Dynamik der Dogmenhermeneutik: Der biblische Kanon als Paradigma einer lebendigen Überlieferung [1 ed.] 9783451395765, 9783451835766, 3451395762

Die Heilige Schrift kann als verbindliches Paradigma einer lebendigen Überlieferung gelten. Ausgehend von der inneren St

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Markus Weißer Dynamik der Dogmenhermeneutik
Impressum
Inhalt
Vorwort
I. Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung
1. Tradition als an die Schrift gebundener Rezeptionsprozess
2. Die Fragestellung
3. Methodologische Vorbemerkungen und Zielsetzung
II. Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon
1. Ausbildung eines Kanons in Bekenntnis und Schrift
1.1. Das Bekenntnis und der „Kanon des Glaubens‟
1.2. Das Verhältnis von Bekenntnis und Schrift
1.3. Schrift (AT), Verschriftung (NT) und biblischer Kanon
1.4. Die spezifisch christliche Problematik Biblischer Theologie
2. Der theologische Eigenwert des AT und seine bleibende Bedeutung
2.1. Sicherung der theologischen Kontinuität in Ursprung und Ziel
2.2. Zeugnis von Diskontinuität durch Innovation und Entwicklung
2.3. Spiegel kollektiver Identität in Pluralität und Dialog
3. Normativität der Schrift und Verschriftung christlicher Hermeneutik
3.1. Theozentrische Bindung und soteriologische Hermeneutik Jesu
3.2. Aktualisierung und universale Offenheit im Dialog
3.3. Christologische Verdichtung in der Person Jesu
3.4. Verbindung von Alt und Neu im christlichen Kanon
III. Die inspirierte Einheit von Kanon und Traditionsprozess
1. Pneumatisches Produkt der Rezeption
1.1. Resultat und Paradigma theofinaler Entwicklung
1.2. Das Potential innerbiblischer Traditionskritik
1.3. Abseits des Kodex und jenseits des Kanons
1.4. Normierte Fortsetzung der Rezeption mit anderen Mitteln
1.5. Inspiration als soteriologisch motivierter Prozess
2. Pneumatisches Plus der Offenbarung
2.1. Hermeneutische Differenzierung: Ein Gott der Lebenden und nicht der Toten
2.2. Offenbarung als Grundlage ihrer Bezeugung und je neuen Vermittlung
2.3. Tradition nach Joseph Ratzingers Relecture des Konzils von Trient
2.4. Die Gemeinschaft der Kirche als aktive Trägerin der Überlieferung
2.5. Die Schrift in kritischer Differenz zur kirchlichen Tradition
3. Pneumatischer Plural der Auslegungen
3.1. Die Kirche im Dialog mit sich selbst, Gott und der Welt
3.2. Gottes Wort in menschlicher Freiheit und Vielfalt
3.3. Sinnüberschuss und (con-)sensus fidelium
3.4. Synodalität als gemeinsame Suche nach Einheit und Konsens
3.5. Aufgaben und Grenzen des kirchlichen Lehramtes
3.6. Dissens und christliche Kommunikationskultur
3.7. Gefahr von Verdrängung und Machtmissbrauch im Rezeptionsprozess
IV. Unterscheidung und Entscheidung in einer offenen Dogmengeschichte
1. Kleine Exkursion in die Dogmengeschichte
2. Das II. Vatikanische Konzil und seine Hermeneutik der Erneuerung
2.1. Theofinale Konzentration auf das Mysterium salutis
2.2. Lebendige Übersetzungsprozesse durch Ressourcement und Aggiornamento
2.3. Dynamischer Kairos des Dialogs als entgrenzte Topologie
2.4. Kontingenz – Unterscheidung – Entschiedenheit
3. Fazit und Ausblick: Ein Paradigmenwechsel hin zum Kommunikationsprozess
Literaturverzeichnis
Bibelausgaben
Quellen und Quellensammlungen
Weitere Literatur
Abkürzungsverzeichnis
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Dynamik der Dogmenhermeneutik: Der biblische Kanon als Paradigma einer lebendigen Überlieferung [1 ed.]
 9783451395765, 9783451835766, 3451395762

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Markus Weißer

Dynamik der Dogmenhermeneutik

Markus Weißer

Dynamik der Dogmenhermeneutik Der biblische Kanon als Paradigma einer lebendigen Überlieferung

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlaggestaltung: Verlag Herder Umschlagmotiv: © Fajar / Adobe Stock E-Book-Konvertierung: Barbara Herrmann, Freiburg ISBN Print 978-3-451-39576-5 ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83576-6

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I. Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung 1. 2. 3.

Tradition als an die Schrift gebundener Rezeptionsprozess . . Die Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Vorbemerkungen und Zielsetzung . . . . . .

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II. Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.

Ausbildung eines Kanons in Bekenntnis und Schrift . . . . . Das Bekenntnis und der „Kanon des Glaubens“ . . . . . . . Das Verhältnis von Bekenntnis und Schrift . . . . . . . . . . . Schrift (AT), Verschriftung (NT) und biblischer Kanon . . Die spezifisch christliche Problematik Biblischer Theologie Der theologische Eigenwert des AT und seine bleibende Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sicherung der theologischen Kontinuität in Ursprung und Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeugnis von Diskontinuität durch Innovation und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiegel kollektiver Identität in Pluralität und Dialog . . . . Normativität der Schrift und Verschriftung christlicher Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theozentrische Bindung und soteriologische Hermeneutik Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktualisierung und universale Offenheit im Dialog . . . . . Christologische Verdichtung in der Person Jesu . . . . . . . . Verbindung von Alt und Neu im christlichen Kanon . . . .

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33 33 36 40 54

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. . 107 . . 123 . . 123 . . 131 . . 138 . . 151

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Inhalt

III. Die inspirierte Einheit von Kanon und Traditionsprozess 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7.

Pneumatisches Produkt der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . Resultat und Paradigma theofinaler Entwicklung . . . . . . . . Das Potential innerbiblischer Traditionskritik . . . . . . . . . . . Abseits des Kodex und jenseits des Kanons . . . . . . . . . . . . . Normierte Fortsetzung der Rezeption mit anderen Mitteln . . Inspiration als soteriologisch motivierter Prozess . . . . . . . . . Pneumatisches Plus der Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutische Differenzierung: Ein Gott der Lebenden und nicht der Toten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offenbarung als Grundlage ihrer Bezeugung und je neuen Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tradition nach Joseph Ratzingers Relecture des Konzils von Trient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gemeinschaft der Kirche als aktive Trägerin der Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schrift in kritischer Differenz zur kirchlichen Tradition . . Pneumatischer Plural der Auslegungen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kirche im Dialog mit sich selbst, Gott und der Welt . . . Gottes Wort in menschlicher Freiheit und Vielfalt . . . . . . . . Sinnüberschuss und (con-)sensus fidelium . . . . . . . . . . . . . . Synodalität als gemeinsame Suche nach Einheit und Konsens Aufgaben und Grenzen des kirchlichen Lehramtes . . . . . . . . Dissens und christliche Kommunikationskultur . . . . . . . . . . Gefahr von Verdrängung und Machtmissbrauch im Rezeptionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

163 163 168 177 186 191 206 206 213 227 244 262 271 273 287 297 318 332 354 369

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Inhalt

IV. Unterscheidung und Entscheidung in einer offenen Dogmengeschichte 1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3.

Kleine Exkursion in die Dogmengeschichte . . . . . . . . . . . . Das II. Vatikanische Konzil und seine Hermeneutik der Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theofinale Konzentration auf das Mysterium salutis . . . . . Lebendige Übersetzungsprozesse durch Ressourcement und Aggiornamento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dynamischer Kairos des Dialogs als entgrenzte Topologie . Kontingenz – Unterscheidung – Entschiedenheit . . . . . . . . Fazit und Ausblick: Ein Paradigmenwechsel hin zum Kommunikationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Literaturverzeichnis

. 381 . 404 . 405 . 420 . 447 . 469 . 488

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

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Vorwort 60 Jahre nach Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils, im Oktober 2022, durfte ich meine Habilitation an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg mit der Feststellung der Lehrbefähigung für das Fach „Dogmatik und Dogmengeschichte“ erfolgreich abschließen. Die Thematik der vorliegenden Habilitationsschrift zielt auf die aktuellen Reformdebatten in der Katholischen Kirche, die weltweit mit einer zunehmenden Polarisierung ringt. Für die einen erscheint „die“ Lehre der Kirche unantastbar, während andere sie gerne komplett über Bord werfen möchten, um nach zahlreichen Skandalen total neu zu beginnen. Doch inwieweit darf oder muss die Lehre bzw. der Glaube der Kirche sich weiterentwickeln? Es stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien bestimmte Elemente beibehalten oder aber aussortiert werden. Wer darüber entscheiden will oder muss, sollte eine theologisch begründete Unterscheidung vornehmen können. In einer teils emotional aufgeladenen Atmosphäre will das vorliegende Buch zu einer heilsamen Versachlichung der Diskussionen beitragen. Wer sich auf die Lektüre einlässt, begibt sich mit dem Autor auf die Suche nach dogmatischen Kriterien, die sich aus der inneren Struktur und Entwicklungsdynamik des biblischen Kanons ergeben. Denn die Hl. Schrift aus Altem und Neuem Testament hat theologische Prinzipien der Verhältnisbestimmung von Alt und Neu in sich konserviert, die später, jenseits des Kanons, den Überlieferungsprozess weiter geprägt haben. Die Bibel kann als verbindliches Paradigma für eine dogmatische Unterscheidung und Entscheidung gelten – sie hat in der ihr immanenten Dynamik und Pluralität also einen einzigartigen Vorbildcharakter für heutige Rezeptions- und Reformprozesse. Die daraus entfaltete Dogmenhermeneutik versucht Dogmatik und biblische Hermeneutik, Hl. Schrift(en) und Tradition systematisch miteinander zu verbinden. In diesem organischen Zusammenhang ist eine besondere Sensibilität für den jüdisch-christlichen Dialog und die theologische Eigenbedeutung des „Alten“ Testaments in seiner Relation zum Neuen erforderlich. Die aus diesem Neuansatz gewonnenen Ergebnisse werden schließlich mit den aktuellen Fragen nach Reform, Synodalität, der Rolle des Lehramts, nach Machtmissbrauch und Traditionskritik verbunden. Dass das II. Vaticanum in seiner Wertschätzung der Hl. Schrift sich derselben hermeneutischen Prinzipien bediente wie der biblische Kanon, ist kein Zufall.

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Vorwort

Es spricht vielmehr für die dogmatische Kompetenz des Konzils, dem sich diese Arbeit zutiefst verpflichtet weiß. Eine derart anspruchsvolle und interdisziplinär angelegte Studie kann nur in vielfältigem Dialog gelingen. Für diesen kritischen und konstruktiven, offenen und freundschaftlichen Dialog möchte ich besonders meinen Mentoren Prof. Dr. Erwin Dirscherl, Prof. Dr. Christoph Dohmen (beide Universität Regensburg) und Prof. Dr. Bertram Stubenrauch (LMU München) herzlich danken. Ein von der Universität Regensburg im Rahmen des „Academic Research Sabbaticals“ bewilligter und finanzierter Forschungsaufenthalt in Rom ermöglichte mir zudem einen sehr ertragreichen internationalen Dialog. Dem Päpstlichen Bibelinstitut, das mich sehr freundlich und interessiert aufgenommen hat, danke ich für die dort erfahrene Gastfreundschaft. Prof. Dr. Dominik Markl (Päpstliches Bibelinstitut, Rom) und Prof. Dr. Roman Siebenrock (Universität Innsbruck) danke ich neben Prof. Dr. Erwin Dirscherl für die Erstellung der Gutachten, das positive Feedback und die konstruktiven Anregungen. Hannah Kneidl gilt mein Dank für die gründliche und hilfreiche Korrektur des Manuskripts. Dem Verlag Herder und Herrn Clemens Carl möchte ich für die erneut sehr angenehme und professionelle Zusammenarbeit danken. Meinem bereits erwähnten Mentor und Doktorvater Erwin Dirscherl danke ich besonders für die langjährige, vertrauensvolle Zusammenarbeit, seine menschlich wie fachlich hervorragende Begleitung, seinen kostbaren Rat und die ebenso spannenden wie unterhaltsamen Gespräche, die für mich von unschätzbarem Wert waren und sind. Mein innigster und größter Dank gilt meinen lieben Eltern Gabriele und Georg Weißer, die mich zu jeder Zeit mit ihrer selbstlosen Güte und Liebe begleitet und unterstützt haben. Ihr bedingungsloser Rückhalt lässt für mich real erfahrbar werden, was die Theologie „Gnade“ zu nennen pflegt. Vergelt’s Gott! Regensburg, am Fest der Darstellung des Herrn 2023 Markus Weißer

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I. Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung Die Dogmatik hat heute einen schlechten Ruf. Häufig verbindet man mit dieser theologischen Disziplin nur eine starre, unbewegliche und unveränderliche Lehre vermeintlich überzeitlicher Gebote, die aus reinem Traditionalismus und Konservativismus unerbittlich verteidigt und den naiven Gläubigen autoritativ diktiert werden, um diese in eher fragwürdigen Wahrheiten zu disziplinieren. Dass solcher Dogmatismus im schlechten Sinne des Wortes mit der Dogmatik im Sinne einer christlichen Theologie gänzlich nichts zu tun hat, wird leider nur allzu selten deutlich. Denn ganz im Gegenteil zu diesem Klischee – das gelegentlich durch Amtsträger der Kirche selbst genährt wird – ist das Wesen der christlichen Glaubenslehre ein zutiefst bewegliches, wie ein Blick in die Dogmengeschichte leicht zu zeigen vermag. Das oft als „Problem“ beschworene Phänomen der Dogmenentwicklung muss ja keineswegs ein Problem darstellen. Es entlarvt doch vielmehr ein verengtes, vor allem seit dem 19. Jh. forciertes Zerrbild dessen, was mit den Begriffen Dogma und Dogmatik intendiert ist.1 Die Dynamik der Dogmatik liegt hingegen in der personalen Struktur des christlichen Glaubens selbst, in seinem Grund und Ziel: der Dynamik des dreifaltigen Gottes, die unter wandelbaren Bedingungen je neu zum Ausdruck gebracht und aktualisiert wird. Die Dogmatik entsteht aus der geschichtlichen Verankerung und der universalen Offenheit des christlichen Evangeliums, dessen soteriologische Bedeutung es glaubhaft und glaubwürdig zu vermitteln gilt. Eine reflektierte Hermeneutik zielt dabei auf den Schlüssel zum Verständnis und zur Deutung dessen, was durch Dogmen artikuliert werden soll. Die vorliegende Untersuchung will daher das dynamische Wesen katholischer Dogmatik neu ins Gedächtnis rufen, um es für das heutige Glaubensbewusstsein fruchtbar zu machen und einen theologisch begründeten und wissenschaftlich fundierten Beitrag für kirchliche Reformdebatten zu leisten.

1 Vgl. Seewald, M., Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg i. Br. 2018, 22–51.

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

1. Tradition als an die Schrift gebundener Rezeptionsprozess Die Überlieferung und Vermittlung des christlichen Glaubens durch die Glaubensgemeinschaft der Kirche darf nicht nur als Weitergabe (traditio), sondern muss ebenso als aktive Annahme (receptio) verstanden werden, weil nicht nur der objektive Glaubensinhalt (fides quae), sondern immer auch der subjektive Glaubensakt (fides qua) neu nachzuvollziehen ist. Die Nachfolge im Zusammenspiel von traditio und receptio ist die wesentliche Voraussetzung und Grundlage für die diachrone Sendung (missio) der sich als sakramentales Zeichen und Werkzeug verstehenden Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit. Denn sie ist als Gemeinschaft im Glauben selbst Zeugin einer Überzeugung, die sich unter sich vielfach wandelnden Bedingungen jeweils neu formiert und fortentwickelt, inkulturiert und aktualisiert (vgl. AG 22). Die sakramentale Selbsttranszendenz auf neue Horizonte hin dient dabei im Geiste Jesu Christi dem universal eröffneten Heil, d. h. der Gottesbeziehung aller Menschen (vgl. LG 1), und muss so zwangsläufig offen bleiben für neue Herausforderungen und Lerneffekte (vgl. GS 44). Wolfgang Beinert betont: „Wenn christlicher Glaube mehr ist als eine rational-intellektuelle Zustimmung zu Sätzen, wenn er als fides qua ein durch und durch personaler Vorgang ist, dann kann sich das Tradieren nicht durch das amtliche Personal allein vollziehen, sondern muss Sache aller Glaubenden sein.“2 Die sich in der Geschichte objektivierende Selbstmitteilung Gottes wird im Glauben subjektiv angenommen und in der Glaubensgemeinschaft weitergegeben. Es handelt sich um ein „personales und dialogisches Geschehen“, da sich die göttliche Offenbarung in ihrer geschichtlichen Bindung an das Zeugnis der Apostel in einzelnen menschlichen Traditionen aktualisiert, ohne jedoch in diesen aufzugehen. Diese menschlichen Traditionen müssen in ihrer situativ bedingten Ausdrucksgestalt kritisch reflektiert werden, um zwischen Gestalt und Gehalt der Tradition zu differenzieren.3 Dies gilt auch und in besonderer Weise für die Hl. Schrift als Gottes Wort in menschlichen Worten (vgl. DV 12). Sie ist das in der Selbstmitteilung Gottes gründende Produkt eines Traditions- und Rezeptionsprozesses, mit dem sie untrennbar verwoben bleibt. 2 Beinert, W., Theologische Erkenntnislehre, in: Ders. (Hg.), Glaubenszugänge. Lehrbuch der katholischen Dogmatik. Bd. 1, Paderborn 1995, 47–197, 118. 3 Vgl. Beinert, Theologische Erkenntnislehre, 127–130.

Tradition als an die Schrift gebundener Rezeptionsprozess

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„Die Heilige Schrift ist damit ein Produkt des Traditionsvorganges und somit Bestandteil der objektiven Tradition. Sie hat eine einzigartige Qualifikation gegenüber allen nachfolgenden Traditionszeugnissen, da in ihr der Glaube der Auferstehungszeugen abschließend festgehalten und bezeugt wird. Die Schrift ist die Gestalt der Apostolischen Verkündigung, hinter die die kommenden Generationen nicht mehr zurückkönnen. In diesem Sinne ist sie material suffizient zu nennen: Sie enthält alles Material, das für eine heilshafte Glaubenserkenntnis erforderlich ist. […] Gerade deswegen ergibt sich für die nachapostolische Kirche die verpflichtende Aufgabe, die Dynamik und das Verständnis für das in der Schrift niedergelegte Evangelium (Wort Gottes) wachzuhalten und je neu zu verkünden. Sie wird durch alle jene Vorgänge geleistet, die gewöhnlich als Tradition (im Gegensatz zur Hl. Schrift) bezeichnet werden. In Wirklichkeit handelt es sich weder um eine zweite Quelle neben der ersten noch um ein sekundäres Moment gegenüber dem primären Moment Schrift, sondern um eine weitere Phase des heilsgeschichtlichen Vermittlungsvorganges: um die Vermittlung für die und in der nachapostolischen Zeit und Kirche. Man findet Christus nur in der Schrift, aber man findet die Schrift nur in der Verkündigung der Kirche von heute.“4

Damit kommt der Kirche als Glaubens- und Interpretationsgemeinschaft die Aufgabe zu, die für sie verbindliche Schrift in das jeweilige Hier und Heute zu übersetzen und neu zu deuten. Die „materiale Suffizienz“ der Schrift, die noch auf dem II. Vatikanischen Konzil Gegenstand theologischer Auseinandersetzungen im ökumenischen Kontext war, bedeutet, dass die Schrift als irreversibles Zeugnis der eschatologischen Selbstoffenbarung – des Wortes – Gottes nicht additiv ergänzungsbedürftig sein kann.5 Sie enthält alles Heilsrelevante. Aber die Schrift allein genügt nicht, um selber einen fortschreitenden Prozess lebendiger Tradition zu 4 Beinert, Theologische Erkenntnislehre, 128. Einen sehr breit angelegten historischen Überblick bietet Rohls, J., Schrift, Tradition und Bekenntnis. Ideengeschichte des Christentums. Bd. II, Tübingen 2013. 5 Zur Debatte im Umfeld des Konzils vgl. Geiselmann, J. R., Die Heilige Schrift und die Tradition. Zu den neueren Kontroversen über das Verhältnis der Heiligen Schrift zu den nichtgeschriebenen Traditionen (QD 18), Freiburg i. Br. 1962; Ratzinger, J., Rez.: Geiselmann, Die Heilige Schrift und die Tradition, in: ThPQ 111 (1963), 224 –227; Rahner, K., Heilige Schrift und Tradition, in: Ders., Schriften zur Theologie VI, Einsiedeln u. a. 1965, 121–138; Hoping, H., Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, in: HThKVatII, Bd. 3, Freiburg i. Br. 2009, 695 – 831, hierzu: 703 –716; Kasper, W., Schrift und Tradition – eine Quaestio disputata, in: Ders., Evangelium und Dogma. Grundlegung der Dogmatik (WKGS 7), Freiburg i. Br. 2015, 369 –385. Zu einem ökumenischen Konsens vgl. Schneider, T./Pannenberg, W. (eds.), Binding Testimony. Holy Scripture and Tradition. On behalf of the Ecumenical Study Group of Protestant and Catholic Theologians in Germany, Frankfurt a. M. 2014, 34 f.; 137; 146 ff.

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

gewährleisten.6 Denn die Schrift bedarf ihrer jeweiligen Rezeption – und damit auch der je neuen Interpretation vor dem sich wandelnden Verständnishorizont der Hörer/innen des Wortes. Das sich im Umfeld des II. Vatikanischen Konzils ausbildende und auch in DV verankerte dynamische Verständnis von Tradition7 zielt auf einen kontinuierlichen Prozess der Aneignung und Weitergabe des in der Selbstoffenbarung Gottes wurzelnden Glaubens – einer Rezeption und Tradition. Dieser Prozess bleibt primär gebunden an die Schrift, in der sich die lebendige Tradition der Kirche ihren eigenen Maßstab geschaffen hat. Der Prozess gelangt an kein Ende, solange die Kirche besteht. Er umfasst prinzipiell „alle Lebensäußerungen der Glaubensgemeinschaft“ als Zeugnisse des dynamischen Rezeptionsprozesses, die selbst das „Material der Tradition“ bilden.8 Es dürfte sich zeigen, dass die klassische Lehre9 von den loci theologici dieser vielfältigen Bandbreite dogmatischer Erkenntnisfelder kaum gerecht wird, insofern es sich nicht einfach nur um einzelne willkürlich abgrenzbare Erkenntnis-Orte handelt, sondern um die Rezeptionsdynamik der Glaubensgemeinschaft insgesamt, in der sich der sensus 6 Vgl. Die Deutschen Bischöfe, Katholischer Erwachsenenkatechismus. Band I: Das Glaubensbekenntnis der Kirche, Bonn 1985, 54: „Die Heilige Schrift enthält in der Substanz den ganzen Glauben, dieser kann aber in seiner Ganzheit und Fülle nur im Licht der Tradition erfasst werden.“ 7 Vgl. Hoping, Theologischer Kommentar, 710; Böttigheimer, C., Tradition, in: NLKD, 648 – 652; Wiederkehr, D., Das Prinzip Überlieferung, in: HFTh 4 (22000), 65 – 83; Kasper, W., Tradition als theologisches Erkenntnisprinzip, in: Ders. Evangelium und Dogma, 508 –542; Rahner, K./Ratzinger, J., Offenbarung und Überlieferung (QD 25), Freiburg i. Br. 1965; Ratzinger, J., Tradition. III. Systematisch, in: LThK2 10, 293 –299; Congar, Y., Tradition und Kirche (La tradition et la vie de l’église), Aschaffenburg 1964; Ders., Die Tradition und die Traditionen, Mainz 1965 (La tradition et les traditions/1: Essai historique, Paris 1960); Ders., La tradition et les traditions/2: Essai théologique, Paris 1963. 8 Vgl. Beinert, Theologische Erkenntnislehre, 129. „Auch das Heutige ist morgen Bestandteil der Tradition und damit des Tradierungsgeschehens. Überlieferung ist, so verstanden, ein inneres Element jenes Erkenntnisfortschrittes, der durch das Wirken des Gottesgeistes als des Führers in die Wahrheit der Glaubensgemeinschaft immanent ist. […] Im Lauf der durch das Wirken des Hl. Geistes sich durchsetzenden Offenbarung vermag die Kirche immer genauer und deutlicher die Einschlüsse zu sehen, die im Zeugnis der Bibel enthalten sind.“ 9 Vgl. Hünermann, P., Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube – Überlieferung – Theologie als Sprach- und Wahrheitsgeschehen, Münster 2003, 162–166; 207–251; Böttigheimer, C., Lehrbuch der Fundamentaltheologie. Die Rationalität der Gottes-, Offenbarungs- und Kirchenfrage, Freiburg i. Br. 32016, 137–147.

Tradition als an die Schrift gebundener Rezeptionsprozess

15

fidelium auf verschiedene Weise artikuliert und durch verschiedene Wechselwirkungen einen Sinnüberschuss der Hl. Schrift zu Tage fördert. Darin zeigt sich die pneumatologische Verbindung des Traditionsprozesses und biblischer Rezeptionsgeschichte – ein Forschungsfeld, das in der Exegese aktuell neu erschlossen wird und auch für die Dogmatik fruchtbar sein kann.10 Die komplexen und vielfältigen Rezeptionsprozesse sind, wie Dominik Markl deutlich macht, gebunden an die Texte selbst, die angewandte Hermeneutik und soziale Rahmenbedingungen.11 Verschiedene Genres und Themen der Texte werden in Verbindung mit verschiedenen hermeneutischen Einstellungen und Vorgehensweisen sowohl individuell als auch gemeinschaftlich-institutionell rezipiert, wobei die in diesem Prozess liegende Dynamik grundsätzlich unabsehbare Wege gehen und völlig neue Felder erschließen kann, deren Interdependenz bislang noch kaum überschaubar sein dürfte.12 Die individuell-persönliche und gemeinschaftlich-institutionalisierte Rezeption von biblischen Texten bedingen sich gegenseitig. Die offiziell kirchliche (lehramtliche) Rezeption bestimmter Deutungen ist rückgebunden an die Lektüre und Rezeptionswege in der Glaubensgemeinschaft und ihren geschichtlichen wie sozialen Kontext – an eine lebendige Glaubensgeschichte, deren Rezeptionsprozesse für die dogmatische Entwicklung relevant sind und aufgearbeitet werden müssen.13 Theologie und Kirche sind dabei selbst Teil dieser Rezeptionsdynamik.14 Die kirchliche Tradition und 10 Vgl. Boxall, I., Reception history of the Bible, in: Riches, J. (ed.), The New Cambridge History of the Bible, Vol. 4, From 1750 to the Present, Cambridge 2015, 172–183; Parris, D. P., Reception Theory and Biblical Hermeneutics (Princeton Theological Monograph Series 107), Eugene 2009. 11 Vgl. Markl, D., Reception History of the Hebrew Bible/Old Testament, in: Oxford Research Encyclopedia of Religion, Oxford 2020 (31.03.2020): https://doi.org/ 10.1093/acrefore/9780199340378.013.112. Er verweist auf: The Texts (Genres and Themes); Hermeneutical Attitudes and Procedures; Social Settings. 12 Markl, Reception History, nennt exemplarisch: Textual Transmissions, Translations, Editions; Literature; Visual Arts; Music; Ritual, Theatre, Opera, Film; Ethics, Law, Politics. 13 Vgl. Gabriel, K., Die Wahrnehmung der Schrift in der Gesellschaft und ihre soziale Relevanz, in: Busse, U. (Hg.), Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche (QD 215), Freiburg i. Br. 2005, 199 –226. Er verweist aus empirischer Sicht auf die „Kommunikations- und Austauschprozesse zwischen kultureller, kirchlicher und individueller Präsenz der Bibel“ (224), die sich zunehmend auf einen selektiven Gebrauch hin verlagern. 14 Vgl. Markl, Reception History.

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

ihre dogmatische Bindung wurzeln in einer Rezeptionsgeschichte, die schon im biblischen Kanon und seiner dynamischen Struktur erkennbar wird, denn der Kanon ist eben keine in sich geschlossene (historisch verschlossene) Größe als bloßes Objekt der Rezeption: „Rather, processes of reception are visible within the development of the corpus itself.“15 Die Bibel ist, wie Markl betont, „a product of cultural processes of reception and transformation, a catalyst of cultural transmission.“16 Die Kirche erblickt im biblischen Kanon einen in der Glaubensgeschichte Israels verwurzelten und diese transzendierenden Traditionsprozess, dem sie sich selbst verdankt, dem sie bleibend unterworfen ist und den sie selbst aktiv mitgestalten kann bzw. muss. Je bewusster sie dies tut, desto überzeugender kann sie ihren Glauben in neue Denkhorizonte tradieren, sich selbst und ihre Botschaft „inkulturieren“.17 Christliche Überlieferung bedeutet in der Nachfolge Jesu und der Apostel nämlich den dynamischen Vollzug des Glaubens in all seinen Artikulationsformen und in allen Lebensbereichen, jedoch keine „satzhafte apostolische Nachricht“, die in sich statisch transportiert werden könnte.18 Die Aneignung, der Vollzug und die Weitergabe des Glaubens orientieren sich dabei primär am materialen Gehalt der apostolischen Überlieferung, welche die Bezugsnorm des Rezeptions- und Traditionsprozesses darstellt. So rückt der apostolische Kanon (in Bekenntnis und Schrift) als Medium kirchlicher Überlieferung in den Blick. Er wird zur primären, normativen Grundlage kirchlicher Identität im Wandel der Zeit. Wie steht es aber um die Genese dieser Richtlinie und die Verhältnisbestimmung ihrer beiden Elemente: Bekenntnis und Schrift? Wie lässt sich das Spannungsverhältnis dieses doppelten Kanons (als regula fidei) und der weiteren kirchlichen Tradition beschreiben? Der pneumatologische Zu15

Markl, Reception History. Markl, Reception History. Das AT bzw. die hebräische Bibel sei „a corpus through which cultural streams from the ancient Near East have been transmitted to modernity. Framed in this way, reception history does not stand in opposition to historical criticism, but, on the contrary, integrates it into the wider quest for the history of ideas, traditions, and cultural memory, to which ancient Near Eastern, classical, biblical and subsequent historical studies contribute.“ 17 Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium. Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 194), Bonn 2013 (= EG), 115; 122; 126; vgl. GS 42; 44; AG 6; 22. 18 Vgl. Ratzinger, J., Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung. Kommentar zum Prooemium. I. u. II. Kapitel, in: LThK2 XIII/Vaticanum II/2 (1967), 504 –528, 523. 16

Tradition als an die Schrift gebundener Rezeptionsprozess

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sammenhang von überliefertem Kanon und aktiv zu gestaltender Überlieferung, von abgeschlossener und sich stets neu erschließender Offenbarung berührt, wie ein Blick auf das Konzil von Trient zeigen wird, die Frage nach einer lebendigen Überlieferungsgeschichte der Kirche. Dabei scheint die enge Verbindung von Bekenntnis und Bibel, Dogmenhermeneutik und Schrifthermeneutik bislang kaum konsequent bedacht. Die Heilige Schrift gilt dem II. Vaticanum19 gleichsam als Seele der Theologie, insofern sich aus ihrem Studium die lebendige Überlieferung mit ihrer dogmatischen Analyse entfaltet (vgl. DV 24 und OT 16). Joseph Ratzinger sah hierin „für die Systemgestalt der katholischen Theologie eine nahezu revolutionierende Bedeutung“, sodass „die Bibel in Zukunft zuerst aus sich selbst gesehen, bedacht und befragt werden muss und dann erst die Entfaltung der Überlieferung und die dogmatische Analyse einsetzen kann.“20 Alle articuli fidei sind in ihrer Verbundenheit21 und Zugehörigkeit zum gemeinsamen Corpus der Glaubenswahrheiten auf das in-formierende, wesen- und gestaltgebende Prinzip der Schrift verwiesen, das innig mit der Tradition (una cum Sacra Traditione) verbunden ist.22 Wie sich die Seele durch den Leib verwirklicht, so entfaltet sich die Hl. Schrift im Medium der Tradition selbst, sie bringt sich – im theologischen Material ihrer Rezeptionsgeschichte als sie je aktuell deutende Tradition – lebendig als Wort Gottes zum Ausdruck. Die Theologie gründet auf dem Fundament der Hl. Schrift (vgl. DV 24), wird aber durch immer neue Lektüre, Erforschung und Auslegung dieser Schrift, die als Seele ihr dynamisches

19 Vgl. Söding, T., Theologie mit Seele. Der Stellenwert der Schriftauslegung nach der Offenbarungskonstitution Dei Verbum, in: Tück, J.-H. (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 22013, 491–516; Dirscherl, E./ Dohmen, C., Die Heilige Schrift als „Anima Sacrae Theologiae …“. Exegetische und systematische Reflexion zum Verhältnis von Heiliger Schrift, Tradition und Inspiration, in: Hotze, G./Spiegel, E. (Hg.), Verantwortete Exegese. FS für F. G. Untergaßmair, Münster 2006, 47– 68. 20 Ratzinger, J., Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung. Kommentar zum VI. Kapitel, in: LThK2 XIII/Vaticanum II/2 (1967), 571–583, 577. 21 Vgl. Beinert, W., Einleitung in die Dogmatik, in: Ders. (Hg.), Glaubenszugänge, Bd. 1, 3 – 41, 16. 22 Im Hintergrund dieses Leib-Seele-Verhältnisses steht hier die Rede von der anima als unica forma corporis bei Thomas von Aquin bzw. Aristoteles. Vgl. Dirscherl/Dohmen, Die Heilige Schrift, 51 ff.; Dohmen, C., Die gespaltene Seele der Theologie. Zum Verhältnis von Altem und Neuem Testament, in: BiLi 68 (1995), 154 –162; zudem das Konzil von Vienne und seine Konstitution Fidei catholicae (DH 902).

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

Prinzip ist, permanent belebt und verjüngt.23 Die „Seele“ sichert Identität im Wandel, sie steht für die Kontinuität bei permanenter Bewegung und Entwicklung einer leib-geistigen Einheit. Die dogmatische Darstellung und Entfaltung kirchlicher Lehre ist im Rahmen des Traditionsprozesses um die Identität ihres lebendigen und reifenden Organismus24 bemüht. Sie muss ihrer Seele als dynamischem Kontinuitätsträger Rechnung tragen und sie zielt darauf, „die neuscholastische Gleichsetzung von Theologie und zeitloser Philosophie aufzulösen, nimmt die Parole ad fontes auf, integriert historisches Denken in die theologische Reflexion und sucht den Geist im Buchstaben.“25 Thomas Söding erinnert mit Hans Urs von Balthasar daran, dass die Theologie aufgrund der Inkarnation des Logos „die Sprache des Fleisches“ lernen müsse, um das Wort Gottes hören und verstehen zu können.26 Sprache und Denkwelt der Theologie ändern sich immer wieder mit ihrer Umwelt. Es bedarf der je neuen Vermittlung von inspirierter bzw. inspirierender Seele (Hl. Schrift) und inkarniertem Leib (Tradition) durch je neue Rezeptionsprozesse. Nur durch das Zusammenwirken beider Elemente bleibt der Logos vernehmbar und kommunizierbar. Er kommt in der Dynamik des Pneumas kreativ und produktiv, auch kritisch zur Wirkung – als Wort Gottes in kontingenten menschlichen Worten und

23 Sacra Theologia […] ipsa firmissime roboratur semperque iuvenescit, wie es in DV 24 heißt. 24 Dieses Bild findet sich schon in der Patristik. Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 115 f. Ebenso aktuell bei Papst Franziskus: Vgl. Spadaro, A., Das Interview mit Papst Franziskus, hg. v. A. Batlogg, Freiburg i. Br. 2013, 72 f. Franziskus erinnert an Vinzenz von Lérins. Er „vergleicht die biologische Entwicklung des Menschen mit der Weitergabe des Glaubensgutes von einer Epoche an die andere. Es wächst und festigt sich mit dem Lauf der Zeit. Also: Das Verständnis des Menschen ändert sich mit der Zeit und so vertieft sich auch das Gewissen des Menschen. Denken wir daran, dass Sklaverei oder die Todesstrafe fraglos akzeptiert waren. Man wächst im Verständnis der Wahrheit. Die Exegeten und die Theologen helfen der Kirche, im eigenen Urteil zu wachsen. Auch die anderen Wissenschaften und ihre Entwicklung helfen der Kirche bei diesem Wachstum des Verständnisses. […] Die Sicht der Kirche als Monolith, der ohne jeden Abstrich verteidigt werden muss, ist ein Irrtum.“ Dass ein lebendiger Organismus in seiner Entwicklung immer auch geprägt ist von seiner Umwelt und äußeren (sozialen) Einflüssen, denen er unterliegt und die sich ihm einprägen, wäre allerdings zu beachten. 25 Söding, T., Der biblische Kanon. Geschichte und Theologie, in: ZKTh 128 (4/2006), 407– 430, 428 f. 26 Vgl. Söding, Der biblische Kanon, 429; Balthasar, H. U. v., Theologik, Bd. 2: Wahrheit Gottes, Einsiedeln 1985, 225 –255.

Tradition als an die Schrift gebundener Rezeptionsprozess

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ihrer Rezeptionsdynamik innerhalb einer Gemeinschaft des Glaubens auf ihrem Weg durch die Zeit. Die Hl. Schrift als Seele der Theologie ist jedoch ein lebendiges, inspiriertes und inspirierendes – atmen müssendes – Produkt der Rezeption im Heiligen Geist. Sie ist keine anima separata27, sondern entspringt in ihrer heutigen Textgestalt dynamischen Überlieferungsprozessen, sodass sie erst relativ spät in stabilen Codices als definierter Kanon mit klar umrissenen Grenzen und fixer Anordnung kanonischer Schriften vorliegt, um auf dieser normativen Basis weiter übersetzt und gedeutet zu werden. Sie ist zugleich ein Spiegel der theologischen Pluralität und eine Einheit in Vielfalt. Diese „Seele“ scheint also auf den ersten Blick in sich gespalten. Die christliche Bibel wirkt dabei wie die „erweiterte Neuausgabe“ der Bibel Israels, das als Erstadressat anzuerkennen ist.28 Es gilt zu beachten, dass „das Neue Testament niemals als eigenes Buch im Gegenüber zum Alten Testament, der Bibel Israels, konzipiert worden ist, sondern sich immer und in allem von diesem her verstanden hat.“29 Immerhin verlangt das II. Vaticanum, dass man „mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens.“ (DV12) Die spannungsvolle Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament stellt nicht nur eine Herausforderung für die Biblische Theologie, sondern auch für die Systematische Theologie dar. Dabei richtet sich der Fokus vor allem auf die theologische Bedeutung des Alten Testaments.30 Neben seiner Vielfalt bereitet auch die Tatsache, dass es ursprünglich die Hl. Schrift des Volkes Israel war und auch immer noch die Hl. Schrift des Judentums ist, einer nachträglichen christlichen Systematisierung doch erhebliche Probleme.31 Sie lassen sich nur mit Blick auf eine Theologie des Kanons bewältigen. Aus Sicht der 27 Ähnlich wie in der Eschatologie wäre die Vorstellung einer leib-freien Seele auch hier problematisch. 28 Vgl. Dohmen, C., Die Heilige Schrift der „Anderen“ in der eigenen Religion, in: Frankemölle, H./Wohlmuth, J. (Hg.), Das Heil der Anderen. Problemfeld „Judenmission“ (QD 238), Freiburg i. Br. 2010, 360 –375; Ders., Die gespaltene Seele, 157 f. 29 Dohmen, Die gespaltene Seele, 158. 30 Vgl. Dohmen, C., „Libri Veteris Testamenti integri in praeconio evangelico assumpti“ (Vat II DV 16). Der erste und größte Teil der christlichen Bibel in katholischer Sicht, in: JBTh 31 (2016): Der Streit um die Schrift, 67– 84. 31 Vgl. Dohmen, C., Probleme und Chancen Biblischer Theologie aus alttestamentlicher Sicht, in: Dohmen, C./Söding, T. (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen biblischer Theologie, Paderborn 1995, 9 –16, 15.

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

Systematischen Theologie konstatiert Christoph Böttigheimer: „Das Novum des Neuen Testamentes unter gleichzeitiger Betonung des Eigenwerts des Alten Testamentes zum Ausdruck zu bringen, stellt tatsächlich eine Herausforderung besonderer Art dar.“32 Wie Karl Lehmann deutlich gemacht hat, hat der neutestamentliche Rückgriff auf das Alte Testament „eine eminent theologische Funktion.“33 In welcher Hinsicht ist das AT bzw. seine Rezeption dann aber in sich selbst eine dogmenhermeneutisch relevante Größe? Zum Verständnis des Kanons aus Altem und Neuem Testament und ihrem Verhältnis zueinander hatte schon A. H. J. Gunneweg betont: „Ja, es ist keine Übertreibung, wenn man das hermeneutische Problem des Alten Testaments nicht bloß als ein, sondern als das Problem christlicher Theologie betrachtet, von dessen Lösung so oder so alle anderen theologischen Fragen berührt werden.“34

32 Böttigheimer, C., Die eine Bibel und die vielen Kirchen. Die Heilige Schrift im ökumenischen Verständnis, Freiburg i. Br. 2016, 156. 33 Lehmann, K., Das Alte Testament als Offenbarung der Kirche, in: Hossfeld, F.-L. (Hg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Spurensuche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg i. Br. 2001, 279 –289, 283. Vgl. auch Sanders, J. A., The Vitality of the Old Testament: Three Theses, in: Sanders, J. A., Scripture in Its Historical Contexts. Volume II: Exegesis, Hermeneutics, and Theology, edited by C. A. Evans (FAT 126), Tübingen 2019, 107–125. Sanders wies schon 1966 auf die Bedeutung für den jüdisch-christlichen Dialog hin. 34 Gunneweg, A. H. J., Vom Verstehen des Alten Testaments. Eine Hermeneutik, Göttingen 21988, 7.

21 2. Die Fragestellung In diesem Zusammenhang ergeben sich Fragen, deren Klärung längst überfällig ist: Inwieweit wird die Zweiteilung der Hl. Schrift in „Altes“ und „Neues“ Testament dogmenhermeneutisch tatsächlich wahr- und ernst genommen? Ergeben sich neue Erkenntnisse durch eine konsequente Berücksichtigung des AT und seiner innerkanonischen Rezeption, während es in der Dogmatik meist immer noch zur christologischen Blaupause oder Verheißungsvorlage für Erfüllung und Überbietung degradiert wird? Wird der spezifisch theologischen Eigenbedeutung des AT im offenen Prozess der kirchlichen Tradition als Rezeption adäquat Rechnung getragen? Die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament ist nicht nur für den jüdisch-christlichen Dialog interessant, sondern sie bestimmt das Selbstverständnis christlicher Überlieferung von deren Wurzel her: „the balance between preserving the tradition and articulating change is one significant factor in the interaction between the Old Testament and the New.“35 Für den christlichen Glauben stellt sich immer schon die Frage nach dem Umgang mit dem vermeintlich „Alten“ aus der Sicht des scheinbar „Neuen“ und Innovativen. Diese Problematik findet sich schon im AT und sie verdichtet sich auch in der Person Jesu Christi. Die Beantwortung dieser Frage dürfte eine Hilfe für den Umgang mit der (das Christentum von Anfang an kennzeichnenden) Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität, Bewahrung und Erneuerung, Identität und Aktualität, konservativer Absicherung und innovativer Entwicklung liefern: „Mit der Gratwanderung einer zweigeteilten Schrift signalisiert das Christentum die unlösliche Verbindung von Kontinuität und Diskontinuität.“36 Der biblische Kanon ist dabei das Produkt und die produktive Norm theologischer Entwicklung, wie auch Michael Seewald betont: „Die christliche Bibel, aus Altem und Neuem Testament bestehend, durchdenkt das Problem der Entwicklung nicht nur (vielleicht sogar am wenigsten)

35 Davis, E. F., Critical Traditioning: Seeking an Inner Biblical Hermeneutic, in: Davis, E. F./Hays, R. B. (eds.), The Art of Reading Scripture, Grand Rapids – Cambridge 2003, 163 –180, 166. 36 Dohmen, C., Die Zweiteilung der Heiligen Schrift als Schlüssel zu ihrem Verständnis?, in: Dohmen, C./Mußner, F., Nur die halbe Wahrheit? Für die Einheit der ganzen Bibel, Freiburg i. Br. 1993, 9 –15, 14. Vgl. Lehmann, Das Alte Testament als Offenbarung, 279.

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung theoretisch, sondern führt es in praxi vor. Sie gibt nicht bloß reflexiv, sondern performativ Auskunft.“37

Ist dies der Fall, so ergibt sich aus der Genese und Struktur des zweieinen biblischen Kanons mit seiner ihm immanenten Hermeneutik vielleicht eine dogmatische Dynamik, die aus der gleichsam eingefrorenen Gründungsphase christlicher Tradition und den Rezeptionsmustern des Kanons Prinzipien anbietet, welche kirchlichen Reformen und der aktiv weiterzuführenden Glaubensentwicklung angesichts der Zeichen der Zeit dienen können. Die entscheidende Frage lautet, inwieweit der biblische Kanon in seiner spezifischen Hermeneutik und der Korrelation von Alt und Neu als Paradigma für dogmatische Entwicklung gelten kann, wenn er für diese prinzipiell valide Kriterien liefert. Gibt es in der Korrelation von AT und NT dann erkennbare Prinzipien, die bei den Prozessen der Rezeption oder Nicht-Rezeption innerhalb des Kanons ersichtlich sind? Sind innerbiblisch Kriterien für die Entwicklung einer lebendigen Glaubensgeschichte greifbar, die diese weiterführen können? Wie gestaltet sich der bleibende theologische Wert des AT als eigenständiges Gegenüber zum NT? Wie rechtfertigt sich der theologische Fortschritt in Lehre und Praxis der Glaubensgemeinschaft in der Auseinandersetzung mit der durch die Schrift bezeugten, verbindlichen Tradition? Gibt es hermeneutische Muster und Leitlinien, die für die Dogmenhermeneutik relevant sein könnten, insofern auch hier eine Relation von Alt und Neu, Kontinuität und Diskontinuität begegnet und je neu ausbalanciert werden muss? Sollten die Kriterien einer vom Geist Gottes inspirierten theologischen „Seele“, die bereits im biblischen Kanon selbst und in seiner Struktur zu finden sind, dann nicht auch heute auf inspirierende Weise zur Anwendung kommen können? Schon Karl Rahner hatte gefordert, dass in einer nach vorne hin offenen Dogmengeschichte als „Transposition des christlichen Glaubens in die heutigen Verstehenshorizonte“ methodische Einsichten und Prinzipien aus der bisherigen Geschichte dogmatischer Entwicklung erhoben werden müssten, die für die künftige Glaubens- und Dogmengeschichte unerlässlich sind.38 Ziel sei es, Konflikte zwischen Lehramt und wissenschaftlicher Theologie sowie zwischen den verschiedenen kirchenpoliti37

Seewald, Dogma im Wandel, 77. Vgl. Rahner, K., Dogmen- und Theologiegeschichte von gestern für morgen, in: Ders., Schriften zur Theologie XIII, Einsiedeln u. a. 1978, 11– 47, 12 f. 38

Die Fragestellung

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schen Lagern (ob nun konservativ oder progressiv) zu vermeiden und Kontroversen angesichts neuer Interpretationen „des alten Dogmas“ vielleicht „friedlicher und rascher“ verlaufen zu lassen.39 In diesem Zusammenhang fordert Rahner, die Regeln biblischer Hermeneutik auf die Dogmenhermeneutik anzuwenden, da im biblischen Kanon grundsätzlich die gleichen Fragen wie in der Dogmengeschichte gegeben seien, die sich analog auch schon im Alten und Neuen Testament ereignet habe.40 Dieser Spur wollen wir hier folgen. Konzentrierte man sich in der früheren Forschung primär auf historische bzw. formale Fragen zu Kriterien und zur Zusammenstellung des Kanons, so wird inzwischen die innere Dynamik dieses Kanons angesichts der spezifischen Eigenart seiner Schriften und ihrer Rezeption wahrgenommen. Diese kanonimmanenten Strukturen sind theologisch hoch relevant und verweisen bereits auf eine entsprechende Hermeneutik, die dogmenhermeneutisch von großer Bedeutung sein dürfte. Die normative Wirkung des Kanons hängt dabei nicht erst „von der Fixierung der Textgestalt“ ab, sondern kommt durch „eine ständige, lebendige Auslegung und Anwendung zustande […], die den Sinn des Kanons ausmachen“41 und ihn auch für weitere Auslegungs- und Aktualisierungsprozesse öffnen. Die Dynamik dogmatischer Hermeneutik in Korrelation zum biblischen Kanon zu betrachten – damit ist zum Ausdruck gebracht, dass der Kanon an sich zwar eine abgeschlossene und stabile Größe ist, dabei aber dennoch ein nicht zu übersehendes dynamisches Potential in sich birgt und normativ vorgibt, insofern er in sich dynamische Entwicklungen konserviert hat, bleibend auslegungsbedürftig und offen für Rezeptionsprozesse ist, die in der Dogmengeschichte immer wieder neu zum Tragen kommen. Es geht dabei – um dies präzise abzugrenzen – nicht um eine Theorie der Dogmenentwicklung, sondern um die Identifikation kanonischer Gütekriterien, die auf der inneren Struktur des Kanons basie39 Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 13. Insofern bei einer Lehrentwicklung das kirchliche Lehramt nicht nur die jeweilige Lehre, sondern auch den Weg dorthin implizit als legitim anerkenne, gelte dies auch für die hermeneutischen Prinzipien, die dabei wirksam sind und auch später wieder wirksam sein könnten (vgl. ebd., 15). 40 Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 33 –36. 41 Dohmen, C., Mehr als ein Kanon. Die Bibel als Grundlage unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften, in: Kollmar-Paulenz, K., u. a. (Hg.), Kanon und Kanonisierung. Ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften im interdisziplinären Dialog (TENOR 2), Basel 2011, 238 –255, 253.

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

ren und für kirchliche Reformdebatten dogmatische Leitlinien liefern, wie man mit letztlich unverfügbaren – weil pneumatologisch motivierten – Prozessen des Wandels im christlichen Glaubensbewusstsein heute hermeneutisch angemessen umgehen sollte. Es handelt sich also um Prinzipien zur dogmatischen Urteilsfindung und begründeten Unterscheidung. Auf dieser Basis stellt sich die Frage nach den Dogmen als Eckpfeilern des Traditionsprozesses und ihrer Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft, die in permanenter Suche nach einem Glaubenskonsens (consensus fidei) durch synodale Praxis und konziliaren Dialog ihren Glauben und seine Bekenntnisforme(l)n unter neuen kulturellen Bedingungen aktualisiert und kommuniziert. Wenn also das II. Vatikanische Konzil sich selbst als Aggiornamento des Glaubens im Vollzug versteht, dann muss die „Seele“ der Theologie darin zum Ausdruck kommen, dass die hermeneutischen Prinzipien für Reformen und die Kriterien einer Traditionskritik aus der Hl. Schrift selbst entnommen werden. Ist dies der Fall, so könnten auch Innovationen und viel diskutierte Reformen der Kirche in Zukunft auf der Basis einer biblisch und dogmatisch fundierten Hermeneutik gestaltet werden.

25 3. Methodologische Vorbemerkungen und Zielsetzung Die Studie widmet sich zunächst der prinzipiellen Verhältnisbestimmung von Bekenntnis- und Schriftkanon, welche gemeinsam die normative apostolische Grundlage (norma normans) der weiteren kirchlichen Überlieferung bilden.42 Dabei rückt die theologische Eigenart und spezifische Hermeneutik des zweigeteilten biblischen Kanons, seine Eingebundenheit in den Traditionsprozess der Glaubensgemeinschaft und seine enge Verwobenheit mit dem christlichen Bekenntnis in den Blick. An der interdisziplinären Schnittstelle von Exegese und Dogmatik wird das Problem ‚Biblischer Theologie‘ skizziert, das die Dogmatik vor allem aus der Sicht des (zunächst auch für sich allein lesbaren) AT massiv herausfordert und den Zugang über das AT begründet. Durch die gezielte Rezeption der exegetischen Forschung wird unter systematisch-theologischen Gesichtspunkten und in Sensibilität für die Erkenntnisse des jüdisch-christlichen Dialogs konsequent die theologische Dignität und Eigenbedeutung des AT in seiner Korrelation zum NT betrachtet – eine methodische Vorentscheidung, die der Dogmatik von der Exegese bzw. der Hl. Schrift selbst aufgegeben ist, die in dogmatischen Zusammenhängen bislang aber kaum konsequent umgesetzt wurde.43 42

Vgl. Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre, 6. Zur grundsätzlichen Problematik vgl. Breuning, W., Altes Testament. III. Gegenwärtige Probleme der Systematik, in: LThK3 1, 460 – 461; Lehmann, K., Das Alte Testament in seiner Bedeutung für Leben und Lehre der Kirche heute, in: TThZ 98 (1989), 161–170; Wohlmuth, J., Hermeneutische Akzentverschiebungen im Verhältnis von Altem und Neuem Testament und ihre Konsequenzen für die Systematik christlicher Theologie, in: Ders., Die Tora spricht die Sprache der Menschen. Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn 2002, 125 –138; Dirscherl, E., Der biblische Kanon als Herausforderung für die Dogmatik, in: Ders., Das menschliche Wort Gottes und seine Präsenz in der Zeit. Reflexionen zur Grundorientierung der Kirche (Studien zu Judentum und Christentum 26), Paderborn 2013, 36 – 45; Oeming, M., Vom Eigenwert des Alten Testaments als Wort Gottes. Zur wechselseitigen Befruchtung der christlichen und jüdischen Exegese des Alten Testaments, in: Lehmann, K./Rothenbusch, R. (Hg.), Gottes Wort in Menschenwort. Die eine Bibel als Fundament der Theologie (QD 266), Freiburg i. Br. 2014, 305 –336; Zenger, E., Die jüdische Bibel – unaufgebbare Grundlage der Kirche, in: Ders., Mit Gott ums Leben kämpfen. Das Erste Testament als Lern- und Lebensbuch, Freiburg i. Br. 2020, 263 –282. Huber, K., „Das Neue im Alten verborgen und das Alte im Neuen erschlossen“ (Dei Verbum 16). Paradigma oder Herausforderung für die Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament?, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 289 –304, 296 f., verweist auf das „Plus“ des Alten Testaments „jenseits all dessen, was sich unter den Aspekt von Verheißung zusammenfassen 43

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

Im Fokus stehen insbesondere die theologische Struktur und Genese des biblischen Kanons, um die darin erkennbaren Prinzipien seiner Entwicklung und die in ihm bewahrten Kriterien für weitere theologische Entwicklungen über diesen geschlossenen Kanon hinaus freizulegen. Dass es solche Entwicklungen über den Kanon hinaus tatsächlich gibt, dass diese sich in ihrem Rezeptionsinteresse an den biblischen Kanon gebunden wissen und ihn zugleich überschreiten, zeigt das Faktum der Dogmengeschichte selbst. Der Begriff „Kanon“ kann dabei als „wissenschaftlicher Reflexionsbegriff“ verstanden werden und zielt in unserem Zusammenhang nicht sofort auf eine fixe Buchauswahl, fixierte Buchfolge oder Textform im finalen Wortlaut.44 Auch wenn lange Zeit kein Kanon im engeren Sinne (als abgeschlossenes und unveränderliches Textkorpus) vorliegt, so existierte doch ein zunehmend fortschreitendes, „tief im Schrifttum selbst wurzelndes Bewusstsein“, in dem das eigentliche Wesen des Kanons zu suchen ist.45 Die vor allem von Brevard S. Childs und James Sanders eingeführte Differenzierung zwischen kanonischem Prozess und finaler Kanonisierung dürfte hierfür sehr hilfreich sein. Historische Detailfragen zur endgültigen Kanonisierung und ihrer Datierung sind ausdrücklich nicht im Blickfeld des systematischen Interesses. Sie bleiben darum der Exegese bzw. Kirchengeschichte vorbehalten.46 Es lässt. Die Bibelwissenschaft wird diesbezüglich nicht müde, auf den Überhang und Mehrwert des Alten Testaments gegenüber dem Neuen Testament hinzuweisen, den es inhaltlich für eine ganze Reihe unterschiedlichster Themenfelder und Lebensbereiche festzustellen gibt, und von dort aus vor Engführungen und Reduktionen zu warnen.“ Vgl. aus ökumenischer Sicht: World Council of the Churches, The Significance of the Old Testament in its Relation to the New (1978), in: Flesseman-van Leer, E. (ed.), The Bible. Its Authority and Interpretation in the Ecumenical Movement, Genf 1980, 58 –76. 44 Vgl. Steins, G., Zwei Konzepte – Ein Kanon. Neue Theorien zur Entstehung und Eigenart der Hebräischen Bibel, in: Steins, G./Taschner, J. (Hg.), Kanonisierung – die Hebräische Bibel im Werden (BThSt 110), Neukirchen-Vluyn 2010, 8 – 45, 15. 45 Vgl. Childs, B. S., Biblische Theologie und christlicher Kanon, in: JBTh 3, 13 –27, 13; Steins, Zwei Konzepte, 43. „Ein/der ‚Kanon‘ ist jeweils das Ergebnis und das Medium unterschiedlicher Weisen der Identitätsklärung in veränderten Kontexten. Die Stabilisierung und schließlich die Fixierung von Auswahl, Anordnung und Wortlaut sind demgegenüber Epiphänomene, die in der Diskussion nicht im Vordergrund stehen sollten.“ (44 f.). 46 Zu Fragen der Kanonbildung und -zusammensetzung vgl. Schmid, K./Schröter, J., Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, München 2019; Paget, J. C./Schaper, J. (eds.), The New Cambridge History of the Bible. Vol. 1: From the Beginnings to 600, Cambridge 32017; McDonald, L. M., The Biblical Canon.

Methodologische Vorbemerkungen und Zielsetzung

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geht insofern um die dogmatisch relevante, dezidiert theologische Frage nach der Normativität des biblischen Kanons in seiner gewordenen Form und je aktuellen Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft (in diesem Fall: die katholische Kirche), die ihn auch angesichts veränderter Kontexte als verbindliche Grundlage der eigenen Glaubensüberlieferung und ihrer zukünftigen Entfaltung unter neuen Bedingungen betrachtet. Angesichts einer Polarisierung der Theologie zwischen historisch-kulturwissenschaftlicher und systematisch-normativer Perspektive fragt Ingolf U. Dalferth nach dem spezifischen „Beitrag der Theologie zu den kulturellen Debatten der Gegenwart“.47 Theologie laufe Gefahr, in der Abgrenzung zu ihren geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen das Proprium ihres Inhalts in seiner Relevanz für die Gegenwart zu verfehlen: „Als Taschenausgabe der geisteswissenschaftlichen Disziplinen der europäischen Universitätstradition zur Erforschung von Religionsphänomenen ist sie in der Lage, sich in hochreflektierter Weise als Wissenschaft unter Wissenschaften zu definieren, auch wenn das heute außerhalb der Theologie kaum noch jemanden interessiert. Aber sie ist unfähig, sich produktiv mit den Spuren des Wirkens des Geistes im Leben der Menschen in der Gegenwart auseinanderzusetzen, also die Wirklichkeit denkend zu erhellen, der sich Glaube und Kirche verdanken. Am Wirken des Geistes versagen ihre textanalytischen, historischen und begrifflichen Instrumentarien. Das Wirken des Geis-

Its Origin, Transmission, and Authority, Peabody 32007; Ders., Formation of the Bible. The Story of the Church’s Canon, Peabody 2012; Becker, J., Mündliche und schriftliche Autorität im frühen Christentum, Tübingen 2012; Metzger, B. M., Der Kanon des Neuen Testaments. Entstehung, Entwicklung, Bedeutung, Ostfildern 22012; Becker, E. M./Scholz, S. (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2012; Thomassen, E. (ed.), Canon and Canonicity. The Formation and Use of Scripture, Copenhagen 2010; Söding, T., Der Schatz in irdenen Gefäßen. Der Kanon als Urkunde des Glaubens, in: IKaZ 39 (3/2010), 233 –263; Chapman, S., What are we reading? Canonicity and the Old Testament, in: Word & World 29 (4/2009), 334 –347; Charlesworth, J. H., Reflections on the Canon, Its Origins and New Testament Interpretation, in: McGowan, A. B./Richards, K. H. (eds.), Method and Meaning. Essays on New Testament Interpretation in Honor of H. W. Attridge, Atlanta 2011, 505 –530; Van der Kooij, A./Van der Toorn, K. (eds.), Canonization and Decanonization. Papers presented to the international conference of the Leiden Institute for the Study of Religions (LISOR), Leiden u. a. 1998; Lim, T. H./Akiyama, K. (eds.), When Texts are canonized (Brown Judaic Studies 359), Providence 2017; Gallagher, E. L./Meade, J. D., The Biblical Canon Lists from Early Christianity. Texts and Analysis, Oxford 2017; Böttigheimer, Die eine Bibel, 99 –148. 47 Dalferth, I. U., Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018, XXII.

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung tes aber ist die Herausforderung, der sich die Christenheit und damit auch die christliche Theologie im 21. Jahrhundert stellen muss.“48

Was Dalferth für die protestantische Theologie moniert, gilt (auch wenn die weiteren Ausführungen aufgrund ihrer Prämissen nur bedingt überzeugen) analog für die katholische Theologie und ihre Systematik: Will die Theologie „nicht zur bloßen Erinnerung ihrer eigenen Geschichte werden, muss sie sich von Grund auf reformieren und wieder lernen, von Gott – und damit auch von Gottes Wort, Gottes Geist und Gottes Wirken – nicht nur im Modus des Zitats und der Fremdbegriffe anderer, sondern in direkter Rede und in eigener Verantwortung zu sprechen.“49 Versteht sich die Dogmenhermeneutik als der reflektierte Verstehensprozess eines laufenden Traditionskontinuums des christlichen Glaubens, so hat sie, wenn sie mehr als reine Dogmengeschichte sein will, immer einen Brückenschlag zwischen historischer (quellenbasierter) und praktischer (erfahrungsbasierter) Theologie zu bewältigen, um den inneren Zusammenhang der beiden Polaritäten aufzuzeigen und deren Vermittlung zu ermöglichen. Die Dogmatik erweist sich darin als theologische Disziplin, die das sich stets verändernde und weiterentwickelnde christliche Glaubensbewusstsein kritisch bestimmt, systematisch erhellt und je neu erschließt. Katholische Dogmatik ist in ihrer Verwiesenheit auf den ihr vorgegebenen Gegenstand ihrer Betrachtung – den Glauben der Kirche in seiner Kontinuität und Diskontinuität – insofern also immer auch eine innovative, zukunfts- und ergebnisoffene Disziplin, die das sich wandelnde Selbstbewusstsein des kirchlichen Glaubens unter sich stets 48

Dalferth, Wirkendes Wort, XXII. Dalferth, Wirkendes Wort, XXII f. Vgl. auch Oeming, M., Das Alte Testament als inspiriertes Wort Gottes? Protestantische Perspektiven, in: Rothenbusch, R./Ruhstorfer, K. H. (Hg.), Eingegeben von Gott. Zur Inspiration der Bibel und ihrer Geltung heute (QD 296), Freiburg i. Br. 2019, 52– 99, 54 f.; 67 ff.; Vollenweider, S., Die historisch-kritische Methode – Erfolgsmodell mit Schattenseiten. Überlegungen im Anschluss an Gerhard Ebeling, in: ZThK 114 (3/2017), 243 –259, 257: „Der Trend von der Theologie zur Theologiegeschichte oder zur Religionswissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten markant zugenommen. Die Exegese ist vielfach zu einer hochspezialisierten Kulturwissenschaft der Antike mutiert, in welcher der alte Referenzpunkt der hermeneutischen Theologie, ‚die Sache‘ selber, mithin die Gottesfrage, nur noch in verfremdeter Gestalt überlebt, etwa als vereinzeltes Element bestimmter Diskurse. Die Texte haben sich selber mitsamt ihren Autoren und Lesern in semiotische Supersysteme aufgelöst, in denen zwar vieldimensionaler Sinn generiert wird, aber kein Fenster mehr zu einer außersprachlichen und außerkulturellen Wirklichkeit offensteht. Im Bann des spätmodernen Konstruktivismus, der mittlerweile auch die härtesten objektorientierten Wissenschaften unterspült, ist die Gottesfrage selber verstummt.“ 49

Methodologische Vorbemerkungen und Zielsetzung

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verändernden Bedingungen nicht nur dokumentiert und rekonstruiert, sondern auch sachkritisch begleitet und – wenn nötig – dazu anleitet, einen tragfähigen Konsens auf der Grundlage der als verbindlich geltenden Normen dieses Glaubens und seiner Ausdrucksgestalten zu finden, die ihn in seiner synchronen wie diachronen Identität als solchen ausweisen können und objektiv kommunizierbar machen. Das betrifft insbesondere die Rezeptionsprozesse des biblischen Kanons in seiner Eigenschaft als normative Grundlage dieses weiterlaufenden Traditions- und Kommunikationsprozesses der kirchlichen Glaubensgemeinschaft. Stefan Alkier ist daher zuzustimmen: „Wer kanonorientiert arbeitet, kann sich bei theologischen Geltungsproblemen nicht darauf zurückziehen, er sei reiner Historiker und für dogmatische Fragen nicht zuständig.“50 Ohne also „die Vielfalt und die Eigenständigkeit der Einzelschriften zugunsten eines dogmatischen Einheitsprinzips zuzudecken“51 und ohne die historisch wie auch ökumenisch ersichtliche Variabilität der Kanongrenzen zu ignorieren, liegt das Hauptinteresse dieser Arbeit auf der Struktur des konkret vorgegebenen Kanons in seiner Genese und Polyphonie, die für die Dogmatik im wahrsten Sinne des Wortes maßgeblich sind. Vor diesem Hintergrund werden die theologische Relevanz des Kanons und sein Potential als Muster für den Prozess einer lebendigen, von Diversität geprägten Glaubensgeschichte ersichtlich, die auch mit „Heterotopien“ jenseits des Kanons52 in produktiver Wechselwirkung steht, weil dieser biblische Kanon Gegenstand vielfältiger Rezeption ist – damals wie heute. Die im Kanon selbst konservierte dynamische Rezeptionsgeschichte, die innerkanonischen Rezeptionsprozesse und ihre Korrelation von Alt und Neu werden im ersten Teil (Kap. II) paradigmatisch illustriert und 50 Alkier, S., Die Bibel – Das Buch der Bücher. Kanongeschichtliche, theologische, intertextuelle und poetologische Anmerkungen zu einem Bestseller, in: Alkier, S./Hays, R. B., Kanon und Intertextualität, Frankfurt a. M. 2010, 11–52, 41. Ähnlich Dalferth, Wirkendes Wort, 28: „Die Lehre von der Schrift ist eine Lehre von der theologischen Verbindlichkeit der Schrift in der Kirche und im christlichen Leben.“ 51 Vgl. Alkier, Die Bibel, 41. 52 Zur fragen ist jeweils, welcher Kanon zur Debatte steht. Hier sei auf die gleichnamige Kolleg-Forschungsgruppe an der Universität Regensburg verwiesen: „Beyond Canon“ – Jenseits des Kanons: Heterotopien religiöser Autorität im spätantiken Christentum: https://www.uni-regensburg.de/forschung/beyond-canon/startseite/index.html. In ihren Fokus rücken „wirksame Orte“ außerkanonischer Tradition. „So bleiben auch da, wo der Kanon allgemein anerkannt ist, und selbst da, wo die in ihm enthaltenen Texte in schriftlicher Form vorliegen, ‚andere Räume‘ offen, die in unterschiedlicher Relation zu diesem Kanon stehen: komplementär, kompensatorisch, antagonistisch, affirmativ oder auf andere […] Weise.“

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

mit Hilfe exegetischer Erkenntnisse belegt. Hierfür werden exemplarisch zentrale und repräsentative Felder gewählt, wie etwa die Gesetzeshermeneutik, die innerhalb des AT und im Verhältnis von AT und NT besonders aussagekräftig erscheint. Die aus der theologischen Eigenbedeutung des AT und seiner Korrelation zum NT gewonnenen Prinzipien werden hinsichtlich des neutestamentlichen Befundes, d. h. anhand der dort erkennbaren Rezeptionsprozesse und ihrer Hermeneutik verifiziert. Auf dieser Basis erfolgt in Kap. III ein systematischer Blick auf den Kanon als pneumatisches Produkt der Rezeption und seine theologische Bedeutung als normative Grundlage für weitere Rezeptions- bzw. Traditionsprozesse, die in eine offene Dogmengeschichte münden. Hierbei wird auch die pneumatologische Kategorie der Inspiration als Brücke zwischen geschichtlich einmaligem Zeugnis und seiner Wirkungsoffenheit, zwischen biblischer und praktischer Theologie genauer zu verorten sein. Das pneumatische Plus der göttlichen Selbstoffenbarung gegenüber den historisch und kulturell bedingten Gestalten menschlicher Bezeugung und Überlieferung wird mit einem Blick auf das Konzil von Trient und dessen Relecture durch Joseph Ratzinger verbunden. Dieser hatte sich bereits im Umfeld des II. Vatikanischen Konzils intensiv mit der auf Zukunft hin offenen Offenbarungsdynamik Gottes beschäftigt – ein folgenreicher Ansatz, der allerdings zunehmend durch eine amtstheologische Engführung neutralisiert wurde. Insofern wird die Schrift auf ihr traditions- und institutionskritisches Potential hin zu befragen sein – ein kritisches Postulat, das schon von Ratzinger selbst formuliert worden ist.53 Eine durch die Hl. Schrift selbst legitimierte Pluralität und Multiperspektivität ihrer Rezeption verweist die Dogmatik auf drei Bewährungsfelder, die sich analog zur Exegese bestimmen lassen: Es handelt sich dabei um eine historisch-kritische (diachrone), kanonische (im synchronen Gesamtzusammenhang zu verortende) und lebensweltliche (die lehramtliche Binnenlogik transzendierende) Kontextualisierung all ihrer Aussagen, die im offenen Dialog auf ihre performative Zielsetzung hin befragt und neu übersetzt werden müssen. Dabei zeigt sich ein pneumatologischer Sinnüberschuss der in der Schrift kanonisierten Offenbarungs- und Glaubenszeugnisse, der mit dem sensus fidei der Rezipienten in ihren singulären Lebenssituationen korrespondiert. Die damit verbundene Notwendigkeit zur Entfaltung und aktualisierenden Auslegung des Glaubens auf der Grundlage der Schrift ist auf Prozesse der 53

Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 524 f.

Methodologische Vorbemerkungen und Zielsetzung

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Konsensfindung innerhalb der Glaubensgemeinschaft verwiesen, die stets synodal bzw. konziliar erfolgten. Die strukturellen Rahmenbedingungen dafür sind im Rahmen des vom II. Vaticanum formulierten ekklesiologischen Selbstverständnisses einer kritischen Analyse zu unterziehen, wobei das traditions- und institutionskritische Potential des biblischen Kanons hier voll zum Tragen kommt. Dies betrifft insbesondere auch die Fragen nach der Interpretationskompetenz der Hl. Schrift durch die Gesamtkirche und die Rolle des kirchlichen Lehramtes, das in deren Dienst steht. Begründeter Dissens der Gläubigen und kirchliche Nicht-Rezeption von nicht (mehr) tragfähigen Formen und Formulierungen des Glaubens sind dabei ebenso im Blick wie fragwürdige Verdrängungsprozesse und theologisch unreflektierte Machtgefälle in der Tradition, die marginalisierte, vergessene oder diskriminierte Auslegungen als Heterotopien jenseits des Kanons (oder der kirchlichen Canones) differenziert zu würdigen vermag. In solchen Fällen bedarf es einer – durch theologische Kriterien begründeten – Unterscheidung der Geister für Entscheidungen innerhalb einer offenen Dogmengeschichte (Kap. IV). Gerade vor diesem Hintergrund kann die Validität der „kanonischen“ Entwicklungsprinzipien im dogmenhermeneutischen Zusammenhang überprüft werden. Exemplarische Hinweise zur bisherigen Dogmengeschichte und ihrer Entwicklung mögen genügen, um dies zu untermauern. Primär rückt das II. Vatikanische Konzil als aktuellster Anwendungsfall einer Hermeneutik der Erneuerung in den Fokus, da bei diesem jüngsten, universalkirchlichen Konzil mit höchster lehramtlicher Kompetenz auch die biblisch fundierten Prinzipien kirchlicher Lehrentwicklung erkennbar zu Tage treten, wobei die Spannung von Alt und Neu, Kontinuität und Diskontinuität durch weiter anhaltende Prozesse der Tradition und Rezeption auch in Zukunft Gegenstand theologischer Diskussionen sein wird – was freilich angesichts der Tatsache, dass wir uns in einer immer noch laufenden und nach vorne hin offenen Rezeptions- und Dogmengeschichte bewegen, wohl kaum verwundern kann. Doch wird durch das Konzil ein Paradigmenwechsel vollzogen, der mit einer Orientierung am biblischen Kanon als dem Paradigma des Traditionsprozesses verbunden ist. In seinem normativen Horizont sind darum auch Genese, Reichweite und Interpretation kirchlicher Dogmen zu verorten. Diese sind zugleich am biblischen Kanon zu bemessen, der auch Strategien zur Neuinterpretation und Konfliktlösung liefert. Die abschließend pointiert formulierten Prinzipien „kanonisch“ begründeter Reformprozesse markieren daher dogmatische Leitplanken

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Der christliche Glaube und seine kirchliche Überlieferung

für die kirchliche Lehrentwicklung, allerdings nicht im Sinne einer umfassenden dogmatischen Entwicklungstheorie, sondern als hermeneutische Wegweiser und theologische Entscheidungshilfe angesichts einer für die Kirche unverfügbar bleibenden Dynamik, die sie letztlich – Gott sei Dank – nicht kontrollieren kann, sondern als Gnade annehmen und zugleich aktiv gestalten muss.

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II. Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon

1. Ausbildung eines Kanons in Bekenntnis und Schrift 1.1. Das Bekenntnis und der „Kanon des Glaubens“ Die Überlieferung und das (Mit-)Teilen des christlichen Glaubens geschieht in der noch jungen Kirche durch die Orientierung an doxologischen Formeln und Bekenntnissen, die bis in die Geburtsstunde der christlichen Gemeinden zurückreichen.1 Es handelt sich um Bekenntnisse, die im Kontext der Taufe und Liturgie das apostolische Zeugnis zustimmend aufgreifen und in die existentielle Nachfolge Jesu Christi einführen. Wie bereits in 1 Kor 15,3 – 6.11 deutlich wird, ist darin von der Ostererfahrung her schon der wesentliche Kern des apostolischen Glaubens zum Ausdruck gebracht, der im Kontext des Glaubens Israels immer weiter entfaltet und differenziert wird, bis er diesen Kontext selbst überschreitet. So bildet sich – in einer Abgrenzung zu „gnostischen“ Lehren, die offenkundig nicht die der Apostel sind – im 2. Jh. immer klarer eine regula veritatis bzw. regula fidei heraus, eine Richtschnur oder ein Maßstab der Wahrheit bzw. des Glaubens selbst (kanÖn túj #lhqeËaj/pËstewj), der für die Identität des christlichen Glaubens und seine jüdische Wurzel die zu schützende Überlieferung (par!dosij) absichert.2 Die in ihrer variierenden Formulierung offene regula fidei zielt vor allem auf Gott selbst als Schöpfer und Vollender der einen Heilsordnung; auf die Inkarnation seines Wortes in Jesus Christus und die Heilsbedeutung von dessen Leben, Tod und Auferstehung; auf die Sendung des Heiligen Geistes, der durch die Propheten sprach und nun die eucharistisch versammelte Gemeinschaft der Kirche in der Nachfolge Christi eint; auf die eschatologische Hoffnung des kom1 Vgl. Kelly, J. N. D., Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 21993, 14 –35. 2 Vgl. 1 Clem 7,2; Irenäus v. Lyon, Adversus haereses I,10; I,9,4; II,27,1; III,2,1; III,11,1; III,12,6; III,15,1; IV,35,5; Clemens v. Alexandrien, Stromata, I,1,15; Tertullian, De praescriptione haereticorum, 13; 37; Ders., Adversus Marcionem IV,5; Augustinus, De doctrina christiana III,2,2; Origenes, De principiis, Praef. 2 ff. Vgl. hierzu: Beinert, W., Regula fidei, in: LThK3 8, 976 – 977.

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Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon

menden Gerichts, die Auferstehung der Toten und die Herrschaft Gottes, die durch Christus sicher verbürgt ist. Der kompakte „Kanon des Glaubens“, der als hermeneutischer Zugang zur Schrift dienen soll und dabei selbst durch Schriftbezüge bekräftigt wird, stellt eine grundlegende Orientierungshilfe dar, noch bevor es zu einer Ausformulierung einheitlicher Glaubensbekenntnisse oder zur Abfassung aufgeblähter Katechismen kommt.3 Solche könnten für Irenäus substantiell gar nicht mehr oder weniger als diese Richtschnur des Glaubens bieten, weil sie diesen lediglich vertiefen, erörtern, entfalten und gerade durch die Erforschung der Schrift ihr wachsendes Verständnis seinem Fundament eingliedern.4 Irenäus solidarisiert sich mit dem einfachen, schlichten Glauben, wie er in den Gemeinden ver3 Vgl. Grech, P., The „Regula fidei“ as hermeneutical principle yesterday and today, in: Congregazione per la Dottrina della Fede (ed.), L’interpretazione della Bibbia nella Chiesa. Atti del Simposio promosso dalla Congregazione per la Dottrina della Fede. Roma, settembre 1999, Roma 2001, 208 –224. 4 Vgl. Irenäus, Adv. Haer. I,10,2 f.: „Und auch der begabteste Prediger unter den kirchlichen Vorstehern predigt nichts anderes als die anderen, denn keiner steht ‚über dem Lehrer‘ (Mt 10,24); und der schwach begabte Prediger tut der Überlieferung keinen Abbruch. Es ist eben ein und derselbe Glaube; wer viel über ihn zu sagen weiß, vermehrt in darum nicht, und wer nur wenig sagen kann, verringert ihn nicht (vgl. 2 Kor 8,15; Ex 16,17 f.). Die Tatsache, dass je nach Fassungskraft die einen mehr, die anderen weniger wissen, bedeutet nicht, dass sie die Lehre inhaltlich abändern und sich einen anderen Gott ausdenken […]. Es ist vielmehr so, dass die Inhalte der Parabeln wiederholt überdacht werden, um sie in die Grundgedanken der Wahrheit einzuordnen, und die Aktivität und die Heilsordnung Gottes für die Menschheit werden erläutert; und es wird erklärt, dass Gott Geduld hatte beim Abfall der ungehorsamen Engel und beim Ungehorsam der Menschen; es wird auch erklärt, warum ein und derselbe Gott Zeitliches und Ewiges, Himmlisches und Irdisches geschaffen hat; man will verstehen, warum Gott, der doch unsichtbar ist, den Propheten nicht nur in einer einzigen Gestalt, sondern immer wieder anders erschien, und verständlich machen, warum mehr als ein Bund mit der Menschheit geschlossen wurde; und darüber belehren, was die Besonderheit jedes einzelnen Bundes war; und herausbringen, warum ‚Gott‘ alles ‚in den Ungehorsam eingeschlossen hat, um sich aller zu erbarmen‘ (Röm 11,32); und dankbar sagen, warum ‚der Logos‘ Gottes ‚Fleisch wurde‘ (Joh 1,14) und gelitten hat; und erklären, warum die Ankunft des Sohnes Gottes in den letzten Zeiten stattfand, das heißt, warum der Anfang am Ende erschien; und entwickeln, was die Schriften über Ende und Zukunft enthalten; nicht verschweigen, warum Gott die Heiden, die ohne Hoffnung waren, zu ‚Miterben, zum selben Leib gehörig, und zu Teilhabern‘ (Eph 3,6) der Heiligen gemacht hat; und mitteilen, wie dieses sterbliche Fleisch Unsterblichkeit anziehen wird und das Vergängliche Unvergänglichkeit (vgl. 1 Kor 15,54); und bekannt machen, wie das Nichtvolk Volk wurde und die Nichtgeliebte Geliebte (vgl. Hos 2,25; Röm 9,25) und wie ‚die Einsame mehr Kinder hat als die Verheiratete‘ (Gal 4,27; Jes 54,1). – Über solche und ähnliche Schriftworte brach der Apostel in den Ruf aus: ‚O

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breitet ist.5 Er wendet sich damit auch klar gegen mündliche Zusatzüberlieferungen oder vermeintliche Geheimlehren, welche die Apostel nur irgendwelchen erwählten Eliten mitgeteilt hätten oder die ein weiteres Wissen enthielten. Denn der Kanon des Glaubens sei allen bekannt, die Überlieferung der Kirche(n) ist immer und überall „ein und dieselbe“, sodass man sagen kann: „Die Kirchen, die es in Germanien gibt, glauben und überliefern nicht anders, auch die in Iberien (Spanien) und die bei den Kelten (in Gallien) nicht, ebenso die im Orient und die in Ägypten, in Libyen und in der Mitte der Welt.“6 Diese Perspektive zielt natürlich nicht auf eine – schon damals nicht7 – einheitliche Theologie und Glaubenspraxis, sondern vielmehr auf einen Konsens im Kern dessen, woran sich jeder christliche Glaubensvollzug zu bemessen hat. Es geht um seine verbindende und verbindliche Grundlage, die den weiteren Fragen und Entfaltungen des Glaubens als normatives Fundament und essentielles Narrativ vorausliegt. Denn im Wesentlichen sei dieser Glaube immer derselbe, trotz unterschiedlicher Ausprägungen und Gebräuche. Der Begriff Kanon steht hier zunächst für den lebendigen Glauben der Glaubensgemeinschaft, für das wesentliche „Grundmuster der Glaubenswahrheit“8 in ihrer identitätsstiftenden Bedeutung für das Christentum und dessen Lebensgestaltung. Auf dieser Basis wird der Begriff allmählich in mehreren Zusammenhängen verwendet.9 Als „Kanon“ bezeichnete man bald analog a) die Heiligen Schriften als sichere Grundlage des apostolischen Zeugnisses und Glaubens; b) die „kanonischen“ Entscheidungen der Konzilien im Verlauf der Dogmengeschichte, die den Bekenntnis- und Schriftkanon angesichts neuer FraTiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen und wie unerforschlich seine Wege!‘ (Röm 11,33).“ 5 Brox, N., Einführung, in: Irenäus von Lyon, Epideixis – Adversus Haereses. Darlegung der Apostolischen Verkündigung – Gegen die Häresien, Bd. I, übersetzt und eingeleitet von N. Brox (= Fontes Christiani 8/1), Freiburg i. Br. 1993, 7–20, 18 ff. 6 Irenäus, Adv. Haer. I,10,2. 7 Man denke nur an den Streit um einen einheitlichen Osterfesttermin. 8 Vgl. Brox, Einführung, 284 f., Anm. 92. „Das ist die früheste frühkirchlich üblich gewordene Wortbedeutung, die (mit deutlichem Schwerpunkt in der Westkirche) bis ins 3. Jh. galt: Kanon als dogmatisches Grundmuster der Glaubenswahrheit. Andere Bedeutungen sind später: Erst mit dem ersten ökumenischen Konzil von Nizäa (325) wurden die synodalen Entscheidungen in Disziplin- und Ordnungssachen als Konzilskanones bezeichnet; und erst Mitte des 4. Jh. wurde die gesamte Bibel mit diesem Terminus benannt und abgegrenzt (Bibelkanon).“ Vgl. auch Metzger, Der Kanon, 276. 9 Vgl. Ohme, H., Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des altkirchlichen Kanonbegriffs, Berlin 1998; Beyer, H. W., kanÖn, in: ThWNT III, 600 – 606.

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gen und Denkhorizonte weiter auslegen und aktualisieren mussten; c) den Messkanon als Kern der Eucharistiefeier, in der Bekenntnis- und Schriftkanon eine lebendige Gestalt annahmen und bewahrten; d) „kanonisierte“ Heilige und Märtyrer, an denen sich kirchliches Leben verlässlich orientieren und ausrichten kann. Neben dem katholischen Kanon des christlichen Glaubens, d. h. neben der für die Kirchen aller Regionen und Zeiten verbindenden und verbindlichen Bekenntnisgrundlage als Fixpunkt der apostolischen Überlieferung, kristallisiert sich – parallel zur notwendig gewordenen Entfaltung in kanonisierte Glaubensbekenntnisse – in einem komplexen Prozess ein Kanon von Schriften heraus, die als Hl. Schriften mit der Überlieferung des christlichen Kerygmas von Anfang an in einem unmittelbaren und konstitutiven Zusammenhang stehen10 und nun gemeinsam mit der Bekenntnisgrundlage die apostolische Richtschnur als normative regula fidei bilden.11

1.2. Das Verhältnis von Bekenntnis und Schrift Die christlichen Bekenntnisse weisen von Anfang an ihre Legitimation durch einen expliziten Verweis auf „die Schrift“ bzw. „die Propheten“ aus (vgl. 1 Kor 15,3 – 6; Apg 2,14 –36; 3,12–26; 7,1–53). Was als Glaube tradiert wird, gilt gerade deswegen als glaubwürdig, weil es gemäß der Schrift ist und damit in Kontinuität zum tradierten Glauben Israels steht. Denn „die“ Schrift ist für die Urkirche selbstverständlich die Hl. Schrift Israels, bzw. das, was später in einer gewissen Variation als „Altes Testament“ Eingang in den Kanon der christlichen Bibel gefunden hat.12 Am nizäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis lässt sich diese besondere Bedeutung des Schriftbezugs und damit die hermeneutische Schlüsselfunktion des AT als entscheidende Bezugsnorm des Be10 Vgl. Armstrong, J. J., From the kanÜn túj #lhqeËaj to the kanÜn tãn grafãn: The Rule of Faith and the New Testament Canon, in: Rombs, R./Hwang A. (eds.), Tradition & the rule of faith in the early Church. Essays in honor of J. T. Lienhard, Washington 2010, 30 – 47, 45: „The rule of faith and the Scriptures were intimately associated from earliest times.“ 11 Vgl. DV 21. Die Kirche hatte und hat diese Hl. Schriften „una cum Sacra Traditione semper ut supremam fidei suae regulam“. 12 Vgl. Dohmen, C., Das Alte Testament nicht kennen heißt das Christentum nicht kennen, in: Dohmen/Mußner, Nur die halbe Wahrheit, 16 –74, 71 f.

