichheit in der unteren Hälfte der Verteilung einhergeht. Letzteres wird insbesondere von den gesetzlichen Mindestlöhnen sowie dem Steuerkeil beeinflusst, sodass niedrige Mindestlöhne und eine hohe Steuerund Abgabenlast zu einem verstärkten Anstieg in der Lohnungleichheit beitragen. Ein Einfluss der Realzinsen auf die Lohnungleichheit zeigte sich lediglich dann, wenn diese mit den Institutionenvariablen interagiert wurden. Die Auswirkungen steigender Realzinsen auf die Lohnungleichheiten werden auf deutlich vielfältigere Weise durch nationale Arbeitsmarktinstitutionen moderiert als im Falle des BIP oder des Primärsaldos. Das spricht dafür, dass die Auswirkungen monetärerer Schocks auf die Lohnungleichheiten in deutlich höherem Maße von nationalen Arbeitsmarktinstitutionen geprägt werden. Hierbei zeigen sich insbesondere die Tarifabdeckung und gesetzliche Mindestlöhne – die die Lohnflexibilität der Unternehmen einschränken – und die Lohnersatzraten, der Steuerkeil
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8
Krisen, Schocks und Institutionen
sowie im etwas eingeschränkteren Maße auch aktive Arbeitsmarktpolitiken – die die Reservationslöhne der Arbeitnehmer beeinflussen – als relevante Moderatoren für monetärer Schocks. Ein fiskalischer Schock in Form einer Expansion oder Konsolidierung der Staatsausgaben hat in erster Linie einen direkten Einfluss auf die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. So führt eine fiskalische Konsolidierung im Allgemein zu geringerer Lohnungleichheit in der oberen Hälfte der Verteilung, da insbesondere im öffentlichen Sektor die höheren Verdienste zurückgehen. Dies war in vielen Ländern mit starken Konsolidierungsprogrammen zu beobachten. Dabei zeigten sich insbesondere die industriellen Beziehungen als relevante Moderatoren fiskalischer Schocks. In hochorganisierten und gleichzeitig hochkoordinierten Lohnverhandlungssystemen führten diese nämlich zu Lohneinbußen entlang der gesamten Verteilung, was als Ausdruck kollektiver und koordinierter Aktionen zur Beschäftigungssicherung interpretiert werden kann, indem Löhne gegen Beschäftigungsgarantien eingetauscht werden. Auf diese Weise wird die Arbeitsplatzsicherheit aller Beschäftigtengruppen im öffentlichen Dienst erhöht und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Dienstleistungen gewährleistet. 3) Die Ergebnisse für den Einfluss des institutionellen Wandels auf die Lohnungleichheit zeigen die zentrale Bedeutung von Arbeitsmarktreformen, die während der Eurokrise stattgefunden haben und zum Teil auch von Seiten der EU forciert wurden. Die Veränderungen des rechtlich-institutionellen Handlungsrahmens der Unternehmen haben die Anpassungsstrategien an die makroökonomischen Veränderungen, und damit auch die unterschiedliche Betroffenheit von Beschäftigten in der Stamm- und Randbelegschaft, entscheidend geprägt. Dabei zeigte sich, dass insbesondere die Reformierung des Kündigungsschutzes, der gesetzlichen Mindestlöhne sowie der Lohnersatzleistungen einen zentralen Einfluss auf die unterschiedlichen Dynamiken von Lohnungleichheiten in den Mitgliedsstaaten hatte. Die stärkere Deregulierung der Kündigungsschutzgesetze für reguläre Beschäftigungsverhältnisse, die zu einem Rückgang des institutionellen Dualismus beigetragen hat, trägt aufgrund sinkender Transaktionskosten seitens der Unternehmen zu höheren Beschäftigungschancen für Geringqualifizierte mit unterdurchschnittlichen Löhnen bei, was mit einer größeren Lohnspreizung einhergeht. Die Erhöhung der Mindestlöhne, die insbesondere in den osteuropäischen Staaten stattfand, führte hingegen zu einem Anstieg des unteren Lohnniveaus und damit zu einer Kompression der Lohnverteilung. Der überwiegende Rückgang in der Höhe und Bezugsdauer der Lohnersatzleistungen in der Phase der Haushaltskonsolidierung ging vor allem mit einem höheren Anpassungsdruck auf die Löhne
8.4 Zwischenfazit
265
der Besserverdiener einher, da sich ihre Verhandlungsposition aufgrund der größeren Einkommensverluste im Falle von Arbeitslosigkeit verschlechtert hat. Die Konzessionsbereitschaft der oberen Verdienstgruppen resultierte somit in einer Kompression der Lohnverteilung „von oben“. Hinsichtlich des positiven Effekts der Tarifabdeckungsrate zeigte sich, dass dieser insbesondere auf Griechenland zurückzuführen ist, da der enorme Rückgang in der tarifvertraglichen Abdeckung von 100 auf 25 Prozent insbesondere die gut entlohnte industrielle Stammbelegschaft getroffen und daher zu einer starken Kompression der Lohnverteilung beigetragen hat. Auch wenn der abnehmende Organisationsgrad nicht direkt auf Arbeitsmarktreformen zurückgeführt werden kann und eher als langfristiger Trend betrachtet werden sollte, zeigte sich, dass dieser zu einer Abnahme der Lohnungleichheit am unteren Ende beigetragen hat. Dies ist damit zu erklären, dass Gewerkschaften in erster Linie zu einem Anstieg der mittleren Löhne beitragen, die dementsprechend bei einem Rückgang des gewerkschaftlichen Einflusses absinken und somit die Lohnspreizung verringern. Alle beschriebenen Effekte erwiesen sich als robust, auch nachdem für andere langfristige Trends kontrolliert wurde.