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kenntnisses noch deutlich erkennen, wie Christoph Dohmen gezeigt hat.13 Das trinitarisch strukturierte Bekenntnis übernimmt a) „die Zentralaussage des Alten Testaments vom einen und einzigen Gott, dem monotheistischen Bekenntnis, das die Voraussetzung und Ermöglichung jedweden trinitarischen Redens von Gott ist.“14 Es führt b) im christologischen Zentrum durch Verweis auf 1 Kor 15,3 („gemäß der Schrift“) explizit das AT als theologische Referenzgröße bzw. begründenden Deutungsrahmen des Auferstehungsglaubens und der gesamten Christologie an. Und es erinnert c) im pneumatologischen Teil daran, dass der Heilige Geist „gesprochen hat durch die Propheten“, womit nicht eine singuläre Verheißung, sondern (von Hebr 1,1 her betrachtet) „die gesamte alttestamentliche Überlieferung“ im Blick ist, die damit „anerkannt und christlich für verbindlich erklärt“ wird.15 Mit Dohmen kann man insofern von einer „Gründungsfunktion des Alten Testaments für das Christentum“16 sprechen und auch Christopher Seitz verweist auf den „grounding character of the scriptures of Israel“.17 Wie es kein Neues Testament ohne das Alte Testament geben kann, so kann es auch kein christliches Glaubensbekenntnis und keinen christlichen Glauben ohne das alttestamentliche Fundament18 geben, das vor allem durch den liturgischen Gebrauch be13

Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 69 –74. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 71. 15 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 72 f. Das Große Glaubensbekenntnis der Armenischen Kirche (DH 49) wird hier übrigens noch deutlicher: „Wir glauben an den Heiligen Geist, den Ungeschaffenen und Vollkommenen, der gesprochen hat durch das Gesetz, die Propheten und die Evangelisten […].“ 16 Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 73. 17 Seitz, C., The Goodly Fellowship of the Prophets. The Achievement of Association in Canon Formation, Grand Rapids 2009, 131. Zum Verhältnis von AT und regula fidei vgl. 130 f. Die regula fidei „required a stable and authoritative scriptural witness (which came to be called the OT) for its logic to emerge clearly. The rule is an insistence that these Scriptures ground basic Christian belief […] The rule is not a discrimen to help fix the limits of the canon but rather grows out of the logic of a single inherited Scripture whose plain sense extends to speak of Christ as it speaks of historical action, promise, moral exhortation, law, and final purpose with Israel and the nations within literary compass of the Law and the Prophets. […] In reconstructions of the canon that emphasize the centrality of the NT and only secondarily the OT, there is the danger that the contribution of the scriptures of Israel as a canonical reality will be lost. The NT makes clear that with statements of confession, it is impossible to understand the person and work of Christ apart from the logic of accordance with the OT. The canonicity of the NT is an analogous and derivative phenomenon, taking its logic and bearings from the existence of an anterior witness in a given material form.“ 18 Vgl. Jenson, R., Canon and Creed. Interpretation. Resources for the Use of Scrip14

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wahrt wurde.19 Umgekehrt bedingt allein die Verwurzelung der christlichen Glaubensüberzeugung im Glauben Israels die Anerkennung „der“ Schrift in ihrer Autorität als Heilige Schrift des Christentums, welches sich in seiner allmählichen Trennung vom Judentum diese Hl. Schrift zunehmend exklusiv aneignete – und Israel insofern enteignete, weil dieses den Sinn seiner eigenen Hl. Schriften vermeintlich nicht verstanden habe.20 Immerhin wäre ohne die enge Verwobenheit des christlichen Glaubens mit dem Glauben Israels eine Annahme des „Alten“ Testaments als entscheidende Bezugsnorm undenkbar. Denn warum sollte z. B. ein Heidenchrist – wie Marcion – einer Schrift göttliche Inspiration und Autorität zubilligen, wenn er den darin zum Ausdruck gebrachten Glauben selbst nicht teilt? Insofern wird man nicht nur von einer konstitutiven Gründungsfunktion des Alten Testaments für das christliche Glaubensbekenntnis sprechen müssen, sondern – gerade wegen der unaufgebbaren Wurzel dieses Bekenntnisses in der Tradition Israels – auch von einer christlichen Rezeption „der“ Schrift (Israels) durch ihre voll umfängliche und bedingungslose Anerkennung. Es handelt sich um eine untrennbare Wechselbeziehung von Schriftkanon und Bekenntnis, wie auch Robert Jenson betont: „canon needs creed and creed needs canon“.21 Dies betrifft in besonderer Weise den Eigenwert des Alten Testaments und seinen unentbehrlichen theologischen Gehalt, der nicht einfach im christlichen Bekenntnis aufgeht.22 ture in the Church, Louisville 2010, 20: „The Old Testament and its status as Scripture were and are just there for the church, as a fact antecedent to its existence and foundational for its self-understanding.“ Die Schrift Israels ist dem christlichen Glauben vorgegeben. „And for a hundred years or more it was always the new gospel that was justified by Israel’s Scripture, never the other way around“ (ebd., 21). 19 Vgl. Childs, Biblische Theologie und christlicher Kanon, 26: „Der kirchliche Gottesdienst war der Ort, an dem die biblische Botschaft empfangen, bewahrt und überliefert wurde. Die kirchliche regula fidei, die später in Bekenntnissen zum Ausdruck gebracht wurde, suchte die Einheit von Wort und Tradition zu bewahren, da der Heilige Geist die Wahrheit des Evangeliums, von der die Kirche lebt, fortdauernd belebt.“ 20 Vgl. Breuning, W., Altes Testament. II. Theologiegeschichte u. Systematik, in: LThK3 1, 457– 460; Schöttler, H.-G., Re-Visionen christlicher Theologie aus der Begegnung mit dem Judentum (Judentum – Christentum – Islam. Interreligiöse Studien 13), Würzburg 2016, 70 –74. 21 Jenson, Canon and Creed, 118. 22 Vgl. Jenson, Canon and Creed, 29: „The rule of faith saved the Old Testament as canon for the church – or rather, the church for the Old Testament canon – but in the process it did not open itself to the theological shape of the Old Testament’s own narrative, and so it could not support the Old Testament’s specific role in the church’s

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Darin liegt eine bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Es legitimiert und begründet das christliche Bekenntnis; dies kann es jedoch nur tun, weil dieses Bekenntnis die Autorität dieser Schrift als seine eigene Norm anerkennt und bewusst annimmt, sie insofern als Heilige Schrift voraussetzt. Der Bekenntniskanon bildet wiederum den normativen Maßstab zur Abgrenzung und Auslegung des Neuen Testaments, welches das Alte Testament im Lichte des christlichen Bekenntnisses neu liest. Dieser hermeneutische Zirkel bestimmt von Grund auf das christliche Verhältnis von Bekenntnis und Schrift und macht schon an dieser Stelle deutlich, dass Schrift und Tradition untrennbar miteinander verbunden sind, weil sie in einer gemeinsamen Glaubensgeschichte – der Israels – gründen, die einerseits in Kontinuität fortgeführt, andererseits innovativ überschritten und verändert wird, indem neue Schriften auf der Basis neuer Erfahrungen hinzutreten. Diese Verschriftung der heilsgeschichtlichen Erfahrung Jesu Christi wird nun mit der ursprünglichen Hl. Schrift gemeinsam zu einem Kanon verbunden, der fortan die Verhältnisbestimmung von Alt und Neu auf einzigartige Weise in sich birgt und mit einer spezifischen Hermeneutik gelesen wird. Die These, dass darin dauerhaft entscheidende Kriterien für die Tradition einer lebendigen Glaubensgeschichte konserviert und mitkanonisiert worden sind, lässt sich nur anhand der inneren Struktur dieses Kanons inhaltlich verifizieren. Wir blicken daher zunächst auf die spezifische Eigenart des christlichen Bibelkanons in seiner religionsgeschichtlichen Besonderheit als zweigeteilte Hl. Schrift, um vor diesem Hintergrund nach dem bleibenden theologischen Eigenwert des AT in seiner Relation zum NT zu fragen und daraus hermeneutische Prinzipien für eine Verhältnisbestimmung von Alt und Neu in der sich anschließenden Dogmengeschichte ableiten zu können.

practice. And support was and is needed: the leap from creation to New Testament appeared and continues to appear at other key places in the church’s life.“ Es bestand und besteht immer noch die Gefahr einer heilsgeschichtlichen Abwertung des AT durch ein weitestgehend unreflektiertes Überspringen der Geschichte Israels im christlichen Bekenntnis (vgl. 23; 29). Die Auswirkungen auf die Theologie sind dabei fatal. „The lack of Old Testament narrative in the creedal tradition occasioned a lamentable development in nineteenth- and twentieth-century theology, whose ill effects continue to be felt.“ (31) Das Bekenntnis, so folgert Jenson, bleibt immer auf die Schrift angewiesen, um zentrale (narrative) Elemente (wie die Exodustradition im AT, aber eben auch die Verkündigung Jesu im NT) zu ergänzen. Die Bedeutung des christlichen Bekenntnisses erschließt sich von Israel und dem AT her (vgl. 50).

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1.3. Schrift (AT), Verschriftung (NT) und biblischer Kanon Keineswegs selbstverständlich ist die kanonische Reihenfolge der beiden Schriftteile, die nicht einfach nur chronologisch bestimmt ist, sondern als hermeneutische Weichenstellung auch eine Leserichtung der Hl. Schrift für deren Verständnis vorgibt.23 Diese Beobachtung deckt sich übrigens auch mit der Verwendung der Schrift in der Liturgie, wo die Lesung aus dem AT den Texten des NT bzw. dem Evangelium vorausgeht und nicht etwa nur als nebensächlicher Kommentar oder als Fußnote nachgereicht wird. Man kann mit Christoph Dohmen von einer „Prae-Position“ des AT in der zweieinen christlichen Bibel sprechen.24 Seine hermeneutische Schlüsselfunktion für das – stets von ihm abhängige25 – NT wird in den Korrelationsbegriffen „alt“ und „neu“ zum Ausdruck gebracht, die jedoch nicht als qualitative Ab- oder Aufwertung missverstanden werden dürfen, sondern nur eine spannungsvolle Dynamik von Kontinuität und Diskontinuität verdeutlichen, die aber nicht als Bruch verstanden werden darf.26 Ludger Schwienhorst-Schönberger kritisiert eine „Asymmetrie“ bei der Verhältnisbestimmung von christlicher und jüdischer Lesart des AT bzw. TaNaK.27 Dabei hat er die Hermeneutik von Dohmen, der an die Prae-Position des zunächst eigenständigen AT erinnert, wohl nur bedingt verstanden.28 Er sieht – wie Dohmen auch – die jüdische und christliche 23 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 16 –25; 54 – 60, mit plausiblen Beispielen dafür, dass der vorangehende Text (nicht nur im biblischen Bereich) jeweils als Schlüssel für den nachfolgenden gilt, der „im Lichte“ des ersten gelesen und interpretiert werden muss. Vgl. auch Zenger, E., Heilige Schrift der Juden und der Christen, in: Zenger, E., u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 62006, 11–33, 12 ff.; Janowski, B., „Verstehst du auch, was du liest?“ Reflexionen auf die Leserichtung der christlichen Bibel, in: Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik, 150 –191. 24 Vgl. Dohmen, C., Hermeneutik des Alten Testaments, in: Dohmen, C./Stemberger, G., Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 22019, 142–233, hier: 171–175. 25 Vgl. Lehmann, Das Alte Testament als Offenbarung der Kirche, 279. 26 Vgl. Dohmen, C., Text und Kontext, in: Dohmen/Stemberger, Hermeneutik, 11–28, hierfür: 14 –18; Ders., Der Kanon des Alten Testaments, 284; 294; Ders., Juden und Christen, 80; 84 f.; Söding, T., Alles neu!? Neutestamentliche Anmerkungen zum Verhältnis der beiden Testamente, in: BiLi 68 (1995), 162–172. 27 Schwienhorst-Schönberger, L., Das Alte Testament – ein christliches Buch?, in: ThGl 110 (1/2020), 41– 60. 28 Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Das Alte Testament, 47 ff.; Ders., Rezension zu: Dohmen/Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, in: ThRv 117 (1/2021), online: https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/thrv/article/view /3105/3178.

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Lesart gleichberechtigt „auf Augenhöhe“29, übersieht jedoch, dass eine jüdische30 Lesart ohne christologische Deutung schon vor der christlichen Re-Lecture gegeben und vorausgesetzt ist, während letztere erst nach Christus überhaupt möglich wird. Die Frage, warum von christlicher Seite eine nichtchristliche Lektüre zuerst als solche wahrgenommen und nachvollzogen werden müsse, lässt sich darum leicht beantworten: Um die Innovation des Christusereignisses und seine Auswirkungen auf die Auslegung der Schriften Israels damals wahr- und ernst nehmen zu können. Es geht um die von Schwienhorst-Schönberger auch selbst hervorgehobene „Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität“31, die dann nicht in einer synchronen Lektüre a posteriori nivelliert werden darf, insofern dieser hermeneutische Prozess der Re-Lecture im NT selbst explizit thematisiert wird, sodass eine doppelte Lesart für das Verständnis konstitutiv ist. Dann aber ist dieser Schritt auch theologisch entscheidend, insofern er einen Erkenntnis- und Entwicklungsschritt im Glaubensverständnis markiert.32 Entscheidend ist, dass die Hl. Schrift Israels33 als erster Teil der Bibel 29

Schwienhorst-Schönberger, Das Alte Testament, 56. Zur Debatte steht nicht nur das rabbinische Judentum, das Schwienhorst-Schönberger vor allem im Blick hat, sondern auch die Lesart der Schriften Israels in ihrem damaligen Kontext. Auch bei Petrus oder Paulus ist ja zuerst diese „jüdische“ Lesart vorausgesetzt, bevor sie nach Ostern die Schriften aufgrund einer neuen Erfahrung anders lesen. Schwienhorst-Schönberger müsste hier präzisieren, was er unter einer „jüdischen“ Lesart versteht. 31 Schwienhorst-Schönberger, Das Alte Testament, 57. 32 Schwienhorst-Schönberger, Das Alte Testament, 58, schreibt selbst: „Der christliche Glaube steht in Kontinuität zu dem im Alten Testament bezeugten Glauben. Deshalb wird das Alte Testament von Christen weder verworfen noch in seinem Wortlaut geändert. Zugleich aber wird dieser Text neu gelesen. [!] Er erscheint in einem neuen Licht. Es gibt einen kognitiven Bruch, der zwischen einem ‚Vorher‘ und einem ‚Nachher‘ unterscheidet und der zur Entstehung einer neuen Glaubensgemeinschaft geführt hat. Beides als eines zu fassen, ist die Herausforderung, vor der die christliche Hermeneutik steht. Wird einer der Aspekte ausgeblendet, wird das Selbstverständnis des christlichen Glaubens verkannt.“ Eine derart starke Betonung des „Bruches“ passt aber gar nicht zu Schwienhorst-Schönbergers eigenem Konzept einer synchronisierten Lesart und ist vom Kanon so gar nicht gefordert. 33 Zur Zusammensetzung und Entwicklung der Bibel Israels vgl. Ulrich, E., The Old Testament text and its transmission, in: Paget/Schaper (eds.), The New Cambridge History, Vol. 1, 83 –104; Schaper, J., The literary history of the Hebrew Bible, in: Paget/ Schaper (eds.), The New Cambridge History, Vol. 1, 105 –144; Barton, J., The Old Testament canons, in: Paget/Schaper (eds.), The New Cambridge History, Vol. 1, 145 –164; Tov, E., Textual Criticism of the Hebrew Bible, Minneapolis 32011; Ossandón Widow, J. C., The origins of the canon of the Hebrew Bible. An analysis of Josephus and 4 Ezra, Leiden – Boston 2019, 5 –28; 202–216. Die allmähliche Fixierung des 30

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unangetastet34, also unvermischt und ungekürzt übernommen wurde. Man rezipiert nicht nur ein Exzerpt dessen, was man für eine christologische Lesart bräuchte, sondern auch den gesamten Rest, der nicht darin aufgeht.35 Es gibt von christlicher Seite keine gezielten redaktionellen Veränderungen innerhalb des Alten Testaments, das als eigenständige Schriftensammlung in den Kanon aufgenommen wurde.36 Die Entscheidung, „die Schriften des ‚Alten Bundes‘ (in ihrer griechischen Fassung) als ‚Heilige Schriften‘ zu behalten und so die spannungsvolle Beziehung von Alt und Neu als Kern der eigenen Glaubensexistenz weiterzutragen, ist eine der wichtigsten Entscheidungen des 2. Jahrhunderts.“37 Die kompositionelle Anordnung der Schriften unterscheidet sich von der hebräischen Bibel, sodass man daraus auf eine christliche Interpretation schließen könnte.38 Tatsächlich ergibt sich der kompositionelle Unterschied zwischen TaNaK und AT aber vielmehr daraus, dass ein ursprünglicher, weitestgehend abgeschlossener Kanon aus „Tora und Propheten“ beim TaNaK durch einen dritten Teil um gebräuchliche „Schriften“ (Ketubim) erweitert wurde, während diese beim AT in leichter Variation39 in den zweiten Teil (Propheten) integriert wurden, der damit hebräischen Kanons im engeren Sinne dürfte ab 70 n. Chr. als Reaktion auf neue Gruppen (wie das aufkommende Christentum) erfolgt sein (vgl. ebd., 215 f.), was nicht bedeutet, dass es nicht vorher schon einen festen Textbestand und Kernkanon gab, der Tora – Propheten klar umfasst. 34 Vgl. DV 16: Die Bücher des Alten Testaments seien integri in praeconio evangelico assumpti. 35 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 39; 25 –30, mit Bezug auf Childs; Zenger, Heilige Schrift, 13. 36 Jedenfalls insoweit sie als abgeschlossene Größe vorlag. In historischer Hinsicht sei angemerkt: Textkritische Divergenzen, die aus dem noch nicht einheitlich vorliegenden Endtext der Schrift selbst resultieren, sind – in dieser Hinsicht – zu vernachlässigen, denn es geht um eine theologisch motivierte Intention und Grundsatzentscheidung der Kirche(n), die eine lebendige Pluralität an Textvarianten nicht ausschließt und die textkritische Rekonstruktion potentiell offener Textvarianten oder Übersetzungen, die favorisiert und rezipiert wurden, zunächst nicht tangiert. Vgl. Schenker, A., Die Kirche liest das Alte Testament in mehreren Textgestalten und Übersetzungen. Folgen für Schriftgebrauch, Exegese und Theologie, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 359 –366. 37 Frey, J., Die Herausbildung des biblischen Kanons im antiken Judentum und im frühen Christentum, in: Das Mittelalter 18 (1/2013), 7–26, 18. 38 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 28; Zenger, Heilige Schrift, 21–33. 39 Die Berücksichtigung der „deuterokanonischen“ Schriften im Vergleich zum hebräischen TaNaK ergibt sich im Rahmen der Rezeption der griechischen Septuaginta (LXX), die mit ihrer umfangreicheren Schriftsammlung im liturgischen Gebrauch des

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ausgebaut wird. Der bestehende zweigliedrige „Kanon“ (Tora – Propheten) wurde also jüdisch und christlich bis zu seiner jeweils endgültigen Gestalt verschieden rezipiert. Die Perspektive des rabbinischen Judentums ist dabei stärker von einer Vorrangstellung der Tora geprägt, während das Christentum die prophetisch-eschatologische Perspektive auf diesen zweigliedrigen Kanon bevorzugt, die eine Brücke zum NT schlägt.40 Die zweigliedrige Struktur (Tora – Propheten) bildet auch das Muster für den Kanon aus Altem und Neuem Testament.41 Wie die Propheten notwendig an die Tora anknüpfen (auch wenn diese selbst in prophetischer Perspektive gelesen werden kann), sie voraussetzen und sie auslegen, so bezieht sich das NT auf den bestehenden Kanon der Hl. Schrift Israels, um sie in neuem Licht zu lesen. Der auferstandene Christus gilt als Schlüssel zum Verstehen „der“ Schrift (vgl. 2 Kor 3,15 f.), die dabei vorausgesetzt und als selbstständige normative Grundlage anerkannt wird (vgl. 1 Kor 4,6). Es handelt sich hierbei um die christliche Lesart und Hermeneutik der Schrift (AT), die sich nicht notwendig aus dieser selbst ergibt – auch nicht in der vorösterlichen Gegenwart Jesu. Eine andere (jüdische) Lesart ist und bleibt daher nach wie vor möglich. Das Christusbekenntnis lässt sich nicht als zwingende Konsequenz und lediglich verborgener Sinn aus der Schrift selbst deduzieren, sondern erfordert eine neue Erfahrung und Offenbarung (vgl. Mt 16,13 ff.), die nicht einfach schon aus der Schrift selbst herausgelesen, aber nur durch diese verstanden werden kann.42 Es ist der AufDiasporajudentums gründen dürfte, und wohl auch zunehmend durch eine griechischhebräische Sprachbarriere des frühen Christentums. Eine nachträgliche Ausgrenzung dieser griechischen Schriften seitens des rabbinischen Judentums in Abgrenzung zum Christentum ist nicht auszuschließen. Betroffen ist der zu diesem Zeitpunkt noch offene dritte Kanonteil (Ketubim). Vgl. Dohmen, Der Kanon des Alten Testaments, 286 f. 40 Vgl. Dohmen, Der Kanon des Alten Testaments, 289 –293. Dass aus christlicher Sicht die gesamte Schrift Israels unter prophetischem Vorzeichen gelesen wurde (vgl. Hebr 1,1; Röm 1,2; Mt 2,23), ist nicht nur durch den innerlich erweiterten und somit dominierenden Teil „Propheten“ (in Relation zur „Tora“) bedingt, sondern auch durch die Unvergleichlichkeitsaussage in Bezug auf Mose am Ende der Tora (Dtn 34,10), die deren Vorrang sichern sollte, aber auch so gelesen werden kann, dass Mose als Prophet verstanden und die Tora selbst prophetisch rezipiert wird. 41 Vgl. Dohmen, Der Kanon des Alten Testaments, 293; Ders., „Juden und Christen stützen sich auf die Autorität desselben Buches“, in: Frankemölle, H. (Hg.), Juden und Christen im Gespräch über „Dabru Emet – Redet die Wahrheit“, Paderborn 2005, 67– 88, 75 –78. 42 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 35 –39.

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erstandene, der seinen Jüngern den Sinn der gesamten Schrift neu entfalten und eigens eröffnen muss (vgl. Lk 24,27.44 – 49).43 Er legt ihnen die Schrift aus, er selbst ist der Schlüssel zu deren Verständnis als Wort Gottes, das sich ihnen erst allmählich erschließt und angesichts des Herrenmahls bewusst wird (Lk 24,30 ff.). Christen lesen dementsprechend in der Reihenfolge zuerst das AT, um das NT verstehen zu können. Niemand käme bei anderen Erzählungen auf die Idee, nur die letzten Kapitel eines Buches zu lesen oder von hinten zu beginnen. Dennoch muss dieses Buch aus christlicher Sicht zu Ende gelesen werden. Denn eine Geschichte – die „Story“44 Gottes und der Menschen – kann nur von ihrem Schluss her verstanden und danach beurteilt werden. Dieser „Schluss“, das Finale in der Geschichte Gottes mit den Menschen, die in Genesis eröffnet wird, ist nach christlichem Glauben in der Person und dem Geschick Jesu greifbar und wird dem Kanon daher als notwendige Pointe ergänzend hinzugefügt – und zwar als „offener“ Schluss, der die Leser involviert. In Christus begegnet nach christlicher Lesart nicht nur jenes Wort, mit dem Gott seinen Dialog eröffnete (und an dem man jedes weitere Wort erkennt), sondern auch das äußerste – letzte – Wort, das eschatologisch endgültig ist; über das hinaus nichts mehr gesagt werden muss, weil Gott darin alles, sich selbst endgültig für alle Menschen zugesagt hat. Diese Hermeneutik, die aber auf die Anerkennung und die Integrität der Schrift (AT) als normativer Bezugsgröße angewiesen ist, wird selbst als deren normative Erweiterung verschriftet (NT) und tritt nun zum Kanon gleichsam als finale „Auflösung“ der gesamten Story hinzu. Das Resultat ist, dass man fortan die Hl. Schrift insgesamt bei ihrer Relecture nur mit diesem Ende und auf dieses offene Ende hin lesen kann. Dass das Judentum diese Lesart nicht teilt, ist legitim, insofern es diese 43

In Lk 24,44 ist die Rede vom Gesetz des Mose, den Propheten und den Psalmen, womit alle Teile der vorliegenden Schrift als ganzer benannt sind, innerhalb derer über Christus geschrieben steht. 44 Vgl. Nicklas, T., Zeit, Zeitmodelle und Zeitdeutung in der Bibel Alten und Neuen Testaments, in: Appel, K./Dirscherl, E. (Hg.), Das Testament der Zeit – (Post-)Apokalyptische Annäherungen (QD 278), Freiburg i. Br. 2016, 352–377, 354 f.: „Diese Geschichte möchte zunächst einmal als Story begriffen werden, einerseits weil tatsächlich eine Vielzahl von Geschichten erzählt werden, andererseits weil auch die nicht erzählenden Passagen – wie in manchen prophetischen Büchern, weisheitlichen Schriften oder Psalmen – auf die grundlegende Story bezogen sind und ohne sie nicht verstehbar wären, ja sie in Einzelaspekten weiterführen. Sie ist aber auch History – nicht im Sinne rein vergangenen Geschehens, sondern als Vergangenheit, die zu vergegenwärtigen ist, weil sie die Gegenwart ‚angeht‘ und ‚prägt‘, ihr Sinn verleiht.“

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dem christlichen Kanon zu Grunde liegende Erfahrung nicht nachvollziehen konnte und daher auch nicht mit seiner Schrift zusammenlesen kann und will. Es ist vom jüdisch-christlichen Dialog her zu respektieren, dass das AT mit seiner bleibenden Bedeutung als Hl. Schrift Israels insofern eine besondere Doppelstellung einnimmt, als es durch das Judentum eben auch anders – nämlich ohne NT – gelesen werden kann. Christoph Dohmen weist mit Zwi Werblowsky darauf hin: „Diese Besonderheit spiegelt sich auch darin wider, dass von jüdischer Seite betont wird, dass der Christ mit innerer Notwendigkeit auf das Judentum stößt, wenn er sich mit seinem Christsein konfrontiert, während der Jude aber in keiner Weise auf das Christentum trifft, wenn er sich seinem Judesein zuwendet.“45 Man kann „die“ Schrift (AT) auch an und für sich, ohne die Hinzunahme des NT lesen. Dieses für den jüdisch-christlichen Dialog sensible Bewusstsein hat die Päpstliche Bibelkommission im Jahr 2001 eingeschärft.46 Es sollte inzwischen als theologischer Standard gelten. 47 Papst Johannes Paul II. hatte 1980 sehr deutlich betont, „die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes und dem des Neuen Bundes“ sei „zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel.“48 45

Dohmen, Die gespaltene Seele, 161. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (2001), hg. vom Sekretariat der DBK (VAS 152), Bonn 42013, Nr. 21 f. 47 Vgl. Dirscherl, E., Gottes Wort als Fülle der Zeit. Die Heilsbedeutung des jüdischen Glaubens in der Zeit post Christum natum, in: Ders., Das menschliche Wort Gottes, 46 – 68; Zenger, E., Die gemeinsamen Heiligen Schriften als Grundlage der christlichjüdischen Verbundenheit. Reflexionen im Anschluss an das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission von 2001, in: Ders., Mit Gott ums Leben kämpfen, 236 –249; Dohmen, C. (Hg.), In Gottes Volk eingebunden. Jüdisch-christliche Blickpunkte zum Dokument der Päpstlichen Bibelkommission „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“, Stuttgart 2003; Davis, E. F., Teaching the Bible Confessionally in the Church, in: Davis/Hays (eds.), The Art of Reading, 9 –26, 26: „Both Christians and Jews speak with some authority about the nature of God and what it means to worship God truly, authority that comes out of their willingness to study, to pray, and to suffer for what they understand to be true.“ 48 Johannes Paul II., Ansprache an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Rabbinerkonferenz am 17. November 1980 in Mainz, in: Henrix, H. H./Rendtorff, R. (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, München 1988, 74 –77, 75. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 85: „In der Vergangenheit mochte zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten der Bruch zwischen dem jüdischen Volk und der Kirche Christi fast vollständig erscheinen. Im 46

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Auch Papst Franziskus erinnert an diesen ungekündigten Bund Gottes mit Israel und weist darauf hin, dass die Kirche aufgrund jenes Teils der Hl. Schrift, den sie mit dem Judentum gemeinsam hat, „das Volk des Bundes und seinen Glauben als eine heilige Wurzel der eigenen christlichen Identität“ betrachtet (vgl. Röm 11,16 ff.).49 Das Judentum ist für das Christentum keine externe Größe, keine im Bereich des interreligiösen Dialogs anzusiedelnde Religion, sondern integraler Bestandteil und Ursprung des eigenen Glaubens. „Als Christen können wir das Judentum nicht als eine fremde Religion ansehen, noch rechnen wir die Juden zu denen, die berufen sind, sich von den Götzen abzuwenden und sich zum wahren Gott zu bekehren (vgl. 1 Thess 1,9). Wir glauben gemeinsam mit ihnen an den einen Gott, der in der Geschichte handelt, und nehmen mit ihnen das gemeinsame offenbarte Wort an.“50 Zur Debatte steht hier das Zeugnis von der Selbstoffenbarung Gottes und der Treue seiner Selbstzusage, die dem Judentum unwiderruflich gilt und in ihm auch heute noch wirksam ist.51 Mit den Worten von Papst Franziskus: „Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes und lässt einen Weisheitsschatz entstehen, der aus der Begegnung mit dem göttlichen Wort entspringt. Darum ist es auch für die Kirche eine Bereicherung, wenn sie die Werte des

Lichte der Schrift sieht man, dass es dazu niemals hätte kommen dürfen. Denn ein vollständiger Bruch zwischen Kirche und Synagoge widerspricht der Heiligen Schrift.“ 49 Papst Franziskus, EG, Nr. 247. Vgl. Zenger, E., Die Bibel Israels – Wurzel der Gemeinsamkeit für Juden und Christen, in: Ders., Mit Gott ums Leben kämpfen, 250 –262. 50 Papst Franziskus, EG, Nr. 247. 51 Vgl. Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ (Röm 11,29). Reflexionen zu theologischen Fragestellungen in den katholisch-jüdischen Beziehungen aus Anlass des 50 -jährigen Jubiläums von Nostra aetate (Nr. 4), hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 203), Bonn 2016; Henrix, H. H., Israel trägt die Kirche. Zur Theologie der Beziehung von Kirche und Judentum, Berlin 2019; Boschki, R./Wohlmuth, J. (Hg.), Nostra Aetate 4. Wendepunkt im Verhältnis von Kirche und Judentum – bleibende Herausforderung für die Theologie (Studien zu Judentum und Christentum 30), Paderborn 2015; Schreiber, S./Schuhmacher, T. (Hg.), Antijudaismen in der Exegese? Eine Diskussion 50 Jahre nach „Nostra Aetate“, Freiburg i. Br. 2015; Zenger, E., Nach 50 Jahren – von der Schuld der Christen und über das Bemühen um Aussöhnung zwischen Christen und Juden, in: Ders., Mit Gott ums Leben kämpfen, 283 –295; Breuning, W., Nein zur Judenmission – ja zum Dialog zwischen Juden und Christen, in: Bruckmann, F./Dausner, R. (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Gespräche zwischen christlicher Theologie und jüdischem Denken. FS für J. Wohlmuth (Studien zu Judentum und Christentum 25), Paderborn 2013, 125 –140; Kasper, W., Juden und Christen – das eine Volk Gottes, Freiburg i. Br. 2020.

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Judentums aufnimmt. Obwohl einige christliche Überzeugungen für das Judentum unannehmbar sind und die Kirche nicht darauf verzichten kann, Jesus als den Herrn und Messias zu verkünden, besteht eine reiche Komplementarität, die uns erlaubt, die Texte der hebräischen Bibel gemeinsam zu lesen und uns gegenseitig zu helfen, die Reichtümer des Wortes Gottes zu ergründen sowie viele ethische Überzeugungen und die gemeinsame Sorge um die Gerechtigkeit und die Entwicklung der Völker miteinander zu teilen.“52

Franz Mußner verweist auf die eigenartige „Willkür“ der christlichen Schriftauslegung und ihre „aktualisierende Adaption der Schriftaussagen“ auf die neue Situation.53 Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit eine solche Auslegung legitim sei oder die Schrift geradezu „vergewaltigt“ wird, wenn schon im Neuen Testament das Christusereignis als selbstverständliche „Erfüllung“ der Verheißungen des Alten Testaments verstanden und auf die „Gottgewolltheit“ von Tod und Auferstehung Jesu mit all ihren Konsequenzen verwiesen wird.54 Auch wenn man inzwischen von Theorien einer Übereignung der Schriften Israels an die Kirche als deren allein kompetente Auslegerin in aller Deutlichkeit Abstand nimmt55, so stellt sich die Frage, ob diese Schriften nicht zumindest doch christlich instrumentalisiert werden. Es darf aber nicht übersehen werden, dass die christliche Auslegung der Hl. Schrift Israels auf einem neuen Verstehensprozess56 samt einer anderen – aber nicht der einzig möglichen – Auslegung dieser Schrift beruht. Jedes Verstehen wurzelt letztlich in der Korrelation alter Texte mit neuen Situationen. Hierin liegt auch das kreative Potential in der Auseinandersetzung mit der Hl. Schrift, wie Franz Mußner mit T. Holtz betont: „Verstehen ist […] die stets neue Konfrontation sich wandelnder geschichtlicher Situation mit dem überkommenen Text, den der Verstehende sich aneignen will. Wird dabei der Text wirklich verstanden, so wird er ganz rezipiert, 52

Papst Franziskus, EG, Nr. 249. Mußner, F., Die Auslegung des Alten Testaments im Neuen Testament und die Frage nach der Einheit und Ganzheit der Bibel, in: Dohmen/Mußner, Nur die halbe Wahrheit, 75 –121, 86. 54 Vgl. Mußner, Die Auslegung, 88. „Die Formel ‚gemäß den Schriften‘ gehört wesensnotwendig zum Kerygma! Einem Juden jedoch bleibt das ‚gemäß den Schriften‘ des christlichen Kerygmas verborgen, weil er die ‚Schriften‘ anders versteht, als die Christen sie verstanden und verstehen.“ 55 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 22. 56 Es handelt sich zunächst um einen Verstehensprozess innerhalb des Judentums und seiner Tradition, wenn man z. B. an Petrus oder Paulus denkt. Sie rezipieren, deuten und transzendieren die Schrift Israels schließlich als Juden – und damit auch als direkte Erstadressaten und legitime Leser dieser Schrift. 53

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Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon zugleich aber auch ganz verwandelt, weil in eine neue Geschichte transportiert. Er verliert und gewinnt zugleich bei diesem Vorgang. Er verliert das konkrete geschichtliche Gewand seiner ursprünglichen Situation, gewinnt aber eine neue geschichtliche Gestalt hinzu, die der ursprünglichen kongruent ist, sofern es sich um gelungenes, gültiges Verstehen handelt. […] In jedem geschichtlichen Moment ist eine Fülle von Möglichkeiten seiner Entfaltung enthalten […]. Im Anfang seiner Entwicklung ist erst die Möglichkeit ihres Verlaufes angelegt, neben vielen weiteren Möglichkeiten; das Frühere enthält das Spätere nur als Möglichkeit, nicht als Notwendigkeit in sich.“57

Wie aber die Christusbegegnung und -offenbarung nicht mit theoretischer Notwendigkeit schon aus dem AT ableitbar58 ist, ohne die Erfahrung einer neuen geschichtlichen Situation gemacht zu haben, so kann man dieses Prinzip später auch in der Dogmengeschichte (als Auslegung und Entfaltung der Bibel) wiedererkennen. Dogmatische Entscheidungen und ihre Formulierungen sind geschichtlich kontingent.59 Hätte z. B. ein Arius nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Position vertreten, hätte es wohl die Formulierung „homoousios“ als solche nie gegeben. Sie wäre in dieser Form(ulierung) samt ihrer bekannten Problemgeschichte vielleicht nie relevant geworden. Die Glaubensgeschichte und die von ihr abhängige Dogmengeschichte folgen nicht einfach, wie die Neuscholastik teilweise60 suggerierte, der Explikation dessen, was immer schon „hinterlegt“ war und durch das kirchliche Lehramt nur ausdrücklich erklärt werden muss. Die Glaubensgeschichte folgt insofern keinem linear-evolutiven Programm, das es sukzessiv abzuspulen gilt, bis das Telos der Definitionen zu Tage tritt. Sie ist als Dogmengeschichte das geistgewirkte Resultat einer freien, offenen und lebendigen Glaubensgeschichte im Dialog mit all den Herausforderungen der jeweiligen Zeit einerseits und dem apostolischen Kanon, speziell dem Kanon der Hl. Schrift, andererseits. Die im Ursprung angelegte Offenheit auf Zukunft geht einher mit Vieldeutigkeit und Pluralität. Das gilt für das AT ebenso wie für das NT.

57 Holtz, T., Das Alte Testament und das Bekenntnis der frühen Gemeinde zu Jesus Christus, in: Kertelge, K., u. a. (Hg.), Christus bezeugen. FS für W. Trilling, Leipzig 1989, 55 – 66, 65, zitiert nach Mußner, Die Auslegung, 99. 58 Vgl. Mußner, Die Auslegung, 100. 59 Vgl. Müller, G. L., Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, Freiburg i. Br. 22005, 81. 60 Natürlich ist auch die Neuscholastik eine heterogene Denkform. M. J. Scheeben hebt sich mit einem gewissen Bewusstsein für historische Bedingtheiten der Überlieferung z. B. von J. B. Franzelin oder G. Perrone ab. Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 206 –219.

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Im weiteren Verlauf der Deutungsgeschichte werden Möglichkeiten des Textes zur Geltung gebracht und angesichts völlig neuer Situationen als neue Wirklichkeiten realisiert. Dies geschieht im NT mit Blick auf das AT (vgl. Apg 8,30 –35) und setzt sich in der Dogmengeschichte mit Blick auf den biblischen Kanon insgesamt fort.61 „Indem das Verstehen Möglichkeiten zu Wirklichkeiten werden lässt, bereichert es den Text, legt ihn aber auch fest […]. Das christliche Verstehen erschließt nicht den Sinn des Alten Testaments, so als ergäbe sich aus ihm heraus keine andere Möglichkeit legitimen Verstehens. Es ergreift vielmehr eine seiner Möglichkeiten und macht sie zur allein wirklichen. […] Das Neue Testament erhebt den Anspruch, die Wahrheit der Geschichte, die das Alte Testament bestimmt und von der es zeugt, auf seiner Seite zu haben. Denn der Gott, dessen Geschichte das Alte Testament bekundet und der selbst durch das Alte Testament spricht, hat end-gültig, sich und seine Geschichte definierend, gehandelt in der Christus-Geschichte Jesu.“62

Hier wird auf Grund einer neuen – unableitbaren – Erfahrung aus den vielen Lesarten des Alten Testaments eine mögliche – keineswegs jedoch die einzige – als wirklich definiert, insofern sie im Nachhinein, im Osterlicht der neuen Erfahrung, offenbar als Realität und Wahrheit begriffen wird, die sich allerdings an der Bezugsnorm der Schrift als solche ausweisen muss. Schrift und Erfahrung beleuchten sich gegenseitig. Mit anderen Worten: Wer eine neue Erfahrung gemacht hat, liest alte Texte anders und fortan nur noch unter dem Eindruck dieser Erfahrung, die den Blick auf alles bisher Bezeugte prägt, aber sich selbst nur dank dieser Zeugnisse verstehen und artikulieren kann.

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Bereits hier wird das Muster dogmatischer Entscheidungen erkennbar: Durch sich festlegende – definierende – Tradition wird angesichts neuer Fragehorizonte und Verstehens- bzw. Dialogprozesse aus mehreren Lesarten der Hl. Schrift eine bestimmte theologische Deutung als wahr und verbindlich realisiert, hinter die man auf Grund der neuen Glaubenserfahrungen der Glaubensgemeinschaft nicht mehr zurückfallen will. Entscheidend ist: Wer die jeweilige Glaubenserfahrung als Bedingung der Möglichkeit solcher Festlegung nicht macht oder anerkennt, dem erschließt sich auch nicht die „Notwendigkeit“ einer Festlegung der offenen Schriftbedeutung. Das gilt für die Lesart des AT durch das Judentum genauso wie für Annahme der christologischen Dogmen durch diejenigen, die eine ihnen zu Grunde liegende Glaubenserfahrung anders bewerten als es die Kirche als Glaubensgemeinschaft mehrheitlich tat. Dass die mit der Definition und Festlegung verbundene (vermeintliche) Vereindeutigung in ihrer Relation zum Kanon wieder zu neuen Kontextualisierungen (sogar Korrekturen) führt, werden wir später sehen. 62 Holtz, Das Alte Testament, 66, zitiert nach Mußner, Die Auslegung, 100.

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Die Grunderfahrung, welche die Relecture des AT aus christlicher Sicht letztlich finalisiert und damit andere Lesarten in den Hintergrund treten lässt, besteht in Jesu Tod und Auferstehung, die zum hermeneutischen Schlüssel christlicher Schriftlektüre werden.63 Das Bewusstsein der neuen und erfahrungsbasierten christlichen Hermeneutik wird von Lukas und Paulus (Lk 24,25 ff.44 ff.; 2 Kor 3,14 –18) in der auslegenden Begegnung mit dem Auferstandenen selbst entfaltet. ER legt die Schrift aus: Wer ihm nicht begegnet oder die Erfahrung seiner lebendigen Präsenz (im Brechen des Brotes und Wirken seines Geistes) nicht macht, für den bleibt auch die christliche Lesart der Schrift völlig unverständlich. So hat das Judentum auch weiterhin eine andere, legitime Möglichkeit, „die“ Schrift an und für sich zu lesen. Ihr vielfältiger Sinn (sensus) wirkt angesichts der neuen Schriftauslegung der Urkirche und ihrem sensus fidei für Juden gewaltsam festgelegt und in eine bestimmte Richtung gebogen. Franz Mußner weist aber darauf hin, dass nach historisch-kritischen Maßstäben die Schriftauslegung des rabbinischen Judentums nicht weniger „gewalttätig“ am Text vorgeht.64 Die neue Hermeneutik der Urkirche hänge allerdings mit einem „Bruch“ zusammen, den das Christusereignis – und eben diese Glaubenserfahrung – mit sich brachte. Die alten Texte werden vor diesem Hintergrund neu gelesen und durch Fortschreibung in einem neuen Kapitel konstitutiv gedeutet. Durch Hinzunahme des NT entsteht ein neuer Kanon und ein neuer kanonischer Kontext der Schriften. Diese Kanonisierung werden wir noch betrachten. Aber „die“ Schrift ist fortan nur zusammen mit dem Neuen Testament in spannungsvoller Einheit zu lesen. Sie wird nicht nur historisch-kritisch auf ihren ursprünglichen Text und Kontext hin befragt (dies bleibt auch bedeutsam65), sondern auch auf ihre Bedeutung in Verbindung mit dieser neuen Erfahrung und deren Verschriftung. Man liest sie also bewusst – und hierin kommen die exegetischen Erkenntnisse zum „canonical approach“ zum Tragen – in kanonischer Einheit.66 63

Vgl. Mußner, Das Alte Testament, 101. Vgl. Mußner, Das Alte Testament, 102, Anm. 40. 65 So die Sorge bei Barton, J., The Old Testament: Canon, Literature and Theology, Oxford 2007. 66 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche (1993), hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 115), Bonn 52017, 50 –53; Driver, D./MacDonald, N., Canonical Criticism. I. Hebrew Bible/Old Testament, in: EBR 4, 924 – 926; Söding, T., Canonical Criticism. II. New Testament, in: EBR 4, 926 – 928; Childs, B. S., Die Theologie der einen Bibel. Bd. 1, Grundstrukturen. Bd. 2, Hauptthemen, Freiburg i. Br. 2003; Ders., Die Beziehung von Altem und Neuen Testament aus kanonischer Sicht, 64

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Damit wird eine gewisse Hermeneutik verbindlich vorgegeben. Sie wird nicht dogmatisiert, sondern mit den Texten selbst kanonisiert.67 Die Christuserfahrung blendet den historischen Kontext der Schriften Israels nicht aus, aber sie lässt den sensus scripturae auf den christlichen sensus fidei transparent werden, der nun zur regula fidei (Kanon) geworden war, ohne „die“ Schrift, das AT, selbst anzutasten. Der dadurch entstandene Kanon und die ihm immanente Hermeneutik generieren eine neue – schließlich von der Glaubensgemeinschaft Israels und dem Judentum getrennt verlaufende – Glaubensgeschichte und Schriftauslegung, in in: Dohmen/Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente, 29 –34; Ders., Critique of Recent Intertextual Canonical Interpretation, in: ZAW 115 (2/2003), 173 –184; Ders., The Canon in Recent Biblical Studies: Reflections On an Era, in: Bartholomew, C. G./ Hahn, S., e. a. (eds.), Canon and Biblical Interpretation (Scripture and Hermeneutics, vol. 7), Grand Rapids 2006, 33 –57; Seitz, C., The Canonical Approach and Theological Interpretation, in: Bartholomew, C. G./Hahn, S., e. a. (eds.), Canon, 58 –110; Sanders, J. A., From Sacred Story to Sacred Text. Canon as Paradigm, Eugene (Oregon) 1987; Ders., Canon and Community. A Guide to Canonical Criticism, Eugene (Oregon) 2000; Dohmen, C./Oeming, M., Biblischer Kanon, warum und wozu? Eine Kanontheologie (QD 137), Freiburg i. Br. 1992; Dohmen, C., Kanonische Exegese, in: Ostkemper F.-J./Schuller F. (Hg.), Berufen, das Wort Gottes zu verkündigen. Die Botschaft der Bibel im Leben und in der Sendung der Kirche, Stuttgart 2008, 21–33. 108 –110; Steins, G., Der Bibelkanon – Schlüssel zur Bibelauslegung. Ein Paradigmenwechsel in der Exegese, in: Pastoraltheologie 95 (7/2006), 329 –334; Ders., Kanonischintertextuelle Studien zum Alten Testament (Stuttgarter biblische Aufsatzbände 48), Stuttgart 2009; Hieke, T., Zum Verhältnis von biblischer Auslegung und historischer Rückfrage, in: IKaZ 39 (3/2010), 264 –274; Wohlmuth, J., Historisch-kritische und kanonische Textinterpretation – ein feindliches Paar?, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 107–129; Weidemann, H. U., Kanon und Christuszeugnis. B. S. Childs‘ Antwort auf eine alte Frage, in: BiKi 55 (1/2000), 26 –32; Seckler, M., Über die Problematik des biblischen Kanons und die Bedeutung seiner Wiederentdeckung, in: ThQ 180 (1/2000), 30 –53; Rahner, J., Kanonische und/oder kirchliche Schriftauslegung? Der Kanon und die Suche nach der Einheit, in: ZKTh 123 (4/2001), 402– 422; Böhler, D., Der Kanon als hermeneutische Vorgabe biblischer Theologie. Über aktuelle Methodendiskussionen in der Bibelwissenschaft, in: ThPh 77 (2002), 161–178. 67 Karl Lehmann bezeichnet die Kanonbildung als „Ur-Paradigma dogmatischer Entscheidungen“. Vgl. Lehmann, K., Die Bildung des Kanons als dogmatisches Ur-Paradigma. Zur Verhältnisbestimmung von Schrift, Überlieferung und Amt, in: Freiburger Universitätsblätter 108 (1990), 53 – 63, 62. Die Kanonbildung sei in ihrer Komplexität „die normative Grundform und damit auch das kritische Maß jeder dogmatischen Aussage.“ (63) Der Kanon sei „so etwas wie ein Prototyp von Dogma“, „weil er jede Grundform des Glaubens in sich birgt, nämlich die Bindung der Kirche an die Schrift als Wahrheit der Offenbarung, und bleibend gültig ist“ (ebd.). Für Wohlmuth, Hermeneutische Akzentverschiebungen, 130, hat die Erstellung des Kanons „verfassungsgebende Relevanz“, wobei eine „innere Pluralität des Christentums gewollt“ sei und dessen Herkunft aus dem Judentum bejaht werde.

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der dieser neue Schriftkanon und die lebendig überlieferte Erfahrung, der er entsprang, niemals getrennt voneinander betrachtet werden können. Immerhin hat sich bereits im Neuen Testament selbst ein Ablösungsprozess der Kirche von Israel niedergeschlagen, wie Franz Mußner betont.68 Bei aller Diskontinuität bleibe jedoch ein gewichtiges Kontinuum, nämlich das Festhalten der Kirche an den Schriften Israels. Auch wenn das Verhältnis von Judentum und jungem Christentum aus heutiger Sicht differenzierter69 zu betrachten ist, bleibt die Spannung von Alt und Neu konstitutiv für den christlichen Kanon.70 Sie bleibt dabei eingebettet in eine tieferliegende Kontinuität, die hermeneutisch bedeutsam ist.71 Das Neue ist nur vom Alten her verständlich, muss sich davor rechtfertigen und in seinem Horizont deuten lassen. Umgekehrt erkennt man aber im Alten eine zunächst nicht notwendige Offenheit auf das Neue, nicht Ableitbare (Lk 24,25 ff.), das fortan mit Christus verbunden wird. Die christliche Bibel ist in ihrem zweigeteilten Kanon selbst ein Bekenntnis zur theologischen Kontinuität72 angesichts des Neuen und gänzlich Unerwarteten. Diese Korrelation von Alt und Neu ist demnach an ihre Reihenfolge gebunden, die etwas Gemeinsames als verbindendes Element voraussetzt.73 Eine solche Korrelation steht nicht nur innerhalb des Neuen Testaments74, sondern angesichts einer lebendigen Tradition 68 Vgl. Mußner, F., Das Neue Testament als Dokument für den Ablösungsprozess der Kirche von Israel, in: Ders., Die Kraft der Wurzel. Judentum – Jesus – Kirche, Freiburg i. Br. 21989, 164 –171. 69 Vgl. Boyarin, D., Die jüdischen Evangelien. Die Geschichte des jüdischen Christus, Würzburg 2015, der von einem „Judäo-Christentum“ spricht. 70 Childs, Die Theologie, Bd. 1, 266, betont, das NT sei nicht das letzte Kapitel der Geschichte Israels, da „etwas total Neues“ mit der Erfahrung Christi und seiner Auferstehung begann. Das NT sei nicht nur als Kommentar des AT zu verstehen. Vgl. Frankemölle, H., Das Neue Testament als Kommentar? Möglichkeiten und Grenzen einer hermeneutischen These aus der Sicht eines Neutestamentlers, in: Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik, 200 – 279. 71 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament verstehen, 41: „Das frühe Christentum geht offenbar davon aus, dass das Christusereignis immer nur von der Schrift her verständlich ist und bleibt. Die christologische Interpretation unterstreicht dies von Einzelpunkten an bestimmten Stellen her, die aber nicht die Schrift in ihrer Gesamtheit einholen.“ 72 Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 1, 97; Bd. 2, 31–34. 73 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 51. 74 Vgl. Moyise, S., The Old Testament in the New. An Introduction, London 22015, 215. Beim Spannungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität handelt es sich um „a dynamic interaction between new and old. The issue raised by intertextuality is whether this interaction results in a stable resolution (a point) or a range of possibilities (surfaces).“

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auch weiterhin in der Systematischen Theologie oder in der Religionspädagogik und Pastoral zur Debatte.75 Sie intendiert eine für Verstehensprozesse notwendige „Horizontverschmelzung“ von Altem und Neuem und markiert so das Wesen einer lebendigen Überlieferung, die sich selbst treu bleiben will.76 Somit deutet sich ein erstes hermeneutisches Prinzip einer lebendigen Überlieferungsgeschichte an: Es ist die theologische Kontinuität im Rückbezug auf den tradierten Glauben, wie er sich für die Glaubensund Erinnerungsgemeinschaft der Kirche in der Schrift Israels bleibend gültig manifestiert.77 Wie das Neue im Licht des Alten (Testaments) gelesen werden und das Alte doch mit dem Neuen verbunden und in seinem neuen Licht wiedergelesen78 werden muss, so muss jede Neuerung der Tradition sich durch eine – inhaltlich zu bestimmende! – Kontinuität aus75

Zum Korrelationsprinzip vgl. Werbick, J., Theologische Methodenlehre, Freiburg i. Br. 2015, 132–148; Mendl, H., Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf, München 2011, 58 f. 76 Vgl. Gadamer, H. G., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, 289 f. Verstehen sei immer ein Vorgang der Verschmelzung der Horizonte von Vergangenheit und Gegenwart. „Im Walten der Tradition findet ständig solche Verschmelzung statt. Denn dort wächst Altes und Neues immer wieder zu lebendiger Geltung zusammen, ohne dass sich überhaupt das eine oder andere ausdrücklich voneinander abhebt.“ Hierauf verweist auch Dohmen, C., Mit Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achten!, in: Dohmen/Mußner, Nur die halbe Wahrheit, 122–134, 131 f. Das daraus resultierende „lebendige Verstehen“ sei wie ein angestoßener Stein, der „auf diesem Weg ins Rollen kommt und vieles in Bewegung bringt.“ (132) Das neue Verstehen in neuen Kontexten folgt der Logik und Intention derer, die den jeweiligen Einzeltext in Textsammlungen einfügten. Vgl. Preuss, H. D., Das Alte Testament in christlicher Predigt, Stuttgart 1984, 18. 77 Vgl. Dohmen, C., Erinnerungsgemeinschaft als hermeneutischer Schlüssel zur Bibel Israels, in: Lenzen V. (Hg.), Erinnerung als Herkunft der Zukunft (Judaica et Christiana 22), Bern u. a. 2008, 45 – 62. 78 Dohmen spricht von der doppelten Leseweise des Alten Testaments. Vgl. Dohmen, C., Vom Umgang mit dem Alten Testament, Stuttgart 1995, 101 f.; Ders., Hermeneutik, 173. Kritisch dazu äußert sich Crüsemann, F., Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011, 86 ff. Dass sich nach seiner Ansicht aus dieser Hermeneutik keine eindeutige Wahrheit atl. Texte ergibt, scheint dem Befund des jüdisch-christlichen Dialogs zu entsprechen. Die Genese des christlichen Kanons, die damit verbundene Rezeptionsdynamik angesichts neuer Erfahrungen und die dadurch entstandene Kontextualität kommen in der Kritik bedingt zur Geltung. Eine „christliche Überlegenheit“ (87) bei der Relecture des AT ist durch diese Hermeneutik weder intendiert noch zu rechtfertigen, wenn sie die Texte nicht als eindeutig versteht. So bleibt Crüsemanns Kritik in sich widersprüchlich. Die Frage: „Was etwa nötigt eigentlich zu der Umkehr der Lektürerichtung?“ findet sich in der ntl. Textrezeption und Relecture selbst beantwortet.

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weisen und legitimieren. Aber worin liegt das Verbindende und damit die korrelative Kontinuität im zweieinen biblischen Kanon? Was hält die beiden Kanonteile, was hält Alt und Neu zusammen, wenn das AT mit seiner auch weiter bestehenden Eigenbedeutung nicht einfach im NT aufgeht und dennoch mit diesem zusammen zu lesen ist? Das Christentum muss sich mit Blick auf die „Ur-Kunde“ seines Glaubens seinem Ursprung stellen.79 Es bezieht aus dieser Konfrontation auch entscheidende Erkenntnisse für den Umgang mit der Zukunft. Ursprung und Ziel der christlichen Glaubensgeschichte sind demnach konkret zu erheben.

1.4. Die spezifisch christliche Problematik Biblischer Theologie Fragen wir aus christlicher Sicht – denn es ist eine spezifisch christliche Frage80 – auf der Basis des biblischen Kanons nach der Spannung von Kontinuität und Diskontinuität, so sind wir auf eine im Kanon selbst angelegte Problematik verwiesen. Die Verbindung von Altem und Neuem Testament ist eine Herausforderung für die christliche Theologie insgesamt.81 Sie bedeutet für das Christentum eine permanente Gratwanderung zwischen den beiden Polen seiner Hl. Schrift.82 Die Frage nach dem einheitsstiftenden Kontinuum einer gesamtbiblischen Theologie betrifft, ausgehend von der Sonderstellung des AT in seiner Relation zum NT, den „Lebensnerv christlicher Identität“83 – einer Identität, die die Dogmatik bewahren und sichern soll. Die in der Dogmatik kaum beachtete Problematik in der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament gilt es angesichts des exegetischen Befundes zunächst einmal deutlich zu benennen: Eine dogmatisch postulierte Theologie der Schrift wirkt aus alttestamentlicher Sicht teilweise seltsam konstruiert. Sie gründet oft in theologischen Konzepten einzelner Autoren, die ihre Systematik zum Bewertungskriterium für die 79

Vgl. Dohmen, Text und Kontext, 23; Ders., Die gespaltene Seele, 159. Vgl. Levenson, J. D., Warum Juden sich nicht für Biblische Theologie interessieren, in: EvTh 51 (5/1991), 402– 430. 81 Vgl. Gunneweg, Vom Verstehen, 7 f. 82 Vgl. Dohmen, Die gespaltene Seele, 161; Schneider/Pannenberg, Binding Testimony, 69; 75. Das AT sei nicht nur Vorbereitung für das NT, sondern habe „its own theological and historical right“ als Zeugnis der Geschichte des Glaubens Israels – und der Kirche. Insofern ist es per se als „absolutely essential“ anzusehen. 83 Dohmen, Die gespaltene Seele, 162. 80

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gesamte Schrift machen. Dabei darf man nicht vergessen, dass letztlich jede vermeintlich „Biblische“ Theologie bereits systematische Theologie ist – auch dort, wo ihre Systematik selbst nicht näher reflektiert wird.84 Doch die Suche nach der Einheit, einer einheitlichen Systematik oder auch „Mitte der Schrift“ erscheint aus Sicht des AT besonders problematisch.85 So ist eine gesamtbiblische Theologie im NT und von ihm her durch seinen inneren Bezug auf das AT durchaus möglich, während dies für das AT an und für sich nicht in gleicher Weise gilt, weil dieses erst durch die äußere Verbindung im christlichen Kanon mit dem NT in Beziehung tritt.86 Eine Biblische Theologie ist also nur vom entsprechenden Kanon her möglich.87 Mit der Festlegung der Tradition auf den Kanon aus AT und NT ergibt sich eine christliche kanonische Hermeneutik für die Lektüre und Deutung der Bibel, die sich von der jüdischen Lesart unterscheidet, allerdings für christliche Leser verbindlich ist, da diese die Schrift als zweieinen Kanon angenommen und damit den Lektüreschlüssel festgelegt haben. Wenn aber „die“ Schrift Israels als erste und grundlegende Hl. Schrift der jungen Kirche – wie wir sehen konnten – nicht einfach darin aufgeht, eine christologische Blaupause oder untergeordnete Dekoration des NT zu sein, dann stellt sich der Dogmatik die kritische Frage nach dem theologischen Eigenwert des AT als einer zunächst eigenständi84 Vgl. Lohfink, N., Alttestamentliche Wissenschaft als Theologie? 44 Thesen, in: Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik, 13 – 47, bes. 29 –32; 41 f. 85 Vgl. Sweeney, M. A., Biblical Theology. I. Hebrew Bible/Old Testament, in: EBR 3, 1137–1149; Dunn, J., Biblical Theology. II. New Testament, in: EBR 3, 1149–1159; Sommer, B. D., Biblical Theology. III. Judaism, in: EBR 3, 1159 –1169; Hahn, S., Biblical Theology. IV. Christianity, in: EBR 3, 1169 –1176; Söding, T., Einheit der Heiligen Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons (QD 211), Freiburg i. Br. 2005; Ders., „Mitte der Schrift“ – „Einheit der Schrift“. Grundsätzliche Erwägungen zur Schrifthermeneutik, in: Pannenberg W./Schneider, T. (Hg.), Verbindliches Zeugnis III. Schriftverständnis und Schriftgebrauch (Dialog der Kirchen, Bd. 10), Freiburg i. Br. 1998, 43– 82; Janowski, B., Kanonhermeneutik. Eine problemgeschichtliche Skizze, in: BThZ 22 (2/2005), 161–180; Oeming, M., Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons? Studien zu gesamtbiblischen Theologien der Gegenwart, Zürich 32001; SchwienhorstSchönberger, L., Einheit und Vielheit. Gibt es eine sinnvolle Suche nach der Mitte des Alten Testaments?, in: Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik, 48 – 87; Groß, W., Ist biblischtheologische Auslegung ein integrierender Methodenschritt?, in: Hossfeld (Hg.), Wieviel Systematik, 110 –149; Dohmen, C./Söding, T. (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente. Positionen biblischer Theologie, Paderborn 1995; Dohmen, Hermeneutik, 213–216. 86 Vgl. Dohmen, Die gespaltene Seele, 161. 87 Vgl. Lohfink, Alttestamentliche Wissenschaft, 33 f.; Janowski, Kanonhermeneutik, 171.

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gen Größe.88 Die Sensibilität dafür ist, wie B. S. Childs erkennt, auf der Basis des jüdisch-christlichen Dialogs schon aus historischen Gründen im deutschen Sprachraum wesentlich stärker ausgeprägt als in der englischsprachigen Forschung.89 Wie geht man aber dogmatisch mit dem Eigenwert des AT um? Eine systematische Theologie, die an dieser spezifischen Eigenbedeutung vorbei interpretiert, missachtet aus Sicht einer differenziert arbeitenden Biblischen Theologie den grundlegenden – fundierenden – Stellenwert, den „die“ Schrift Israels für die Kirche hatte und der sie motivierte, das AT vollständig in den Kanon seiner erweiterten Hl. Schrift zu übernehmen.90 Insofern bilden der jüdisch-christliche Dialog und das daraus erwachsende Bewusstsein um die Sonderstellung und die bleibende theologische Eigenbedeutung des AT den Ort der Bewährung jeder gesamtbiblischen, das Verhältnis von AT und NT bestimmenden Theologie, die nur dann eine solche sein kann, wenn sie dem AT in einer nicht vereinnahmenden Weise gerecht wird. Mit anderen Worten: Altes und Neues Testament müssten (was für das II. Vatikanische Konzil ebenso selbstverständlich ist wie für das Konzil von Trient91) theologisch gleichwertig und auf Augenhöhe betrachtet werden. Demgegenüber findet sich in der katholischen Dogmatik unter dem Deckmantel einer falsch verstandenen Christozentrik92 der gesamten Bibel 88 Vgl. Goldingay, J., Old Testament Theology and the Canon, in: Tyndale Bulletin 59 (1/2008), 1–26; Seitz, C., The Character of Christian Scripture. The Significance of a Two-Testament Bible, Grand Rapids 2011, mit etwas anderer Aktzentsetzung; Böttigheimer, Die eine Bibel, 160 –170; Huber, Das Neue im Alten, 296 f.; Oeming, Vom Eigenwert, 327 f. Der Eigenwert des AT realisiere sich vor allem in drei Aspekten gegenüber dem NT: Ergänzung, Kritik und Dialog. Eine Abwertung des NT und des spezifisch Neuen in ihm sei damit, wie er betont, nicht verbunden. Vgl. KKK, Nr. 129, wo auf den „unerschöpflichen Sinngehalt des Alten Testamentes“ ebenso hingewiesen wird wie darauf, dass das Alte Testament „einen eigenen Offenbarungswert behält, den unser Herr selbst ihm zuerkannt hat [Vgl. Mk 12,29 –31.]. Im übrigen will das Neue Testament auch im Licht des Alten Testamentes gelesen sein. Die christliche Urkatechese hat beständig auf dieses zurückgegriffen [Vgl. 1 Kor 5,6 – 8; 10,1–11.].“ 89 Childs, The Canon, 48. 90 Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 1, 102: „Es ist wichtig, die kanonische Integrität des Alten Testaments zu betonen, damit man der christlicherseits immer wieder empfundenen Versuchung widersteht, Biblische Theologie mit der neutestamentlichen Interpretation des Alten Testaments zu identifizieren, als ob die Botschaft des Alten Testaments auf das beschränkt wäre, wie es einst durch die frühe Kirche gehört und angewendet wurde.“ 91 Vgl. DH 1501; DH 3006; DV 11; 14 ff. 92 Sogar Joseph Ratzinger ließ sich zu der problematischen Aussage hinreißen: „wenn

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immer wieder ein latenter theologischer Subordinatianismus des AT gegenüber dem NT, der in der evangelischen Theologie teilweise sogar als offene Ablehnung zu Tage tritt.93 Es besteht die Gefahr einer „Bibel-Häresie“ im wörtlichen Sinne: einer willkürlichen Auswahl und Bevorzugung.94 Dass Jesus Christus aus christlicher Sicht natürlich die entscheidende Schlüsselerfahrung zum Verständnis „der“ Schrift ist (die wiederum seine Bedeutung für uns erschließt), bedeutet nicht, dass die gesamte Schrift Israels christologisch reduziert oder gefiltert werden dürfte.95

das Alte Testament nicht von Christus spricht, dann ist es keine Bibel für den Christen.“ (Ratzinger, J., Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, in: Ders., Gesammelte Schriften 8/2: Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene, hg. v. G. L. Müller, Freiburg i. Br. 2010, 1078 –1098, 1079.) Dann bliebe nicht viel vom Alten Testament übrig. Vergessen scheint, dass dieses das Christuszeugnis des NT legitimiert und ihm Sprache verleiht. Dass bei der Bekämpfung des Marcionismus und der Sicherung des Glaubens an den „Gott Israels“ dieser als „Gott der Christen“ vereinnahmt und christologisch gefiltert wird, wird nicht ausreichend reflektiert. In einem Ausdruck der Bescheidenheit, der mehr als eine captatio benevolentiae sein dürfte, gesteht Ratzinger ein, dass es sich bei seinem „Opusculum“ aber nur um „armselige Anläufe auf das große Thema hin“ handle, die „in ihrer notwendig fragmentarischen Weise dem Fortgang des Fragens dienen“ wollen (1080). 93 Vgl. exemplarisch: Slenczka, N., Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017; Ders., Die Kirche und das Alte Testament, in: Gräb-Schmidt, E./Preul, R. (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie (MThSt 119), Leipzig 2013, 83 –119. Kritisch dazu: Pietsch, M., Der fremde Gott. Das Alte Testament und das Wesen des Christentums, in: Kirche und Israel 31 (1/2016), 3 –22; Schwienhorst-Schönberger, L., Christentum ohne Altes Testament? Theologen diskutieren wieder über den biblischen Kanon, in: HerKorr (8/2016), 26 –30; Schüle, A., Das Alte Testament und der verstehende Glaube. Holzwege und Wegmarken in der Debatte um den christlichen Kanon, in: KuD 62 (3/2016), 191–211. 94 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 60 –74; vgl. 67: „Die christliche Dogmatik ist auch deshalb voll von ‚Bibelhäresien‘, weil sie mit schier unbelehrbarer Beharrlichkeit fast immer das Neue Testament aus der ganzen Heiligen Schrift ‚auswählte‘, um das, was ihr als Christliches galt, biblisch zu begründen.“ 95 So etwa bei Gerhards, M., Protevangelium. Zur Frage der kanonischen Geltung des Alten Testaments und seiner christologischen Auslegung (SBS 237), Stuttgart 2017, wo Christus als Mitte und Zentrum der Hl. Schrift gesehen wird (33 f.; 81; 177; 185). Hierzu werden Texte des AT instrumentalisiert, die „in irgendeiner Weise als Hinweis auf Jesus Christus verstanden werden können“ (33). In ambivalenter Weise spricht auch Childs von Christus als Hauptinhalt (res) des biblischen Kanons und droht damit seine eigentliche Konzeption einer Biblischen Theologie, die die Integrität des AT bewahren will, zu unterlaufen. Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 1, 111–115. Hier wird der zurecht betonte Verweischarakter der Texte auf die eine „göttliche Realität“ allzu schnell mit Jesus Christus gleichgesetzt, der aus christlicher Sicht zwar Norm und Ziel, aber nicht zwingend schon der „Hauptinhalt“ der gesamten Schrift ist. Christus undif-

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Dies geschieht mit Bezug auf Henri de Lubac teilweise auch bei Rudolf Voderholzer, der durch den inkarnierten Logos „die vielen Worte der alten Schriften vereindeutigt und erfüllt“ sieht, weil Christus die „Mitte“ der Schrift sei und als „verbum abbreviatum“ die vielen Worte dieser Schrift „zusammenfasst“.96 Sachlich – wie auch rein wörtlich genommen – handelt es sich bei diesem christozentrischen Reduktionismus schlichtweg um eine simplifizierende Verkürzung alttestamentlicher Schriften und nicht mehr, wie noch im Neuen Testament, um eine christologische Konzentration und Dynamisierung der theologisch eigenständigen Schriften Israels.97 Abgesehen davon, dass Voderholzers „Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik“ die einschlägigen Aussagen der Päpstlichen Bibelkommission von 2001 nicht weiter berücksichtigen, dürfte es problematisch sein zu formulieren, Jesus Christus als Person sei „die eine Quelle der Offenbarung im strengen Sinne des Wortes.“98 In der Tat, diese „Offenbarung ist ein personales Geschehen.“99 Gottes Selbstoffenbarung und die Geschichte des Heils finden ihr Ziel in Jesus Christus; beides beginnt aber, wie das Neue Testament durchaus noch weiß, nicht erst mit der Geburt Jesu und ist auch nicht auf ihn beschränkt: „Vielfältig und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben von allem eingesetzt, durch den er auch die Welt erschaffen hat …“ (Hebr 1,1 f.). Auch die Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils ist durchweg von einer theozentrisch-trinitarischen Perspektive geprägt und weiß konsequent zwischen Quelle (Vater) und Ziel (Sohn) der Selbstoffenbarung Gottes zu unterscheiden.100 Wenn Christus als die Vollendung und Finalferenziert mit Gott als Bezugspunkt gleichzusetzen, ist auch christologisch problematisch und zeugt letztlich von einem latenten Monophysitismus. 96 Vgl. Voderholzer, R., Offenbarung, Tradition und Schriftauslegung. Bausteine zu einer christlichen Bibelhermeneutik, Regensburg 2013, 27; 29; 36; 126. Wollte man sich bei der Formulierung „verbum abbreviatum“ auf Thomas von Aquin (Comp. theol., 1) berufen, so sollte man beachten, dass dort an eine soteriologisch suffiziente, pädagogische Reduktion gedacht ist, die auf einer Auslegung von Röm 9,28 beruht („Verbum abbreviatum faciet Deus super terram“) und nicht auf eine Schrifthermeneutik zielt. 97 Die christologische Schriftauslegung innerhalb des NT steht keineswegs im Gegensatz zum Judentum und lasse sich „nicht auf Christologie reduzieren“, so Doering, L., Die Rezeption jüdischer Schriften im Neuen Testament, in: JBTh 31 (2016), 105 –133, 131. 98 Voderholzer, Offenbarung, 46; vgl. 34; 54; 68; 124. 99 Voderholzer, Offenbarung, 46. 100 DV 2: „Placuit Deo … Seipsum revelare et notum facere sacramentum voluntatis

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ursache der göttlichen Selbstoffenbarung verstanden werden kann, so ist dennoch die Freiheitsgeschichte der Selbstmitteilung Gottes101 im Dialog mit den Menschen nicht einfach mit Christus gleichzusetzen.102 Die Bedeutung Jesu als universaler Heilsmittler ist allein durch seine reductio in Mysterium, durch die Rückbindung seiner Existenz in Gott selbst möglich. Christus ist die gott-menschliche Vermittlung des Heils, das in der Beziehung zum göttlichen Vater besteht. Die Geschichte dieser Beziehung zwischen Gott und Mensch, von der die Schriften Israels ein unersetzbares Zeugnis ablegen, wird durch Jesu Existenz aber nicht verkürzt oder ersetzt, sondern in neuem Licht erschlossen. Die menschgewordene Selbstzusage Gottes wird zur Schlüsselerfahrung, zum hermeneutischen Prinzip, um jede Wirksamkeit Gottes und seines Logos in der Heilsgeschichte im Nachhinein zu erkennen und um Diskontinuitäten und Veränderungen zu wagen.103 Das bedeutet jedoch nicht, dass Christus als inkarnierter Logos und Rekapitulation dieser Geschichte Gottes mit den Menschen „die eine Quelle“ der göttlichen Selbstmitteilung sei, die vielmehr patrozentrisch zu fassen ist und sich heilsgeschichtlich nicht auf den inkarnierten Logos reduzieren lässt, weil ja auch Jesu eigene Glaubensbiographie in die Geschichte Israels eingebettet bleibt. Eine richtig verstandene Christozentrik des christlichen Glaubens ist daher, wie Voderholzer selbst erkennt, immer „verbunden

suae“; Christus ist „mediator simul et plenitudo totius revelationis“; DV 3: „Deus … insuper protoparentibus inde ab initio Semetipsum manifestavit“; DV 4: „Postquam vero multifariam multisque modis Deus locutus est in Prophetis …“; Christus „consummat quod dedit ei Pater faciendum … revelationem complendo perficit“; DV 5: „Deo revelanti praestanda est oboeditio fidei“; DV 6: „Divina revelatione Deus Seipsum atque aeterna voluntatis suae decreta … manifestare ac communicare voluit“. Das Konzil sieht in Gott Vater (Deus) „rerum omnium principium et finem“. Und das aus gutem Grund. Vgl. Rahner, K., Theos im Neuen Testament, in: Ders., Schriften zur Theologie I, Einsiedeln u. a. 81967, 91–167. 101 Vgl. Lerch, M., Selbstmitteilung Gottes. Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie (ratio fidei 56), Regensburg 2015. 102 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift. Das Wort, das von Gott kommt und von Gott spricht, um die Welt zu retten, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 196), Bonn 2014, 10: „Jesus ist der ‚Höhepunkt der Offenbarung Gottes des Vaters‘ (Verbum Domini, Nr. 20), Höhepunkt, dem eine reiche ‚Ökonomie‘ der Offenbarung Gottes vorausgeht.“ 103 Vgl. GS 10: Die Kirche glaubt, „dass der Schlüssel, der Mittelpunkt und das Ziel der ganzen menschlichen Geschichte in ihrem Herrn und Meister gefunden wird. Die Kirche bekräftigt überdies, dass allen Veränderungen vieles zugrunde liegt, was sich nicht verändert und was seinen letzten Grund in Christus hat […].“

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mit einer umfassenden trinitarischen Sicht der Heilsgeschichte“.104 Diese Differenzierung verbietet es, das Alte Testament christozentrisch zu vereinnahmen oder jenseits der konkreten Texte nachträglich für den binnenchristlichen Gebrauch zu vereindeutigen.105 104 Voderholzer, Offenbarung, 69. Vgl. auch Ladaria, L. F., Jesus Christus, Mitte und Mittler, in: ThPh 88 (2013), 175 –193, 192 f. „Die Zentralität Christi kann nicht ohne einen trinitarischen Bezugsrahmen verstanden werden. […] Christozentrismus und Theozentrismus bilden keine wirkliche Alternative. […] Allein im Lichte des trinitarischen Geheimnisses erhält die universale Mittlerschaft Christi ihren Sinn.“ 105 So auch bei Dalferth, Wirkendes Wort, 293 –320. Für ihn ist die kirchliche Funktion der Schrift in der Gegenwart Gottes entscheidend, nicht die objektive Bestimmung des Inhalts in seiner eigenen Bedeutung (vgl. 295 ff.; 310). Wer so argumentiert, hat den Diskurs über den Inhalt der Schrift als Grundlage ihrer Funktion verlassen. Christus als „Orientierungs- und Zielpunkt evangelischer Schriftauslegung“ zu betrachten (301), bedeutet nicht, ihn als „Mitte der Schrift“ (293) oder ihr Thema (377) zu identifizieren. Christus als „externe“ Mitte der Schrift (313) ist inhaltlich gebunden an deren Zeugnis. Dalferth meint: „Texte sind nie eindeutig. Gottes Wort ist es immer.“ (109) Wenn Gottes Wort nur durch die Vermittlung menschlicher Zeugnisse zugänglich ist, wie sollte dieses Wort in „kopräsentischer Kommunikation“ eindeutig sein, ohne es der Interpretation seines Mediums zu unterwerfen? Er übersieht, dass Kontexte jenseits kirchlicher Binnenlogik neue Facetten der (materialisierten) Schrift und neues Verstehen unter anderen Bedingungen erschließen. Es geht nicht um die „semantische Beschränkung des Wortes Gottes auf den Sinngehalt des biblischen Textes“ als Buch (115), sondern um die universale Entschränkung des Schriftzeugnisses für alle potentiellen Hörer/innen des Wortes in ihrer Lebenswirklichkeit, die nicht auf den aktuellen kirchlichen Gebrauch beschränkt bleibt. Darin liegt kein „Verlust“ des kirchlichen Kontextes, in dem die Schrift „Gottes Wort deutlich oder gar eindeutig“ werden ließe (116), sondern die Erweiterung des Horizonts im Dialog mit der und über die Schrift, deren Text zur Debatte steht. Es ist bezeichnend, dass hier das AT hinter die „Kommunikation des Evangeliums“ zurücktritt (vgl. 131 f.; 207; 395 f.). Die Einheit der Schrift aus AT und NT liege in ihrem Gebrauch für die Kommunikation des Evangeliums; das AT habe in sich keine Verbindlichkeit: „Nicht die alttestamentlichen Texte als solche sind die Heilige Schrift der Kirche, sondern diese Texte, sofern sie auf Christus hintreiben […].“ (182) Es gehe „nicht um den Eigensinn der biblischen Texte, sondern um ihren christlichen Gebrauchssinn“ (189). Der theologische Sinn des AT erschöpft sich aber nicht in der „Erhellung des Christusgeschehens“ (205), das „Kontrastbezüge“ bräuchte. Aus den Bezügen zwischen NT und AT eine ausschließlich (!) christologische Rezeption der „jüdischen Traditionen“ zu schließen (vgl. 184 ff.), ist problematisch. So „können alttestamentliche Texte theologisch nicht ohne Bezug auf neutestamentliche Texte gelesen werden, und umgekehrt: Es geht um ihren christlichen Gebrauchssinn, nicht einfach um ihren Eigensinn.“ (207) Dieser bleibt der Hebräischen Bibel als Buch überlassen. Dass christliche Hermeneutik andere theologische Lesarten derselben Schrift ignoriert (vgl. 207), ist angesichts des christlich-jüdischen Dialogs aber zynisch, wenn man die katastrophalen Konsequenzen dieser Hermeneutik im historischen Verhältnis zum Judentum bedenkt. Erstaunlich: „Wer Schrift sagt, hat deshalb immer auch Kirche gesagt, und wer Kirche sagt, spricht von Gottes Gegenwart

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Christus ist als hermeneutischer Lektüreschlüssel kein verkürzender Ersatz für das zunächst eigenständige Zeugnis der Schriften Israels, die sich in christlicher Relecture neu erschließen und in der Synopse mit dem Neuen Testament ein anderes Gesamtbild ergeben.106 Daher schärft auch die Päpstliche Bibelkommission ein: „Das Alte Testament besitzt aus sich heraus einen ungeheuren Wert als Wort Gottes. Die Lesung des Alten Testaments durch Christen bedeutet nicht, dass man in ihm überall direkte Verweise auf Jesus oder auf die christlichen Wirklichkeiten finden will.“107 Sehr pointiert stellt man klar: „Ohne das Alte Testament wäre das Neue Testament ein Buch, das nicht entschlüsselt werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt ist.“108

Aus exegetischer Sicht scheiden somit alle Modelle109 zur Beschreibung der Verbindung von AT und NT aus, die durch eine christozentrische Abstraktion bzw. Reduktion Gemeinsamkeiten aufzeigen wollen, die der Polyphonie und Offenheit des AT an und für sich nicht gerecht wer-

im menschlichen Leben und der Resonanz seiner Liebe im Glauben, Hoffen und Lieben von Menschen.“ (304; vgl. 349) Wer Schrift sagt, könnte auch an das Judentum denken, dem man das Bewusstsein um die Gegenwart Gottes und seiner Liebe nicht absprechen kann (vgl. 398) – ein Grund, warum der christliche Kanon der latenten Häresie „christozentrischer Auswahl“ (402) widersprach. 106 Diesen „Eigenwert“ des AT und die Legitimität der jüdischen Auslegung will auch Voderholzer nicht bestreiten (vgl. Offenbarung, 125 f., Anm. 7). Wie das funktioniert, wenn das AT „in seinem Wesen Vorausverkündigung Jesu“ ist, bleibt jedoch vage. Eine doppelte Ontologie derselben Schrift dürfte schwierig sein. Eine doppelte Lesart und Rezeption (die er wohl meint) ist plausibel, sollte aber mit Aussagen über das „Wesen“ des AT und seine Eindeutigkeit dann vielleicht doch sensibler umgehen. 107 Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 21. 108 Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 84; Dies., Die Interpretation, 53: „jede Phase der Heilsgeschichte muss auch in ihrem Eigenwert geachtet werden. Das Alte Testament seines Sinnes zu entleeren, hieße das Neue Testament von seinen geschichtlichen Wurzeln abschneiden.“ 109 Vgl. Dohmen, C., Mehr als Kult und Tempel, in: HerKorr 5/2020, 49 –50; Ders., Die gespaltene Seele, 159 ff. Eine heilsgeschichtliche oder traditionsgeschichtliche Harmonisierung der Schrift scheidet aus. Das christozentrische Schema „Verheißung und Erfüllung“ vermag die Vielfalt und Gesamtheit des AT nicht einzuholen und wird der Tatsache nicht gerecht, dass man das gesamte AT übernommen hat, wo es übrigens auch schon „Erfüllung“ gibt. Die kontrastive Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium wird der Bedeutung des Gesetzes im AT kaum gerecht, während das Evangelium im NT keineswegs gesetzlos ist. Der unvermittelte Dialog beider Teile im Blick auf Einzelfragen erlaubt hingegen kaum eine stringente Theologie.

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den und diese a posteriori zu eliminieren oder harmonisch zu glätten versuchen.110 Differenzierter ist hier – trotz des reißerischen Buchtitels111 – John Goldingay. Er warnt davor, das AT a priori christlich zu vereinnahmen, um die spätere Entfaltung und Ausdifferenzierung christlicher Lehre schon in den Text des AT hineinzuprojizieren. Wenn es um die theologische Interpretation des AT und dessen Würdigung geht, empfiehlt er: „Don’t Be Christ-Centred, Don’t Be Trinitarian, Don’t Be Constrained by the Rule of Faith“.112 Christus selbst sei nicht „christocentric“ gewesen: „Christ was theocentric.“113 Der Gott, den das Christentum als den dreifaltigen erkennt und erfährt, sei derselbe Gott, der im AT zur Sprache kommt – ohne dass die Trinität dort schon herausgelesen werden konnte. „Christian theological interpretation will be trinitarian in the sense that it knows that Yahweh the God of Israel is the God who is Trinity. It will not be trinitarian in the sense that it looks for reference to the Trinity in Isaiah or Genesis.“114 Christus offenbare in diesem Sinne nichts Neues über Gott, sondern er vergegenwärtigt ihn auf neue Weise, leibhaftig spürbar: „Jesus did not reveal something new about God. What he did was embody God. The point about Jesus was not something new that 110 Vgl. exemplarisch: Künneth, W., Kanon, in: TRE 17, 562–570, 567: Das AT sei nur „von der Christusmitte des Neuen Testaments her“ ein „legitimer Teil des Kanons“; Bartholomew, C. G., Introducing Biblical Hermeneutics. A Comprehensive Framework for Hearing God in Scripture, Grand Rapids 2015, 5 f. Jede biblische Hermeneutik müsse „christocentric“ und insofern „trinitarian“ sein, andernfalls könne man das AT nicht „truthfully“ lesen (ebd., 9). Für Grosse, S., Theologie des Kanons. Der christliche Kanon, seine Hermeneutik und die Historizität seiner Aussagen. Die Lehren der Kirchenväter als Grundlegung der Lehre von der Heiligen Schrift (STB 4), Münster 2011, spricht „die Bibel“ von Jesus Christus. „Er spricht also in ihr von sich selbst.“ (49; vgl. 128; 131) Wie das in den Texten des AT funktionieren soll, weiß wohl nur Grosse, der Christus und Trinität hier faktisch gleichsetzt und auf typologische Auslegung rekurriert. Diese impliziert aber eine Differenz von Typos und Antitypos, die laut Grosse konstitutiv für den Kanon aus AT und NT sei (vgl. 65; 131). Thesen wie: „Jesus Christus hat der Bibel seine Autorität übertragen“ (130) und „Das einzige hinreichende Kriterium für die Aufnahme einer Schrift in den biblischen Kanon (in das Neue Testament) ist, dass sie von einem Apostel Jesu Christi verfasst worden ist oder von jemand, der von einem Apostel dazu autorisiert worden ist“ (131) zeugen von einer beachtlichen Ignoranz gegenüber dem AT. 111 Goldingay, J., Do we need the New Testament? Letting the Old Testament Speak for Itself, Downers Grove 2015. 112 Vgl. Goldingay, Do we need, 157–178. 113 Goldingay, Do we need, 162. 114 Goldingay, Do we need, 169.