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Fazit
Vor dem Hintergrund, dass die Entwicklung der Löhne zu Beginn der Eurokrise zwar in den Fokus des öffentlichen und politischen Interesses gerückt ist – als deren zentrale Ursache und gleichzeitige Lösung –, Untersuchungen aus einer europäischen Perspektive aber bislang selten sind, war es das Ziel dieser Arbeit, die Folgen und Auswirkungen der Krisen sowie der Krisenpolitik auf die gesamteuropäischen sowie nationalstaatlichen Lohnverteilungen zu untersuchen. Im Folgenden sollen die zentralen Befunde der empirischen Untersuchung zunächst zusammengefasst und anschließend in Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess diskutiert werden. Die theoretische Grundannahme dieser Arbeit war, dass unterschiedliche Muster in den Lohnungleichheiten und deren Dynamiken das Ergebnis verschiedener betrieblicher Anpassungsstrategien hinsichtlich der Stamm- und Randbelegschaften sind, die auf aggregierter Ebene mit unterschiedlichen Segmentationsmustern auf dem Arbeitsmarkt einhergehen und im hohem Maße von den rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen geprägt sind. Im Allgemeinen bestätigten die Ergebnisse der empirischen Analysen zu den Auswirkungen der Krise(n) auf die Dynamiken von Lohnungleichheiten diese Annahme. Sie zeigen, dass verschiedene Beschäftigtengruppen unterschiedlich stark von Anpassungsmaßnahmen betroffen waren und letztere in entscheidendem Maße von den nationalen Arbeitsmarktinstitutionen geprägt wurden, so dass es zu deutlich unterschiedlichen Entwicklungen in der Lohnverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten gekommen ist. Interessanterweise war das Ergebnis eine deutliche EU-weite Konvergenz und ein Rückgang zwischenstaatlicher Ungleichheit während der Krise – was im Gegensatz zu den Entwicklungen hinsichtlich der Arbeitslosigkeit oder dem verfügbaren Einkommen steht (vgl. Heidenreich 2016a).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Broschinski, Dynamiken von Lohnungleichheiten in Europa, Sozialstrukturanalyse, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31894-9_9
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9
Fazit
Maßgeblich wurde diese Entwicklung von den osteuropäischen Mitgliedsstaaten sowie Deutschland auf der einen und den südeuropäischen Ländern inklusive Großbritannien auf der anderen Seite geprägt. Dies lässt sich als doppelte Kompression bezeichnen, die nicht allein auf den Aufholprozess ersterer, sondern genauso auf die Reallohneinbußen letzterer zurückzuführen ist. Dabei verliefen diese Entwicklungen keinesfalls identisch bzw. betrafen dieselben Beschäftigtengruppen – nicht einmal in den Krisenländern der Eurozone. Dies zeigt, dass der Umgang der nationalspezifischen Institutionen mit der Krise zu unterschiedlichen Mustern der Anpassung und damit auch der Lohnungleichheiten führte – und dass trotz ähnlicher Krisenbetroffenheit. Weiterhin wurde sichtbar, dass die Krisenpolitik der EU – zumindest auf die Länder, die finanzielle Hilfe in Anspruch nehmen mussten – erhebliche Auswirkungen auf die Lohnstrukturen hatte. Im Nachfolgenden sollen die zentralen Befunde der Analysen noch einmal rekapituliert werden, um sie anschließend im Kontext des europäischen Integrationsprozesses zu reflektieren. Mit Blick auf die gesamteuropäischen Lohnungleichheiten zeigte sich, dass diese erheblich zurückgegangen sind – sowohl in der EU als auch in geringerem Umfang in der Eurozone. So hat sich der Gini-Koeffizient beispielsweise seit 2006 von knapp 37 auf 33,7 verringert und erreichte 2016 seinen niedrigsten Wert innerhalb des Untersuchungszeitraums. Dieser Rückgang ist weitestgehend auf eine Kompression der EU-weiten Lohnverteilung zurückzuführen und somit auf steigende Reallöhne im unteren Bereich der Verteilung bei gleichzeitig stabilen oder zum Teil rückläufigen Verdiensten im oberen Bereich. Die Bruttostundenlöhne der europäischen Arbeitnehmer haben sich somit über die Krisenperiode deutlich angeglichen. Auch sind die Disparitäten zwischen den Mitgliedsstaaten zurückgegangen: Für die individuellen Verdienstchancen ist es somit zunehmend unwichtiger geworden, in welchem Mitgliedsstaat man arbeitet. Entscheidender ist, in welcher Position man sich im nationalen Stratifikationssystem befindet. Der Rückgang der EU-weiten Lohnungleichheit ist jedoch nicht allein auf höhere Löhne der europäischen Geringverdiener zurückzuführen, sondern das Resultat eines komplexen Zusammenspiels zwischen den Veränderungen gruppenspezifischer Lohnstrukturen sowie der Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft. So führte letzteres allein (aufgrund des EU-weiten Wegfalls von typischen Geringverdienern) nur zu einem gleichmäßigen Anstieg der gesamten Lohnverteilung ohne große Auswirkungen auf die Ungleichheit. Die Veränderungen in den Reallöhnen waren es letztlich, die dafür verantwortlich waren, dass es zu diesem beobachteten Konvergenzprozess kam. Ein zentraler Erklärungsfaktor dafür ist der Wegfall des Verdienstvorteils im öffentlichen Dienst. Stattdessen hat sich hier ein deutlicher Verdienstnachteil besonders für die oberen Lohnklassen gegenüber
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Fazit
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der Industrie etabliert. Beschäftigte im öffentlichen Dienst waren daher EU-weit besonders von relativen Reallohnrückgängen betroffen. Zum einen lässt sich dies auf den großen Anpassungsdruck zurückführen, dem die öffentlichen Haushalte insbesondere seit der Staatsschuldenkrise ausgesetzt waren und der besonders hoch für die Länder ausfiel, die Rettungsprogramme in Anspruch nehmen mussten und dafür deutliche Einschnitte in ihren Budgets versprachen. Zum anderen ist dies drauf zurückzuführen, dass der Staat als Arbeitgeber mehr auf die Kürzung der Löhne und Gehälter seiner Angestellten setzte als auf einen Beschäftigungsabbau. Was diese Angleichung der Verdienste auf gesamteuropäischer Ebene jedoch verdeckt, ist, dass es EU-weit auch zu einer Polarisierung der alters- und bildungsspezifischen Verdienstchancen gekommen ist. Somit fallen die Verdienstvorteile älterer und hochqualifizierter Arbeitnehmer über die Krise hinweg deutlich größer aus, was eigentlich zu einer Zunahme der EU-weiten Lohnungleichheiten beigetragen hätte. Dass es dennoch zu einer Angleichung der Verdienste kam, ist in erster Linie auf die Veränderungen im länderspezifischen Lohnniveau zurückzuführen, die mit Abstand den größten Erklärungsanteil an der Entwicklung der gesamteuropäischen Lohnstruktur haben. So zeigte sich, dass die Arbeitnehmer aus den südeuropäischen Staaten sowie aus Großbritannien einen deutlichen Rückgang in ihren Reallöhnen erfahren haben, der sich insbesondere auf den mittleren und oberen Abschnitt der EU-weiten Lohnverteilung ausgewirkt hat. Auf der anderen Seite führten vor allem die gestiegenen Löhne osteuropäischer Arbeitnehmer zu einem erheblichen Anstieg des Lohnniveaus im unteren Bereich der Lohnverteilung und damit zur Konvergenz der EU-weiten Lohnverteilung. Dies ist angesichts ihres doch relativ geringen Anteils an der europäischen Gesamtbevölkerung bzw. Arbeitnehmerschaft recht eindrucksvoll. Aber auch der Anstieg des unteren Lohnniveaus in Deutschland, der größtenteils auf die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 zurückgeht, hat zu diesen Prozessen beigetragen. Dies liegt daran, dass auch deutsche Geringverdiener – für die unterschiedliche Kaufkraft kontrolliert – vor der Einführung des Mindestlohns in den untersten Lohngruppen der EU-weiten Verteilung zu finden waren. Aufgrund des hohen Anteils deutscher Arbeitnehmer in der EU hatte dies dementsprechend auch einen stark komprimierenden Effekt. Der Rückgang in der gesamteuropäischen Lohnungleichheit ist somit einer doppelten Kompression geschuldet und spiegelt damit nicht nur den wirtschaftlichen Aufholprozess der osteuropäischen Mitgliedsstaaten wider, sondern auch die betrieblichen und arbeitsmarktpolitischen Anpassungen insbesondere in den südeuropäischen Ländern sowie Großbritannien.