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he revealed. It was something that he was and did.“115 Er ist die Verwirklichung und Verkörperung der Nähe und Selbstzusage Gottes in ihrer eschatologischen Tragweite und siegreichen Endgültigkeit, deren radikale Neuheit jenseits des AT man darum nicht unterschätzen darf. Doch die entscheidende Frage für die Urkirche „was not whether the Scriptures fitted with Christian faith but whether Christian faith fitted with the Scriptures.“116 Aufgabe der christlichen regula fidei ist es daher nicht, das AT zu limitieren oder zu regulieren, sondern „to enable us to see things that are there; it does not determine what is allowed to be there.“117 Es geht um eine neue Wahr-Nehmung und Rezeption des AT aus christlicher Sicht, nicht um dessen Legitimation oder Determination. Goldingay folgert: „It deserves reflection that the interpreters who want to control biblical exegesis by the church’s doctrinal tradition are mostly systematic theologians who want to be biblical, and the people who want to resist this control are mostly biblical scholars who want to be theological. There are many ways in which questions of power enter into biblical interpretation.“118

Dass Fragen nach Macht und Deutungshoheit biblische Interpretation nicht nur innerkirchlich, sondern auch interreligiös kontaminieren können, zeigt die tragische Geschichte zwischen Christentum und Judentum. Eine bestimmte Form der patristischen Exegese und ihrer exklusivistischen Christozentrik dürfte daran nicht unschuldig sein. Dazu später mehr. Die Frage nach der Korrelation von Alt und Neu ist im Sinne einer gesamtbiblischen und somit christlichen Sicht immer nur unter Hinzunahme des NT möglich, wobei diese Perspektive das AT zunächst in seiner – vielstimmigen und sperrigen – Eigenbedeutung anerkennen und darin wahrund ernst nehmen muss.119 Kontinuität und Diskontinuität sind im bib115

Goldingay, Do we need, 163. Goldingay, Do we need, 172. 117 Goldingay, Do we need, 173. 118 Goldingay, Do we need, 174. 119 Vgl. Gunneweg, Vom Verstehen, 186: „Ist der Gott, der Josua und den Israeliten in blutigen Schlachten voranmarschiert, der die Feinde zu ‚bannen‘ befiehlt, der Gott Jesu Christi? Es hieße das Alte Testament auf ein einziges Gottesbild – etwa von Hos 2,21 f.; 11,8 – 9; Jes 66,13 und von anderen Stellen – festlegen, wollte man überhaupt von dem Gott des Alten Testaments sprechen. Dieser Gott hat viele Namen und so unterschiedliche Eigenschaften, dass die Rede von dem Gott des Alten Testaments in der Gefahr steht, zur Leerformel zu werden. Die Rede von dem Gott des Alten Testaments, der der Vater Jesu Christi sei, überspringt das hermeneutische Problem und setzt voraus, was erst noch begründet werden muss. Die Begründung kann, wie gesagt, nur vom 116

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lischen Kanon, in seiner Vielstimmigkeit und seiner kanonisierten Rezeptionsdynamik untrennbar verbunden und zusammen überliefert. Brevard S. Childs betont: „Es gibt keine übergreifende hermeneutische Theorie, durch welche die Spannung zwischen dem Glaubenszeugnis des Alten Testaments in seinem Eigenrecht und dem des Neuen Testaments mit seinem transformierten Alten Testament aufgelöst werden könnte.“120 Die vielstimmige Bibel „sagt“ oder „lehrt“ nicht etwas in absoluter Objektivität, sondern sie bleibt permanent deutungsbedürftig, wobei ihre Be-Deutung (bzw. Rezeption) vom jeweiligen Kontext und dem aktuellen Verständnishorizont abhängig sein wird, wie Joseph Gordon richtig erkennt.121 Das Anliegen seiner Systematischen Theologie der christliNeuen Testament her erfolgen. Diesen Maßstab an das Alte Testament anlegen heißt nicht, das Alte Testament christlich auslegen. Christlich legte die Allegorese, legt auch Typologese aus. Was aber nicht christlich ist, kann auch nicht christlich ausgelegt werden; christliche Auslegung dessen, was nicht christlich ist, ist falsche Auslegung. Rechte Auslegung ist vielmehr bemüht, das Alte Testament sein eigenes Wort sagen zu lassen und es gegenwärtig zu interpretieren und zu verstehen. Ist die Aussage des konkreten Textes gegenwärtig interpretiert und verstanden, ist das Ziel der historisch-kritischen Auslegung erreicht. Die historisch-kritische Auslegung bekommt nicht dadurch christliche und theologische Qualität, dass dem Text nun auch noch allegorisch oder typologisch ein christlicher, geistlicher, höherer Sinn zugeschrieben wird oder dass sie zur pneumatischen Auslegung – was immer darunter zu verstehen sei – oder zur christlichen Meditation – wie immer diese verfahren mag – überleitet oder dass sie den interpretierten Text dem Dogmatiker zustellt, der über dessen Geltung – nach welchem Maßstab und mit welchen Mitteln auch immer – zu urteilen hätte. Vielmehr ist der historisch-kritische Ausleger darin Theologe, dass er den Text am Maßstab des Christlichen zu messen gelernt hat und imstande ist. Hier und nicht zuerst bei der gemeinsamen historischen Rekonstruktion kontinuierlicher Linien, die Altes und Neues Testament verbinden – so wichtig auch dieser Arbeitsgang ist – ist die alttestamentliche Wissenschaft theologisch auf die Hilfe der neutestamentlichen Disziplin angewiesen. Hier kann interdisziplinäre Arbeit theologisch fruchtbar sein.“ Dies gilt analog für die Rezeption außerbiblischer Motive. Vgl. Rahner, H., Griechische Mythen in christlicher Deutung, Zürich 31966. 120 Childs, Die Theologie, Bd. 1, 103; vgl. ebd., 121: „Es scheint mir ein Hauptanliegen der Biblischen Theologie zu sein, sowohl die Kontinuität als auch die Diskontinuität zwischen diesen beiden unterschiedlichen Glaubenszeugnissen der christlichen Bibel sorgfältig zu beschreiben.“ Vgl. auch Söding, Einheit, 396. 121 Vgl. Gordon, J. K., Divine Scripture in Human Understanding. A Systematic Theology of the Christian Bible, Notre Dame 2019, 29 f. „Christian Scripture does not fall from heaven ready-made. The histories of the texts that human agents have brought together, edited, and translated in our modern versions are rife with the mysterious, the intriguing, and the banal. It is necessary to understand and to account for both the human and divine agencies at work in this process.“ Gordon rezipert vor allem B. Lonergan.

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chen Bibel besteht darin, „to locate Scripture within Christian beliefs about the economic work of the God attested in those texts.“122 Dabei rächt sich leider eine fehlende Sensibilität für das AT, insofern der christliche Glaube an den dreifaltigen Gott sich zunächst selbst innerhalb des Verständnishorizonts der Hl. Schriften Israels verorten musste (und muss). Für den Kanon trifft zu, was Gordon einschärft: „we cannot understand what Scripture is unless we know where it is located.“123 Der christliche Kanon ist also im christlichen Glauben und seiner Tradition zu verorten. Umgekehrt muss man dann allerdings auch sagen: Man weiß nicht, was christlicher Glaube bedeutet, wenn dieser sich nicht im Kontext der vorgegebenen Schrift seiner selbst vergewissert. Dass das AT bzw. die Hl. Schriften Israels zunächst jedoch nicht im entfalteten Trinitätsglauben und seinem Verständnishorizont124 zu verorten sind, gerät aber kaum in den Blick. 125 Eine jüdische Lesart und damit ein ebenso legitimer wie potentiell bereichernder Verständnishorizont zur Lektüre der Schrift wird somit ausgeschlossen. Denn versteht man „the rule of faith as a hermeneutical framework for engaging Scripture“126 und vergisst dabei völlig, dass die christliche regula fidei (wie das spätere trinitarische Bekenntnis) auf der Basis der vorausgehenden Schrift Israels erst entfaltet und gegen Marcions Gottesbild verteidigt wurde, so besteht die Gefahr, dass die von Gordon hervorgehobene Entwicklung des christlichen Glaubens a priori von ihrer ursprünglichen Referenzgröße – der Schrift als Zeugnis vom Handeln Gottes in der Geschichte – gelöst wird, um dieser dann umgekehrt als entscheidender Deutungsrahmen zu dienen und die Einheit der Schrift daraus künstlich zu konstruieren.127

122 Gordon, Divine Scripture, 264. Weil es für systematische Theologie notwendig sei (vgl. 80), nimmt er eine theozentrisch-soteriologische (trinitarische) Priorisierung vor, die der Interpretation der Schrift als ultimativer Referenzrahmen dienen soll. 123 Gordon, Divine Scripture, 31. 124 Gordon, Divine Scripture, 35, spricht vom „Christian horizon“ und rekurriert auf das Glaubensbekenntnis. 125 Vgl. Gordon, Divine Scripture, 79 f. 126 Vgl. Gordon, Divine Scripture, 264. 127 Vgl. Gordon, Divine Scripture, 243. „The present account assumes that Scripture can and does have its unity in Christ, […] but such an approach necessarily leaves open more questions than it closes. The ongoing task of grasping the unity of Scripture can only take place in adequate horizons of understanding and judgement.“ Leider bleiben diese Horizonte subjektiv eingefärbt.

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Wer eine zeitgenössisch adaptierte regula fidei nach beliebigen systematischen Kriterien128 aktualisiert und als hermeneutischen Referenzrahmen für die Lektüre der Bibel heranziehen will, betreibt faktisch mehr Eisegese als Exegese. Dagegen sieht das II. Vaticanum mit vollem Recht die ursprüngliche Reihenfolge darin, dass – umgekehrt – auf der Basis einer wieder und neu gelesenen und interpretierten Hl. Schrift in ihrer Einheit und Gesamtheit der christliche Glaube und seine Tradition für die jeweilige Zeit neu ausgedrückt und ausformuliert werden müssen. Der hermeneutische Referenzrahmen für diese Lektüre der Schrift ist jedoch nicht nur eine wie auch immer aktualisierte – und nie statisch ausformulierte – regula fidei, sondern der gesamte Verständnishorizont und lebensweltliche Kontext der kirchlichen Glaubensgemeinschaft, die sich im kritischen und konstruktiven Dialog mit ihrer jeweiligen Zeit und Umwelt befindet.129 Und weil dieser umfassende Verständnishorizont in seiner hermeneutischen Vielfalt und Pluralität einen in sich ruhenden christlichen Glauben immer wieder herausfordert, führt dessen Aktualisierung in Auseinandersetzung mit der Schrift und der (sie rezipierenden und deutenden) Tradition in der Tat zu einer Selbsttranszendenz, die vom bleibend Anderen und Fremden – eben auch der Stimme Israels – provoziert wird. Auf diese Weise wurde und wird die Kirche jenseits ihrer Binnenlogik mit ihrer eigenen Genese und Dynamik konfrontiert, die sich schon im zweieinen Kanon spiegelt, der untrennbar mit dem Bekenntnis verbunden ist, aber durch dieses nicht auf eine einheitliche systematische Linie gebracht werden kann. Es bleibt also die korrelative Spannung einer lebendigen Glaubensgeschichte, die theologische Kontinuität und Diskontinuität, Einheit

128 Gordon, Divine Scripture, 81, verweist selbst darauf: „There is not, of course, some objective conception of the work of the Triune God in history out there in the world. Any perspective that locates engagement with Scripture within the work of the Triune God will inescapably consist of human understandings and judgements concerning the contours of that divine work. […] We cannot escape from this subjective mediation.“ Dient die Ausbildung des Bibelkanons als Objektivation und Normierung des kirchlichen Glaubensbewusstsein aber nicht gerade der Eindämmung eines Subjektivismus, indem die Entwicklung und Entfaltung des Glaubens an den Kanon gebunden ist? Alle „subjective horizons“ (236) des christlichen Glaubens bleiben auf diese Norm verwiesen. Auch für Gordon korreliert die „subjectivity of the ongoing process of scriptural interpretation“ mit dem geschriebenen Wort Gottes (vgl. 243). Dies gilt dann aber auch für das erst später ausdifferenzierte trinitarische Dogma in seiner konkreten Gestalt, das seiner Meinung nach doch den Referenzrahmen für jede Schriftauslegung liefert. 129 Das gilt in besonderer Weise für den Dialog mit dem Judentum.

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und Vielfalt zu verbinden vermochte, um sie in der Begegnung mit Jesus Christus dynamisch zu bündeln und auf Zukunft hin zu öffnen. Die Päpstliche Bibelkommission betont in ihrem Schreiben von 2001, dass das Verhältnis von Altem und Neuem Testament durch „Kontinuität, Diskontinuität und Progression“ bestimmt ist.130 Ch. Böttigheimer131 ist zuzustimmen, dass diese Verhältnisbestimmung „differenzierter“ sei als das überkommene und der komplexen Relation von AT und NT nicht gerecht werdende, einlinig-evolutiv interpretierte Schema „Verheißung – Erfüllung“.132 Doch könnte der Begriff Progression auch leicht dahingehend missgedeutet werden, dass das Alte Testament als eine minderwertige Entwicklungsstufe auf dem Weg des Fortschritts hin zum Neuen überholt wird. Idealistische Geschichtsbilder und antisemitische Affekte ließen solch evolutive Synthesen der Überbietung zu, sie entsprechen jedoch in keiner Weise dem Verhältnis von Altem und Neuem Bund, bzw. dem Selbstverständnis des Neuen Testaments.133 Die gemeinte Progression ist zunächst neutral im Sinne der Dynamik einer lebendigen Glaubensgeschichte zu verstehen, die das Alte keineswegs als überholt abwer130

Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 64 f. Vgl. Böttigheimer, Die eine Bibel, 157. Warum er in seiner Kommentierung die Reihenfolge in „Diskontinuität, Kontinuität und Progression“ umdreht, bleibt fragwürdig. Er spricht von „Relativierung, Universalisierung und Erfüllung der Schrift Israels.“ Hier besteht die Gefahr, dass solche „Relativierung“ den bleibenden Wert und die Eigenständigkeit des atl. Glaubenszeugnisses preisgibt, wenn es an sich eben nur relativ ist. Das sieht die Päpstliche Bibelkommission (Das jüdische Volk, Nr. 3) anders: „Die Schriften des Neuen Testaments geben sich an keiner Stelle als etwas grundlegend Neues aus. Sie erweisen sich vielmehr als tief in der langen Glaubenserfahrung Israels verwurzelt, wie sie sich in unterschiedlicher Form in den Heiligen Büchern widerspiegelt, die die Schrift des jüdischen Volkes ausmachen. Das Neue Testament erkennt diesen eine göttliche Autorität zu. Diese Anerkennung der Autorität der Heiligen Schriften Israels kommt in unterschiedlicher Weise – teils ausdrücklich, teils implizit – zum Ausdruck.“ Böttigheimer sieht mit dem evangelischen Dogmatiker W. Härle das „spezifisch Christliche“ in dieser Aussage „zu wenig“ berücksichtigt, „nämlich die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, die die Autorität des Alten Testamentes begründet und zugleich begrenzt.“ (158) Diese Sichtweise übersieht aber, was die Bibelkommission erkennt: Das Christusbekenntnis entfaltet, deutet und legitimiert sich vor der Autorität „der Schrift“ – für das NT und die junge Kirche eine Selbstverständlichkeit, sodass zunächst das NT relativ bzw. korrelativ an das AT rückgebunden ist, nicht umgekehrt. Das weiß auch Böttigheimer (vgl. 150; 163; 166). Die christliche Relecture und Auslegung des AT begründet nicht erst dessen Autorität für die junge Kirche. 132 Vgl. Dohmen, Hermeneutik, 204 f.; Huber, Das Neue im Alten, 297; Söding, Einheit, 355. 133 Vgl. Lehmann, Das Alte Testament in seiner Bedeutung, 163 –167. 131

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ten will.134 Denn das empirisch Neue, die Christuserfahrung, wird korrelativ an das Alte rückgebunden, um sich vor seinem Hintergrund zu verstehen; zugleich wirft es ein neues Licht auf dessen bisheriges Verständnis.135 Es ist und bleibt jedoch der Gott Israels, der sich in Christus selbst geoffenbart hat – eine Grundüberzeugung, die nicht nur im Neuen Testament, sondern z. B. auch bei Irenäus dazu führt, die Einheit von Schöpfungs- und Erlösungsordnung vehement zu verteidigen. Progression kann hier also nicht Überbietung im Sinne auflösender Erfüllung bedeuten, sondern nur eine realisierende Weiterentwicklung ein und desselben Glaubens auf der Basis neuer Erfahrungen, die an die Geschichte Gottes mit seinem Volk, wie sie in der Schrift Israels zeitbedingt, aber bleibend gültig zum Ausdruck gebracht wird, anknüpfen, darauf aufbauen und sie in ihren einzelnen Facetten in ein neues Licht rücken, das zu einer neuen Deutung berechtigt. Das lateinische Wort „progredi“, das hinter der Progression steckt, bedeutet zunächst einmal nur weitergehen, fortschreiten. Die Glaubensgeschichte und Tradition Israels geht weiter und schreitet voran. Sie setzt sich im Christentum auf eine andere Weise fort als im Judentum: Das Christentum findet in Jesus Christus nicht nur eine radikal neue – maßgebliche – Erfahrung in der Beziehung zu Gott, sondern auch seinen letzten Maßstab (regula fidei) für die aktive Gestaltung seiner eigenen Glaubensgeschichte, die nun getrennt von Israel verläuft und universal für alle Menschen zugänglich ist. Auch diese Glaubensgeschichte setzt sich allerdings dynamisch fort, sie entwickelt sich unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse und Begegnungen im Geiste Jesu Christi weiter – nach jenen Prinzipien, die der Herr selbst und seine Apostel in produktiver Auseinandersetzung mit ihrer bleibenden theologischen Norm, der Schrift Israels, paradigmatisch vorgelebt haben. Das NT transzendiert den Text des AT, insofern es die Grenzen seiner Rezeption auf die Völker und völlig neue Kontexte hin öffnet, dabei die Eigendynamik des Wortes Gottes entgrenzt und in Jesus Christus den universalen und eschatologischen Maßstab für jede weitere Entwicklung dieser offenen Dynamik erkennt. Das NT bezeugt die inkarnierte Geschichte vom menschlichen Wort Gottes in Person, das sich in seiner Bedeutung für uns nicht abschließend definieren lässt, sondern jeden Menschen je neu 134 Vgl. Dirscherl, Gottes Wort als Fülle, 62– 67; Wohlmuth, Hermeneutische Akzentverschiebungen, 129 f. 135 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 21. Vgl. auch Schröter, J., Das Alte Testament im Urchristentum, in: Gräb-Schmidt/Preul (Hg.), Das Alte Testament, 49 – 81.

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persönlich anspricht und beansprucht, indem es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft soteriologisch wirksam verbindet – im Glauben an den Gott Israels. Entsprechend gehen wir in den folgenden Kapiteln von der Normativität „der“ Schrift (AT) in ihrer bleibenden theologischen Eigenbedeutung aus (Kap. II.2) – ein Weg, der in der Dogmatik bislang kaum konsequent beschritten wurde, obwohl die Leserichtung des Kanons, seine Beschaffenheit und Genese ihn eindeutig vorgeben. Welche Prinzipien einer lebendigen Glaubensgeschichte lassen sich dabei im christlichen Kanon erkennen? In einem weiteren Schritt (Kap. II.3) nehmen wir anhand der neu hinzutretenden Verschriftung (des NT) die Schrifthermeneutik Jesu und dessen eigenen Umgang mit der Schrift in den Blick, um darin die zuvor gewonnenen Prinzipien der Korrelation von Alt und Neu zu verifizieren und zu präzisieren. Danach (Kap. III) stellen wir die Frage nach dem kreativen Potential des zweieinen Kanons und seiner Bedeutung als Paradigma einer lebendigen Überlieferung.

70 2. Der theologische Eigenwert des AT und seine bleibende Bedeutung 2.1. Sicherung der theologischen Kontinuität in Ursprung und Ziel Das Christentum knüpft mit der Beibehaltung der Hl. Schriften Israels als Altes Testament ganz selbstverständlich an das Gottesverständnis Israels an. Die bewusste Entscheidung der Kirche gegen Marcions Gottesbild bzw. gegen einen selektiven oder alternativen Schriftkanon136 ist eindeutig eine Entscheidung für den eigenen Ursprung, die Wurzel, aus der sich der christliche Glaube auch weiterhin nährt (vgl. Röm 11,16 –24).137 Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass mit der Annahme des Alten Testaments auch der Glaube an den einen und einzigen Gott des Lebens in einer verbindlichen Entscheidung der Kirche quasi mitdogmatisiert worden ist.138 Demnach ist der Glaube an diesen Gott – den Gott 136 Vgl. Dohmen, C., Zwischen Markionismus und Markion. Auf der Suche nach der christlichen Bibel. Aktualität einer scheinbar zeitlosten Frage: BZ 61 (2/2017), 182–202; Lieu, J. M., Marcion and the Making of a Heretic. God and Scripture in the Second Century, Cambridge 2015; Moll, S., The arch-heretic Marcion (WUNT 250), Tübingen 2010; Markschies, C., Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 245 –261. 137 Vgl. Tück, J.-H., Christentum ohne Wurzel? Warum das Alte Testament nicht aus dem Kanon herausgenommen werden darf, in: StZ 234 (1/2016), 43 –55. Zur historischen Relevanz angesichts des modernen Antisemitismus vgl. Lorenz, E., Ein Jesusbild im Horizont des Nationalsozialismus. Studien zum Neuen Testament des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, Tübingen 2017; Nicklas, T., The Bible and Anti-Semitism, in: Lieb, M./Mason, E./Roberts, J. (eds.), The Oxford handbook of the reception history of the Bible, Oxford 2011, 267–280. Die theologische Dignität des AT war bereits in den 1920er Jahren von den „amici Israel“ mit Nachdruck betont worden. Nicht nur die damalige Formulierung der Karfreitagsfürbitte („pro perfidis Judaeis“), sondern auch die Vorstellung einer Bekehrung der Juden wurde als anstößig empfunden. Vgl. Wolf, H., Papst & Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich, München 22009, 95 –105. Dohmen, Hermeneutik, 227, weist darauf hin, wie wichtig die Hermeneutik des AT „nach Auschwitz“ ist, insofern es sich für das Christentum dabei um einen schuldbehafteten „Identitätsverlust mit und durch Sprachverlust“ handelt. „Denn hätten Christen ihr Altes Testament als das, was es in der christlichen zweieinen Bibel ist, ernstgenommen und über dieses ihren Ursprung in Israel vor Augen behalten, dann wäre die Shoa nicht möglich gewesen, weil alle Christen eben diesen Angriff auf das Judentum als Angriff auf das, was ihnen ‚heilig‘ ist, hätten verstehen müssen.“ 138 Vorausgesetzt, man versteht den Begriff „Dogma“ in einem ursprünglich weiteren Sinn als es das neuzeitlich verengte Verständnis nahelegt, das sich auf lehramtlich vorgelegte Glaubenssätze bezieht. Zur Entwicklung des Dogmenbegriffs vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 22–51.

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Abrahams, Isaaks, Jakobs, der auch der Gott Jesu Christi ist, durch den er sich eschatologisch selbst offenbart hat – ein unumstößliches Dogma für die Urkirche und der Kanon (Maßstab) ihres Glaubens. Sie wahrt dadurch die theologische Kontinuität zum Glauben Israels, wie er sich in den Schriften Israels herauskristallisiert hatte.139 Dabei geht es nicht nur formal um die abstrakte Lehre des Monotheismus. Dieser Monotheismus setzt sich in Israel gegen Widerstände durch. Franz Mußner betont, dass Israel sich (seiner eigenen Überlieferung nach) dem einen und einzigen Gott geradezu widersetzte.140 Dieser sei keine „Idee“ Israels und werde nicht aus dessen Seele geboren. Vielmehr habe er sich „aufgedrängt“, er entspringe keinem desiderium naturale Israels. Er tritt von außen und angesichts von Krisenerfahrungen an das Volk heran. „Israel sträubte sich mit Händen und Füßen gegen JHWH. […] Das Bilderverbot traf sie schwer.“141 In einem spannungsvollen theologischen Erkenntnisprozess hin zum reflektierten Monotheismus142 setzt sich JHWH als der eine und einzige Gott durch, der Israel erwählt und einen Bund mit ihm schließt.143 Dieser Glaube impliziere, so Mußner mit Bezug auf E. Lévinas, eine Einsamkeit und „Fremdheit“ des Judentums inmitten einer Welt numinoser Mächte und Kulturen. Lévinas begründet dieses Phänomen so: „Der Monotheismus bricht mit einer bestimmten Auffassung des Heiligen. Weder vereinheitlicht noch hierarchisiert er diese vielen numinosen Götter; er negiert sie. Gegenüber dem Göttlichen, das sie verkörpern, ist er schierer Atheismus.“144 Die Stimme Israels und seine Schrift führten letztlich hin zu jenem Monotheismus, der in seiner theologischen Innovation „nicht nur Abscheu vor den Götzen, sondern Gespür für die falschen Weissagungen“ ist.145 139 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 23 ff.; 31; 64 f.; Böttigheimer, Die eine Bibel, 156. 140 Vgl. Mußner, Das Alte Testament, 103 –109. Ähnliche Beharrungskräfte finden sich später auch in der Kirche. 141 Mußner, Das Alte Testament, 108. 142 Vgl. Zenger, E., Der mosaische Monotheismus im Spannungsfeld von Gewalttätigkeit und Gewaltverzicht. Eine Replik auf Jan Assmann, in: Walter, P. (Hg.), Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott (QD 216), Freiburg i. Br. 2005, 39 –73. 143 Mußner weist deutlich darauf hin, dass dies kein Prozess Gottes anhand der Geschichte sei, wie etwa im System Hegels, sondern eine Veränderung im Bewusstsein Israels. 144 Lévinas, E., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt a. M. 1992, 25. 145 Vgl. Lévinas, Schwierige Freiheit, 166; vgl. 40.

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In ähnlicher Weise sieht Eckhard Nordhofen im Monotheismus eine religionskritische Dynamik. Diese sei eng mit dem Schrifttum verbunden. In der Unterscheidung von wahr und falsch liege „die Kernidee aller Aufklärung“, die nicht zwingend dazu führen müsse, „im Besitz“ der Wahrheit zu sein und sie dann anderen gewaltsam abzusprechen.146 Er setzt sich dabei kritisch von Jan Assmanns These zur „mosaischen Unterscheidung“147 ab und differenziert zwischen einem „usurpatorischen und einem privativen Monotheismus.“148 Während ersterer nämlich vorgibt, durch eigene Frömmigkeit und Gesetzestreue die Gedanken Gottes zu kennen, sei der privative Monotheismus dadurch gekennzeichnet, dass er die „Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung“ wahrt, was auch im „Namen“ Gottes – JHWH – zum Ausdruck komme, der „das Allerheiligste Israels“ sei und deswegen bis heute nicht ausgesprochen wird.149 Diese spannungsvolle Dynamik ist entscheidend. Gegen jede Form von Götzen und deren instrumentelle Funktionalität stehe ein biblischer Aufklärungsprozess, der in einer Alteritätserfahrung mit dem Fremden konfrontiere.150 Die Schrift könne in diesem Zusammenhang als „Medium der Differenz“ gelten, insofern sie die Präsenz und Vorenthaltung Gottes in seiner Unverfügbarkeit medial vermittelt und zum Ausdruck bringt, ohne (wie das Götterbild) als Darstellungsmedium selbst mit Gott verwechselt zu werden.151 Die Schrift ermögliche insofern den monotheisti146 Vgl. Nordhofen, E., Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus, Freiburg i. Br. 2019, 19 f. 147 Vgl. Assmann, J., Monotheismus und die Sprache der Gewalt, in: Walter (Hg.), Das Gewaltpotential, 18 –38. 148 Nordhofen, Corpora, 19. 149 Nordhofen, Corpora, 20. Darin liege auch das Anliegen „negativer“ Theologie. 150 Vgl. Nordhofen, Corpora, 21; 96; 98; 78 – 81. Ebenfalls mit Bezug auf Lévinas. 151 Vgl. Nordhofen, Corpora, 84; 88 f.; 114. Dass die Schrift in dieser medialen Eigenschaft die Götterbilder substituiere, sei die Voraussetzung dafür, dass sich das monotheistische Gottesverständnis in seiner absoluten Neuheit durchsetzen könne. „Erst dieser Medienwechsel erzeugte den kultfähigen Monotheismus.“ (114) Dies sei jedoch verbunden mit einer „Grapholatrie“, sodass der Schriftkult den Bilderkult ersetze. Ob Nordhofens unterschiedliche Bewertung der Schrift in Griechenland und Israel zutreffend ist, darf hinterfragt werden. Leider übersieht er, dass seine Kritik eine bestimmte (keineswegs alternativlose) Schrifthermeneutik und -anwendung, nicht die Schrift per se trifft; ebenso dass für den von ihm postulierten Medienwechsel hin zum „Brot des Lebens“ und der Inkarnation – wie bei jedem Sakrament – die In-forma-tion der Materie nur durch den Text und seinen Kontext denkbar ist. Das Trägermedium Brot/ Mensch bleibt (die Liturgie und katholische Sakramentenlehre sind sich dessen bewusst) weiter an das Medium Schrift, ihren narrativen und informativen Rahmen rückgebunden, um seine performative Wirkung entfalten zu können. Andernfalls be-

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schen Widerspruch zu allen selbstgemachten Götterbildern und ihrem stabilen Funktionalismus. Nach Mußner, dessen Ansatz besondere Sensibilität für die Eigenständigkeit der Schriften Israels als Bezugsnorm des NT zeigt, gilt JHWH selbst als „Stifter“ seines Volkes, das er erwählt und bei dem er sich durch immer neues, nach vorne hin offenes Handeln ebenso durchsetzt, wie er es aus neutestamentlicher Sicht schließlich in seiner gesamten Schöpfung tun wird.152 Dieser offene und dynamische Prozess spiegelt sich auch in der Kanongenese: „Dieser Durchsetzungsprozess äußert sich nach dem Zeugnis der Bibel als Widerspruch und Rettung.“153 Unabhängig von den exegetischen Beobachtungen Mußners vertritt Jean-Luc Marion aus einer phänomenologischen Perspektive heraus die These, dass göttliche Offenbarung immer geprägt sei von der Signatur des Widerstandes.154 Auch wenn hier das Moment der Kontinuität – das biblische Offenbarung eben auch auszeichnet und schon allein durch kanonische, intertextuelle Bezüge und Wiederholungen bekannter Gotteserfahrungen gegeben ist – bei Marion teilweise in den Hintergrund tritt, sodass der Widerstand bei ihm geradezu zum Kriterium der Offenbarung in ihrer Authentizität zu werden droht, lässt sich der Grundgedanke in gewisser Hinsicht durchaus nachvollziehen. Denn gerade das Neue offenbart sich dadurch, dass es auf Widerspruch stößt und diesen gleichsam produktiv, ja kreativ provoziert.155 Die sich letztlich durchsetzende und auch in der kanonischen Endgestalt des Alten Testaments niederschlagende Grundüberzeugung, dass JHWH selbst der kreative Lebensquell, der tragende Grund und Garant für die letzte Erfüllung seines Volkes wie auch der gesamten Schöpfung dürfte es ja keiner Verschriftung des Christusereignisses im NT als Grundlage weiterer Überlieferung. Dass Nordhofens „neues“ Gottesmedium (man denke an die biblische Rede von der „imago Dei“) ohne seinen erinnerten Kontext allzu leicht symposiolatrisch werden dürfte, zeigt ein Blick auf die paulinische Kritik in 1 Kor 11,17–34. Die Offenbarung des einen Gottes bleibt, sofern ihre sinngebende Deutung und Bedeutung (für uns) tradierbar sein soll, weiterhin auf die Schrift angewiesen, weil – auch angesichts der inkarnatorischen Vermittlung der Gottespräsenz in Christus und seiner Gemeinde – die „Mnemosyne“ nur darin bewahrt werden konnte und in ihrem narrativen Charakter nicht substituierbar ist. 152 Vgl. Mußner, Das Alte Testament, 111. 153 Mußner, Das Alte Testament, 111. 154 Vgl. Marion, J.-L., Das Erscheinen des Unsichtbaren. Fragen zur Phänomenalität der Offenbarung, Freiburg i. Br. 2018, 31–50. 155 Vgl. Marion, Das Erscheinen, 35 –38.

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ist, wurde vom Christentum übernommen und zweifellos christologisch erweitert und aktualisiert. Das Wachsen dieser Überzeugung, dass JHWH selbst als Ursprung und Ziel der menschlichen Freiheitsgeschichte alle ihre Akteure – auch „die Völker“ – lenkt, kann mit Blick auf den Kanon der Hl. Schriften Israels kaum bestritten werden. Diese Überzeugung wird aus christlicher Sicht nur fortgeführt und an Jesus Christus gebunden. Mußner führt für diese auf das Alte (und Neue) Testament zutreffende Signatur von „Widerspruch und Rettung“156 durch JHWH sehr markante Beispiele aus AT und NT an, die hier in einer Tabelle entsprechend sortiert und – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – geringfügig ergänzt* werden: Durchsetzung gegen das Nichts Finsternis und Chaos den Turmbau in den Himmel die gottwidrigen Weltmächte den Pharao und seine Pläne die Baalim und den Fruchtbarkeitskult die heidnischen Götter und Götzen Not und Verzweiflung* die Satansherrschaft die Macht der Sünde den Tod den „Antichrist“ Spaltung und Zwietracht*

Rettung und Befreiung durch sein Wort* aus der Sintflut aus der Verfallenheit an die Sünde aus der Hand politischer Mächte aus der Hand des Pharao aus der Verfallenheit an den Tod durch den einen und einzigen Gott* der Geplagten, Klagenden* und Kranken durch Aufrichtung der Herrschaft Gottes der Schöpfung aus ihrer Verderbnis durch Kreuz und Auferstehung Jesu ins ewige Heil „ganz Israels“ am Ende der Zeiten

„Dabei ist zu beachten, dass JHWH sich gerade durch seinen Widerspruch als der Rettende erweist.“157 Durch seine Erwählung und seinen Bund verleiht JHWH seinem Volk Identität und Bestand, auch gegen dessen eigenen Widerstand und Rückfall in Götzenkult. Der Prozess der Durchsetzung bzw. die offene Hoffnung auf das Ziel einer endgültigen Durchsetzung JHWHs ziehen sich wie ein roter Faden – oder besser wie eine Perlenkette mit vielen Knotenpunkten – durch die Schriften Israels. Nicht nur im Makrokontext. Dabei wird dem Erwartungshorizont dessen, was teilweise als vermeintliche Erfüllung gilt, durch neue Erfahrungen, relectures und Fortschreibungen teilweise auch widersprochen. Es gibt Momente der Diskontinuität, die aber in eine grundlegende, Kon156

Vgl. Mußner, Die Auslegung des AT, 112 f.; 116. Mußner, Die Auslegung des AT, 113. Vgl. 120: Dies sei „nicht bloß der Glaube und die Hoffnung der Christen, sondern auch der Juden.“ 157

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tinuität und Identität stiftende Erfahrung der Rettung und Bewahrung durch Gott eingebunden sind und in vielstimmiger Pluralität zum Ausdruck gebracht werden. Das Glaubenszeugnis und die hoffnungsvolle Rede von JHWHs rettendem Wirken gilt für Tora und Prophetie dabei genauso wie für die Weisheitsliteratur und Psalmen.158 „Gepriesen sei der Herr, Tag für Tag! Gott trägt uns, er ist unsere Rettung. Gott ist für uns ein Gott, der Rettung bringt, und JHWH, der Herr, führt heraus aus dem Tode.“ (Ps 68,20 f.) Nach Thomas Söding lässt die Bibel „Gott als die entscheidende Bezugsgröße des irdischen Lebens hervortreten“, das in all seiner Vielfalt zur Sprache kommt.159 „In Gott selbst, dem einen und einzigen, ist die Vielfalt des Lebens begründet, das er fortwährend neu erschafft, wie mit den Psalmen gebetet werden kann (Ps 19,3). Im selben Gott ist für die Gläubigen, die in der Bibel zu Wort kommen, auch die Hoffnung begründet, dass Not gelindert, Schuld vergeben, Wunden geheilt und sogar der Tod besiegt werden können. Es ist nach Paulus stets eine Hoffnung ‚wider Hoffnung‘ (Röm 4,18). Aber ihretwegen ist im Bekenntnis des einen Gottes auch die Option für eine Einheit begründet, die der Vielfalt nicht den Garaus macht, sondern ein Zuhause schenkt. Diese Hoffnung hält die Bibel aufrecht – in vielen Szenen voller Widersprüche, aber auch in ihrer ganzen Geschichte voller Dramatik und Spannungen.“160

Die theologisch komponierte Sammlung der Schriften weist gerade in ihrer Pluralität161 einen Bezugspunkt und ein theo-logisches Ziel auf, 158

Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 1, 124 f. Söding, T., Wegweiser der Heiligen Schrift. Der Kanon im Streit der Interpretationen, in: JBTh 31 (2016), 3 –23, 8; vgl. 6 f.: „ob ein Kind geboren wird (Jes 9,1– 6) oder ein Mandelzweig zu blühen beginnt (Jer 1,12 f.), ob ein Sturm sich erhebt oder ein Wind sich legt (1 Kön 19,1–13), ob ein Stern funkelt (Num 24,17) oder die Sonne scheint (Mt 5,45), ob eine Wunde schwärt (Jer 10,19) oder eine Tote aufersteht (Mk 5,35 – 43 parr.): Alles, was geschieht, wird in der Bibel an vielen Stellen auf Gott selbst zurückgeführt, auf seinen Willen, sein Wirken, seinen Plan, seine Gerechtigkeit und seine Liebe. Gott ist nicht der Konkurrent von Menschen, auch wenn Menschen sich oft genug als Konkurrenten Gottes sehen; er handelt für sie und an ihnen, aber nicht ohne sie, sondern mit ihnen und durch sie. Er wirkt in dem, was die Griechen ‚Natur‘ genannt haben und was für die Bibel Gottes Schöpfung ist, kein feinmechanisches Uhrwerk, sondern ein lebendiger Organismus, dem Gott Leben einhaucht, Atemzug für Atemzug.“ Dabei werde auch die Unverfügbarkeit und Geheimnishaftigkeit Gottes in seiner Dunkelheit (Jes 45,7) und Widerständigkeit, im Ringen zwischen Mensch und Gott und auf dem Weg durch Leid (Hiob) und Skepsis (Kohelet) vor Augen geführt. Alle Fragen, Zweifel und Leerstellen kommen zur Sprache und sind auf ein und denselben Gott bezogen, dessen Treue sich durch den Kanon hindurch immer wieder erweist. 160 Söding, Wegweiser, 5 f. 161 Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 2, 18: „Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die 159

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auch wenn es sich dabei weniger um eine statische oder literarische „Mitte“, sondern um eine situativ mitwandernde, theozentrisch-soteriologische Konzentration handelt: der Bezug zu JHWH selbst und seinem Wort im Dekalog, dem Herzstück der Tora, auf die hin und von der her die anderen Schriften letztlich kanonisiert werden.162 Stellt man also vom AT und seiner Struktur her (die es wesentlich von der Verbindung „Tora – Propheten“ übernommen hat163) die Frage nach einem entscheidenden Moment der Kontinuität, so stößt man unweigerlich auf den Kern der Tora und den Dekalog, der sich in biblisch einzigartiger Weise gerade dadurch auszeichnet, dass Gott selbst als sein Urheber gilt. So heißt es in Ex 20,2/Dtn 5,6: „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“

In diesem Brennpunkt alttestamentlicher Theologie findet sich also nicht nur die Durchsetzung JHWHs gegen den Widerstand des Pharao (und des eigenen Volkes, das murrt und sich Götzen gießt), sondern auch Israels identitätsstiftende Erfahrung der Rettung schlechthin, nämlich der Exodus.164 Diese gesamte Dynamik der Durchsetzung JHWHs wird imHauptlinien, die sich im Zentrum des alttestamentlichen Verständnisses von Gott kreuzen, von solch einer Verschiedenartigkeit und solch einer Intensität sind, dass die Gefahr groß ist, das Glaubenszeugnis durch moderne systematische Kategorien zu verflachen. Nichtsdestoweniger gibt es deutlich einige einheitsstiftende Faktoren, charakteristische Modelle und starke Elemente der Zusammengehörigkeit, die der Atomisierung des Ganzen in unverbundene Fragmente widerstehen.“ Der Name Gottes als personal ansprechbares „Du“, der ewige Bund und der (nicht abstrakt ontologisch zu verstehende) Monotheismus des sich selbst offenbarenden Gottes in der Spannung von Immanenz und Transzendenz sind für Childs solche Elemente. 162 Zum Muster der Kanonisierung späterer Kanonteile nach der „Leitidee der Tora“ vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 68; 91; 94. Vgl. Steck, O. H., Der Abschluss der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons (BThSt 17), Neukirchen-Vluyn 1991. 163 Dohmen, C., Der Kanon des Alten Testaments. Eine westliche hermeneutische Perspektive, in: Dimitrov, I. Z., u. a. (Hg.), Das Alte Testament als christliche Bibel in orthodoxer und westlicher Sicht (WUNT 174), Tübingen 2004, 277–297. 164 Vgl. Nicklas, Zeit, 364. Der Gedanke, „dass sich im Ereignis der Befreiung Israels aus der Tod bringenden Macht Ägyptens im Exodus Gott nicht nur als derjenige offenbart, der er an sich, sondern als derjenige, der er für immer für Israel ist und sein wird, führt dazu, dass Gottes Handeln in der Geschichte Israels immer wieder mit dem Paradigma des Exodus beschrieben werden kann. Exodus ist so nicht nur der Auszug aus Ägypten, sondern auch die Befreiung aus der Babylonischen Gefangenschaft. Will man die Story, die uns die Bibel erzählt, historisch-kritisch hinterfragen, ist dieser ‚Zweite Exodus‘ vielleicht historisch gar der erste gewesen, von dem aus der erste Exodus als identitätsstif-

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mer wieder aktualisiert und kontextualisiert. Vom Pessach bis hin zur Osternacht. Es ist das liturgische „Heute“, das schon in Dtn 5,3 anklingt.165 Es schafft die synchronisierende Vergegenwärtigung der soteriologischen Erfahrung über alle chronologisch-linearen Zeitgrenzen und Einzelsituationen hinweg. Zwar gibt es eine „Progression“ im Verlauf der Geschichte; sie läuft weiter, aber ist nicht vergangen oder überholt. Denn das Heute schafft durch Gedenken und Aktualisierung ein Bewusstsein der Gleichzeitigkeit und Verbundenheit – ein Aggiornamento im wörtlichen Sinn. Die ersten (unmittelbar auf Gott bezogenen) Weisungen des Dekalogs untermauern dabei eine soteriologische Priorisierung und Konzentrierung, aus der sich dann ethische (bei den Propheten auch sozialethische) Konsequenzen für die Mitmenschen ergeben. Gegen alle Widerstände bahnt sich JHWH seinen Weg, um für sein erwähltes Volk da zu sein (vgl. Ex 3,14) und ihm neue Wege zu erschließen. Auch in Zukunft. Er handelt nämlich weiterhin in dieser Geschichte, denn er ist ein Gott der Lebenden und nicht der Toten (Mk 12,27). Tobias Nicklas macht deutlich, dass „Zeitmodelle, die von einem einlinigen, unumkehrbaren Vorher und Nachher in quantitativ messbar gleichmäßigen Zeitvorstellungen ausgehen, biblischen Texten nur in Teilen angemessen sind“.166 In der von der Bibel erzählten Story Gottes mit der Welt, die aus vielen Stimmen und Geschichten besteht, findet sich eine Geschichtsdeutung, in der die Zeit beinahe „zyklisch“, sich zwar nicht wiederholend, aber doch geradezu „reimend“ verstanden werden kann.167 Dabei haben die verschiedenen biblischen Zeitverständnisse alle „mit dem Verhältnis des in die Zeit geworfenen Gottesvolks zum ewigen und gleichzeitig lebendigen Gott zu tun.“168 Entscheidend ist die Präsenz des nicht nur in der Vergangenheit oder in der Zukunft (heils-)wirksamen Gottes. Die Beobachtung Mußners, dass JHWH sich in den Perspektiven der Bibel immer wieder und doch je neu gegen alle Widerstände durchtende Story rückprojiziert ist.“ Vgl. Frevel, C., Geschichte Israels, Stuttgart 22018, 57– 66. Der Exodus wird zum sinn- und identitätsstiftenden „Gründungsmythos“ und Inbegriff der Befreiung, der von Anfang an mit JHWH verbunden war. 165 Zur liturgischen Dimension dieses „Heute“ vgl. Wohlmuth, J., Jesu Weg – unser Weg. Kleine mystagogische Christologie, Würzburg 1992, 164 –167; 199. 166 Nicklas, Zeit, 355. Auch wo ein lineares Zeitverständnis gegeben ist, finden sich in der Bibel teilweise gegenläufige Zeitdeutungen (vgl. 363 f.). 167 Vgl. Nicklas, Zeit, 364 ff. 168 Nicklas, Zeit, 367.

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setzt, deckt sich also mit der „reimenden“ und anamnetisch orientierten Erzählmatrix, die eine bunte Vielfalt zulässt und diese dennoch zusammenbindet: Was ein für alle Mal geschehen ist, hat ein ums andere Mal Bedeutung.169 Darin liegt zweifellos eine gewisse Kontinuität, die durch eine bestimmte Qualität von erfüllter und erinnerter Zeit bestimmt wird. Damit erübrigt sich eine antithetische Gegenüberstellung von AT und NT nach dem Muster von Verheißung und Erfüllung.170 Die eschatologische Verdichtung der Präsenz Gottes in Jesus Christus als sakramentale „Fülle“ der Zeit schließt Gottes erfüllende und heilswirksame Präsenz in der Geschichte Israels zuvor nicht aus. Davon konnten spätere Präexistenzchristologien sogar hymnische Lieder singen. Will man die theologische Vielstimmigkeit und Eigenständigkeit der biblischen Texte wirklich ernst nehmen, so dürfen diese – zumindest aus exegetischer Sicht – nicht im Nachhinein in linear-heilsgeschichtliche Evolutionskonzepte gepresst werden. JHWH, der sich in seiner unvorhersehbaren Offenbarungsgeschichte (die als Heilsgeschichte nicht zwingend linear-evolutiv gedacht werden braucht, sondern auch sakramental-kairologisch verstanden werden kann171) immer wieder erfahrbar durchsetzt, entspringt nicht ontologischer Reflexion oder funktionaler Projektion; nicht der Philosophie und erst recht nicht gnostischer Esoterik.172 Er manifestiert sich in soteriolo169

Vgl. Nicklas, Zeit, 368. Vgl. Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Schriftverständnis und Schriftgebrauch. Abschließender Bericht, in: Pannenberg/ Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis III, 287–389, 314: „In der Perspektive eschatologischer Theozentrik gewinnt die Gegenüberstellung von ‚Verheißung‘ und ‚Erfüllung‘ vielmehr eine gesamt-biblische Dynamik, die – in ihrer soteriologischen Finalität – der Suche nach der Einheit des Alten und Neuen Testaments wichtige Wege weisen kann.“ Die theologische Einheit von AT und NT erschließe sich darum in einer theozentrischen Perspektive (vgl. 317 f.), wobei das AT nicht nur Vorgeschichte oder offene Verheißung bedeutet, was nicht immer deutlich genug klar gemacht wird. 171 Vgl. Weißer, M., Der Heilige Horizont des Herzens. Perspektiven einer trinitarischen Soteriologie im Anschluss an Karl Rahner (FThS 186), Freiburg i. Br. 2018, 374 –379. 172 Vgl. Metz, J. B., Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg i. Br. 32006. Metz stellt die Frage, warum der Glaube an den einen und einzigen Gott sich ausgerechnet in Israel durchgesetzt habe. „Warum nicht das kulturell glanzvolle Ägypten? Warum nicht das mächtige Persien? Warum nicht, ja warum z. B. nicht gleich Griechenland?“ (63 f.) Entscheidend sei Israels „Unfähigkeit, sich durch Idealisierung und Mythisierung von den Schrecken der Wirklichkeit zu distanzieren, seine Unfähigkeit und auch Unwilligkeit, sich durch einen mythischen ‚Reichtum im Geiste‘ über die eigene Leidensgeschichte und über die eigenen 170

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gischen Erfahrungen – die narrativ erinnert, aber immer wieder neu gemacht werden können und gemacht werden müssen. Die damit verbundene soteriologische Eigendynamik geht nicht in einem theoretischen Monotheismus auf.173 Der Gott Israels ist als Gott des erhofften, antizipierten und erfahrenen Heils immer ein Gott der Ethik.174 Gottes Weisung dient dem Leben. Spannend und spannungsvoll wird es, wenn das Wort Gottes auf den Wortlaut seines menschlichen Zeugnisses reduziert und verabsolutiert wird. Die damit verbundenen Konflikte (und Widerstände) werden uns im Blick auf die Schrifthermeneutik Jesu – analog zu den Propheten – noch beschäftigen, denn auch Jesus setzt mit seiner Verkündigung denselben Gott voraus: Er verkündigt vehement den Durchbruch der Gottesherrschaft, die sich selbst gegen alle denkbaren Widerstände durchsetzen wird.175 Wo die soteriologische Dynamik JHWHs in einem statischen Legalismus oder in abstrakter Exegese der Schriftgelehrten zu ersticken droht, setzt Er selbst sich durch; wo der universale Heilswille des Schöpfers exklusivistisch verengt wird, prallt Er auf Widerstand; wo immer JHWHs lebendige und lebensspendende Dynamik sistiert und sediert, limitiert und kontrolliert werden soll, bahnt sie sich selbst neue Wege: Deus semper maior. Ängste zu erheben.“ (66) „Im Sch’ma Israel – im ‚Höre Israel, dein Gott ist Einer‘ von Dtn 6,4 – bricht das Gottesbekenntnis in einzigartiger Weise in der Geschichte der Menschheit durch, jene Rede von Gott, der sich Paulus ausdrücklich anschließt (vgl. 1 Kor 8,4). Und siehe da: Das biblische Israel zeigt sich als eine ausgesprochene Theodizeelandschaft, sozusagen als Volk mit besonderer Theodizee-Empfindlichkeit.“ (8 f.) Ist es Zufall, dass der reflektierte Monotheismus im engen Zusammenhang mit der Desillusionierung des Exils steht und dass genau in diesem Zeitraum entscheidende Weichen für die Genese der Schriften Israels gestellt werden? 173 Vgl. Kraus, H. J., Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1983, 142 f.: „Gott kommt in Israel zur Welt. Keine christliche Erkenntnis Gottes kann auch nur einen Augenblick von diesem Geschehen absehen. […] Der Name und das Kommen Gottes enthalten den stärksten Widerspruch [!] gegen jeden abstrakten Monotheismus, der so oft als allgemeiner Begriff der konkreten Offenbarung vorgeordnet worden ist. Die Selbsterschließung des Namens Gottes und die Geschichte seines Kommens können mit theoretisch-monotheistischen Kategorien nicht erfasst werden.“ 174 Vgl. Lévinas, Schwierige Freiheit, 29; 40 f. 175 Bei ihm findet sich daher auch das Moment des Widerspruchs, zumal er selbst Widerstände der Basileia überwindet. Vgl. Mußner, Die Auslegung des AT, 115 f. Jesus rettet im Namen des göttlichen Vaters, indem er Kranke heilt, Dämonen austreibt, Tote erweckt und durch Kreuz und Auferstehung das ewige Heil vermittelt, das mit der Gottesherrschaft verbunden ist. Zur ntl. Deutung des Evangeliums als Rettung vgl. Mußner, Die Auslegung des AT, 116 f.

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Gegen alle Widerstände drängt JHWH – bereits in der Dynamik des AT – hin zur Universalität seines Heils, das aus christlicher Sicht durch Jesus Christus realsymbolisch konkretisiert und eschatologisch letztgültig verwirklicht worden ist. Gegen präsentische Ersatz-Soteriologien wie auch gegen triumphalistisch-apathische Siegerideologien176 bleibt das Christentum daher dem eschatologischen Bewusstsein verpflichtet, dass diese Geschichte ihr endgültiges Ziel nur in JHWH selbst findet.177 Das Heil wird durch Jesus Christus für alle erfahrbar vermittelt und im Heiligen Geist subjektiv angeeignet, besteht aber letztlich in der visio Dei, im Vater, also JHWH selbst, dessen Wirklichkeit das soteriologische Zentrum markiert.178 Wenn ihm alles unterworfen ist, „wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei.“ (1 Kor 15,28) Jan-Heiner Tück betont daher: „Gerade an diese Ausständigkeit der prophetischen Heilsverheißungen haben Juden Christen immer wieder erinnert – und damit einer allzu triumphalistischen Erfüllungs-Christologie ein notwendiges Korrektiv entgegengehalten.“179 Das Bewahren des Alten Testaments bewahrte also wiederum das Christentum selbst davor, seine ursprüngliche Identität und finale Intention preiszugeben.180 Es mahnt zu einer theologischen Kontinuität in Ursprung und Ziel des christlichen Glaubens.181 Dieser will in der Nachfolge Christi gelöst und 176

Vgl. Metz, Memoria Passionis, 59. Vgl. Rahner, K., Die unverbrauchbare Transzendenz Gottes und unsere Sorge um die Zukunft, in: Ders., Schriften zur Theologie XIV, Einsiedeln u. a. 1980, 405 – 421. 178 Vgl. hierzu: Weißer, Der Heilige Horizont; Ders., Die Frage nach Erlösung als Frage nach Gott. Perspektiven einer trinitarischen Soteriologie, in: ZKTh 140 (2018), 244 –262. 179 Tück, Christentum ohne Wurzel, 53. 180 Vgl. Dohmen, Erinnerungsgemeinschaft, 61; Pannenberg, W., Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, in: JBTh 12, 181–192; Gunneweg, Vom Verstehen, 37: „Das Erbe des Alten Testaments bewahrte das junge Christentum davor, als Mysterienreligion in geschichtsloser Mystik und im Mythos zu versinken oder als zeitlose Philosophie in ‚ewiger‘ Christuswahrheit zu erstarren. Es hielt auch als prophetisches Erbe das Bewusstsein wach, dass die Liebe zu Gott nicht in der Versenkung in Gott, sondern im Halten der Gebote, in der Liebe zum Nächsten und überhaupt in der Alltäglichkeit irdischen Lebens sich verwirklicht“. 181 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 21: „Was sich in Christus bereits erfüllt hat, das muss sich in uns und in der Welt noch erfüllen. Die endgültige Vollendung wird die des Endes sein, mit der Auferstehung der Toten und dem neuen Himmel und der neuen Erde. Die jüdische Messiaserwartung ist nicht gegenstandslos. Sie kann für uns Christen ein starker Ansporn sein, die eschatologische Dimension unseres Glaubens lebendig zu erhalten. Wir wie sie leben von der Erwartung.“ 177

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erlöst eine neue Beziehung zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – dem Vater Jesu Christi – vermitteln, der sich in der konkreten Geschichte geoffenbart hat und durch Christus für alle den Weg des Lebens weist, gegen alle Widerstände. Das Christentum ist keine geschichtsenthobene Doktrin, sondern bleibt (gerade wegen seines inkarnatorischen Wesens) auf seine theologische Wurzel verwiesen. Gegen jede gnostische oder polytheistische Versuchung ebenso wie gegen jede politisch-verweltlichte „Jesulogie“ steht mahnend der Monotheismus Israels – und zwar nicht nur als abstrakte traditions- oder religionsgeschichtliche Größe, sondern als das soteriologische Gravitationszentrum und Koordinatensystem jeder christlichen Theologie.182 A. H. Gunneweg verweist in diesem Zusammenhang auf ein Zitat von H. Graß: „Das Alte Testament ist das monotheistische Gewissen der Kirche. Es sperrt sich auch heute gegen einen Antitheismus, der Gott abschaffen, für tot erklären, und sich mit einem wie immer verstandenen Christus behelfen möchte, der schließlich zum bloßen Repräsentanten von Mitmenschlichkeit herabsinkt“.183

Franz Mußner stellt fest: „Die Botschaft, dass Gott der Rettende ist, ist also ein entscheidendes Element in der Antwort auf die Frage nach der Einheit der Bibel.“184 Das sieht die Päpstliche Bibelkommission ganz genauso: „Im einen wie im anderen Testament ist es derselbe Gott, der mit den Menschen in Beziehung tritt und der sie einlädt, in Gemeinschaft mit ihm zu leben; es ist ein einziger Gott, der auch die Quelle von Einheit ist; ein Schöpfergott, der verlässlich für seine Geschöpfe sorgt […]; vor allem ein Gott, der befreit und rettet, nachdem die Menschen, die er nach seinem Bild geschaffen hat, aufgrund ihrer Schuld elender Sklaverei verfal182 Vgl. Gunneweg, Vom Verstehen, 190: „Nie werden die Erscheinung und das Auftreten Jesu und die nachösterliche Christusverkündigung in der alten Kirche als Korrektur oder Kritik dieser monotheistischen Gottesauffassung verstanden.“ Ebenso Childs, Die Theologie, Bd. 2, 26 –34. 183 Graß, H., Christliche Glaubenslehre II, 97 f., zitiert nach Gunneweg, Vom Verstehen, 190. 184 Mußner, Die Auslegung des AT, 114; vgl. 119. Er verweist auf Westermann, C., Theologie des Alten Testaments in Grundzügen, Göttingen 1978, 28 –71, 33, wo es heißt: „In der Aussage, dass Gott der Retter ist, stimmen […] das Alte und das Neue Testament überein. Zu seinem Gottsein gehört im Alten wie im Neuen Testament, dass er der Retter ist.“ Vgl. auch Schnelle, U., Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 82014, 205. Für ihn gründet die sachgemäße Verhältnisbestimmung von AT und NT in der Wahrnehmung der „soteriologischen Dynamik des Offenbarungshandelns Gottes“, das beide Testamente kennzeichnet und verbindet.

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len sind.“185 Gott erweist sich als der Rettende, „welche Widerstände ihm auch entgegenstehen mögen und wie sehr sich Menschen ihm auch widersetzen mögen.“186 Dabei handelt es sich retrospektiv – aus der Sicht des Neuen Testaments – um einen „lange währenden, dynamischen Prozess, der seinen Niederschlag im ‚kanonischen Prozess‘ der Bibel Alten und Neuen Testaments gefunden und für immer im Kanon seine Fixierung und Dokumentierung gefunden hat.“187 In diesem dynamischen Offenbarungsprozess, von dem Mußner spricht, schaffe sich JHWH Glaubensgemeinschaften, Israel und die Kirche, die jeweils heilige Bücher haben. Diese seien „das Ergebnis eines langen Prozesses“, mit einer Vorgeschichte, die berücksichtigt werden muss.188 Mußner knüpft dabei an die Forschung von Christoph Dohmen und Manfred Oeming an, die im Endtext der Bibel das Produkt und Ergebnis eines dynamischen Prozesses sehen, den es bei der Auslegung zu berücksichtigen gilt und den wir genauer in den Blick nehmen müssen. Die innere Struktur der zweieinen christlichen Bibel, die an die schon bestehende Komposition „Tora – Propheten“ anknüpft, deren theologische „Grammatik“ sie internalisiert hat, bestätigt die Übernahme eines bereits als gesichert geltenden Gottesverständnisses und steht für die theozentrisch-soteriologische Kontinuität in Ursprung und Ziel.189 185

Das jüdische Volk, Nr. 85. Vgl. ebd., Nr. 84. 187 Mußner, Die Auslegung des AT, 117. 188 Vgl. Mußner, Die Auslegung des AT, 118. 189 Vgl. Dohmen, Der Kanon des Alten Testaments, 293. „Die innere Kanongrenze zwischen Tora und Nebiim stellt den Ort der hermeneutischen Weichenstellung für das Gesamtverhältnis dieser Schrift dar“. Auch wenn die Tora prophetisch rezipiert wird, ergibt sich die Leserichtung von der Tora zu den Propheten. „Darüber hinaus steht die zweieine christliche Bibel für das Bekenntnis zur Einheit und Einzigkeit Gottes […] dieser Gedanke ist aber auch schon prägend für die Komposition der Tora – Nebiim – Schrift gewesen.“ Dohmen verweist auf Chapman, S., The Law and the Prophets. A Study in Old Testament Canon Formation (FAT 27), Tübingen 2000, 148 f. „In sum, both the appendices to Deuteronomy and the appendices to Malachi – within their respective books and within the larger canon – function explicitly to combine Law and Prophets within a single ‚story‘ about God. The true God, the God of Israel, is the God who has given the Law and the Prophets to his people. Together, the Law and the Prophets represent the two ‚chapters‘ of his story – two dispensations within a single economy of God. For the deuteronomists, Israel’s theological ‚grammar‘ at its most basic was this: the God of Israel is the God of the Law and the Prophets. It was this deuteronomistic ‚theological grammar‘ which thus provided the origin, norm and goal of Old Testament canon formation.“ 186

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B. S. Childs betont, „dass die Einheit der zwei Testamente in erster Linie eine theologische ist.“190 Er stellt dabei das „theozentrische Herz der Schrift“ und dessen hermeneutische Bedeutung heraus.191 Die Beziehung des christlichen Glaubens zu den Schriften Israels (dem Alten Testament) ist daher eine genuin theologische und betrifft den Kern des christlichen Gottesverständnisses in seiner theologischen Identität.192 JHWH selbst gilt der Kirche als der eine Urheber (auctor) der gesamten Bibel, bei dem sich die narrativen und poetischen Fäden menschlicher Schriftsteller zu einem bunten und vielstimmigen Gesamtgeflecht (textus) verbinden.193 Bernd Janowski spricht hier in Anlehnung an Erich Zenger von einer „kontrastiven Einheit“194 der Schriften, Christoph Schwöbel von einer „referentiellen Einheit“ angesichts der theologischen Vielfalt.195 Auch Brevard S. Childs kann von einer „theologischen Kontinuität“ im Kanon der einen christlichen Bibel sprechen.196 Bei dieser Kontinuität handelt es sich, wie Janowski197 betont, nicht um ein historisch, 190 Childs, Die Theologie, Bd. 2, 446. Zugänge, die auf rein „formale Elemente der religiösen Kontinuität oder Diskontinuität“ abzielen, hält er für „unangemessen“. „Was die Testamente vielmehr unauflöslich aneinanderbindet, ist ihr Zeugnis von der gleichen göttlichen Realität, von der einen zugrundeliegenden Sache, die beiden Sammlungen innewohnt, und die nicht in relativierenden Kategorien von ‚Religion‘ enthalten sein kann. Die Schrift ist daher auch nicht auf sich selbst bezogen, sondern weist über sich selbst hinaus auf die Wirklichkeit Gottes.“ Biblische Theologie sei nicht nur deskriptiv, sondern auch konstruktiv und fungiere insofern als „Brückendisziplin zur Dogmatik“ (446). Dem ist zuzustimmen. Die Dogmatik dürfte gut beraten sein, auf konstruktive Kritik seitens der Exegese zu hören. 191 Vgl. Childs, Die Theologie, Bd., 2, 449. Ähnlich Böttigheimer, Die eine Bibel, 162. Vgl. auch Goldingay, J., Theological Diversity and the Authority of the Old Testament, Grand Rapids 1987, 27 f.: „It is historically certain, then, that the Jewish community believed that this scriptures were theologically coherent and that the divergent material they included was capable of coalescing into a form of unity, and the first Christians naturally shared such a belief.“ 192 Vgl. Schwöbel, C., Erwartungen an eine Theologie des Alten Testaments aus der Sicht der Systematischen Theologie, in: Janowski, B. (Hg.), Theologie und Exegese des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven (SBS 200), Stuttgart 2005, 156 –185, 164. 193 Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Einheit und Vielheit, 78, spricht mit Bezug auf E. Zenger und W. Kasper von einer „relationalen“ Einheit im Blick auf den einen Urheber. 194 Vgl. Janowski, B., Die kontrastive Einheit der Schrift. Zur Hermeneutik des Biblischen Kanons, in: Günter, T./Schüle, A. (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus, Leipzig 2007, 77– 93. 195 Vgl. Schwöbel, Erwartungen, 179. 196 Childs, Die Theologie, Bd. 1, 97. 197 Vgl. Janowski, Verstehst du, 155 f. „Die nicht zu leugnende Asymmetrie bzw. Dis-

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traditions- oder offenbarungsgeschichtlich konstruiertes Kontinuum, sondern um das Ergebnis eines kanonischen Prozesses, das sachlich und inhaltlich begründet ist, und Spannungen – Diskontinuitäten und Widersprüche – in sich trägt bzw. erträgt.198 Diese Brüche und Diskontinuitäten stellen aber die grundlegende Kontinuität nicht in Frage: „Sie setzen sie vielmehr in den wesentlichen Punkten voraus.“199 Die theologische Kontinuität ist, im Kanon ebenso wie in der Dogmengeschichte, stets an das Wesentliche gebunden, sie wird also verbunden mit einer Priorisierung und Konzentrierung, die auch in der Schrifthermeneutik Jesu und seiner Jünger erkennbar wird. Dabei wird deutlich, dass angesichts der Frage nach der theologischen Eigenbedeutung des AT (in seiner kanonischen Endgestalt) neben der Sicherung von Kontinuität im Glauben an ein und denselben Gott als Ursprung und Ziel der jüdischenchristlichen Glaubensgeschichten200 noch zwei weitere Prinzipien zu kontinuität der beiden Testamente tut dem Sachverhalt, dass das Alte Testament […] durch eine mehrfache relecture auf das Neue Testament […] hin semantisch geöffnet ist, allerdings keinen Abbruch. Diese semantische Öffnung, die nicht schon ein ‚traditionsund offenbarungstheologisches Kontinuum‘ darstellt, ist eine der Voraussetzungen für die Rezeption alttestamentlicher Überlieferungen im Neuen Testament und damit für eine gesamtbiblische Intertextualität.“ Vgl. 182 f., wo er von „gemeinsamen Tiefenstrukturen“ von AT und NT spricht, die durch Zitate und relecture – den komplexen „Vorgang der Aufnahme, Fortschreibung und Rekontextualisierung von Worten, Texten, Überlieferungen oder gar Büchern“ – je neu gehoben werden. „Sie sind gleichsam die grammatischen Regeln der biblischen Zeichensprache, die deren Sinn und Verbindlichkeit mitkonstituieren. Diese Tiefenstrukturen sind in die biblischen Texte eingelagert und treten immer wieder neu an die Textoberfläche.“ So entstehe ein „Geflecht von Sinnzusammenhängen, das die Einheit des Redens von Gott in der Vielfalt der Überlieferungen zur Darstellung bringt und diese Vielfalt zugleich bewahrt. Für die gesamtbiblische Intertextualität ist dieser sinnstiftende Prozess der Textrezeption konstitutiv, weil in den relecture-Vorgängen nicht einfach der ursprüngliche Wortlaut eines Textes exegetisch expliziert, sondern die damit angesprochene Sache, nämlich ‚Gottes mit jeweiliger Erfahrung korreliertes Langzeitvorhaben mit dem Gottesvolk‘ [O. H. Steck], entfaltet wird.“ 198 Vgl. Söding, Einheit, 225 –231. 199 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 64. 200 Vgl. National Jewish Scholars Project, Dabru Emet. A Jewish Statement on Christians And Christianity (Redet die Wahrheit. Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum), zuerst publiziert in: New York Times (10.09.2000). „Juden und Christen beten den gleichen [the same] Gott an. Vor dem Aufstieg des Christentums waren es allein die Juden, die den Gott Israels anbeteten. Aber auch Christen beten den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von Himmel und Erde an. Wenngleich der christliche Gottesdienst für Juden keine annehmbare religiöse Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen darüber, dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.“ Zur deutschen Übersetzung und

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Tage treten: eine durch Dialog verbundene Einheit in Vielfalt und das bleibende Zeugnis für Diskontinuität, Innovation und Entwicklung, das mit dem AT, seiner Genese und seinem Zeugnis für JHWH untrennbar verbunden ist. „Im Ergebnis dieser Entwicklung präsentiert sich die gesamte Bibel Israels als stimmenreiches Zeugnis der Einheit Gottes. Das kanonische Endzeugnis verwischt aber keineswegs die Spuren seiner Entstehung, vielmehr bleiben, wenngleich mehr oder weniger stark redigiert, die Erinnerungen an Schlüsselerfahrungen, Weichenstellungen, Konversionen, Kämpfe und Kontroversen um den Glauben an den einen Gott im Gedächtnis des Bibeltextes bewahrt.“201

2.2. Zeugnis von Diskontinuität durch Innovation und Entwicklung Der biblische Kanon gründet in einer vielschichtigen und vielstimmigen Entwicklung, die sich in seinem Endtext nachvollziehen lässt.202 Er bewahrt in sich auch all die Widerstände und Diskontinuitäten. „Die Bibel verwischt die Spuren ihrer Entstehung nicht. Sie werden Teil des kanonischen Gedächtnisses. Das ist spezifisch biblisch; es entspricht dem biblischen Offenbarungsverständnis.“203 Diskussion vgl. Frankemölle, H. (Hg.), Juden und Christen im Gespräch über „Dabru emet – Redet die Wahrheit“, Paderborn 2005; Dirscherl, E./Trutwin, W. (Hg.), Redet die Wahrheit – Dabru Emet. Jüdisch-christliches Gespräch über Gott, Messias und Dekalog (Forum Juden und Christen 4), Münster 2004; Kampling, R./Weinrich, M. (Hg.), Dabru emet – redet Wahrheit. Eine jüdische Herausforderung zum Dialog mit den Christen, Gütersloh 2003. 201 Söding, Einheit, 157. 202 Vgl. Levinson, B. M., Der kreative Kanon. Innerbiblische Schriftauslegung und religionsgeschichtlicher Wandel im Alten Israel, Tübingen 2012; Fishbane, M., Inner-Biblical Interpretation and the Development of Tradition, in: Oeming, M./Schmid, K./Welker, M. (eds.), Das Alte Testament und die Kultur der Moderne. Beiträge des Symposiums anlässlich des 100. Geburtstags G. v. Rads, Münster 2004, 25 –35; Bauks, M., Intratextualität, Intertextualität und Rezeptionsgeschichte. Was tragen „transpositional techniques“ und „empirical evidences“ zur literarischen Genese der Urgeschichte aus?, in: Bauks, M./Beges, U./Krochmalnik, D./Oeming, M., Neue Wege der Schriftauslegung (Altes Testament und Moderne 24), Berlin 2019, 13– 63; Alkier, Die Bibel, 11–52. 203 Söding, Der biblische Kanon, 415. So werde „in der Bibel selbst signalisiert, dass die Heilige Schrift kein vom Himmel gefallenes Buch ist, nicht die Kopie eines himmlischen Originals, wie sich der Koran präsentiert, sondern ein geschichtliches Glaubenszeugnis, das die Spuren seiner Entstehung trägt und zeigt.“ (416) Damit sei die These, der Kanon löse sich auf, wenn er kritisiert werde, „beim biblischen Kanon im Ansatz falsch“ (428).

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So kann man grundsätzlich zwischen dem kanonischen Prozess und der finalen Kanonisierung unterscheiden.204 Der kanonische Prozess beschreibt den Prozess der Sammlung, Anerkennung, produktiven Rezeption, aktualisierenden Auslegung, Anwendung und weiteren Tradierung von Texten, wobei eine redaktionelle Bearbeitung und aktive Fortschreibung innerhalb dieser Texte stattfindet. Aus mündlicher Überlieferung oder Gelegenheitsschreiben im historischen Kontext werden Texte mit normativem und allgemeingültigem Charakter.205 Der Gebrauch der Texte verläuft aber im Rahmen einer lebendigen Überlieferung durch die Glaubensgemeinschaft nicht grenzen- und ziellos.206 Er ist verbunden mit einer „Konzentration, Eingrenzung und Gewichtung“207 und insofern bestimmt durch eine theologische Priorisierung und Konzentrierung. Bernd Janowski spricht bildlich von einem „Traditionsstrom“, in dem sich eine „allmähliche, aber stetige Formgebung“ abzeichnet, bei der sich „Strukturen von Zentrum und Peripherie, von Haupttexten und Nebentexten, von Fragen, die immer wieder aufgegriffen und weitergeführt und solchen, die nur angedeutet und abgebrochen werden“, ausprägen.208 Bei dieser Traditionsbildung gebe es eine sachliche Grundlage, eine „Sachmitte“, die für Kohärenz und Zielrichtung sorge.209 Von der mündlichen Tradition über die ersten Verschriftungen, die sukzessiven Fortschreibungs- und Redaktionsprozesse, hin zur endgültigen Textfixierung und Kanonisierung ist der kanonische Prozess von einer Dynamik geprägt, die an den „Diskurscharakter der Überlieferung (a), die Syn204

Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 19. Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 31. Der kanonische Prozess gründet darin, dass eine Glaubensgemeinschaft in diesen Texten „ihre eigene Glaubenserfahrung ausgedrückt findet und von diesen Texten her den eigenen Glauben begründet.“ Vgl. Oeming, M., Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes. Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie, in: ZNT 6 (12/2003), 52–58. 206 Vgl. Dohmen, Biblischer Kanon, 23 –26. 207 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 32; Carr, D. M., Schrift und Erinnerungskultur. Die Entstehung der Bibel und der antiken Literatur im Rahmen der Schreiberausbildung (AThANT 107), Zürich 2015, 18. Die Texte dienen als beständiges Trägermedium für die „traditionellen Kernüberlieferungen“. Der Inhalt werde durch die Schrift dekontextualisiert, in seiner Normativität gesteigert, formalisiert und generalisiert, wodurch auch die Brücke zwischen Vergangenheit und potentieller Gegenwart geschlagen werden könne (vgl. 20 f.). 208 Vgl. Janowski, Kanonhermeneutik, 172, mit Bezug auf Assmann. 209 Vgl. Janowski, Kanonhermeneutik, 172. Auch Söding (Der biblische Kanon, 414) betont, dass der biblische Kanon „ein Phänomen eminenter Schriftrezeption ist, wesentlich gesteuert von Signalen, die von den biblischen Texten ausgesendet werden.“ 205

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these des Gewordenen (b) und die Kohärenz des Kanons (c)“ gebunden ist.210 Somit wird innerhalb des kanonischen Prozesses eine ihm immanente Hermeneutik erkennbar, die einen „Übergang zur Abgrenzung und damit zum Abschluss des kanonischen Prozesses“ markiert.211 Diese Tendenz schlägt sich dann in der sogenannten Kanonformel nieder.212 Die Kanonisierung als Abschluss des kanonischen Prozesses ist selbst prozesshaft zu denken, wie ein Blick auf das Ende der Tora (Dtn 34) zeigt.213 Die Stellung der Tora und des Dekalogs als Kern und Zusammenfassung der Tora214 zeichnet sich in seiner offenbarungstheologischen Kennzeichnung dadurch aus, dass dieser durch Gott selbst gesprochen bzw. geschrieben wird, „sodass spätere Schriftteile nur zum Kanon kommen und Teil desselben werden, wenn sie sich unter diesen Begriff Tora stellen“.215 Mit Blick auf diese zentrale Stellung der Tora innerhalb des kanonischen Prozesses, ihren Abschluss und ihre Verbindung mit dem Kanonteil „Propheten“ kann man festhalten: „Die christliche Bibel schließt sich an diese Kanon-Vorgaben mit ihrer zweigeteilten Schrift eindeutig an.“216 Denn das Neue Testament wird als Heilige Schrift von der bereits vor-gegebenen Bibel Israels her kanonisiert.217 210

Janowski, Kanonhermeneutik, 173. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 32. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 96, nennen Kriterien der Kanonisierung, die schon im kanonischen Prozess wirksam sind: Alter der Schriften; Ansehen der damit verbundenen Autoren; Zuerkennung der Inspiriertheit der Texte; Harmonie bzw. Entsprechung zur allgemeinen Glaubenstradition; klassische oder vorbildliche Artikulationen des Glaubens; Bewusstsein um Letztverbindlichkeit; Akzeptanz und Gebrauch. Bei aller Kontingenz des Kanons walte darin eine „innere Logik“. 212 Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 68 – 89. Die Kanonformel als Erweiterungs- und Kürzungsverbot dient gleichsam der theologischen Ergebnissicherung in Bezug auf das substantiell Wesentliche. Übrigens ganz analog zu späteren Dogmen, die diese Logik auf andere Weise fortsetzen. 213 Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 54 – 68. 214 Vgl. Dohmen, Mehr als ein Kanon, 238 –255, 247 ff. „Die qualifizierte Ordnung der Tora denkt […] von einem zentralen Kern aus, der an einem Text festgemacht wird, der als Ausgangspunkt und Zusammenfassung verstanden wird: Die biblische Überlieferung hält das in dem Motiv fest, dass Gott selbst als Urheber aller Weisungen nur diesen Teil, nämlich den Dekalog selbst, verschriftet habe.“ (248) Zugleich gibt es „kaum einen gewichtigeren Mahner für das Nebeneinander von kanonischem Prozess und Kanonisierung“ als den „in zwei nicht übereinstimmenden Fassungen überlieferten Dekalogtext“ in seiner höchsten Autorität (247). 215 Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 32. 216 Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 33. 217 Vgl. Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 33. „Die Sammlung der neutestamentlichen Schriften ist nicht durch eine kirchliche, autoritative Entscheidung zur 211

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Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon „Von der Glaubensgemeinschaft her wird der kanonische Prozess als Auslegungsprozess erkannt, da gerade für die Bibel Israels deutlich ist, dass Israel als Glaubensgemeinschaft Texte produktiv rezipiert hat, d. h. durch Fortschreibung in je neue Situationen hinein ausgelegt hat.“218

Auch B. S. Childs ist sich dieser diachronen Dynamik, trotz einer gewissen Fixierung auf den Endtext, durchaus bewusst: „Mit dem Begriff des Kanons ist im wesentlichen nicht eine späte kirchliche Festlegung des Umfangs der normativen Schriften gemeint (eigentliche Kanonisierung), sondern ein tief im Schrifttum selbst wurzelndes Bewusstsein. Es erwächst aus einer besonderen Haltung der Tradenten gegenüber der Autorität der Schrift und spiegelt sich in der Weise, in der die Texte von verschiedenen Glaubensgemeinschaften empfangen, bewahrt und überliefert werden.“219

Der kanonische Prozess darf dann aber nicht nur zugunsten der final form relativiert werden – eine Tendenz, die sich bei B. S. Childs abzeich-

‚Heiligen Schrift‘ geworden, sondern nur durch die Zusammenführung mit der schon vorliegenden ‚Heiligen Schrift‘, die dann selbst zum ‚Alten Testament‘ wurde. Das ‚Neue Testament‘ unterstellt sich geradezu dem Anspruch der Heiligen Schrift, dem späteren Alten Testament, indem es mit der vorhandenen Heiligen Schrift zusammen in einen geteilten Kanon eingeht, wobei die innere Kanongrenze nur schärfer gezogen wird als sie zwischen den drei Kanonteilen der Hebräischen Bibel, des TaNaK, bestand.“ In Analogie zum Tod des Mose als Abschluss der Tora wird das Ende des NT am Tod des letzten Auferstehungszeugen festgemacht. 218 Dohmen, C., Der biblische Kanon in der Diskussion, in: ThRev 91 (1995), 451– 460, 454; vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 57; Fischer, I., Von der Vorgeschichte zur Nachgeschichte. Schriftauslegung in der Schrift – Intertextualität – Rezeption, in: ZAW 125 (2013), 143 –160. 219 Childs, Biblische Theologie, 13. Vgl. Chapman, What are we reading, 342; Steins, Der Bibelkanon, 330. „Die Bibeltexte werden nicht zum Kanon, sondern sie entstehen als Kanon, das heißt sie schälen sich schon lange vor einem ‚offiziellen‘ Kanonabschluss als Texte heraus, in denen sich eine Glaubensgemeinschaft über ihre Gotteserfahrungen austauscht und als Glaubensgemeinschaft identifiziert. Der historisch-kritischen Exegese verdanken wir die wichtige Einsicht, dass die biblischen Texte im Horizont neuer Erfahrungen fortgeschrieben und so aktuell gehalten wurden. Das ist der kanonische Prozess, der irgendwann ein Ende findet, wenn die Gemeinschaft ihre Identität stabilisieren muss, um in den geschichtlichen Veränderungen nicht unterzugehen.“ Vgl. Weidemann, Kanon, 27: „Es ist kein Zufall, dass sowohl der jüdische als auch der christliche Kanon in ihren wesentlichen Bestandteilen längst feststanden und nur an den Rändern Unschärfen aufwiesen, bevor es zu offiziellen Kanonlisten, Osterfestbriefen, Konzilsbeschlüssen etc. kam.“ Vgl. Hahn, A., Was meinen wir mit Kanon? Die alttestamentliche Kanonforschung im letzten Jahrhundert zwischen einem funktionalen und einem formalen Kanonbegriff, in: JETh 17 (2003), 45 – 82. Seitz, The Goodly Fellowship, 130, bezeichnet vor diesem Hintergrund die weit verbreitete Unterscheidung zwischen Scripture und canon letztlich als „formalistic and inaccurate“.

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net und vielfach kritisiert worden ist.220 „Die Endgestalt der Texte ist weder eine spannungsfreie noch eine die Qualität gewachsener Texte nivellierende. Mit der Endgestalt wird lediglich der Ort der Interpretation verlegt. Geschah sie bis dahin durch produktive Fortschreibung oder Redaktion im Text, geschieht sie von da ab durch Kommentierung und Auslegung neben/zu diesem Text.“221 Die Tradition wird hier also gleichsam in einem anderen Modus fortgesetzt – gebunden an den gesicherten Text des Kanons. J. A. Sanders hat die Bedeutung der traditionsbildenden und -tragenden Glaubensgemeinschaft für die Dynamik des kanonischen Prozesses in besonderer Weise betont.222 „A canon begins to take shape first and foremost because a question of identity or authority has arisen, and a canon begins to become unchangeable or invariable somewhat later, after the question of identity has for the most part been settled.“223 Die Wahrung der Identität ist als ein dynamischer Prozess zu verstehen, der sich aus der notwendigen Identitätssuche einer Glaubensgemeinschaft und ihren Transformationsprozessen angesichts neuer Situationen und Erfahrungen ergibt.224 „The canon’s authority lay in its life-giving quality in the midst of death. And that is a historical observation before it is a theological tenet.“225 Denn gerade Krisenerfahrungen konnten nur in Auseinandersetzung mit tradierten Schriften bewältigt werden. Sie werden existentiell und theologisch neu verarbeitet: „When you really need to know who you are and what you must do when all falsehood is swept away and nothing marginal or superficial distorts the question, then hope resides in the community’s historic memory which is 220 Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 24. „Aber setzt nicht gerade der kanonische Prozess schon eine Glaubensgemeinschaft voraus, die sich selbst und ihren Glauben in vorhandenen Texten wiederfindet und durch deren produktive Fortschreibung zum Ausdruck bringt? Childs postuliert für seine These eine zeitlose, abstrakte Glaubensgemeinschaft. Eine solche bleibt aber ein reines Gedankenkonstrukt, weil Glaubensgemeinschaft sich immer nur im Koordinatensystem von Synchronie und Diachronie realisiert findet. Insofern wird man die Kanonisierung nicht zur Richterin über den kanonischen Prozess zugunsten des Endstadiums machen dürfen […].“ Vgl. auch Rahner, J., Schriftauslegung, 407 f.; 422; Sanders, Canon and Community, 24 f.; 35 f.; Ders., From Sacred Story, 166 –172. 221 Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 25. 222 Sanders, J. A., Scripture in Its Historical Contexts. Volume I: Text, Canon, and Qumran, edited by C. A. Evans (FAT 118), Tübingen 2018, 51–370; Ders., Canon and Community, 21– 45. 223 Sanders, Torah and Canon, 91. 224 Vgl. Sanders, Torah and Canon, 91; 117 f. 225 Sanders, Torah and Canon, 120.

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Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon the locus of its identity; and that historic memory operates in the dialogue between the questions the community must put to its canon and the answers that the canon can give.“226

Sanders blickt also mit seinem canonical criticism auf die funktionale Bedeutung des Kanons für die Glaubensgemeinschaft, die mit seiner Genese und Struktur untrennbar verbunden ist.227 Diese Struktur lässt eine innere Dynamik erkennen, die auf permanenter Vergewisserung und Aktualisierung beruht – eine Dynamik, die den Dialog der Glaubensgemeinschaft mit den kanonischen Texten nie enden lässt und ihr immer wieder hilft, ihre eigene Identität neu zu finden. Im Kanon findet sich dabei Literatur, die „adaptable for life“ ist: „Its adaptability is an intrinsic characteristic.“228 Die Überzeugungen der Glaubensgemeinschaft früherer Zeiten spiegeln sich im Kanon, seinem Stil und Inhalt, der monotheistisch orientiert und theozentrisch ausgerichtet ist.229 Das Verständnis des Kanons ist an die ihn generierende und ihn tradierende Gemeinschaft gebunden, die durch die Zeit schreitet. „It is the nature of canon to be contemporized; it is not primarily a source book for the history of Israel, early Judaism, Christ, and the early church,

226

Sanders, Torah and Canon, 120. Vgl. Sanders, Torah and Canon, xx: „The question of the structure of canon can only follow upon the question of the function of canon.“ Vgl. Sanders, Canon and Community, 21–25; Rahner, J., Schriftauslegung, 405: „Mit dem – freilich nicht unumstrittenen – Stichwort des Identitätsgewinns gelingt es Sanders, die genannte Bewegung inhaltlich näher zu bestimmen. Sie bedingt die Grundeigenschaften des Entwicklungsprozesses mit: zum einen die Vielfalt der Entfaltungen bestimmter Themenbereiche im Gesamt der biblischen Schriften, die sich, zum anderen, in einer sehr pluralen Ausgestaltung niederschlägt.“ 228 Sanders, Canon and Community, 41; Ders., From Sacred Story, 9 –39. Vgl. Chapman, The Law, 284 –287: Die alten Texte können immer wieder neue Bedeutung haben. Die „prophetic quality“ ist gleichsam ein „canonical principle“ und die Grundlage für ihren weiteren Gebrauch (vgl. 284). Dies zeigt sich schon in der engen Bindung der von Anfang an aufeinander bezogenen Kanonteile Tora und Propheten. Steins, Zwei Konzepte, 34, folgert aus der „kanonischen Gleichursprünglichkeit“ von Tora und Propheten, es gebe keine kanonisierte Tora ohne Propheten, weil die Tora als geoffenbarter Gotteswille „ohne Auslegung als angewandte Weisung nicht vorstellbar ist.“ Vgl. Rahner, J., Schriftauslegung, 405: „Der Kanon spiegelt letztlich diese Erzählgeschichte, die Kommunikationsgeschichte der überliefernden Gemeinschaft.“ 229 Vgl. Sanders, Canon and Community, 51 ff. Er differenziert zwischen einem „monotheistic book“ und der Bibel als „monotheizing literature“, in der sich eine (keineswegs einlinige) Dynamik spiegelt. „To monotheize, in this sense, is not to progress or evolve toward monotheism, but rather to struggle within and against polytheistic contexts to affirm God’s oneness, both in antiquity and today.“ (52). 227

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but rather a mirror for the identity of the believing community which in any era turns to it to ask who it is and what it is to do, even today. The believing community, whether synagogue or church, can find out both what it is and what it ought to be by employing valid hermeneutic rules when reading the Bible. The believing community abuses the Bible whenever it seeks in it models for its morality but reads it with validity when it finds in the Bible mirrors for its identity. By dynamic analogy the community sees its current tensions, between what it is and what it ought to be, in the tensions which Israel and the early church also experienced.“230

Der Vorzug dieses Zugangs liegt, so Johanna Rahner, „in der Wahrnehmung der der Kanonbildung innewohnenden Dynamik, doch bleibt dieser Prozess der Kanonbildung zunächst ein hermeneutisch offener Prozess.“231 Die Kanonisierung selbst gestaltet sich, wie auch Dohmen und Oeming deutlich machen, „als dynamischer Prozess“, der einer permanenten Aktualisierung und Verlebendigung im Rahmen der Glaubensgemeinschaft dient.232 Der Abschluss des ganzen Kanons oder bestimmter Textgruppen markiert jedoch einen qualitativen Einschnitt in diesem Traditionsprozess.233 „Die Konzentration auf die Frage, wann denn nun der Kanon als nicht mehr zu ändernde Sammlung heiliger Bücher – auch noch in bestimmter Anordnung und Abfolge – tatsächlich feststand, ist gewiss von hohem historischem Interesse. Sie verstellt aber leicht den Blick darauf, dass sich schon viele Jahrhunderte vor der Kanonisierung im Sinne der Endtextfixierung im Alten Testament selbst ein ‚kanonischer Prozess‘ vollzog, der die unerlässliche Basis für die spätere Fixierung bildete und diese weithin als eine logische Konsequenz aus inneren Bewegungen erscheinen ließ. Der Ausdruck ‚kanonischer Prozess‘ will besagen, dass schon die älteste Literatur […] eine besondere Bedeutung, Würde und Wirkung hatte und diese durch die Glaubensgeschichte Israels hindurch entfaltete. Bereits das ältere religiöse Schrifttum Israels wurde sorgfältig tradiert und spätere Neuformulierungen des Glaubens in neuer geschichtlicher

230

Sanders, Torah and Canon, xv f. Rahner, J., Schriftauslegung, 406. 232 Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 57. „Beim Endpunkt also gilt es zu fragen, wie und warum der lebendige Fortschreibungsprozess von Texten zu einem Abschluss kommt oder anders gesagt, wann und warum sich die Auseinandersetzung mit einem Text nicht mehr im Text (aktualisierende Fortschreibung), sondern außerhalb des Textes und in bezug zu ihm (Kommentar, Auslegung etc.) zu vollziehen beginnt.“ 233 Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 65. So kann man z. B. mit Blick auf den Tod des Mose und den Abschluss der Tora von einem „qualitativen (theologischen) Schnitt“ sprechen. Der Tod des Mose gelte als Geburt des Pentateuch. (66) Vgl. Dohmen, C., Mose. Der Mann, der zum Buch wurde, Leipzig 2011. 231

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Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon Situation bezogen sich immer wieder in Anlehnung, Umakzentuierung oder Neukonzeption auf die bereits vorliegende Überlieferung zurück.“234

Die Spuren dieser Traditionsdynamik einer lebendigen Glaubensgeschichte sind im Endtext des Alten Testaments ablesbar. Seine mehrstufige „innere Entwicklung und Abschließung“ war sich „ihrer eminenten theologischen Valenz durchaus bewusst“ und verlief nach den „Gesetzen geprägter Fortschreibung“, d. h. dass die Fortschreibung durch ihre Relation und Bezugnahme zum Ausgangstext geprägt ist, zu der äußere Einflüsse und neue Erfahrungen hinzutreten.235 Die entscheidende Frage besteht letztlich darin, was zunächst tendenziell und schließlich final zu einem Ende des kanonischen Prozesses im Sinne der aktiven Fortschreibung und Überarbeitung der Texte führte. „Der Übergang von einer textinternen Fort- und Umschreibung der Überlieferung – jeweils einer neuen geschichtlichen Situation angemessen – hin zu einer Fixierung der Endgestalt bedeutet einen qualitativen Sprung.“236 Aber wie kommt dieser zustande? Sind es äußere Faktoren, die Israel als Glaubensgemeinschaft mehr oder weniger nötigen?237 Insofern jede theologische Reflexion sich immer nur im Kontext geschichtlicher Veränderung, im Erfahrungshorizont der jeweiligen Umwelt, in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Transformationen vollziehen kann, sind solche Wechselwirkungen kaum auszuschließen. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, „dass im kanonischen Prozess eine theologische Schule den genialen Gedanken einbrachte, ihre Fortschreibung gerade durch Konzentration, Sammlung und Gewichtung zu vollziehen. Genau dadurch wird eine allmähliche Abschließung in Gang gebracht: Das im kanonischen Prozess wirksame Motiv des Konservierens, das sich in der Fortschreibung realisiert (‚Du sollst nichts weglassen!‘) schlägt jetzt um in eine konservativ-abgrenzende Tendenz (‚Du sollst nichts hinzufügen!‘).“238 Diese kanonische De-Finition ge234 Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 92 f. Man wird wohl davon ausgehen können, dass der kanonische Prozess „nicht erst mit der Verschriftung begonnen hat, sondern bereits im vorschriftlichen Traditionsprozess verankert ist.“ (105) Der Faktor der Schrift bildet aber ein zentrales und notwendiges Medium für den weiteren Verlauf. 235 Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 93. 236 Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 93. 237 Dieser Faktor wird bei Dohmen/Oeming – leichtfertig – als „wenig wahrscheinlich“ abgetan. 238 Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 93. Der kanonische Prozess setzt sich, wie E. Zenger betont hat, in Debatten um die Sachstruktur des Kanons fort. Der Vorgang der Kanonisierung umfasse also drei Aspekte: „Kanonwerdung, Kanonschließung und Kanonstrukturierung.“ Vgl. Zenger, E., Der Psalter im Horizont von Tora und Prophetie.