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Des Weiteren zeigte sich für die länderspezifischen Dynamiken der Löhne, dass die zwischenstaatlichen Unterschiede im Lohnniveau deutlich zurückgegangen sind. War der höchste Medianlohn vor der Krise noch rund achtmal so hoch wie der niedrigste Medianlohn, hat sich dieses Verhältnis im Beobachtungszeitraum beinahe halbiert. In der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedsstaaten kam es zudem zu relativ starken Rückgängen in der aggregierten Lohnungleichheit, was dem EU-weiten Trend entspricht. Lediglich in sechs Ländern ist es zu einem Anstieg der innerstaatlichen Lohnungleichheiten gekommen – und zwar in Spanien, Bulgarien, Estland, Zypern, Italien und Malta. Die detaillierte Betrachtung der länderspezifischen Lohnentwicklungen zeigte zudem, dass eine Kategorisierung der Entwicklungsmuster mithilfe eines einfachen Nord-Süd-Ost-Schemata oder der Dichotomie Krisen- vs. Nichtkrisenländer nicht ohne weiteres möglich oder sinnvoll ist. Stattdessen ließen sich vier unterschiedliche Muster hinsichtlich der nationalspezifischen Lohnentwicklungen identifizieren, die mit der segmentationstheoretischen Grundannahme dieser Arbeit korrespondieren. Es wird davon ausgegangen, dass die Dynamiken von Lohnungleichheiten in entscheidendem Maße durch das Zusammenspiel verschiedener betrieblicher Anpassungsformen geprägt werden, die die Stamm- und Randbelegschaft auf unterschiedliche Weise betreffen. In den sechs Ländern, in denen ein Anstieg in der Lohnungleichheit zwischen 2006 und 2016 beobachtet wurde (Spanien, Italien, Zypern, Malta, Bulgarien und Estland), war eine Polarisierung der Lohnverteilung zu erkennen, die durch einen starken Rückgang der unteren Verdienste ausgelöst wurde und damit vor allem zwischen den unteren Verdienstgruppen die Lohnungleichheit verstärkte. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Geringqualifizierte, Hilfsarbeitskräfte oder befristet Beschäftigte mit unterdurchschnittlichen Löhnen in diesen Ländern zugleich die stärksten Reallohneinbußen erfahren haben. Dies wurde als monetäre Personalkostenanpassung zu Lasten der Randbelegschaft interpretiert. Zweitens zeigte sich insbesondere für Griechenland, Portugal und Rumänien eine Kompression der Lohnverteilung „von oben“. In diesen Ländern sind zum einen die Verdienstvorteile der Hochqualifizierten, Akademiker und gehobenen Fachkräfte sowie der Angestellten im öffentlichen Dienst zurückgegangen, was zu einem Absinken des oberen Lohnniveaus geführt hat. Eine weitere zentrale Ursache ist in diesen Ländern allerdings der ausgeprägte Verdienstvorteil der industriellen Stammbelegschaft. Erklärt wird dies damit, dass in genau diesen Ländern im Zuge der Vereinbarungen mit der Troika restriktivere und strengere Kriterien für die Ausdehnung von Tarifverträgen gefordert und auch umgesetzt
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wurden, was in einer drastischen Abnahme der Tarifabdeckung und Schwächung der Gewerkschaften einherging, von denen die Stammbelegschaften in der Industrie am stärksten profitiert hat. Drittens zeigte sich ein Muster in der Entwicklung der Lohnverteilung, das als Kompression „von unten“ beschrieben werden kann und vornehmlich in den Ländern zu finden ist, in denen die Löhne der industriellen Randbelegschaften hingegen deutlich angestiegen sind, wodurch das untere Lohnniveau angehoben wurde. Dies trifft in erster Linie auf die osteuropäischen Mitgliedsstaaten Polen, Litauen, Lettland und Slowenien zu. Länder, die trotz der Krise ein stetiges und starkes Wirtschaftswachstum verzeichneten, welches sich aufgrund des hohen Anteils der Industrie an der Bruttowertschöpfung dementsprechend auch auf die Löhne der industriellen Stammbelegschaften ausgewirkt hat – und das trotz (oder gerade wegen) der sehr gering ausgeprägten industriellen Beziehungen in diesen Ländern. Ein viertes Muster zeigte sich in Form einer Parallelverschiebung der Lohnverteilung. Das bedeutet, dass es zwar zu Veränderungen der Reallöhne kam, diese sich aber relativ gleichmäßig über die unterschiedlichen Beschäftigtengruppen verteilten, was zu stabilen Lohnungleichheiten in diesen Ländern führte. Dazu zählen insbesondere Großbritannien sowie Frankreich und Belgien. Eine einseitige Belastung bzw. Bevorteilung der Stamm- oder Randbelegschaft lässt sich für diese Länder daher nicht feststellen. Diese zwischen- und innerstaatlichen Befunde bekräftigen die Annahme, dass die Muster der Dynamiken von Lohnungleichheiten stark mit den jeweiligen betrieblichen Flexibilisierungsstrategien korrespondieren, die Unternehmen in den jeweiligen Ländern präferieren, wodurch sich auf aggregierter Ebene unterschiedliche Segmentationsmuster auf dem Arbeitsmarkt zeigen. Diese unterschiedlichen Präferenzen für verschiedene (Kombinationen von) Personalanpassungsformen wurden dabei auf die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen zurückgeführt, in die die Unternehmen eingebettet sind und die somit maßgeblich ihrer Flexibilitätsgestaltung beeinflussen. Neben der Betrachtung von Lohn- und Beschäftigungsstrukturen sowie deren Veränderungen auf der Mikroebene, wurden zusätzlich die Bedingungsfaktoren der heterogenen Entwicklungen in den Ländern auf der Makroebene analysiert. Auf diese Weise wurde der Einfluss makroökonomischer Schocks und der nationalspezifischen Arbeitsmarktinstitutionen auf die Dynamiken der Lohnungleichheiten zu untersuchen. Dabei standen sowohl die Niveauunterschiede zwischen den Staaten im Fokus als auch der institutionelle Wandel in Folge der Arbeitsmarktreformen. Dabei wurden vier Wirkungskanäle angenommen, über die personalpolitische Anpassungsformen der Unternehmen beeinflusst werden, die
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sich in der empirischen Analyse weitestgehend bestätigt haben: über die Lohnfestsetzung, die Reservationslöhne, die Transaktionskosten sowie über die kollektive Verhandlungsmacht und Interessenvertretung. Der zentrale Beitrag dieser Analysen ist, dass die sehr abstrakte Erfassung der Krise als Veränderungen zwischen zwei Zeitpunkten durch konkrete Variablen ergänzt wurde. Es zeigte sich, dass die rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen die Auswirkungen von Schocks auf die Lohn- und Beschäftigungsstrukturen, und damit die Lohnungleichheiten, in hohem Maße verstärken oder auch abschwächen können – selbst wenn von einem gemeinsamen Schock ausgegangen, d. h., die Krisenbetroffenheit als für alle Länder gleich angenommen wird. Dies verweist darauf, dass unabhängig von der Art oder Intensität des Schocks, Länder mit hohen Organisationsgraden, einer großen Kluft zwischen der Regulierung regulärer und atypischer Arbeitsverhältnisse, hohen Lohnersatzraten sowie hoher Steuer- und Abgabenlasten größere Schwankungen hinsichtlich der Lohnungleichheiten der unteren Verdienste vorweisen. Das heißt, dass sie vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Schocks nicht nur stärker, sondern auch mit unterschiedlicheren Anpassungslasten hinsichtlich der Belegschaften einhergehen. Hinsichtlich der unterschiedlichen Art und Intensität der Krisenbetroffenheit zeigte sich, dass negative Nachfrageschocks, gemessen als ein Rückgang des realen BIP, zu einer geringeren Lohnspreizung der oberen Verdienste, jedoch zu einer größeren Spreizung der unteren Verdienste führten. Damit fällt die Wirkung U-förmig aus, indem sowohl die oberen als auch die untersten Verdienste die größten Lohneinbußen erfahren. Letztere werden dabei jedoch entscheidend von hohen Mindestlöhnen sowie Steuern und Abgaben geprägt, weil sie das Ausmaß der Spreizung durch direkte und indirekte Lohnuntergrenzen moderieren und damit die Lohnflexibilität der Unternehmen begrenzen, jedoch gleichzeitig mit negativen Beschäftigungseffekten einhergehen können. Das könnte beispielsweise den hohen Rückgang jugendlicher Arbeitnehmer während der Wirtschaftskrise in Griechenland, Portugal, Frankreich und auch Slowenien erklären, die zu den Ländern mit den höchsten relativen Mindestlöhnen zählen. Für die monetären Schocks in Form eines Anstiegs der Realzinsen zeigte sich kein eigenständiger Effekt über alle Länder, sondern nur in Abhängigkeit von den nationalen Arbeitsmarktinstitutionen. Die Auswirkungen von Realzinsschwankungen auf die betrieblichen Anpassungsstrategien sind somit weitestgehend länderspezifisch und von einer größeren Zahl an institutionellen Faktoren abhängig. Insbesondere von solchen, die die Lohnflexibilität der Unternehmen beeinflussen, wie beispielsweise eine hohe Tarifabdeckung oder Mindestlöhne. Aber auch von solchen, die die Reservationslöhne der Arbeitnehmer beeinflussen, wie die Lohnersatzraten, der Steuerkeil und aktive Arbeitsmarktpolitiken.