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schieht auf der Basis von Konzentration und Gewichtung. Dies gilt auch für die kanonische Anbindung des Neuen Testaments. Denn ein „Fundamentalprinzip“ seiner Theologie besteht in der „Durchdringung von Freiheit neuer religiöser Erfahrung und schriftgelehrter Rückbindung an Vorstellungen und Sprache der bewährten Tradition“.239 Die vergewissernde Rückbindung an die prägende Referenzgröße „der Schrift“ einerseits und die erfahrungsbedingte Aktualisierung andererseits sind nicht nur ein fundamentales Prinzip des kanonischen Prozesses sowie des christlichen Kanons aus Altem und Neuem Testament, sondern auch der Dogmatik, die durch dieses Prinzip der Vergewisserung und Aktualisierung im Traditionsstrom einer lebendigen Glaubensgeschichte mit der Korrelation von Schrifttext und neuen Glaubenskontexten die Spannung von Kontinuität und Diskontinuität immer wieder neu für die Glaubensgemeinschaft fruchtbar zu machen versucht. Damit zeichnet sich bereits eine entscheidende Präzisierung für das Selbstverständnis und die Arbeitsweise wissenschaftlicher Dogmatik ab, die ihrer theologiegeschichtlichen Rolle durchaus gerecht werden dürfte: Dogmatik leistet auf der Basis des christlichen Bekenntnisses die systematische Vermittlung zwischen Schriftauslegung und neuen Glaubensfragen, Biblischer und Praktischer Theologie. Insofern diese Korrelation sich stets in der Dynamik einer lebendigen Glaubensgemeinschaft und ihrer interaktiven Traditionsprozesse ereignet, ist die Dogmatik – als ein Aggiornamento des Wortes Gottes im Vollzug – eine zutiefst dynamische Disziplin. Um ihrer Dynamik gerecht werden zu können, muss sie allerdings auch (analog zum kanonischen Prozess) De-Finitionen und Distinktionen im Blick auf die zentralen und gewichtigen Bereiche vornehmen, die für den Gesamtzusammenhang verbindend und verbindlich gelten. Solche Kanongeschichtliche und kanonhermeneutische Perspektiven, in: Auwers, J.-M./De Jonge H. J. (eds.), The Biblical Canons, Leuven 2003, 111–134, 126; vgl. Hieke, T., Jedem Ende wohnt ein Zauber inne … Schlussverse jüdischer und christlicher Kanonausprägungen, in: Ders. (Hg.), Formen des Kanons. Studien zu Ausprägungen des biblischen Kanons von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (SBS 228), Stuttgart 2013, 225 –252. 239 Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 106 f. „Geprägte Fortschreibung erweist sich sogar als Fundamentalprinzip von Theologie überhaupt. Denn auch die Kanonbildung des Neuen Testaments bedeutete zwar eine Demarkationslinie, insofern der Text aus Altem und Neuem Testament jetzt als Bibel zum Abschluss gekommen ist; er wird zum normativen Ursprungszeugnis, aber seine Wirkungen im Prozess der Aneignung und Aktualisierung gehen ganz analog in die Kirchengeschichte (und die Geschichte des Judentums) hinein weiter.“

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Definitionen markieren als Wegmarken der Tradition jedoch keineswegs das Ende der Dynamik von Vergewisserung und Aktualisierung. Sie dürfen auch nicht die geschichtliche Kontingenz, die damit verbundenen Erfahrungen und Intentionen vernachlässigen.240 Sie bleiben in ihre Kontexte eingebunden. Das gilt analog zur Genese des biblischen Kanons. Es ist zu beachten, dass die „Kanonisierung gerade nicht zum Tode der Glaubensgeschichte führen will, indem der gesamte kanonische Prozess durch die Kanonisierung des ‚Endtextes‘ für belanglos erklärt würde.“241 Die diachrone Analyse des Endtextes deckt Vorstufen auf, die, wie Max Seckler erkennt, nicht nur eine Textgeschichte, „sondern ineins damit eine Glaubensgeschichte und eine reale (und nicht nur textuelle) Offenbarungsgeschichte als Sitz im Leben haben.“242 Die Endgestalt des Kanons sei daher geprägt durch eine „Kopräsenz des Sukzessiven im Endtext.“243 Er ist das Resultat von Entwicklung und bleibt eben darum offen für weitere Aktualisierung durch neue Auslegung(en). Der Charakter biblischer Texte entspreche nicht dem eines einheitlichen Lehrbuches244, sondern sei „zerklüftet wie ein Gebirge, mit einem Pluralismus von Stimmen, Gegensätzen und Spannungen. Nach den Grundsätzen der theologischen Prinzipienlehre hat Gott sich nicht in Texte hinein geoffenbart, auch nicht in den kanonischen Endtext hinein, sondern in Menschen, in sein Volk hinein. Die Bibel ist, anders als der Koran, nicht geoffenbart, sondern sie ist der inspirierte literarische Niederschlag der Offenbarung. Deshalb sind die Stimmen, die im framework des Kanons und auch noch in den Schichten des Endtextes vernehmbar werden, nicht nur Untertöne im Text, und nicht nur Hilfsmittel 240 Zu einer entsprechenden Hermeneutik von Konzilsaussagen in Analogie zu biblischen Texten vgl. Wohlmuth, Historisch-kritische und kanonische Textinterpretation, 108 –117. 241 Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 25. 242 Seckler, Über die Problematik, 51. 243 Seckler, Über die Problematik, 51. 244 Diese Gefahr besteht z. B. bei Ziegenaus, A., Die Kanonbildung als Grundlage theologischer Schriftinterpretation, in: Ziegenaus, A./Courth, F., u. a. (Hg.), Veritati Catholicae. FS für L. Scheffczyk, Aschaffenburg 1985, 203 –225, 223. Er schließt von der „Einheit des sich offenbarenden Gottes“ und einer angeblichen „Tendenz der Einzelschriften zur Einheit in der Lehre“ auf eine „einheitliche Interpretation des Christusereignisses und alles dessen, was mit ihm gegeben ist“, wobei ihm das AT als Vorbereitung und das NT als konkrete Ausfaltung gilt. Kein Wunder, denn eine „pluralistische Systematik ist ein Widerspruch“ für Ziegenaus (ebd., 216). Das Kanonbewusstsein reduziert sich dann auf die Kirche und deren perspektivischen Standpunkt (vgl. 223). Kann dieser aber im Laufe der Zeit nicht auch wechseln? Und war dieser nicht immer schon von einer Einheit in Vielfalt geprägt?

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der Endtextexegese, sondern – soweit rekonstruierbar – in-sich-ständige Stimmen aus jener realen Offenbarungsgeschichte, die die Referenzebene der inspirierten Texte ist. Sie sind in dieser In-sich-Ständigkeit theologisch relevant.“245

Gegen eine neuscholastisch-instruktionstheoretische Verengung der Bibel verweist auch Franz Mußner auf die im Kanon selbst konservierte Dynamik: „JHWH setzt sich durch in allen Stufen der biblischen Traditionsbildung bis hin zum ‚kanonisierten‘ Endtext. Eine nur ‚kanonische Schriftauslegung‘, die exklusiv mit dem Endtext arbeitet, bekommt den dynamischen Prozess, in dem JHWH sich in der Geschichte durchsetzt, nicht wirklich in den Blick, ist vielmehr in der Gefahr, die Bibel nur als ‚Quelle und Norm des Glaubens‘ zu sehen.“246 In vielen Fällen war (und ist) dies leider die Arbeitsweise der Dogmatik, insofern sie die Bibel in ihrer Endgestalt nur auf einen „Steinbruch“ systematisch-theologischer Argumente reduziert.247 Die Bibelzitate sollen selektiv nur das belegen, was vom Dogma her immer schon Position der Kirche gewesen sei. Eine solch statische Verwendung der Schrift als vermeintlich einheitliche „Quelle“ der Offenbarung ist die wesentliche Ursache für ein satzhaft-instruktionstheoretisches und doktrinäres Offenbarungsverständnis, das sich als absolute Lehre und nicht mehr als relational geprägtes, gewachsenes Glaubenszeugnis versteht. Die reine Fixierung auf den Endtext ist daher ungenügend. Sie ist angesichts der verschiedenen Wachstumsspuren des biblischen Kanons, der seine Entwicklung offenlegt und bewusst stehen lässt, auch nicht haltbar.248 Der Kanon als Produkt eines kanonischen Prozesses trägt die Spuren seiner Geschichte in sich. „Diese Spuren sind oft genug nicht getilgt 245

Seckler, Über die Problematik, 52. Mußner, Die Auslegung des AT, 119. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 39. 247 Für einen historisch-systematischen Überblick zum Umgang mit der Bibel in der katholischen Theologie seit dem Konzil von Trient vgl. Neuner, P., The Bible’s reception in Roman Catholic tradition, in: Riches (ed.), The New Cambridge History of the Bible. Vol. 4, 537–562, bes. 546. 248 Vgl. die gravierende Fehleinschätzung bei Assmann, J., Fünf Stufen auf dem Weg zum Kanon, in: Ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 3 2007, 81–100, 82: „Mit der Endgestalt ist das geschichtliche Werden des Textes vergessen.“ Vgl. Söding, Einheit, 28 –31. An der Differenz zwischen Schrift als Zeugnis bzw. Medium der Erinnerung und dem eigentlichen Offenbarungsinhalt in seiner geschichtlichen Situiertheit, den es zu bezeugen gilt, ist aus christlicher Sicht festzuhalten. Die Pluralität der Textüberlieferung und der Kanones bestätigt dies, wie wir noch sehen werden. 246

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oder geglättet worden und erlauben es, von einem Mit- bzw. Nebeneinander des historisch nacheinander Entstandenen im kanonischen Text zu sprechen. Eine ‚flächige‘ Endtextexegese, die den Texten einen je eigenen ‚geschichtlichen‘ Sinn abspricht und durch einen ‚neuen, d. h. kanonischen‘ Sinn ersetzt, ist theologisch defizitär.“249 Das gilt für die Endgestalt der Einzeltexte ebenso wie für das Verhältnis von AT und NT, denn auch hier wird, wie wir sehen konnten, das gesamte AT übernommen und nicht durch das NT ersetzt oder redigiert. Man könnte insofern, analog zu Konzilstexten des II. Vatikanischen Konzils, von Juxtapositionen sprechen. Damit wird bereits deutlich, dass dieses Konzil sich offensichtlich einer relationalen Hermeneutik der geprägten Fortschreibung und des offenen Dialogs bedient, wie es auch der biblische Kanon selbst demonstriert. Max Seckler hat allerdings auch darauf aufmerksam gemacht, dass eine historisch-kritisch zersetzende Fokussierung auf das vermeintlich Ursprünglichere und Echtere „hinter“ dem Endtext des Kanons das Erbe einer elementaren Kanonkrise sei: „Diese besteht darin, dass bereits in der theologischen Prinzipienlehre einem rezipierten Schriften-, Textund Sprachkanon das Vertrauen entzogen wird und dass dies am Leitfaden von Authentievorstellungen geschieht, denen das Wissen um die ekklesiologische Pragmatik der Kanonbildung ebenso abhanden gekommen ist, wie der Sinn dafür, dass der Kanon erst in seinem ekklesial rezipierten und definierten Sosein eine normative und identitätsstiftende Realität sein kann.“250 Das Konzil von Trient habe dies frühzeitig erkannt. Zeigt sich aber diese mangelnde Anerkennung der Autorität ekklesialer Rezeption gegenüber vermeintlich authentischeren oder ur-

249 Weidemann, Kanon, 31. Vgl. Rahner, J. Schriftauslegung, 422: „Kanonische Schriftauslegung kann nur kirchliche Schriftauslegung als Auslegung des je einzelnen, verbindlichen durch seine funktionale Einheit bestimmten Zeugnisses sein.“ 250 Seckler, Über Die Problematik, 48 f.; vgl. ebd., Anm. 38: „Im Hinblick auf die Heilige Schrift kommt wegen der konstitutiven Bedeutung des realen Geschichtsverlaufs für das Offenbarungsgeschehen deshalb auch den Texten und der Sprache, in denen dieses Geschehen sich historisch unmittelbar bezeugt, eine fortdauernde theologische Relevanz im Sinne des historischen Sinnhorizonts zu, in dem sie stehen. Von daher auch die fortdauernde historisch-theologische Bedeutung der Biblia hebraica. Sofern aber die Geschichte weiterging, auch die Offenbarungsgeschichte und mit ihr die Textgeschichte, eignet dem historisch Ursprünglichen ein Moment der Überholbarkeit, das im Progress der Offenbarungsgeschichte aufgedeckt wird. Genau hier ist aber der Punkt, wo der Rezeptionsgeschichte (auch und gerade im Licht des Kanonprinzips) theologisch der höhere Authentizitätsgrad zuwächst.“

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sprünglicheren Ausdrucksformen des Glaubens nicht analog bei der Interpretation von Konzilstexten (und deren Juxtapositionen)? Denn auch hier wird die verbindliche Gestalt des sich vergewissernden und aktualisierenden kirchlichen Glaubensbewusstseins von traditionalistischer Seite zersetzt und nicht anerkannt, weil man die Spannung von Kontinuität und Diskontinuität, d. h. die „geprägte Fortschreibung“ einer Dogmengeschichte, angesichts neuer Erfahrungen einer lebendigen Glaubensgeschichte nicht erträgt. Die Piusbrüder sind nur ein extremes Symptom dieser Denkart. Sie zersetzen unter dem (falschen) Vorwand historischer Authentizität nur die kirchlichen Rezeptionsprozesse und betreiben Steinbruchexegese historisch gewachsener und kontingenter Sprach- und Denkformen, unter hartnäckiger Ausblendung ihrer geschichtlichen Genese und des lebensweltlichen Wandels der Glaubensgemeinschaft in ihrem diachronen Dialog. Dass die historisch-kritische Methode in der oft hypothetischen Rekonstruktion vermeintlicher ipsissima verba sogar Wasser auf die Mühlen der instruktionstheoretischen Engstirnigkeit neuscholastischer Offenbarungstheoretiker sein kann, haben diese vielleicht zu spät bemerkt. Ein kanonischer Zugang fixiert sich – nicht verabsolutiert und richtig verstanden – nicht allein auf aporetische Authentizitätsdebatten, sondern er nimmt den Kanon in seiner spannungsvollen Dynamik und Vielstimmigkeit ernst. Er sucht die Einheit in der Vielfalt, die Kontinuität in der diachronen Entwicklung und ist dabei letztlich auf den einen Gott verwiesen, der als Ursprung und Ziel aller biblischen Erfahrungszeugnisse gelten kann. Die Glaubensgemeinschaft und die Genese ihres Kanons lassen sich dabei nicht trennen, denn beides wächst und entwickelt sich zusammen: Wie die Bibel entstanden ist, so wird sie auch verstanden.251

251 Vgl. Steins, Der Bibelkanon, 330 f.; Rahner, J., Schriftauslegung, 403; Steck, O. H., Strömungen theologischer Tradition im Alten Israel, in: Ders., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament, München 1982, 291–317, 316. „Nur wer die alttestamentlichen Aussagen im Zusammenhang eines Bildes von der Geschichte Israels sieht, das auch die Bewegungen des geistigen Lebens dort erfasst, kann diese Aussagen als lebendigen, dynamischen Vorgang in einer bestimmten Zeit mit bestimmten Bedingungen erkennen, eine Sicht, die unerlässlich ist, will man in christlicher Verkündigung des Alten Testaments bleibendes Maß, gültige Intention und zeitbedingte Grenze beachten.“ Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 1, 134. Die diachrone Dimension der Geschichte Israels und die im historischen Kontext zu verortende Eigenart der biblischen Texte wird nicht in Frage gestellt, aber in ein kohärentes Ganzes und seine Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft eingebunden.

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Sogenannte „Juxtapositionen“ finden sich schon in der Schrift selbst, sogar an prominentester Stelle, mit Blick auf den Dekalog, den absoluten Kern der göttlichen Weisung. Moses empfängt in Ex 34,28 die erneuerte Version der Gebote und erläutert in Dtn 5, was Gott selbst am Sinai offenbart und angeordnet hat. Moses erzählt in Dtn also das, was sich zuvor am Sinai ereignet hat und dem Leser schon aus Ex 20 bekannt ist, aber dem Volk jetzt erst offiziell mitgeteilt wird.252 Innerhalb des Pentateuch selbst wird dabei differenziert: zwischen der Offenbarung Gottes und Moses als Lehrer, der in seiner Autorität das Gesetz vermittelt (vgl. Dtn 6,1). JeanPierre Sonnet macht auf diese Differenzierung aufmerksam: „The divine command to teach (and not to ‚say‘, as proposed by the people in 5:27) accounts for Moses’ latitude in his rephrasing of the revelation received ‚on the mountain.‘ Far from constituting an alternative revelation, the legal corpus in Deuteronomy represents a didactic reformulation of God’s legal communication at Sinai/Horeb. The Mosaic ‚revision‘ is meant for a new generation that, unlike the generation of the exodus, will cross into the land, and that presumably needs an adapted rehearsal of the covenantal stipulations.“253

Der Unterschied in der Ausformulierung und Auslegung des göttlichen Gesetzes in Ex und Dtn ist insofern nicht einfach nur der unglückliche Umstand einer redaktionellen Überarbeitung. Die Parallele wird offenbar innerbiblisch reflektiert.254 Denn darin spiegelt sich die theologische Situation der Autoren bzw. Redaktion wider.255 Wenn das Bundesbuch von Ex 24 in Dtn nicht weiter erwähnt, sondern neu interpretiert wird, so habe dies nach Ansicht von Jean-Pierre Sonnet eine positive Funktion: „it creates room for original developments in Deuteronomy.“256 Gott selbst ist dabei der Gesetzgeber einer öffentlichen und ethisch relevanten Vgl. Dohmen, C., Exodus 19 – 40 (HThK AT), Freiburg i. Br. 22012, 88 –101. Sonnet, J.-P., The Book within the Book. Writing in Deuteronomy, Leiden 1997, 47 f. 254 Vgl. Otto, E., Deuteronomium 1–11. Zweiter Teilband: 4,44 –11,32 (HThK AT), Freiburg i. Br. 2012, 683; 692–704. Mit Blick auf die beiden divergierenden Dekalogfassungen konstatiert er (ebd., 700): „Man muss davon ausgehen, dass die Differenzen gezielt nicht ausgeglichen wurden […], sodass sie zu einer Anfrage an die damit zum Ausdruck kommende hermeneutische Entscheidung werden.“ 255 Vgl. Sonnet, The book, 48, Anm. 15: „The interesting point in that case is that Moses’ claim on stage dramatizes and mirrors the activity of the authors of Deuteronomy’s Code. Moses’ reformulation of the original provisions (documented in Exodus) parallels the scribes’ revision of these stipulations. The narrative provides a rational (the divine empowerment of Moses in his didactic reformulation) camouflaging the authorial revision of the Covenant Code.“ 256 Vgl. Sonnet, The book, 48. 252 253

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Ordnung, die im Prinzip mit der Schöpfung beginnt und sich im Dekalog, dem Kern der Tora, manifestiert. Die Autorität des Gesetzes wird unmittelbar mit der Autorität des einen und einzigen Gottes verbunden.257 Dennoch gibt es gleichsam eine Hermeneutik der Innovation258 innerhalb dieses Gesetzes, d. h. der zentralen Referenzgröße in den Schriften Israels/ des AT.259 Im Deuteronomium als ursprünglicher Keimzelle des späteren Kanons260 lässt sich eine solche Entwicklung ablesen. Es kommt zur „Theologisierung“ profanen altorientalischen Rechts.261 Die Normativität dieses nun mit göttlicher Autorität versehenen und allgemein gültigen Gesetzes hat allerdings erhebliche Konsequenzen, denn es kann „nicht mehr einfach ersetzt oder abgetan werden. Nur durch innerbiblische Auslegung war es möglich, ein solches Gesetz zu aktualisieren und in eine neue Gestalt zu bringen, was mit fortschreitender Zeit und neuen Problemlagen immer wieder erforderlich war.“262 Wo die Autorität Gottes an die Stelle eines je aktuell entscheidenden Königs tritt und Gottes Weisung für Recht und Gerechtigkeit bürgt, ist das durch ihn gegebene Gesetz, an das er sich bindet, stets durch den hermeneutischen Zugang der Gotteserfahrung geprägt – eines Gottes, der im Unterschied zu statischen Götzen je neu wirksam wird und sich im Laufe der Zeit und Heilsgeschichte immer wieder neu als die rettende und befreiende Macht des Lebens erweist: JHWH. Es gibt daher keine Weisung Gottes, die nicht immer schon unter dem Eindruck je neuer Erfahrungen gelesen werden müsste.263

257 Vgl. Markl, D., Gottes Gesetz und die Entstehung des Monotheismus, in: Graulich, M./Weimann, R. (Hg.), Ewige Ordnung in sich verändernder Gesellschaft? Das göttliche Recht im theologischen Diskurs (QD 287), Freiburg i. Br. 2018, 49 – 67. 258 Innovation darf hier wörtlich vom Lateinischen innovatio her verstanden werden: Erneuerung, Veränderung, Wandel, Neuheit – ein Charakteristikum JHWHs und seiner ebenfalls wörtlich zu verstehenden Kreativität. 259 Vgl. Levinson, Der kreative Kanon, 26 – 64; 100 –106; Levinson, B. M., Strategies for the reinterpretation of normative texts within the Hebrew Bible, in: Intl J Legal Discourse 3 (1/2018), 1–31; Ders., Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation, New York – Oxford 1997. 260 Vgl. Schmid/Schröter, Die Entstehung, 135 –142. 261 Vgl. Schmid/Schröter, Die Entstehung, 138. Durch die „subversive Rezeption neuassyrischer Vasallenverträge“ entsteht im Deuteronomium „das erste Mal in der altorientalischen Rechtsgeschichte die Vorstellung von einem göttlichen Gesetzgeber und einem göttlichen Gesetz.“ 262 Schmid/Schröter, Die Entstehung, 139. 263 Vgl. Ska, J. L., The Law of Israel in the Old Testament, in: Ska, J. L., The Exegesis

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„Diese Zuordnung von Text und Kommentar ist von entscheidender theologischer Bedeutung: Biblisch gesehen ist nicht das Gesetz an sich normativ, sondern das Gesetz und seine Auslegung. Mit anderen Worten: Die Dynamik der Auslegung ist bereits im Kanon selbst verankert und weist so auch über diesen hinaus. Ein zeitloses göttliches Gesetz gibt es in der Bibel nicht, auch und gerade das göttliche Gesetz bedarf der fortwährenden Aktualisierung.“264

Anhand des biblischen Kanons wird die unvermischte und untrennbare Verbindung von Schrift und Tradition deutlich: Das Wort Gottes bedarf der Deutung und Aktualisierung in neuen Kontexten.265 So zeigt sich, „dass die Autoren der nachexilischen Erzählzeit der Meinung waren, dass es keine Unveränderbarkeit des Gotteswortes gebe, sondern es den wandelbaren Lebensumständen entsprechend auszulegen sei.“266 Der Zugang zum Willen Gottes ist nur durch die aktualisierende Auslegung der Tora möglich, derer man sich je neu vergewissert. „Die Tora wird grundlegend umgeformt durch die Interpretation der Tora. Die Tradition selbst erscheint hier als hermeneutische Konstruktion, da das Zitieren von Tradition ein Mittel zu ihrer Überarbeitung darstellt. Zitierungen führen nicht zu passiver Unterwerfung unter eine vorgeblich autoritative – kanonische – Quelle, sondern zur kritischen Auseinandersetzung mit ihr. […] Das Konzept der Autorität von Texten im alten Israel war also zutiefst dialektisch: Der Bruch mit der Tradition drückt sich in der Sprache der Tradition aus.“267

So spiegelt sich nach Jean-Pierre Sonnet in der Redaktion des Pentateuch das Bewusstsein um die aktive Weiterentwicklung der Offenbarung, deren „Update“ durch die Schriftsteller hier mit göttlicher und prophetischer Autorität legitimiert werden soll, weil sowohl Gott selbst als auch Mose sich dieser Hermeneutik der Innovation und Aktualisierung bedienen.268 of the Pentateuch. Exegetical Studies and Basic Questions (FAT 66), Tübingen 2009, 196 – 220, 211 f. 264 Schmid/Schröter, Die Entstehung, 141 f. 265 Vgl. Stemberger, G., Hermeneutik der jüdischen Bibel, in: Dohmen/Stemberger, Hermeneutik, 29 –141, 35; vgl. Fischer, I./Winter, R., Schrift und Tradition versus sola scriptura und den Leuten aufs Maul schauen? Der konfessionelle Streit um die Bedeutung der Schrift und deren Auslegung auf dem Hintergrund der neueren Rezeptionsdiskussion, in: JBTh 31 (2016), 25 – 46, 30. 266 Otto, Deuteronomium, 704. 267 Levinson, Der kreative Kanon, 101 ff. Dies treffe auch auf die Zeit nach Abschluss des Kanons zu. 268 Vgl. Sonnet, J.-P., Does the Pentateuch Tell of Its Redactional Genesis? The Characters of YHWH and Moses as Agents of Fortschreibung in the Penateuch’s Narrative Word, in: Gertz, J./Levinson, B./Rom-Shiloni, D./Schmid, K. (eds.), The Formation of

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Damit ist im Kernbereich der Schrift – der Tora – eine theologisch bahnbrechende Selbstreflexion biblischer Autorenschaft und ihrer Theologie gegeben, die auf die essentielle Dynamik der Offenbarung Gottes und seiner Weisung in der Brechung menschlicher Worte und Erfahrungen verweist, die stets kontingent sind und daher immer wieder zu Aktualisierungen führen. Um also Gott und der Dynamik seines Wortes gerecht zu werden, charakterisieren die biblischen Autoren Gott und seinen exegetischen Propheten (Mose) so, wie die Weisung Gottes theologisch verstanden wird: verbindlich, aber keinesfalls statisch und auf den Text fixiert. „both God and Moses have progressively assumed explicit scribal features. […] the narrative scenography mirrors redactional activities, the text offering a dramatized mise en abyme of its own making. With its cast of scribal characters, its plot of continuity and discontinuity in revelation, and its variegated discursive settings, the Pentateuch is thus a narrative treatise about what biblical legal writings is all about. […] Throughout the Pentateuch, God and Moses have done, before anyone else, what the scribes have always done: they have updated, amended, and supplemented. Through the projection of such characters in the narrated story, characters endowed with their own hermeneutical skill, the scribes have authorized – better, canonized – their own work, inscribing their practice in the texture of the founding events. They have cast God and his prophet as scribes in their own image, so as to become scribes in God’s and Moses’s images.“269

Die Hermeneutik der Redaktion erkennt sich selbst in Gottes Offenbarungsdynamik und ihrer Auslegung durch Mose wieder und gestaltet darum die narrative Entfaltung dieser Offenbarung nach demselben dynamischen Muster.

the Pentateuch (FAT 111), Tübingen 2016, 269 –282, 269 f.: „In the staging of the Pentateuch, both God and Moses are cast in hermeneutical and scribal ventures. In a substantial part of the five books, the plot is the story of a progressive yet discontinuous legal revelation and of ongoing yet intermittent updating of regulations. The narrative process in question […] both camouflages and mirrors the redactional process implied in the genesis of the biblical texts. In a certain sense, the authors of the Pentateuch have turned its formation and compositional growth into one of its main themes, thanks to appropriate characters: a revisionary God and an exegetical prophet. […] the authors of the Pentateuch have turned redaction into revelation: the redaction process, behind the scenes, is analogically mirrored on the front stage in the narrative unfolding of the revelation process. […] The primary achievement in the redaction-as-revelation story of the Pentateuch is the casting of a revisionary God who engages in continuous updating and confirmation of his words by supplementing and reformulating them.“ 269 Sonnet, Does the Pentateuch, 281 f.

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Ralf Rothenbusch verweist auf eine „fortschreitende ‚Sinnpflege‘ und Aktualisierung der rechtlichen und ethischen Überlieferung im Rahmen der Tora“.270 Deren historische Entwicklung sei „in ihren Texten und in ihrer Komposition nachvollziehbar.“271 Natürlich ist die Genese der Hl. Schrift auch relevant für die sie rezipierende Theologie. Dabei kann zwischen dem Kern der göttlichen Offenbarung und den weiteren Geboten differenziert werden. „Der Dekalog ist der Grundtext, der in den übrigen Rechtssammlungen der Tora ausgeführt bzw. ausgelegt wird.“272 In dieser Differenzierung von Dekalog und den anderen Rechtsüberlieferungen der Tora liege auch ein Grund für deren permanente Aktualisierung. Norbert Lohfink unterscheidet zwischen „prinzipiellem und unwandelbarem Gotteswillen einerseits und dessen wandelbarer und jeweils zeitbedingter Konkretion andererseits“.273 Es ergebe sich die Möglichkeit und die Pflicht, dass „auch kommende Generationen vom gleichbleibenden Grundwillen Gottes her neu nach der konkreten Formulierung des Gotteswillens für das Gottesvolk der eigenen Zeit fragen.“274 Das Prinzip der permanenten Vergewisserung am Text und Aktualisierung im neuen Kontext ist gebunden an eine offenbarungstheologische Priorisierung und Konzentrierung, die zu einer Differenzierung führt. Zur Debatte steht dabei die „Notwendigkeit einer steten Aktualisierung der Gebote in den sich wandelnden Lebensumständen. Das geschieht im Rückgriff auf die ältere Tora-Überlieferung und gibt das auch für ihre 270 Vgl. Rothenbusch, R., Normativität und Sinnpflege in der Tora. Zur hermeneutischen und theologischen Bedeutung der Fortschreibung biblischer Texte, in: Lehmann/ Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 255 –285, 275. Vgl. ebd., 267: „Die Tora bewahrt so in verschiedenen historischen Situationen entstandene – und in gewissem Maße konkurrierende – Tora-Überlieferungen nebeneinander, die offenbar schon als normativ und anfanghaft als kanonisch angesehen wurden.“ Das bedeutet, „ältere Überlieferungen werden dabei bewusst für sich stehen gelassen, jüngere daran angeschlossen und damit vermittelt“, woraus sich „ein außerordentlich lebendiger Prozess“ der Fortschreibung ergibt (264). 271 Rothenbusch, Normativität, 268. Vgl. ebd., 279: „Gerade die Tora bewahrt die Spuren ihres Wachstums und ihrer historischen Dynamik, ihre ganze Gestalt ist geprägt von ihrer geschichtlichen Dimension.“ 272 Rothenbusch, Normativität, 271, mit Bezug auf N. Lohfink und D. Markl. 273 Lohfink, N., Kennt das Alte Testament einen Unterschied von „Gebot“ und „Gesetz“? Zur bibeltheologischen Einstufung des Dekalogs, in: Ders., Studien zur biblischen Theologie (SBAB 16), Stuttgart 1993, 206 –238, 236. 274 Lohfink, Kennt das Alte Testament, 236. Vgl. dazu Rothenbusch, Normativität, 272 f., Anm. 63.

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weitere Auslegung vor.“275 Durch gezielte Vermittlung älterer und jüngerer Texte bleiben jedoch auf synchroner Ebene bewusst inhaltliche Spannungen bestehen. Sie sind „ein Hinweis auf die historische Entwicklung und Dynamik der Tora, was letztlich auch eine Vorgabe für ihre Auslegung ist, die schon in der produktiven Phase der Tora beginnt.“276 Diese Spannungen in der Tora seien insofern „produktiv im Prozess ihrer Aktualisierung. Und diese historische Dynamik ist nicht nur ein wesentliches Charakteristikum der Tora, sondern auch wichtig für ihre weitere Auslegung, gerade auch im Rahmen des Kanons.“277 Die mit Blick auf den Dekalog zunächst mythologisch erscheinende Vorstellung eines selbst schreibenden und sich an seine Schrift bzw. Vorschrift bindenden Gottes (vgl. Dtn 5,22) dient, in Absetzung zum altorientalischen Kontext, der „rational discursiveness of God’s revelation“ und gewährleistet auch eine einzigartige Kontinuität für den Bund, der sich darauf bezieht.278 Denn das zentrale Anliegen von Dtn liegt in der Kommunikation der Tora und ihrer Vermittlung für die Zukunft.279 Eine lebendige Tradition ist darum medial an diese Vor-Schrift gebunden, auch wenn diese immer wieder im Rahmen der Tradition überschritten wird, die weitere Schrift hervorbringt.280 Die Schrift ist darum mit der sie lesenden, in neuen Kontexten auslegenden und zur Anwendung bringenden Glaubensgemeinschaft verwoben, die eine theozentrische Norm als Weisung verbindlich anerkennt, um deren Kern je neu fruchtbar zu machen. Dies gilt in analoger Weise übrigens für prophetische und weisheitliche Literatur.281

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Rothenbusch, Normativität, 278. Rothenbusch, Normativität, 272. 277 Rothenbusch, Normativität, 279, mit Bezug auf N. Lohfink, E. Otto, D. Markl und K. Finsterbusch, der betont, der Pentateuch sei „ein im gesamten Orient einmalig ‚dynamisches‘ Dokument.“ Vgl. Rothenbusch, Normativität, 279, Anm. 82. Dies dürfte wohl an der spezifischen Dynamik der Gotteserfahrung(en) Israels liegen. 278 Vgl. Sonnet, The book, 51. 279 Vgl. Sonnet, The book, 259 –262. 280 Vgl. Sonnet, The book, 261: „The reader comes to know the Torah as spoken by Moses, but Moses’ spoken word is, from the outset, a written word within the book of Deuteronomy. If irony is to be found in Deuteronomy, it is that irony of the unavoidable character of the written form.“ 281 Vgl. Schmid, Die Schrift als Text und Kommentar, 55: „Auch hier bedürfen mit göttlicher Autorität ausgestattete Aussagen bisweilen der Aktualisierung, Ergänzung oder Korrektur. Offenkundig kommen dabei in der Prophetie auch Techniken zur Anwendung, die aus der Rechtstradition stammen.“ Vgl. Steck, O. H., Gott in der Zeit 276

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Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon

Die mit der Relevanz für die jeweilige Glaubensgemeinschaft verbundene Aktualisierbarkeit und „adaptability“ der Schriften ist gebunden an deren zunehmende Stabilität, wie J. Sanders deutlich macht: „The major characteristic of scripture as canon is its relevance to the ongoing life of the community that passes it on from generation to generation; second to this is the characteristic of stability.“282 Mit der Intensivierung der Stabilisierungsprozesse veränderte sich die an die Texte herangetragene Hermeneutik: von der göttlich inspirierten Botschaft (message) der noch offenen Texte hin zur Verbalinspiration des Textes selbst.283 Dies zeige sich schon anhand der Zitierweise des AT im NT, so Sanders: „in early New Testament literature such citations exhibit all the traits of textual fluidity one sees in early Jewish literature generally, but later New Testament citations appear to have been rectified or edited to reflect a more stable Septuagint text (as in the long citations in Matthew and Luke).“284 Mit der wachsenden Stabilität und Fixierung der Texte gilt es eine immer stärker werdende Spannung zu überbrücken: „All biblical tradents had and have two responsibilities: the past and the present, i. e., the Vorlage being copied or translated, and the community being served thereby.“285 Sobald nun diese Spannung in neuen kulturellen (Zeit-)Räumen nicht mehr durch neue Änderungen im Text selbst überbrückt werden konnte, etablierte sich das Konzept einer mündlichen Tora in Verbindung mit dem abgeschlossenen, unantastbaren Text. „The relation between Written Torah and Oral Torah was embedded in the shift from dynamic to verbal understandings of inspiration.“286 Sanders sieht in dieser neuen Art von Exegese auch einen Grund dafür, dass das Rabbinische Judentum sich gegenüber anderen Strömungen durchsetzen und in neuen Kontexten überleben konnte.287 Denn „the increasing irrelevance“ alter Texte aus vergangener Zeit konnte nicht mehr durch Veränderungen im Text entdecken. Die Prophetenbücher des Alten Testaments als Vorbild für Theologie und Kirche (BThSt 42), Neukirchen-Vluyn 2001. 282 Sanders, J. A., The Issue of Closure in the Canonical Process, in: McDonald, L. M./ Sanders, J. A. (eds.), The Canon Debate, Peabody 2002, 252–263, 256. 283 Vgl. Sanders, The Issue, 257. 284 Sanders, The Issue, 257. 285 Sanders, The Issue, 257. 286 Sanders, The Issue, 257. 287 Vgl. Sanders, The Issue, 257. Zur Verflochtenheit von biblischer Überlieferung und Auslegung, Schrift und Rezeption, aus jüdischer Sicht vgl. Liss, H., Hebraica Veritas? Jüdische Bibelauslegung, wissenschaftliche Bibelforschung und die alt-neue Frage nach ihrer Kommunikation, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 337–356. Vor

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selbst bewältigt werden – wie etwa in der Phase, als die Texte noch relativ offen waren und diese „textual fluidity“ Modifikationen zuließ. Es bedurfte nun, so könnte man sagen, einer neuen Art von Akkommodation und Inkulturation. Das Christentum entwickelte – analog zum Judentum288 – einen souveränen Umgang mit den alten Texten „der“ Schrift, indem es sie allegorisch, typologisch, spiritualisiert oder eschatologisch betrachtete. Auf diese Weise versuchte man der bleibenden Relevanz der alten Texte unter neuen Bedingungen Rechnung zu tragen289 – eine Lesart, die Marcion offenbar bewusst ablehnte, wenn er diese Texte als irrelevant und überholt betrachtete.290 Umgekehrt konnte die allegorische oder typologische Lesart in ihrer Suche nach dem eigentlichen, „geistlichen“ Sinn der Schriften diese alten Texte in ihrer historischen Eigenbedeutung völlig unterlaufen.291 Entscheidend bleibt, dass die Glaubensgemeinschaft als Rezeptionsgemeinschaft schon in die Struktur und Genese des Kanons selbst aktiv involviert ist. Dann gilt jedoch: Die Genese und Struktur der Bibel sind eine Blaupause für die aktive Weiterentwicklung der Glaubensgemeinschaft und ihres Glaubens in ihrer Offenheit für die Zukunft. Am Alten Testament wird dies auf Grund seines Textbestands und dessen zeitlicher Erstreckung in besonderer Weise deutlich. Der sukzessive Übergang von adaptierbaren, fluiden und flexiblen Texten hin zu stabilen und geschlossenen Schriften im Gebrauch der Glaubensgemeinschaft und die damit verbundene Tendenz im Inspirationsverständnis hin zur Verbalinspiration bildeten die Grundlage für einen notwendigerweise abgeschlossenen Schriftkanon.292 Der kanonische Prozess mündet als Rezeptionsprozess zwangsläufig in die Kanoni-

dem beschriebenen philologischen Hintergrund scheint das protestantische Prinzip „sola scriptura“ höchst fragwürdig und letztlich unhaltbar. 288 Vgl. Stemberger, G., From inner-biblical interpretation to rabbinic exegesis, in: Paget/Schaper (eds.), The New Cambridge History, Vol. 1, 190 –217. 289 Vgl. Schwienhorst-Schönberger, L., „Damit die Bibel nicht ein Wort der Vergangenheit bleibt“ – Historische Kritik und geistige Schriftauslegung, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 177–201. 290 Vgl. Barton, J., Marcion Revisited, in: McDonald/Sanders (eds.), The Canon Debate, 341–354. 291 Vgl. Frevel, C., Vom bleibenden Recht des Textes vergangen zu sein. Wie tief gehen die Anfragen an die historisch-kritische Exegese?, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 130 –176. 292 Vgl. Sanders, The Issue, 258.

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sierung.293 Das gilt für das AT ebenso wie für das NT. Im Zentrum steht dabei die Relevanz der Texte im Gebrauch der Glaubensgemeinschaft.294 „Once the text could no longer be modified to show relevance, hermeneutic rules were devised to break open the frozen text, as it were, and make it applicable again to the needs of believing communities.“295 Sanders kommt zu dem Schluss: „Relevance or adaptability has always been the primary trait of a canon, early and late.“296 Der Kanon ist also an die Überlieferungs- bzw. Rezeptionsgeschichte gebunden und bleibt offen für Interpretation.297 Mit dem Hinzufügen des NT entwickelt sich für das frühe Christentum der Kanon seiner Hl. Schrift und sein kanonischer Prozess mündet schrittweise in die Kanonisierung der zweigeteilten Bibel. Zur Frage nach der genauen Datierung des Kanonabschlusses in Christentum und Judentum stellt Sanders treffend die rhetorische Frage: „Is it so important after all?“298 Denn entscheidend ist aus systematisch-theologischer Perspektive nicht der Zeitpunkt, sondern die damit verbundene Konsequenz. „The closures enveloped enough internal dialogue for the process of repetition/recitation, which had started it all, to continue unabated in the communities that find their embracing identity in their canon. No closure can curb the dialogue that is inherent in a canon of scripture, which, over against the magisteria and regulae fidei that developed after closure in all churches, mandates dialogue about its continuing relevance and authority. A canon is basically a community’s paradigm for how to continue the dialogue in ever changing socio-political contexts.“299

Die Brücke zwischen den fixierten Texten und der „ongoing community“ in ihrer Gegenwart zu schlagen, ist eine Herausforderung für die gesamte Glaubens- und Rezeptionsgemeinschaft, die in besonderer Weise von den Übersetzern, Predigern, Kommentatoren – auch der Theologie – geleistet werden muss und nur im Dialog geleistet werden kann: „The Bible is a 293 Vgl. Ulrich, E., Canon. II. Formation of the Hebrew Bible/Old Testament, in: EBR 4, 891– 897, 896 f. 294 Vgl. Bokedal, T., The Formation and Significance of the Christian Biblical Canon. A Study in Text, Ritual and Interpretation, London 2015, 8 f.; 361 ff. 295 Sanders, The Issue, 259. 296 Sanders, The Issue, 259. 297 Vgl. Hartenstein, F., Kanongeschichte(n) und Geltungsfragen. Ein alttestamentlicher Beitrag zum „Primat der Praxis“ für eine Theologie der Schrift, in: Gräb-Schmidt, E./Leppin, V. (Hg.), Kanon (MthSt 131), Leipzig 2019, 1–35. 298 Sanders, The Issue, 262. 299 Sanders, The Issue, 262.

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dialogical literature that in turn gave rise to two dialogical religions based on it.“300

2.3. Spiegel kollektiver Identität in Pluralität und Dialog Es gibt nicht einfach den biblischen Kanon, sondern nur den Kanon einer konkreten Glaubensgemeinschaft.301 Es handelt sich nicht einfach um eine normativ festgelegte Literaturkollektion, sondern um ein funktionales, kollektives Gedächtnis – d. h. um gesammelte Erinnerungen und gewachsene Glaubenszeugnisse einer solchen Glaubensgemeinschaft, auf die immer wieder neu aufgebaut wurde.302 Die Geschichte des Christentums ist und bleibt mit der Geschichte Israels verwoben, ohne dass diese einfach in der Kirchengeschichte aufginge. „Geschichte wird erinnert und verinnerlicht als identitätsstiftendes und traditionsbildendes Element. Jedes Ich wird ein Glied in der Traditionskette des kollektiven Wir. Erinnerung ist Verbindung.“303 Diese Verbindung impliziert aber eine bleibende Unterschiedenheit, insofern das Christentum nicht einfach mit Israel identisch ist und es in seiner eigenen Heilsbedeutung nicht ersetzt. Es sind die Hl. Schriften, die Israels Identität ebenso wie die des Judentums und der Kirche durch Krisenerfahrungen hindurch transportieren304 und verbürgen305 und die gerade in ihrer vielstimmigen Einheit 300 Sanders, The Issue, 262. Vgl. Ders., Scripture as Canon in the Church, in: Congregazione per la Dottrina della Fede (ed.), L’interpretazione, 121–143, 134. 301 Vgl. Dohmen, Juden und Christen, 75; Carr, D., Canonization in the Context of Community: An Outline of the Formation of the Tanakh and the Christian Bible, in: Weis, R./Carr, D. (eds.), A Gift of God in Due Season. Essays on Scripture and Community in Honor of J. Sanders, Sheffield 1996, 22– 64. 302 Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 96 f., verweisen in einer treffenden Analogie auf einen Dom, insofern jede Generation ihre Spuren beim Bau, Ausbau und Umbau einer Kathedrale einbringt. Die verschiedenen Epochen sind am fertigen Gesamtgebilde und seiner Ausstattung ablesbar. 303 Lenzen, V., Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes. Studien über die Heiligung des göttlichen Namens (Kiddusch HaSchem), München 22002, 178. 304 Vgl. Markl, D., Media, Migration, and the Emergence of Scriptural Authority, in: ZTP 143 (2021), 261–283. 305 Vgl. Schwöbel, Erwartungen, 170 –176. Diese Identität sei „streng theologisch zu begreifen“ (174). Eine solche „relationale“ Identität ist bestimmt durch die Treue Gottes zu seinem Volk. In dieser Bundes-Treue Gottes verortet sich auch die Identität des Christentums, das darum essentiell auf das AT verwiesen ist. „Der Kanon ist die Summe der Erinnerung – auch der erinnerten Erwartung – der jede Gegenwart deutbar und jede Situation gestaltbar macht.“ (181) Dies sei kein literarisches Postulat, sondern

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und Gesamtheit rezipiert werden.306 Der Kanon ist dabei Produkt theologischer Entscheidungen und entsteht durch „produktive Rezeption“307 einer partizipierenden Glaubensgemeinschaft. Zugleich normiert er weitere Rezeptionsprozesse, die wiederum selbst Tradition bilden.308 In ihrer Zweiteilung aus AT und NT „stellt die christliche Bibel das Zeugnis christlicher Identität dar.“309 Dass diese Identität in ihrer Diversität von Anfang an nicht einheitlich bestimmt oder trennscharf von Israel abgegrenzt werden kann, dürfte dann wohl kaum verwundern.310 Die Schriften des NT dokumentieren nicht nur eine von Jesus selbst angestoßene Sammlungsbewegung, sondern auch deren kollektive Identitätsbildung311 als Christusanhänger – anhand der Schriften Israels, um die eigenen Überzeugungen normativ festhalten und auf gesicherter Basis weiter tradieren zu können.312 Durch die intertextuellen Bezüge zwischen eine theologische Basisannahme, die in Gottes Treue und seiner Beziehung zur Welt gründet und ihn a posteriori als referentielles Subjekt der Einheit in der Vielfalt des Kanons erkennt. Schwöbel betont die Balance von „Dynamik und Konstanz“ (182 f.). Aber es klingt fast prozesstheologisch, wenn er „nicht nur die Wandlungen der Gottesvorstellungen“ im Blick hat, sondern auch „die Wandlungen Gottes in dem Prozess, in dem er seine Gnade und Wahrheit zur Verwirklichung bringt“ (183). 306 Vgl. Steins, Der Bibelkanon, 331. „Denn die Bibel ist nicht einfach eine Sammlung beziehungslos nebeneinander stehender Texte, sondern Ausdruck einer einzigen großen und komplexen Tradition, auf die sich Judentum und Christentum bleibend beziehen.“ 307 Dohmen, Der Kanon des Alten Testaments, 280; Ders., Biblische Auslegung. Wie alte Texte neue Bedeutung haben können, in: Hossfeld, F.-L./Schwienhorst-Schönberger, L. (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch. FS für E. Zenger, Freiburg i. Br. 2004, 174 –191. 308 Vgl. Lohfink, Alttestamentliche Wissenschaft, 21. 309 Dohmen, Die Heilige Schrift der „Anderen“, 373. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 99. Der Kanon sei „wie ein Spiegel“, in dem die Kirche ihre Identität immer wiederentdecken und verifizieren könne. 310 Vgl. Lieu, J. M., Christian Identity in the Jewish and Graeco-Roman World, Oxford 2006. 311 Insofern christliche Identität sich an diese Schriften gebunden weiß, scheint der nicht unumstrittene Begriff der „kollektiven Identität“ durch diese materiale Sammlung zumindest a posteriori plausibel. Zum Identitätsbegriff vgl. Strecker, C., Identität im frühen Christentum? Der Identitätsdiskurs und die neutestamentliche Forschung, in: Öhler, M. (Hg.), Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt 142), Neukirchen-Vluyn 2013, 113 –167. 312 Vgl. Alkier, S., Identitätsbildung im Medium der Schrift, in: Grohmann, M. (Hg.), Identität und Schrift. Fortschreibungsprozesse als Mittel religiöser Identitätsbildung (BThSt 169), Göttingen 2017, 105 –161, 105. Die Schriften des NT sind Zeugnis der „Komplexität, Vielfalt und Widersprüchlichkeit kollektiver Identitätsfindungsprozesse unter den Christusanhängern ihrer Zeit.“

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AT und NT wird eine „verbindende, weil verbindliche Perspektive“ erzeugt.313 Die kollektiven Identitätsbildungsprozesse stehen dabei als „dialogische Zeichenprozesse“314 im Spannungsverhältnis von alt und neu, Kontinuität und Diskontinuität, und vollziehen sich durch die Vergewisserung am Text und aktualisierende Deutung der Schrift.315 „Das Evangelium von der Auferweckung des Gekreuzigten durch den Gott Israels ist die Grunderzählung personaler christlicher Identitätsbildung, die durch die identifizierende Rezeption dieser Erzählung zu kollektiven Identitätsbildungen maßgeblich beiträgt und von der aus dann die Heiligen Schriften Israels im Laufe der kanonischen Prozesse zum Alten und Neuen Testament werden. Das Evangelium vom auferweckten Gekreuzigten ist das Neue Testament, das aber nicht in einer einzigen Gestalt vorhanden ist, sondern in der dialogischen Vielfalt seiner Performanzen Gestalt annimmt und wirkt.“316

Solche Identitätsfindungsprozesse implizieren außerdem die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung, Selbstreflexion und Selbstkritik.317 Fragt man nach der Identität der an Christus Glaubenden, so handelt es sich um dynamische „Interpretationsprozesse […] im Wandel der Zeiten“ und nicht um ein statisches, unveränderliches Objekt.318 Daher geht die christliche Identitätsfrage weiter, weil sie an Interpretation und Dialog gebunden ist und die Rezeption des Glaubens und seiner Zeugnisse unter geschichtlich-kulturell neuen Bedingungen neu gelebt werden muss, um sich damit identifizieren zu können. Es gibt schon mit Blick auf die antike Quellenlage nicht einfach „die“ christliche Identität in vermeintlicher Abgrenzung zu „der“ jüdischen Identität. Die in den Schriften Israels319 erkenn313 Vgl. Alkier, Identitätsbildung, 157. „Christusanhänger kann nur der sein, der die Heiligen Schriften Israels als Erkenntnishorizont des Evangeliums von Jesus Christus respektiert und den Gott, von dem Jesus von Nazareth sprach, als den Gott erkennt, der den Gekreuzigten vom Tod auferweckt und neues, ewiges Leben geschenkt hat und diesen Gott mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott Israels identifiziert.“ 314 Vgl. Alkier, Identitätsbildung, 121 f. 315 Vgl. Alkier, Identitätsbildung, 153 f. „Die paulinischen Briefe werden somit zu einem Resonanzraum der Schrift, die durch die neue Perspektive des Wortes vom Kreuz in Kontinuität und Diskontinuität zur Tradition steht.“ Auch andere ntl. Schriften nutzen „intertextuelle Schreibverfahren“ und eröffnen „durch diese Fortschreibungsprozesse der Heiligen Schriften Israels eine kollektive Identität“ für folgende Christusanhänger (vgl. 155). 316 Alkier, Identitätsbildung, 160. 317 Vgl. Alkier, Identitätsbildung, 124. 318 Vgl. Alkier, Identitätsbildung, 129. 319 Vgl. Graf, P., Isolation oder Integration? Verschiedene Konzepte der Identitätsbildung Israels im alttestamentlichen Kanon veranschaulicht anhand des Motivs {rx (he˙

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baren, pluralen Prozesse der Identitätsfindung setzen sich auch im Umfeld des Neuen Testaments fort. Sie sind in ihren situativen Kontexten komplexer und vielschichtiger, als lange Zeit angenommen wurde.320 Wenn sich das Christentum zunächst selbstverständlich und schließlich sehr reflektiert in die Tradition Israels stellt, den Ursprung und das Ziel dieser Glaubensgemeinschaft – JHWH – als das Kontinuum und den Garanten des eigenen Glaubens betrachtet, den es auch in den schon bald aufkommenden Debatten um die Verhältnisbestimmung von Gott Vater und „dem Sohn“ als kritisches Korrektiv wahrt, so sichert die Kirche einzig und allein durch den Bezug auf das Alte Testament und dessen ganzheitliche Rezeption ihre essentielle Identität in Abgrenzung zu Strömungen, die mit dem Glauben an JHWH nicht vereinbar sind. Damit sichert sie aber auch die Grundlagen für die theologische Verarbeitung ihrer Glaubenserfahrung. Der Gebetspraxis der Kirche würde z. B. ohne die Psalmen genauso die Sprache fehlen wie der bald anhebenden Deutung der Person Jesu. Die Schriften des AT liefern dem NT damit nicht nur die Sprache, sondern auch den gesamten Verständnishorizont321, vor dessen Hintergrund sich der christliche Glaube artikuliert, um sich auf eben dieser normativen Basis später immer weiter und immer wieder inkulturieren zu können. Das AT gibt dem NT und damit der Kirche die notwendige Sprache, um ihren Glauben mit bewährten Denkmustern artikulieren zu können.322 Die gesamte Identität der Kirche hinge in der rem), in: Friesen, M./Hesse, C. L. (Hg.), Antike Kanonisierungsprozesse und Identitätsbildung in Zeiten des Umbruchs (Wiss. Schriften der WWU Münster, Reihe X, Bd. 28), Münster 2019, 87–101; Kirschner, S. G., (K)ein Bethaus für alle Völker? Identitätskonflikte im Kanon der Hebräischen Bibel am Beispiel der perserzeitlichen Fremdenpolitik, in: Friesen/Hesse (Hg.), Antike Kanonisierungsprozesse, 103 –117, 115: „Der Kanon ist […] Produkt und Epiphänomen einer – mitunter harten – diskursiven Auslegung der Offenbarung des einen Gottes.“ 320 Vgl. Nicklas, T., Jews and Christians? Second Century ‚Christian‘ Perspectives on the ‚Parting of the Ways‘, Tübingen 2014; Nicklas, T., Parting of the Ways. Probleme eines Konzepts, in: Alkier, S./Leppin, V. (Hg.), Heiden – Juden – Christen? Religiöse Inklusionen und Exklusionen im Römischen Kleinasien bis Decius (WUNT 400), Tübingen 2018, 21– 42. 321 Vgl. Crüsemann, Das Alte Testament, 135 ff.; Huber, Das Neue im Alten, 294 f.; Thiselton, A., New Horizons in Hermeneutics, Grand Rapids 1992, 148 f.; Schröter, Das Alte Testament im Urchristentum, 57, spricht vom „Deutungshorizont“. 322 Vgl. Gunneweg, Vom Verstehen, 188. „Ist das Christusereignis wesentlich ein verkündigtes und immer neu zu verkündigendes Geschehen, ist es also wesentlich auf Sprache angewiesen, und ist Sprache anderes und mehr als nur die verbale Hülle und eine beliebig auswechselbare Form für mitzuteilende Inhalte, so wird der wesentliche

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Luft, wenn sie diesen Ursprung preisgäbe.323 Das gilt schon an zentralster Stelle, z. B. für die Anwendung des alttestamentlich vorgegebenen Christustitels auf Jesus.324 Immer wird die „Kontinuität der Geschichte und Person Jesu mit der in der Schrift niedergelegten Geschichte Gottes mit Israel aufgewiesen.“325 Es geht hierbei um Rezeptionsprozesse aufgrund neuer Erfahrungen, die es zu deuten gilt, um die Frage nach der eigenen Identität und dem neuen Lebensstil zu klären.326 Das Christentum übernimmt in gewisser Weise aber auch die Pluralität und Offenheit des AT, indem es daraus verschiedene Motive zur Deutung der Christuserfahrung anwendet und keine davon verabsolutiert. Die soteriologische Relevanz der Selbstoffenbarung Gottes durch Jesus Christus wird mit einer Vielzahl von Motiven veranschaulicht: Opfer, Sühne, Stellvertretung, Loskauf, der Gottesknecht, der Versöhnungstag,

und sachliche Zusammenhang der neutestamentlichen Botschaft mit der Sprache des Alten Testaments einsichtig.“ Die Sprache als „Welt- und Daseinsauslegung“ ist schon im primären Zeugnis des NT an das AT gebunden. 323 Vgl. Herms, E., Was haben wir an der Bibel? Versuch einer Theologie des christlichen Kanons, in: JBTh 12, 99 –152. 324 Vgl. Pietsch, Der fremde Gott, 11. „Der Christustitel ist das Gegebene; er repräsentiert eine Heilserwartung, die tief in der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte verankert ist und die frühchristliche Adaption des Begriffs entscheidend mit bestimmt. Die Applikation des Konzepts auf Jesus von Nazareth ist dagegen die neue Information, die das Eigentümliche der Aussage konstituiert. Dieser Vorgang manifestiert sich in den Modifikationen der Gesalbtenkonzeption, die mit ihrer Anwendung auf Jesus einhergehen. Im Akt der Rezeption erfolgt zugleich eine Transformation des Gegebenen, jedoch nicht in der Weise, dass es vollständig umgebildet würde und seine Eigenbedeutung ganz verlöre. Stattdessen bleiben beide Bildungselemente der Aussage unlöslich aufeinander verwiesen und interpretieren sich gegenseitig: Jesus (von Nazareth) (ist) der Christus. Alt und neu formen in diesem Sinn eine spannungsvolle Einheit, die frühchristlicher Identitätskonstruktion konstitutiv zugrunde liegt und sich im Rekurs auf ‚die Schrift‘ manifestiert.“ 325 Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 37. Vgl. auch Böttigheimer, Die eine Bibel, 151: „Der im Neuen Testament bezeugte Christusglaube versteht sich in Kontinuität mit der Glaubensgeschichte Israels, die im Alten Testament ihren maßgeblichen und identitätsstiftenden Niederschlag gefunden hat.“ 326 Sanders, Canon and Community, 28, spricht von identity und lifestyle. Vgl. Frankemölle, Das Neue Testament, 266: „Den Urchristen galten diese heiligen Schriften offensichtlich als Lebens-, Glaubens- und Sprach-Buch, das alle Kategorien auch der christologischen Reflexion enthält, was auch jüdische Theologen heute nüchtern feststellen können. Nicht in den denkerischen Kategorien liegt das Neue im Neuen Testament, vielmehr in der Überzeugung, Gott habe sich in Jesus von Nazaret selbst geoffenbart und deshalb sei das Heil für alle an ihn als theozentrisch gedeutete Person zu binden.“

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das Paschalamm, etc. Eben dieser Vielfalt der Deutungen bleibt man verpflichtet, insofern keine Erlösungstheorie jemals dogmatisiert worden ist.327 Nicht zu vergessen die ganze Bandbreite christologischer Hoheitstitel, die allein schon eine beachtliche theologische Pluralität einbringen und nicht nur die Soteriologie, sondern auch die Christologie der Alten Kirche in ihrer erfahrungsreichen Vielfalt charakterisieren und prägen. Obgleich aus der Perspektive späterer Handbuchliteratur substanzontologische Begriffe (wie z. B. homoousios) dominieren, sollte man sich doch nicht täuschen lassen, denn „in Wahrheit ist die überaus umfangreiche, zahllose Genres umfassende christologische Überlieferung des gesamten antiken Christentums weit vielfältiger, bilderreicher und poetischer als dieses Klischee vermuten lässt.“328 Man bleibt der Vielfalt von Deutungen treu, wie sie sich schon in „der“ Schrift selbst finden lässt. Diese Schriften Israels sind schließlich eine Kollektion, eine Sammlung, die dem Kollektiv, d. h. der versammelten Glaubens- und Rezeptionsgemeinschaft als Deutungsrahmen dient. Aus der korrelativen Verknüpfung tradierter Motive mit der Christuserfahrung entspringt letztlich auch die gesamte typologische Exegese, die diesen Bezug herstellen will. Sie strebt nach einer Aktualisierung für das Hier und Heute, wie es aus der Liturgie der Osternacht bekannt ist. Die Identität der christlichen Glaubensgemeinschaft lebt analog zu der des Judentums von diesem Aggiornamento. Sie wird in der Spannung von Kontinuität und Diskontinuität zum Ausdruck gebracht, durch verschiedene hermeneutische Zugangsweisen zur Schrift, die nun typologisch oder allegorisch gelesen wird, um diese Spannung zu überbrücken. Das geschieht auch durch das zunächst neutrale Modell „Verheißung – Erfüllung“, bei dem die Situation und Intention der Rezipienten sowie die funktionale Bedeutung dieses Schemas für die Identität der Leser zu beachten ist.329 Je größer 327

Vgl. auch Müller, Katholische Dogmatik, 377. Kany, R., Christologie im antiken Christentum, in: Ruhstorfer, K. H. (Hg.), Christologie, Paderborn 2018, 141–213, 154. 329 Vgl. Frankemölle, Das Neue Testament, 242: „Das Denkmodell Verheißung – Erfüllung, näherhin auch in der Konkretisierung von Typos und Antitypos ist in den jüdischen Schriften durchaus vorgegeben und keineswegs spezifisch christlich. Es hat zunächst eine kommunikative Funktion, nämlich die Kontinuität der Geschichte zu betonen. Es kann aber auch (nicht nur in nachneutestamentlicher Zeit) dazu dienen, die Verheißung als unvollkommen und als durch die Erfüllung überholt und veraltet zu verstehen, nicht aber als aktualisierend und als Erweis der Zuverlässigkeit der Treue Gottes. Das Modell an sich ist mehrdeutig, wenn man es losgelöst von der jeweiligen Sprechsituation ‚in sich‘ meint verstehen zu können.“ 328

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jedoch der Abstand in der Identifikation mit dem Glauben Israels und seiner Tradition wird, desto größer ist die Gefahr, dass die Schrift nur noch als Steinbruch missbraucht wird, um die passenden Passagen selektiv zu isolieren und der neuen Erfahrung antithetisch gegenüberzustellen. Dann degeneriert die intendierte Korrelation von Altem und Neuem zu einer Ideologie der Überbietung und die eigene Identität muss durch Abgrenzung von Israel profiliert werden. Christliche Identität ist allerdings nicht von der eigenen Geschichte und somit auch nicht von der Geschichte und der Schrift Israels trennbar.330 Für die frühchristliche Identitätsfindung gilt, was schon zuvor in der Geschichte Israels331 und später in der Kirchengeschichte immer wieder zu Tage tritt: „Tradition und Innovation bleiben konstitutiv aufeinander bezogen.“332 Dies hat hermeneutische Konsequenzen für alle weiteren Traditions- bzw. Rezeptionsprozesse innerhalb der Glaubensgemeinschaft. Denn die christliche Identität ist eben keine subjektive, sondern im Rahmen der kommunizierenden communio von Anfang an eine kollektive, die ihre gemeinsamen Erfahrungsschätze konstitutiv voraussetzt und sich mit ihnen differenziert (und kritisch) auseinandersetzt. „Die Frage nach der Kanonizität des Alten Testaments kann […] nicht in den Raum der persönlichen Frömmigkeit verwiesen werden, sondern betrifft die Kirche als Kommunikationsgemeinschaft des Evangeliums.“333 Die Überlieferungsgemeinschaft ist an die Kommunikation und den Dialog mit ihrer eigenen Geschichte – an die Schrift – gebunden. Und dies umso mehr, als dieser Dialog in der Schrift selbst als ihr eigenes hermeneutisches Prinzip ausgewiesen werden kann.334 Es handelt sich, mit

330 Vgl. Pietsch, Der fremde Gott, 10, der in Abgrenzung zu Harnack, Schleiermacher und Slenczka betont, religiöse Identität sei immer auch geschichtliche Identität, bei der es keine absoluten Anfänge gebe. Das gilt auch für das Christentum und für Jesus selbst, der Jude war. Die Identitätsfindung des frühen Christentums erfolge dabei „im Modus der Schriftauslegung, d. h. in abweichenden Lesestrategien und Rezeptionsprozessen der gemeinsamen, vorgegebenen Tradition“. Vgl. Hübner, H., Kanon – Geschichte – Gott, in: ZNT 6 (12/2003), 3 –17. 331 Auch die Identität Israels kennzeichnet ihr Prozesscharakter: Sie ist eine Identität im Wandel. Vgl. Grohmann, M., Diskontinuität und Kontinuität in alttestamentlichen Identitätskonzepten, in: Öhler (Hg.), Religionsgemeinschaft, 17– 42. Identitätsbildung geschehe durch die Begegnung mit dem Anderen. Personale Identität sei dabei im biblischen Israel eng an die soziale, kollektive Identität gebunden. 332 Pietsch, Der fremde Gott, 11. 333 Pietsch, Der fremde Gott, 12. 334 Vgl. Söding, Wegweiser, 13; 22; Alkier, Die Bibel, 46 f.

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Heckl335 gesprochen, um eine „generationenübergreifende Kommunikation mit Texten“, die Diskurse abbilden, bei denen Innovationen durch Harmonisierung oder Korrektur vermittelt werden. Diese Texte des AT (wie auch das NT) entstehen in einem „kreativen Prozess der Rezeption, Reproduktion, Kontrastierung und Abgrenzung“.336 J. A. Sanders und L. M. McDonald bezeichnen die Bibel daher als „a dialogical literature providing its own built-in self-corrective apparatus.“ Der Kanon könne als Paradigma gelten, „for how dialogue can continue to take place between these ancient texts and the ever-changing communities of faith“.337 Die Schriftauslegung und ihre theologische Produktivität sind von Anfang an unverzichtbar für die Identitätsbestimmung des Christentums als Glaubensgemeinschaft, die sich dabei selbstverständlich an den Schriften Israels orientiert und normiert.338 Gegen Slenczka betont Heckl: „Ein Verweis auf einen selektiven Gebrauch der alttestamentlichen Texte in der kirchlichen Verkündigung, auf die Tatsache, dass die messianische Interpretation der alttestamentlichen Überlieferungen sich aus historisch-kritischer Sicht nicht halten lässt, oder auch auf die Thesen des christlich-jüdischen Dialoges von der ursprünglichen Beziehung Israels zu den alttestamentlichen Schriften sind keine geeigneten Argumente, den Zusammenhang von alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften und von Kirche und Altem Testament zu bestreiten. Dieser hat sich […] genetisch im Prozess der Herausbildung der christlichen Gemeinschaft und ihrer Abgrenzung vom Judentum in der Identität des Christentums niedergeschlagen, so dass er nicht aufgegeben werden kann.“339

335 Heckl, R., Das Alte Testament – Grundlage christlicher Identität. Von der Entstehung der autoritativen Literatur des Judentums zu einer Hermeneutik des Alten Testaments, in: Theologische Literaturzeitung 143 (5/2018), 438 – 452, 442 f. 336 Heckl, Das Alte Testament, 443. Der Pentateuch z. B., der unter die Autorität des Mose gestellt wird, „trägt Altes und Neues und dabei zum Teil auch Disparates zusammen, verbindet es und harmonisiert zwischen sich widersprechenden Traditionen.“ (446) Dies gilt analog für das NT, denn mit den „pseudepigraphen Paulusbriefen suchte man danach die Autorität des Paulus in der sich weiterentwickelnden christlichen Gemeinschaft in einer veränderten Situation und in der Auseinandersetzung mit neuen Problemen zu nutzen. […] Es legt sich somit nahe, dass die neutestamentlichen Schriften als Teil des Diskurses um eine auf Jesus Christus bezogene religiöse Identität entstanden sind.“ (449 f.). 337 McDonald, L. M./Sanders, J. A., Introduction, in: McDonald/Sanders (eds.), The Canon Debate, 3 –17, 15. 338 Vgl. Pietsch, Der fremde Gott, 14 f. Vgl. auch Dünzl, F., Die Entscheidung der frühen Kirche für die heiligen Schriften des jüdischen Volkes, in: Dohmen (Hg.), In Gottes Volk, 21–31. 339 Heckl, Das Alte Testament, 451.

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Die Identitätsfindung des Christentums wurzelt in der Identität des Volkes Israel und findet von Anfang an dynamisch im Diskurs statt. Die Konzilien der Alten Kirche – schon in Jerusalem – und die Genese der trinitarischen und christologischen Dogmen sind ein Beweis dafür, dass der in der Schrift verwurzelte Diskurs nach Abschluss des Kanons nur in anderer Weise fortgesetzt wurde. Identität ist nämlich keine abgeschlossene, sondern eine dynamische Größe und daher im ständigen Fluss. Wer die Identität des christlichen Glaubens abstrakt durch überzeitliche Wahrheiten und Normen – als eine „philosophia perennis“ – einfrieren will, der darf sich nicht wundern, wenn der Traditionsstrom des christlichen Glaubens und Lebens langsam, aber sicher zum Versiegen kommt. „Die Bibel ist nicht einfach eine Bekundung von Wahrheiten. Sie ist Botschaft und hat Kommunikationsfunktion in einem bestimmten Kontext.“340 Der biblische Kanon bewahrt – sofern er nur ernst genommen wird – die Theologie davor, zum geschlossenen dogmatischen System zu degenerieren und die soteriologische Dynamik Gottes analytisch definieren (und damit eingrenzen) zu wollen. Biblische Theologie ist nicht statische Lehre, sondern dynamischer Dialog, Offenheit für neue Erfahrungen bei gleichzeitiger Bindung an bezeugte Erinnerungen.341 Zur Erinnerung gehört spannenderweise auch, „dass die Sünden der Erwählten, vor allem derer, denen Verantwortung aufgetragen ist, nicht einer Zensur zum Opfer gefallen sind.“342 Damit birgt die Bibel auch ein traditions- und institutionskritisches Potential in sich, das persönliches und strukturelles Versagen – sogar in der jungen Kirche – nicht einfach verschweigt, sondern selbstbewusst bezeugt und bekennt. Biblische Theologie verbietet es, individuelle und kollektive Glaubenserfahrungen voneinander zu trennen. Die einzelnen Schriften des Kanons spiegeln dieses Prinzip: „Spätere Generationen treten mit den paradigmatischen Formulierungen des Glaubens früherer Generationen in einen Dialog, deuten ihre eigenen Erfahrungen im Lichte der vorgegebenen Traditionen und schreiben sie in Auseinandersetzung mit der jeweils neu vorgegebenen Situation fort.“343 340

Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 42. Vgl. Oeming, Das Alte Testament als Teil, 269 –272; Schwöbel, C., Wie biblisch ist die Theologie? Systematisch-theologische Bemerkungen zur Themafrage, in: JBTh 25, 7–18. 342 Vanoni, G., Der Biblische Kanon. Institutionalisierte Erinnerung, in: ThPQ 151 (1/2003), 29 –36, 36. 343 Oeming, Das Alte Testament als Teil, 269. 341

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Der Kanon ist das „Dokument eines lebendigen Diskurses“344 und keine dialektische Synthese. Als Zusammenschau der Spannungen und Widersprüche menschlicher Existenz ist er ein zutiefst authentischer Spiegel des menschlichen Lebens, so Oeming. „Die Bibel ist so Zeugnis einer facettenreichen Geschichte, Zeugnis des jahrhundertelangen Lebens von Menschen vor Gott, auf das Wesentliche verdichtet.“345 Die Wahrheit und Weisheit Gottes erweisen sich als offenes und dynamisches Beziehungssystem in ihrer Unabschließbarkeit und Unverfügbarkeit. Auch gegenüber der begrenzten, subjektiven Sichtweise einzelner gilt: Deus semper maior. Hält die Systematische Theologie solche Spannungen aus? Hält sie der systematischen System-offenheit, die sich nicht in einen linearen Prozess hinein auflösen lässt, stand? „Die Sehnsucht nach Harmonie und Eindeutigkeit, nach endgültiger, unerschütterlicher ewiger Wahrheit wird vom Kanon selbst durchkreuzt.“346 Immerhin finden sich auch im Kanon des Neuen Testaments vier bewusst nicht harmonisierte Evan344

Oeming, Das Alte Testament als Teil, 269. Vgl. auch Berner, C., Gottes Wort und Schreibers Griffel. Die Redaktionsgeschichte alttestamentlicher Texte als Herausforderung für Exegese und Theologie, in: ZThK 118 (2/2021), 141–159, 157 f.: „Die Dynamik der Fortschreibungs- und Redaktionsprozesse ist unmittelbarer Ausdruck theologischer Diskurse, eines fortwährenden Ringens um die rechte Deutung des Gottesverhältnisses Israels und der angemessenen Art und Weise, dieses zu leben.“ 345 Oeming, Das Alte Testament als Teil, 269. Vgl. Schwöbel, Erwartungen, 179 ff. Die Vielfalt der theologischen Konzeptionen spiegle nicht nur ein Charakteristikum von menschlichen Rezeptionsformen, sondern auch von „Gottes kommunikativem Handeln selber“ (180). Vgl. Hartenstein, F., Relationalität als Schlüssel zum Verständnis JHWHs. Zur Beziehungslogik alttestamentlicher Gotteskonzepte, in: Meyer zu Hörste-Bührer, R./Bührer, W. (Hg.), Relationale Erkenntnishorizonte in Exegese und Systematischer Theologie (MThSt 129), Leipzig 2018, 161–179, 174. Das biblische Gottesverständnis orientiert sich an der dynamischen Beziehungswirklichkeit ein und desselben Gottes. „Das Alte Testament lässt sich so als ein Spiegel der anwachsenden Glaubenserfahrungen Israels lesen – in seiner Endgestalt ist es das Ergebnis einer strengen Auswahl von als glaubwürdig erkannten Zeugnissen. Zusammen machen sie deutlich, dass der Gott der Bibel in einem viel tieferen Sinn personal vorgestellt wurde, als man dies von einzelnen Individuen mit ihren begrenzten Lebensgeschichten sagen könnte.“ Hier könnte man heute wohl von Analogie sprechen. Das Beziehungsgeschehen zwischen Gott und den Menschen sei asymmetrisch zu verstehen und zugleich voll von Spannungen, so Hartenstein. Er verweist auf die im AT erkennbare „Reflexion auf den Menschen im Widerspruch zu Gott, dem Gott seinerseits durch ein unverdientes Rettungs- und Bewahrungshandeln widerspricht“, wobei die lebendige Dynamik Gottes in ihrer Unverfügbarkeit und souveränen Freiheit betont wird. Dabei zeigten sich komplementäre Phänomene von langzeitiger Kontinuität und Wandel (vgl. 175). 346 Oeming, Das Alte Testament als Teil, 270.

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gelien, mit dem johanneischen Verweis auf den einen Geist der Wahrheit, der die Wahrheit als dynamische Größe der Erkenntnis christologisch durch Erinnerung rückbindet, aber pneumatologisch auf Erwartung und neue Erfahrungen hin öffnet. Der biblische Kanon zeigt in seiner essentiellen Pluralität und geschichtlichen Kontingenz, dass inkarnierte Wahrheit niemals fertig und abgeschlossen, daher auch niemals als starres Lehrsystem (be)greifbar ist. Es handelt sich um eine „vielfältige Wahrheit“ in der Vielfalt ihrer Bezeugungen.347 Zwischen einer vermeintlich zeitenthobenen „philosophia perennis“ einerseits und volatilem Relativismus andererseits verweist die erfahrungsbasierte und erfahrungsoffene Selbstoffenbarung Gottes auf eine lebendige Glaubensgeschichte des Wortes Gottes, das nicht nur einen Menschen, sondern mit ihm auch die Geschichte aller Menschen angenommen hat und existentiell betrifft. Manfred Oeming formuliert es so: „Biblische Theologie kann von daher kein Arsenal von ewigen Satzwahrheiten produzieren, keine logische Entwicklungslinie präsentieren, an deren Ende eine eindeutige Wahrheit stünde. Die Wahrheit des Kanons ist anderer Art. Sie eröffnet einen Raum, ein Feld, ein Spannungsfeld mit mehreren, aber doch auch bestimmten Frequenzen. Die Wahrheit ist wesentlich diskurshaft, situativ, dialektisch. Sie kann immer nur im hermeneutischen Dialog von Tradition und Situation erfahren werden.“348

Die konkret greifbare – spürbare – Wahrheit, welche die Zeuginnen und Zeugen der göttlichen Selbstzusage am eigenen Leib erfahren und überliefert haben, ist Gotteswort in menschlichen Worten und aus menschlichen Perspektiven. Wer diese Uneindeutigkeit und Deutungsoffenheit ignoriert, klammert sich, mit Papst Johannes Paul II. gesprochen, an „eine falsche Auffassung vom Absoluten“ und ignoriert den geschichtlichen Charakter der Offenbarung ebenso wie ihre geschichtlich kontingente Reflexion und Verbalisierung, die verschieden rezipiert wird.349 347

Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, 145; 142. Oeming, Das Alte Testament als Teil, 270. Vgl. Ders., Vom Eigenwert, 335. Das AT ist in besonderer Weise Zeugnis für diesen lebendigen Dialog. Lohfink, Alttestamentliche Wissenschaft, 25, spricht von einer „Grenzüberschreitung“ von einer rein historisch arbeitenden Textwissenschaft hin zu einem Prozess, der sich „innerhalb einer Textgemeinschaft“ abspielt und auf aktualisierende Kontextualisierung und Systematisierung im aktuellen Glauben zielt. Vgl. auch Landmesser, C./Popkes, E. E. (Hg.), Verbindlichkeit und Pluralität. Die Schrift in der Praxis des Glaubens, Leipzig 2015. 349 Vgl. Johannes Paul II., Ansprache über die Interpretation der Bibel in der Kirche, in: Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche, 7–23, Nr. 8. Vgl. dazu: Dirscherl, E., Gott – Wer oder was ist das?, in: Dirscherl, E./Weißer, M., Dogmatik 348

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Auch die philologisch rekonstruierbare Fluidität der Texte und die verschiedenen textkritischen Variationen der einzelnen handschriftlichen Traditionen zeigen, dass es niemals den Bibeltext gab, sondern dass dieser Text selbst Gegenstand eines Diskurses, der verbalen Variation, Adaptabilität und Entscheidung war – von nach wie vor aktuellen Fragen der Anordnung und Übersetzung ganz abgesehen.350 Damit spiegelt der Text in seiner textkritischen Überlieferung selbst eine Pluralität und einen Dialog wider, dessen Gegenstand und Basis er schließlich auch in seiner jeweiligen finalen Edition bleibt. Der Plural der Zeugnisse und ihrer Rezeption gehört daher wesentlich zum bezeugten Inhalt.351 Die Vielstimmigkeit biblischer Zeugnisse ist auch in ihren historisch-kritisch rekonstruierbaren Kontexten gegen eine zu starke Überbetonung ihrer kompositorischen Endgestalt zu betonen.352 Immerhin erweist sich die Glaubensgemeinschaft selbst als dynamische und plurale Größe.353 Die Polyphonie des biblischen Kanons findet jedoch trotz aller Dissonanzen zu einer Melodie, die trotz verschiedener Lautstärken und Wiederholungen keine Stimme ganz unterdrückt, wenn sie nur im Rahmen jenes Chores bleibt, den der Kanon zum Lobpreis ein und desselben Gottes erklingen lässt.354 Auch für B. Janowski ist der Diskurscharakter der biblischen Überlieferungen immer geprägt von der Vielfalt und Pluralität der Gotteserfahrungen, die entsprechend rezipiert und zu einem kohärenten Kanon verbunden worden sind.355 „Diese Polyphonie des alttestamentlichen für das Lehramt. 12 Kernfragen des Glaubens, Regensburg 2019, 23 –54, hierzu: 25 –28; Dirscherl, E., Die Frage nach Jesus Christus und die Herausforderung des jüdisch-christlichen Dialogs in der Gottrede, in: Ders., Das menschliche Wort Gottes, 15 –35. 350 Vgl. Fabry, H.-J., Kirche und Bibel – ein spannungsvolles Verhältnis. Bibelhermeneutische Aspekte, in: Bruckmann/Dausner (Hg.), Im Angesicht, 239 –255. 351 Vgl. Sander, H.-J., Die kritische Autorität der Exegese für die Dogmatik. Theologie im Zeichen einer prekären Differenz über die Heilige Schrift, in: Busse (Hg.), Die Bedeutung, 38 –75, 43 f.: „Eine Rede von Gott, die glaubt, den Plural der Redeweisen überwinden zu können, ist entweder illusionär oder zerstörerisch.“ 352 Vgl. Oeming, Das Alte Testament als Teil, 213. 353 Vgl. Oeming, Das Alte Testament als Teil, 211. 354 Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 1, 133: „Man kann, um ein anderes Bild zu benutzen, eine Symphonie besser schätzen, wenn man gelernt hat, den Beitrag jedes der verschiedenen Musikinstrumente, die beteiligt sind, zu erkennen.“ Das gilt auch mit Blick auf die historisch-kritische Aufarbeitung des Traditionsprozesses, der zum Endtext (oder einer Glaubensformel) führt. Vgl. auch Hays, R. B., Intertextuality, Narrative and the Problem of Unity of the Biblical Canon, in: Alkier/Hays, Kanon, 53 –70, 62. 355 Vgl. Janowski, Die kontrastive Einheit, 85 – 89.