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So führt ein negativer monetärer Schock in Ländern mit hohen relativen Mindestlöhnen oder Tarifabdeckungsraten zu einem deutlich geringeren Anstieg der Lohnspreizung. Das liegt in der geringeren monetären Flexibilität der Unternehmen begründet. Allerdings kommt es so häufiger zu Entlassungen, die vor allem die Randbelegschaft betreffen. In der Folge wird die Verteilung komprimiert. So sind beispielsweise die größten monetären Schocks in Griechenland, Lettland, Irland und Portugal vorzufinden. Auch in diesem Falle wieder jene Länder, die einen hohen relativen Mindestlohn aufweisen und deren Anteile an jugendlichen und geringqualifizierten Arbeitnehmern sich zwischen 2006 und 2016 annähernd halbiert haben. Eine fiskalische Konsolidierung, fand insbesondere mit Beginn der Staatsschuldenkrise in vielen Mitgliedsstaaten statt – insbesondere in jenen, die europäische Hilfsgelder in Anspruch genommen und Vereinbarungen mit der Troika abgeschlossen hatten. Gezeigt wurde, dass ein hoher Spardruck auf Seiten des Staates generell zu einer Abnahme der Lohnspreizung der oberen Verdienste führte, was vor allem auf die starken Lohneinbußen im öffentlichen Dienst zurückzuführen ist. Gerade in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal und Irland wurden die größten Sparanstrengungen unternommen. Das sind zugleich die Länder, in denen der hohe Verdienstvorteil im öffentlichen Dienst aus Vorkrisenzeiten entweder weggefallen ist oder sogar zu einem Verdienstnachteil wurde. Dies bestätigt die Annahme, dass der Staat in seiner Doppelfunktion als Arbeitgeber und Anbieter von öffentlichen Dienstleistungen primär auf lohnsenkende Maßnahmen zurückgreift als auf Beschäftigungsanpassungen. Hinsichtlich der Rolle der industriellen Beziehungen zeigte sich zudem, dass starke Gewerkschaften in hochkoordinierten Systemen dazu führen, dass die Anpassungslast gleichmäßiger auf alle Verdienstgruppen verteilt wird und dadurch die Beschäftigungssicherheit der gesamten Belegschaft erhöht wird. Dies dokumentiert sich vor allem darin, dass die Beschäftigungsquote des öffentlichen Dienstes in den Ländern mit den größten Einsparungen stabil geblieben oder sogar gestiegen ist. Hinsichtlich der Auswirkungen der Arbeitsmarktreformen, die in vielen Mitgliedsstaaten während der Krise durchgeführt wurden, zeigte sich, dass diese den rechtlich-institutionellen Handlungsrahmen der Unternehmen deutlich verändert haben und somit ebenfalls einen merklichen Beitrag zur Erklärung der Dynamiken von Lohnungleichheiten hatten. Dabei wurde deutlich, dass insbesondere die Reformierung der Kündigungsschutzgesetze, der gesetzlichen Mindestlöhne sowie der Lohnersatzleistungen einen zentralen Einfluss auf die Lohnungleichheit in den Mitgliedsstaaten hatte. Entgegen früherer Trends einer Dualisierung der Kündigungsschutzgesetze zeigte sich, dass die Reformen während der Krise in erster Linie zu einem Rückgang des Kündigungsschutzes für regulär Beschäftigte
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hatte und nur in wenigen Fällen zu einer zunehmenden Liberalisierung atypischer Beschäftigungsformen führte. Infolgedessen erhöhten sich die Beschäftigungschancen der Geringqualifizierten – aufgrund geringerer Transaktionskosten – in einigen Mitgliedsstaaten. Da diese oftmals mit unterdurchschnittlichen Löhnen einhergehen, erhöhte sich die Lohnspreizung insbesondere am unteren Ende der Verteilung. Im Gegensatz dazu führte der Anstieg der relativen Mindestlöhne, wie er insbesondere in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten zu beobachten war, zu einem Anstieg des unteren Lohnniveaus und damit zu einer Kompression der Lohnverteilung. Dies könnte einen Teil des beachtlichen Anstiegs der unteren Löhne auf gesamteuropäischer