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Redens von Gott ist ein Spiegel der Einheit Gottes in der Vielfalt seiner Äußerungen – und zwar von Äußerungen, die schon immer kulturell geformt sind.“356 Solche Prägungen gilt es ernst und wahrzunehmen und in einen kritischen und konstruktiven Dialog mit den Gegenwartskulturen zu bringen. Der Kanon als hermeneutischer Rahmen setzt auch Grenzen für den kontrastiven Dialog der Texte.357 Es handelt sich um eine spannungsreiche Einheit in Vielfalt, wie Söding betont.358 „Der Plural der Offenbarungen verweist auf einen Singular der Offenbarung, der sich seinerseits in jener theozentrischen Perspektive erschließt, die im gesamtbiblischen Bekenntnis zum einen Gott angesprochen wird, der neutestamentlich das Bekenntnis zum einen Kyrios entspricht (1 Kor 8,6).“359 Das polyphone Zeugnis der Bibel in ihrer Einheit und Ganzheit verweist auf das Wort Gottes, das in den menschlichen Worten seinen Widerhall findet und nach christlicher Überzeugung konzentriert im inkarnierten Wort Gottes in Person begegnet, weil sich in ihm und seinem Geschick alle narrativen Fäden bündeln und stringent verdichten. Das inkarnierte Wort Gottes ist dabei eingebunden in den Bund Gottes mit seinem Volk und mit allen Menschen. „Denn die Bibel lässt sich als Einheit nur in der Ausrichtung auf den einen Gott und als GlaubensUrkunde des einen Gottesvolkes in der entscheidenden Phase seiner Geschichte verstehen; sie sammelt die – als kanonisch erkannten – menschlichen Stimmen, die im Volk Gottes grundlegend den einen Gott bezeugen.“360 Es ist die Einheit ein und desselben Wortes Gottes in der Vielfalt seiner Erfahrungen und Bezeugungen – weil auch das NT Christus als das Wort Gottes mit dem bereits ergangenen Wort Gottes identifiziert, es aber in einer neuen und unableitbaren, geschichtlich kontingenten Situation verortet. Diese mit ihrer Einbettung in die Tradition und Glaubensgeschichte überhaupt als solche wahrzunehmen, wäre ohne 356

Janowski, Die kontrastive Einheit, 86. Vgl. Janowski, Die kontrastive Einheit, 91, mit Bezug auf Zenger. Vgl. auch Groß, Ist biblisch-theologische Auslegung, 134. 358 Vgl. Söding, Einheit, 74 f.; 225 –231; 379 f.; 395 f.; Ders., Wegweiser, 4. Vgl. Steins, G., Der Bibelkanon als Denkmal und Text. Zu einigen methodologischen Aspekten kanonischer Schriftauslegung, in: Auwers/De Jonge (eds.), The Biblical Canons, 177–198, 187: „Die synchrone Vielstimmigkeit ist – pointiert gesagt – nicht verstanden, wenn sie diachron aufgelöst wird.“ 359 Söding, Einheit, 13. 360 Söding, Einheit, 225. Vgl. Meyer zu Hörste-Bührer, R./Bührer, W., Relationale Erkenntnishorizonte als hermeneutischer Schlüssel zu Pluralität und Einheit des Alten Testaments, in: Dies. (Hg.), Relationale Erkenntnishorizonte, 181–219. 357

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das AT und das Zeugnis Israels nicht möglich. „Israels Identität ist von Anfang an eine in sich vielfältige.“ 361 Die Einheit der Glaubenszeugnisse und -erfahrungen besteht also im perspektivischen Zeugnischarakter der Schrift. „Mose und Paulus, Ezechiel und Johannes verbindet wenig mehr als die Erfahrung des einen und selben Gottes; aber diese Offenbarung verbindet fester als alles andere.“362 Vom Ursprung und vom Ziel her besteht demnach eine Einheit und Verbundenheit „im Wesentlichen“.363 „Wenn die Einheit der Schrift in ihrer theozentrischen Perspektive und in ihrem geschichtlichen Entstehungsprozess zu suchen ist, der seinerseits eine soteriologische Dramatik nachzeichnet, folgt daraus, dass sie nur durch eine Vielfalt von Glaubens-Zeugnissen verwirklicht wird, die sich als Kehrseite ihrer Einheit erweist, und nur durch die Spannung zwischen dem Alten und Neuen Testament zum Ausdruck kommt, die ihrerseits die Kehrseite ihrer Zusammengehörigkeit bildet.“364

Den verschiedenen soteriologischen Erfahrungen innerhalb des AT und in der Korrelation von AT und NT liegt der eine Gott zugrunde.365 Dies ist auch die grundlegende Sicht der Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils. Die Einheit des biblischen Kanons ist demnach „keine statische, sondern eine dynamische, keine zeitlose, sondern eine geschichtliche, keine homophone, sondern eine polyphone, keine spannungslose, sondern eine spannungsreiche Einheit.“366 Das Alte Testament steht dauerhaft für die „Stimme Israels“ als mahnendes Gegenüber zur „Stimme der Kirche“ im Neuen Testament.367 Aber ist das Alte Tes361 Söding, Einheit, 196. „Das Bewusstsein, ein Volk vom Ursprung der Erwählung Abrahams und der Befreiung aus Ägypten her zu sein, ist tief ins Gedächtnis Israels eingebrannt. Es bestimmt auch noch die Hoffnungen auf eine Zukunft des Heiles.“ 362 Söding, Einheit, 226. 363 Vgl. Söding, Einheit, 227. 364 Söding, Einheit, 228. Vgl. auch Schneider/Pannenberg, Binding Testimony, 71; 78; 84 ff. Dort sieht man den spannungsvollen Zusammenhang der Schrift in ihrer „diversity“ ebenfalls theozentrisch begründet. 365 Vgl. Dohmen, C./Söding, T., Der Eine Gott. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (Neue Echter Bibel – Themen, Bd. 1), Würzburg 2018; Dohmen, C., Der eine Gott in der Zweiheit der einen christlichen Bibel, in: Müllner I./Schwienhorst-Schönberger, L./Scoralick, R. (Hg.), Gottes Name(n). Zum Gedenken an E. Zenger (HBS 71), Freiburg i. Br. 2012, 52– 66. 366 Söding, Einheit, 230. 367 Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 2, 447. Hartenstein, F., Weshalb braucht die christliche Theologie eine Theologie des Alten Testaments?, in: Ders., Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche (BThSt), Göttingen 2016, 15 –53, verweist mit P. Ricœur auf die Vorgegebenheit des AT als Zeugnis. Dieses betrifft angesichts der Identität Gottes in AT und NT

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tament damit nicht auch eine vielfältige Stimme in der Kirche selbst, die sie mahnend an ihre Herkunft erinnert? Ohne das AT als bleibendes geschichtliches Gegenüber zum NT wäre christliche Identität heute vielleicht keine vielstimmige und dynamische Interpretationsaufgabe368 mehr, sondern statische platonische Idee und ewige Wahrheit – sie wäre Gnosis statt gemeinsame Glaubensgeschichte. Das Christentum ist aber keine zeitlose Lehre, sondern Spiegel lebendiger Erfahrungen: Wie es zwei kaum harmonisierbare Schöpfungserzählungen kennt, so finden sich vier Evangelien in der Hl. Schrift. Die Kollektion des biblischen Kanons stiftet als „kulturelles Gedächtnis“369 eine kollektive Identität, steht aber nicht nur zu den Spuren der eigenen Genese, sondern auch zur Pluralität seiner Glaubenszeugnisse und ihrem spannungsvollen, offenen Dialog untereinander, der nicht eindeutig ist, sondern immer wieder der Deutung und vergewissernden Aktualisierung in neuen Kontexten bedarf und sich dazu am Ursprung und Ziel – dem wesentlichen Zentrum – seines Glaubens orientiert, der nun aufs Engste mit Jesus Christus verbunden wird. Auf der Basis des biblischen Kanons zeichnen sich also folgende Prinzipien ab, die einer dogmatischen Unterscheidung als Kriterien dienen können: Prinzipien auf Basis des Kanons

Theozentrische Kontinuität in Ursprung und Ziel

Diskontinuität durch Innovation und neue Erfahrungen

Dialogische Pluralität, Multiperspektivität und Polyphonie

Kriterien dogmatischer Entscheidung

Theofinalsoteriologische Priorisierung und Konzentrierung

Vergewisserung und Aktualisierung angesichts neuer Kontexte

Suche nach Einheit und Konsens im synchronen wie diachronen Diskurs

insbesondere die soteriologischen Erfahrungen mit JHWH in ihrer Vielfalt und historisch kontingenten Perspektivität. 368 Der Kanon des NT wird – gegen alle Tendenzen der Vereinheitlichung und Vereindeutigung – in seiner pluralen und polyphonen Grundstruktur nach dem Muster des AT kanonisiert und zusammen mit diesem in noch größerer Polyphonie gelesen. 369 Vgl. Assmann, J., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 82018, 127. Vgl. auch Huebenthal, S., Die Büchse der Memoria. Evangelium, Erinnerung und der historische Jesus, in: Häfner, G./Huber, K./Schreiber, S. (Hg.), Die historische Rückfrage in der neutestamentlichen Exegese. Quellen – Methoden – Konfliktfelder (QD 317), Freiburg i. Br. 2021, 28 –77.

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Die Anwendung dieser drei Kriterien lässt sich, gemessen an dem Zeugnis und der Darstellung des Neuen Testaments, bereits bei Jesus selbst und dem sich in seiner Nachfolge ausbildenden Urchristentum nachvollziehen. Dies gilt es nun zu verifizieren.

123 3. Normativität der Schrift und Verschriftung christlicher Hermeneutik 3.1. Theozentrische Bindung und soteriologische Hermeneutik Jesu Selbstverständlich bezieht sich auch Jesus als Jude auf die Schriften Israels370 (vgl. Mk 12,24 –27; Mt 4,10; 15,1– 9; Gal 4,4). Er steht damit in der Tradition seines Volkes und in ungebrochener Kontinuität zum Glauben an den einen Gott, den er als Vater anspricht und mit dem er innig verbunden ist. Seine Autorität als eschatologischer Mittler der schon jetzt greifbaren Herrschaft Gottes bleibt rückgebunden an seine Rezeption, Auslegung und Anwendung der Schrift.371 Im Diskurs372 um die Schrift konzentriert sich Jesus auf das Wesentliche, indem er die Tora einerseits elementarisiert, andererseits verinnerlicht und in ihrer ethischen Geltung sogar teilweise radikalisiert.373 Dabei zielt er auf die eigentliche Intention der Tora, die er aufgreift und vertieft374 – und zwar als notwendiges Gegenüber und bleibenden Bezugspunkt. „Jesus war in hermeneutischer Hinsicht ein um die rechte Auslegung der Schrift ringender Jude innerhalb des Judentums seiner Zeit! In der neueren Forschung wird dies immer klarer gesehen und sogar kirchenamtlich wird festgestellt, dass sich Jesu Schriftauslegung in den Rahmen dessen, was zu seiner Zeit üblich war, einfügt. Er deutet seine Zeit im Lichte der Tradition, er deutete sein eigenes Leben und Sterben als Er370 Die Rede von Jesus als Jude, die in der Dogmatik und im jüdisch-christlichen Dialog inzwischen fest etabliert ist, hat das Judentum zur Zeit Jesu im Blick, wobei wir hier von „Israel“ bzw. den „Schriften Israels“ sprechen. Die terminologische Unterscheidung zwischen „Israel“ und frühem Judentum muss im Kontext dieser Arbeit nicht näher diskutiert werden, sie ist aber insofern nicht ganz belanglos, als damit die Identität der frühesten Christen als Gruppe innerhalb des frühen Judentums betroffen ist, die dessen Hl. Schriften selbstverständlich anerkannte. 371 Vgl. Gerber, C., Das Gottesbild Jesu und die Bedeutung der Vatermetaphorik, in: Schröter, J./Jacobi, C. (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 361–368; Meier, J. P., A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus. Vol. 4: Law and Love, New Haven – London 2009. 372 Vgl. Meier, A Marginal Jew, 648; Oeming, Vom Eigenwert, 308: Jesus befinde sich „mitten in einem lebendigen Diskurs mit der jüdischen Exegese seiner Zeit. Dabei geht es ihm um die Markierung der zentralen theologischen Inhalte der Schrift.“ 373 Vgl. Oeming, Vom Eigenwert, 309; Theißen, G./Merz, A., Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 319 –355; Markl, Gottes Gesetz, 64. Jesu „Gesetzeshermeneutik – wie sie sich in neutestamentlichen Schriften spiegelt – verbindet scharfe, ethisch motivierte Rhetorik […] mit theologisch motivierter Freiheit zur Relativierung“. 374 Vgl. Oeming, Vom Eigenwert, 333 f.

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füllung ‚der Schrift‘.“375 Die Schrifthermeneutik Jesu, soweit sie uns in ihrer Rezeption durch die Evangelien376 zugänglich ist, darf nicht gegen das Gesetz ausgespielt werden. Sie stellt vielmehr Gott selbst und dessen soteriologische Bedeutung ins Zentrum seiner Botschaft. Dass die Evangelien bemüht sind, dies in ihrer theologischen Reflexion eigens hervorzuheben, ist von nicht geringer Bedeutung. Denn Jesu Verkündigung ist demnach zutiefst theozentrisch orientiert und zu jedem Zeitpunkt an den göttlichen „Vater“ rückgebunden, der immerhin selbst hinter seiner lebensdienlichen Weisung steht.377 Die theozentrische Bindung der Hermeneutik Jesu steht keineswegs in Konkurrenz zur Schrift. Diese wird angesichts seiner Botschaft von der Ankunft der Herrschaft Gottes neu gedeutet.378 Seine Schriftauslegung379 375

Oeming, Vom Eigenwert, 312. Meier, A Marginal Jew, 41, verweist auf das grundsätzliche Problem: „we find in the Gospels not simply Jesus’ interpretation of the Law but, first of all, the four evangelists’ reinterpretation of Jesus’ interpretation of the Law.“ 377 Zur Theozentrik Jesu vgl. Schnelle, U., Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 32016, 72. Dass Jesus ein „neues, aber keineswegs unjüdisches Gottesbild“ formuliere (76), scheint einer Phrase zur Absetzung vom atl. Gottesbild zu entspringen. Dass Jesus sich nicht auf den Bundesgedanken, die Exodustradition, die Geschichte Israels usw. berufe (was durchaus als selbstverständlich vorausgesetzt sein kann und keiner eigenen Hervorhebung bedurfte), lässt sich mit dieser methodisch beschränkten Rekonstruktion ebenso wenig belegen wie eine negative Haltung gegenüber dem Tempel. Dass die Tora nach Ansicht Schnelles „nicht im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu“ stehe, lässt sich nicht direkt beweisen, wohl aber die zwei Sätze später betonte Feststellung, dass die Tora in der theozentrisch-eschatologischen Perspektive Jesu „nicht überwunden oder aufgehoben“ sein soll (76; vgl. 131). So befinde sich Jesus „selbst innerhalb der unabgeschlossenen Torainterpretation des Judentums“ seiner Zeit (127). Wenn Schnelle zurecht betont, Jesu „Bild des gütigen und vergebenden Gottes“ finde sich schon „in der jüdischen Tradition“ (77), dann macht es einen erheblichen Unterschied, ob Jesus auf dem Boden der Tradition Israels dieses Gottesbild „in einer neuen Weise“ in die Mitte seiner Verkündigung stellt und „formt“ (77), oder ob er ein „neues Gottesbild“ (72; 76) „formuliert“ oder „gebracht“ hat. Dieser Mangel an begrifflicher Präzision ist für eine „Theologie des Neuen Testaments“ erstaunlich. 378 Vgl. Frankemölle, H., Die Tora Gottes für Israel, die Jünger Jesu und die Völker. Zu einem Aspekt von Schrift und Tradition im Matthäusevangelium, in: Backhaus, K./ Untergaßmair F. G. (Hg.), Schrift und Tradition. FS für J. Ernst, Paderborn 1996, 85 –118, 115: Es wird „erneuert, aufgefrischt, wieder lebendig gemacht wird.“ Hinsichtlich der Verkündigung der Basileia Gottes ein „gleichzeitig innovativer und (positiv im Hinblick auf den Gottesglauben der Bibel bezogen) konservativer Gedanke!“ 379 Meier, A Marginal Jew, 415, meint rekonstruieren zu können, dass es kein Prinzip hinter den verschiedenen Lehräußerungen Jesu gebe. „He was not a systematic teacher, scribe, or rabbi; he was a religious charismatic.“ Ein so gezeichneter Charismatiker, der als eschatologischer Prophet auftritt, gründe seine eigene Autorität auf „a direct pipe376

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impliziert auch keine „Dezentrierung der Tora“380, sondern vielmehr eine soteriologische Priorisierung und Konzentrierung auf dem Boden der Tradition Israels in aktualisierender Anwendung der Schrift auf eine neue Situation, die er in einem offenen Dialog mit anderen neu erschließt. Im Mittelpunkt steht dabei die Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott und umgekehrt.381 Es handelt sich um eine konkrete theologische Schwerpunktsetzung und um eine daraus resultierende Hermeneutik, die neue Entwicklungen anstößt, aus welchen schließlich die Kirche als Gemeinschaft der Nachfolge Jesu entsteht. Und weil die Kirche selbst sich dieser dynamischen Hermeneutik verdankt, muss sie die Entfaltung und Entwicklung ihres Glaubenszeugnisses auch nach diesen hermeneutischen Mustern aktiv weitergestalten, um ihre soteriologische Mission erfüllen zu können. Ihre Schrifthermeneutik musste schriftgemäß und die Schrift frei rezipierend – in beidem jeweils dem Vorbild entsprechend – sein.382 Jesu souveräner und flexibler Umgang mit dem noch nicht unantastbar abgeschlossenen Kanon der Schriften Israels bezieht sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen Text, der zwar in den wesentlichen Konturen ausgebildet, aber nicht einheitlich, sondern immer noch offen und fluide war.383 Anachronistisch zurückprojizierte halachische Diskusline to God’s will.“ Meier spricht von einem „patchwork approach to the Law“ (ebd.). Es gebe kein System „containing some organizing principle or center that makes sense of the whole.“ (653) Diese Einsicht sei „naturally unwelcome to the Christian desire to systematize“. (655) Dass Meier unter der Hand selbst ein gewisses Prinzip postuliert, wenn er Jesus als „charismatic religious leader“ die Perspektive unterstellt: „it’s so because I say it’s so“ (655) – bleibt leider außer Acht. Ein solcher egozentrischer Autoritarismus dürfte aber kaum die Resonanz des Lehrens Jesu erklären. Der direkte Bezug zu Gott und die Legitimation durch ihn als eschatologischer Prophet muss noch keine unsystematische Auslegung des Gesetzes bedeuten. Eine „self-presentation“ Jesu, in der er sich gegenüber Israel als endzeitlicher Prophet und Ausleger des Gesetzes die Autorität über das Gesetz aneignet, ist mit dem Grundduktus der synoptischen Evangelien nicht leicht in Einklang zu bringen, insofern Jesus nicht allein sich selbst, sondern die durch ihn repräsentierte und vermittelte Zuwendung und Herrschaft Gottes verkündigt. Ist diese soteriologisch-theofinale Ausrichtung der Lehre Jesu – jenseits einer vereinheitlichenden Systematisierung – etwa kein Prinzip? 380 Vgl. Schnelle, Theologie, 131. 381 Vgl. Gerber, Das Gottesbild Jesu, 362. 382 Vgl. Markl, Gottes Gesetz, 65. „Eines der Erfolgsrezepte des frühen Christentums war die hermeneutisch freie, praktikable ‚Bewältigung‘ des göttlichen Gesetzes, auf das sich Christen vor allem im Hinblick auf den Dekalog, darüber hinaus aber höchstens eklektisch, weiterhin beriefen.“ 383 Vgl. Schmid/Schröter, Die Entstehung, 215; 222; Frey, Die Herausbildung, 16:

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sionsmethoden können ebenso wenig als Schablone der Schriftauslegung Jesu dienen wie christologische Umdeutungen. „Es ist nicht davon auszugehen, dass Jesus bei seiner Auseinandersetzung mit Sadduzäern und Pharisäern über die Auslegung der Tora notwendigerweise die Formen und Argumentationstypen der Rechtsdebatte anwendete, die wir in der späteren rabbinischen Literatur finden. Derselbe Vorbehalt gilt bei der Lektüre von ‚halachischen‘ Texten aus Qumran.“384 Kazen weist darauf hin, dass bereits die Darstellungen der Evangelien aus dem späten 1. Jh. im Lichte ähnlicher (wohl verschärfter) Konflikte und Diskussionen dieser Zeit gestaltet wurden und auf diese Weise die Jesustradition mit einem Rechtsdenken einfärbten, das den älteren – flexibleren – Umgang mit der Hl. Schrift überlagerte und sich zunehmend auf den Buchstaben des Textes fixierte.385 „Bücher konnten autoritativ sein, ohne dass ihre Textform bereits fixiert war. […] Es kam nicht auf einen ‚rechtlich‘ fixierten Text an. Hier unterscheidet sich das antik-jüdische Denken (auch das Denken des frühen Christentums) von späteren kirchenrechtlichen Vorstellungen von Kanonizität.“ Der normative Text – auch der Tora – war länger „flüssig“, als es „die bisherigen Kanontheorien anzunehmen erlaubten.“ Vgl. Hezser, C., Torah als „Gesetz“? Überlegungen zum Torahverständnis im antiken Judentum, in: Rüterswörden, U. (Hg.), Ist die Tora Gesetz? Zum Gesetzesverständnis im Alten Testament, Frühjudentum und Neuem Testament (BThSt 167), Göttingen 2017, 119 –139, 126 f. 384 Kazen, T., Jesu Interpretation der Tora, in: Schröter/Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, 402– 416, 405. Vgl. 416: „Die Synoptiker stellen Jesus gelegentlich als Verteidiger biblischer Vorschriften gegen rabbinische Neuerungen dar und vor allem bei Matthäus erscheint er als eine Art höherer Rabbi, der die Argumente und Interpretationen der Schriftgelehrten beherrscht. Moderne Interpreten haben manchmal Interesse an einem Jesus, der das jüdische Gesetz kraft seiner (göttlichen) Autorität aufhebt oder modifiziert. Andere ziehen es vor, ihn in einen Dialog mit tannaitischen Rabbinen zu bringen. Der historische Jesus wird mit solchen anachronistischen Herangehensweisen leicht verfehlt.“ Das treffe auch auf Deutungen zu, wonach Jesus aufgrund seiner eschatologischen Naherwartung die Tora relativiert habe oder wonach er mit Vollmacht den Willen Gottes ohne Rücksicht auf das Gesetz verkündigt habe. All diese Deutungen „sagen möglicherweise mehr über die eschatologischen oder christologischen Vorstellungen der Interpreten als über den historischen Jesus aus.“ Vgl. Stemberger, Hermeneutik der jüdischen Bibel, 82 f. „Die Schriftauslegung der Zeit vor 70 war von einer gewissen Freiheit im Umgang mit dem Bibeltext geprägt, der noch in gewissem Maß fluktuierte und auch für die Auslegung vorbereitet werden konnte. […] Rabbinische Auslegungstradition stand dagegen von Anfang an unter anderen Voraussetzungen als ihre Vorgänger.“ 385 Stemberger, Hermeneutik der jüdischen Bibel, 46 f., stellt mit Blick auf Qumran fest: „Die später so betonte Heiligkeit des Textes in seinen kleinsten Details galt hier offenbar noch nicht. Dies ist für eine so auf die heiligen Schriften zentrierte Gemeinschaft wie Qumran höchst erstaunlich. Vorsichtig können wir zumindest schließen,

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Dies betrifft auch eine bestimmte Form der Exegese, die Paulus386 aus eigener Erfahrung wohl unmittelbar vor Augen hat, deren Rigidität und Legalismus er selbst nicht mehr folgen kann. Die Konzentration auf den exakten Wortlaut des Textes dürfte sich in der gegenseitigen Identitätsfindung von Judentum und Christentum vermutlich jeweils weiter verstärkt387 und so eine Ausdifferenzierung und Fixierung je eigener Kanones vorangetrieben haben.388 Dabei behielt der christliche Kanon aber noch relativ lange eine gewisse Randunschärfe.389 dass nicht so sehr der biblische Text in seiner äußeren Gestalt, seinem Wortbestand oder seiner Schreibweise sakrosankt war als vielmehr der Inhalt dieses Textes, in den man noch selbst modernisierend eingreifen durfte“. Die Tendenz zur Fixierung auf den Wortlaut zeigt sich im Prinzip aber schon in der sogenannten Kanonformel von Dtn 4,2 und Dtn 13,1, die den Text für verbindlich erklärt, weil sie ihn an Gottes Autorität selbst bindet. Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 68 – 89; Oeming, M., The Way of God: Early Canonicity and the „Nondeviation Formula“, in: Lim/Akiyama (eds.), When texts are canonized, 25 – 43, 42: „Curiously, the formula is completely absent in the New Testament, even though the idea is clearly present, especially in Matt 5:17, Gal 1:8, and Jude 3. It seems as if the ‚fidelitiy to the letter‘ was replaced by the ‚fidelity to the person‘ of Jesus Christ (Acts 4:12) by this point.“ Die ursprünglich intendierte Konzentration auf die heilsrelevante Weisung Gottes, die an das Medium der Schrift gebunden und durch sie gesichert ist, bleibt unangetastet; die relativ junge Tendenz, dass diese Weisung von ihrem Kern her auf die gesamte Schrift ausgeweitet wurde und in ihrer buchstäblichen Geltung jede lebensdienliche Reinterpretation und Aktualisierung erstickt, wird offenbar (auch in Gestalt des NT selbst) korrigiert, dessen Rezeption dann aber nicht derselben Gefahr einer Verabsolutierung des Wortlauts erliegen darf. 386 Vgl. Söding, T., Inspirierte Exegese. Eine paulinische Perspektive, in: Rothenbusch/ Ruhstorfer (Hg.), Eingegeben, 11–32. Die Exegesekritik bei Paulus ist keine Schriftkritik. Er kritisiert eine Fixierung auf die eigene „Weisheit dieser Welt, zu der auch eine uninspirierte Exegese gehört“ (25). 387 Vgl. z. B. Justin, Dialogus cum Tryphone, 71,2; Eusebius, Kirchengeschichte, IV,18,8. 388 Dass sich das rabbinische Judentum auf das Hebräische im Unterschied zur griechischen LXX im christlichen Gebrauch besinnt, ist wohl kein Zufall. Die zunehmende Fixierung des Textes nach der Tempelzerstörung dürfte hier aber durch die Ausbildung des Talmuds in eigener Weise kompensiert worden sein, wobei auch die mündliche Tora in der Mischna schriftlich fixiert wurde, um sie nachhaltig abzusichern. Dennoch zeigt sich hier, analog zum Christentum, die Dynamik einer jüdischen Hermeneutik, die auf plurale Auslegung hin offen bleibt. 389 Vgl. Schmid/Schröter, Die Entstehung, 376. Für das Christentum stand zunächst die Selbstoffenbarung Gottes als personale Zuwendung in Jesus Christus im Zentrum. „Dies dürfte der Grund dafür sein, dass die christliche Bibel nicht in der Weise zu einem Buch mit festem Umfang und bestimmter sprachlicher Gestalt wurde, wie dies bei der Hebräischen Bibel im rabbinischen Judentum der Fall war. In den christlichen Konfessionen konnten sich vielmehr unterschiedliche Gestalten der Bibel herausbilden, deren

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Der Schrifttext diente der Vergewisserung unter dem Blickwinkel der Aktualisierung. Statt der Konzentration auf eine buchstabengetreue Lektüre, für die ein sakralisierter Text390 in seiner fixierten Gestalt selbst Priorität genießt, setzte sich in frühchristlicher Perspektive zunächst eine – textbasierte und doch offene – soteriologische Priorisierung durch, die sich auf die in Christus begründete, universal offene Vermittlung des Heils in einer lebendigen Beziehung zum Gott Israels konzentrierte. Deshalb interessierte man sich hier nicht für den Umfang eines „Kanons“, für Textkritik oder historisch-kritische Exegese. Entscheidend war die aktuelle Relevanz der Texte und ihre Be-Deutung für das Glaubensleben, das durch die Christuserfahrung neu ausgerichtet worden war. Die Bindung dieser Erfahrung an den Verständnishorizont „der“ Schrift machte es allmählich erforderlich, die konkrete Gestalt der Texte und ihren Umfang zu klären. Im Laufe des Traditionsprozesses verfestigte sich aber dieser um das Neue Testament erweiterte Textbestand zur Sicherung der Authentizität und der fixierte Kanon wurde allmählich mit derselben textzentrierten Hermeneutik sakraler Unantastbarkeit rezipiert, die man ursprünglich hatte vermeiden wollen. Unabhängig von der Frage, ob es angesichts der schon allein sprachlich bedingten „versional openness“391 zur Zeit Jesu überhaupt einen einheitlichen Text der Schriften Israels gegeben hat, lässt sich feststellen: „Jesus’ allusive quotation of scripture did not always distinguish text from interpretation; the two seem to blend together.“ Hinter der Verknüpfung von Rezitation und aktualisierender Auslegung, die vor der Fixierung des Kanons wohl gängige Praxis war, dürfte seine Erfahrung und Überzeugung stecken, „that the Spirit of God that had inspired

Kernbestand zwar deutliche Überschneidungen aufwies, an den ‚Rändern‘ aber offen war. Entscheidend war und ist nicht der Text als solcher, sondern sein Verständnis in der Gegenwart.“ 390 Bauks, Intratextualität, 38, verweist auf eine Tendenz zur zunehmenden Textfixierung ab 175 v. Chr. und ein „verändertes Bewusstsein hinsichtlich der für autoritativ erachteten Texte […]. Als Reaktion auf die Tempelprofanation (167–164 v. Chr.) scheint Literatur an Eigenwert zu gewinnen und ein Konzept von Heiliger Schrift (scripture) zu entstehen.“ 391 Vgl. Evans, C. A., Jesus and the Beginnings of the Christian Canon, in: Lim/ Akiyama (eds.), When texts are canonized, 95 –107, 106 f.; Lindemann, A., „… Wie geschrieben steht“? Zur theologischen Bedeutung von Schriftbeweisen, in: Landmesser, C./Klein, A. (Hg.), Normative Erinnerung. Der biblische Kanon zwischen Tradition und Konstruktion, Leipzig 2014, 19 –50, 48 f. Entscheidend sei auch für Paulus nicht der Wortlaut eines Textes, sondern dessen Auslegung.

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scripture was again acting powerfully to fulfill scripture and adapt it, as it were, to the circumstances and effects of Jesus’ ministry. The canon of scripture for Jesus, then, remained open, for God’s revealing work was not yet complete.“392 Ohne seine offene Haltung für den je größeren Gott und dessen Heilshandeln wäre eine spätere Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften neben und zusätzlich zu den allein normativen Schriften Israels für die Anhänger Jesu überhaupt nicht sinnvoll denkbar. Das wirft allerdings die entscheidende Frage auf, ob diese an der Offenheit für Gottes je neues und aktuelles Wirken orientierte Schrifthermeneutik Jesu dann auch auf den später zwar notwendig abgeschlossenen – damit aber keineswegs in sich geschlossenen – Kanon der Bibel insgesamt anzuwenden sein müsste. Es geht insofern um die Fortsetzung der prinzipiellen Hermeneutik und soteriologisch motivierten Schriftauslegung Jesu, nicht jedoch um die Verabsolutierung seiner situativen und kontextbedingten Worte als überzeitliche und abstrakte Wahrheit, die man steinbruchartig als vermeintliche dicta probantia e fontibus revelationis zu heben versucht und dann instruktionstheoretisch verabsolutiert. Tatsächlich übernehmen die Jünger/innen vielmehr seine besondere Art und Weise, seinen Stil393 mit der Schrift umzugehen, indem sie seine Hermeneutik – wie in den Evangelien – paradigmatisch illustrieren, narrativ entfalten und dann selbst bei strittigen Fragen flexibel und aktiv zur Anwendung bringen (vgl. Apg 15,6 –29). Schon im Johannesevangelium wird diese über die Schrift selbst hinausführende Offenheit für neue Erfahrungen mit Gott zwar christologisch verankert, aber pneumatologisch begründet und als unverfügbare Dynamik reflektiert. Denn es ist der Geist der Wahrheit, der einerseits an die Geschichte des Heils erinnert und diese andererseits in eine offene, nicht planbare Zukunft weiterführt (vgl. Joh 14,15 –26; 15,26; 16,13). Jesus betreibt keine Schriftexegese, um daraus seine Botschaft und sein Handeln abzuleiten, wie es die Schriftgelehrten seiner oder späterer Zeit tun.394 Die Tora gilt ihm mehr als Weisung und weniger als starres 392 Evans, C. A., The Scripture of Jesus and His Earliest Followers, in: McDonald/Sanders (eds.), The Canon Debate, 185 –195, 195. 393 Für einen stilistischen Ansatz vgl. Theobald, C., Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa, Freiburg i. Br. 2018. Dazu im Folgenden Kap. III.3.3. 394 Vgl. McDonald, The Biblical Canon, 208; Becker, Mündliche und schriftliche Autorität, 11–24.

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Gesetz oder kanonisches Recht.395 Er vergewissert sich der Schrift und aktualisiert aus seinem lebendigen Glauben heraus ihren theologischen Kerninhalt – d. h. die Liebe zum einen und einzigen Gott (vgl. Dtn 6,4), untrennbar verbunden mit der Nächstenliebe (Mk 12,29 ff.) – angesichts der Nähe Gottes und aktueller Situationen, indem er die Schrift auf ihre ursprüngliche Zielsetzung hin befragt und je neu zur Anwendung bringt.396 Dass Jesus wie später auch das Christentum aber einen selektiven Schriftgebrauch aufweisen, wie McDonald397 meint, dürfte sich historisch kaum valide belegen lassen, zumal frühe „Christen“ die Schriften Israels weiterhin selbstverständlich als ihre normative theologische Größe und einzige Hl. Schrift betrachteten.398 Es stellt sich vielmehr die Frage nach der gezielten Rezeption wie auch Interpretation der Hl. Schrift in einer soteriologischen Hermeneutik. Das Bewusstsein, dass die Schrift „um unseretwillen“ geschrieben worden sei, wird dann später freilich auch zu einer Art „Bedienungsmentalität“ führen, welche die Relevanz der Schrift teilweise entwertet und durch eine spätere „Steinbruchexegese“ nur noch instrumentalisiert.399 Dass aber im Neuen Testa395 Vgl. Kazen, Jesu Interpretation, 416: „Weil sich die Geltung der Tora als verbindliches Rechtskorpus nur schrittweise entwickelte, ist das Bedürfnis, ein Gebot gegen ein anderes aufzuwiegen und durch gezwungene exegetische Argumentationsformen Ausnahmen für Notfälle zu formulieren, als verhältnismäßig spätes Phänomen zu begreifen. Jesus erscheint in den Evangelien zwar als Gesetzesinterpret, aber er besitzt offenbar nicht das voll ausgeprägte Instrumentarium der halachischen Schriftauslegung. Der Standpunkt Jesu verweist auf eine traditionelle Haltung gegenüber dem Gesetz, für die es keinen echten Konflikt zwischen den Leitlinien der Tora und ihrer pragmatischen Anwendung gibt, welche sich an einem prophetisch inspirierten Interesse an menschlichem Wohlergehen und sozialer Gerechtigkeit orientiert. Die Vision Jesu vom Gottesreich gründet sich also auf dem Gesetz und dessen dem Menschen dienlichen Leben.“ 396 Vgl. Schmid/Schröter, Die Entstehung, 259: „Jesus legte die Tora zum einen im Blick auf den darin zum Ausdruck kommenden Gotteswillen, zum anderen auf die Lebensbedürfnisse der Menschen hin aus.“ Diese Vermittlung hat zweifellos soteriologischen Charakter. 397 McDonald, The Biblical Canon, 208. 398 Vgl. Chapman, What are we reading, 346: „Precisely for this reason, it is a grave mistake when McDonald and others attempt to portray the biblical canon as somehow in competition with the church’s commitment to Jesus. Without the Old Testament, the church cannot know properly who Jesus is.“ Ziethe, C., Das Schriftkolorit der matthäischen Jesusdarstellung, in: Early Christianity 11 (3/2020), 342–363, verweist auf die „grundsätzliche Gültigkeit des gesamten Gesetzes und der Propheten (auch im Licht der Lehre Jesu)“ (357); es ergebe sich aber die Frage nach der Gewichtung der Gebote. 399 Vgl. Häfner, G., Schriftauslegung und „gesunde Lehre“ in den Pastoralbriefen. Von der Problematik eines spannungsfreien Verhältnisses, in: Busse (Hg.), Die Bedeutung, 171–198.

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ment bereits gezielt jene Passagen der Bibel Israels hervorgehoben und neu akzentuiert werden, die das Christusereignis deuten und begründen können, ist jedoch kaum verwunderlich.400

3.2. Aktualisierung und universale Offenheit im Dialog Obwohl Jesus selbst nach dem Zeugnis der Evangelien grundsätzlich an der Schrift festhält (vgl. Mt 5,17–20; Joh 10,34 ff.; Mk 1,44; 10,19), kommt es im frühen Christentum schon bald zur theologisch begründeten Weiterentwicklung und Neuauslegung großer Teile des Gesetzes und seiner Vorschriften, ohne aber die Schrift zu verwerfen. Man stellt sich zunehmend in eine Diskontinuität angesichts der (für Jesus wie auch für seine Jünger) verbindlichen Schriften Israels.401 James Dunn macht auf diese spannungsvolle Diskontinuität aufmerksam: „Of course, we can argue a theology of fulfillment; but that is simply another form of discontinuity which does not actually resolve the problem.“402 Jesu Umgang mit der Schrift – seine Hermeneutik – musste insofern Modellcharakter für seine Jüngerschaft und die Gemeinschaft seiner Nachfolge – die Kirche – gehabt haben.403 Diese bewegt sich offensichtlich im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität und kann sich dafür auch am Vorbild Jesu orientieren.404 Eine „distinction between essentials and nonessentials“ kennzeichne schon Jesus, den Dunn in dieser Hinsicht als 400 Vgl. Allision, D. C. jr., The Old Testament in the New Testament, in: Paget/Schaper (eds.), The New Cambridge History, Vol. 1, 479 –502. Söding, T., Kriterien im Neuen Testament für eine Theologie des Alten Testaments, in: Congregazione per la Dottrina della Fede (ed.), L’interpretazione, 232–265, 251, verweist auf „das Festhalten an den ‚heiligen Schriften‘ insgesamt und eine gezielte, akzentuierende Rezeption“. 401 Vgl. Dunn, J., The Living Word, Minneapolis 22009, 38 ff. 402 Dunn, The Living Word, 40. Das Problem könne auch nicht im kanonischen Zusammenhang aufgelöst werden. 403 Vgl. Dohmen, C., Mündliche Tora im Neuen Testament? Überlegungen zur Perikope von der Ehebrecherin (Joh 7,53 – 8,11), in: Brünenberg-Bußwolder, E./Münch, C./Sigismund, M., u. a. (Hg.), Neues Testament im Dialog. FS für T. Söding, Freiburg i. Br. 2021, 34 – 49, 45. In Joh 7,53 – 8,11 zeige Jesus „einen lebendigen Umgang mit der Tora, der deren Sinn und nicht deren Wortlaut ins Bewusstsein der Menschen heben will.“ Vgl. 48: „Gerade weil Jesus in der Erzählung nicht die Tora als starren Text zitiert, sondern in der konkreten Situation zeigt, dass er sie als lebendiges Wort Gottes anwendet, kann man die Erzählung als narrative Entfaltung eines christlichen ToraVerständnisses interpretieren.“ 404 Vgl. Dunn, The Living Word, 88 – 92.

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„liberal“ versteht.405 Vielleicht ist dies aber sogar die „traditionellere“ Haltung zur Schrift, wie wir sahen. In ähnlicher Weise lässt sich auch Paulus und sein Umgang mit dem Sabbat oder der Beschneidung charakterisieren. Hier zeigt sich eine soteriologisch motivierte Relativierung eines in manchen Auslegungen verabsolutierten Gesetzes. 406 Paulus könnte darum in einem juridisch denkenden Umfeld geradezu als „heretic“ gelten. 407 „If Jesus and Paul provide a model, it is of a surprising, disturbing, boundary crossing, breaking down or disregarding of religious conventions; and to lose that is to lose something very much at the heart of their respective ministries.“408

Blickt man auf Jesu zusammenfassende Schriftinterpretation in Mk 12,29 ff., so verbindet sich hier eine priorisierende Konzentration mit dem Text des Gesetzes und einer konkreten Fragestellung paradigmatisch zu einer programmatischen Aussage. Die Vergewisserung am Text und Aktualisierung angesichts der jeweiligen Situation geschieht auf der Basis einer theozentrischen Hermeneutik.409 Ähnlich ist es bei Paulus (vgl. 1 Kor 8,1–13).410 405

Dunn, The Living Word, 45. Vgl. Frey, J., Der Jude Paulus und sein Nomos, in: Thiessen, J. (Hg.), Das antike Judentum und die Paulusexegese (BThSt 160), Neukirchen-Vluyn 2016, 47– 93, 81. Paulus bleibe jedoch „im Rahmen einer – sehr eigenständig interpretierten – jüdischen Existenz.“ Vgl. Prostmeier, F., Was bedeutet die Autorität der Schrift bei Paulus?, in: Busse (Hg.), Die Bedeutung, 97–130, 97: „Im Zentrum der Frage steht also die Soteriologie, und die Christologie erscheint als Funktion der mit der Autorität der Schrift profilierten Soteriologie.“ Dabei stehe die Treue Gottes im Mittelpunkt. 407 Vgl. Dunn, The Living Word, 48 f. Paulus ringe mit der Kontinuität zu Israel. Vgl. Baˇrbulescu, A., Dynamics of Identity Construction. Jews and Christians in Late Antiquity, Tipaˇrit 2016, 327 f.; 334. Die Behauptung, Paulus „denies the traditional functionality ascribed to the Law proposing a soteriological model that would completely bypass it, the Sinaitic event being transformed into a temporal and insignificant episode in the history of salvation“ (174), ist zu undifferenziert, wenn man davon ausgeht, dass Jesus selbst sich noch „within the Jewish religious pattern“ (129) bewegt. Eine paulinische Deutung des Gesetzes als „reduced to its ethic dimension and excised by its soteriological role“ (169) übersieht, dass die ethische Dimension des Gesetzes auch in seiner christologischen Orientierung soteriologisch bedeutsam bleibt und nicht irrelevant wird. Ob man „the ritual part“ hierbei pauschal ausblenden kann, wird man kritisch hinterfragen müssen. Vgl. Frey, Der Jude Paulus, 87 f. 408 Dunn, The Living Word, 50. 409 Vgl. Sanders, Scripture as Canon, 136; 138, der von einer „theocentric-monotheizing hermeneutic“ spricht. 410 Vgl. Söding, Inspirierte Exegese, 27. Mit seinem „theozentrischen Vorbehalt“ wen406

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Jesu Vermittlung zum soteriologischen Zentrum – dem Vater – zielt primär auf die persönliche Aneignung der Beziehung zu Gott im eigenen Lebenswandel, die je neu ermöglicht werden soll. Diese soteriologische Hermeneutik führt schließlich zur Entfaltung einer Christologie und zu einer trinitarisch differenzierten Soteriologie. Sie gründet in einer theozentrischen Priorisierung und Konzentrierung, die christologisch vermittelt und pneumatologisch dynamisiert wird.411 Die historische Bindung des lebendigen Wortes Gottes an seine zeit- und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen führt dazu, das Alte in seiner Dignität wahr- und ernst zu nehmen, um es in neuen Situationen auf seinen bleibenden Aussagegehalt jenseits seiner konkreten Ausdrucksgestalt zu befragen.412 Das Wissen um die „specificity of reference“ des Wortes Gottes bewahre, so Dunn, vor „the old mistake of erecting what has been the word of God to us into a restrictive and stultifying dogma for others.“413 Die Autorität „der“ Schrift wird somit in ihrer teilweise verabsolutierten, götzenhaften Geltung relativiert – d. h. rückgebunden an das lebendige Wort Gottes in einem bestimmten Kontext, der sich sowohl bei det sich Paulus „gegen alle philosophische Spekulation und religiöse Explikation, aber auch gegen jene exegetische Hermeneutik, die nicht mit der Größe Gottes rechnet, die – nach Paulus – von der Schrift selbst indiziert ist.“ 411 Zur Rekonstruktion einer solchen Soteriologie vgl. Weißer, Der Heilige Horizont des Herzens. 412 Vgl. Dunn, The Living Word, 51. Er folgert, das AT müsse aus christlicher Sicht neu gelesen werden und sei von daher nicht mehr in derselben Weise als Autorität bindend, wie es dies für das Judentum (gewesen) sei. Das NT relativiere das AT und diene darum als Kanon im Kanon. Dunn fragt aber (52): „Is there any sense in which the New Testament’s relativizing of the Old becomes a paradigm for the way in which new revelation might relativize the authority of the New Testament?“ Insofern die definitive Selbstoffenbarung Gottes bezeugt wird, scheint dies kaum möglich. Und doch droht auch die Botschaft des NT verdunkelt zu werden, wenn einzelne Schriften oder Passagen verabsolutiert werden. „The obvious corollary is that it must be entirely possible that certain New Testament requirements, good words of God in their time, in the same way become restrictive and corruptive of the grace of God today. As did slavery.“ Wenn also auch für das NT gilt, dass sich Gottes Wort in menschlichen Worten artikuliert, dann lässt es sich keinesfalls vermeiden, dass auch im NT zwischen Gehalt und Gestalt des Zeugnisses zu differenzieren ist. Damit ist der von Dunn benannte „canon within the canon“ aber kein valides Kriterium, wie er selbst zu bemerken scheint: „the revelation of Christ“ sei dann als Kanon im Kanon das entscheidende Kriterium für die Bewertung des heutigen Glaubens (vgl. 52). Ist dies aber ein Kriterium, das sich mit der Hermeneutik Jesu selbst deckt? Oder wäre hier nicht grundlegender auf seine Verbindung von Theozentrik und soteriologischer Aktualität zu verweisen, die sich schon bei Paulus in der Person Christi verdichtet hat? 413 Dunn, The Living Word, 52.

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Jesus als auch bei den Aposteln geändert hat und nun Anderes erfordert. Es ist die je neue Unterscheidung der Geister durch eine Suche nach Gottes Geist hinter dem Buchstaben, der in seiner schriftlichen Fixierung von seinen Rahmenbedingungen abhängt. Jesus lehnt die Schriften und ihre „Lehre“ nicht per se ab, sondern er transzendiert sie auf die zentrale Intention dahinter: die soteriologische Vermittlung einer heilsamen Beziehung zu Gott und dem Nächsten (vgl. Mk 12,28 –34; Mt 15,29 ff.). Das bedeutet: Schrift und Wort Gottes fallen nicht einfach unterschiedslos zusammen. „Es gibt keinen Beleg, dass Jesus sich gegen die Tora gewendet hat. Die Interpretation der Gesetzestradition Israels durch Jesus lässt Züge eines ‚Realismus‘ erkennen, der sich an der Absicht Gottes ausrichtet. Der Standpunkt Jesu setzt seine Prioritäten häufiger bei den Bedürfnissen und dem Wohlergehen der Menschen, was der prophetischen Tradition nahesteht, oder auch beim volkstümlichen common sense.“414

Jesus liest die Zeichen der Zeit! Er relativiert – im wörtlichen Sinne – starre Glaubenssysteme, indem er sie positiv an ihr Zentrum rückbindet. In gewisser Weise bedient sich Jesus als wahrer Mensch also seines gesunden Menschenverstandes gegenüber einer legalistischen Interpretation der Hl. Schrift. Seine Rede in Gleichnissen zeichnet sich durch einen Rückgriff auf das Alltagsleben der Menschen und ihre Erfahrungswelt aus. Sein Auftreten scheint eher gekennzeichnet von Empathie in der Anwendung statt Exegese in der Auslegung der göttlichen Weisung. Er greift dabei offensichtlich auf seinen eigenen sensus fidei und den sensus fidelium all jener Menschen zurück, deren Glaube als lebendige Beziehung zu Gott, dem Vater, das alles entscheidende Kriterium darstellt.415 Systematisch theologisch könnte man sagen, dass Jesus ebenso wie schließlich auch Paulus ein instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis (in festen satzhaften Lehren) zugunsten der kommunikationstheoretisch erfassbaren Selbstoffenbarung Gottes (die notwendigerweise im Medium der Schrift bewahrt, tradiert und aktualisiert wird) ablehnen.416 Schon Jesus bzw. das Neue Testament differenziert mit Blick auf die Schrift zwischen Gotteswort und Menschenwort (vgl. Mk 7,6 –13)

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Kazen, Jesu Interpretation, 415 f. Darauf kommen wir in Kap. III.3.3. zurück. 416 Diese These hat aufgrund des Befundes, dass der kanonische Prozess noch nicht abgeschlossen ist und der Text noch frei rezipiert und aktualisierend angewendet wird, eine enorm hohe Plausibilität. 415

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und damit zwischen legalistischem Buchstabendienst und den je aktuellen Erfordernissen im Geiste der Weisung Gottes bzw. im Sinne Jesu. Die Schrift ist in ihrer Einheit in Vielfalt gebunden an das verbindende Ziel des Glaubens, von dem her der Glaube immer wieder neu aktualisiert werden kann und muss: „The New Testament as canon demonstrates how the unifying center of Christian faith came to diverse expression in the diverse circumstances of the first century; it does not dictate what the expression of Christian faith should be in any and every circumstance.“417 Diese Offenheit für den Dialog zwischen dem historisch bedingten heilsgeschichtlichen Ereignis und dem kreativen Geist Gottes in ganz neuen Situationen führt zu einer im NT selbst ablesbaren418 Dynamisierung, aus der die Kirche entspringt, die aber auch in ihrer Spannung zur Glaubensgeschichte Israels und der Öffnung für die christliche Mission greifbar wird. Ohne die Rückbindung und kritisch-kreative, produktive Auseinandersetzung mit den Schriften Israels, die sich im NT spiegelt und dort mittels einer gewissen Multiperspektivität bewältigt wird, wäre die Genese der Kirche aber nicht denkbar.419 Mit dem NT wurde aber auch die in ihm ablesbare Entwicklung des christlichen Glaubens mitkanonisiert: „The New Testament shows Christianity always to have been a living and developing diversity, and provides some sort of norm for the ongoing process of interpretation and reinterpretation.“420 Blickt man auf den Umgang des NT mit normativen Vorgaben des AT, dann zeigt sich z. B. bei Fragen nach Beschneidung, Reinheitsgeboten, Sabbatruhe, Ehescheidung, Kultvorschriften etc. die hermeneutische Problematik in aller Deutlichkeit.421 Es handelt sich um keine Ablehnung des AT per se, sondern um eine Relecture unter neuen Bedingungen, die sich an Jesus und seinem Vorbild orientiert (vgl. Mk 2,23 –28; 10,2–12; Mt 5,21– 48; 12,1– 8).422 Weder die Schrift noch die eigene neue Erfah417 Dunn, J., Has the Canon a Continuing Function?, in: McDonald/Sanders (eds.), The Canon Debate, 558 –579, 569. 418 Vgl. Söding, T., Ein Gott für alle. Der Aufbruch zur Weltmission in der Apostelgeschichte, Freiburg i. Br. 2020. 419 Dunn, Has the Canon, 572, spricht von der „openness of the kerygma to ever fresh expressions, the openness of the canon within the canon to ever fresh formulations of what is definitive in order to address the particularity of ever new challenges.“ Für ihn stehen das „Christ-event“ und das NT als „Kanon im Kanon“ im Zentrum. 420 Dunn, Has the Canon, 568. Diese Entwicklung verlaufe nicht linear-evolutiv. 421 Vgl. Dunn, The Living Word, 92–100. 422 Dochhorn, J., Von Jesus zu Paulus: Zur Entwicklungsgeschichte der Theologie des Gesetzes im Urchristentum, in: Rüterswörden (Hg.), Ist die Tora, 1–54, verweist auf

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rung wird dabei verabsolutiert, sondern beides wird korrelativ miteinander verbunden (vgl. Apg 17,2 f.; 17,11; 18,28; 2 Tim 3,16 f.).423 Die lebendige Interaktion aus Hl. Schrift und neuen Erfahrungshorizonten – Vergewisserung und Aktualisierung – ist ein wesentliches Prinzip der apostolischen Schrifthermeneutik und ihres Umgangs mit der zu bewältigenden Spannung von Kontinuität und Diskontinuität, die sich nun auch zum Wirken Jesu selbst ergibt.424 „The point is this: that the authoritative word of God for them was not scripture tout simple; nor was it their own immediate perception of the will and purpose of God. The authoritative word of God was heard through the interaction of both, through the coming together of revelation from their past and revelation in their present.“425

Die Bindung an die Schrift insgesamt – nicht nur an einzelne Passagen – erschließt den Willen Gottes angesichts neuer Bedingungen. Dies ist eine Methodik, die auch das II. Vaticanum einfordern wird, denn die Aussageabsicht Gottes im Unterschied zur Intention der Hagiographen lässt sich nach DV dadurch ermitteln, dass die Schrift in ihrer Gesamtheit gelesen und neu rezipiert wird, ohne einzelne Texte zu verabsolutieren. Die Einheit der Schrift verweist aber auf ihren theofinalen Inhalt, der von Jesus selbst performativ vergegenwärtigt wird. Nimmt man exemplarisch Jesu Gesetzesauslegung in Sachen Ehescheidung (vgl. Mk 10,2–12; Mt 19,3 – 9), so kann man feststellen, dass die Evangelien eine bestimmte Hermeneutik, nicht eine absolute Lehre Jesu eingefangen haben, wie die unterschiedlichen Versionen bedie „Freiheit, die Jesus und die frühen Christen im Umgang mit dem Gesetz praktizierten“ (52), die sich schließlich im Glauben an Christus und im Vertrauen auf seinen Geist „durch einen gleichermaßen ehrfürchtigen wie unverkrampften Umgang mit der Schrift“ auszeichnet (54) und auf das verantwortungsbewusste Gewissen verweist. 423 Vgl. Marguerat, D., Lukas, der erste christliche Historiker. Eine Studie zur Apostelgeschichte (AThANT 92), Zürich 2011, 235 –239; 294. Das Christentum verortet sich in der Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität zu Israel. Im lukanischen Doppelwerk zeige sich eine ungelöste „Spannung“, die auch das „Identitätsbewusstsein der Christenheit“ stärkt, indem die Herkunft von Israel, die Treue zum Gott Israels und zur Hl. Schrift betont, zugleich aber ein Bruch vor Augen geführt wird, der sich aus der universalen Öffnung des Christentums ergibt. Es ist eine Art „Triumph Gottes“ (237), der sich gegen Exklusivismen durchsetzt. So handelt es sich um ein in jeder Hinsicht „offenes Programm“ (324 f.) christlicher Mission, das sich davor hütet, jemanden – auch Israel! – auszuschließen. 424 Vgl. Wolter, M., Jesu Wirken im Judentum und die urchristliche Verkündigung nach Ostern. Was für eine Kontinuität?, in: Early Christianity 11 (3/2020), 323 –341. 425 Dunn, The Living Word, 94.

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legen.426 Entsprechend spiegelt die Darstellung bei Mt mit ihrer Einfügung der sogenannten Unzuchtsklausel bereits eine Situation der frühchristlichen Gemeinde: „Die matthäische Einfügung der Einschränkung (vgl. auch Mt 5,32) – inhaltlich der gewichtigste Unterschied gegenüber der Darstellung bei Markus – zeigt, wie schon die frühen christlichen Gemeinden um eine praktikable Anwendung des Verbots der Ehescheidung gerungen haben.“427 Interessant ist hierbei die Hermeneutik Jesu: Er stellt der gängigen Rechtspraxis ein schöpfungstheologisch begründetes, „ethisches Ideal“ gegenüber, das auf eine Repräsentation des Heils zielt.428 Jesus argumentiert „nicht mit einer eigenen, neuen Lehre, sondern ausschließlich mit der Autorität der Tora.“429 Dieses gezeichnete Ideal beansprucht nicht, „unmittelbar eine praktikable rechtliche Regelung anzubieten, die spezielle Umstände berücksichtigt.“430 Unter den sozialgeschichtlichen Voraussetzungen seiner Zeit wird eine rechtshermeneutische Haltung deutlich: Es geht darum, mit der „Sensibilität des Herzens“ unter dem Vorzeichen der Gottes- und Nächstenliebe das Anliegen Gottes im Kontext der Schrift zu verstehen.431 Erst durch die spätere Fixierung ntl. Texte und den finalen Abschluss des Kanons im nachapostolischen Zeitalter gerät die Schrifthermeneutik Jesu und seiner Jünger aus dem Blick, während vermeintliche ipsissima verba selbst zur Schrift werden – und somit ebenso auslegungsbedürftig wie schon das Alte Testament. James Dunn bezeichnet die Hermeneutik Jesu und der ersten Christen hingegen als „historical relativity“432, bei der die Schrift als Wort Gottes an die historischen Umstände wie auch an die Situation der Rezipienten rückgebunden wird. Diese Terminologie erscheint missverständlich, inso426 Vgl. Dunn, The Living Word, 97: „Rather, we see a concern to show the words of Jesus speaking to his own time and to the issues of his own time. And where we might have felt it more proper to leave the saying in its original form and to add our interpretative gloss after it, it was evidently quite an acceptable procedure in Matthew’s time to incorporate the interpretation into the saying itself by modifying the form of the saying.“ 427 Markl, D., Jesu Argumentation gegen die Institution der Ehescheidung nach Mk 10,2–12; Mt 19,3 – 9 als angewandte Rechtshermeneutik der Tora, in: Graulich, M./ Seidnader, M. (Hg.), Zwischen Jesu Wort und Norm (QD 264), Freiburg i. Br. 2014, 26 – 47, 43. 428 Vgl. Markl, Jesu Argumentation, 45 f. 429 Markl, Jesu Argumentation, 43 f. 430 Markl, Jesu Argumentation, 45. „Die Diskussion geht in keiner Weise auf die Frage des dramatischen Scheiterns von ehelichen Beziehungen ein.“ 431 Vgl. Markl, Jesu Argumentation, 47. 432 Dunn, The Living Word, 97.

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fern weder Jesus noch seine Jünger eine historisch-kritische Exegese betreiben. Wenn sie die Schrift in ihrer buchstäblichen Verabsolutierung positiv relativieren, dann nur, indem sie diese für die Menschen und deren Heil, also theofinal und insofern soteriologisch hinterfragen. Es handelt sich also um eine dezidiert soteriologische Hermeneutik, die das Wort Gottes als geschichtlich artikulierte und inkarnierte Wahrheit in ihrer universalen Offenheit für alle Menschen lebendig hält und persönlich zuspricht. Paulus sieht im Evangelium deswegen die „Kraft (dÅnamij) Gottes zur Rettung (eÙj swthrËan) für jeden, der glaubt, zuerst für den Juden, aber ebenso für den Griechen.“ (Röm 1,16) Kein Wunder, dass diese „neue“ Hermeneutik (vgl. Mk 1,22.27) bald mit Jesus als Christus selbst identifiziert wurde: In seiner vergegenwärtigenden Verwirklichung der Weisung Gottes ist er das lebendige und sogar eschatologisch autorisierte Wort Gottes in Person, das sich auf diese Weise für alle Menschen öffnet und für den Dialog mit allen Menschen in ihrer Lebenssituation offen bleibt. Die sich in seiner Nachfolge herausbildende Kirche muss dann durch ihr lebendiges Zeugnis das aktuelle „Gegenwärtigbleiben des menschgewordenen Wortes in Raum und Zeit“433 sein, das sich aus dem Zeugnis der Schrift speist, es je aktuell erschließt und sakramental realisiert. Darin liegt die große Herausforderung, denn dies erfordert angesichts neuer Erfahrungen eine vom Geist der Wahrheit getragene, je neue Unterscheidung und Entscheidung, was wirklich dem Willen Gottes und dem Heil der Menschen – ihrer Liebe zu Gott und zueinander – dient.

3.3. Christologische Verdichtung in der Person Jesu Jesus selbst hinterlässt keinerlei Schrifttum; er gibt kein instruktionstheoretisches Depositum an seine Anhänger weiter und bietet keinen katalogartigen Katechismus als Diktat seiner Lehre, sondern ein authentisches Zeugnis seines eigenen Glaubens und ein Vorbild durch sein Leben. Er lehrt, indem er das, was bereits als gegeben vorausgesetzt werden kann, auf eine neue Weise eröffnet – nämlich so, dass es allen Menschen zugänglich wird. Er tut dies aus seiner innigen Gottesbeziehung heraus und mit einer unerschütterlichen Gewissheit, Souveränität und „Vollmacht“, die seine Hörer/innen offenbar tief beeindruckt, weil sie die 433 Vgl. Rahner, K., Zur Theologie des Symbols, in: Ders., Schriften zur Theologie IV, Einsiedeln u. a. 31962, 275 –311, 297.

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Glaubwürdigkeit seiner Verkündigung leibhaftig spüren. Jesus legt die lebensdienliche Weisung Gottes – in universaler Offenheit – soteriologisch aus (vgl. Joh 1,18: §xhgûsato). Erich Zenger hat darauf hingewiesen, dass der oftmals konstruierte Gegensatz zwischen Mose bzw. dem Gesetz und Jesus bzw. der Gnade in Joh 1,14 ff. völlig unzutreffend ist. Die durch Mose gegebene Tora bleibe nämlich die Gabe des barmherzigen und gnädigen Gottes, dessen Güte in Jesus Christus „in so bislang nicht geschauter Gestalt präsent geworden“ ist. Jesus sei also „eine biographische Exegese des einzigen Gottes – und zwar des schöpferisch wirkmächtigen und des barmherzig rettenden Gottes, den das Erste Testament bezeugt. Er ist nicht ‚Offenbarer‘ eines bislang unbekannten Gottes, sondern ‚Ausleger‘ des Gottes Israels – zum Heil der ganzen Schöpfung, wie Joh 1,1–13 erläutert.“434 Damit wird Christus aus christlicher Sicht selbst zum hermeneutischen Schlüssel jeder theologischen Verbindung von Alt und Neu. Er wird zur Schlüsselfigur eines universalen Bundes zwischen Gott und allen Menschen guten Willens. Wer die mit seiner Person und seinem Schicksal verbundene Hermeneutik Jesu rezipieren und fortführen will, kommt nicht umhin, sich die Frage nach der Bedeutung Jesu und seiner Beziehung zum Gott Israels zu stellen. Diese Bedeutung ist uns aber aus heutiger Sicht nur zugänglich durch die immer schon vielfältige Deutung derer, die seine Verkündigung unter dem Eindruck der Ostererfahrung neu und frei rezipieren. Jens Schröter verweist darauf, dass die Lehre Jesu als Ausgangspunkt der Entwicklung des neutestamentlichen Kanons im Wortlaut lange Zeit als variabel verstanden und der jeweiligen Situation angepasst wurde.435 „Die Intention besteht also nicht in der wörtlichen Weitergabe von Worten des irdischen Jesus, sondern in der Anknüpfung an eine durch die Autorität des Herrn begründete Tradition als Basis urchristlicher Lehre.“436 Die Verschriftung des Evangeliums von Jesus als Christus und die Erzählung seiner Geschichte erfolgt in verschiedenen Versionen und zeigt, dass es sich um „freie Wiedergaben“ handelt, die „in neue Kontexte eingebunden werden.“437 Der Begriff „Evangelium“ werde bis ins 2. Jh. hi434 Zenger, E., „Gott hat keiner jemals geschaut“ (Joh 1,18). Die christliche Gottesrede im Angesicht des Judentums, in: Ders., Mit Gott ums Leben kämpfen, 151–170, 167. 435 Vgl. Schröter, J., Jesus und der Kanon. Die frühe Jesusüberlieferung im Kontext der Entstehung des neutestamentlichen Kanons, in: BThZ 22 (2/2005), 181–201, 186. 436 Schröter, Jesus und der Kanon, 187. 437 Schröter, Jesus und der Kanon, 189. Vgl. Limbeck, M., Die Heilige Schrift, in:

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nein als Singular verwendet. Jesusüberlieferungen wurden „noch weitgehend frei zitiert, auch dort, wo die Kenntnis eines schriftlichen Evangeliums anzunehmen ist.“438 Die Grenzen von „kanonischer“ und „apokrypher“ bzw. apokryph gewordener Jesusüberlieferung sind dabei fließend.439 Auch nach der Abfassung der ersten schriftlichen Erzählungen lasse sich „weder eine Fixierung des Umfangs noch des Wortlauts der Jesusüberlieferung“ feststellen.440 Dies führt dazu, dass angesichts einer ausufernden Fortschreibung und Umdeutung der Überlieferung zunehmend die Notwendigkeit der historischen Absicherung und Begrenzung gesehen wurde, insofern eine immer weiter fortschreitende Rezeption und Verarbeitung mündlicher und schriftlicher Jesusüberlieferung mit neuen inhaltlichen Akzenten, philosophischen Topoi oder vermeintlichen Geheimoffenbarungen versetzt wurde.441 „Damit einher geht nicht selten eine Herauslösung dieser Überlieferungen aus ihrem jüdischen Kontext.“442 Es dürfte auch sachliche Gründe haben, dass einige aus heutiger Sicht „apokryphe“ Schriften in der Tradition bewusst ausgesondert wurden. Man wird im Kanonisierungsprozess des NT und in seiner Bindung an das AT wohl einen Vorläufer „dogmatischer“ Entscheidungen als limitativ definierender Festlegungen sehen können. Es wurden Kriterien für den Kanon gesucht, anhand derer die Authentizität und Autorität der „kanonischen“ Schriften im „Kanon der Wahrheit“ – der regula fidei – verankert wurden.443 Das HFTh 4 (22000), 37– 64, 40 f., der ebenfalls darauf verweist, dass die junge Kirche weniger am fixierten Text oder am Wortlaut der Lehre Jesu interessiert war, was bereits die Bearbeitung des Markusevangeliums durch die Verfasser des Matthäus- und Lukasevangeliums deutlich zeige. Das lebendige Wort Gottes ist nicht auf die schriftliche Fixierung festgelegt. 438 Schröter, Jesus und der Kanon, 190. 439 Vgl. Schröter, Jesus und der Kanon, 191. 440 Schröter, Jesus und der Kanon, 192. „Was als Herrenwort bzw. als zum Evangelium gehörig angeführt werden kann, ist noch nicht definiert, weshalb die Jesusüberlieferung prinzipiell erweiterbar ist.“ 441 Vgl. Schröter, Jesus und der Kanon, 193. 442 Schröter, Jesus und der Kanon, 193. In Anm. 59 verweist er auf einen Befund, der für den Umgang mit der Rezeption des AT und das korrelative Spannungsverhältnis von Alt und Neu von Bedeutung ist: „Nur am Rande sei vermerkt, dass die Aufwertung etlicher apokrypher Schriften in Teilen der gegenwärtigen Jesusforschung auch deshalb problematisch ist, weil sie spätere, oft antijüdisch orientierte Überlieferungen für Jesus selbst reklamiert und auf diese Weise zu einem historisch wenig plausiblen Jesusbild gelangt.“ 443 Zu Kriterien der Kanonabgrenzung vgl. Söding, Der Schatz, 241–247; Rahner, J.,

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christliche Bekenntnis ist dabei, wie wir sehen konnten, nicht von der Hl. Schrift zu trennen. Das Alter der neuen Schriften, die Bindung an den apostolischen Ursprung, ihre allgemeine Verbreitung in den Gemeinden und der Gebrauch in der Verkündigung sollten demnach die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der verschrifteten Überlieferung verbürgen. Auch hier mündet der kanonische Prozess durch Rezeption in die Kanonisierung.444 „Als Fazit kann man somit formulieren, dass die Jesusüberlieferung von ihrer frühesten Bezeugung an nicht auf die Bewahrung ursprünglicher Jesusworte und die Fixierung eines Wortlautes gerichtet war. Die Lehre Jesu begegnet vielmehr von Beginn an in einer Vielfalt von Rezeptionen, die sprachlich variabel und in ihrem Umfang erweiterbar sind. Die Jesusüberlieferung ist demnach seit ihrer frühesten Bezeugung eine freie und lebendige Überlieferung, die Vorstellung von ihrer fest umrissenen, autoritativen Gestalt demzufolge aufzugeben.“445

Die Tragweite dieses biblischen Befundes hat die Dogmenhermeneutik noch kaum umrissen. Es existieren keine wörtlich protokollierten und als unveränderlich intendierten „Lehren“ Jesu, die in sich überzeitlich gültig wären, sodass man sie instruktionstheoretisch rezipieren und tradieren könnte. Daran hatte die Urgemeinde offenbar auch überhaupt kein Interesse, weil es ihr weniger um einzelne situativ bedingte Aussagen Jesu ging, sondern um die Deutung und Bedeutung seiner eigenen Person – die nach der Ostererfahrung selbst zum zentralen Gegenstand

Gotteswort in Menschenwort. Die Bibel als Urkunde des Glaubens, in: Gillmayr-Bucher u. a. (Hg.), Bibel verstehen. Schriftverständnis und Schriftauslegung, Freiburg i. Br. 2008, 7–36, 27 ff. 444 Vgl. Verheyden, J., The New Testament canon, in: Paget/Schaper (eds.), The New Cambridge History, Vol. 1, 398 – 411; Becker, E.-M., Antike Textsammlungen in Konstruktion und Dekonstruktion. Eine Darstellung aus neutestamentlicher Sicht, in: Becker/Scholz (Hg.), Kanon, 1–29, 22 ff. Beckers These, in der Dynamik kanonischer Konstruktion und Dekonstruktion könne sich „im postmodernen Diskurs“ eine „Privilegierung neutestamentlicher Texte nicht von ihrer Autorisierung ableiten“ (22) übersieht eher, dass die Autorisierung innerhalb der Glaubensgemeinschaft gerade nach rezeptionsgeschichtlichen Kriterien verlaufen ist, weil es sich um „fundierende Texte“ (23) handelt. Die Entscheidung über die Konstruktion oder Dekonstruktion des Kanons liegt damit – jenseits einer Sakralisierung der Texte – in der Glaubensgemeinschaft und der für sie normativen Tradition begründet. Vgl. Ohlig, K. H., Die theologische Begründung des neutestamentlichen Kanons in der alten Kirche, Düsseldorf 1972, 293 ff.; 310. Es gibt keine Entscheidung an den Prozessen der Rezeption vorbei. Amtliche Entscheidungen ratifizieren nur das, was schon als Kernbestand rezipiert wird. 445 Schröter, Jesus und der Kanon, 194.

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jener Verkündigung wird, aus der später das „Christentum“ erwachsen sollte. Die „Flexibilität der Überlieferung“446 gilt also nicht nur für die mündliche Tradition, sondern auch für die verschriftete Form, die verschiedene Versionen kennt und erlaubt.447 Die Textüberlieferung der Evangelien macht dies in besonderer Weise deutlich: „In der Textüberlieferung der Evangelien zeigt sich ein geradezu erstaunlich freier Umgang mit diesen Texten, der sich in der Variabilität des Wortlauts niedergeschlagen hat. Dabei konnte die Textgestalt sogar dem jeweiligen inhaltlichen Verständnis entsprechend verändert werden.“448

So wurden offenbar im Rahmen der christologischen Kontroversen der frühen Kirche entsprechende Textpassagen des NT dem (aus heutiger Sicht) „orthodoxen“ Glauben der Kirche angepasst. Schröter verweist auf die Studien von B. D. Ehrman und dessen Fazit: „It is not only thinkable that scribes would make such changes, it is manifest that they did. Scribes altered their sacred texts to make them ‚say‘ what they were already known to ‚mean‘.“449 Das bedeutet konkret, dass im NT – wie zuvor bei der Fortschreibung autoritativer Texte450 im kanonischen Prozess des AT – die zunehmend als normativ erachteten Textgrundlagen über einen gewissen Zeitraum hinweg noch einer Überarbeitung unterzogen werden konnten, um so 446

Schröter, Jesus und der Kanon, 197. Vgl. Becker, Mündliche und schriftliche Autorität, 8. 448 Schröter, Jesus und der Kanon, 197. 449 Ehrman, B. D., The Orthodox Corruption of Scripture. The Effect of Early Christological Controversies on the Text of the New Testament, New York – Oxford 1993, 276, zitiert nach Schröter, Jesus und der Kanon, 197. Vgl. Ehrman, B. D., Lost Christianities. The Battle for Scripture and the Faiths we never knew, Oxford 2003, 215 –227. 450 Dušek, J./Roskovec, J., Authority in a Process, in: Dušek, J./Roskovec, J. (eds.), The Process of Authority. The Dynamics in Transmission and Reception of Canonical Texts. (Deuterocanonical and Cognate Literature Studies 27), Berlin – Boston 2016, 1– 6, verweisen auf „the dynamic aspects of transmission and reception of the biblical texts“ (3). Die Autorität der Texte ist an ihre Relevanz und Interpretation gebunden. Der „process of authority“ sei geprägt von 2 Tendenzen: „conserving and modifying, static and dynamic“ (6). Daraus könne man schließen, „that the phenomenon of interpretative modifications is deeply inherent in the process of transmission of the authoritative biblical texts“ (3). Der Überlieferungsprozess sei gekennzeichnet durch den „conservative aspect“ einerseits und „the element of innovation“ andererseits. „The more closely one looks, the less clear is the divide between the stable, unchangeable text and its variable interpretation. Authority appears not to be exclusively bound to the stable, unchangeable elements of tradition, but – with the equal weight – to its dynamic, sometimes even ‚fluid‘ aspects.“ (3). 447

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den faktischen Glauben der Kirche in seiner apostolischen Intention abzusichern und vielfältig anschlussfähig zu halten. Diese Aktualisierungen sollten offenbar vor Fehlentwicklungen durch ungewollte oder missverständliche Textrezeptionen und -interpretationen bewahren, die dem lebendig erfahrenen und als authentisch bezeugten Glauben widersprachen. Umgekehrt sind es jedoch die Texte, die diesen Glauben prägten und auch zunehmend stabilisierten.451 Die Kirche als Glaubens- und Rezeptionsgemeinschaft ist die im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Trägerin jener Tradition, die an das AT gebunden ist und aus der nun auch das NT entspringt.452 Die damit vorliegende Verschriftung des apostolischen Zeugnisses wurde also angesichts neuer Erfahrungen (oder Missverständnisse) basierend auf dem Kern des christlichen Bekenntnisses – dem Evangelium vom rettenden Handeln Gottes an Jesus Christus und seiner soteriologischen Bedeutung für alle Menschen – solange

451 Vgl. Verheyden, The New Testament canon, 410 f.: „It could, of course, easily be argued on chronological grounds that the tradition of the church preceded scripture and hence could function as a point of reference. But the relation between document and tradition was indeed a more complex and more dynamic one, for the same documents that were judged to capture this tradition inevitably also contributed to shaping or even modifying it.“ 452 Hier kommt das protestantische Prinzip einer sich selbst auslegenden und den Kanon konstituierenden Schrift ins Schwimmen. So auch die These von einem „intrinsic canon model“. Vgl. Peckham, J. C., Canonical Theology. The Biblical Canon, Sola Scriptura, and Theological Method, Grand Rapids 2016, 19, wo die Schrift quasi ex sese ihre Form und Autorität direkt von Gott bezieht. Hier können weder Schrift und Tradition noch Gotteswort und Menschenwort zusammengedacht werden. Während die katholische Theologie (bestätigt durch die Erkenntnisse zum kanonischen Prozess und den philologischen Befund variierender Textversionen) an einer Wechselbeziehung von kirchlicher Traditionsgemeinschaft und Kanon festhält, bleiben der evangelikalen Sicht nur die Anerkennung eines durch Rezeption – d. h. durch die Kirche – überlieferten Kanons, der keine Prinzipien liefern kann, solange er nicht feststeht; oder aber die Zersetzung dieses Kanons nach subjektiven theologischen Kriterien. Vgl. Wenz, G., Die Kanonfrage als Problem ökumenischer Theologie, in: Pannenberg, W./Schneider, T. (Hg.), Verbindliches Zeugnis I. Kanon – Schrift – Tradition (Dialog der Kirchen, Bd. 7), Freiburg i. Br. 1992, 232–288, 242; 269 f.; 274. Eine willkürliche Auflösung des Kanons im Bruch mit der Tradition ist dann bei Harnack oder Slenczka ja auch klar erkennbar und nach protestantischer Logik kaum vermeidbar. Die Möglichkeit einer solchen Kanonrevision ist für die katholische Kirche ausgeschlossen, da sie aus Gründen der Identität und Kontinuität über das ihr vor-gegebene Zeugnis nicht einfach nach Belieben verfügen kann. Vgl. Fries, H., Kirche und Kanon. Perspektiven katholischer Theologie, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I, 289 –314, 299; Kasper, W., Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung, Freiburg i. Br. 4 2011, 88 f.

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aktualisiert und theologisch auf neue Situationen hin adaptiert, bis die Stabilisierung der Texte eine normative Gestalt gefunden hatte, die fortan nicht mehr im Text verändert, sondern durch theologische Kommentierung ausgelegt wurde. Verschiedene Textvarianten der Einsetzungsberichte beim Abendmahl oder der Worte Jesu zur Ehescheidung „lassen sich nicht nach dem Modell einer Ursprungsfassung und davon abgeleiteter, sekundärer Versionen verstehen“, sondern diese „verschiedenen Versionen sind vielmehr Ausdruck unterschiedlicher Verständnisweisen, die in der jeweiligen Textgestalt Ausdruck gefunden haben und gleichwertig nebeneinander existieren konnten.“453 Tradition ist von Anfang an freie Rezeption. Darin zeigt sich, wiederum wie im AT, ein Prinzip von Pluralität und die Verwiesenheit auf den Dialog der unterschiedlichen Deutungen, von denen keine exklusiv für sich den Anspruch erheben könnte, „die“ Wahrheit oder eine „Reinheit der Lehre“ zu bieten. Dagegen steht das Konzept des neutestamentlichen Kanons, das nach dem Muster der Schriften Israels ausgebildet wurde. Martin Hengel weist darauf hin, dass diese perspektivische Vielfalt auch eine entscheidende Grundlage der kreativen Dynamik kirchlicher Sendung ist: „Die Verschiedenheit der Evangelien war von Anfang an notwendig und wurde von der Kirche nicht nur ertragen, sondern so gewollt. […] Die zum Teil so verschiedenen Formen der einen ‚Heilsbotschaft‘ von Jesus haben die Kirche auf ihrem spannungsvollen Weg durch die Geschichte nicht geschwächt, sondern dieselbe durch eine schöpferische Vielfalt in ihrer Identität und missionarischen Kraft gestärkt. Die ‚Vielzahl‘ der Evangelien mag uns zuweilen heute als Aporie und Verlegenheit erscheinen; in Wirklichkeit wurde sie – gegen alle Harmonisierungsversuche – zur unerschöpflichen Quelle jener Kraft, die wahren Glauben, Liebe und Hoffnung hervorbringt.“454

Diese soteriologisch konzentrierte Einigkeit in der ekklesiologischen Vielfalt ist dann aber auch der Maßstab – die regula – eines lebendigen Glaubens, seiner Überlieferungs- und Rezeptionsdynamik angesichts der Auslegung dieser Texte. Der biblische Kanon steht für eine regulative „Orientierungsfunktion“ christlicher Theologie, ohne dass eine eindeu453

Schröter, Jesus und der Kanon, 198. Hengel, M., Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus (WUNT 224), Tübingen 2008, 273. Vgl. auch Parker, D. C., The Living Text of the Gospels, Cambridge 1997, 212, der die Kirche deswegen als „community of the Spirit“ bezeichnet. 454

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tige Textgestalt oder der exakte Umfang des Kanons zunächst eine entscheidende Rolle gespielt hätten.455 Angesichts des Überlieferungsbefundes sei es, so J. Schröter, nicht möglich, den einen Urtext oder den historischen Jesus zu rekonstruieren, weil man hinter die Vielfalt der Deutungen und Rezeptionen, die von Anfang an den Traditionsprozess kennzeichnen, letztlich nicht zurück kann. Die frühchristliche Rezeption der Lehre Jesu bewege sich, so Schröter, „innerhalb eines Deutungsspektrums […], das dazu herausforderte, zwischen anerkannten und abgelehnten Interpretationen zu unterscheiden.“456 Die Bindung an den Kern – die regula fidei – diente dabei ganz offensichtlich nicht der Vereinheitlichung, Gleichschaltung oder Konservierung, sondern ermöglichte vielmehr ein breites Spektrum – eine synchrone wie diachrone Einheit in Vielfalt mit dem Potential für Entwicklung, die innerhalb zu definierender Grenzen selbstverständlich war. Die „Tendenz einer variablen, dem jeweiligen Verständnis angepassten Überlieferung“457 setzt sich nicht nur lange Zeit in der Textüberlieferung fort, sondern auch in der Textrezeption bzw. kirchlichen Tradition. Das II. Vatikanische Konzil ruft dies eindrücklich in Erinnerung: Quae quidem verbi revelati accommodata praedicatio lex omnis evangelizationis permanere debet. (GS 44) Es bleibt nämlich schon aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht festzuhalten: „Das frühe Christentum war nicht an der Bewahrung des einen Ursprungs orientiert, sondern wahrte die Beziehung zu den eigenen Anfängen in Form einer freien, lebendigen Überlieferung.“458

Das Neue Testament zeugt von diesem dynamischen Traditionsprozess, der sich seiner apostolischen Grundlage (die selbst verschriftet und somit normierend abgesichert wurde) permanent vergewissert, um sie angesichts neuer Situationen zu aktualisieren. Dabei ist die Idee des Kanons im frühen Christentum „an den zentralen Glaubensinhalten ausgerichtet und wird auf dieser Grundlage dann auch auf Schriften angewandt, die mit diesen Inhalten vereinbar sind.“459 Zu den zentralen Kerninhalten des apostolischen Glaubens gehört aber einerseits die schon existierende 455 Vgl. Schröter, J., Kanon – Eine neutestamentliche Perspektive, in: Gräb-Schmidt/ Leppin (Hg.), Kanon, 37– 65. 456 Schröter, Jesus und der Kanon, 200. 457 Schröter, Jesus und der Kanon, 201. 458 Schröter, Jesus und der Kanon, 198. 459 Schröter, Jesus und der Kanon, 198.

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Hl. Schrift als Israels Zeugnis von JHWH, dem Retter seines Volkes; andererseits nun auch die frohe Botschaft von Jesus dem Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, durch den JHWHs heilvolle Zusage für alle Menschen erfahrbar geworden ist und in dessen Geist sie nun voll Zuversicht den Weg des Lebens beschreiten können. Die soteriologische Priorisierung und Konzentrierung in Gestalt der regula fidei, die aus dem sensus Christifidelium erwachsen war, ist keineswegs interessiert an allzeit gültigen Lehrsätzen Jesu in Form von ewigen Wahrheiten, auch wenn es durchaus konkrete Inhalte gibt. Man vergewissert sich des apostolischen Zeugnisses, um es unter neuen Bedingungen zu aktualisieren und das mit der Person Jesu selbst untrennbar verbundene Evangelium im vielfältigen Dialog glaubwürdig zu vermitteln. Dies ist zweifellos der Motor urkirchlicher Mission. Die Sendung der Kirche erforderte bald einen ebenso freien wie progressiven Umgang mit Christi Vorbild. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Jesus in der patristischen Soteriologie im Unterschied zu den grammateñj als das göttliche par!deigma (exemplum) und in diesem modellhaften Sinne eines produktiven Vorbilds als göttlicher Lehrer und „Pädagoge“ (paidagwg{j) verstanden werden konnte.460 Der Prozess einer solchen paidagwgËa setzt voraus, dass die eigene Nachfolge bzw. Nachahmung (mËmhsij) in den Mitvollzug und eine aktive Teilhabe der Schüler/innen münden, die nicht einfach nur passive Rezipienten einer kognitiv verengten Instruktion sind. Es dürfte wiederum kein Zufall sein, dass ausgerechnet dieses Motiv einer göttlichen Pädagogik auch in den patristischen Überlegungen zur Frage dogmatischer Lehrentwicklung begegnet.461 Man übernimmt von Jesus also keine in sich stehende, fertige Lehre in Abgrenzung zur Schrift, sondern primär seine Art und Weise der Schriftauslegung, mit der sein Leben, Sterben und seine Auferweckung untrennbar verbunden sind. Seine Hermeneutik lässt ihn zur Verkörperung des lebendigen Wortes Gottes werden, das wiederum selbst der Überlieferung bedarf. Es steht im Einklang mit der Schrift, die so zugleich transzendiert und in ihrer theofinal-soteriologischen Intention für alle Menschen erschlossen wird. Dank dem inkarnierten Wort Gottes und seiner je persönlichen Aktualisierbarkeit erlangen nun auch die Heiden einen Zugang zum Gott Israels – der Quelle und dem Ziel des Heils.

460 461

Vgl. hierzu: Weißer, Der Heilige Horizont, 424 – 498. Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 108 –123.

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Die Frage nach dem historischen Jesus und dem fixen Wortlaut seiner Lehre ist dabei „eine typisch neuzeitliche“, denn erst mit der Neuzeit und der Erfindung des Buchdrucks setzt sich die Vorstellung „des einen, fixierten Bestandes und Wortlauts hinter der freien, lebendigen Überlieferung“ durch.462 Mit Schröter können wir festhalten: „Das Urchristentum und die frühe Kirche haben die Jesusüberlieferung von Beginn an als eine freie und lebendige Überlieferung verstanden.“463 Es ist die pure Dynamik einer lebendigen Glaubensgeschichte, die Kontinuität im Kern und Diskontinuität in der unabsehbaren Diversität menschlichen Lebens im offenen Dialog mit den Zeichen der Zeit verbindet. In der Person und dem Geschick Jesu konzentriert und verdichtet sich dessen soteriologische Hermeneutik, die von Ostern her Bestätigung findet. Als ultimatives – universal offenes und auf alle Menschen hin entgrenztes – Wort Gottes in Person wird er zum Lektüreschlüssel der nach wie vor gültigen Schrift Israels. So wird die Spannung von Kontinuität und Diskontinuität fortan mit der Person Jesu selbst verbunden und in den Horizont eines offenen Dialogs gestellt. Die Christusnachfolge wird dabei zum Kriterium der Schriftauslegung: „Christusanhänger zu sein bedeutete somit einerseits in Kontinuität, andererseits in Diskontinuität zur nicht an Christus glaubenden jüdischen Umgebung zu stehen. Je nachdem, wo man sich in der zunächst zwar kleinen, von Anfang an aber differenzierten neuen Bewegung einordnete, bedeutete dies auch ein neues Verhältnis zu den ‚Schriften Israels‘. Das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zur jüdischen Wurzel konnte dabei je unterschiedlich interpretiert werden.“464

Auch wenn es keine einheitliche „christliche“ Hermeneutik der Schriften Israels gab, so ist die Hermeneutik der nun entstehenden soteriologischen Bewegung, die als junge Kirche noch weit davon entfernt ist, eine statische Heilsinstitution zu sein, christologisch motiviert und orientiert. „Die Schriften Israels werden nun aufgrund von Fragen, die sich vom 462 Schröter, Jesus und der Kanon, 200. Ähnlich Budde, A., Der Abschluss des alttestamentlichen Kanons und seine Bedeutung für die kanonische Schriftauslegung, in: BN 87 (1997), 39 –55, 53. Vgl. Barton, J., Canon and Content, in: Lim/Akiyama (eds.), When texts are canonized, 82– 94, 92, mit Bezug auf Augustinus, De consensu evangelistarum, 2,12. 463 Schröter, Jesus und der Kanon, 199. 464 Nicklas, T., Frühchristliche Ansprüche auf die Schriften Israels, in: Kalimi, I./Nicklas, T./Xeravits, G. (eds.), Scriptural Authority in Early Judaism and Ancient Christianity (Deuterocanonical and Cognate Literature Studies 16), Berlin – Boston 2013, 347–368, 349.

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Christusereignis her kommend stellen, auf das Christusereignis hin gelesen.“465 Denn das rettende Handeln JHWHs kann in seiner universalen Dynamik nicht mehr unabhängig von Jesu Existenz gedacht werden, dessen – durch die Schrift gedeutete! – soteriologische Bedeutung als Christus eine neue und unhintergehbare Sinnrichtung der gesamten Schrift erschließt. Die Hl. Schriften Israels wurden jedoch sukzessiv an eine exklusiv christologische Hermeneutik gebunden, die eine jüdische Hermeneutik bald dezidiert ausschließt.466 Christus ist danach nicht mehr der hermeneutische Schlüssel zur soteriologischen Auslegung und Anwendung der an sich gültigen und für sich eigenständigen Hl. Schrift Israels, sondern er, dessen (Be-)Deutung nur durch diese Schrift zugänglich war, wird zu dem exkludierenden Kriterium und zur einzigen Legitimation ihrer weiteren Lektüre. Mit anderen Worten: Das Alte Testament verliert seinen Eigenwert. Das ist schon bei Ignatius von Antiochien zu erkennen.467 Dieser Trend wird sich bei den Kirchenvätern fortsetzen, die zwar durch allegorische oder typologische Auslegungen die bleibende Aktualität des Alten Testaments in guter Absicht sichern wollen, weil sie dessen unersetzbare theologische Relevanz erkannten, zugleich aber Israel immer mehr seiner eigenen Schrift enteigneten, insofern diese christologisch reduziert und vereindeutigt wird.468 Was nicht christologisch gelesen werden konnte, war fortan der christlichen Lektüre kaum noch wert469 – 465

Vgl. Nicklas, Frühchristliche Ansprüche, 352. Das wird auch deutlich bei Frank, K. S., Zur altkirchlichen Kanongeschichte, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I, 128 –155, 129 f. Seit Christus habe Gott „ein neues Volk im Namen seines Sohnes berufen und versammelt. Seine Gaben an das alte Volk gehen jetzt an dieses neue Volk; dazu gehört auch sein Wort, ergangen im Gesetz und den Propheten.“ Diese exkludierende „Beanspruchung des AT durch die Christen“, die es „zum eigentlichen und ausschließlichen christlichen Offenbarungsbuch werden lässt“, reklamiert „das einzig richtige Verständnis des AT für die Christen“ und ist in dieser Enteignungslogik, die für die christliche Urgemeinde so nicht zutrifft, ein gefährlicher und theologisch unterbelichteter Pfad zum Antijudaismus. 467 Vgl. Nicklas, Frühchristliche Ansprüche, 360 f. 468 Vgl. Paget, J. C., The interpretation of the Bible in the second century, in: Paget/Schaper (eds.), The New Cambridge History, Vol. 1, 549–583, 574: „it is a feature of antiMarcionite works that they look in parts very much like adversus Judaeos literature“. 469 Dalferth, Wirkendes Wort, 404, spricht von der „Selbstverständlichkeit einer christozentrischen Selektions- und Interpretationsperspektive“, die ja nur fraglich werde, wenn man vom evangeliumszentrierten Schriftgebrauch innerhalb des christlichen Kontextes plötzlich auf die Texte selbst blicke. Dass auch außerhalb dieses Kontextes 466

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eine höchst gefährliche Haltung, die sich bis heute hartnäckig hält und theologisch unreflektiert die essentielle Grundlage jeder Christologie – nämlich das Alte Testament – unterläuft. Eine „christologische Deutung aller Schriften des Alten Testaments“470 unter Berufung auf eine christliche „Rezeptionsästhetik“ hält aus heutiger Sicht den kritischen Anfragen, die sich aus dem jüdisch-christlichen Dialog ergeben, wohl kaum stand, insofern nicht nur der historische Kontext dieser Texte, sondern auch eine legitime alternative Lesart des Judentums ignoriert und das Alte Testament auf eine exkludierende (jeder Rezeptionstheorie letztlich widersprechende) Art und Weise „vereindeutigt“ werden soll.471 Die tragischen Folgen sind an der katastrophalen Beziehungsgeschichte zwischen Christentum und Judentum ablesbar. Sie beruht zu einem wohl nicht unerheblichen Teil auf einer ausschließlichen und ausschließenden Aneignung des Alten Testaments, das zur Sicherung seiner Bedeutung rein christologisch legitimiert worden war. Die Verantwortung des Christentums angesichts der Shoa verbietet es aber, zur vermeintlichen Unschuld kirchenväterlicher Exegese zurückzukehren, als ob nichts geschehen wäre.472 Die ursprüngliche Verdichtung christlicher Hermeneutik in der Person Jesu als Schlüssel zu Relecture der Schriften Israels bedeutet nicht, Jesus Christus in alle Texte des Alten Testaments hineininterpretieren und diese auf ihn reduzieren zu müssen.473 Er ist vielmehr der Zugang für einen neuen Umgang mit diesen Texten und kein inhaltliches Substitut oder Kondensat der Texte selbst, die man sonst kaum in vollem Umfang übernommen und verteidigt hätte. Aus christlicher Sicht ist Christus selbst das hermeneutische Prinzip des zweieinen biblischen Kanons, als eine dynamisch offene Verbindung ein theologischer Gebrauch der Texte (wie z. B. im Judentum) möglich ist, bleibt dabei außen vor (vgl. 411 f.). 470 Voderholzer, Offenbarung, 76. 471 So wörtlich bei Voderholzer, Offenbarung, 27. Völlig anders sieht es Johannes Paul II. in seiner Ansprache an die Päpstliche Bibelkommission (Die Interpretation der Bibel in der Kirche), Nr. 8, wenn er eine solche „falsche Auffassung vom Absoluten“ kritisiert. „Eine falsche Vorstellung von Gott und der Menschwerdung hat eine gewisse Anzahl von Christen“ veranlasst „zu glauben, bei Gott als absolutem Wesen müsse auch jedes seiner Worte absolute Geltung haben, unabhängig von allen Einflüssen der menschlichen Sprache.“ Doch: „Der Gott der Bibel ist nicht ein absolutes Wesen, das alles, womit es in Berührung kommt, zermalmt, um alle Unterschiede und Nuancen zu unterdrücken.“ 472 Vgl. Dohmen, Hermeneutik, 226 –233. 473 Vgl. erneut: Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 21.

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von Alt und Neu, weil die durch ihn verkörperte Hermeneutik des Wortes Gottes durch Gott selbst endgültig und verbindlich verifiziert worden ist. Die Erfahrung der Auferweckung und Vollendung Jesu impliziert dabei die Bestätigung seiner Hermeneutik, deren souveräne §xousËa soteriologisch motiviert und finalisiert war: Sie zielte zu jedem Zeitpunkt auf die Zusammenführung von Gott und Mensch, väterlicher Heilszusage und kindlicher Rezeption. Diese Schrifthermeneutik lässt sich daher nicht mehr von der Person Jesu und ihrem Geschick trennen: Die Weisung, d. h. das lebensdienliche Wort Gottes, und die existentielle menschliche Antwort sind unvermischt und untrennbar verbunden und als produktives Vorbild vor Augen geführt. Doch stehen sich bald unterschiedliche Hermeneutiken des Schriftverständnisses474 gegenüber, die „sich gegenseitig bis in die Beeinflussung von Textpassagen hinein abstoßen“.475 Dieser Bruch mit dem Judentum manifestiert sich schließlich in einer eigenen Kanongestalt. Im christlichen Kanon aus Altem und Neuem Testament wird die Schrift Israels dennoch unangetastet als eigenständige Größe überliefert und um die Verschriftung christlicher Hermeneutik ergänzt, die zu ihrer Absicherung in Form des Neuen Testaments selbst zur Schrift hinzutritt. Mit dem zwei-einen Kanon war eine normative Grundlage geschaffen, die ihre Genese erkennen lässt und in sich selbst ihre eigene Hermeneutik trägt, die als eine Blaupause für weitere Rezeptionsprozesse dient. Denn „Quelle und Maßstab allen christlichen Redens über Gott und zu Gott sind weder Konzilstexte noch Enzykliken noch die Werke Luthers, Calvins oder Zwinglis, sondern die Bibel in ihren zwei Teilen, deren wir in ihrer ganzen Polyphonie und sogar Disharmonie bedürfen.“476

474 Vgl. Ellis, E. E., The Old Testament in Early Christianity. Canon and Interpretation in the light of Modern Research (WUNT 54), Tübingen 1991, 50; 121. 475 Nicklas, Frühchristliche Ansprüche, 364. Vgl. 365: „Im Kern des Konflikts liegen die Probleme unterschiedlicher Hermeneutiken und – zumindest in manchen Fällen auch – unterschiedlicher Textformen (wie im Gegenüber von LXX und TaNaK sicherlich auch unterschiedlicher Textsammlungen).“ 476 Zenger, Gott hat keiner, 170.

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3.4. Verbindung von Alt und Neu im christlichen Kanon Die Schrift (grafû) oder die Schriften (grafaË) sind die entscheidende theologische Bezugsgröße innerhalb des NT.477 „Wo sich gezielte Kritik an einzelnen Gesetzesworten findet, ist die Gültigkeit des Gesetzes (und damit eines wesentlichen Teils der Schrift) gerade nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt, freilich auf bestimmte Zeiten oder Fälle begrenzt.“478 Die neutestamentlichen Schriften verstehen sich selbst nicht als eine notwendige Ergänzung der Schrift, sondern als Zeugnis der Christuserfahrung, deren Deutung und Bedeutung mithilfe der Schrift illustriert wird, nachhaltig nachwirkt und auf die Schrift selbst rückwirkt. Wenn diese neuen Schriften schließlich zu der Schrift hinzutreten, dann deswegen, weil sie (aus christlicher Sicht) den hermeneutischen Schlüssel zu deren Lektüre bzw. Relecture bilden und das sich langsam schließende Corpus der Schrift abschließend je neu erschließen sollen. Der christliche Kanon wird dabei nicht dekretorisch festgelegt. Frühe Konzilien „acknowledged those books that had already obtained prominence from widespread usage among the various Christian churches in their areas.“479 Dabei gab es regionale Unterschiede480 im Gebrauch von Schriften, die später als „apokryph“ gekennzeichnet wurden, je nach Zeit und Region aber für einzelne Gemeinden durchaus von Bedeutung sein konnten und identitätsstiftend wirkten, auch wenn sie gesamtkirchlich aus verschiedensten Gründen nicht weiter rezipiert worden sind.481 „In other words, church councils did not create biblical canons, but rather reflected the state of affairs in such matters in their geographical location.“482 477 Vgl. Söding, T., Der Kanon des Alten und Neuen Testaments. Zur Frage nach seinem theologischen Anspruch, in: Auwers/De Jonge (eds.), The Biblical Canons, XLVII– LXXXVIII, LXIX f.; Crüsemann, Das Alte Testament, 135 ff. 478 Söding, Der Kanon des Alten und Neuen Testaments, LXXIV. 479 McDonald, The Biblical Canon, 209. 480 Becker, Mündliche und Schriftliche Autorität, 7, verweist hierfür auf die „dezentrale Verfasstheit der frühen Christenheit“. 481 Vgl. Nicklas, T., Christian Apocrypha and the Development of the Christian Canon, in: Early Christianity 5 (2/2014), 220 –240; Ders., „Apokryph gewordene Schriften“? Gedanken zum Apokryphenbegriff bei großkirchlichen Autoren und in einigen „gnostischen“ Texten, in: Berg, J. A. v./Kotzé, A., e. a. (eds.), „In search of truth“: Augustine, Manichaeism, and other Gnosticism. Studies for Johannes van Oort at sixty, Leiden 2011, 547–565; Schröter, J., Apocryphal and Canonical Gospels within the Development of the New Testament Canon, in: Early Christianity 7 (1/2016), 24 – 46. 482 McDonald, The Biblical Canon, 209.

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Ist es wirklich Zufall, dass der historisch anvisierbare Abschluss des biblischen Kanons aus AT und NT in denselben Zeitraum fällt wie die Klärung der christologischen und trinitarischen Streitigkeiten? Der Schriftbezug und die christologische Reflexion bedingen sich gegenseitig. Das im NT bezeugte, endgültige und universal geltende Wort Gottes, das mit Jesus Christus selbst identifiziert wird, kann nur „im Horizont des von Gott schon gesprochenen Wortes der Heiligen Schrift“ verstanden und gedeutet werden.483 Die Glaubensgemeinschaft der Kirche kann sich und ihren Ursprung nur vor diesem Hintergrund verstehen. Denn neutestamentliche Christologie ist Zitat.484 Dem NT – und auch der Dogmatik – würde die Sprache fehlen, um sein zentrales Bekenntnis zu artikulieren, wenn es zur Deutung von Jesu Tod und Auferstehung nicht auf die Schrift verweisen könnte. Das ist für das NT eine völlige Selbstverständlichkeit. Damit ist eine entscheidende Grundlage vorgegeben. „Insgesamt wird der Monotheismus des Alten Testaments überall vorausgesetzt.“485 Das gilt auch für die Entfaltung der Christologie. „Insgesamt aber sehen die Verfasser des Neuen Testaments, sogar im Prozess der Entwicklung ihrer Christologien, keine wirkliche Spannung zwischen dem alttestamentlichen Verständnis von Gott und ihrem eigenen Verständnis von Jesus Christus; sie machen vielmehr vom Alten Testament genau dann expliziten Gebrauch, wenn sie ihre christlichen Bekenntnisse formulieren.“486 Die Christologie erschließt sich vom Gottesverständnis Israels her und bereichert dieses um seine eschatologische Pointe. Von daher gilt zumindest für das NT selbst: „Die Christologie wird nicht als Relativierung, sondern als Radikalisierung des Monotheismus verstanden.“487 Diese Perspektive wird in den anhebenden Diskussionen um die sich entfaltende Trinitätstheologie konsequent durchgehalten werden, obgleich die Christologie bis heute immer wieder ihre ursprüngliche Theozentrik – den AT und NT verbindenden Blick auf Ursprung und Ziel des durch Christus vermittelten Glaubensaktes – zu verlieren droht.488 483

Dohmen, Das Alte Testament nicht kennen, 34. So die prägnante Formulierung bei Crüsemann, Das Alte Testament, 227 f. 485 Childs, Die Theologie, Bd. 2, 27. 486 Childs, Die Theologie, Bd. 2, 29. 487 Söding, Einheit, 171. 488 Vgl. Thüsing, W., Zwischen Jahweglaube und christologischem Dogma, in: Ders., Studien zur neutestamentlichen Theologie, hg. v. Th. Söding (WUNT 82), Tübingen 1995, 3 –22, 8: „Trotz der völlig einzigartigen Stellung, die Jesus Christus gegeben wor484

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„In den neutestamentlichen Texten wird um die allgemeine Akzeptanz eines christologischen Konzeptes und zugleich um den Zusammenhang mit Israel gerungen: Mit ihnen werden die unhinterfragt akzeptierten jüdischen Schriften in einem Diskurs um die Christologie in zugespitzter Weise auf eine neue Gruppenidentität hin ausgerichtet.“489

Das junge Christentum sah sich angesichts seiner soteriologisch motivierten Missionsdynamik zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, die spannungsvolle Verbindung von Alt und Neu, Kontinuität und Diskontinuität theologisch auszubalancieren. Der zwei-eine Kanon seiner Hl. Schrift ist schließlich das Produkt einer Art Selbstfindungsphase, die aber nicht einheitlich verläuft. Es gibt „das“ Christentum zunächst nicht als eigenständige, klar definierbare Größe. Die Ausbildung eines christlichen Schriftkanons aus Altem und Neuem Testament spiegelt die zunehmende Trennung vom Judentum bei gleichzeitiger Bindung an denselben theologischen Ursprung und dasselbe Ziel: die Hoffnung auf das rettende und vollendende Handeln JHWHs, der aus christlicher Sicht in Jesus Christus das untrügliche Unterpfand (sacramentum) seines universalen Heilswillens schenkt; der sich gegen alle Widerstände durchsetzt und dessen durch Christus vermittelte Gegenwart im tröstenden Geist der Wahrheit erfahren werden kann. Der biblische Kanon ist das Produkt der sich sukzessiv selbst definierenden und entwickelnden Kirche als Sammlungsbewegung in der Nachfolge Jesu und der Apostel. „Der Zusammenhang von alttestamentlichen den ist, bleibt Gott, der Vater Jesu Christi und der Jahwe des Alten Testaments, Ursprung und Ziel: Das gilt nicht nur für den irdischen Jesus von Nazaret, sondern auch für ihn als den erhöhten Christus und seine Mittlerfunktion. Die vom Neuen Testament bezeugte zentrale Stellung Christi für die Vermittlung des Heils (die ‚Christozentrik‘ – diese lebendige Beziehung des Christen zu seinem Kyrios, die für christlichen Glauben legitim, ja unverzichtbar war und ist) bleibt innerhalb der vom Alten Testament und Jesus von Nazaret gewiesenen Linie, auf der des Jahweglaubens und des ureigensten Anliegens Jesu, das er seine Jünger ins Gebet zu fassen lehrte: dass der Name des Vaters geheiligt werde und die heilshafte Herrschaft dieses Vaters, sein ‚Reich‘ komme, d. h. dass Gott sich zum Heil für seine Menschen offen als derjenige erweise, dem die Basileia gehört und die Macht, sie durchzusetzen. Auch der erhöhte Jesus Christus und sein Wirken ist auf diese Theozentrik ausgerichtet“. Vgl. 1 Kor 11,3; Röm 6,11; 1 Kor 15,24 –28; 2 Kor 5,18 f. Vgl. auch Frankemölle, Das Neue Testament, 250: „Gegen einen beliebten Christozentrismus bei Christen (eine weitere Folge ist dann der Ekklesiozentrismus), der eo ipso ein Denken in Gegensatz und Überbietung freisetzt, ist gemäß neutestamentlichem Sprachduktus der, wenn man so formulieren will, Theozentrismus festzuhalten.“ 489 Heckl, Das Alte Testament, 450. Er betont gegen Slenczka, „ihr selbstverständlicher Gebrauch machte eine entsprechende Interpretation erst möglich.“

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und neutestamentlichen Schriften hat sich zusammen mit der christlichen Identität herausgebildet. Zusammen mit der Formierung des Christentums entstand ein umfangreicherer Grundlagentext.“490 Die Genese der Kirche, die immer schon eine spannungsvolle Einheit in Vielfalt darstellte, spiegelt sich in der Genese ihres Kanons, der ihre theologische Grundsubstanz bewahrt und begrenzt.491 Angesichts des Innovationspotentials und der theologischen Entscheidungen, die die Kirche als heterogene Glaubensgemeinschaft überhaupt erst konstituieren (und somit die Grenzen Israels transzendieren), stellt sich für die christlichen Gemeinden die Frage nach ihrer theologischen Legitimation. Alexander Sand beschreibt den engen Zusammenhang von Ekklesiologie und Kanonbildung folgendermaßen: „Das Problem der Kanonbildung ist also primär eine Frage des kirchlichen, also auch schon des ur-kirchlichen Selbstverständnisses. Mit diesem aber hängt die Frage nach der legitimen, einen Kanon kirchlicher Schriften schaffenden Autorität eng zusammen. Die Frage nach dem Entstehen eines kirchlichen Kanons ist somit letztlich eine Frage nach dem Selbstverständnis von Gemeinden, die sich auf das Zeugnis der apostolischen Botschaft stützen und die sich mehr und mehr zu einer Großgemeinde, zu einer Kirche, zusammenschließen. Dieses Selbstverständnis offenbart sich als eine Zu- und Unterordnung auf eine ‚neue‘ Autorität: die Autorität des Jesus von Nazareth, der seine von Gott empfangene §xousËa seinen Jüngern mitgeteilt hat. In der Weitergabe dieser ‚Voll-Macht‘ und in der jeweils rückblickenden und sich orientierenden Berufung auf diese ‚Voll-Macht‘ dürfte der eigentliche Grund, das wahre Motiv für die Entstehung eines neutestamentlichen Kanons zu suchen sein.“492

Der neu geformte Schriftkanon aus Altem und Neuem Testament493 bezieht seine Legitimation aus der Autorität des Auferstandenen, dessen zu490 Heckl, Das Alte Testament, 450. Eine Entwicklung, die er analog zum sich ausdifferenzierenden Verhältnis des antiken Judentums zu den Samaritanern sieht (vgl. 452). 491 Vgl. Nicklas, T., Die Kanonisierung des Neuen Testaments als Prozess der Gemeindebildung, in: JBTh 31 (2016), 85 –104; Söding, Der Schatz, 236 –247; Frank, Zur altkirchlichen Kanongeschichte, 154. Die Geschichte des ntl. Kanons sei „ein Teil einer umfassenderen Geschichte der kirchlichen Tradition, die Identität mit den Anfängen und Kontinuität in allem Wandel aufzeigen muss.“ 492 Sand, A., Handbuch der Dogmengeschichte. Bd. I, Faszikel 3a (1. Teil): Kanon. Von den Anfängen bis zum Fragmentum Muratorium, Freiburg i. Br. 1974, 8. 493 Vgl. Trobisch, D., Canon. III. Formation of the New Testament, in: EBR 4, 897– 901; Lips, H. v., Canon. IV. Christianity. A. Patristics, Orthodox Churches, and Early Medieval Times, in: EBR 4, 901– 906; Noak, A., Origins of the New Testament Canon, in: Friesen/Hesse (Hg.), Antike Kanonisierungsprozesse, 247–266; De Groote, M., Bemerkungen zum Entstehen des Kanons in der alten Kirche, in: ZKG 112 (3/2001), 372–376.

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vor erfahrene Art und Weise der Schriftrezeption (d. h. der Vergewisserung und aktualisierenden Anwendung durch seine gelebte Exegese) mit der kirchlichen Sendung verbunden wird – in einer dezidiert soteriologischen Hermeneutik, welche die Schrift im Geiste Jesu für neue lebensweltliche Kontexte öffnet und so völlig neue Horizonte der Gottesbeziehung erschließt. Es ist der Geist der Freiheit, der göttliche Beistand, der in alle Wahrheit einführen wird.494 Diese Wahrheit wird als eine dynamische Wirklichkeit verstanden, die auch über das Neue Testament hinaus weist, das auch selbst entsprechend zu rezipieren und auszulegen ist. Auf dieser Basis werden theologische Entscheidungen getroffen, die sich zwar an die Schrift Israels (als Altes Testament) gebunden wissen, sie aber zugleich souverän überschreiten. Die so entstandene Bewegung in der Nachfolge Jesu, die noch keine zentralistische Institution darstellt, bildet gemeinsam mit ihrem Bekenntnis- und Schriftkanon neue Organisationsstrukturen und liturgische Feiern aus, die selbst das Neue Testament überschreiten. Ein Netzwerk von Gemeinden entwickelte Deutungsmuster zur theologischen Verarbeitung ihrer Ursprungserfahrungen. Insofern der doppelte Schriftkanon im Nachhinein als Spiegelbild der Kirchengenese verstanden werden kann, bleibt er jedoch auch die normative Grundlage für jede weitere Kirchenentwicklung, da er in sich die theologischen Kriterien und Entwicklungsprinzipien der kirchlichen Gründungsphase dokumentiert, die alle christlichen Gemeinden verbinden – in der Frage nach der Deutungshoheit der Schrift aber auch trennen können.495 I. H. Marshall sucht angesichts der von ihm konstatierten christlichen Lehrentwicklung nach „Scriptural Principles for Going beyond Scripture“.496 Er versucht dabei, die Entwicklungen über die Bibel hinaus in ihrer Legitimität zu befragen, „by looking into the Bible itself to see how Christian teaching developed and whether any principles can be found that controlled the development. Such principles may be implicit rather than explicit.“497 494

Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 103 –106. Vgl. Nicklas, Die Kanonisierung, 94. 496 Marshall, I. H., The Development of Doctrine, in: Marshall, I. H., Beyond the Bible. Moving from Scripture to Theology, Grand Rapids 2004, 33 –54, 48. Es handelt sich also um einen „scriptural approach to the problem of development and interpretation. Can we establish principles that are rooted in the statements and the practice of Scripture that will enable us to make progress in framing interpretative procedures and guard us against invalid interpretations and false conclusions?“ 497 Marshall, The Development, 48. 495

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Marshall verweist auf Entwicklungen zwischen AT und NT498, bei denen sich das NT „beyond the teaching of the Old Testament“ bewegt.499 Schon bei den ersten Christen ergibt sich aber eine weitere Entwicklung „beyond the teaching of Jesus“500, insofern die Verkündigung Jesu auf den verkündigten Christus, die Erfahrung seiner Auferstehung, bleibenden Gegenwart im Heiligen Geist und die Deutung seiner Person in einer sich entfaltenden Christologie weitergeführt wird. Dabei wird das Material der Überlieferung z. B. schon in den Evangelien verarbeitet und neu arrangiert, sodass sich bei Paulus oder den vier Evangelien unterschiedliche Perspektiven des sich entwickelnden Glaubens in verschiedenen Kontexten ergeben.501 „Consequently, although the teaching of Jesus did lie at the base of apostolic teaching, it was possible for early Christians to reinterpret it or go beyond it in some ways.“502 Auch die Urkirche habe ihre Theologie auf verschiedene Weise entwickelt, „in light of further insight and as a reaction to the false teaching. The central core of doctrinal teaching – ‚the tradition‘ or ‚the gospel‘ or ‚the word‘ – is applied in various ways to contingent situations and is itself modified and developed in the process of application.“503 Am Ende dieses Prozesses stehen, so Marshall, die Schriften des Neuen Testaments.504 „The question that arises is whether such productions, recognized by later Christians as ‚canon‘, constitute a conclusion to doctrinal and ethical development or whether they offer a pattern that the church can continue to follow.“505 Somit wäre jede Entwicklung im Glauben und im sittlichen Leben der Kirche an die normative – kanonische – Grundlage der Glaubensgemeinschaft gebunden, aber auch offen. Marshall betont: 498

Vgl. Marshall, The Development, 49 f. Marshall, The Development, 50. 500 Vgl. Marshall, The Development, 50 ff. 501 Vgl. Marshall, The Development, 51: „different Christians saw the need for fresh retellings of the story of Jesus that were shaped by the particular situations in which they found themselves.“ 502 Marshall, The Development, 52. 503 Marshall, The Development, 53. 504 Marshall, The Development, 54. Die Schriften des NT „bear silent testimony to a series of developments in which there is continuity with what has gone before, but also there are shifting emphases with corresponding shifts in character. Thus, they exhibit a certain untidiness in which not everything is cut and dried. Development therefore can lead to a diversity that may be not much more than a difference in expression or a clearer enunciation of latent theological ideas, but may also create a certain amount of tension.“ 505 Marshall, The Development, 54. 499

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„The closing of the canon is not incompatible with the nonclosing of the interpretation of that canon. The church, under divine guidance, has established the canon […]. The church believes that its faith and practice rest upon that collection of books and that no others can have that function. Yet the closing of the canon did not bring the process of doctrinal development to an end. Thus, the question of the interpretation of Scripture remains open.“506

Für die weitere theologische Entwicklung ist die Kirche auf den Kanon verwiesen, um ihm die Prinzipien dieser Entwicklung zu entnehmen. Das positive Anliegen des „Marshall-Plans“, wie Kevin Vanhoozer ihn nennt, – „to develop theology as does the Bible itself, that is, with biblical principles“507 – ist nachvollziehbar. Marshall sucht nach „criteria for assessing the validity of these developments“ und fragt dabei, „whether the development of doctrine within Scripture legitimates continuing development and provides criteria for how we should go about it.“508 Marshalls vermeintliche Prinzipien greifen aber zu kurz: „the shift from the old covenant to the new covenant“509 erklärt gerade nicht, wie die Theologie oder speziell die Christologie sich innerhalb des Neuen Bundes oder der Kirche weiterentwickelt. Dieses vermeintliche Prinzip ist weder eines, das theologisch im Kanon greifen würde, noch kann es ein valides Kriterium für Entwicklungen innerhalb christlicher Theologie sein. Das Neue verdrängt hier schlichtweg das Alte: „in some ways it supersedes the old.“510 Hier wird der vermeintlich Alte gegen den Neuen Bund ausgespielt – mit der Konsequenz, dass auch die Lehre Jesu selbst als „incomplete and undeveloped“511 charakterisiert werden muss, weil sie ja selbst noch unter den Bedingungen des Alten Bundes steht. Es handelt sich um eine Abwertung Israels und seines Bundes, die nicht nur aus exegetischen Gründen, sondern auch aus theologischen völlig inakzeptabel ist. Für Marshall sind weitere Entwicklungen nach Abschluss des Kanons unvermeidlich.512 Sie sind in der Dogmengeschichte ja auch faktisch 506

Marshall, The Development, 54. Vanhoozer, K., Into the Great „Beyond“. A Theologian’s Response to the Marshall Plan, in: Marshall, Beyond, 81– 95. 508 Marshall, I. H., The Search for Biblical Principles, in: Marshall, Beyond, 55 –79, 55. 509 Marshall, The Search, 79. 510 Marshall, The Search, 63. 511 Marshall, The Search, 64. Vanhoozer, Into the Great „Beyond“, 85, verweist auf die Problematik, wenn Jesu eigenes Gottesverständnis zugunsten späterer Interpretationen relativiert werden soll. Marcion lässt grüßen. 512 Vgl. Marshall, The Search, 79. 507

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gegeben. Die Auseinandersetzung mit neuem Denken, neuen Perspektiven und „the need to respond to errors“513 ist zwar ein wesentlicher Faktor für theologische und speziell dogmatische Entwicklung gewesen, liefert aber per se kein positives Kriterium für legitime theologische Entwicklung, sondern wird zum anachronistischen Rückblick aus der Warte späterer Entscheidungen, die nach validen Anhaltspunkten in Schrift und Bekenntnis suchen mussten, um das „apostolic deposit“ zu deuten und weiter zu erläutern.514 Die Kombination eines „doctrinal, christological criterion“ und neuer Einsichten unter Führung des Heiligen Geistes, die zur Unterscheidung und Beurteilung von Entwicklungen herangezogen werden soll515, bietet leider keine Antwort auf die in der Dogmengeschichte immer wiederkehrende Frage, wie man mit der Vielfalt theologischer Schlussfolgerungen umgeht, die sich dieser Argumentation bedienen. Die christologischen Streitigkeiten selbst ließen sich so jedenfalls nicht entscheiden, weil das apostolische Depositum gerade die strittige und zu klärende Frage aufwirft, wie dieser Jesus Christus legitim zu verstehen sei. Auch Fragen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang damit stehen, könnten von daher kaum beantwortet und weiterentwickelt werden. Marshalls Verweis auf die Deutungsbedürftigkeit der Schrift516 selbst ist zweifellos korrekt, aber alleine noch kein Prinzip oder Kriterium für legitime Entwicklung. Sein Verweis auf „the mind of Christ“517 führt uns daher lediglich zurück zu der Frage nach der Hermeneutik Jesu, die sich selbst an das Alte Testament gebunden weiß und die wir als eine soteriologische Hermeneutik charakterisieren konnten. Die gesamte Bundestheologie und die soteriologische Dynamik der immer wieder erneuerten Bundesschlüsse518 sind geprägt von einer Signatur der Kontinuität und Aktualisierung. Das gilt selbstverständlich auch für den Neuen Bund in Jer 31,31 und im Neuen Testament. Es ist keine Überholung oder Revision, keine Hermeneutik der Diskontinuität, sondern der Erneuerung und Bestätigung der Treue Gottes angesichts

513

Marshall, The Search, 69 (im Original kursiv). Vgl. Marshall, The Search, 70. 515 Vgl. Marshall, The Search, 71. 516 Vgl. Marshall, The Search, 77; 79. 517 Marshall, The Search, 79. Vgl. auch Johnson, L. T., The Bible’s Authority for and in the Church, in: Brown, W. (ed.), Engaging Biblical Authority. Perspectives on the Bible as Scripture, Louisville 2007, 62–72, 69 f. 518 Vgl. Dirscherl, Gott – wer oder was ist das, 30. 514

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neuer Bedingungen. „Im Begriff des Neuen kommt im biblischen Sprachgebrauch vielmehr die Beständigkeit zum Ausdruck.“519 Gerade angesichts der ausbleibenden Parusie Christi sieht sich die Kirche mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Das Neue Testament selbst versteht sich daher keineswegs als fertige Erfüllung einer überholten Vorgeschichte, sondern als Brücke zwischen der in Jesus Christus endgültig erfahrbar gewordenen Treue JHWHs in seiner eschatologischen Zuwendung zu allen Menschen und einem nach wie vor gültigen Verheißungsüberschuss, der sich ja immer noch ergibt. Damit weist das Neue Testament in eine offene Zukunft. Die Geschichte des Heils ist nicht beendet, sie läuft unter neuen Vorzeichen – der Entschiedenheit Gottes für das Leben der Menschen – weiter und mündet in eine Pilgerschaft voll Glaube, Hoffnung und Liebe, die sich der tatsächlichen Tragweite der Barmherzigkeit Gottes gewiss sein darf (vgl. Röm 8,31–39). Die neutestamentliche Verhältnisbestimmung von Alt und Neu (vgl. Mt 9,16 f.; 2 Kor 5,17 f.) setzt einerseits voraus, dass es in der persönlichen Begegnung mit Jesus Christus und den ihm Nachfolgenden echte Neuheit und Innovation gibt, die nicht aus dem Grundbestand des bisher Tradierten abgeleitet werden kann und die längst nicht abgeschlossen ist. Andererseits ist dieses schöpferische, kreative Potential, das pneumatologisch motivierte und nicht definierbare „Plus“ des Wortes Gottes immer rückgebunden an ein unhintergehbares theozentrisch-soteriologisches Kriterium. Das gilt auch dort, wo Alt und Neu typologisch gegenübergestellt werden. „Wo im Neuen Testament typologisch exegesiert wird, ist ein theologisches Geschichtsbewusstsein lebendig, das die theozentrisch begründete Einheit der Geschichte aus ihrer soteriologischen Finalität ableitet. […] Für typologisches Denken ist sowohl die elementare Kontinuität des Offenbarungshandelns Gottes kennzeichnend als auch die neutestamentliche Glaubensüberzeugung von der eschatologischen Fülle des Heilshandelns Gottes in Jesus Christus.“520

Es geht um die Brücke zwischen dem Text der Schriften Israels, der Christuserfahrung und den jeweiligen Lebenserfahrungen, die dann vor allem in der gottesdienstlichen Schriftauslegung relevant wurde, wie Norbert Lohfink betont. Die allegoria genannte Korrelation zwischen Text und Lebensalltag zielte auf „das Durchsichtigwerden des Alten Tex519 520

Dohmen, Juden und Christen, 82. Söding, Einheit, 350 f.

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Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon

tes auf die Situation von heute.“521 Das Neue Testament selbst führt diesen Brückenschlag exemplarisch vor, verankert und legitimiert ihn in Jesus Christus. Mit Blick auf die Liturgie folgert Lohfink: „Das Neue Testament ist die erste und grundlegendste christliche Auslegung des Alten Testaments.“522 Es knüpft an Jesu Auslegungspraxis an, denn er selbst legt die Schrift korrelativ aus, insofern sich gläubige Rezeption nur durch Interpretation im Rahmen menschlicher Erfahrungen, Sorgen und Nöte vollzieht. 523 Das zeigt sich durch seine Gleichnisreden, die der jeweiligen Lebenssituation seiner Adressaten angepasst sind, wie durch seine souveräne und im wahrsten Sinne des Wortes pastorale Anwendung von Tora und Propheten, die in den Evangelien illustriert wird. Doch ist auch das Neue Testament selbst auslegungsbedürftig, wie die kirchliche Dogmengeschichte zeigt.524 Sie führt die Korrelation von Alt und Neu im Modus des aktualisierenden Kommentierens fort, als sich der biblische Kanon aus Altem und Neuem Testament schließt. So gibt es im Neuen Testament kanonisierte Konflikte und Lösungsstrategien für theologische Streitfragen um die Verhältnisbestimmung von Alt und Neu. Die Differenzen zwischen Paulus und Petrus werden nicht zugunsten einer vermeintlich feststehenden theologischen Wahrheit nivelliert, sondern gleichsam als Paradigma konserviert.525 Damit wird auch eine Hermeneutik zur theologischen Konsensfindung vorgeführt. Für Thomas Söding sieht Paulus die Grenze zum „Anathema“ noch nicht einmal bei Widersprüchen zu zentralen Elementen seiner Theologie (Kreuzestheologie, Ekklesiologie etc.) überschritten, sondern erst dort, „wo die Heilssuffizienz des Christusgeschehens, der soteriologische 521 Lohfink, N., Das Alte Testament christlich ausgelegt. Ein Reflexion im Anschluss an die Osternacht, in: Braulik, G./Lohfink, N., Liturgie und Bibel. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, 53 – 64, 58. 522 Lohfink, Das Alte Testament, 60. 523 Vgl. Ebner, M., Jesus als Weisheitslehrer, in: Schröter/Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, 417– 425, 424. Jesus scheint „in der Linie der vielen weisen Frauen und Männer Israels Alltagserfahrungen für bestimmte Problem- bzw. Streitsituationen auf den Punkt gebracht bzw. in eine Geschichte gekleidet zu haben, um einen Denkprozess anzustoßen, der das eigene (vorgefasste) Urteil hinterfragen und bestenfalls zu einer Revision führen soll“. 524 Hier besteht ein Unterschied zwischen dem normativen apostolischen Zeugnis und weiterer theologischer Auslegung bzw. Praxis. So ergibt sich z. B. eine Grenzziehung zwischen NT und Didache als erster Kirchenordnung. Vgl. Söding, Einheit, 368: „Der ‚Codex‘ muss von Zeit zu Zeit reformiert, das Neue Testament kann nie verändert werden.“ 525 Vgl. hierzu: Söding, Einheit, 372–376.

Normativität der Schrift und Verschriftung christlicher Hermeneutik

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Grundsatz von Gal 2,16 und die Erwählung von Juden wie Heiden aus Gottes Gnade in Frage gestellt werden.“526 Die Vielstimmigkeit des Kanons und seiner Theologie wird im Neuen Testament durch eine soteriologische Priorisierung und Konzentration zusammengehalten.527 Diese Ausrichtung wird sich später in der Dogmengeschichte wiederholen. Man denke an Chalcedon oder die Gnadenlehre: Verschiedene Theologien können nebeneinander bestehen und unterschiedliche Konsequenzen zeitigen, solange sie in der Orientierung auf das wesentliche soteriologische Zentrum und seine Vermittlung durch Christus kompatibel und zielführend sind. Das Modell für die Einheit des Kanons wie auch für die kirchliche Einheit in Vielfalt wird im sogenannten Apostelkonzil in idealer Weise vor Augen geführt: Theologische Spannungen können sogar in zentralen Fragen nebeneinander bestehen und müssen dennoch die grundlegende Einheit oder Identität nicht antasten.528 Doch sie verweisen auf Dialog und Offenheit füreinander. Beides zielt auf eine Hermeneutik des Wohlwollens, auf Perspektivenwechsel und Unterscheidung statt pauschaler Anathematismen. Bereits im biblischen Kanon ist eine theologische Gewichtung und Differenzierung erkennbar, die zwischen den zentralen Kerninhalten mit ihren grundlegenden Handlungsprinzipien und den theologisch offensichtlich sekundären Rahmenbedingungen unterscheidet. Diese Kunst der Unterscheidung, die von Papst Franziskus auch heute eingefordert wird, ist, wie wir noch sehen werden, in der Rezeption der Schrift zu jeder Zeit neu gefragt.529 Zumal schon verschiedene Schriften selbst unterschiedliche Autorität beanspruchen.

526

Söding, Einheit, 375. Vgl. Söding, Einheit, 372: „Die Lösungen, so wie sie im Neuen Testament dargestellt werden, bestehen nicht darin, dass alle Unterschiede verschwinden, sondern darin, dass sie, wenn die Grundausrichtung klar ist, in ein konstruktives Verhältnis zueinander gesetzt werden und sich wechselseitig begrenzen und bestärken.“ 528 Vgl. Söding, Einheit, 376 f.; Dunn, Has the Canon, hebt die Verbindung von unity und diversity besonders hervor. Der Kanon zeige dabei auch die limits einer legitimen Vielfalt auf. Vgl. Barton, J., Unity and Diversity in the Biblical Canon, in: Barton, J./ Wolter, M. (Hg.), Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons. The Unity of Scripture and the Diversity of the Canon (BZNW 118), Berlin – New York 2003, 11–26; Wolter, M., Die Vielfalt der Schrift und die Einheit des Kanons, in: Barton/Wolter (Hg.), Die Einheit, 45 – 68. 529 Vgl. Sanders, Canon and Community, 73: „If we could learn to theologize when reading the ancient texts perhaps we would stop absolutizing the mores of the period from which they derive.“ 527

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Die Orientierung der Überlieferung am apostolischen Kanon

„Innerhalb des Kanons haben nicht alle Schriften dasselbe Gewicht. Unterschiede werden nicht erst von den Rezipienten gemacht; wesentlich sind die Unterschiede, die darin angelegt sind, was die Schriften thematisieren und wie sie es thematisieren.“530

Der biblische Kanon gibt in gewisser Weise selbst Vorgaben für seine Lektüre und Auslegung. Der schon im Kanon selbst erkennbaren produktiven Rezeption mit ihren Strategien zur Leserlenkung entspreche, so Janowski, eine Aneignung der so entstandenen Tradition durch heutige Ausleger.531 Sowohl bei den Entstehungsbedingungen der Bibel als auch bei ihrer Auslegung geht es um Partizipation. „Mit ‚Partizipation‘ ist die Perspektive des Teilnehmers gemeint, der ein lebendiges Interesse an Aktualisierung und Anwendung der biblischen Tradition hat.“532

530 531 532

Söding, Der Kanon des Alten und Neuen Testaments, LXXXVI. Vgl. Janowski, Kanonhermeneutik, 177. Janowski, Kanonhermeneutik, 177.

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III. Die inspirierte Einheit von Kanon und Traditionsprozess

1. Pneumatisches Produkt der Rezeption 1.1. Resultat und Paradigma theofinaler Entwicklung Die von der Traditionsgemeinschaft Israels als heilsbedeutsam empfundene Selbstdurchsetzung JHWHs – gegen jede götzenhafte Verabsolutierung geschaffener oder projizierter Wirklichkeit, gegen seine funktionale Verzweckung und Instrumentalisierung, gegen jeden Partikularismus, Individualismus, Exklusivismus oder Totalitarismus geschöpflicher Interessen, gegen religiöse Gebräuche und Denkmuster – ist eine aktive und unverfügbare Dynamik, deren Erfahrbarkeit in verschiedenen Texten und Kontexten der Hl. Schriften Israels auf unterschiedliche Weise bezeugt, gepriesen, beklagt oder aber im Modus der Hoffnung herbeigesehnt wird. Die Deutung dieser Dynamik kann dabei variieren. Sie ist gekennzeichnet vom geschichtlichen Wandel und der polyphonen Pluralität der einzelnen Zeugnisse und ihrer Perspektiven, die sich gegenseitig rezipieren, ergänzen oder sogar korrigieren können. In diesem Traditionsprozess, der die Geschichte des Volkes Israel mit JHWH verbindet, weil Israel sich in einem Bund an ihn gebunden weiß, markiert das (aus der Katastrophenerfahrung des Exils erwachsene) neue Bewusstsein um die universelle Lebensmacht JHWHs gleichsam einen monotheistischen Point of no return – eine irreversible Wegmarke in der Theologie Israels, hinter die man fortan nicht mehr zurückfallen kann und will, obwohl solche Rückfälle durchaus thematisiert (und kritisiert) werden. In einer produktiven Auseinandersetzung mit (und traditionskritischen Absetzung von) der eigenen Glaubenspraxis markiert die theologische Ergebnissicherung der Rede von JHWH als Schöpfer, Richter und erhofftem Retter der Heils- und Unheilsgeschichte das theologische Fundament dessen, was später im Zuge produktiver Rezeptionsprozesse zu einem „Kanon“ der Schriften Israels zusammenwachsen wird. Ohne gesteigertes Interesse am exakten Umfang oder einer fixierten Textgestalt zu zeigen, handelt es sich um eine verbindliche Absicherung dieser auf neuen Erfahrungen basierenden theologischen Innovation in Kontinuität und Diskontinuität zur bisherigen Ge-

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Die inspirierte Einheit von Kanon und Traditionsprozess

schichte und Theologie Israels mit seinen Erzählungen, Gesetzen, Gebeten und Weisheiten, die sich final im Kanon niederschlagen werden. Die universale Dynamik JHWHs, die sich immer neu und unerwartet realisiert, entwickelt sich, wie diese Schriften belegen; aber keineswegs linear oder evolutiv. Sie muss sich immer wieder gegen Widerstände durchsetzen und verwirklicht sich (man könnte sagen: realsymbolisch oder „sakramental“ verdichtet) in unterschiedlicher Dichte und Intensität, im Modus der Nähe oder auch der Abwesenheit, und zwar auf der Mikroebene gleichermaßen wie auf der Makroebene biblischer Texte. Aus christlicher Perspektive realisiert sich diese Dynamik – rückblickend – in höchster Intensität und auf eschatologische Universalität hin: Der kreative und effektive Heilswille JHWHs setzt sich schließlich irreversibel gegen alle Widerstände durch – gegen Sünde, Hass und Vernichtung, sogar gegen den Tod. Diese Ostererfahrung, die zunächst ja auch eine Katastrophe theologisch produktiv verarbeiten muss, versteht sich als universales Evangelium, das an Jesus Christus gebunden ist und den christlichen Kanon in seiner finalen Gestalt als zweiteilige Hl. Schrift konstituiert.1 Die soteriologische Dynamik JHWHs wird bereits in den Schriften Israels immer wieder als vielfältige Erfüllung der Verheißungen an das Bundesvolk bezeugt; dieselbe Dynamik wird mit Christus nun in ihrer Grenzüberschreitung auf alle Völker und alle Menschen hin zu einem neuen Maßstab, hinter den man fortan nicht mehr zurück kann – nach dem Monotheismus Israels ein weiterer Point of no return für jede christliche Theologie, die keineswegs abgeschlossen war, sondern sich erst langsam zu erschließen begann und auf diesem verbindlichen Fundament für neue Rezeptionswege offen bleibt. Die universale Offenheit des Heilswillens Gottes und die eschatologische Anspannung zur immer noch verheißenen – weil noch nicht erfüllten – Vollendung hin, bei der 1 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, Nr. 84: „Das österliche Geschehen, Tod und Auferstehung Jesu, haben einen völlig neuen geschichtlichen Kontext geschaffen, der auf neue Art die alten Texte erhellt und zu einer Veränderung des Sinnes führt.“ Vgl. Voderholzer, Offenbarung, 162: „Dies schließt weitere Aktualisierungen, weitere Kontextualisierungen selbstverständlich nicht aus.“ Er formuliert das Desiderat, den Zusammenhang von Rezeptionsästhetik und Dogmenhermeneutik auf der normativen Basis des Christusereignisses als „eschatologischer Neukontextualisierung“ weiter zu bedenken, um diese Rezeptionsdynamik in „je neuen Aktualisierungen in lebens- und glaubensgeschichtlichen Kontexten der Kirche“ fruchtbar machen zu können (vgl. 163). Die Rezeption geht also weiter, weiß sich fortan jedoch irreversibel an Gottes Selbstoffenbarung in Christus gebunden, deren immer wieder aktuelle Rezeption sich in der Dogmengeschichte weiter vollzieht.

Pneumatisches Produkt der Rezeption

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Gott alles in allem sein wird, weist die Kirche über ihren Kanon hinaus: Sie muss sich selbst transzendieren, da die siegreiche Selbstdurchsetzung JHWHs zwar im Mysterium Christi endgültig verbürgt ist (sacramentum, Unterpfand), aber in seinem Heiligen Geist weiter wirksam bleibt und noch nicht am Ziel ist. Von dieser Überzeugung her liest das Christentum alte Schriften in einem neuen Licht und unter dem Eindruck des Maßstabs (regula) seines Glaubens, ohne die vor-gegebenen Schriften in ihrer ursprünglichen Bedeutung als authentisches Zeugnis des Wortes Gottes (zu ihrer Zeit) entwerten zu dürfen. Aufgrund der neuen Erfahrung, die jede christliche Lektüre der Schriften Israels zwangsläufig prägen muss, weil Rezeption niemals im luftleeren Raum geschieht2 und sich irreversibel neue Rezeptionsbedingungen ergeben haben, ist auch der christliche Kanon verbunden und verbindlich gemacht worden. Er ist ein Produkt der Tradition Israels und ihrer christlichen Rezeption und nur weil sich in beiden Elementen ein und dieselbe Wirklichkeit als Trägerin der Kontinuität und Identität findet, kann der biblische Kanon aus Altem und Neuem Testament in seiner spannungsvollen und pluralen Verbindung überhaupt Bestand haben. Auch der christliche Kanon ist darum – wie schon die Wachstumsringe seiner Vorstufen – eine verbindende und verbindliche Entscheidung durch die christliche(n) Glaubensgemeinschaft(en) und insofern die dogmatische Ergebnissicherung eines Traditions- und Rezeptionsprozesses: „Natürlich ist ‚Kanonisierung‘ ein Rezeptionsphänomen. Der autoritative Status wurde Texten erst zuerkannt, wenn andere sie lasen, verbreiteten und – im Falle frühchristlicher Schriften – sie als authentisches Zeugnis des Glaubens ansahen.“3 Während Hans von Campenhausen4 Marcion noch die entscheidende Rolle in der Genese des christlichen Kanons zusprach, wird man ihn heute eher als einen Katalysator des Kanonisierungsprozesses, keineswegs aber als den „Schöpfer“ eines biblischen Kanons sehen dürfen.5 2 Hier gilt der alte Grundsatz: quidquid recipitur, recipitur ad modum recipientis. Die Rahmenbedingungen der Rezeption ändern sich teilweise gravierend, und somit auch Verständnis und Deutung einer durchaus verbindlichen Vergangenheit. Das gilt auch für die Rezeptionsgeschichte des NT. 3 Frey, Die Herausbildung, 21; ebenso Böhler, Der Kanon, 167. 4 Vgl. Campenhausen, H. v., Die Entstehung der christlichen Bibel (Beiträge zur historischen Theologie 39), Tübingen 1968. 5 Vgl. Frey, Die Herausbildung, 21; Schmid/Schröter, Die Entstehung, 343; Dohmen,

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Die inspirierte Einheit von Kanon und Traditionsprozess

Einerseits liegt mit der Sammlung der Schriften Israels bereits eine für die Kirche als normativ geltende Hl. Schrift in ihren wesentlichen Zügen vor, andererseits war die Zusammenstellung von Evangelien und Paulusbriefen bereits im Gange. Marcion nötigte die christliche Theologie jedoch, eine klare Antwort darauf zu geben, welche Schriften für die Kirche verbindlich sind, wie sie zusammenhängen und vor allem: wie das Verhältnis von Altem und Neuem Testament zu sehen ist. Damit steht die Frage nach der Identität des Glaubens an den Gott Israels, der auch der Gott Jesu Christi und seiner Kirche ist, auf dem Spiel. Der christliche Kanon hat nach Eilert Herms eine funktionale und identitätsstiftende Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft: „Er ist das Identitätszentrum des christlichen Gottesdienstes und Lebens, weil und indem dieses Gesamtleben in ihm – also nicht nur den einzelnen Schriften, sondern der bloß formalen Synthese ihrer Sammlung! – sein maßgebliches Selbstzeugnis anerkennt, d. h.: das Zeugnis desjenigen Ereigniszusammenhangs, der beides zugleich ist: die Herkunftsgeschichte dieses Lebens und sein Urbild.“6 Damit ist der Kanon (die identitätsstiftende Schriftensammlung der Kirche als der Sammlungsbewegung Jesu) das normative Paradigma des christlichen Lebens im regional und kulturell variablen Wandel der Zeiten, insofern er einen „denkbar komplexen Gesamtzusammenhang“ festhält, nämlich: „das sich von Gott her ereignende Synthetisiertwerden einer sich über Jahrhunderte erstreckenden pluriformen Abfolge menschlichen Lebens in der Gemeinschaft des Glaubens an den Gott Israels durch diesen Gott selbst zur Einheit eines Gesamtgeschehens mit eindeutigem Richtungssinn; nämlich mit Richtung auf das Ergriffenwerden von Menschen durch die abschließende Selbstoffenbarung dieses Gottes im Christus Jesus durch den Heiligen Geist als des ‚Vaters (#bb%) des Alls‘: des Schöpfers, Versöhners und Vollenders seiner ganzen Schöpfung. Somit bezeugt also der Kanon als Herkunftsgeschehen und Urbild des christlichen Lebens: dessen Werden, Gewordensein und Existieren (weiteres Werden), in der […] universalen […] Synthese allen Weltgeschehens, wie sie sich vom Schöpfer selbst her ereignet als die in seiner Identität begründete und auf sein Ziel hin ausgerichtete“.7

Libri Veteris Testamenti, 70 ff.; Metzger, Der Kanon, 103; Lieu, Marcion, 406 ff.; 431 f. 6 Herms, Was haben wir, 150. 7 Herms, Was haben wir, 150. „Der christliche Kanon bezeugt dem christlichen Leben seine geschichtliche Existenz als Gewordensein durch bzw. Herkommen aus einem Prozess des Werdens, dessen Universalität und Radikalität nicht weniger umfasst als

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JHWH, der Gott Israels, ist für den christlichen Glauben im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität letztverbindlich Ursprung und Ziel – der entscheidende Bezugspunkt innerhalb der Bewegung einer sich vergewissernden und aktualisierenden Überlieferungsgemeinschaft, die in ihrer schöpfungstheologischen Verankerung auf eschatologische Universalität zielt und damit sogar über die Grenzen der eigenen Glaubensgemeinschaft hinaus verweisen kann. Denn Prinzip und Telos des christlichen Kanons in seiner inneren Pluralität und Heterogenität sind nach seinem eigenen Selbstverständnis nicht in seiner für ihn nicht absehbaren Gestalt, nicht in Israel und nicht in der noch gar nicht ausgebildeten Kirche gegeben. Grund und Ziel des Kanons liegen außerhalb seiner selbst: Beides ist der Rezeptionsgemeinschaft der Kirche vorgegeben und immer neu aufgegeben.8 das gesamte sich von seinem Urheber her ereignende Weltgeschehen, wie es in dessen Identität begründet und durch sie zusammengehalten ist als absolut allbefassendes und zielstrebiges Prozesskontinuum.“ 8 Vgl. Webster, J., The dogmatic location of the canon, in: NZSTh 43 (1/2001), 17– 43, 30. Will man den biblischen Kanon dogmatisch mit Blick auf Gottes Selbstmitteilung kontextualisieren, so müsste die Dogmatik zuerst im Lichte des biblischen Kanons selbst, seiner spezifischen Struktur und Genese verortet werden, um – das Wort Gottes in menschlichen Worten hörend – überhaupt artikuliert werden zu können. Darum setzt Dogmatik im Sinne des II. Vaticanums die Lektüre der Schrift im wahrsten Sinne des Wortes voraus. Will man hingegen die Hl. Schrift selbst als „externe Autorität“ gegenüber der Kirche denken, so muss der innere Zusammenhang von Genese und Geltung des Kanons bedacht werden. Diese Problematik zeigt sich bei Coors, M., Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt. Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift, Göttingen 2009, 38; 79; 219; 343; 359 f. Eine „dogmatische“ Begründung der Autorität der Schrift (ob christologisch oder pneumatologisch), die die Konstituierung des gewordenen Kanons (der in verschiedenen Kirchen ja variiert) ausblendet, bliebe problematisch. Eine „wesensmäßige Selbstständigkeit der Schrift“ (147 f.) ist, rein textgeschichtlich betrachtet, blanke Illusion. Die Einheit der Schrift von ihrer Heilswirksamkeit und soteriologischen Zentrierung her zu denken (vgl. 365), kann die Traditionsgemeinschaft nie ausblenden. Immerhin gilt, „dass die Kirche den Kanon liest und hervorbringt, indem sie von ihm Zeugnis ablegt. So wird in der Kirche die Bibel als interne Autorität, als Buch der Kirche tradiert, das aber so, dass eine Lebenspraxis eingeübt wird, die lehrt[,] diesen formalen Kanon, der interne Autorität ist, als anredendes Wort Gottes und damit als externe Autorität zu hören.“ (219 f.) „Die ekklesiologische Dimension der Schriftlehre ist in der altlutherischen Schriftlehre und besonders in ihrer dogmatischen Grundlegung in der Pneumatologie sicher zu wenig bedacht.“ (345) Eine (wie auch immer konkret zu denkende) soteriologische Wirkung der inspirierten Schrift – als Medium des Gotteswortes im Menschenwort – bleibt auf eine überliefernde Zeugen- und Rezeptionsgemeinschaft verwiesen, die sich daran gebunden weiß. Dass Rezeption und Interpretation der

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Der Kanon, der diese Rezeptionsgemeinschaft nach der Bedingung seiner Möglichkeit fragen lässt, ist insofern ein Zeugnis transzendentaler Offenheit. Er verweist nämlich, wenn er nicht nur rein soziologisch oder literaturwissenschaftlich betrachtet wird, in seiner soteriologischen Bedeutung für die christliche Glaubensgemeinschaft über sich selbst hinaus auf die theofinale Dynamik der durch ihn vielfältig bezeugten Wirklichkeit, die an Jesus Christus gebunden wird, aber letztlich auf den einen Gott Israels, JHWH, zielt, dessen Lebensmacht und Treue sich allen Widerständen (auch dem Missbrauch seines Namens) zum Trotz durchsetzt oder aber, so die im Kanon artikulierte Hoffnung, noch endgültig durchsetzen wird. Der biblische Kanon ist somit zugleich Resultat und Paradigma theofinaler Entwicklung, des Gewordenseins sowie weiteren Werdens, das auf den einen Gott zielt. In dieser Funktion ist der Kanon das normative „Identitätszentrum“9 des christlichen Glaubens und Lebens, das sich in weiterer Rezeption weiterhin transzendiert. Er ist insofern Paradigma „einer Lebensbewegung, die durch das Verständnis ihres wahren Ursprungs und Ziels in Gott motiviert und orientiert ist und in dieser inneren Orientierung sich in immer neuen Variationen ihrer selbst manifestiert.“10

1.2. Das Potential innerbiblischer Traditionskritik Gottes Wort als normative Autorität und seine aktualisierende Auslegung durch menschliche Antwort sind nach biblischem Verständnis unvermischt und ungetrennt miteinander verbunden. Günter Stemberger ist zuzustimmen: „Wenn der auszulegende Text immer schon als ein (auch) durch Auslegung gewordener Text zu sehen ist, kann das für die ganze Geschichte der Auslegung und die ihr zugrundeliegenden hermeneutischen Positionen nicht ohne Folgen bleiben.“11 Die kreative Kraft der Kreatur, die am Wirken ihres Schöpfers aktiv partizipiert, drückt sich im inspirierten Prozess der Rezeption und Produktion durch biblische Schrift – als normative Referenzgröße innerhalb der Kirche gegenüber der kirchlichen Praxis und Lehre – im katholischen Kontext auf das „Lehramt der Kirche“ beschränkt sei, sodass dieses der Schrift vorgeordnet werde (vgl. 38; 147), übergeht Lehraussagen des II. Vaticanums und die reale Praxis. 9 Vgl. Herms, Was haben wir, 110 f.; 121 f.; 133 ff.; 150. 10 Herms, Was haben wir, 152, Anm. 133. 11 Stemberger, Hermeneutik der jüdischen Bibel, 31.

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Autoren aus, die eine ihnen vorgegebene Überlieferung theologisch verarbeiten, bearbeiten und durch ihre Fortschreibung den gegebenen Umständen kritisch anpassen, um ihr auch weiter gerecht zu werden.12 „Der kanonische Text verdankt sich seiner eigenen Rezeptions- und Interpretationsgeschichte und hält diese aufrecht. Die kanonische Quelle hat zwar eine chronologische, nicht aber eine ontologische Priorität, weil die Vergangenheit immer schon aus dem Blickwinkel der Gegenwart neu durchdacht und interpretiert wird. Die autoritative Quelle enthält also eine Hermeneutik. Üblicherweise wird Kanonisierung als Bemühen gesehen, eine Sammlung zum Abschluss zu bringen. Die Texte der Hebräischen Bibel sprechen, recht betrachtet, gerade nicht für einen Abschluss in diesem Sinne. Sie widerstreben jeder einfachen und einseitigen Deutung der kanonischen Autorität oder der Heiligen Schrift als göttlich bestimmt.“13

Die göttliche Offenbarung ist nach dem Verständnis der Bibel daher kein katechismusartiger Katalog ewiger Wahrheiten, sondern Gottes eigene Dynamik, die nicht statisch, apathisch und unveränderlich über der Geschichte thront, sondern in diese Geschichte eingeht, ohne jedoch in ihr aufzugehen. Diese Signatur einer heilsgeschichtlich konkret verortbaren Wahrheit, die aber zugleich für neue Rezeptionsweisen und Kontexte offen ist, prägt auch den Kanon in seiner begrenzten – und doch keineswegs beschränkten – finalen Gestalt. Sie fordert heraus, die verbindliche Überlieferung für weitere Überlieferungsprozesse offen zu halten und kritisch neu auszurichten, solange diese Geschichte des Heils noch nicht vollendet ist. „Die Behauptung eines unveränderlichen Kanons kann letztlich sogar als eine Konstruktion eines Autors eingesetzt werden, um Innovation zu rechtfertigen. So betrachtet, ist der Kanon als radikal offen zu bezeichnen. Er lädt zur Innovation ein, verlangt Interpretation, fordert Frömmigkeit heraus, stellt Rangfolgen in Frage, rechtfertigt Subversion, gewährleistet Differenz und verkörpert selbst das Prinzip der Kritik.“14

12 Vgl. Levinson, Der kreative Kanon, 103: „Obwohl die menschliche Erzählstimme scheinbar so machtlos war gegenüber der Autorität des Kanons, wurde sie im Alten Israel keineswegs zum Verstummen gebracht. Sie nahm vielmehr an Bedeutung zu. […] In der göttlichen Erzählstimme des biblischen Rechts und der biblischen Prophetie zeigt sich in Wahrheit die menschliche Erzählstimme mit ihrer Kraft zum Wandel: Die Stimme von Autoren, Denkern und Schriftstellern, die sich leidenschaftlich mit der Tradition auseinandersetzten.“ 13 Levinson, Der kreative Kanon, 105. 14 Levinson, Der kreative Kanon, 106.

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Die monotheistisch bedingte Maximierung der Autorität des göttlichen Gesetzes, das teilweise als zeitenthobene Ordnung an und für sich verstanden werden könnte, korrespondiert im Neuen Testament mit der dynamischen Autorität des göttlich legitimierten und inspirierten Interpreten – des Christus.15 „Schon aus diesen Beobachtungen wird deutlich, dass sich jedes mit Verweis auf göttliches Recht operierende Argument in den Kontext eines nicht zu überbietenden Macht- und Autoritätsdiskurses begibt, das Gefahr läuft, den Wandel von Zeit und Gesellschaft nicht adäquat zu würdigen.“16 Indem Jesus das Gesetz soteriologisch wirksam zur Anwendung bringt und durch Gottes Handeln eschatologisch bestätigt wird, wird er zum hermeneutischen Vorbild. Für eine christliche Rezeption des „göttlichen“ Rechts müsse, so Markl, daher die jesuanische Hermeneutik leitend sein, wie sie sich im Neuen Testament spiegelt. Es stelle sich niemals nur die Frage, was Jesus damals gesagt habe, sondern immer auch: Was würde er heute sagen?17 Diese Fragerichtung, die für die kirchliche Lehre heute entscheidend sein müsste, verweist auf eine Gott und die Menschen zusammenführende, lebensdienliche Hermeneutik. „Die Zielrichtung göttlichen Rechts ist – systematisch schon innerhalb der Tora reflektiert – Leben (Dtn 30,19; 32,47). Dieselbe Ausrichtung formuliert Paulus hinsichtlich der christologisch transformierten Lebensausrichtung im ‚Geist‘ (Röm 8,2.6). Deutungen göttlichen Rechts, die das Leben von Einzelnen oder das gemeinschaftliche Leben der Kirche lähmen oder belasten, statt es zu fördern und zum Aufblühen zu bringen, sind nicht ‚im Sinne ihres Erfinders‘.“18

Angesichts der Prozesse produktiver Rezeption, Auslegung und Fortschreibung innerhalb der Bibel verweist Konrad Schmid auf ihre „interpretative Dynamik“, die sie in ihrer Genese und Hermeneutik wesentlich prägt: „Sie zeigt an, dass theologische Sachthemen sich entwickeln können und müssen und dass mit veränderten Zeiten und Situationen neue 15 Vgl. Markl, Gottes Gesetz, 66: „Während der Monotheismus die Autorisierung des göttlichen Rechts in eine universale, nicht steigerbare Höhe katapultierte, erlaubte die (ebenso hohe) Christologie die Relativierung des offenbarten göttlichen Rechts im Sinne des Erfüllungsgedankens und ethisierender Hermeneutik. Religionsgeschichtlich betrachtet konnte aus dem impasse der Theologisierung menschlicher und dem Wandel der Zeit unterworfener Gesetze nur sublime hermeneutische Spekulation, so im Falle des Judentums, oder, im Falle des Christentums, die höchste theologische Autorisierung ihres Interpreten – Christus – erretten.“ 16 Markl, Gottes Gesetz, 66. 17 Vgl. Markl, Gottes Gesetz, 67. 18 Markl, Gottes Gesetz, 67.

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Blicke und Einschätzungen auf sie nötig werden.“19 Die Dynamik einer traditionskritischen Vergewisserung und Aktualisierung liegt in der Schrift selbst begründet. Als Muster theologischer Entwicklung lädt der Kanon zur Ergänzung, Korrektur, Abschwächung oder Verstärkung geradezu ein.20 „In hermeneutischer Hinsicht ist diese Eigenschaft der Bibel von grundlegender Bedeutung: Es ist entsprechend unbiblisch, biblische Positionen als solche ins Feld zu führen. Biblische Positionen sind – im Kontext der Bibel wahrgenommen – mit anderen biblischen Positionen vermittelt und in weiterführende Perspektiven eingebettet worden. […] Die Dynamik der Auslegung weist über die Kanongrenze hinaus und hat einen kreativen Prozess der nachbiblischen Auslegung ausgelöst, der in den letzten zwei Jahrtausenden die außerordentlich breite Wirkungsgeschichte der Bibel in Religion, Kunst, Literatur und Musik aus sich heraus gesetzt hat, deren Erforschung derzeit einen gewissen Schwerpunkt der Bibelwissenschaften und der entsprechenden Nachbardisziplinen darstellt.“21

Die durch innerbiblische Exegese22 rekonstruierbaren Aktualisierungen und Anpassungen an neue Rahmenbedingungen betreffen nicht nur die lexikalische Oberfläche des Textes, sondern gehen auch dogmatisch und ethisch – Glaube und Sitten betreffend – in die theologische Tiefe. Solche Veränderungen wissen sich einerseits an das zu überliefernde Wort Gottes gebunden, das sie jedoch nur treu bewahren zu können glauben, wenn sie es notwendigerweise adaptieren: „The inference would seem to be that faithful transmission of authoritative tradition must always be something more than rote repetition.“23 Weil Aneignung im Glauben nicht stupides Wiederholen und Wiederkäuen der vergangenen Geschichte, sondern aktive Integration einer Heilsgeschichte in den eigenen personalen Glaubensakt im Hier und Heute ist, bedarf Rezeption immer ei19 Schmid, K., Die Schrift als Text und Kommentar verstehen. Theologische Konsequenzen der neueren literaturgeschichtlichen Forschung an der Hebräischen Bibel, in: JBTh 31 (2016), 47– 63, 61. 20 Vgl. Schmid, Die Schrift als Text, 61 f. 21 Schmid, Die Schrift als Text, 62. 22 Vgl. Fishbane, M., Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford 1985; Levinson, Der kreative Kanon, 107–206; Frevel, C., Vom Pathos zur Patina. Das Neue im Alten Testament und die Innovation der Tradition, in: Damberg, W./Sellmann, M. (Hg.), Die Theologie und „das Neue“. Perspektiven zum kreativen Zusammenhang von Innovation und Tradition, Freiburg i. Br. 2015, 29 –54, 49 f. Ambivalenzen und Kontroversen werden „diskursiv dynamisiert und so eine produktive, innovative, lebens- und glaubensfördernde Rezeption der Schrift erst ermöglicht.“ 23 Davis, Critical Traditioning, 168.

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ner Reinterpretation und Rekonfiguration. Die in der Bibel ersichtlichen theologischen Veränderungen und Updates „include also the presentation of new theological perspectives as alternatives to views or doctrinal positions that were no longer ‚palatable‘. Yet even while working far-reaching changes within the tradition, the scribe-authors managed to produce a text that speaks with a unified authority. […] Elements that seem to be viewed as ‚unpalatable‘ from the perspective of the final form of the text were not simply eliminated. […] it seems […] that the preference for retention reflects the author-scribes’ understanding that simply throwing away old ideas, even bad ones, is not the most effective way of handling them. For it is easy enough to discard one ideology and replace it with another one, a new idea system devoid of any history. But what distinguishes a tradition from an ideology is just this sense of history. A tradition earns its authority through long rumination on the past. A living tradition is a potentially courageous form of shared consciousness, because a tradition, in contrast to an ideology, preserves (in some form) our mistakes and atrocities as well as our insights and moral victories. Moreover, with its habit of retention, a tradition preserves side by side the disagreements that are still unresolved in the present. So the price that must be paid by those who are (from a biblical perspective) privileged to live within a tradition is accepting a high degree of inherent tension. The possibility open to them, which is not open to committed ideologues, is repentance, the kind of radical reorientation of thinking that the New Testament writers term metanoia, literally, ‚a change of mind‘.“24

Theologische Neuerungen innerhalb der Bibel werden gezielt vollzogen, um zeit- und kulturbedingte Sichtweisen, die als nicht mehr „genießbar“ (palatable) gelten, zu überholen. Junger Wein gehört eben in neue Schläuche (vgl. Mk 2,22). Doch werden alte Elemente der Tradition nicht einfach fallen gelassen und unter den Tisch gekehrt. Die Bibel verschweigt auch Irrwege oder Fehltritte ihrer Protagonisten nicht. Sie bleiben Teil derselben Tradition und können im Nachhinein auch einer klaren Kritik unterstellt werden. Die revidierten Positionen können unter dem Zuspruch Gottes durch Umdenken, Reue bzw. Buße sogar noch positiv in den Traditionszusammenhang integriert werden. Die reflektierte Abkehr von Götzen, Partikularismen und Exklusivismen, von Gewalt und Ideologie (die ja immer schon alles weiß und sich als ewig gültig ausgibt) wird durch die Bibel nicht als Schwäche ihrer Theologie betrachtet, sondern als deren eigentliche Stärke. Juxtapositionen und Entwicklung sind deswegen legitim. Auch die gesamte Kreuzestheologie ist eine Um24

Davis, Critical Traditioning, 168 f.

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kehr tradierter theologischer Denkmuster mit alternativen Mitteln und einer neuen Deutung ein und derselben Tradition.25 Die Fähigkeit zur Metanoia, zu einem Umdenken angesichts des sich je neu erschließenden Gottes, dessen universaler Heilswille sich gegen statisch-ideologische Systematiken und vereinnahmende Auslegungen durch Menschen verwahrt, ist ein wesentliches Charakteristikum jener Tradition, der sich die Bibel verdankt und die sie auch weiter offenhalten will. Ellen F. Davis bezeichnet darum „the willingness to engage in radical rethinking of a formerly accepted theological position“ als critical traditioning.26 Darin verbindet sich die Treue zur Tradition, der sich die Glaubensgemeinschaft verbunden weiß und derer sie sich vergewissert, mit der aktualisierenden Neuinterpretation und theologischen Anpassung an neue Erfahrungen. Diese Haltung des Lernens trifft nach dem Zeugnis der synoptischen Evangelien auch auf Jesus zu.27 Der Verkündigung der Herrschaft Gottes und ihrer potentiellen Offenheit für die Heiden liegt offenbar auch eine Entwicklung im Bewusstsein Jesu und ein Lernprozess im Laufe seines Wirkens zugrunde (vgl. Mk 7,24 –30; Mt 10,5 f.; 15,24). Das wird in christologischen Debatten und im Denken eines latenten Alltagsmonophysitismus bis heute gerne ausgeblendet, dürfte für Fragen 25

Vgl. Söding, Inspirierte Exegese, 14 –20. Bei Paulus zeige sich eine „kritisch-konstruktive Hermeneutik“, die sich selbstkritisch, kirchenkritisch und exegesekritisch gebe. Seine Kritik der Exegese ziele auf „eine angemaßte Definitionshoheit über die Gottrede, deren Dekonstruktion einer radikalen Neukonstituierung dient“. 26 Davis, Critical Traditioning, 170. Mit Blick auf die dogmatisierend anmutende Kanonformel in Dtn 4,2 hält Davis (169) fest: Mose spreche hier nicht gegen, sondern „for the scribal tradition; he is providing guidelines for what Fishbane calls ‚the faithful transmission of the text‘. Strong interpretation freshens the tradition without adding extraneous elements or detracting from its essentials.“ Doch treten externe Elemente im Laufe dieser Tradition hinzu, die den essentiellen Kern nicht verändern dürfen, sondern zur neuen Lektüre und Rezeption führen müssen, ohne den alten Kontext einfach zu eliminieren. Die interpretierende Verkündigung des Gesetzes in Dtn versteht sich daher – trotz aller Anpassungen – als identitätswahrende Fortführung der Tradition unter neuen Bedingungen, die freilich ihre geschichtliche Herkunft nicht vergisst, aber in der Lage ist zu lernen. „Change serves precisely to retain the integrity of tradition. How could it be otherwise, if God’s word is to speak with vital force to a new generation, facing the unprecedented opportunity and challenge of living in the promised land?“ 27 Davis, Critical Traditioning, 177, führt als prominentes Beispiel für „critical traditioning“ die Begegnung Jesu mit der heidnischen Frau an (vgl. Mt 15,21–28): „It means exercising profound, even godly humility, opening oneself to learn something previously unimaginable about the fundaments of life with God – and to learn it from ‚the least of these‘.“

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zum Wissen und wahrhaft menschlichen Bewusstsein Jesu aber nicht ganz uninteressant gewesen sein.28 Denn Jesus staunt angesichts des gewaltigen Glaubens, den er so nicht bei den Kindern Israels, sondern bei Heiden vorfindet (vgl. Mk 6,6; Lk 7,9 f.; Mt 8,10). Und zwar im Dialog mit ihnen. Er musste zunehmend damit rechnen, dass die Herrschaft Gottes tradierte theologische Muster und sogar seine eigenen Vorstellungen noch überschreitet und auf anderen, ungeahnten und nur dem Vater selbst bekannten Wegen an ihr Ziel gelangen könnte (vgl. Mk 14,32–36; Mt 22,1–10; Lk 14,15 –24; Lk 13,22–30).29 Auch hier werden traditionelle religiöse Vorstellungen durch neue Erfahrungen in Verbindung mit Akzentverschiebungen innerhalb des vorgegebenen theologischen Repertoires aktualisiert und der zuvorkommenden Gegenwart Gottes angepasst, der seine Gnade walten lässt, wann, wo und wie Er will (vgl. Ex 33,19; Joh 3,8). Es ist nicht der vielfach beschworene Zeitgeist, sondern der Geist Gottes, der Menschen herausfordern kann, umzukehren, immer neue Wege zu beschreiten und sich dabei der bisherigen Zeugnisse der Präsenz Gottes zu vergewissern, um den eigenen Weg selbstkritisch zu prüfen. Es ist eine durch den Kanon bezeugte Tatsache, dass dies auch für die Jünger/innen Jesu in seiner Nachfolge gilt. So musste immerhin schon Petrus in Apg 10,28 bekennen, Gott habe ihm gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen dürfe. Er ehrt weiter die Tradition Israels, lernt sie aber neu verstehen und einzuordnen, insofern es darum geht, dass nun alle Menschen mittels Christus zu einer Beziehung mit JHWH finden – das entscheidende Kriterium der Kirchengenese wie auch ihres Glaubens. Darum wird sich auch die entstehende Kirche in Treue zu ihrer von Israel bestimmten Tradition kritisch von aus ihrer Sicht überholten Vorstellungen und Gebräuchen trennen, ohne sie einfach im Nachhinein unter den Tisch fallen zu lassen.30 Denn die Frage, was der richtige Weg 28 Vgl. exemplarisch: Rahner, K., Dogmatische Erwägungen über das Wissen und Selbstbewusstsein Christi, in: Ders., Schriften zur Theologie V, Einsiedeln u. a. 1962, 222–245. 29 Vgl. Weißer, M., Was bedeutet dieser Jesus für uns?, in: Dirscherl/Weißer, Dogmatik, 142–180, hier: 151–154. 30 Vgl. Gunneweg, Vom Verstehen, 190: „Im Licht der Christusoffenbarung kann auch fragwürdig werden, ob alle im Alten Testament Gott zugeschriebenen Taten und Eigenschaften wirklich göttliches Handeln und göttliche Wesensart waren, oder ob sich menschliche Selbstbehauptung, Egoismus, Nationalismus und Beschränktheit, kurzum Menschlich-allzu-Menschliches als gottgewollt und von Gott getan zu rechtfertigen versuchten.“ Man muss diese traditionskritische Rückfrage aber in gleicher

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zum – soteriologisch motivierten – Ziel dieser Tradition sei, lässt sich nur im Gesamtzusammenhang und jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext der identitätsstiftenden Überlieferung und damit im Blick auf das gesammelte Zeugnis der Schrift finden, die aber ein polyphones und geschichtlich kontingentes Zeugnis der universal gültigen Selbstzusage Gottes bildet und so stets auf Dialogprozesse verweist. Die Zeichen der Zeit, die immer schon von der Gegenwart Gottes erfüllt ist und nun in ihrer greifbaren Fülle erfahren wird, bilden zudem kontextuelle Rahmenbedingungen für eine aktuelle Relecture dieser Überlieferung und damit auch der Schrift in ihrer normativen Bedeutung für den Traditionsprozess. So zeigt sich hier dieselbe Hermeneutik, die uns noch in der Analyse des II. Vatikanischen Konzils begegnen wird und mit Johannes XXIII. wohl am sinnvollsten als Aggiornamento bezeichnet werden kann. Es handelt sich nämlich um „the evident difficulty of the tradition as an invitation to accept responsibility for mediating a tension that abides in any community living in response to an authoritative text.“31 Die Vermittlung dieser Spannung (zwischen der Herausforderung durch die Texte in ihrer Integrität einerseits und ihrer Rezipierbarkeit als lebensdienliche Selbstzusage Gottes unter neuen Bedingungen andererseits) ist eine je neu zu bewältigende Herausforderung für die sich verständigende und um gegenseitiges Verständnis bemühte Glaubensgemeinschaft, in der sich die Spannung von Treue zur Tradition und Traditionskritik immer schon verbindet. Sie erfordert „charity toward the text“, aber neben dieser Wertschätzung gegenüber dem Text eben auch „charity within the community“, einen entsprechenden Umgang der Wertschätzung im Miteinander und im Blick auf jene Probleme, die überkommene Texte in ihrer Bedeutung für das Leben heute mit sich bringen.32 Angesichts einer offenen Rezeptionsdynamik hängt die Validität einer aus heutiger Sicht tragfähigen Interpretation nicht zwingend von der zeitlichen Nähe des Interpreten zu den Texten oder zur Intention ihrer Auto-

Weise immer wieder neu im Hinblick auf das zeit- und kulturbedingte Zeugnis des NT wie auch auf die Dogmengeschichte anwenden, weil auch hier Gottes Selbstzusage nur in menschlichen Worten und Geschichtszusammenhängen gegeben ist. 31 Davis, Critical Traditioning, 177. 32 Vgl. Davis, Critical Traditioning, 178 f., mit Bezug auf Augustinus. Mit Stephen Fowl fragt Davis z. B., unter welchen Umständen der Umgang mit homosexuellen Christ:innen sich heute – analog – an der Integration von Heiden in die jüdisch-christliche Gemeinschaft zu orientieren hätte (vgl. Apg 10 –15). Fowl, S., Engaging Scripture. A Model for Theological Interpretation, London 1998, 127.

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ren ab.33 Damit werde der Enthusiasmus der historisch-kritischen Methode ebenso begrenzt wie eine unkritische oder vorkritische Lesart. Critical traditioning verweist demgegenüber auf die Möglichkeit, „that new and excellent interpretations will arise in response to new challenges.“34 Die Anregung zu neuen Interpretationen und neuen theologischen Erkenntnissen kann allerdings (wie im Fall der heidnischen Frau, der Jesus begegnet, oder der Missionsdynamik der jungen Kirche) auch von außerhalb der bisherigen Tradition kommen, als eine von Gott zugemutete Begegnung mit dem Anderen und zunächst Fremden. Das II. Vaticanum weiß um solche Phänomene.35 Das Prinzip eines (selbst-)kritischen Überlieferungsprozesses zielt demnach darauf, „to deepen appreciation of the integrity of the tradition and, at the same time, to enable the community to use its living tradition more creatively in response to the needs of the world.“36 Die Kreativität ist essentielles Kennzeichen der Selbstoffenbarung Gottes, dessen verbindliche Weisung innerhalb der Hl. Schrift immer schon von Kontinuität und Diskontinuität gekennzeichnet ist.37 Sie verpflichtet Tradition auf Innovation, und zwar auf der gesicherten Basis einer vorgegebenen Grundlage, die sich selbst jener theologischen Entwicklung verdankt,

33

Vgl. Davis, Critical Traditioning, 179. Davis, Critical Traditioning, 179. Die Relecture des AT durch das NT ist das Paradebeispiel für diese Sicht. 35 Vgl. GS 44, wo festgehalten wird, dass sich durch den Fortschritt der Wissenschaften und die Reichtümer der menschlichen Kultur in ihrer Vielfalt neue Wege zur Wahrheit auftun (novaeque viae ad veritatem aperiuntur). 36 Davis, Critical Traditioning, 180. 37 Vgl. Levinson, Der kreative Kanon, 54 f.: „Den biblischen Gesetzen wohnt also eine deutliche Spannung inne, die sich mit den Begriffen Erneuerung und Bewahrung beschreiben lässt: Eine Spannung zwischen der Notwendigkeit, im Angesicht unvermeidlichen historischen Wandels Gesetze zu verändern oder neue zu schaffen, und dem Bedürfnis, die Autorität von Gesetzen zu bewahren durch Rückgriff auf die Vorstellung eines göttlichen Ursprungs der Gesetze.“ Unter verschiedenen Techniken zur Verschleierung von Innovationen findet sich – analog zur Kirchengeschichte – die „Rhetorik des Verschweigens“ (55). Levinson spricht auch von „ingenuity“ (vgl. 19), einer „Erfindungsgabe“ der Exegese, die das erhellt, was schon im Text (und mit dem Text) gegeben ist. „Offenbarung liegt im Text und geschieht durch ihn“, nämlich in der kritischen Auseinandersetzung mit ihm, in seiner Rezeption (100). „Dem konzeptionellen Durchbruch liegt der Text zugrunde, die Originalität des Gedankengangs ist ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit den maßgeblichen Texten, und der Bruch mit der Tradition wird dargestellt als Fortführung der Tradition.“ (101) Vergewisserung am Text und Aktualisierung gehören zusammen. 34

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die auch abseits des fest gefügten Bibel-Kodex und jenseits des Kanons wirksam verläuft.

1.3. Abseits des Kodex und jenseits des Kanons Der biblische Kanon ist das pneumatische – geistgewirkte – Produkt theologischer Rezeption, das wiederum neue Rezeption in unterschiedlicher Form produziert und provoziert. Interessant ist dabei der Befund, der sich aus der Forschung des Novum Testamentum Patristicum (NTP) ergibt. Andreas Merkt weist mit Tobias Nicklas und Joseph Verheyden darauf hin, dass das Neue Testament „im Modus seiner patristischen Rezeption“ noch „weitgehend eine mentale oder virtuelle Größe“ darstellt.38 Das „instabile, heterogene, disparate und meist nur partiell materialisierte Ensemble“ der nicht fest verbundenen Texte sei hier „nicht linear strukturiert“, vielmehr seien „Texteinheiten gleichsam durch Hyperlinks verbunden“.39 Das Neue Testament hat in seiner patristischen Rezeption insofern noch „keinen Anfang und kein Ende, sondern nur einen Referenzrahmen, innerhalb dessen man endlos von einem Text zum nächsten surfen kann.“40 Diese Texte seien dabei selbst noch keine statische Größe, sondern „kontinuierlicher Veränderung unterworfen.“41 Das betrifft nicht nur Übersetzungen, sondern auch lexikalische und syntaktische Variationen. Letztlich auch inhaltliche Akzente. „In den meisten Fällen wird der neutestamentliche Text nicht einfach zitiert, sondern dem patristischen Text so anverwandelt, dass er seine ursprüngliche 38 Merkt, A./Nicklas, T./Verheyden, J., Das Novum Testamentum Patristicum (NTP): Ein Projekt zur Erforschung von Rezeption und Auslegung des Neuen Testamentes in frühchristlicher und spätantiker Zeit, in: Early Christianity 6 (2015), 573 –595, 579. 39 Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 579. Dagegen postuliert Klinghardt, M., Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon, in: ZNT 6 (12/2003), 59 – 64, einen redaktionellen Herausgeber, dessen „individueller und punktueller Publikationsakt“ den Kanon konstituiere. Vgl. Trobisch, D., Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel, Heidelberg 1994; Heilmann, J./Klinghardt, M. (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert, Tübingen 2018, mit Bezug auf D. Trobisch. Dass es letztlich einer Redaktion bedarf, steht außer Frage. Doch wer der vermeintliche Herausgeber sein soll und mit welcher Autorität er den Kanon wann herausgibt – das bleibt offen. Die Verwobenheit der Traditionsschichten verweist letztlich auch im NT auf innerkanonische Rezeptionsprozesse der Glaubensgemeinschaft(en). 40 Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 579. 41 Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 579.