Ebene erklären. Verdrängungseffekte von Geringqualifizierten und Arbeitsmarkteinsteigern sind dabei aber nicht auszuschließen. Gerade in Lettland, wo der relative Mindestlohn am stärksten angestiegen ist, haben sich die Beschäftigungsanteile an Geringqualifizierten und Jugendlichen beinahe halbiert. Der überwiegende Rückgang in der Höhe der Lohnersatzleistungen ging vor allem mit einem höheren Anpassungsdruck auf die Besserverdiener einher. Diese waren dadurch eher zu Konzessionen bereit, da eine Entlassung erheblich größere Einkommensverluste bedeutet hätten. Hinsichtlich der industriellen Beziehungen zeigte sich, dass insbesondere der Rückgang der Tarifabdeckungsrate in Griechenland, wo diese von 100 auf rund 25 Prozent gesunken ist, auf Kosten der industriellen Stammbelegschaften ging, die vor der Krise überdurchschnittliche Löhne bekamen. Dies erklärt unter anderem den drastischen Rückgang der Ungleichheit in Griechenland. Der langfristige Trend sinkender gewerkschaftlicher Organisationsgrade in ganz Europa lässt sich zwar nicht auf die Arbeitsmarktreformen während der Krise zurückführen, ging aber ebenfalls mit einem Rückgang der Lohnungleichheiten zwischen den unteren und mittleren Verdiensten einher. Das ist darauf zurückzuführen, dass Gewerkschaften in erster Linie durch die Stärkung der kollektiven Verhandlungsmacht die Löhne in der Mitte der Verteilung anheben. Sinkt der Einfluss von Gewerkschaften, sinkt dementsprechend auch der Medianlohn. Im Allgemeinen hatten die Arbeitsmarktreformen während der Krise somit einen ungleichheitsreduzierenden Effekt, was die Dynamiken der Lohnungleichheiten hin zu einer deutlich geringeren Spreizung in den meisten Mitgliedsstaaten erklärt. Es zeigte sich aber gleichzeitig, dass weniger Ungleichheit vor allem über die Privilegien der Stammbelegschaft erzielt wurde oder aufgrund der Entlassungen der Randbelegschaften. Insbesondere hinsichtlich des Mindestlohns lassen sich Anzeichen für Verdrängungseffekte Geringqualifizierter und Arbeitsmarkteinsteiger zugunsten egalitärerer Lohnstrukturen finden. Dies verdeutlicht noch einmal, dass die Beschäftigungsstruktur und die Lohnstruktur zwei Seiten
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derselben Medaille sind und die eine nicht ohne die andere vollständig verstanden werden kann. Limitationen dieser Arbeit ergeben sich jedoch vor allem hinsichtlich der relativ begrenzten Anzahl an Ländern, die in den Analysen zum Einfluss der Institutionen und der Arbeitsmarktreformen herangezogen wurden, was durch die begrenzte Datenlage begründet ist. Dadurch fehlen jedoch vier Länder, die deutliche Veränderungen in ihren Lohnverteilungen erfahren haben. Denn gerade Zypern, Malta und Bulgarien sind drei der sechs Mitgliedsstaaten, in denen die Lohnungleichheiten tatsächlich zugenommen haben, während Rumänien nicht nur die größten Rückgänge in den Reallöhnen, sondern auch in der Tarifabdeckung zu verzeichnen hat. Dadurch könnten möglicherweise Inkongruenzen zwischen den Ergebnissen der ersten beiden Teile und dem dritten Teil entstehen bzw. Zusammenhänge zwischen den vier Entwicklungsmustern auf der Länderebene und dem Wirken der Institutionen verdeckt bleiben. Eine weitere Möglichkeit der Anschlussforschung ist, dass in den empirischen Analysen Stundenlöhne anstelle von Monatsverdiensten verwendet wurden, was mit einem zentralen Nachteil einhergeht. Zwar konnte auf diese Weise die Komplexität reduziert werden, da so für unterschiedliche Arbeitszeitmodelle bereits kontrolliert wurde. Andererseits gerät damit eine wichtige Anpassungsstrategie der Betriebe außer Acht: die Anpassung der Arbeitszeit. Diese Dimension wurde in den Dekompositionsanalysen annäherungsweise über den veränderten Anteil an Teilzeitbeschäftigten operationalisiert. Eine detaillierte