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Gestalt verliert und dabei auch einen anderen Akzent, manchmal sogar eine neue Bedeutung erhält.“42

Dies gelte in ähnlicher Weise auch für das Alte Testament, „der Rekurs auf alttestamentliche Texte unterscheidet sich jedoch in der Regel durch eine spezifische vom Neuen Testament ausgehende Hermeneutik von der Rezeption des Neuen Testamentes.“43 Das zielt sicherlich auf eine christologische Orientierung in der Rezeption. Aber auch diese bedeutet, dass die Texte des Alten Testaments mit einem entsprechenden (produktiven) Rezeptionsinteresse gebraucht, in einen neuen Zusammenhang eingepasst und neu vernetzt werden. Und zwar schon innerhalb des Neuen Testaments. Insofern gibt es in der „virtuellen“ Rezeptionsweise technisch keinen gravierenden Unterschied, außer dass das Corpus des Alten Testaments zu diesem Zeitpunkt bereits klarer umrissen ist und als in sich geschlossenes Gefüge (als „Schrift“) von der Christuserfahrung her und auf diese hin rezipierbar ist, während das Neue Testament sein Gefüge erst noch finden muss. Beide Textgruppen (AT wie NT) werden also jeweils in neuen Kontexten rekontextualisiert und somit produktiv rezipiert. Auch im Falle des Neuen Testaments gilt ja, dass der Text so „anverwandelt“ wird, dass er „seine ursprüngliche Gestalt verliert und dabei auch einen anderen Akzent, manchmal sogar eine neue Bedeutung erhält.“44 Das kann in ähnlicher Weise für die Rezeption des Alten Testaments gelten. Letztlich handelt es sich um dasselbe Muster, das in beiden Fällen analog zur Legitimation und Autorisierung einer Theologie dient, die sich in einem neuen Kontext anhand einer vorgegebenen (normativen!) Überlieferung rechtfertigen bzw. vergewissern und zugleich aktualisieren will.45 Die sich in diesem Spannungsfeld entfaltende Hermeneutik der Rezeption und Interpretation des Alten Testaments ist jedenfalls bestimmt von der Frage nach „the continuities and the discontinuities between, first, the old and the new covenants, and then, as the canon took on a more specifically Christian character, the Old and the New Testaments.“46 Die offenbar noch längere Zeit nachweisbare „Mutabilität der Texte“ des Neuen Testaments hängt damit zusammen, dass die Rezipienten zu42

Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 579. Vgl. Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 579, Anm. 16. 44 Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 579. 45 Paget, The interpretation of the Bible, 582, spricht von einem Prozess des „re-referencing“ der Schrift. 46 Paget, The interpretation of the Bible, 582. 43

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gleich Produzenten sind.47 „Sie sind als Interakteure gemeinsam mit den Texten Teil eines Informationsflusses, von dem wir in den Quellen immer nur einzelne Zustände in Momentaufnahmen erfassen, die wir aber, möchten wir dieses komplexe Geschehen angemessen beschreiben, zu Bewegungsbildern verbinden müssen.“48 Es handelt sich um denselben Strom lebendiger Tradition, der durch eine aktive und kreative Rezeption schon das Alte Testament festigte und im Prozess der christlichen Identitätsfindung schließlich den zweigeteilten Kanon definierte. Kann oder muss man dann vielleicht sogar sagen, dass die patristische Rezeption dieser Texte und ihrer Inhalte (jenseits linearer Kommentarwerke) also bereits eine Art „Steinbruchexegese“ bildet, die sich für eigene theologische Zielsetzungen den entsprechend passenden Zusammenhang generiert – mit all den potentiellen Gefahren, die eine solche „Exegese“ aus heutiger Sicht natürlich immer auch mit sich bringt? Das ist nicht ohne Grund ein Kritikpunkt bei Irenäus, der beklagt, dass durch die Häretiker der organische Gesamtzusammenhang der Schriften aufgelöst werde.49 Entsteht nicht gerade durch solchen Schriftgebrauch erst eine gewisse Notwendigkeit, den Kanon in Form und schließlich auch in eine lineare Struktur bringen zu müssen – durch die Orientierung an einer regula fidei und deren Bindung an die bereits existierende Schrift 47

Vgl. Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 579 f. Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 580. 49 Vgl. Adv. Haer. I,8: „Sie suchen ihren Aussagen die Parabeln des Herrn, die Sprüche der Propheten oder die Reden der Apostel glaubhaft anzupassen, damit ihr Gebilde nicht ohne jedes Zeugnis dasteht. Dabei setzen sie sich über die Ordnung und den Zusammenhang der Schriften hinweg und zerlegen, soviel von ihnen abhängt, die Glieder der Wahrheit. Sie versetzen und verformen (die biblischen Texte), machen etwas ganz anderes daraus und täuschen viele damit, wie sie die angepassten Herrenworte mit Phantasie falsch zusammenstellen. Das ist so, wie wenn man das schöne (Mosaik-)Bild eines Königs vor sich hat, von einem tüchtigen Künstler sorgfältig aus wertvollen Steinchen ausgeführt, und es kommt einer, der die Umrisse der Menschengestalt zerstört und die Steinchen durcheinanderwirft und umändert und die Gestalt von einem Hund oder Fuchs daraus macht, noch dazu in schlechter Ausführung, und dann erklärt und behauptet, das sei das besagte schöne Bild des Königs, das der tüchtige Künstler ausgeführt hat […]. Und mit seinem Gebilde von Steinchen betrügt er die weniger Erfahrenen, die keinen Begriff von einer königlichen Gestalt haben, und redet ihnen ein, die stinkende Figur des Fuchses sei das schöne Bild des Königs.“ Diese antignostische Polemik von Irenäus ließe sich teilweise 1:1 auf die exegetische „Technik“ in so mancher Dogmatik übertragen. Auch die Neuscholastik arbeitet in diesem wörtlichen Sinn häretisch – mit einer selektiven und aus dem Zusammenhang gerissenen Teilauswahl an biblischen Belegstellen zur Legitimation der eigenen Lehre, die mit einer gewissen Dreistigkeit als „ordentlich“ und zeitlos deklariert wird. 48

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(AT), verbunden mit dem Gedanken der apostolischen Sukzession, die für die Tradition bürgen kann? Auch die Gnosis oder Marcion rezipieren bzw. edieren Texte selektiv im Kontext subjektiver theologischer Deutungen.50 Sie überschreiten aus Sicht der Glaubensgemeinschaft Grenzen, insofern plötzlich der Glaube an den einen Gott – den Schöpfer und Erlöser – zur Debatte steht. Die dogmatischen Entscheidungen der Kirche markieren daher als verbindliche Wegmarken im Rezeptions- und Auslegungsprozess der Schriften eine (niemals ganz reibungs- und bruchlose) Konsenssuche, die wir später genauer in den Blick nehmen müssen. Umgekehrt kann man mit Blick auf die Patristik und ihre Schriftrezeption aber auch feststellen, dass die Rezeptionsgeschichte der Texte zeigt, wie diese im Sinne einer produktiven Weiterentwicklung und Adaption durch die Glaubensgemeinschaft in der Weise benutzt wurden, dass sie einerseits Kontinuität ausweisen, andererseits durch souveräne Rezeption den Spielraum für theologische Entwicklung und Diskontinuität bieten. Es handelt sich um eine offenbar selbstverständliche Hermeneutik der Innovation, durch die zentrale Anliegen kontextuell neu in Form gebracht, gleichsam re-formiert werden konnten. Es wird hier auf andere Weise fortgesetzt, was bei der Genese des Kanons durch „produktive Fortschreibung“ innerhalb der Texte auch schon greift, nämlich die Adaption des Glaubens in einer theologischen Aktualisierung für die konkrete(n) Glaubensgemeinschaft(en). Die einzelnen Textbausteine, Wendungen, Motive etc. werden zu einem neuen Geflecht verwoben, in einen neuen Zusammenhang gebracht und damit in ihrem Informationswert re-formiert, im neuen Kontext entsprechend neu „gefärbt, geformt und eingefügt“.51 Jede Rezeption ist notwendig verbunden mit Relecture und Reinterpretation. Die (patristische) Überlieferung hat ihren eigenen heuristischen Wert für die tatsächliche Wirkungsgeschichte der „virtuell“ gebrauchten – flexibel vernetzten und vernetzbaren – Texte des Neuen Testaments.52 Die Forschungsgruppe des NTP verweist dabei auf die „ars combinatoria patristischer Bibelrezeption“53 und man könnte aus systematischer Sicht die Frage stellen, ob hier nicht eine Art Grundmus50 Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie, 259 f., sieht bei Marcion primär ein philologisches Interesse, das allerdings „durch theologische Prinzipien und Interessen geleitet“ ist (255). 51 Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 581. 52 Vgl. Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 580. 53 Vgl. Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 581.

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ter dessen zu verorten ist, was sich später unter den Schlagworten Akkommodation, Inkulturation oder Aggiornamento verhandeln lässt. Es gibt jedenfalls, wie noch bei Thomas von Aquin deutlich wird, nicht einfach den christlichen Kanon, der die eine exklusive Deutung der Schriften in ihrer finalen Anordnung impliziert.54 Die Gestalt des Kanons resultiert aus dem Gebrauch durch die Gemeinde und der Brauchbarkeit für deren Leben. „Die Einteilung und Deutung des Kanons hat also deutlich ein konstruktives Moment.“55 Wer die Geschichte des Heils von der Schöpfung bis hin zur erhofften Vollendung erzählen und verkündigen will, wird die Texte und Überlieferungen in einem entsprechenden Gesamtzusammenhang ordnen müssen und auf ihre Pointe hin lesen, die das Christentum mit Leben, Tod und Auferweckung Jesu identifiziert. Das konstruktive Moment des Kanons ergibt sich dabei bis zu einem gewissen Grad aus den Schriften und ihren inhaltlichen Bezügen selbst, sodass christliche Kanones in ihrer groben Anordnung eine wesentliche Abfolge und Sinnstruktur (z. B. vom AT hin zum NT) weitestgehend einheitlich bezeugen.56 Ob kanonische Entwürfe biblischer Theologie, wie Stefan Krauter57 meint, „genauso wie historisch oder thematisch strukturierte Entwürfe von außen an die Texte herangetragene Systematisierungen“ sind, kann hier offen bleiben. Er betont, es handle sich um einen Schritt, der nur innerhalb der Theologie sinnvoll sei, nicht aber im Rahmen der Religionswissenschaft.58 Diese These braucht hier nicht weiter diskutiert werden; sie scheint aus exegetischer Sicht jedoch zumindest fragwürdig. Denn die „Bereitschaft, mit diesen Texten kreativ aktualisierend umzugehen“59 ist ja (bis zu einem gewissen Grad) nicht erst ein Phänomen finaler Anordnung und Interpretation, sondern bereits ein Teil der Genese und clusterhaft vernetzten Sinnpflege gewachsener Textzusammenhänge selbst, die als solche schon eingebunden sind in die Tradition einer Glaubensgemeinschaft. Eine religionsgeschichtliche Rekonstruktion solcher (nicht einheitlich verlaufenden) kanonischen Prozesse und der sich aus 54 Vgl. Krauter, S., Die divisio des biblischen Kanons bei Thomas von Aquin, in: ZThK 117 (3/2020), 267–287, 277; 282. 55 Krauter, Die divisio, 279. 56 Daher gibt auch bei Thomas von Aquin „nicht das Neue Testament dem Alten die (heils-)geschichtliche Struktur vor, sondern genau umgekehrt“, so Krauter, Die divisio, 276. 57 Krauter, Die divisio, 286. 58 Krauter, Die divisio, 286. 59 Krauter, Die divisio, 286.

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dem Handschriftenstudium ergebenden redaktionellen Bezugnahmen lässt sich davon aber kaum abstrahieren, sodass rein historische oder religionsgeschichtliche Betrachtungen (auf einer literaturwissenschaftlichen Basis) den normativen Gebrauch innerhalb einer Glaubensgemeinschaft nicht abbilden.60 Hier bedarf es in der Tat einer verbindenden und verbindlichen – kanonischen – Gebrauchsgestalt dieser Texte als gemeinsame Grundlage von Tradition und Rezeption. Das Konzil von Trient war sich dessen wohl aus aktuellem Anlass bewusst.61 Krauter macht aber darauf aufmerksam: „Trient legt nicht fest, dass der hebräische und griechische Text nicht kanonisch wären, sondern dass der lateinische Vulgatatext es ist“.62 Folgt man dieser Interpretation, so geht es primär um eine positiv absichernde, nicht unbedingt um eine negative Definition. Hierin wird (bis hin zu aktuellen Fragen im Umfeld der Einheitsübersetzung) die Problematik eines exklusiv und exkludierend kanonischen Ansatzes deutlich. Eine kanonische Festlegung muss demnach nicht theologisch exklusivistisch andere historische Textversionen, Anordnungen oder gar Sinnzusammenhänge a priori als unsinnig abweisen. Die sensible Wahrnehmung der jüdischen Lesart der Schriften Israels ist ein Beispiel dafür. Mit der positiven Definition eines katholischen Kanons muss der Dialog nicht enden; er beginnt damit vielleicht erst richtig. Doch ist jede Glaubensgemeinschaft gezwungen, ihre eigene kanonische Endform als Ausgangspunkt für die gemeinsame Lektüre, wissenschaftliche Exegese und ökumenische Ge60 Krauter, Die divisio, 285, erkennt, dass hier „keine institutionelle oder persönliche Bindung an eine Glaubensgemeinschaft“ vorausgesetzt ist, auch wenn diese nicht ausgeschlossen werden müsse. 61 Seckler, Über die Problematik, 39, erinnert angesichts der Vielfalt historisch gewachsener Kanonformen „in ihrer irreduziblen Vielgestaltigkeit“ an den „Grundsatz von der konstitutiven Bedeutung der Kirche für die Form und den Inhalt der Bibel.“ Denn Umfang, Autorität und Funktion werden durch den Gebrauch bestimmt. In diesem Sinne sei auch die Kanonentscheidung des Konzils von Trient „sachgerecht und weitsichtig“ gewesen (42). Die verschiedenen Bibelausgaben entspringen dabei der liturgischen und theologischen Rezeption der Gemeinden und müssen im Sinne der universalkirchlichen Verständigung auf einen verbindlichen, gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Vgl. DH 1506 ff. Zum hermeneutischen Zusammenhang von Text und Rezeptionsgemeinschaft vgl. auch Lüning, P., Die Bibel als „regula fidei“. Zur Rolle der Kirche in der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Catholica 60 (3/2006), 228 –242. Zur Wechselwirkung von Kanon und Kirche vgl. Ricœur, P., The Canon between Text and Community, in: Pokorny´, P./Roskovec, J. (eds.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 7–28, der auch die identitätsstiftende Bedeutung der Kanonentscheidung betont. 62 Krauter, Die divisio, 282, Anm. 59. Man darf nicht vergessen, dass jede Übersetzung immer schon eine Deutung ist.

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spräche zu normieren63 – spätestens dann, wenn die Frage nach Umfang, genauer Anordnung und Textversion problematisiert wird, fortan nicht mehr ignoriert und außer Acht gelassen werden kann. Eine zunächst unproblematische Uneindeutigkeit und Randunschärfe wird dann gegenüber einer umstrittenen Vereindeutigung in eine neue Eindeutigkeit überführt, hinter die man fortan nicht mehr einfach zurück kann.64 Sobald nun der Kanon aus AT und NT abgeschlossen ist und nicht mehr als „virtuelle“ Größe, sondern als Codex gebraucht wird, ändert sich auch die Rezeptionsweise (und Hermeneutik) der Schrift. Es wäre aber verwunderlich, wenn es dadurch nicht auch zu theologischen Akzentverlagerungen käme. Wird z. B. der flexiblere theologische Umgang, der sich zwar an den Text bindet, aber ihn souverän gebraucht und anwendungsbezogen reinterpretiert, plötzlich stärker textzentriert, historisch und philologisch motiviert, wie schon zuvor bei den sich kristallisierenden Schriften Israels und ihrer Auslegung? Solange es keinen fixen, einheitlichen Standardtext gibt, sondern nur einen fluiden Rezeptionsstrom als „Informationsfluss“, stellt sich bedingt die Frage nach dem Gewicht eines vermeintlich historischen Wortlautes oder der einzig sinnvollen Anordnung. Solche Fragen tauchten zwar in christlich-jüdischen Auseinandersetzungen über den verwendeten Text auf (LXX oder hebräischer Wortlaut) und waren in seiner Exegese schon seit dem 2. Jh. präsent.65 Doch dürfte eine historisch-kritische Textfixierung im Blick auf die literarische Gesamtarchitektur ein Problem der Neuzeit sein.66 Bis da63 Das gilt analog für die Reformatoren, die diese Entscheidung nicht synodal und in Übereinstimmung mit dem vorherigen Gebrauch der Tradition treffen (wie Trient), sondern subjektiv. Vgl. Oeming, Das Alte Testament als inspiriertes Wort, 62. Trotz der immanenten Klarheit der Schrift und ihrer vermeintlichen hermeneutischen Autarkie habe Luther den Kanon de facto reduziert und zensiert, „indem er bestimmte Schriften laut seiner Vorbemerkungen ganz ausschließen würde und sie in der Reihenfolge an das Ende setzte.“ Die Folgen lassen sich an den Debatten um den Kanon innerhalb der protestantischen Theologie bis heute ablesen: „Kanonisch ist nur das, was christozentrisch in seinem Sinne ist!“ (ebd., 62) Diese Hypothek zeigt sich noch bei Harnack oder Slenczka. 64 Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 91 ff. 65 Vgl. Paget, The interpretation of the Bible, 582, spricht von „a growing concern with the text of scripture, in particular the Septuagint, with the contents of Scripture (the canon) and with its precise meaning (commentary).“ 66 Man denke an mittelalterliche Rezeptionsformen durch Bildertheologie oder die „Biblia pauperum“. Hier wird nahezu das gesamte kirchliche Leben durch indirekte Schriftrezeption jenseits einer klaren Textgestalt gestaltet, vom gezielten liturgischen Gebrauch ganz abgesehen.

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hin stellte sich nicht die Frage nach einem literarischen, sondern nach einem theologischen Kriterium der je aktuellen Auslegung und man wird in diesem Zusammenhang wohl durchaus von einem pragmatischen, pastoralen, missionarischen, soteriologischen – insofern auf Christus ausgerichteten – Interesse der Traditionsgemeinschaft ausgehen müssen. Es ist der Gebrauch für die Gläubigen und nicht die historische Quellenanalyse, der für die Glaubensgemeinschaft von Bedeutung ist. Denn der informative Wert der Texte hatte im Leben der Kirche von Anfang an ein performatives Ziel: die lebendige und befreiende Vermittlung der Selbstzusage Gottes, die stets aktualisiert werden musste und zugleich an eine Textgrundlage der Schrift – primär das AT, später auch das NT – gebunden war, um sich der Legitimität jeder Entwicklung vergewissern zu können. „In der Begegnung des Textes mit den Lesern entsteht eine Dynamik, denn der Text besitzt eine Ausstrahlung und löst Reaktionen aus. Er lässt einen Ruf erklingen, der von den Lesern, sei es einzeln oder gemeinsam, gehört wird. Leser und Leserin sind übrigens nie isolierte Individuen. Sie gehören zu einem sozialen Raum und befinden sich innerhalb einer Tradition. Sie gehen den Text mit ihren Fragen an, wählen aus, schlagen eine Auslegung vor und können schließlich ein neues Werk schaffen oder Initiativen ergreifen, die ihnen direkt von ihrer Lektüre der Heiligen Schrift eingegeben werden.“67

Was bedeutet dies jedoch für die Dogmatik und ihre Sehnsucht nach historisch möglichst eindeutigen und autoritativen Quellen, zumal dann, wenn wir im digitalen Zeitalter informativer Vernetzung abseits von Codices offenbar wieder stärker zur ursprünglicheren – virtuellen – Rezeptionsform68 zurückkehren, die jenseits des Kanons verläuft und doch irgendwie an ihn und seinen Text gebunden bleibt? Wenn gilt, dass für das frühe Christentum (auch schon für die Schriftrezeption Jesu) die fluide Gestalt der Texte auch eine größere Freiheit in ihrer theologischen Rezeption und Interpretation impliziert, wie war eine Konsensbildung im sich weiter entfaltenden Glauben ohne einheitliche Textgrundlage möglich? Worin gründete und mündete ein solcher Kon67

Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 56. Vgl. Siker, J. S., Liquid Scripture. The Bible in a Digital World, Minneapolis 2017; Phillips, P., The pixelated text: Reading the Bible within digital culture, in: Theology 121 (6/2018), 403 – 412; Hutchings, T., Now the Bible is an App. Digital Media and Changing Patterns of Religious Authority, in: Granholm, K./Moberg, M./Sjö, S. (eds.), Religion, Media and Social Change, London – New York 2015, 143 –161; Clivaz, C., Digital religion out of the book. The loss of the illusion of the ‚original text‘ and of the notion of a ‚religion of the book‘, in: Scripta Instituti Donneriani Aboensis 25 (2013), 26 – 41. 68

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sens? Wenn weniger instruktionstheoretisch auf den Text, seinen Wortlaut und die darin vermeintlich „deponierten“ Lehraussagen geachtet wurde, sondern eher kommunikationstheoretisch das Transportieren und Transponieren, das Re-form-ulieren der biblisch gewordenen Zeugnisse im Mittelpunkt stand, die narrativ variabel eingebettet wurden, so fällt auf, dass diese Zeugnisse jenseits des Kanons immer auch wieder neu adaptiert und inkulturiert werden konnten, wobei sich hier vielfältige literarische, materiale und rituelle „Heterotopien“ ausprägen konnten.69 Sie sind integraler Bestandteil eines lebendigen Traditionsstroms, der sich am Kanon orientiert. Erst nach dem Konzil von Trient scheint sich in Auseinandersetzung mit der Reformation qua Buchdruck der Schwerpunkt des Interesses zu verlagern: Die exakte Fixierung auf das vermeintlich historisch protokollierte (zumindest ableitbare) Depositum nimmt bis ins 19. Jh. immer mehr zu. Sie greift bis heute, wenn kirchliche Reformbemühungen oft dadurch abgewürgt werden, dass einzelne Textpassagen der Hl. Schrift in ihrem Wortlaut und ihrer geschichtlichen Kontingenz als verbum aeternum verabsolutiert werden, um alle theologischen Entwicklungen angesichts der Zeichen der Zeit zu blockieren. Dagegen betonte das II. Vaticanum in Fortführung einer innovativen Traditions- und Rezeptionsgeschichte, in der es selbst steht: Quae quidem verbi revelati accommodata praedicatio lex omnis evangelizationis permanere debet.70

Der biblische Text, dem sich die Glaubensgemeinschaft der Kirche verpflichtet weiß, ist für sie kein neutrales Gegenüber, an dem man sich exegetisch oder juridisch abarbeiten kann, sondern verbindlich gewordener Ausdruck ihrer eigenen Herkunft und Zukunft, ihres Weges durch die Zeit, wobei sie im Blick auf die Vergangenheit ihre Zukunft neu gestalten muss. „Die Schrift steht also der kirchlichen Tradition nicht einfach gegenüber, sondern ist selber als kodifizierte Tradition zu begreifen, welche eine normative Funktion in Bezug auf das weitere kirchliche Traditionsgeschehen ausübt.“71 Diese Tradition spiegelt einen offenen Prozess der Rezeption, der schon in der Hl. Schrift erkennbar ist, setzt ihn aber auf 69 Vgl. die Projektbeschreibung der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe Beyond Canon (FOR 2770), Jenseits des Kanons: Heterotopien religiöser Autorität im spätantiken Christentum, online: https://www.uni-regensburg.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=5295 &token=cad687acb4f255af305c962316973e59e909b696 (14.10.2020). 70 GS 44; vgl. AG 22. 71 Böttigheimer, Die eine Bibel, 118.

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andere Weise fort. „If reception is already at work within the pages of the Bible, the intervening centuries provide an inexhaustible reservoir of diverse interpretations, receptions and outworkings of biblical texts.“72

1.4. Normierte Fortsetzung der Rezeption mit anderen Mitteln Rezeptionsforschung berücksichtigt die Rezeptionsbedingungen und das Rezeptionsinteresse der Leser/innen in ihrer aktuellen Situation.73 Jede „produktive Rezeption“ erschließt und produziert dabei wirklich Neues. Die Wirkung eines Textes und seine offenen Rezeptionsprozesse lassen sich nicht trennen. Es handelt sich um einen intersubjektiven, dialogischdynamischen Weg, der im wahrsten Sinne des Wortes schöpferisches Potential in sich birgt. So wird auch das AT im NT auf eigene Weise rezipiert und dabei bleibend vorausgesetzt.74 Es entwickelt eine christliche Wirkungsgeschichte der Texte, die durch eine bestimmte Rezeption der Schriften Israels angestoßen und in Gestalt des NT verbindlich festgehalten wird, um schließlich jede weitere Rezeption bzw. Tradition an diesem doppelten Kanon zu orientieren. „Werden und Wachsen der Schrift deuten auf die sich in ihr artikulierenden Gotteserfahrungen; und wenn Rezeptionsforschung hier einsetzt, vermag sie diese Position, die in der Besonderheit der Heiligen Schrift gründet, zu beleuchten. Denn dadurch dass die Rezeptionsforschung das Augenmerk weg vom Autor und hin zum Leser/Rezipienten richtet, gibt sie den Raum frei für die Frage nach dem bis heute ununterbrochenen Traditionsprozess dieser Schrift.“75

Diese Schrift wird als Heilige Schrift gelesen, weil die Glaubensgemeinschaft ein bestimmtes Rezeptionsinteresse und eine gewisse Wirkung mit ihr verbindet, insofern sie sich vor dem Hintergrund immer neuer Gotteserfahrungen unter wandelbaren Bedingungen an dem Zeugnis dieser Schrift orientiert. Die Exegese erschließt daher nicht einfach „den“

72 Boxall, Reception history, 172 f. „The history of the Bible’s receptions is almost as old as the biblical writings themselves.“ 73 Vgl. Dohmen, C., Rezeptionsforschung und Glaubensgeschichte. Anstöße für eine neue Annäherung von Exegese und Systematischer Theologie, in: TThZ 96 (1987), 123 –134; Ders., Hermeneutik, 217–233; Körtner, U., Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994. 74 Vgl. Dohmen, Rezeptionsforschung, 133. 75 Dohmen, Rezeptionsforschung, 134.

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Sinn biblischer Texte, sondern gibt Einblick in den dynamischen Rezeptionsprozess einer lebendigen Glaubensgeschichte mit ihren verschiedenen Texten, Kontexten und Deutungen.76 Die Dogmatik rezipiert wiederum einen auf Zukunft hin offenen Rezeptionsprozess der Glaubensgemeinschaft, die sich im Kanon einen normativen Fixpunkt dieses offenen Traditions- und Rezeptionskontinuums gegeben hat. „Die Kanonisierung bedeutet eine theologisch höchst gewichtige Zäsur, aber kein Ende im lebendigen Prozess produktiver Aneignung der Tradition durch jeweilige Glaubensgemeinschaften.“77 Die Rezeptionsgeschichte biblischer Texte ist gebunden an die interpretierenden Leser/innen und zeigt auf, wie die Rezipienten in ihrem jeweiligen kulturellen und historischen „Setting“ sie aufnehmen. Die Rede von ihrer Wirkungsgeschichte zielt dagegen eher auf das dynamische Potential der Texte selbst, auf ihre (Aus-)Wirkungen, Effekte und Einflüsse.78 Demgegenüber betont Rezeption die Bedeutung der Rezipienten, die ja aktiv involviert sind.79 Der Literalsinn der biblischen Texte ist niemals eindeutig, sodass eine historisch-kritisch verengte Suche nach dem vermeintlichen „Originalsinn“ dieser Texte ein höchst problematisches Unterfangen ist.80 Ihre „multivalency“ impliziert immer eine Eigendynamik ihrer Wirkungsgeschichte angesichts einer historisch wie literarisch rekonstruierbaren Rezeptionsgeschichte, die auch ihren historischen Kontext besser würdigen kann, wenn sie vergessene oder verdrängte Sinnoptionen neu zu verstehen lernt.81 Sie lässt eine Würdigung patristischer oder mittelalterlicher Exegese nach ihren Kontexten zu, während sie neue Rezeptionsweisen und Rezeptionsfelder82 (z. B. Musik, Literatur, interreligiöse Lesarten oder sogar vermeintlich areligiöse Rezeptionen) aufgreift und – dadurch bereichert oder gar korrigiert – den ursprünglichen Kontext ernst nimmt. Zu beachten ist deshalb, dass die kirchliche Rezeption im Rahmen der Glaubensgemeinschaft in ihrer synchronen wie diachronen Vernetzung und Kontextualisierung abläuft. Die Theo76

Vgl. Hieke, T., Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven, ZNT 6 (2003), 65 –76. 77 Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 105. In ähnlicher Weise: Kasper, W., Tradition auf dem Prüfstand, in: Ders., Evangelium und Dogma, 477– 482, 480. 78 Vgl. Boxall, Reception history, 176. 79 Vgl. Jauß, H. R., Die Theorie der Rezeption. Rückschau auf ihre unerkannte Vorgeschichte, Konstanz 1987. 80 Vgl. Boxall, Reception, history, 181. 81 Vgl. Boxall, Reception history, 179 f. 82 Vgl. Markl, Reception History; Boxall, Reception History, 181.

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logie ist dabei ein interdisziplinär anschlussfähiges Netzwerk für multilateral orientierte Dialogprozesse.83 Will biblische Rezeptionsgeschichte in ihrem beinahe unüberschaubaren Materialreichtum und ihrer Offenheit für praktische Rezeption nicht einfach nur ein katalogartiges Portfolio diverser Rezeptionspotentiale darstellen, so ist sie auf die integrative Kraft einer lebendigen Glaubensgemeinschaft und ihrer institutionalisierten Rezeptionsformen angewiesen. Die systematische Auswertung und Vermittlung im Dialog verschiedener synchroner und diachroner Rezeptionsdynamiken ist dabei eine zentrale Aufgabe der Dogmatik, wie sich noch zeigen wird. Der dynamische Strom der Rezeptionsgeschichte verhindert jedenfalls, dass die Bibel ein „relic from the past“ wird.84 Er verbindet biblische Exegese mit Kirchen- und Theologiegeschichte, mit dem Alltag einer lebendigen Glaubensgemeinschaft und seiner systematischen Reflexion angesichts heutiger Herausforderungen. „At the corporate level, it provides a means for us to engage our rich heritage of biblical interpretation in a manner that not only allows us to grasp how our tradition has shaped who we are, but also to realize that we are active participants in the ongoing process of that living tradition.“85 Die Bibel sollte dabei in jenem Geist gelesen und gedeutet werden, in dem sie geschrieben und kanonisiert worden ist. Sie verweist auf eine Hermeneutik, die sie selbst in sich transportiert. Diese Lektüre ist aber zugleich gebunden an die situative Perspektive der Leser/innen, weil ihre Rezeption dieser Texte nicht im luftleeren Raum geschieht, sondern geschichtlich kontingent bleibt – wie sich wiederum in der Bibel selbst deutlich zeigt. „The community of Christians formed and shaped the Christian canon. But the canon in turn forms and shapes the community.“86 Der wechselseitige Dialog mit der Schrift und über die Schrift geht immer weiter, weil das Evangelium jenseits der Texte weiter kontextualisiert werden muss. 83 Vgl. Boxall, Reception history, 183: Die Rezeptionsgeschichte hat „fundamentally democratic character which could help overcome the gulf between academic biblical studies on the one hand, and ordinary religious readers, or a general public interested for different reasons in biblical reception, on the other.“ 84 Vgl. Parris, Reception Theory, IX. 85 Parris, Reception Theory, IX. 86 Nissen, J., Scripture and Community in Dialogue. Hermeneutical Reflections on the Authority of the Bible, in: Auwers/De Jonge (eds.), The Biblical Canons, 651– 658, 657.

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„The Word became words: stories, dialogues, lives, action – flesh. The early Christian community was involved in the shaping of the text itself, ‚living the Scriptures‘ by telling and living its story in changing circumstances.“87

Die Interaktion88 zwischen geschlossenem Kanon, dessen offenem Text und der sich darauf beziehenden Glaubensgemeinschaft führt zur permanenten Relecture und Reinterpretation – zur Vergewisserung am abgeschlossenen Material des Textes und zur Aktualisierung angesichts der Zeichen der Zeit. Die schwierige Frage nach der Gültigkeit einer Interpretation und die Entscheidung zwischen zeitbedingtem Zeugnis und notwendig gewordener Innovation verweist die Kirche als aktive Rezeptionsgemeinschaft auf das Prinzip des Dialogs – mit der Schrift und miteinander. Es handelt sich insofern um eine wechselseitige Herausforderung, eine „mutual challenge“89, die allein im offenen Diskurs mit und über den keineswegs eindeutigen Text zu bewältigen ist.90 Bereits die Tatsache der Überlieferung und intertextuellen Vernetzung älterer Texte durch neue Rezeption innerhalb des Kanons91 impliziert einen Sinn dieser Texte jenseits ihres historischen Kontextes – einen Sinn, „der die Entstehungssituation transzendiert, weil er in neuen Situationen angeeignet und tradiert werden konnte.“92 Der im Kanon transportierte 87

Nissen, Scripture, 658. Vgl. Nissen, Scripture, 654. 89 Nissen, Scripture, 657. 90 Schorch, S., Schrift, Tradition und Dogma, in: Leder, S. (Hg.), Schrift – Offenbarung – Dogma im christlich-muslimischen Dialog, Regensburg 2016, 70 – 90, verweist auf den „diskursiven Charakter“ des Kanons (74), der zu einem fortwährenden Gespräch führe. Das Dogma könne nur ein „fortlaufender Diskussionsprozess“ sein. Präziser müsste man aber wohl sagen: Es markiert in einem fortwährenden Diskurs ein verbindliches Zwischenergebnis. 91 Vgl. Reis, O./Ruster, T., Die Bibel als Akteur. Kanon, Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift in systemtheoretischer Perspektive, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 51–78, wo die Bibel als selbstreferentielles „Kommunikationssystem“ (59; 61 f.) verstanden wird, das sich in seiner Heterogenität selbst produziert habe, indem Texte sich miteinander vernetzen. Dieses System sei nach der Kanonisierung weiter auf Rezeption verwiesen. Doch auch vor der Kanonisierung sind die Texte auf eine sie rezipierende und vernetzende Glaubensgemeinschaft verwiesen, denn kein Kanon produziert sich selbst, weil „Texte sich“ vernetzen. 92 Schwöbel, Erwartungen, 166. Das Bewusstsein für die Dynamik geht verloren, wo historisch-kritische Exegese sich zur Richterin des Textsinns aufspielt. Vgl. Barton, J., Canon and Old Testament Interpretation, in: Barton, The Old Testament, 31– 42, 42: „The best service biblical critics can render to religious believers […] is to tell the truth about what the text seems to them [!] to mean, not to be talked into believing that it means something more helpful, more edifying or more theologically correct than it do88

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und ihn in seiner finalen Gestalt prägende Wahrheitsanspruch lässt diese Wahrheit als geschichtlich erfahrene und die geschichtliche Situation zugleich transzendierende Wahrheit erscheinen.93 Der Kanon ist das Produkt „einer systematischen theologischen Herausarbeitung des Sinnzusammenhangs der Texte“94 durch ihre theologische Rezeption und Reinterpretation im Rahmen des konkreten Gemeindelebens. So zeigt sich der dem Kanon immanente Zusammenhang von biblischer und systematischer Theologie.95 Wenn die Bibel das Endprodukt eines hermeneutischen Prozesses textbasierter Auslegung darstellt, dann verweist sie in sich selbst auf eine Hermeneutik, die darauf verpflichtet, auch ihre Lektüre in einem offenen Verstehens- und Deutungsprozess weiterzuführen.96 Die Kirche hat also nicht nur bestimmte Glaubensinhalte, sondern auch eine Methodik zu deren Aktualisierung angesichts neuer Herausforderungen, einen „interpretative process“, mitkanonisiert.97 Diese Hermeneutik ist normativ für die Kirche und ihre Tradition, insofern sie sich selbst an den Kanon gebunden hat, um ihn unter dem Eindruck je aktueller Erfahrungen, Erkenntnisse und Situationen neu zu rezipieren.98 Weil die Bibel selbst eine offene und in dieser Offenheit normative Rezeptionsdynamik in sich birgt und kanonisch präsentiert, mündet ihre es.“ Dies ignoriert die Rezeptionsdynamik der Texte und ihre Vernetzung im Kanon. Das Postulat eines „natural sense of the text“ zeigt die subjektive Willkür in der Sinnbestimmung und -begrenzung, die weder historisch noch kritisch ist. 93 Vgl. Schwöbel, Erwartungen, 168: „Die Texte des Alten Testaments sind als Zeugnisse von Gott und seinem Handeln in Beziehung zu seinem Volk tradiert worden und nicht als historische Dokumente.“ 94 Schwöbel, Erwartungen, 168. 95 Vgl. Schwöbel, Erwartungen, 169. „Die Basis, auf der sich ein Gespräch zwischen der Theologie des Alten Testaments und der Systematischen Theologie vollzieht, ist […] die Tatsache, dass der systematische Umgang mit der Frage der theologischen Wahrheit in den Texten des Alten Testaments selbst schon anzutreffen ist, und das in einer hochdifferenzierten und subtilen Form.“ Vgl. 180: „Pointiert formuliert: Die Endgestalt des Textes des Alten Testaments ist selbst schon das Resultat systematischer theologischer Reflexion.“ Gleiches gilt für das NT und den zweigeteilten Kanon in seiner Gesamtheit. 96 Vgl. Nissen, Scripture, 653. 97 Vgl. Nissen, Scripture, 653. 98 Vgl. Nissen, Scripture, 654: „The Bible is by definition an open book, open to the ongoing process of transmission and interpretation. Just as in the course of Biblical history there were times when one or two of the traditions of faith dominated while others receded into the background, so it happens throughout church history and even today. The canonized interpretative process gives freedom for a new theological thinking and new prophetic action.“

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Rezeption in einen weiterlaufenden Traditionsprozess unter neuen Bedingungen: Der Kanon der Hl. Schrift stellt gleichsam die normierende und unhintergehbare Betriebsanleitung für die Bewältigung einer offenen Rezeptionsgeschichte dar, die jenseits des Kanons und daher auch mit anderen Mitteln verläuft. Damit tritt die inspirierte und inspirierende Dynamik jenes Geistes in den Blick, dem sich der Kanon verdankt und „in“ dem er zu lesen und zu interpretieren ist, wenn man ihm gerecht werden will (vgl. DV 12).

1.5. Inspiration als soteriologisch motivierter Prozess Weil der biblische Kanon für gläubige Leser/innen nicht einfach nur Weltliteratur, sondern ein pneumatisches – vom göttlichen Pneuma selbst erwirktes und erfülltes – Produkt der Rezeption von Glaubenszeugnissen und Glaubensdeutungen ist, ist und bleibt er offen für eine weitere Rezeptionsgeschichte unter Beistand jenes Geistes, der transportiert und immer wieder aktuell vermittelt werden soll. Die Rede von der Inspiration ist darum keinesfalls isoliert auf die Texte, Autoren oder Leser/innen zu beziehen, sondern stets auf den gesamten Überlieferungsprozess, dessen Resultat und Norm der Kanon ist. Das II. Vaticanum hält fest: „Das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift schriftlich enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden. Denn die heilige Mutter Kirche hält aufgrund apostolischen Glaubens die Bücher sowohl des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen für heilig und kanonisch, und zwar deswegen, weil sie, auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben [vgl. Joh 20,31; 2 Tim 3,16; 2 Petr 1,19 –21; 3,15f], Gott zum Urheber [auctorem] haben und als solche der Kirche selbst übergeben worden sind. Zur Abfassung der Heiligen Bücher aber hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das, was er – in ihnen und durch sie wirksam – selbst wollte, als wahre Verfasser [veri auctores] schriftlich zu überliefern. Da also all das, was die inspirierten Verfasser bzw. Hagiographen aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt gelten muss, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, dass sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte.“ (DV 11)

Legt man die Erkenntnisse über die Entstehung des biblischen Kanons zugrunde, so betrifft die Inspiration „unter dem Anhauch des Heiligen Geistes“ nicht nur punktuell einzelne Schreiber, sondern den resultativen

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Text in seiner textkritisch fragilen Endform und damit den gesamten Prozess der Produktion, Rezeption, Fortschreibung und Redaktion, sowie der Übersetzung und Auslegung durch inspirierte Leser/innen.99 Die Inspiration der Schrift ist verbunden mit einer Glaubensgemeinschaft, die diese Schrift generiert und je neu interpretiert. In Modifikation der wirkungsgeschichtlich prominenten These Karl Rahners100, die aber angesichts ihrer ekklesiologischen Engführung101 dem Eigenwert des Alten 99 Vgl. Dohmen, C., Inspirierter Text – inspirierter Sinn?, in: Rothenbusch/Ruhstorfer (Hg.), Eingegeben, 33 –51. 100 In der Hl. Schrift objektiviere sich das Glaubensbewusstsein der Urkirche, das für alle kommenden Generationen konstitutiv und normativ ist. Inspiration versteht Rahner insofern als Moment an der Ekklesiogenese, deren Urheber Gott selbst in seinem universalen Heilswillen ist. Vgl. Rahner, K., Über die Schriftinspiration (QD 1), Freiburg i. Br. 1958; Ders., Buch Gottes – Buch der Menschen, in: Ders., Schriften zur Theologie XVI. Humane Gesellschaft und Kirche von morgen, Einsiedeln u. a. 1984, 278 –291, 285 f.: „Gott in der Macht seiner Gnade wirkt die Urgemeinde, er wirkt sie als bleibende Norm der künftigen Kirche, er wirkt sie als sich selber objektivierend in bestimmten Schriften, die Norm der künftigen Kirche sind, und er wirkt auf diese Weise eben diese Schriften. So sind alle Möglichkeiten der Individualität, Freiheit, Situationsbedingtheit menschlicher Verfasser in der Urkirche offen gelassen. Diese Menschen sind die Verfasser. […] Diese Schriften haben oft einen, menschlich gesehen, zufälligen Entstehungsgrund; sie sind nicht von vornherein unter einem menschlich bewussten Grundsystem einheitlich konzipiert; sie verraten eine Verschiedenheit von theologischen Ausgangspunkten, Terminologien, Plausibilitäten. Aber sie sind auch in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit gültige Zeugnisse des Glaubens der Urgemeinde und so von der Vorsehung Gottes gewollt und hervorgerufen, in der von sich aus sich durchsetzenden Heilsgnade als Norm des Glaubens der folgenden Kirche in ihren Generationen.“ Die Scheidung zwischen kanonischen und apokryph gewordenen Schriften sieht Rahner im „Glaubensinstinkt“ der Kirche damals begründet. 101 Zur Rezeption der These Rahners vgl. Hahn, A., Canon Hebraeorum – canon ecclesiae. Zur deuterokanonischen Frage im Rahmen der Begründung alttestamentlicher Schriftkanonizität in neuerer römisch-katholischer Dogmatik, Zürich 2009, 128 –177; 258 –276; 354 f.; Gabel, H., Engführungen und Neuaufbrüche. Die Inspirationstheologie in Geschichte und Gegenwart, in: Rothenbusch/Ruhstorfer (Hg.), Eingegeben, 136 –184, 158 –161; Böttigheimer, Die eine Bibel, 67 ff. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Vorwurf, Rahner werde der Individualität der Schreiber, die bei ihm hinter dem Kollektiv der Urkirche zurücktreten, nicht gerecht, vor dem Hintergrund des kanonischen Prozesses gerade eine Stärke des Ansatzes Rahners darstellt. Die von Y. Congar vorgetragene Kritik (vgl. Böttigheimer, Die eine Bibel, 68), bei Rahner hätten die Apostel eine Autorität in der Kirche, jedoch weniger über die Kirche, legt ein ekklesiologisch problematisches, aber vielsagendes Verständnis von Apostolizität offen und lässt die Rückprojektion eines späteren Amtsverständnisses auf Zeiten der Urkirche vermuten – abgesehen davon, dass uns die „Autorität“ der Apostel ebenso wie das von K.-H. Ohlig fokussierte „Kerygma“ ausschließlich durch die Überlieferung und Rezeption in den Gemeinden erreicht hat. Wenn also nicht die Person der Apostel,

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Testaments in seiner Qualität als inspirierte Hl. Schrift (des Judentums wie auch Jesu) nicht wirklich gerecht wird, formuliert Meinrad Limbeck: „Indem Gott mit absolutem Willen durch die besondere Geschichte Israels und der Urkirche, die er abgegrenzt vom üblichen Lauf der Dinge in Gang setzt, das Heil aller Menschen will, will und schafft er auch die Schrift des Alten und Neuen Bundes derart, dass er ihr sie inspirierender Urheber […] wird.“102

Die Rede von der Inspiration markiert eine soteriologische Dynamik der Überlieferung, die zur Sicherung ihrer Authentizität an das Medium der Schrift gebunden wurde. Die konservierbare und nunmehr auch universal transponierbare103 Wahrheit wurde, wie das Konzil explizit betont, um unseres Heiles willen aufgezeichnet. 104 Es handelt sich also nicht um eine rein informative, sondern um eine performative Wirklichkeit: Die endgültig siegreiche Selbstzusage Gottes in der überlieferten Geschichte und im Leben der Leser/innen.105 Gerade in dieser soteriologischen Qualität sind biblische Schriften Heilige Schrift.106 Diese verbürgt die Verbundenheit von Gott und Mensch und bezeugt die soteriologische Tragfähigkeit dieses Bundes in vielfältigen Kontexten. Der Urheber (auctor) sondern die Glaubensgemeinschaft bei Rahners Inspirationsverständnis im Mittelpunkt steht, so zeigt sich darin – entgegen der standardisierten Kritik an seinem Gruppenbezug – gerade die Tragfähigkeit des Ansatzes aus exegetischer und rezeptionsgeschichtlicher Sicht. Das gilt auch für die organische Verbundenheit von Schrift und Tradition, der in diesem Ansatz plausibel Rechnung getragen wird. 102 Limbeck, Die Heilige Schrift, 52. Die Auslassung bezieht sich auf „Verfasser“, ein Begriff, der zur Vermeidung des Missverständnisses literarischer Tätigkeit Gottes besser vermieden werden sollte. 103 Vgl. Rahner, Buch Gottes, 289. Erst als Buch für jedermann realisiere die Hl. Schrift in voller Weise ihr eigenes Wesen, insofern sie nicht nur Experten und religiösen Eliten verfügbar ist, sondern „unmittelbar wirklich zu jedem und überallhin gelangen kann.“ Zum Gedanken der universalisierbaren Kommunikation des Wortes Gottes durch das Medium der Schrift vgl. auch Dirscherl, E./Dohmen, C., Gottes Wort bedarf der Schrift. Gedankenkreuzungen zwischen Exegese und Dogmatik, in: Först, J./Schmitz, B. (Hg.), Lebensdienlich und Überlieferungsgerecht. FS für H.-G. Schöttler, Würzburg 2016, 101–114, 112 ff. Diese Universalität ist an einen konkreten Ursprung in der Zeit gebunden, an das einzigartige Zeugnis in seiner geschichtlichen Situation. Es dient der Vergewisserung der eigenen Identität, wie auch „der Weitergabe an den Anderen um des Anderen, um seines Heiles willen“ (114). 104 Vgl. Waldenfels, H., Kontextuelle Fundamentaltheologie, Paderborn 42005, 469: „Die ‚Wahrheit um unseres Heiles willen‘ ist vielmehr das Formalobjekt, unter dem die ganze Schrift geschaffen ist und auch heute für uns steht.“ 105 Vgl. Rahner, Buch Gottes, 287 f. 106 Vgl. Limbeck, Die Heilige Schrift, 51 f.

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und damit keineswegs der Verfasser107 seines medial vermittelten Selbstmitteilungsprozesses ist der sich offenbarende Gott selbst, der durch die eigenständigen menschlichen Urheber der Schrift (veri auctores) zur Sprache kommt und über die Zeit hinweg Menschen anspricht. Bruce Metzger stellt fest: „Die Kirche sah die Inspiriertheit der Schrift nur als Teilaspekt in einem viel umfangreicheren Kontext von Inspiration.“108 Im Verständnis der Theologie der Antike und des Mittelalter ist die Vorstellung von Inspiration deutlich breiter gefasst als in ihrer (neuscholastischen) Verengung. „Gottes inspirierendes Wirken beeinflusst nicht nur den Entstehungs-, sondern auch den Verstehensprozess.“109 Die erst in der Neuzeit gezogene Grenze zwischen Inspiration der Schrift und Inspiration im Traditions- bzw. Rezeptionsprozess ist insofern letztlich eine nachträgliche und künstliche Unterscheidung ein und derselben pneumatischen Dynamik.110 Diese Dynamik geisterfüllter Rezeption hatte und hat eine dezidiert soteriologische Zielrichtung: 107 Zur problematischen Rede von einer „doppelten Autorenschaft“ oder einem göttlichen Verfasser vgl. Farkasfalvy, D., A Theology of the Christian Bible. Revelation – Inspiration – Canon, Washington 2018; vgl. Gabel, Engführungen, 138: „Kein einziges kirchliches Dokument fordert, auctor als ‚literarischer Verfasser‘ zu verstehen.“ Das griechische Äquivalent ist vielmehr archegos. 108 Metzger, Der Kanon, 242. Auch für die orthodoxe Theologie ist die Inspiration „ein Geschehen des Heiligen Geistes innerhalb der Gemeinde“. Vgl. Karavidopoulos, I., Offenbarung und Inspiration der Schrift – Interpretation des Neuen Testaments in der Orthodoxen Kirche, in: Dunn, J./Klein, H./Luz, U./Mihoc, V. (Hg.), Auslegung der Bibel in orthodoxer und westlicher Perspektive (WUNT 130), Tübingen 2000, 157–168, 161. 109 Gabel, Engführungen, 140. 110 Die Behauptung bei Böttigheimer, Die eine Bibel, 53, der Inspirationsbegriff sei „ausschließlich der Heiligen Schrift vorbehalten“, ist schlichtweg falsch. Die Inspiration konnte auch für nichtkanonische Schriften behauptet werden. Böttigheimer bezieht sich hier auf Melchior Cano und damit auf eine nachträgliche, letztlich künstliche Unterscheidung zwischen Inspiration der Schrift und „Geistbeistand“ bei Konzilien etc., die rückblickend so nicht korrekt ist, sondern in einer Verengung der theologischen Erkenntnislehre wurzelt. Vgl. Gabel, Engführungen, 140: „Über lange Zeiträume hinweg gelten die Kanones der Konzilien als inspiriert. Die Unterscheidung zwischen Inspiration (als Einwirkung des Heiligen Geistes auf die biblischen Schriftsteller) und Assistenz (als Einwirkung des Heiligen Geistes auf außerbiblische rechtgläubige Zeugnisse, insbesondere auf die Entscheidung von Konzilien) ist erst ein Werk der Neuzeit. Bis dahin ist die Inspiration nicht das Unterscheidungskriterium zwischen kanonischen und außerkanonischen Texten – auch wenn selbstverständlich klar ist, dass die kanonischen Schriften einen einzigartigen Rang haben. Und selbstverständlich ist klar, dass sie inspiriert sind – aber das wird von ihnen in positivem, affirmativem, nicht in exklusivem Sinn ausgesagt.“ Vgl. auch ebd., 183, Anm. 86.

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„Diese pastorale und soteriologische Zielrichtung prägt das Nachdenken der gesamten christlichen Antike und des gesamten Mittelalters über die Inspiration der Schrift.“111

Helmut Gabel weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass der Begriff „Inspiration“ sogar „bis ins Tridentinum hinein noch in einem anderen Kontext auftaucht: In der Gnadenlehre wird das rechtfertigende Wirken Gottes, das zur Rechtfertigung des Sünders führt, als inspiratio Spiritus Sancti bezeichnet. […] Die Vermutung liegt nahe: Wenn der Begriff der Inspiration bis in konziliare Texte hinein in soteriologischem Kontext auftauchte, dann hat auch bei der Rede von der Inspiration der Schrift ein soteriologischer Unterton mitgeschwungen.“112 Diese „soteriologische Bestimmung von Inspiration“ ist schon bei Paulus ersichtlich.113 Sie zielt auf eine inspirierte Relecture und kreative Interpretation der Schriften Israels – und seiner eigenen Briefe – angesichts von (theologischen) Krisenerfahrungen, die es im Sinne Jesu Christi zu bewältigen gilt. Das bedeutet zugleich, dass nicht nur die Entstehung der Schrift, sondern auch ihr Gebrauch zur Vergewisserung und Aktualisierung unter denselben – soteriologischen – Vorzeichen zu verstehen ist: Der Geist der Schriften dient dem Leben und der Gemeinschaft mit Gott, die nur in der Gemeinschaft untereinander realisiert werden kann und insofern sensible Verständigung angesichts des Neuen und Unbekannten – des unverfügbaren Mysteriums im Hier und Jetzt – erfordert. Die Schrift entstand im Blick auf das Heil der Menschen als ein Zeugnis adaptable for life, wie wir mit J. Sanders114 sehen konnten. Und sie ist ebenso „im Hinblick auf das Heil der Menschen zu lesen. In diesem Kontext ist es folgerichtig, dass auch das Lesen und Verstehen der Schrift als geistgewirkt verstanden wird.“115 Die Lektüre im Blick auf das Heil der Menschen 111 Gabel, Engführungen, 142. Die Schrift gilt im lebendigen Gebrauch als „geistliche Nahrung“, „Hilfe zum Leben“, „Arznei“ etc. Damit wird auch die ganze Bandbreite soteriologischer Motive bedient, die reichhaltiger ist als die juridische Verengung lateinischer Soteriologie manchmal glauben lässt. 112 Gabel, Engführungen, 143. Vgl. DH 375; DH 377; DH 1525. 113 Vgl. Söding, Inspirierte Exegese, 30 f. 114 Vgl. Sanders, Canon and Community, xvii: „The great theologians of the church have always insisted on that point. The Bible can be Word of God only as read or heard by living persons in communities of faith.“ 115 Gabel, Engführungen, 144. „Von daher erschließt sich auch, dass die Schriften der Kirchenväter und die Texte der Konzilien als inspiriert gelten; sie sind Interpretationen der biblischen Botschaft.“ Bis ins Mittelalter sei immerhin jede Theologie Schriftauslegung, erst danach werde sie in Form der quaestiones zur Abhandlung.

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und die Nöte ihrer Zeit ist aber nicht nur durch eine abstrakte, objektiv erhebbare, historisch-kritische oder kanon-immanente literarische Analyse möglich. Sie kann nicht in einer allgemein gültigen theologischen Lehraussage vollständig eingefangen werden, die das konkrete Subjekt in seiner (un-)heilvollen Situation ignoriert. Die Hörer/innen des Wortes sind stets involviert, wenn es darum geht, den Geist der Schrift in ihrem Leben neu sprechen und heilsam wirken zu lassen, weil die Frage nach dem Heil des einzelnen Menschen zwar universal offen sein muss, inhaltlich jedoch nicht über das Subjekt in seinem konkreten Kontext hinweg bestimmt werden kann.116 Das Heil eines konkreten Menschen – als subjektiv glückende Gottesbeziehung – entzieht sich der objektiven dogmatischen Definition ebenso wie jeder Versuch, den Inhalt der Hl. Schrift zu definieren. Die ursprünglich „pastoral-spirituelle und soteriologische Akzentuierung der Inspirationslehre“ tritt in der Neuzeit und insbesondere in der Neuscholastik in den Hintergrund.117 Es dominiert ein Inspirationsverständnis, das den soteriologischen Wahrheitsanspruch der Schrift durch den empirischen Wahrheitsanspruch und die lehramtliche Schriftauslegung, die sich darauf fixiert und beides gleichsetzt, ersetzt. Helmut Gabel spricht von einem „Alles-oder-Nichts“-Denken, nach dem sich die Bibel entweder in gar keinem Bereich (auch nicht der Naturwissenschaft) irren könne, oder aber ihre gesamte Autorität einbüße.118 Diese Art von Autorität entspricht aber mehr einer totalitären Deutungshoheit, die mit der pluralen Zeugnisvielfalt der Hl. Schrift in ihrer soteriologischen Intention per se nicht in Einklang zu bringen ist, insofern diese sich gegen jede Vereindeutigung verwahrt. Das soteriologisch motivierte Wahrheitsverständnis der Hl. Schrift und ihr offener Bedeutungsüberschuss für das individuelle Heil aller Menschen wird im Rahmen einer analytischen philosphia perennis auf eine statische und vermeintlich objektive Irrtumslosigkeit verengt, um damit „eine elementare Machtfrage“119 über die 116

Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 53 – 61. Gabel, Engführungen, 147. Vgl. Gabel, H., Inspirationsverständnis im Wandel. Theologische Neuakzentuierungen im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils, Mainz 1991. 118 Vgl. Gabel, Engführungen, 147 f. „Die Schrift wird immer einseitiger als theologisches Lehrbuch und als Fundgrube für theologische Argumentation gesehen. Die Inspirationstheologie wird mehr und mehr intellektualisiert, entspiritualisiert und entpastoralisiert.“ Sie wird damit objektiviert und der situativen Rezeption entzogen. 119 Vgl. Gabel, Engführungen, 150. 117

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Deutungshoheit des Glaubens zu verschleiern, die den Anspruch erhebt, eine für alle (Zeit) gültige und verbindliche Auslegung zu geben. Es ist der spektakulär gescheiterte (aber oftmals noch praktizierte) Versuch, die innere Dynamik der Hl. Schrift in ihrer inspirierten Rezeptionsdynamik zum Zwecke des eigenen Machterhalts zu sistieren. Göttliche Heilszusage in menschlichen Worten wird dabei durch eine Ansage der Autorität ersetzt, die keinen Spielraum mehr duldet. Demgegenüber ist mit Nachdruck zu betonen, dass es im biblischen Verständnis von Wahrheit nicht um eine letztlich gnostisch anmutende Irrtumslosigkeit der Lehre, sondern primär um die unbeirrbare Treue und Zuverlässigkeit Gottes geht, die sich als solche erweist120 und somit eine „narrative Identität“ begründet.121 Der Wahrheitsbegriff ist dabei konsequent „soteriologisch bestimmt“ und insofern als eine „relationale Wahrheit“ zu verstehen, d. h. bezogen auf das Heil des Menschen, womit „gewissermaßen eine Lese- und Interpretationsanleitung“ der Texte in ihrer Qualifizierung als Hl. Schrift gegeben ist.122 Das II. Vatikanische Konzil hat mit seinem personal-soteriologischen Offenbarungs- und Schriftverständnis „die soteriologische Weite der altkirchlichen und mittelalterlichen Inspirationstheologie wiederhergestellt.“123 Als Beziehungsbegriff, der das vielfältige Wirken des göttlichen Geistes in der Gemeinschaft der Glaubenden markiert, ist die Inspiration primär im Gesamtzusammenhang der Pneumatologie zu verorten.124 Mit Böttigheimer125 kann man darum zwischen „Geistgewirktheit“ und „Geistwirkung“ der Texte (in den Rezipienten) unterscheiden, sodass es 120

Vgl. Böttigheimer, Die eine Bibel, 90 f. Vgl. Hoffmann, V., Pneumatologie, Inspiration und die „narrative Identität“ der Kirche, in ZKTh 130 (1/2008), 64 – 83. 122 Vgl. Böttigheimer, Die eine Bibel, 92. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, Nr. 65: „Es besteht kein Zweifel, dass die Wahrheit, die im Zentrum der Offenbarung und konsequenterweise im Zentrum der Bibel als Werkzeug für die Übermittlung der Offenbarung […] ist, Gott und das Heil des Menschen betrifft.“ Das gilt in eigenständiger Weise auch für das AT. Vgl. Nr. 30: „Die Heiligen Schriften Israels haben die Natur, in Vollmacht von Gott zu sprechen und mit Sicherheit zu Gott zu führen.“ Diese soteriologische Validität des AT bleibt hier leider teilweise theologisch unvermittelt neben einer Christozentrik des NT. 123 Vgl. Gabel, Engführungen, 180; 153 –158. Schon der Offenbarungsbegriff des Konzils als Grundlage der Inspirationslehre sei erfahrungsbezogen, dialogisch und soteriologisch akzentuiert, auch wenn diese Sicht nicht konsequent durchgehalten worden sei. 124 Vgl. Gabel, Engführungen, 182 ff. 125 Vgl. Böttigheimer, Die eine Bibel, 54. 121

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sich nicht nur um ein vergangenes, sondern auch um ein gegenwärtiges pneumatisches Geschehen handelt (vgl. DV 21). Das schöpferische und erlösende Wort Gottes wird im menschlichen Zeugnis nicht formal ausgewiesen oder mit literaturwissenschaftlicher Präzision destilliert, sondern es offenbart und legitimiert sich selbst – durch seine eigene soteriologische Wirksamkeit und heilsame Kraft. Hier greift dasselbe soteriologische Argument wie für die Konsubstantialität des Logos mit dem göttlichen Vater im Umfeld des Konzils von Nizäa; wie auch für die Göttlichkeit des Heiligen Geistes gegen die Pneumatomachen: Nur Gott selbst kann Leben, Erlösung und Heil durch die Gemeinschaft mit ihm schenken. JWHW ist als „der Ursprung und das Ziel aller Dinge“126 nicht nur der informative Inhalt eines Kanons, sondern die performative, verwandelnde Macht der Liebe, die das Leben der Menschen trägt und erfüllt.127 Karl Rahner bezeichnet Gottes Wort, das ihm generell als Selbstaussage und Selbstzusage Gottes gilt, als „exhibitiv wirksames“ und daher „heilskräftiges Wort, das an sich mitbringt, was es aussagt“.128 Im verbindlichen Zeugnis der Hl. Schrift ist paradigmatisch die Grundlage für das Heil aller Menschen gegeben. Der inspirierte Text ist 126

DH 3004. Vgl. Böttigheimer, Die eine Bibel, 35: „Es sind also nicht formale Gründe, die die Besonderheit der Heiligen Schrift begründen, sondern inhaltliche: Die Texte der Bibel vermögen Gott als die alles bestimmende und erlösende Wirklichkeit so authentisch anzusagen, dass sie den Menschen in diese heilvolle Wirklichkeit hinein verwandeln. Als Wort Gottes bringt die zwei-eine christliche Bibel dem Menschen die göttliche Wirklichkeit wirkmächtig nahe.“ 128 Rahner, K., Wort und Eucharistie, in: Sämtliche Werke 18. Leiblichkeit der Gnade: Schriften zur Sakramentenlehre, hg. v. der Karl-Rahner-Stiftung unter Leitung von K. Lehmann, Freiburg i. Br. 2003, 596 – 626, 602; das Zitat findet sich auch bei Böttigheimer, Die eine Bibel, 31. Vgl. außerdem: Rahner, K., Was ist ein Sakrament?, in: Ders., Schriften zur Theologie X, Einsiedeln u. a. 1972, 377–391, 382, Anm. 10, wo Rahner darauf hinweist, dass „das Wort Gottes in seinem vollen, ursprünglichen Sinn nicht als satzhafte Belehrung ‚über etwas‘, nicht nur als intentionaler Hinweis auf einen Sachverhalt aufzufassen ist, der seinerseits von diesem lehrhaften Hinweis völlig unabhängig wäre, sondern als exhibitives, gegenwärtiges Wort, in und unter dem die bezeichnete Sache allererst gegeben ist, und zwar in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis der Art, dass das Wort gebildet wird durch die Sache, die so kommt, und die Sache kommt, indem und weil sie sich so verlautbart“. Daraus ergibt sich für Rahner der unvermischte und untrennbare Zusammenhang von Wort und Sakrament – und in analoger Weise auch von Wort und Kirche als universalem Sakrament zur leibhaftig spürbaren Vermittlung des Heils (LG 1). So erklärt sich m. E., warum bei Rahner die Inspiration der Schrift als Wort Gottes an den sakramentalen Dienst der Kirche und ihre pastorale, soteriologische Sendung gebunden ist, die mit den Hörenden korrespondiert. Die Schrift als normative Objektivation des Wortes Gottes muss vom informativen Gehalt des Zeugnisses auf performative 127

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nicht selbst Offenbarung Gottes, sondern Bezeugung der Selbstoffenbarung Gottes, die in ihrer kritischen und produktiven Rezeption das Wort Gottes als Zusage immer neu gegenwärtig und wirksam werden lässt. Für Max Seckler ist die Hl. Schrift insofern „geistgewirktes (Ursprungsrelation), geisterfülltes (innerer Qualifikator) und geistwirkendes (Erfahrungsdimension) Zeugnis des Wortes Gottes.“129 Diese dreifache Relationalität verweist wohl nicht ohne sachlichen Grund auf ein trinitarisches Spannungsfeld: Inspiration gründet in der Selbstmitteilung Gottes (des Vaters), die sich geschichtlich-kategorial manifestiert (Logos im objektivierten menschlichen Zeugnis und inkarniert im geisterfüllten Sohn) und existentiell-transzendental zueignet (Pneuma in der subjektiven Lebenswirklichkeit der Menschen und in der Gemeinschaft des Glaubens).130 Die Kirche definiert sich darum einerseits durch ihren Textbezug, andererseits durch die daraus immer wieder neu erwachsende Praxis, wie Johanna Rahner betont: „Die normative Größe des Apostolischen hat also sowohl material-inhaltliche (apostolische Tradition) als auch personal-existentielle Elemente (apostolische Nachfolge).“131 Inspiration ist also nicht nur ein isoliertes Merkmal der Schrift, sondern kennzeichnet den gesamten Traditionsprozess, in dessen Rahmen die Schrift entsteht und je neu ausgelegt wird. „Die Art, wie Gottes Wort in der Schrift enthalten ist, kann man sich nicht statisch, wie einen materiellen Inhalt vorstellen, sondern dynamisch, wie eine geistige Kraft. Wort und Schrift sind so ineinander verwoben, dass sie eine Einheit darstellen […].“132 Die spannungsvolle Einheit in der Vielfalt der Zeugnisse verdankt sich dem kritischen und dialogisch orientierten Interpretations- und Traditionsgeschehen, das auch über den Kanon hinaus offen bleibt für den Geist Gottes und seine schöpferische Kraft. Anwendung durch je neue Zeugen hin dynamisiert werden, sodass sich der sensus der Schriften spürbar erschließt. 129 Seckler, M., Wort Gottes und Menschenwort, in: Böckle, F./Kaufmann, F.-X./Rahner, K./Welte, B. (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Bd. 2, Freiburg i. Br. 1981, 84 – 88, 88. Böttigheimer, Kanon, in: NLKD, 382–385, 384, spricht von Ursprungsrelation, Sachrelation und Erfahrungsrelation. 130 Zur trinitarischen Entfaltung der Soteriologie vgl. Weißer, Der Heilige Horizont. 131 Rahner, J., Zwischen Wahrheit und Ambiguität. Irrtumslosigkeit und Suffizienz der Schrift – noch zeitgemäß?, in: Rothenbusch/Ruhstorfer (Hg.), Eingegeben, 185 –204, 191. 132 Metzger, Der Kanon, 270 f. Dieser Beziehung komme die Einheit aus göttlicher und menschlicher Natur in Christus am nächsten.

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Bei Emmanuel Lévinas markiert die Inspiration daher die enge Verbindung von Text, Lesern und ihrer unendlichen Öffnung auf Gott und den Nächsten hin.133 Inspiration hat immer eine futurische und vor allem ethische Tiefendimension, sie „bricht mit dem Intellektualismus des Wissens.“134 Erwin Dirscherl sieht darin eine pneumatologische Offenheit, die soteriologisch begründet und finalisiert ist: „Die Frage nach der Inspiriertheit der Hl. Schrift ist über die Frage nach dem Verhältnis von Kanon und Inspiration hinauszutreiben. Es geht um den Zusammenhang von Soteriologie und Hl. Schrift. Die Inspiration der Texte hängt unmittelbar mit der Inspiration des Subjekts zusammen und erhält eine ethisch-soteriologische Bedeutsamkeit. In den heiligen Texten kommt jenes Wort Gottes zum Ausdruck, das als Ruf und Gebot den Menschen in seinem Innersten berührt. […] Die Inspiriertheit der Hl. Schrift zielt auf die Inspiration der Menschen. Und die Entstehung der Hl. Schrift im Rahmen der Kanonwerdung hängt immer schon von inspirierten Menschen ab, die auf vielfältige Weise je einzigartig Zeugnis von Gott ablegen. Das ist der Sinn einer Rede von der Wirksamkeit des Geistes Gottes, der die Pluralität und Einzigkeit der Zeugnisse nicht überrollt, die Schrift und die Gläubigen inspiriert, damit beide mehr bedeuten können, als sie fassen können. Der Bedeutungsüberschuss des Subjekts in seiner Erwählung und der Hl. Schrift in ihrer Inspiriertheit rühren an die Transzendenz, an den Guten jenseits des Seins.“135

Dieser soteriologische Überschuss, der über Jahrtausende erfahren und durch Auslegung weiter vermittelt wurde, ist das entscheidende und zur Unterscheidung dienende inhaltliche Kriterium für die inspirierende Kraft biblischer Schriften, die nie auf ihren historischen und kulturellen Informationsgehalt reduziert werden dürfen, sondern auf das spürbare Zeugnis der Glaubensgemeinschaft verwiesen sind, die die Wirkung ihrer Hl. Schriften je neu erfahrbar werden lässt. Schon bevor die Schriften in einer Buchausgabe allgemein zugänglich und für alle lesbar waren, war das überlieferte und verkündete Wort eingebettet in das kirchliche Feiern und Handeln. Die frühkirchliche Liturgie bildete damals in enger Verbindung zum pastoralen Alltag den primären Kontext. Die Schriftauslegung erfolgte in erster Linie durch konkrete Seelsorger in konkreten Gemein-

133 Vgl. Dirscherl, E., Das inspirierte Subjekt bei Emmanuel Levinas – eine Inspiration für die christliche Theologie?, in: Wohlmuth, J. (Hg.), Emmanuel Levinas – eine Herausforderung für die christliche Theologie, Paderborn 1998, 163 –173. 134 Vgl. Dirscherl, Das inspirierte Subjekt, 168 f.; vgl. 164: „Es wird von einem geheimnisvollen Sinnüberschuss des Textes für den Leser gesprochen, der bereits im Vorgang des Lesens eine Aufforderung zur Exegese enthält.“ 135 Dirscherl, Das inspirierte Subjekt, 172.

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den, für deren Situation die Schriften aktualisiert werden mussten. „So stand das Wort nicht gleichsam nackt vor den Glaubenden; es war im Gegenteil vielschichtig umkleidet: Es wurde vor lebendigen Menschen gesprochen, die sich durch den an sie gerichteten Ruf zu einer Gemeinschaft fügten. Es war mit einem Tun, mit einer Handlung verbunden, die zunächst darin bestand, dass sich Menschen zusammenfanden, um das Wort zu hören, und dass ein Verantwortlicher unter Gesängen und Gebeten vor die versammelten Menschen trat, das Wort für sie aufzuschließen.“136 Bertram Stubenrauch spricht von einer „doppelten“ Exegese: Das durch die Schrift transportierte Wort wird im Handeln vergegenwärtigt und somit spürbar erschlossen. Liturgische Symbolsprache in sakramentaler Praxis und Exegese biblischer Texte bedingen und erschließen sich dabei gegenseitig: „Wort und Sakrament, Glaube und Ritus wurden zusammen als das eine Mysterium des sich offenbarenden Gottes betrachtet und darum auf ähnliche Weise behandelt.“137 Wort und Tat werden gemeinsam zum Medium der Gottesbegegnung und zielen auf die Verinnerlichung dessen, was durch den Text bezeugt und durch sakramentales Handeln real erfahren wird. Für Karl Rahner muss die Hl. Schrift daher „immer wieder im sakramentalen Wort und im Wort der Verkündigung aktualisiert werden.“138 Die Inspiration der Hl. Schrift ist – wie Pierre Grelot139 in Weiterführung der These Rahners präzisierend deutlich machen konnte – eingebettet in die lebendige Glaubensgeschichte einer konkreten Glaubensgemeinschaft (Israel und der Kirche) und untrennbar verbunden mit dem charismatischen Prozess ihrer produktiven Rezeption.140 Dabei diente der Inspirationsgedanke ursprünglich, wie Johanna Rahner hervorhebt, der Wahrung der Kontinuität und damit auch der Einheit von Altem und Neuem Testament.141 Man könnte hier von einem pneumatologi136 Stubenrauch, B., Die „doppelte Exegese“ der Alten Kirche als Ausgangspunkt für ein ökumenisches Sakramentenverständnis, in: Ders. (Hg.), Dem Ursprung Zukunft geben. Glaubenserkenntnis in ökumenischer Verantwortung. FS für W. Beinert, Freiburg i. Br. 1998, 253 –265, 255. 137 Stubenrauch, Die doppelte Exegese, 256. 138 Rahner, Buch Gottes, 290. 139 Grelot, P., Zehn Überlegungen zur Schriftinspiration, in: Klinger, E./Wittstadt, K. (Hg.), Glaube im Prozess. Christsein nach dem II. Vatikanum. FS für K. Rahner, Freiburg i. Br. 1984, 563 –579. 140 Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 43 – 49; 108. 141 Vgl. Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 195. Der Inspirationsgedanke verteidige „die Inklusion des Judentums gegen antijudaistische Exklusionsversuche“ wie durch Marci-

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schen Kontinuum zwischen Israel, Kirche und Judentum sprechen, das soteriologisch offen bleibt für neue Erfahrungen und Rezeptionsprozesse. Schon die Entstehung der Schriften ist unter dem Aspekt der vielschichtigen und vielstimmigen Erfahrung zu sehen. Produktion, Aktualisierung, Fortschreibung, Anerkennung, Kanonisierung und Interpretation bilden einen dynamischen – inspirierten – Rezeptionsprozess, dessen verbindlicher Maßstab die Schrift als gemeinschaftsbildende Objektivation identitätsstiftender Narration ist. Die Päpstliche Bibelkommission verweist als Kriterium der Inspiration auf die soteriologisch relevante Beziehung zwischen dem sich offenbarenden Gott und den antwortenden Menschen – eine Beziehung, die angesichts des Entstehungsprozesses der Schriften nicht nur auf die Verfasser (welcher Textschicht genau?142) reduziert werden darf, sondern als lebendige Gottesbeziehung auch über den Abschluss des Kanons hinaus weitergeht.143 Die Inspiration betrifft daher nicht nur die „Herkunft der biblischen Bücher von Gott“, sondern sie ist eingebettet in „eine besondere Beziehung zu Gott“144, durch die der Heilige Geist, Gottes wirksame Eigendynamik in der Heilsgeschichte, durch das Zeugnis von Menschen andere Menschen neu inspiriert und bewegt. Es ist eine „Beon. Es ist eine bittere Ironie, dass sich ausgerechnet aus dieser „Inklusion“ mit der Zeit ein vereinnahmendes, exklusivistisches Denken nähren konnte. Nach J. Rahner habe der Inspirationsgedanke aber ursprünglich auf eine soteriologische Entgrenzung gezielt, nämlich „auf die Weitung des heilgeschichtlichen Paradigmas und damit eine universal ausgerichtete Grunddimension des Verständnisses der Offenbarung Gottes in Geschichte“, womit „nicht nur die Offenbarungsqualität des Alten Testaments bewahrt, sondern die Option des universalen Heilswillens Gottes“ deutlich gemacht werden sollte. 142 Zur Problematik vgl. auch Böttigheimer, Die eine Bibel, 66 –74. 143 Vgl. Rothenbusch, R., Inspiration und theologische Schrifthermeneutik. Überlegungen im Anschluss an das Dokument der Bibelkommission zur „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“ (2014), in: Rothenbusch/Ruhstorfer (Hg.), Eingegeben, 100 –135, 112. „Dieser historische Entstehungsprozess des Kanons ist – theologisch und religionsgeschichtlich betrachtet – nicht zu trennen von der funktionalen Bedeutung des Kanons und damit auch nicht von der Gruppe, in der er Geltung beansprucht.“ Mit Aleida und Jan Assmann spricht Rothenbusch von einer „Sinngeschichte“, die sich im Nachhinein aus einer entsprechenden „Sinnpflege“ ergibt (108), die der permanenten Auslegung und Aktualisierung entspringt und diese weiter erfordert. „Der kreative und inspirierte Prozess, der die biblische Textproduktion bis hin zu ihrem kanonischen Abschluss geprägt hat, setzt sich fort in der inspirierten Rezeption der Bibel.“ (117) Die Inspiration ist also auch im Rezeptionsprozess zu verorten. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, Nr. 143. 144 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, Nr. 50; 52.

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wegung“ innerhalb der Schriften selbst, die theologische Erweiterungen und Entwicklungen erkennbar werden lässt und somit „die Entwicklung der Offenbarung“145, die in ihrer Rezeption nicht einfach zum Stillstand kommt. Die Dynamik dieser durch Gottes Geist bewirkten Beziehung bleibt – und hier wäre vielleicht mehr systematische Reflexion der Bibelkommission wünschenswert146 – auch über den Kanon und seine Genese hinaus noch aktiv.147 Es handelt sich nicht einfach um eine „Beziehung der Erfüllung“ zwischen Altem und Neuem Testament, denn auch die Bücher des Neuen Testaments zeigen „eine theologische und institutionelle Entwicklung in den ersten Gemeinden; so bezeugen die Briefe des Timotheus und Titus Ämterfunktionen und Unterscheidungsprozesse, die im Vergleich zu den ersten Paulusbriefen weiter entwickelt sind.“148 Der Prozess theologischer Entwicklung gilt also auch für das Neue Testa145

Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, Nr. 56. In Nr. 6 und Nr. 137 wird die fundamentaltheologische Frage nach der „Tatsache“ der Inspiration (bzw. der Bedingung ihrer Möglichkeit) explizit ausgeklammert. Unreflektiert bleibt damit auch die dogmatische Frage, was genau unter Inspiration zu verstehen sei. Es ist nicht unproblematisch, wenn man von einer „Glaubenswahrheit“ ausgeht, um deren „Natur“ anhand des Zeugnisses der biblischen Bücher zu erklären, ohne die systematischen Prämissen und Implikationen rational zu erhellen. Zu einer fundamentaltheologischen Perspektive vgl. Ruhstorfer, K., Inspiration – Geist – Vernunft. Die fundamentaltheologische Bedeutung der Inspirationslehre, in: Rothenbusch/Ruhstorfer (Hg.), Eingegeben, 205 –230, 218: „Gemäß der ratio essendi mag die Ursächlichkeit Gottes vorausgehen, nicht aber in der ratio cognoscendi. Die Einsicht in die Inspiriertheit der Bibel steht fundamentaltheologisch nicht am Anfang, sondern am Ende eines Denkwegs.“ Man müsste also von der Wirkung auf die Ursache schließen. In Nr. 103 stellt die Bibelkommission fest: „So gibt der Kanon der Schriften Zugang zu der Dynamik, mit der Gott sich persönlich den Menschen durch Propheten, biblische Schriftsteller und zuletzt durch Jesus von Nazaret mitteilt, und zugleich zu dem Prozess, in dem die Gemeinschaften der Glaubenden diese Offenbarung im Geist aufnehmen und ihren Inhalt schriftlich aufzeichnen.“ Diese Aufnahme der Offenbarung im Heiligen Geist setzt sich aber als inspiriertes Geschehen jenseits des Kanons fort, sodass ein pneumatologisch valides Verständnis von Inspiration im Blick auf den Traditionsprozess weiter zu fassen ist. Zu zeigen, „wie die Heilige Schrift selber den göttlichen Ursprung ihrer Schriften bezeugt und sich zur Botin der Wahrheit Gottes macht“ (Nr. 137), genügt in dieser Form nicht, weil ein systematisch reflektierter Inspirationsbegriff nicht nur auf die Herkunft, sondern auch auf die Ankunft, nicht nur auf die Produktion, sondern immer auch auf die unabgeschlossene Rezeption der Schrift als Hl. Schrift einer konkreten Glaubensgemeinschaft blicken muss. Diesen dynamischen Zusammenhang legt der Kanon in seiner Genese selbst offen. 147 Vgl. auch Böttigheimer, Die eine Bibel, 71. 148 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, Nr. 57. Immerhin erkennt man, dass die endgültige Erfüllung „am Ende aller Zeiten“ auch für das Christentum noch aussteht (vgl. 29). 146

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ment und setzt sich in der nachapostolischen Zeit durch die Dogmengeschichte auf andere Weise fort. Die vielfach zitierte „Erfüllung“ ist also gerade kein Abschluss, sondern ein dauerhaft materialisiertes – in Texte gegossenes, gesichertes und so weiter rezipierbares – Zeugnis erfüllter Gottesbeziehungen, das für spätere Generationen heilsbedeutsam bleibt. Die durch die Hl. Schrift zum Ausdruck gebrachte und der aktualisierenden Interpretation überantwortete Wahrheit ist eine Wahrheit, die auf das Heil des Menschen, d. h. auf seine gelingende Beziehung zu Gott und dem Nächsten zielt. Diese soteriologische Intention der Hl. Schrift markiert ihre Qualität als inspiriertes und inspirierendes Wort Gottes „für uns“ und ist dabei für die Glaubensgemeinschaften (Israel wie die Kirche) das Unterscheidungskriterium schlechthin, das zur Differenzierung von menschlichem Wort und Wort Gottes im kanonischen Prozess ebenso leitend war wie im folgenden Rezeptionsprozess des geschlossenen Kanons. Das Bewusstsein um das soteriologische Kriterium jeder Glaubenswahrheit war offenbar auch Augustinus und Thomas von Aquin noch bewusst.149 So folgert auch die Bibelkommission, es sei fundamental wichtig, dass die Orientierung und Suche der Leser/innen der Hl. Schrift „auf das ausgerichtet ist, was sie über Gott und das Heil der Menschen sagt.“150 Inspiration ist also ebenso wenig eine Kategorie historisch-kritischer Rekonstruktion wie systematischer Auflösung in ein Schema von Verheißung und Erfüllung. Inspiration ist wesentlich Dialogik: „Der Kanon zeigt seine ungeheure (göttliche?) Weisheit, indem er sich durch seine widerspruchsvolle Gestalt der Erstarrung zum religiösen System widersetzt und dagegen der Gefahr der Transformation in eine gewaltvolle Israel- oder Christus-Ideologie entgeht.“151 Diese Signatur von Widerspruch und Rettung durch JHWH, die Franz Mußner inhaltlich in der biblischen Story und ihrer Theologie verankert sah, zeigt sich auch in formaler Hinsicht des kanonischen Zeugnisses. Der Kanon in seiner Einheit und Gesamtheit lässt sich nicht sedieren und auf summarische Formeln der kirchlichen Lehre reduzieren. Er lädt immer wieder 149 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, Nr. 63 f., mit Bezug auf Augustinus, De Genesi ad litteram 2.9.20; Epistula 82,3; und Thomas von Aquin, De Veritate q. 12, a. 2: Illa, vero, quae ad salutem pertinere non possunt, sunt extranea a materia prophetiae. Was sich nicht (mehr) auf das Heil beziehen lässt, liegt außerhalb des Gegenstands der Prophetie und ist damit konsequenterweise auch nicht Wort Gottes. 150 Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, Nr. 136; 144. Die Wahrheit der Hl. Schrift habe „das Heil der Glaubenden zum Ziel“. 151 Oeming, Das Alte Testament als inspiriertes Wort, 98 f.

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neu zum Gespräch ein und muss atmen können, um die ihm immanente Wirkung zu entfalten. Der Kanon ist nicht Monolith, sondern Mosaik, kein lehramtlicher Monolog sondern Dialog mit Gottes Wort in der unhintergehbaren Pluralität seiner Bezeugungen, die sich in einer notwendigen Pluralität von Interpretationen fortsetzt. Dieses Rezeptionsgeschehen ist nicht zu trennen von inspirierten Leserinnen und Lesern152 und vom sensus fidelium. Oder um es mit den oft zitierten Worten von Gregor dem Großen zu sagen: divina eloquia cum legente crescunt.153

152 153

Vgl. Körtner, Der inspirierte Leser, 112. Gregor der Große, In Hiezechihelem I, VII,8.

206 2. Pneumatisches Plus der Offenbarung 2.1. Hermeneutische Differenzierung: Ein Gott der Lebenden und nicht der Toten Der inspirative Prozess, der sich im Rahmen einer revelatio continua vollzieht und sich sowohl sakramental als auch skriptural niederschlägt, gründet im biblischen Gottes- und Offenbarungsverständnis, auf das sich das II. Vatikanische Konzil wieder besinnt.154 Die realsymbolisch verwirklichte, anamnetisch vergegenwärtigte und durch die Hl. Schrift tradierbare Heilsgeschichte verläuft, wie wir sehen konnten, keineswegs nur linear. Doch ist die mit ihr verbundene „Story“, die auch nach ihrer eschatologischen Verdichtung in der Christuserfahrung noch voranschreitet, an einen verlässlichen Kontinuitätsträger gebunden: JHWH, der als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs auch der Gott Jesu und des Christentums ist. Obgleich diese Väter des AT ihren Gott verschieden und teilweise noch anders erfahren haben mögen als ihre Nachkommen, verbindet nach der Komposition des biblischen Kanons derselbe Gott ihre Vergangenheit mit unserer Gegenwart und einer nicht absehbaren Zukunft. Es zeichnet JHWH geradezu aus, all diese Zeit aktiv zu umspannen, denn „lebendig ist das Wort Gottes“ und wirksam (Hebr 4,12). „Er ist kein Gott der Toten, sondern von Lebenden“ (Mk 12,27), der sich als der erweisen wird, als der er sich erweist (vgl. Ex 3,14). Die radikale Transzendenz und Unverfügbarkeit des sich jedem Zugriff und Begriff entziehenden, nicht abbildbaren oder in ein Koordinatensystem einschreibbaren Schöpfers aller Dinge lässt vielfältige Erfahrungen und verschiedene Deutungen zu, die – im Rückblick155 – dennoch ein (viel)stimmiges Gesamtbild ergeben, auch wenn dieses dem Harmoniebedürfnis systematischer Theologien nicht immer entspricht. Denn auch hier gilt das Bilderverbot156 als Wächter eines biblischen Monotheismus, der sich nicht in eine philosophische Lehre oder in analytische Formeln hi154 Vgl. Böttigheimer, Die eine Bibel, 73: „Im Kontext eines kommunikationstheoretischen Offenbarungsverständnisses ist von der Lebendigkeit Gottes auszugehen, d. h. seine Inspiration ist nicht als ein einmaliger, vergangener und statischer Vorgang zu begreifen, vielmehr ist seine Urheberschaft hinsichtlich der Schrift lebendig und dynamisch zu denken.“ 155 Vgl. Dirscherl, E., Grundriss theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006, 109 –113. 156 Vgl. Dohmen, C., Studien zu Bilderverbot und Bildtheologie des Alten Testaments, Stuttgart 2012.

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nein auflösen lässt. Der je persönlich ansprechende und in Gemeinschaft zur Sprache kommende Gott der Lebenden offenbart sich selbst als die potentiell sinnstiftende, erfüllende, Hoffnung und Trost spendende, letztlich allein umfassend erlösende – soteriologische – Wirklichkeit: a) in der individuellen Erfahrung einzelner Biographien; b) in der gemeinsamen Geschichte und dem kollektiven Gedächtnis der Überlieferungsgemeinschaft. Beides bedingt sich gegenseitig und ist im Kanon verschmolzen. In seiner Rezeption vollzieht sich nicht nur die Begegnung mit einer in Zeugnissen objektivierten Offenbarung (im Logos), sondern auch die subjektive Auseinandersetzung mit dem tradierten Zeugnis vor dem Hintergrund eigener – neuer – Lebenserfahrungen, die mit den vergangenen Erfahrungen korrespondieren können und so die existentielle Relevanz des auch heute wirksamen Gottes im Pneuma je neu erschließen. In der Rezeption der Hl. Schrift, die ja selbst ein Rezeptionsphänomen ist, verbinden sich überliefertes Wort und wirksamer Geist, Geschichte und Gegenwart des einen Gottes zu seiner menschlich bezeugten Selbstzusage angesichts der aktuellen Erfahrungen von Menschen. Der biblische Kanon zeugt von einer Kontinuität bei aller Diskontinuität und einer Einheit trotz aller Vielfalt: „Es bildet sich auf dem Grunde der Schrift ein Überlieferungskontinuum. Zugleich bleibt der Weg in die Zukunft offen. Denn die Explikation der göttlichen Selbsterschließung kann nie erschöpfend vorgenommen werden. Die Kirche wird mit dieser Funktion nie an ein Ende kommen. Diese ist ihr Weg. Sie lebt auch in dieser Aufgabe als Pilgerin in die absolute Zukunft hinein.“157 Das Wort Gottes, ein für alle Mal gesprochen, spricht die Hörer des Wortes in ihrem Leben je neu, je aktuell und je anders an. Gottes Sprechakt – seine Selbstaussage und Selbstzusage – ist nicht einfach historisch abgeschlossen. Hinter diesem Denken steckt eher ein latenter Deismus: Gott hat in der Vergangenheit gesprochen, danach aber nicht mehr.158 Ein solches Verständnis liegt letztlich auch der Vorstellung einer Verbalinspiration zugrunde, die nach Thomas Hieke geradezu zum „Tod Gottes“ führt, „da dann eben die göttliche Mitteilung zur Abfassungszeit der Schrift erging und seither hoffnungslos überholt und irrelevant

157 Schmaus, M., Der Glaube in der Kirche. Bd. 1/2: Grundlegung, Offenbarung, Kirche, Theologie. Die menschliche Antwort als Integration von Gottes Initiation, St. Ottilien 21979, 113. Träger dieses Prozesses sei das ganze Volk Gottes. 158 Zur Kritik vgl. Reis/Ruster, Die Bibel, 67.

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ist.“159 Dagegen zielt die Rede vom „Wort des lebendigen Gottes“ auf die aktive Wirksamkeit der Schrift.160 Denn nicht nur die einmalige Niederschrift (oder Redaktion) ist inspiriert, sondern auch die Lektüre.161 Hieke verweist daher auf die Grundannahme von DV 12: „Gott wollte und will jeder Generation (und damit auch der heutigen), also jedem (jeder) Bibelleser(in) mit den Menschenworten der historischen Autoren und Redaktoren (vielleicht sogar auch der Übersetzer?) ‚etwas sagen‘.“162 Nötig sei eine Unterscheidung der Geister als kritische Prüfung, ob eine konkrete Auslegung „wirklich eine dynamische Herausforderung des lebendigen Gottes darstellt“.163 Die damit verbundene „Schwierigkeit der Unterscheidung“, welche Sätze geradezu „wie in Stein gemeißelt“ sind164 – man kann bei diesem Bild an den dennoch deutungsbedürftigen Dekalog denken – und welche eben nicht, gilt ganz analog für die Dogmenhermeneutik. Diese wird, wie schon die Hermeneutik des biblischen Kanons, letztlich auf das Mysterium des sich erschließenden Gottes zurückgeführt, und zwar im Sinne einer theozentrischen reductio in mysterium salutis. Dieses Mysterium kommt je anders zur Sprache und je neu zur Geltung, es bildet rückblickend aber einen hermeneutischen Kompass für die Wege der Überlieferung. Die Aktualisierung auf Basis essentieller Inhalte ist ein Prozess, der „bereits innerbiblisch greifbar“ ist.165 Alte Worte, die einst in einer bestimmten, konkreten Situation wirksam und bedeutungsvoll waren, werden aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang gelöst, über diese Situation hinaus gültig und dabei neu wirksam. Das gilt für die Propheten ebenso wie für die Briefe des Apostels Paulus.166 Eine hermeneutische Differenzierung ist dabei die Grundlage für Rezeptionsprozesse. Die Unterscheidung, was zeitlich bedingt und was allgemein gültig ist, ist eine zentrale Aufgabe der Dogmatik, die diese nur mit Hilfe der Exegese bewältigen kann. Sie hilft der Theologie, in alten Texten Gottes Anspruch (und Zuspruch) neu zu entdecken.167 Durch Lektüre und Deu-

159 Hieke, T., Die doppelte Autorschaft der Bibel nach Dei Verbum 12. Gotteswort in Menschenwort, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 202–223, 210. 160 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 210 –214. 161 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 212. 162 Hieke, Die doppelte Autorschaft, 213. 163 Hieke, Die doppelte Autorschaft, 213. 164 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 214. 165 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 215. 166 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 215. 167 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 216.