Analyse der trade-offs zwischen den drei Formen der Kostenreduktion, d. h. Stundenlöhne, Arbeitsstunden und Beschäftigung, würde die hier vorliegende Analyse noch um eine weitere, wichtige Dimension ergänzen. Insgesamt macht die vorliegende Arbeit deutlich, dass Arbeitsmarktungleichheiten nicht die alleinige Konsequenz oder Notwendigkeit von makroökonomischen Schocks sind, sondern in erheblichem Maße von bestehenden Institutionen und von politische Entscheidungen auf nationaler wie auf EU-Ebene geprägt werden. Dies zeigt sich vor allem darin, dass die Tarifverhandlungs- und Lohnfindungssysteme insbesondere der südeuropäischen Länder als eine der zentralen Ursachen für die Eurokrise benannt wurden, während die Lohnfindungssysteme der nord- und westeuropäischen Länder als Vorzeigemodelle präsentiert wurden und damit in erheblichem Maße die Richtung der Krisenpolitik bestimmten (Pernicka 2015, S. 610). Die Folge ist, dass in den Ländern, die am härtesten von der Krise betroffen waren, die koordinierten Tarif- und Lohnverhandlungen fast gänzlich verschwunden sind (Visser 2016b, S. 30) – mit teils erheblichen Auswirkungen wie am Beispiel Griechenlands gezeigt wurde. Der zentrale Beitrag dieser Arbeit liegt darin, dass eine gesamteuropäische Perspektive auf die Entwicklung der Lohnverteilungen während der Eurokrise
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eingenommen wurde, welche die EU bzw. die Eurozone als einen genuinen Sozialraum betrachtet, dem ein gesamteuropäisches Schichtungssystem zugrunde liegt. Damit schließt sie an die wenigen vorherigen Arbeiten an, die diesen Weg bereits gegangen sind (z. B. Fernández-Macías und Vacas-Soriano 2015; Brandolini und Rosolia 2015). Eine solche Perspektive auf die Lohnentwicklungen liefert auf diese Weise Informationen über den Grad der Konvergenz und bestehender Disparitäten hinsichtlich der Verdienste zwischen den europäischen Bürgern – und nicht bloß zwischen Ländern. Dies erweist sich insbesondere vor dem Hintergrund als zentral, da die Lebensverhältnisse innerhalb Europas nicht nur zunehmend auf und durch die EU-Ebene geprägt (Heidenreich et al. 2019; Beckfield 2019), sondern zunehmend auch transnational wahrgenommen und bewertet werden (Lahusen und Kiess 2019; Delhey und Kohler 2006). Somit gehen mit der zunehmenden politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Integration in Europa nicht nur das Interesse, sondern auch die Forderungen nach einem Mehr an sozialer Integration und damit auch nach der Konvergenz der Lebensverhältnisse innerhalb der EU einher (vgl. dazu die Europäische Säule sozialer Rechte). Eine elementare Dimension dieser angestrebten Kohäsion, welche immer schon ein zentrales Ziel der Europäischen Integration war, sind die Einkommen, die nach wie vor zum größten Teil am Arbeitsmarkt in Form von Löhnen und Gehältern erwirtschaftet werden. Das eine Konvergenz der Lohnverteilung und Reduktion der Lohnungleichheit jedoch nicht automatisch mit einem Wohlfahrtsgewinn gleichzusetzen sind, zeigte diese Arbeit eindrucksvoll. Die Frage nach den Dynamiken von Lohnungleichheiten ist daher von zentraler Bedeutung, um soziale Phänomene wie Armut, Exklusion, materielle Deprivation und sozialen Zusammenhalt gerade in einem EU-weiten Kontext besser verstehen zu können. Ein umfassendes Verständnis gesamteuropäischer sowie innerstaatlicher Lohnungleichheiten ist zudem nicht nur für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Sozialraums, sondern auch für die Gestaltung einer gesamteuropäischen Arbeits-, Sozial- und Migrationspolitik von entscheidender Bedeutung. Ohne die nationalen Besonderheiten außer Acht zu lassen, hat diese Arbeit somit einen Beitrag zum Verständnis gesamteuropäischer Lohnentwicklungen geleistet.
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