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tung, d. h. durch aktuelle Rezeption, sucht die Glaubensgemeinschaft dann das heilsame Wort des lebendigen Gottes für heute – in und hinter menschlichen Worten, die überliefert sind. Methodisch bedarf es nach DV 12 dafür a) des historisch-kritischen Zugangs zum zeit- und kulturgeschichtlichen Kontext; b) des kanonischintertextuellen Gesamtkontextes, um zu überprüfen, „was Gott sagen wollte“168 und was dem Gesamtzusammenhang der Glaubensaussagen Sinn und Richtung gibt. Dadurch werden einzelne Positionen oder Sichtweisen, Ansätze und Sätze kirchlicher Erkenntnis positiv relativiert, insofern sie in einen organischen Gesamtkontext rückgebunden werden. Unerlässlich ist außerdem c) das „Gespräch in der Auslegungsgemeinschaft“, die letztlich entscheiden muss, ob bestimmte aktualisierende Auslegungen in ihrer jeweiligen Situation und für ihre Sendung hilfreich und lebensdienlich sind – oder eben nicht.169 Es besteht neben der Notwendigkeit einer Auslegung des Vergangenen, dessen man sich vergewissert, immer auch die Notwendigkeit zur Aktualisierung, die aber nur im ehrlichen und offenen Diskurs gelingen kann. Das Prinzip des Dialogs ist hier unentbehrlich.170 Die historischen Texte stehen in Wechselwirkung mit ihrem jeweiligen Kontext – und dieser ist nicht nur der Kanon, sondern auch der Lebensalltag der Rezeptionsgemeinschaft. Die Sinnkonstituierung der Texte erfolgt darum stets neu im Lektürevorgang.171 Damit ist „der Gedanke, dass Texte nur einen ‚richtigen‘ Sinn haben, der mit der Intention des historischen Verfassers (‚was uns der Autor damit sagen wollte‘) identisch sei, als unangemessen aufgegeben. Texte sind grundsätzlich mehrdimensional und vieldeutig. Die Intention des historischen Autors ist eine Sinnmöglichkeit, aber nicht die Norm der Auslegung.“172 Sonst würde die Unterscheidung von Gottes lebendigem Wort und Menschenwort herme168 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 220 f. „Durch die Lektüre eines bestimmten, von einem Menschen geschriebenen Textes in einem größeren Zusammenhang religiöser Texte (in der ‚Heiligen Schrift‘) kann der glaubende Mensch neue Hinweise und Impulse entdecken, an die der menschliche Autor in seiner Begrenztheit nie gedacht haben konnte.“ Vgl. Janowski, Kanonhermeneutik, 175 f. Der Kanon „ist zwar durch Eingrenzung des Ausgewählten und Ausgrenzung des Abgelehnten nach außen abgeschlossen, aufgrund seiner inneren Vielstimmigkeit und der komplexen Architektur seiner Teile aber ist er offen für neue Sinnbildungen.“ 169 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 221. 170 Vgl. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 222. 171 Vgl. Hieke, Neue Horizonte, 65 f. 172 Hieke, Neue Horizonte, 66.

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neutisch auch keinerlei Sinn ergeben. Biblische Texte wollen stets „neu gelesen und in veränderten Situationen aktualisiert werden, was sich schon an den zahlreichen Fortschreibungstendenzen im Entstehungsverlauf biblischer Bücher ablesen lässt.“173 Und dieser Prozess setzt sich, wie wir sahen, auf andere Weise jenseits des Kanons fort.174 „Durch Beteiligung je neuer Leserinnen und Leser an der Sinnkonstituierung entstehen durch deren neue Kontexte immer wieder andere Interpretationsmöglichkeiten, die es am Text zu verifizieren gilt.“175 Die neuen Fragestellungen und Horizonte des Glaubens werden immer neue „im Text verankerte Signale zu Tage fördern“.176 Die Leser/innen sind als Rezipienten in das Traditions- und Offenbarungsgeschehen aktiv involviert, indem sie „ihre jeweilige Perspektive in den Rezeptionsvorgang und die Sinnkonstituierung einbringen.“177 Diese zunächst legitimen pluralen Interpretationen mit ihren immer neuen „Facetten und Sinnmöglichkeiten“ haben jedoch Grenzen: „Man kann nicht alles mit einem Text beweisen oder machen.“178 Die Bindung an den Text, an dessen Material sich jede legitime Aktualisierung vergewissern muss, kann nicht aufgehoben werden, ohne dass das Traditionskontinuum Schaden nimmt. Zugleich muss aber festgehalten werden, dass keine Epoche oder Einzelauslegung – und sei sie noch so prominent und altehrwürdig – hier absolut gesetzt werden kann. Sie könnte eine aus heutiger Sicht irrige, schädliche und daher zu korrigierende Deutung sein. Antijüdische Einwürfe kirchenväterlicher Exegese sind ein Beleg dafür und die bekannte augustinische Rezeption von Röm 5,12 dürfte ein ebenso warnendes Beispiel sein. „Biblische Auslegung ist nicht Sache eines Einzelnen, der in Aufbietung seines gesamten Wissens und seiner subjektiven Rationalität ‚den‘ Sinn des Textes ‚herausfindet‘ und ihn in einem Kommentar oder einer Lehrentscheidung ‚festlegt‘, sondern ein offener Prozess, der seine Kontrolle durch den gegen173

Hieke, Neue Horizonte, 66. Vgl. Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 110: „Die lebendige Glaubensgeschichte, die sich in der jahrhundertelangen Fortschreibung (dem kanonischen Prozess) der Heiligen Schrift niedergeschlagen hat, kommt nicht zum Abschluss oder erstarrt geradezu durch die Kanonisierung, sondern wird unter neuen Bedingungen, nämlich denen der ‚Schriftauslegung‘, aufgenommen und weitergeführt. Ist die Heilige Schrift ‚Seele der Theologie‘, dann wird in der Theologie und durch sie die lebendige Glaubensgeschichte der Bibel weitergeführt.“ 175 Hieke, Neue Horizonte, 72. 176 Hieke, Neue Horizonte, 72. 177 Hieke, Neue Horizonte, 73. 178 Hieke, Neue Horizonte, 73. 174

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seitigen Austausch von Lektürevorgängen und Sinnkonstituierungen erfährt. Biblische Auslegung lebt vom Diskurs und entspricht damit dem Paradigma der Wissenschaftlichkeit von Verifizierung und Falsifizierung im gegenseitigen, öffentlichen und nachvollziehbaren Austausch.“179

Die vom II. Vatikanischen Konzil angemahnte Unterscheidung zwischen menschlichen Worten und dem persönlichen Wort Gottes angesichts der Zeichen der Zeit bezieht folglich immer die gesamte Glaubensgemeinschaft als Rezeptionsgemeinschaft in den Prozess der Auslegung ein. Die biblische Auslegung ist „immer auch ein auf eine lebendige Gemeinschaft angewiesenes Diskursgeschehen, ein ‚demokratischer‘ Vorgang, der nicht für Vorschriften ‚von oben nach unten‘ geeignet ist.“180 Auf die sich hier andeutenden strukturellen Defizite kirchlicher Schriftauslegung werden wir später zurückkommen müssen. Zunächst gilt es festzuhalten: „Die Auslegungsgemeinschaft als community of faith and practice bestimmt letztlich, ob und in wie weit sich welche Auslegungen (normativ) auf die praktische Lebensgestaltung auswirken.“181 Dabei ist und bleibt der biblische Kanon „das notwendige Medium für je neue Offenbarung Gottes“, wie Childs betont.182 Diese Offenbarung ist die Bedingung der Möglichkeit ihrer menschlichen Bezeugung, Überlieferung und aktuellen Deutung. Der heutige Glaube versucht im Medium der Schrift gleichsam sich selbst und seine eigene Beziehung zu Gott zu verstehen.183 179

Hieke, Neue Horizonte, 73. Hieke, Neue Horizonte, 66. 181 Hieke, Neue Horizonte, 74. 182 Childs, Die Theologie der einen Bibel, Bd. 2, 51. Vgl. 50: „Die Substanz des Textes darf nicht als ein statisches Depositum, auch nicht nach Maßgabe philosophischer Schemata konstruiert werden, sondern man muss ihr ständig in der Dynamik des biblischen Zeugnisses begegnen.“ Die historische Stimme des Textes dürfe dabei nicht zerstört werden – dieser Punkt wird von Childs’ Kritikern gerne überlesen. Dennoch zeigt sich bei ihm eine Denkbewegung vom vermeintlichen Hauptinhalt (res) hin zum konkreten Glaubenszeugnis. 183 Vgl. Lüning, Die Bibel, 234, mit Verweis auf Assmann. Das Medium der Schrift „erlaubt einer Kultur, Gesellschaft oder Religion die fundamentalen Inhalte ihres jeweiligen Gedächtnisses in universale Verbindlichkeit zu überführen, aber zugleich ermöglicht es den interpretierenden und aktualisierenden Umgang mit dem jeweiligen Gehalt des Gedächtnisses. Dies mag auf analoge Weise auch für die Bibel gelten. Der Glaube des Menschen richtet sich zwar auf Gott selbst. Aber gerade darin ist und bleibt er verwiesen auf die geschichtliche Grundlegung seiner selbst, die sich in der Heiligen Schrift als dem ersturkundlichen Gedächtnis des Glaubens bezeugt. Die Heilige Schrift ist damit eine Sammlung von Glauben begründenden, vergewissernden, aber ihn auch herausfordernden heilsgeschichtlich grundlegenden Erfahrungen von Menschen mit Gott. Sie ist darin zugleich die mediale Instanz, auf die Gott selbst den Glauben späte180

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Die Schrift dient als notwendiges Medium der Überlieferung zur Vermittlung der Offenbarungsgeschichte, wobei es die bleibende Differenz von lebendigem Wort Gottes und dessen Medium zu beachten gilt.184 Daraus ergibt sich ein nicht einholbares Plus – die bleibende Transzendenz und Unverfügbarkeit – des göttlichen Logos in seiner pneumatischen Entgrenzung, die immer an inkarnierte Präsenz gebunden, aber in ihrer Universalität und Dynamik nicht zu sistieren ist. Dem entspricht eine lebendige Überlieferung: „Dank der Wirkung des Geistes bleibt die Überlieferung lebendig und dynamisch.“185 Daher wird in DV 8 festgehalten, dass die Hinterlassenschaft der apostolischen Überlieferung durch den Beistand des Heiligen Geistes fortschreitet, sich also bewegt und Fortschritte macht (proficit).186 Weil der biblische Gott nicht der Gott einer abgeschlossenen und besiegelten Vergangenheit, kein Gott von Toten ist, sondern ein Gott der je neuen Gegenwart und Zukunft, ein lebendiger und alle Menschen ansprechender Gott, der nicht nur damals gesprochen hat, sondern sich durch die Zeit hinweg auch heute zusagt, darum ist seine Offenbarung

rer Generationen immer wieder verweist, indem er durch diese grundlegenden Ersterfahrungen mit ihm das Gehör der Menschen sucht. Deshalb ist die Heilige Schrift nie nur geschichtliche Ersturkunde des Glaubens, die von späteren Generationen ad acta gelegt werden könnte. Als verschriftlichtes Gedächtnis des Glaubens bleibt sie verbindliche Beurkundung dieses Glaubens und insofern ist sie seine ‚Regel‘, da Gottes lebendiges Wort und damit er selbst in ihr und durch sie jeweils neu vernommen werden will.“ 184 Vgl. Lüning, Die Bibel, 233: „Die geschichtliche Selbstmitteilung Gottes an die Menschen bedarf um ihrer beständigen Wirksamkeit willen kreatürlicher Bezeugungsund Vermittlungsinstanzen. Allerdings ist dabei die Selbstunterscheidung des Wortes Gottes von den von ihm selbst in Anspruch genommenen kreatürlichen Medien ebenso grundlegend.“ 185 Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 10. „Das Christentum teilt mit dem Judentum die Überzeugung, dass die göttliche Offenbarung nie zur Gänze in schriftlichen Texten zum Ausdruck gelangen kann. […] Auf der anderen Seite ist die lebendige Überlieferung unerlässlich zur Verlebendigung und Aktualisierung der Schrift.“ 186 Vgl. DV 8: „Es wächst nämlich das Verständnis (perceptio) der überlieferten Dinge und Worte sowohl aufgrund des Nachsinnens und des Studiums der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51), als auch aufgrund der inneren Einsicht in die geistlichen Dinge, die sie erfahren, sowie aufgrund der Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt die sichere Gnadengabe der Wahrheit empfangen haben.“ An erster Stelle stehen hier die Herzen, Einsichten und Erfahrungen der Gläubigen, der untrügliche „sensus fidei“ des Volkes Gottes (vgl. LG 12), danach erst kommt das Lehramt mit seinem charisma veritatis ins Spiel.

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keine abgeschlossene und in sich verschlossene Größe vergangener Epochen, sondern ein Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindender Prozess der Selbstmitteilung Gottes als Ankunft – Advent – seiner selbst in der allen gemeinsamen, je aktuell erinnerten Geschichte und im je individuellen Leben des Einzelnen im Dialog mit dieser Geschichte. Beide Dimensionen dieser Wirklichkeit lassen sich dabei nicht voneinander trennen. Auch die Trinitätstheologie entspringt der differenzierten Verbundenheit187 von Wort und Geist in ihrer Ursprünglichkeit vom einen Gott – dem Vater – her, den diese gegenwärtig werden lassen und auf dessen Zukunft sie verweisen.188 Der sich durch sein Wort im Heiligen Geist selbst mitteilende göttliche Vater bildet daher auch in DV die entscheidende hermeneutische Grundlage für die Hl. Schrift und ihre offenen Rezeptionsprozesse.

2.2. Offenbarung als Grundlage ihrer Bezeugung und je neuen Vermittlung Offenbarung ist schon für Paulus kein einmaliges und singuläres Ereignis, sondern eher „eine revelatio continua, die sich überall dort ereignet, wo der Glaube zum Verstehen findet.“189 Die „Unmöglichkeit, Gottes Geheimnis auszuloten“ korrespondiert durch das Wirken des Geistes Gottes mit dem „Sinn“ Christi (1 Kor 2,16), den die Vulgata – im Unterschied zur aktuellen Einheitsübersetzung – präzise mit sensus übersetzt.190 Es handelt sich einerseits um einen Sinn für Christus als messianischen Retter (genitivus obiectivus), andererseits ist damit primär die Sinneswahrnehmung in der Nachfolge Christi zum Ausdruck gebracht, die „das Leben derer be187 Vgl. Pröpper, T., Freiheit als philosophisches Prinzip theologischer Hermeneutik, in: Ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg i. Br. 2001, 5 –22, 7: „Erst als Zusammenkunft der Selbstbestimmung Gottes für uns in der Geschichte Jesu und der Selbstgegenwart Gottes im Geist wäre also Gottes Selbstoffenbarung zureichend verstanden.“ 188 Die Kirchenväter identifizieren nicht ohne Grund den inkarnierten Logos mit dem präexistenten Wort Gottes, das schon durch Mose und die Propheten bezeugt und antizipiert worden sei, weil diese vom selben Geist getrieben wurden, der Jesus von Nazareth bei seiner Taufe im Jordan erfüllt und durch die christliche Taufe weiter vermittelt wird, weil diese das geschichtlich bezeugte Wort performativ je neu zur Wirkung bringt – in der Gemeinde. 189 Söding, Inspirierte Exegese, 26. 190 Vgl. Söding, Inspirierte Exegese, 27 f. Auch in der Lutherbibel stand und steht „Sinn“ für nous.

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stimmt, die Gott lieben und den Geist Gottes empfangen (1 Kor 11,1; vgl. 4,16). Diejenigen, die das Geschenk des Geistes empfangen haben, ‚haben‘ nun den ‚Sinn Christi‘. Es ist ein Gespür für Gott, ihr Wissen von ihm, ihr Urteilsvermögen, ihr sensus fidei.“191 Die durch Christus für alle Menschen zugängliche, im neuen Bund192 nun unbegrenzt vermittelte und irreversible Verbundenheit mit dem Gott Israels verweist auf eine „pneumatische Theozentrik“193, die Gott allein im Geist Gottes, im Geist der Heiligkeit und Liebe erkennbar werden lässt (1 Kor 2,11), in den die Nachfolge Jesu prinzipiell alle Menschen einführen will. Und da Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann, gilt die similitudo Dei bzw. die }moËwsij qeŸ der Patristik bekanntlich auch als dynamische Zielbestimmung des Menschen als imago Dei. Die Menschen partizipieren im Pneuma an der Dynamik Gottes, die nicht überzeitlich in sich selbst verbleibt (immanente Trinität), sondern sich auf wirklich Neues – auf Kreatives in seiner Kreatur – einlässt (ökonomische Selbsterschließung des göttlichen Vaters in Wort und Geist in einer kreatürlichen Freiheitsgeschichte). Die Teilhabe am Geist Gottes ermöglicht das Gespür für die durch Jesus Christus neu erfahrbar und anschaulich gewordene Gesinnung Gottes, die – so der Grundtenor des Neuen Testaments – den Weg des Lebens markiert und niemals in die Irre führen wird, wenn man sich ihr offenen Herzens anvertraut, um neue Wege zu beschreiten. Der durch diesen Sensus motivierte „neue Weg“ ist nicht ohne Grund eine der ersten Bezeichnungen für jene Bewegung, die später den Namen „Christentum“ erhalten wird. Damit ist nicht einfach die Opposition zum vermeintlich Alten zum Ausdruck gebracht, sondern vielmehr eine grundsätzliche Offenheit für Neues und Fremdes im Rahmen der christlichen Sendung.194 191

Söding, Inspirierte Exegese, 28. Vgl. Jer 31,31–37. Dieser Bund steht gerade nicht in Konkurrenz zum Bund Israels, sondern verweist auf die Erkenntnis Gottes, dessen Weisung in die Herzen eingeschrieben ist. Vgl. Jer 31,34: „Keiner wird mehr den andern belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den HERRN!, denn sie alle, vom Kleinsten bis zum Größten, werden mich erkennen – Spruch des HERRN.“ Trefflicher kann man den sensus kaum zum Ausdruck bringen. 193 Söding, Inspirierte Exegese, 29. „Gotteserkenntnis ist demnach Anteil an der Selbsterkenntnis Gottes, deren Subjekt das pneuma ist.“ Demgegenüber ist anzumerken, dass – wenn man nicht der Gefahr eines Tritheismus mit drei göttlichen Subjekten erliegen will – das handelnde Subjekt der göttliche Vater ist, der durch seinen Geist die Erkenntnis seiner selbst im Anderen seiner selbst – im Menschen – in Gnade wirkt. 194 Dies wird in Kap. III.3.3. ausführlicher beleuchtet. 192

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Diese nach vorne hin offene, lebendige Tradition vollzieht sich nach der abschließenden Verschriftung und Kanonisierung des geschichtlich einmaligen, verbindlichen Tradendums fortan als „geistgewirkte Auslegung und aktualisierende Interpretation.“195 Dabei handelt es sich um einen „ekklesialen Prozess“196, weil der Bund Gottes mit den Menschen stets mit dem hörenden Volk Gottes (Israel und der Kirche) und dessen fortlaufenden Glaubenserfahrungen verbunden ist. Um diese ekklesiale Dimension wusste auch Karl Rahner, der aus guten Gründen sein Inspirationsverständnis darin gründen ließ. „Insofern liest die Theologie die Schrift immer schon mit einem Wissen, das ‚so‘ nicht einfach in der Schrift zu lesen ist, weil der Theologe immer von dem aktuellen Glaubensbewusstsein der Kirche her Theologie treiben muss und weil es eine eigentliche Dogmenentwicklung gegeben hat.“197 Eine Entwicklung, deren Anfang sich nicht präzise bestimmen lässt, die in ihrer Dynamik aber sogar bis in die Genese und Struktur der Hl. Schrift zurückreicht.198 Rahner und Lehmann haben dies in einer dogmenhermeneutisch bis heute unübertroffenen Präzision erkannt: „das Phänomen des Weiterwachsens von Texten in neuen Situationen, des neuen Offenbarungsschrittes durch Neuauslegung des Alten“ bilde „ein inneres Strukturmoment“ im Werden des AT selbst und sei als Entwicklung auch innerhalb des NT erkennbar.199 „Eine einseitige Betrachtungsweise der Schrift, die in ihr nur dicta probantia findet, ist angesichts der Problematik einer theologischen Einheit der Schrift und der Vielfalt des urchristlichen Kerygmas sehr fragwürdig geworden.“200 Das gilt dann natürlich analog für den Umgang mit dogmatischen und lehramtlichen Aussagen. In der Interpretation des AT durch die Urgemeinde im NT erkennen die beiden Autoren auch an anderer Stelle201 eine „Möglichkeit des Verständnisses für dogmati195 Lehmann, Die Bildung des Kanons, 60: „Mit dem Prozess der Schriftwerdung und der Normierung gibt es in dialektischer Verschränkung zugleich so etwas wie eine beständige Aufgabe der Entschriftlichung, damit die Schrift nicht bloß zum reinen Buchstaben verkommt.“ Vgl. auch Lengsfeld, P., Tradition und Heilige Schrift – ihr Verhältnis, in: MySal I, 463 – 496, 492 ff. 196 Lehmann, Die Bildung des Kanons, 60. 197 Rahner, K., Heilige Schrift und Theologie, in: Ders., Schriften zur Theologie VI, 111–120, 119. 198 Vgl. Rahner, K./Lehmann, K., Geschichtlichkeit der Vermittlung, in: MySal I, 727–782, hier: 738 –741. 199 Rahner/Lehmann, Geschichtlichkeit, 738. 200 Rahner/Lehmann, Geschichtlichkeit, 739. 201 Vgl. Rahner, K./Lehmann, K., Kerygma und Dogma, in: MySal I, 622–703, 663 f.

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sches Denken im weiteren Sinne“, sodass sich in der Deutung und aktualisierenden Auslegung der Schrift schon „dogmatische“ Spuren dessen zeigen, was später in der Dogmenentwicklung und -auslegung beobachtet werden kann. „Methodisch könnte man völlig legitim von hier aus fragen, warum diese mit dogmatischen Motiven durchsetzte Interpretation der Schrift innerhalb des NT auch noch heute berechtigt sei. Die Antwort müsste dadurch gegeben werden, dass man vom aktuellen Glaubensbewusstsein und der gegenwärtigen Verkündigung der Kirche her die Notwendigkeit einer ‚aktualisierenden‘ Übersetzung der christlichen Botschaft (was die ntl. ‚Schrift‘ ja selbst schon als Notwendigkeit bezeugt) aufzeigt, dass man durch den Aufweis der in einem solchen Übersetzen liegenden Gefahren (der Bevormundung und der Verfälschung des Geoffenbarten) die rechten Kriterien einer Beurteilung solcher Versuche gewinnt, die sich nur ergeben können aus dem Zusammenhang des aktuellen Glaubensbewusstseins mit dem Glauben und der Lehre aller Zeiten und aller Generationen der Kirche und der darin mit der Auslegung des ‚Evangeliums‘ gemachten Erfahrungen. Apostolische Tradition und Lehramt der Kirche sind dann nur Momente dieses kirchlichen Verständnisses des ursprünglichen Wortes überhaupt.“202

Dass hierbei auch der Pluralität, Vielgestaltigkeit und „Variationsbreite“ des Kerygmas eine wesentliche Bedeutung zukommt, wird klar erkannt und mit der Unterscheidung von Schrift und Offenbarung bzw. Evangelium begründet.203 So gibt es schon innerhalb der Hl. Schrift eine Art „Dogmenentwicklung“, eine Entwicklung und Differenzierung verbindender und verbindlicher Glaubensinhalte, im Sinne vertiefender, durchaus pluraler, teilweise traditionskritischer Entfaltung und Übersetzung der geschichtlich bezeugten Selbstoffenbarung Gottes, die in ihrer universalen Offenheit für alle Menschen nicht nur auf den historischen Jesus begrenzt bleibt, sondern sich in der Erfahrung seiner Auferweckung und in der Sendung des Heiligen Geistes fortsetzen wird, auch jenseits des verbindlichen und normativen apostolischen Zeugnisses.204 „Im Entstehen der neutestamentlichen Schriften ereignen sich dogmengeschichtliche Entwicklungsvorgänge. Diese ‚Dogmenentwicklung‘ innerhalb der Schrift ist darum der garantierte Modellfall für Dogmenentwicklung überhaupt.

202

Vgl. Rahner/Lehmann, Kerygma, 664 f. Vgl. Rahner/Lehmann, Kerygma, 665 – 668. Hier zeigt sich zugleich eine hohe Sensibilität für das „Problem der theologischen Einheit der Schrift“ (668 – 676). 204 Vgl. Rahner/Lehmann, Geschichtlichkeit, 740. 203

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Im Grunde ist es erstaunlich, dass die katholische Theologie nicht schon länger diese an sich einfachen Folgerungen […] gezogen hat.“205

Die Entwicklungsdynamik der Glaubens- und Dogmengeschichte kennt keine „Stunde null“, wie Michael Seewald völlig richtig erkannt hat.206 Und zwar deswegen, weil ihr Ursprung in der Selbstmitteilung Gottes gründet, die immer auch das Ziel all ihrer Bemühungen bleibt. Sie beschreitet ihren für uns nicht absehbaren Weg in jenem Geist der Wahrheit, der das geschichtlich eingebundene – inkarnierte – Wort Gottes, das die Schrift vielfältig bezeugt und absichert, immer neu verstehbar werden lässt, indem es in seiner Bedeutung je neu gedeutet, appliziert und entfaltet wird.207 Das menschliche Zeugnis des göttlichen Wortes vermag dieses niemals auszuschöpfen, wenn die Transzendenz Gottes nicht götzenhaft verfügbar gemacht und auf menschliche Deutung fixiert werden soll. Karl Lehmann macht auf dieses Plus der Offenbarung aufmerksam, wenn er schreibt: „Weil die Offenbarung gerade als Ereignis des Gottesgeistes gegenüber ihrem Zeugnisdokument der Schrift eine bleibende Transzendenz behält, gibt es auch den Unterschied von Buchstaben und Geist in der Schrift und ihrem Verständnis.“208

Von daher besteht schon aus offenbarungstheologischen Gründen die permanente Aufgabe der Vergewisserung und Aktualisierung der in der 205 Rahner/Lehmann, Geschichtlichkeit, 740. Die spezifische Theologie und Thematik der Synoptiker z. B. reiche „jeweils tiefer in die Substanz hinein, als in der Regel angenommen wurde. Auch wenn ihre Überlieferungen auf weite Strecken dieselben sind, so ist ihre Botschaft doch theologisch erstaunlich modifiziert. Der in Redaktion und Gestaltung erkennbare Entwicklungsprozess erweist die Verfasser der drei ersten Evangelien nicht nur als Tradenten und Sammler, sondern als relativ selbstständige Deuter der Überlieferung.“ 206 Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 85. 207 Vgl. Lehmann, K., Von der Schriftwerdung des Wortes Gottes. Besinnung rund um das Wort Tradition, in: Eisele, W./Schaefer, C./Weidemann, H-U. (Hg.), Aneignung durch Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum. FS für M. Theobald, Freiburg i. Br. 2013, 509 –523, bes. 516 –519. 208 Lehmann, Die Bildung des Kanons, 58. Darin liege das Mandat der Zeugen: Es bestehe aus „der Bewahrung und der Vergegenwärtigung, der Überlieferung und der Auslegung“ (59). Im Prozess der Schriftwerdung liege eine gewisse „Verbindlichkeit“, durch die das Wort Gottes geschützt werden musste. Durch die Schrift erlangt es eine Autorität und Unabhängigkeit. „Die schriftliche ‚Dokumentation‘ der apostolischen Tradition hat alle weitergehende Tradition begründet und ihr einen Maßstab gegeben. Diese grundlegende Tradition ist prinzipiell nicht mehr veränderbar, wohl aber je neu auszulegen.“

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Schrift zum Ausdruck gebrachten Offenbarungszeugnisse, die nicht mit der Offenbarung identisch sind – weil Gott sich in seiner bleibenden Transzendenz durch sie nicht fixieren und definieren lässt. Das Prinzip der analogen Gottrede (das Bewusstsein für die je größere Unähnlichkeit209 zwischen Theo-Logie und Logos selbst) gilt selbstverständlich auch für die Hl. Schrift210 als Vorbild der Dogmenhermeneutik. Wie die Offenbarung als Prozess der Selbstmitteilung Gottes für uns keinen präzise bestimmbaren Anfangspunkt kennt, so ist auch ihr Ende für uns nicht greifbar.211 Die traditionelle Rede von der materialen „Abgeschlossenheit“ der Offenbarung212 darf darum nicht falsch verstanden werden. Nach Karl Rahner, der dieses Axiom als Dogma wertet, ist der in der Auferstehung vollendete Tod Jesu am Kreuz als der „aufschließende Abschluss der Offenbarung“ zu verstehen, insofern in dieser endgültigen Unüberholbarkeit der irreversiblen Selbstzusage Gottes, die auf Zukunft hin offen bleibt, „die transzendentale und die geschichtliche Dimension des Menschen endgültig und unwiderruflich versöhnt“ werden.213 Die in Christus verdichtete Fülle der Zeit ist darum auch für Wal209

Vgl. DH 806. Vgl. Söding, Der Schatz, 260. „Gerade in ihrer Zerbrechlichkeit, ihrer Schwäche, ihrer Missverständlichkeit ist die Schrift auf menschliche Weise Zeugin des göttlichen Wortes und in aller Schwäche lässt sie die Stärke des Evangeliums zur Wirkung kommen.“ Die inkarnatorische Struktur der Offenbarung kommt hier voll zu tragen. 211 Vgl. Rahner/Lehmann, Geschichtlichkeit, 732–738. 212 Vgl. auch DV 4. 213 Rahner, K., Tod Jesu und Abgeschlossenheit der Offenbarung, in: Ders., Schriften zur Theologie XIII, 159 –171, 169. Entsprechend seien „in der Theologie wenigstens deutlicher, als es üblich ist, Einheit und Kontinuität von (abgeschlossener) Offenbarungsgeschichte und (weitergehender) Glaubensgeschichte herauszuarbeiten“ (161). Man könne sagen (162): „es wird nach Jesus Christus nichts Neues mehr gesagt, nicht obwohl noch vieles zu sagen wäre, sondern weil alles gesagt, ja alles gegeben ist im Sohn der Liebe, in dem Gott und die Welt eins geworden sind. Dann kann man sagen, dass Gott sich geschichtlich greifbar in Jesus Christus der Welt als ihr siegreiches Heil irreversibel zugesagt hat in einer Selbstmitteilung des absoluten Gottes selbst als der absoluten Zukunft der Welt, die sich von Gott her siegreich und irreversibel durchsetzt; dann kann man sagen, dass diese Zusage unüberholbar ist, weil sie die Selbstzusage des absoluten Gottes in sich selbst an die Welt ist. Dann schließt diese Zusage nicht eigentlich ab, sondern auf in eine unendliche Zukunft und ist in diesem Sinne unüberholbar. Die Geschichte bleibt offen in allen ihren Dimensionen, auch der Gnade und der Offenbarung, und bewegt sich nun in ihrer Offenheit innerhalb der geschichtlich erfolgten Zusage eines absoluten Heiles, einer Zusage, die die Ambivalenz der Freiheit der Welt zu Heil und Unheil siegreich von Gott her übergreift.“ Ähnlich Balthasar, H. U. v., Wort, Schrift, Tradition, in: Ders., Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I, Einsiedeln 1960, 11–27, 27. 210

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ter Kasper „nicht zukunftsloses Ende, sondern der endgültige Anfang.“214 Die Offenbarung bzw. Selbsterschließung des lebendigen Gottes und der hörende, antwortende Glaube des persönlich angesprochenen Menschen bilden eine dialogische Struktur, die sich in der Hl. Schrift als Medium der Tradition und als Zeugnis des geschichtlichen Heilsbewusstseins Israels sowie der apostolischen Kirche niederschlägt.215 Doch dieser Dialog geht weiter. Er ist gebunden an die geschichtlich objektivierte und eschatologisch endgültige Selbstoffenbarung Gottes im bezeugten Logos und offen für seine subjektive Selbsterschließung im Pneuma. Daraus folgt für Edward Schillebeeckx eine zweifache Aufgabe, die von der Exegese und der Dogmatik aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen wird. Die biblische Exegese hat gegenüber der kirchlichen Lehre und Dogmatik eine kritische Funktion, indem sie an den – normativen – apostolischen Ursprung erinnert und diesen in seiner his214 Kasper, Tradition als theologisches Erkenntnisprinzip, 530. „Was in ihm einmalig geschehen ist, hat ein für alle Mal Bedeutung (vgl. Röm 6,10; Hebr 10,10 u. ö.). Damit stand die Kirche von Anfang an in der Spannung zwischen der unbedingten Treue zum Ursprung als dem bleibenden Fundament einerseits und der Forderung, allen alles zu werden (vgl. 1 Kor 9,22). Schon innerhalb des Neuen Testaments musste die eine, bleibend normative Botschaft von Jesus Christus in den sich wandelnden Situationen immer wieder neu vergegenwärtigt werden. So ergibt sich ein lebendiges und geschichtliches Verständnis der Kontinuität und Identität der Tradition. Das zeigt schon Jesu eigener Umgang mit der Überlieferung. Jesus stellt sich einerseits klar und eindeutig in die Tradition des Judentums; er erfüllt die Pflichten eines frommen Juden. Auf der anderen Seite ist seine Haltung zur Tradition ausgezeichnet durch eine unerhörte Freiheit und Souveränität.“ Indem Jesus „die Tradition auf ihren Ursprung und ihre Sinnmitte hin übersteigt“, erfülle er sie gerade durch seine Kritik (vgl. 531). Kaspers Rede vom bleibenden Sinnüberschuss der Tradition auch über das NT hinaus (529) sperrt sich allerdings mit seiner nicht konsequent zu Ende gedachten Aussage, Jesus sei „in Person die endgültige Auslegung des Alten Testaments“. Wenn Jesus die „endgültige Tradition“ ist, müsste diese ja an ihr Ende gekommen sein. Offensichtlich ist dies nicht der Fall; die Tradition und Interpretation (immerhin auch die seiner eigenen Person!) gehen ja weiter, auch im Dialog mit dem Judentum. Dass Kreuz und Auferstehung Jesu dabei „Urgrund, Inhalt und Paradigma jeder christlichen Tradition“ sind (531), normativen Rang haben und im Pneuma lebendig wirksam sind, steht außer Frage. Christliche Tradition ist aber nicht nur „memoria Jesu Christi“ (532), weil zur deutenden und sinnvollen Erinnerung Jesu von Anfang der umfassendere, sinnstiftende Traditionsrahmen der Heilsgeschichte Israels dazugehört – und aus diesem Grund im zweieinen Kanon der christlichen Bibel seinen verbindlichen Ausdruck gefunden hat. 215 Vgl. Schillebeeckx, E., Exegese, Dogmatik und Dogmenentwicklung, in: Vorgrimler, H. (Hg.), Exegese und Dogmatik, Mainz 1962, 91–114, bes. 93 – 97.

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torischen Kontextualität in Erinnerung ruft.216 Andererseits sei die Dogmatik „mehr“ als Exegese oder Bibeltheologie, weil das in der Schrift bezeugte und vermittelte Wort Gottes sich an die gesamte Menschheit richtet: „Das Gehörte muss also stets von neuem in Beziehung gebracht werden zu der augenblicklichen geistigen Situation der Menschen, die hier und jetzt das Wort Gottes hören.“217 Das Dogma sei dabei eine andere Form der Aneignung des in der Schrift bezeugten Wortes Gottes. Dessen Aneignung gehöre zum Dogma, ja sei sogar das Dogma selbst. „Die Art und Weise, wie die Offenbarung und die Schrift immer wieder von neuem von dem Geschichte machenden Menschen gehört werden, nennen wir eben Tradition. Diese ist nichts anderes als das bleibende, stets aktuelle, in Gnade vollzogene Hören der Offenbarungswirklichkeit, die in der apostolischen Kirche mit ihrer Schrift ihren konstitutiven Niederschlag gefunden hat.“218 Die Schrift habe insofern einen doppelten Kontext, nämlich „den besonderen biblischen Kontext, der von der Exegese und der Bibeltheologie ergründet wird, und den Kontext jeder Periode der Kirchengeschichte, wir können sagen: den zeitgenössischen Kontext, der vom Dogmatiker erforscht wird und der in Zusammenhang steht mit dem, was man die Dogmenentwicklung nennt.“219 Die Dogmatik hat insofern eine Art Mittlerfunktion zu bewältigen. „Aber das Wort Gottes, das in der Schrift bezeugt ist, ist zum Hören nicht nur an das jüdische Volk und an die frühapostolische Kirche gerichtet, sondern an die Menschen aller Zeiten. Der Exeget versucht zu ergründen, wie dieses Wort Gottes zum jüdischen Volk und zur Urkirche gesprochen und von diesen gehört wurde. Der Dogmatiker dagegen versucht festzustellen, wie dieses selbe Wort, das schon von Israel und der apostolischen Kirche gehört wurde und doch auch an uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts gerichtet ist, von uns unverfälscht gehört werden muss. […] Nochmals: Keine Theologie oder Dogmatik ohne Exegese und Bibeltheologie. Das alttestamentliche und apostolische Hören gehört ja zu der konstitutiven Phase der Offenbarung; deshalb ist es ein §f!pax, ein einmaliges, unwiederholbares Geschehen, welches das gehorsame Hören der nachapostolischen Kirche 216 Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 97: „Die Dogmatik hat nicht nur die Heilige Schrift zur Quelle, sondern in jedem Fall bleibt die Schrift, als das besondere ursprüngliche Archiv des kirchlichen Glaubensbewusstseins, eine unantastbare Norm für jede theologische Tätigkeit, wenn auch die Lesung dieser Schrift in und mit der Kirche, deren Schrift sie ist, geschehen muss. So gesehen impliziert die Dogmatik die christliche Exegese und Bibeltheologie.“ 217 Schillebeeckx, Exegese, 98. 218 Schillebeeckx, Exegese, 98. 219 Schillebeeckx, Exegese, 98.

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bleibend normieren wird. Deshalb hat die Exegese den Ehrenplatz bei der theologischen Glaubensbesinnung. Aber andererseits ist das Sprechen Gottes, trotz des Abschlusses der öffentlichen Offenbarung, noch immer eine aktuelle Wirklichkeit. Die Offenbarung Gottes in Christus ist ja die persönliche Selbstgabe des lebendigen Gottes, der sich innig zu erkennen und zu erfahren gibt in einer persönlichen Gebärde, in der er dem Menschen entgegentritt, indem er ihn zur Lebensgemeinschaft mit sich selbst einlädt.“220

Der persönliche Anruf Gottes werde, wie Schillebeeckx gnadentheologisch fundiert begründet, durch die Glaubensgnade und das innere „Glaubenslicht“ (lumen fidei) bewirkt, das Gottes Wort im Herzen des Menschen ankommen – quasi einleuchten – und seine Rezeption im Akt des Glaubens vollziehen lässt.221 Der Zusammenhang der inspirierten Schrift und der durch denselben Geist im Glauben inspirierten Leser bewirkt nicht nur das Verstehen des bezeugten Wortes Gottes, sondern auch die Offenheit für das Sprechen Gottes in dieser Zeit, eine Öffnung für den lebendigen Geist hinter dem Buchstaben. Die geschichtliche (schriftlich-verbale) Vermittlung des Logos und die innere (Rahner würde sagen: die transzendentale, uns existentiell involvierende) Rezeption im Pneuma bedingen sich gegenseitig und lassen sich darum niemals voneinander trennen.222 Insofern sind kirchliche Tradition und Rezep220

Schillebeeckx, Exegese, 98 f. Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 100. „Im Glauben geht es um eine innere Konfrontation mit dem sich aktuell, hier und jetzt bezeugenden Gott und zugleich um eine ‚Anamnese‘ dessen, was die Heilige Schrift und die Tradition von diesem Sprechen Gottes bezeugen. Im Anschluss an die biblische Lehre von der ‚Salbung des Geistes‘ sprechen, nach dem Vorbild der Kirchenväter, die großen mittelalterlichen Theologen, zum Beispiel Thomas, in demselben Sinne von einem ‚inneren, göttlichen Instinkt, der uns einlädt, zu glauben.‘ Auch frühere Kirchenversammlungen sprechen von einem ‚inneren Drang und einer inneren Erleuchtung‘. […] Schließlich wird durch die Glaubensgnade das Herz jedes Gläubigen für den göttlichen Inhalt und Sinn dieser Offenbarung geöffnet.“ Offenbar wurde diese gnadentheologische Dimension auch auf dem Konzil von Trient reflektiert, wie das Zitat eines Konzilsvaters bei Schillebeeckx zeigt. Das scheint sich mit Joseph Ratzingers Analyse des Tridentinums und dessen Bewusstsein um die Pneumatologie zu decken, wie sich gleich zeigen wird. 222 Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 100 f.: „Getrennt von der öffentlichen Offenbarung sollte die innere Glaubensgnade oder das ‚innere Sprechen Gottes‘ keine Ausdrücklichkeit besitzen und das Wort Gottes nicht gehört werden können. Aber andererseits sollte das Hören der äußeren, öffentlichen Offenbarung ohne das innere Glaubenslicht unmöglich eine wahrhafte Glaubenshingabe an das Wort zuwege bringen können, sollte das Wort Gottes in seinem göttlichen Inhalt nicht vernommen werden. Daraus ergibt sich, dass der Glaube der Kirche durch das historische Geschehen in Israel und im Menschen Jesus, wie dieses in der Schrift bezeugt wird, normiert wird, und zugleich ist die221

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tion zwei Seiten derselben Medaille, wobei die trinitarische Dynamik dahinter wieder deutlich erkennbar wird: Der sich selbst mitteilende Gott (Vater) begegnet in der objektivierten Geschichtlichkeit seines Wortes und in der subjektiv angeeigneten Wirkung seines Geistes.223 Daraus ergibt sich die dynamische Aufgabenbeschreibung einer katholischen – universal offenen – Dogmatik, die sich an der universalen Dynamik des sich selbst offenbarenden Gottes bemessen muss. „Damit ist gesagt, dass die Dogmatik, um das Wort Gottes rein zu hören, zuerst die Schrift, sodann die vergangene Tradition studieren muss. Aber weil dieses selbe Wort Gottes auch zu uns gesprochen wird, wird der Dogmatiker an die Heilige Schrift und an die Tradition Fragen stellen, die der Exeget oder der Historiker nicht stellt.“224

Die Dogmatik setzt insofern die Ergebnisse der Exegese und der Theologiegeschichte voraus und geht, wie Schillebeeckx erkennt, einen Schritt weiter als diese. Denn „normiert durch das, was Israel und die apostolische Kirche vom Wort Gottes gehört haben, versucht der Dogmatiker, das heißt der heute Gläubige, […] sozusagen auf eine neue Weise dieses selbe Wort Gottes nach all seinen inneren Zusammenhängen zu hören und es für seine eigene Zeit zu formulieren. Nichts Neues also, und doch etwas ganz anderes.“225 Hier liege der spezifische Unterschied in der Perspektive (und Methodik) von Exegese und Dogmatik, deren untrennbarer Zusammenhang deutlich zu Tage tritt, „weil das begnadete Hören des Wortes Gottes, der Glaube, die Identität schafft zwischen Schrift und Dogma, zwischen Schrift und Überlieferung, zwischen der Schrift und einer kirchlich normierten Theologie, die nicht ein Überbau, sondern eine Besinnung auf das gehörte Wort Gottes sein will.“226 Die in der vorliegenden Studie vertretene These, dass die Aufgabe der Dogmatik in einer systematisch-theologisch reflektierten Vermittlung von biblischer ser Glaube das Ergebnis der aktuellen Selbstoffenbarung des himmlischen Christus durch dessen Geist in der Kirche.“ 223 Rahner verdeutlicht dies durch vier Doppelaspekte der Selbstmitteilung Gottes: Herkunft – Zukunft; Geschichte – Transzendenz; Angebot – Annahme; Erkenntnis – Liebe. Vgl. Rahner, K., Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: MySal II, 317– 401, 374 –382. Vgl. hierzu Weißer, Der Heilige Horizont, 267–273; Siebenrock, R. A., Urgrund der Heilsgeschichte: Trinitätslehre, in: Batlogg, A./Rulands, P., u. a., Der Denkweg Karl Rahners. Quellen – Entwicklungen – Perspektiven, Mainz 22004, 197–222, 209. 224 Schillebeeckx, Exegese, 101. 225 Schillebeeckx, Exegese, 101. 226 Schillebeeckx, Exegese, 101.

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und praktischer Theologie – Schrift und gegenwärtiger Tradition/Rezeption – liegt, scheint sich hier wiederum zu bestätigen.227 Die „Gegenwartsbezogenheit“228 des Wortes Gottes verfalle, so Schillebeeckx nachdrücklich, nicht einem Zeitgeist und dessen Subjektivismus. Vielmehr sei damit der Tatsache Rechnung getragen, „dass Gott nicht den Menschen schlechthin, eine abstrakte Menschheit anspricht, sondern konkrete, Geschichte machende Menschen: den Menschen der biblischen Zeiten, den patristischen Menschen, den mittelalterlichen Menschen, den modernen Menschen, den heutigen Menschen. Dies relativiert keineswegs das Wort Gottes.“229 Hier greift erneut der scholastische Grundsatz, quod omne quod recipitur in aliquo, recipitur in eo per modum recipientis.230 Der zunächst auf die Schrift und die Tradition hörenden Dogmatik kommt die Aufgabe zu, die „vielen kirchlichen Besinnungen auf das Offenbarungswort, die im Lauf der Kirchengeschichte zum Leben kamen,“ zu entziffern, indem sie „die Aufmerksamkeit auf die heutige Glaubensverkündigung der Kirche und auf die gegenwärtigen Tendenzen der Kirche richtet“ und das Wort Gottes für die jeweilige Zeit, Kultur und Situation so zur Sprache bringt, dass es alle Menschen konkret ansprechen kann.231 Dass sich bei einer solchen konvenienten und adressatensensiblen Verkündigung, die auch das II. Vatikanische Konzil232 und Papst Franziskus233 nachdrücklich einfordern, unter der Führung des Heiligen Geistes neue Horizonte des kirchlichen Sprechens und Handelns auftun können und müssen, liegt in der Rezeptionsdynamik des inkarnierten Wortes Gottes selbst begründet, das seine eigene Wirksamkeit entfaltet.234 Die 227

Siehe oben: Kap. II.2.2. Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 102. Die Dogmatik untersuche dasselbe Wort Gottes, „aber unter dem Gesichtspunkt, wie es die Menschen aller Zeiten anspricht und von ihnen hier und jetzt gehört werden muss. Wir könnten konkret sagen: Wie es uns, die Menschen unserer Zeit, anspricht.“ 229 Schillebeeckx, Exegese, 103. 230 Thomas von Aquin, STh Ia, q. 75, a. 5 co.: „Manifestum est enim quod omne quod recipitur in aliquo, recipitur in eo per modum recipientis.“ 231 Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 103. 232 Vgl. GS 44; AG 22. 233 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 115; 122; 126; vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 755 –769. 234 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 22. Das Wort Gottes trage in sich unvorhersehbare Anlagen, wie ein Samen (vgl. Mk 4,26 –29). Die Kirche müsse die unfassbare Freiheit dieses Wortes akzeptieren, „das auf seine Weise und in sehr verschiedenen Formen 228

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Theologie und insbesondere die Dogmatik darf sich deshalb niemals nur auf historisch-kritische Quellenarbeit reduzieren, sondern sie muss als ergebnisoffene Wissenschaft systematisch innovativ und vielleicht sogar experimentell die neue Synthese von Tradition und Rezeption anstreben – eine Synthese, die dann übrigens auch auf die historisch und quellenbasiert arbeitenden Disziplinen rückwirkt, indem sie deren Ergebnisse als kritisches Korrektiv provoziert oder eben – traditionskritisch – in Form und Inhalt bewusst korrigiert. Man kann nicht behaupten, dass dieses Bewusstsein einer dezidiert theologischen Methodik in allen Teildisziplinen der Theologie immer adäquat reflektiert würde.235 Eine göttliche Tiefendimension des menschlichen Zeugnisses lässt sich jedenfalls nicht durch historisch-kritische Methodik allein ergründen, sie „kann nur gehört werden, wenn die kritische Methode in das Licht des Glaubens aufgenommen wird, das mit dieser Heilswirklichkeit ‚sympathisiert‘.“236 Diese Differenzierung deckt sich mit den Ausführungen von DV 12. Denn eine literarische, historisch-kritische Analyse rekonstruiert den Sinn dessen, was die Hagiographen in ihrem zeitlichen und kulturellen Kontext zu sagen beabsichtigten. Doch für die deutlich schwierigere Frage, „was Gott mit ihren Worten kundtun wollte“ oder will, verweist das Konzil – mit seinem methodischen Instrumentarium gleichsam in „Atemnot“237 – darauf, dass die Texte im selben Geist gele-

wirksam ist, die gewöhnlich unsere Prognosen übertreffen und unsere Schablonen sprengen.“ 235 Vgl. die immer noch aktuelle Feststellung bei Schillebeeckx, Exegese, 104: „Gegen manche Beiträge von Exegeten und Bibeltheologen kann man einwenden, dass diese Autoren ihrem besonderen Auftrag und ihrer Wissenschaftlichkeit gemäß zwar in der richtigen Weise die Überzeugungen und Vorstellungen der biblischen Autoren exakt wiedergeben, aber, vielleicht unbewusst, diese Beschreibung als eine normative Beschreibung gelten lassen, unter Vernachlässigung des kritischen Elementes, das die Dogmatik braucht und das diese nur handhaben kann, wenn sie nicht nur Bibeltheologie ist, sondern Theologie schlechthin, eine Theologie deshalb, die nicht nur (wenn auch an erster Stelle) die Bibel, sondern auch das kirchliche Leben und Denken aus der Bibel im Laufe der Kirchengeschichte zu Rate zieht.“ 236 Schillebeeckx, Exegese, 106. „Die Göttlichkeit dieses Wortes, obwohl es nur in dem Modus eines menschlichen Wortes ausgesprochen wird, begründet gerade den ‚sensus plenior‘ des biblischen ‚sensus litteralis‘, oder besser: Sie ist damit identisch. Und dies erklärt die Notwendigkeit, in jedem Fall den ‚sensus plenior‘ in der Weiterführung des philologisch-literarisch erkannten ‚sensus litteralis‘ zu sehen.“ Vgl. dazu im Folgenden: Kap. III.3.3. 237 Vgl. Lohfink, N., Der weiße Fleck in Dei Verbum, Art. 12, in: TThZ 101 (1992), 20 –35; Dohmen, Libri Veteris Testamenti, 76 – 83.

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sen werden müssten, in dem sie geschrieben wurden, und zwar a) unter Beachtung der Einheit der ganzen Schrift sowie b) unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und c) der Analogie des Glaubens.238 Dabei obliege es „letztlich dem Urteil der Kirche“, die Hl. Schrift für jeweils ihre Zeit auszulegen. Somit ergibt sich für die Kirche ein enormer Spielraum bei der Deutung und Weiterentwicklung ihres Glaubens – auf der Basis des apostolischen Zeugnisses, das in seiner Dynamik für sie aber der kritische Maßstab (regula) für jede Vergewisserung und Aktualisierung des Evangeliums bleibt. Die tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Schrift dank wissenschaftlicher Methodik, die das Urteil der Kirche reifen lässt, korrespondieren in DV 8 mit der pneumatologischen Einsicht, die apostolische Überlieferung mache „unter dem Beistand des Heiligen Geistes“ Fortschritte. Weil das Wort Gottes allein in der fragilen Brechung seines menschlichen Zeugnisses vernehmbar ist (vgl. DV 13), lässt es sich nie statisch auf seine historisch, sozial, kulturell und literarisch kontingente Verbalisierung in den menschlichen Worten fixieren. Die Wahrheit des Logos ist Gottes persönliche Selbstzusage innerhalb einer heilsgeschichtlichen Dynamik und Dramatik. Das kommunikationstheoretische Offenbarungsverständnis, dem das Konzil Rechnung trägt, zielt auf eine durch und für die Rezeptionsgemeinschaft der Kirche zu vermittelnde Offenbarung im Vollzug, die sich an konkrete Hörer/innen des Wortes wendet

238 Vgl. DV 12: „Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, dass man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Exegeten ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam auf Grund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift.“ Vgl. Grillmeier, A., Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung. Kommentar zum III. Kapitel, in: LThK2 XIII/Vaticanum II/2 (1967), 528 –558, 543: „Unter der ‚lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche‘ sind Lehramt und Glaubenssinn aller Gläubigen wie auch besonders die Schriftdeutung der Kirchenväter miteingeschlossen. Dazu wird noch die ‚analogia fidei‘ genannt, die nichts anderes ist als das Bewusstsein von der Einheit der Offenbarung Gottes in ihrer ganzen Geschichte und ihrer Entfaltung in der Kirche.“ Dabei fand der sensus fidei Populi Dei explizit Beachtung in den Konzilsdebatten. Vgl. auch Marschler, T., Analogia fidei. Anmerkungen zu einem Grundprinzip theologischer Schrifthermeneutik, in: ThPh 87 (2/2012), 208 –236. Hinter dem Begriff stehe ein „pneumatologisches Grundprinzip“ (229), das die Einheit von Schrift, Traditionsprozess und Kirche markiert und darin eine vermittelnde Funktion besitzt.

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und um deren Antwort wirbt. Eine Bestimmung des „Sinnes“, den das geschichtlich bezeugte Wort Gottes heute für uns und um unseres Heiles willen haben soll, kann nur pneumatologisch durch Unterscheidung des Heiligen Geistes vom Zeitgeist vergangener Zeiten erfolgen. Es wird später die Frage zu stellen sein, wo und wie der Heilige Geist nach Auffassung der katholischen Kirche konkret wirksam ist, um auch heute als Kriterium der Unterscheidung und Entscheidung helfen zu können. Das pneumatische Plus im Prozess der Überlieferung239 gründet, so bleibt festzuhalten, in einer lebendigen Rezeption der Offenbarung, die nicht mit ihrer Bezeugung durch die Schrift gleichgesetzt werden kann. Die Hl. Schrift dient als Ur-Kunde zur Tradierung der göttlichen Selbsterschließung, die menschlich bezeugt und medial vermittelt wird, aber nicht in der Schrift aufgeht.240 Dabei steht das angesichts des kommunikationstheoretischen Offenbarungsparadigmas wiedergewonnene Verständnis der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes, die potentiell bei allen Hörer/innen des Wortes ankommen soll, wesentlich im Mittelpunkt. Diese insbesondere in der Theologie Karl Rahners begründete Einsicht teilt auch Joseph Ratzinger, für den schon in seiner Habilitationsschrift241 das empfangende Subjekt (d. h. die Gemeinschaft der Kirche) konstitutiv zum Offenbarungsprozess und seiner auf Zukunft hin offenen Geschichte gehört.242

239 Diese Traditio darf als Überlieferungsprozess nicht mit einzelnen traditiones innerhalb der Kirche gleichgesetzt werden. 240 Vgl. Ratzinger, J., Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs, in: Rahner/Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung, 25 – 49, 34 ff.; 44. Vgl. Kasper, Tradition als theologisches Erkenntnisprinzip, 529, der auch auf diesen „Überschuss“ verweist. „Wahre Tradition bindet also, indem sie freisetzt, zur Entscheidung und Unterscheidung herausfordert und so zu Neugestaltungen inspiriert.“ Vgl. auch Kasper, Das Verhältnis, 465. 241 Ratzinger, J., Gesammelte Schriften 2: Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras, hg. v. G. L. Müller, Freiburg i. Br. 2009; vgl. Verweyen, H., Ein unbekannter Ratzinger. Die Habilitationsschrift von 1955 als Schlüssel zu seiner Theologie, Regensburg 2010. 242 Ratzinger, J., Aus meinem Leben. Erinnerungen, München 1998, 84: Offenbarung sei der „Akt, in dem Gott sich zeigt, nicht das objektivierte Ergebnis dieses Aktes. […] Zur Offenbarung gehört vom Begriff selbst her ein Jemand, der ihrer inne wird.“ Vgl. Voderholzer, R., Offenbarung, Schrift und Kirche. Eine relecture von „Dei Verbum“ im Licht vorbereitender und rezipierender Texte Joseph Ratzingers, in: IKaZ 39 (3/2010), 287–303, 293.

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2.3. Tradition nach Joseph Ratzingers Relecture des Konzils von Trient Joseph Ratzinger richtete im zeitlichen Umfeld des II. Vatikanischen Konzils seinen Blick auf die Genese des Traditionsdekrets des Konzils von Trient.243 Dessen Diskussionsverlauf lasse die im Hintergrund stehenden Prinzipien deutlicher zu Tage treten als der Endtext, insofern das besagte Dekret selbst „durch mancherlei Kompromisse undurchsichtiger“ geworden sei.244 Was für den kanonischen Prozess der Hl. Schrift gilt, gilt insofern analog für die Entwicklung eines Konzilstextes, der auch in diesem konkreten Fall auf Diskussion und auf Kompromiss basiert. Trient ringt mit verschiedenen theologischen Perspektiven und kommt zu einem Text, der die Spuren der Kompromisse in sich trägt und neue Rezeptionsmöglichkeiten offen lässt. Man wird dies vielleicht eher als Stärke werten können, schließlich ist Eindeutigkeit auch keine Kategorie der Hl. Schrift, wie wir sehen konnten. Nicht nur die kanonische Einbindung der vorliegenden Konzilstexte in den Gesamtkontext der kirchlichen Lehraussagen, sondern auch eine historisch-kritische Aufarbeitung der Texte und ihrer Schichten ist für das Verständnis von Bedeutung. Das hatte eine bestimmte Form der Rezeption Trients nur zu wenig bedacht. Wenn wir uns in diesem Rahmen der Relecture des Konzils durch Joseph Ratzinger zuwenden, dann deswegen, weil er angesichts einer historischen Rekonstruktion systematische Linien herausgearbeitet hat, die für unseren Zusammenhang entscheidend und immer noch aktuell sind. Die Rezeption von Trient prägt zudem Ratzingers eigenes Verständnis von Schrift, Tradition und Offenbarung, das wiederum seine Auseinandersetzung mit der Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils nachhaltig beeinflusst und angesichts der späteren kirchlichen Stellung Ratzingers rein wirkungsgeschichtlich von großer Bedeutung ist. Folgt man Ratzinger, so arbeitete Kardinal Cervini, dem eine tragende Rolle auf dem Konzil zukommt, drei Prinzipien als Fundamente des Glaubens heraus: a) die Heiligen Bücher (AT), die unter Eingebung 243 Für einen kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischen Zugang, der die innere Verbindung von Kanon und Interpretationsgemeinschaft und damit auch ein entscheidendes Anliegen des Konzils von Trient nachzeichnet, vgl. Huebenthal, S./Handschuh, C., Der Trienter Kanon als kulturelles Gedächtnis, in: Hieke (Hg.), Formen des Kanons, 104 –150. 244 Ratzinger, J., Zur Auslegung des Trienter Traditionsdekrets, in: Rahner/Ratzinger, Offenbarung, 50 – 69, 51.

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des Heiligen Geistes geschrieben worden sind; b) das von Jesus mündlich gelehrte und in die Herzen eingepflanzte Evangelium, das später einerseits niedergeschrieben, andererseits den Herzen der Gläubigen anvertraut wurde und auf beide Weise nach dem AT als dem ersten Prinzip das secundum principium fidei nostrae markiert; c) der Heilige Geist selbst, der auch nach Christus in den Herzen der Gläubigen offenbarend wirksam wird und die Kirche bis ans Ende der Zeit lehrend begleitet.245 Damit ergebe sich die Struktur: Schrift, Evangelium und Pneuma in der Kirche, wobei die Schrift „im eigentlichen Sinn“ zunächst einmal das AT bezeichnet, während „Evangelium“ in diesem Fall bereits einen „pneumatischen Überhang über das Geschriebene“ meint, das mit Christus verbunden ist und später selbst durch Verschriftung und Eingeschriebensein im Herzen gegeben ist, sodass die offenbarende Tätigkeit des Heiligen Geistes in der Kirche die ersten beiden Prinzipien in eine nicht genau absehbare Zukunft hinein fortführt. „Evangelium ist für diese Auffassung etwas anderes als Schrift“ und könne daher auch „nur zum Teil geschrieben werden“.246 Tradition, so folgert Ratzinger nun, sei nach dieser Auffassung nicht ein einzelnes Prinzip als Quelle neben der Schrift. Sie umschreibt vielmehr einen dynamischen und letztlich offenen Prozess. Denn das Evangelium sei „ein immer nur teilweise in Schrift umsetzbares Prinzip“, das mit dem Wirken des Gottesgeistes in der Kirche korrespondiert.247 Auch die neutestamentliche Verschriftung werde nicht als ein Prinzip neben der apostolischen Überlieferung oder im Verbund mit dem AT als geschlossene Schrift verstanden, der man dann nachträglich die Tradition als zweite Größe gegenüberstellen könne: „Vielmehr erscheint der neutestamentliche Ereignis- und Wirklichkeitskomplex zusammen als ein zweifach weitergehendes und doch einiges Prinzip, nämlich als Evangelium, das als solches einerseits dem Alten Testament, andererseits dem spezifischen Geschehen in der nachfolgenden Zeit der Kirche gegenübersteht.“248 Dieser Ereigniskomplex des Evangeliums249 245

Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 51 f. Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 53. 247 Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 53. 248 Ratzinger, Zur Auslegung, 54. 249 Vgl. auch Walter, P., „Quelle“ oder „Steinbruch“? Über den Umgang der Dogmatik mit der Bibel, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 79 –103, 86. Für Trient gilt: „Schrift und Überlieferung sind nicht zwei unterschiedliche Quellen der Offenbarung, sondern zwei Wege, auf denen das eine Evangelium, das als Quelle bezeichnet wird, weitergegeben wird.“ 246

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bilde also eine eigene, innere Einheit, die „augenscheinlich stärker und wichtiger“ sei „als seine Teilung in Geschrieben und Ungeschrieben, so dass es als ein einziges Prinzip unbeschadet dieser zwei Vollzugsformen dem Alten Testament gegenübergestellt werden kann. Die von Paulus und den ersten christlichen Jahrhunderten so entschieden gefühlte Unmöglichkeit, das Neue Testament als Schrift zu bezeichnen, wirkt hier noch deutlich nach.“250 Die soteriologische Erschließung der primären Schrift (AT), die durch Christus das Evangelium als Frohe Botschaft für alle Menschen eröffnet, zeichnet sich auch über die Gegenwart Jesu hinaus durch ihren pneumatischen Überhang aus und setzt sich auch dann fort, wenn dieses Evangelium, selbst verschriftet als NT, zu den Schriften Israels hinzutritt. Das NT ist letztlich selbst zur Schrift gefrorene Schriftauslegung. Die lebendige Auslegung der Schrift durch Jesus Christus mündet in die ebenso lebendige Auslegung seines Evangeliums, das nun gleichfalls verschriftet und in den Herzen der Gläubigen überliefert ist. In diesem Sinne sei ein „Überhang der Wirklichkeit gegenüber dem sie bezeugenden Wort“ ersichtlich, sodass man von einer Real-tradition sprechen müsse.251 Dem Tridentinum stehe eine stark pneumatologisch-präsentische Ausrichtung vor Augen und man könne die Überlieferung von daher „geradezu als die pneumatologische Komponente des Christusgeschehens bezeichnen.“252 Diese Konzeption sei im amtlichen Traditionsdekret „stark gedämpft“, wie Ratzinger betont. „Dass man sie in ihrem Grundbestand aber keineswegs hat fallenlassen“, zeige sich auch im tridentinischen Eucharistiedekret und in den Ausführungen zum Purgatorium.253 Auch im Traditionsdekret selbst lasse sich die Spur der besagten Konzeption nach wie vor finden, auch wenn sie durch Kompromisse im Text abgeschwächt worden sei.254 Aus seiner Analyse der Konzilsdiskussionen schließt Ratzinger, dass die Tradition letztlich als kirchliche Rezeption im Blick ist. Es herrschte ganz offensichtlich ein klares Bewusstsein darü250

Ratzinger, Zur Auslegung, 54. Ratzinger, Zur Auslegung, 54. 252 Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 54 f. 253 Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 55 f. 254 Hier trete die pneumatologische Komponente im Vergleich zum Entwurf Cervinis in den Hintergrund, sodass bereits „ein gewisser Historisierungsprozess“ erkennbar sei, der „die Bindung an den historischen Anfang verstärkt und zugleich den Akzent von der Real- auf die Verbaltradition zu rücken scheint.“ (Ratzinger, Zur Auslegung, 57). 251

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ber, dass „so manches Apostolische abgeschafft wurde, dass andererseits kirchliche Überlieferungen hinzugekommen sind, die nicht fallengelassen werden dürfen.“255 Ratzinger verweist hier auf eine Äußerung Cervinis vom 26.02.1546, „nicht alle Traditionen, die auf die Apostel zurückreichen, seien anzunehmen, sondern nur diejenigen, die ab ecclesia receptae ad nos usque pervenerunt“.256 Diese Formulierung wird das Tridentinum tatsächlich aufgreifen (vgl. DH 1501) und sie lässt in ihrer retrospektiven Pragmatik fast ein wenig die Normativität des Faktischen – nämlich des bis heute durch die Kirche Rezipierten – erkennen, die einerseits nicht sehr traditionskritisch anmutet, andererseits der Kirche enormen Spielraum für Reformen und Veränderungen angesichts ihrer Deutung der Zeichen der Zeit eröffnet, weil ihre (diachron und universalkirchlich betrachtete) Rezeption de facto darüber entscheidet, was als wesentlich gilt und weiter überliefert wird. Das dahinter wirksame Traditionsverständnis sei, so Ratzinger, auch in einem von Girolamo Seripando verfassten Traktat über die Tradition erkennbar. Für Seripando wie auch für viele andere Konzilsväter gebe es einzelne Traditionen in der Schrift, sodass der Begriff „Tradition“ nicht einfach das Ungeschriebene gegenüber dem Geschriebenen bezeichnet, sondern vielmehr einen Befund, der sowohl in wie auch außerhalb der Schrift vorkommt – ein Gedanke, der im finalen Text des Dekrets wohl in der Tat eher verwischt worden ist und in der Rezeption Trients eine einseitige Verlagerung auf material bestimmbare, mündliche Traditionen als eine additive Ergänzung zur Schrift bewirkt hat.257 Auf die Frage, was „Tradition“ positiv bedeute, steht seitens Seripando der Vorschlag im Raum, von den „sanctae et salutares constitutiones“ der Apostel und Heiligen Väter zu sprechen. Ein Augustinus zugeschriebenes Zitat, das diskutiert wurde, verweist darauf, dass alles, was 255

Ratzinger, Zur Auslegung, 58. Ratzinger, Zur Auslegung, 58 f., Anm. 10. Ratzinger sieht darin einen authentischen Kommentar des späteren Konzilstextes, dem es wesentlich auf die receptio ecclesiae ankomme. Ratzinger führt darüber hinaus mehrere Wortmeldungen der Konzilsväter an, die in dieselbe Richtung gehen und verschiedene Differenzierungen vornehmen. So z. B. die des Bischofs von Bertinoro, der darauf hinweist, „dass die geschriebenen Traditionen zum Teil verändert worden seien, dass es unter den ungeschriebenen veränderte und unveränderte gebe […] und dass dazu endlich ganz unveränderliche Dinge kämen […]. Anderes sei im Osten beibehalten, im Westen verändert worden.“ Deutlich erkennbar ist eine theologische Differenzierung und Priorisierung dessen, was rezipiert wird. 257 Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 59 f. 256

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zum Heil notwendig sei, in der Schrift stehe.258 Cervini argumentiert hingegen pneumatologisch. Es gehe ihm um die „Wirklichkeitsweise des Wortes in der christlichen Existenz“259 und damit um die reale Gegenwart des Wortes Gottes im Leben der Menschen. Von daher verbinde sich auf dem Konzil – in Zusammenhang mit der Verfahrensfrage – die Frage nach der Tradition mit dem reformatorischen Anliegen des abusus, des Missbrauchs und missbräuchlicher Tradition, welche die Kirche entstellt. „Das empfanden die Väter deutlich und waren sich bewusst, dass sie, indem sie die Traditionen verteidigten, letztlich den usus ecclesiae verteidigten, die Weise, wie die Kirche konkret ihr Leben vollzog.“260 Das Verständnis der kirchlichen Tradition als lebendige Rezeption der Kirche zielt auf das „Festhalten der Kirche an der […] konkret in der kirchlichen Gegenwart geltenden christlichen Daseinsgestalt, die der Schrift erst den Ort ihrer Wirklichkeit gibt und die als solche, nämlich als das die Schrift überschreitende Lebendige, grundsätzlich apostolisch, in den Einzelheiten freilich wandelbar ist wie alles Lebendige.“261 Die Frage nach dem traditionskritischen Potential und der Autorität der Hl. Schrift gegenüber ihrer missbräuchlichen Auslegung im Leben der Kirche ist damit freilich nicht befriedigend beantwortet. Somit bleibt das eigentliche Problem in der Verhältnisbestimmung von Schrift und Reformierbarkeit pervertierter Tradition letztlich doch offen. Mit dem Jesuiten Claude Lejay rückt schließlich auch in den Vordergrund, dass sich das „Mehr“ der lebendigen Kirche nicht nur auf caeremonialia, sondern auch auf essentialia fidei beziehe, die im Laufe der Überlieferung durch konziliare Praxis (!) zur Entfaltung kommen.262 Nicht nur die gelebte Frömmigkeitspraxis, sondern auch Glaubensfragen und damit die Dogmatik sind also von der Überlieferungsdynamik im Leben der Kirche betroffen. Zusammenfassend ließe sich nach Ratzinger sagen, dass Trient von drei verschiedenen theologischen Ansätzen zum Traditionsverständnis 258 Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 60, Anm. 15. Seripando spiele offenbar darauf an: Omnia, quae pertinent ad veram religionem quaerendam et tenendam, divina Scriptura non tacuit. Auch wenn nicht alles aufgeschrieben worden sei, electa sunt autem, quae scriberentur, quae saluti credentium sufficere videbantur. Hier ist man nahe am Anliegen der Reformation, wie auch Ratzinger sieht. 259 Ratzinger, Zur Auslegung, 61. 260 Ratzinger, Zur Auslegung, 62. 261 Ratzinger, Zur Auslegung, 63. 262 Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 63 f. Dogmatische Termini der Trinitätslehre oder Christologie, die nicht in der Schrift zu finden sind, dienen hier als Beispiel.

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geprägt ist. Cervinis pneumatologische Konzeption lege „den Nachdruck auf den dynamischen Charakter der in der Kirche präsenten Christuswirklichkeit“, während eine zweite, „zeremonielle“ Konzeption eher den Bereich kirchlichen Brauchtums und gebräuchlicher – aber auch missbräuchlicher – Gewohnheiten unter dem Aspekt der Rezeption im Blick habe und eine dritte, „dogmatische“ Konzeption die Erstreckung dieses Phänomens Tradition auch auf zentrale Glaubensfragen in den Blick nimmt.263 Alle drei Perspektiven seien in den Text eingeflossen, wie Ratzinger meint, wobei die Leitlinie von Kardinal Cervini stamme „und der ganze Text auf dem Hintergrund der Idee Cervinis zu verstehen“ sei, während die beiden anderen Konzeptionen dieser „pneuematologischen Sicht Cervinis vom jeweiligen Heilspräsens her eine mehr historisierende, auf die Weitergabe des Einmaligen und so auf das §f!pax bezogene Sicht entgegenstellten.“264 Gerade das Zusammenspiel der drei Sichtweisen bewahre jedoch vor Einseitigkeiten. Das Moment der geschichtlichen Bindung und des pneumatischen Präsens – Vergewisserung und Aktualisierung – sind insofern wesentlich für das tridentinische Verständnis von Überlieferung. Im Hintergrund stehe auch ein Verständnis von Offenbarung, das, nach Ratzingers Deutung, wie noch in der Patristik und im Mittelalter weniger material gefasst sei, sondern darauf zielt, die nicht fertig abgeschlossene, nach vorne hin offene Selbsterschließung Gottes als Offenbarung des Heiligen Geistes im Leben der Kirche zu verstehen.265 „Wir stehen vor einer Auffassung, nach der die Offenbarung zwar ihr §f!pax hat, sofern sie in geschichtlichen Tatsachen vollzogen wurde, aber auch ihr ständiges Heute, sofern das einmal Vollzogene im Glauben der Kirche immerfort lebendig und wirksam bleibt und christlicher Glaube sich nie bloß auf Vergangenes, sondern ebenso auf Gegenwärtiges und auf Kommendes bezieht. Die spätere Historisierung und Materialisierung des Offenbarungsbegriffs ist zwar auf den Debatten von Trient schon deutlich im Kommen, aber doch nicht fertig vollzogene Tatsache“.266

Vier Schichten des Überlieferungsbegriffs leuchten demnach in den Trienter Debatten auf: 1) das Eingeschriebensein der Offenbarung als Evangelium in den Herzen der Gläubigen neben der Bezeugung in der Schrift; 2) das Sprechen des Heiligen Geistes in der jeweiligen kirchlichen Gegen263 264 265 266

Ratzinger, Zur Auslegung, 65. Ratzinger, Zur Auslegung, 65 f. Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 67. Ratzinger, Zur Auslegung, 67.

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wart; 3) die konziliare Aktivität der Kirche, die von Dialog lebt; 4) die Überlieferung im Gottesdienst und im gesamten Lebensvollzug der Kirche.267 Vergangenheit und Gegenwart der Überlieferung sind so in einer dynamischen Rezeptionsgeschichte miteinander verbunden – und in ihrer offenen Dynamik an die Schrift gebunden. Unabhängig davon, ob man Ratzingers Lesart des Konzils von Trient im Detail teilt oder nicht, die pneumatologische Denkstruktur als dynamisierender „Überhang“ der Hl. Schrift auf das Leben der kirchlichen Gegenwart hin scheint für das Denken des Tridentinums unbestreitbar. Die lebendige Rezeption der Glaubensgemeinschaft gründet in einem pneumatischen Plus der Offenbarung Gottes, die sich nicht auf den Buchstaben fixieren und zwischen zwei Buchdeckel binden lässt. Wie genau korreliert dieser Prozess dann aber mit der Hl. Schrift? Obwohl in Ratzingers „Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs“ die Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Bund (auch zeit- und forschungsgeschichtlich bedingt) teils noch auf problematische Weise vorgenommen wird (beides wird verkürzt als „gramma“ und „pneuma“ kontrastiert), erkennt Ratzinger ein verbindendes Rezeptionsmuster, insofern auch mit der neu entstandenen Schrift des NT eine über den Kanon hinausführende pneumatologische Offenheit des Überlieferungsprozesses gegeben bleibt, die sich in der kirchlichen Schriftauslegung weiter fortsetzt.268 Die flüssige Offenheit der Schriften Israels war, wie wir zei267

Vgl. Ratzinger, Zur Auslegung, 68. Vgl. Ratzinger, Ein Versuch, 37 f.; 44. Ob das Selbstverständnis des Alten Bundes damit richtig getroffen sei, lässt Ratzinger hier bewusst offen; es geht ihm prinzipiell um das Verhältnis Schrift – Überlieferung und damit um eine Schrifthermeneutik, die AT und NT gleichermaßen erfasst und von Christus her pneumatologisch auf Gott selbst hin dynamisiert wird. Auch der Alte Bund sei „sicherlich nicht von Anfang an in dem Sinn Bund des Gramma, der selbstmächtig geltenden Schrift […], wie er in der Darstellung des heiligen Paulus erscheint. Andererseits meldet sich von Jeremias und Deutero-Jesaja an wirklich die Sehnsucht nach Überschreitung des Gramma in einer neuen Unmittelbarkeit des Gottesgeistes an, wohl gleichzeitig mit der immer stärkeren Ausbildung eines Schriftprinzips, das Schrift mehr und mehr zum Gesetz werden ließ, welches den Menschen nicht lebendig macht, sondern tötet.“ (38) Wenn in Gestalt des NT die (auch vorher) lebendige Schriftauslegung der Schrift (Israels) in Christus nun selbst ebenfalls Schrift geworden ist, so habe dies keinen abschließenden und ausschließenden Sinn. Vielmehr sei diese Schrift selbst das „Werkzeug der Eröffnung des Alten in den offenen Raum des Christusgeschehens hinein. Sie ist gleichsam der stehengebliebene Vorgang der neuen Auslegung der Schrift von Christus her. Auf jeden Fall trägt sie keinerlei Willen zur Selbstständigkeit, zur Abschließung in die Buchstabenexegese hinein in sich, sondern kann nur bestehen innerhalb der Geistwirklichkeit Jesu Christi, 268

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gen konnten, sogar konstitutiv für produktive Fortschreibung und geradezu ein Charakteristikum des AT, sodass das Klischee eines starren, am Buchstaben haftenden Gesetzes eher eine nachträgliche, kontrastive Deutung angesichts der Ablehnung einer bestimmten Schrifthermeneutik ist. Die theofinale Dynamik und rezeptionsgeschichtliche Offenheit, die wir innerhalb des AT269 belegen konnten, gilt aber nach Ansicht Ratzingers – fortan verankert im Christusereignis – analog für das NT, denn die Aneignung der Selbstoffenbarung Gottes im Glauben der Rezeptionsgemeinschaft setzt sich, gebunden an das schriftlich objektivierte Glaubensbewusstsein der apostolischen Kirche, mit anderen Mitteln und in anderen Kontexten fort. Diese nach vorne hin offene Auslegung des Überlieferten durch neue Rezeption und theologische Entscheidung zeigt sich bereits innerhalb des NT durch einen Prozess der pragmatischen Neuinterpretation und Aktualisierung. Die Existenz der Kirche selbst entspringt sogar diesem Befund.270 Die Theologie des NT setzt damit „die innere Strukturform des Alten Testaments fort“, die in Um- und Neuinterpretationen „lebt und wächst“.271 Daraus ergibt sich also eine parallele Struktur, die es erlaubt, die offene Rezeptionsdynamik von AT und NT analog zu vergleichen272 und die es von daher verbietet, AT und NT nur als offene Verheißung und abgeschlossene Erfüllung kontrastiv gegenüberzustellen.273

der […] durch den [Heiligen] Geist den Jüngern eröffnet, was sie einst noch nicht tragen konnten, als der Herr noch sichtbar unter ihnen weilte (Joh 16,12 f.).“ 269 Ratzinger (Ein Versuch, 42) erkennt das immerhin: „Das Phänomen des Weiterwachsens von Texten in neuen Situationen, des Weiterwachsens der Offenbarung durch Neuauslegung des Alten strukturiert schon das Innere des Alten Testaments selber ganz wesentlich.“ Darum beginnt der „Anfang aller Überlieferung“ (45) aber nicht erst mit Christus, wie Ratzinger meint, sondern mit der Heilsgeschichte Israels, in dessen Tradition Jesus selbst steht. Die Eröffnung des NT durch die Genealogie bei Mt ist der beste Beweis dafür. 270 Vgl. Ratzinger, Ein Versuch, 41. 271 Ratzinger, Ein Versuch, 43. Vgl. aus exegetischer Sicht: Dohmen, C., Gottes Spur nachgehen … Offenbarung in der Wirkungsgeschichte biblischer Texte?, in: Krüger, F. (Hg.), Gottes Offenbarung in der Welt. FS für G. Pöhlmann, Gütersloh 1998, 260 –274. 272 Vgl. Ratzinger, Ein Versuch, 43. Auch die Theologie des NT „ist übrigens durch das gleiche Anwachsen, durch das Neuverstehen von Altem in neuer Situation gekennzeichnet und strukturiert.“ 273 Diese Verhältnisbestimmung bleibt bei Ratzinger inkonsequent. Vgl. Wiedenhofer, S., Die Theologie Joseph Ratzingers/Papst Benedikts XVI. Ein Blick auf das Ganze (Ratzinger-Studien 10), Regensburg 2016, 430 f.

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Ratzinger unterscheidet angesichts eines strukturell ähnlichen Rezeptionsmusters zwischen: a) der alttestamentlichen Theologie des AT

c) der neutestamentlichen Theologie des NT

b) der neutestamentlichen Theologie des AT [als dessen Rezeption und Neuauslegung]

d) der kirchlichen Theologie des NT [als dessen Rezeption und Neuauslegung], die er konkret als Dogmatik bezeichnet.274

Wollte man das analoge Verhältnis gegenüberstellen, so gilt hier: a:b entspricht c:d. Spätestens im letzten Punkt zeigt sich jedoch, dass das Alte Testament in seiner spezifischen theologischen Eigenbedeutung und in seinem dogmatischen Wert für diese verkürzte und eher unsachgemäße Definition von Dogmatik nicht mehr im Blick ist. Das AT wird hier faktisch nur noch gefiltert durch die Brille des NT rezipiert und theologisch in seiner spezifischen Substanz unterlaufen, da es kein hermeneutisches (oder traditionskritisches) Element für das Verständnis des NT mehr bilden kann. Es ist an und für sich selbst nur noch für den Historiker interessant. Unterlaufen wird damit nicht nur der aktuelle Stand des jüdisch-christlichen Dialogs, sondern auch der Standard heutiger Bibelhermeneutik (so auch die von Ratzinger später favorisierte kanonische Exegese), was man jedoch diesem Text von 1965 nur bedingt zum Vorwurf machen kann.275 Die eigentliche Intention Ratzingers, die er mit dieser Strukturparallele aber aufzeigen wollte, zielt auf „das eigentümliche ‚Mehr‘, das demnach die Dogmatik von der biblischen Theologie unterscheidet“ und das er „in 274

Ratzinger, Ein Versuch, 40 – 44. Weil die Dogmatik als Wissenschaft immer auch die Privattheologie einzelner Theologen einschließe, „könnte man in einem präzisen Sinn wohl nur das Dogma selbst als die kirchliche Theologie des Neuen Testaments bezeichnen.“ (44) Hier findet bereits eine Einschränkung auf verbindliche Lehre statt, die kirchliche Theologie (als Rezeption des NT) faktisch auf lehramtliche Entscheidung zu reduzieren droht. 275 Insofern eine solche auf das NT konzentrierte, exklusiv christozentrische Hermeneutik aber teilweise heute noch der Vereindeutigung, Vereinnahmung oder Vernachlässigung des AT dient, zeigt sich hier eine Problematik, die in der Dogmatik noch immer vorherrscht. Ratzinger selbst sieht in seinen Ausführungen aber nur „einen rohen Entwurf, der im einzelnen mancher Verdeutlichungen und Unterscheidungen bedürfte, um als exakt gelten zu können.“ (44) Diese vorsichtige und selbstkritische Einschätzung ist aus heutiger Sicht in der Tat korrekt.

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einem präzisen Sinn“ als Prozess der Tradition bzw. Rezeption durch die Glaubensgemeinschaft verstanden wissen will.276 Die über die Theologie des jeweiligen Schriftkorpus hinausgreifende, d. h. sie transzendierende Theologie der entsprechenden Rezeptionsphase sei dabei nichts rein Äußerliches, aber auch nicht mit der Theologie der jeweils zugrunde gelegten Schrift identisch. Es ist eine theologische Innovation – und zwar durch eine legitime Neuauslegung und aktive Weiterverarbeitung. Diese geschieht nicht nur innerbiblisch oder zwischen AT und NT, sondern sie setzt sich zwischen biblischem Kanon und Dogmengeschichte fort, weil der offene Traditions-/Rezeptionsprozess im Dialog mit neuen geschichtlichen und kulturellen Herausforderungen zur Vergewisserung und Aktualisierung der Theologie führen muss, um das Wort Gottes adäquat in neue Kontexte zu übersetzen.277 Dieser Übersetzungsprozess geschieht durch eine Unterscheidung der Geister, die sich schließlich in einer souveränen Entscheidung der rezipierenden und interpretierenden Glaubensgemeinschaft artikuliert. Dieser Prozess selbst reicht zurück bis in den Kanon hinein und setzt seine Rezeptionsmuster – mit anderen Mitteln und normiert durch die Hermeneutik Jesu Christi – jenseits des Kanons aktiv fort. An dieser Stelle verweist der spätere Papst Benedikt XVI. darauf, die lebendige Überlieferung habe „ihr Organ in der Vollmacht der Kirche bzw. in denen, die in ihr Vollmacht haben.“278 Der kleine Zusatz ist bereits eine Einschränkung, die nicht mehr die Kirche insgesamt, sondern vor allem das Lehramt im Blick hat. Dem personalen Dienst der Amtsträger als authentischen, christologisch fundierten Zeugen der Wahrheit kommt im Sinne der apostolischen Nachfolge viel Gewicht in der Ekklesiologie Ratzingers zu.279 Dies darf aber nicht die pneumatologische Dimension und Verantwortung der gesamten Kirche im Traditionsprozess überlagern. 276

Ratzinger, Ein Versuch, 43. Vgl. Frevel, Vom Pathos, 50. Der lebendige Traditionsstrom, den die innerbiblische Schriftauslegung offenlegt, bedinge auch eine „Autorisierung“ der Tradition, die als Innovation zu verstehen ist: Dieser „diskursive Prozess“ zwischen Alt und Neu lebt von einer lebendigen Dynamik, die durch die Kanonisierung nicht zum erliegen kommt. 278 Ratzinger, Ein Versuch, 46. 279 Vgl. Naburhaca, D. M., Sacrement du salut dans l’horizon de la vérité. Jalons d’une élaboration systématique de l’ecclésiologie de Joseph Ratzinger, Sankt Ottilien 2019; Wiedenhofer, Die Theologie, 603 – 617; Wiedenhofer, S., Grundzüge des Kirchenverständnisses von Joseph Ratzinger, in: Schaller, C. (Hg.), Kirche – Sakrament und Gemeinschaft. Zu Ekklesiologie und Ökumene bei Joseph Ratzinger (RatzingerStudien 4), Regensburg 2011, 118 –152. 277

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Die Kompetenz und Vollmacht zur Vergegenwärtigung und Aktualisierung des Wortes Gottes als lebendiger und universal gültiger Heilszusage für je neue Zeiten und Kontexte ist nämlich an die hörende und das Gehörte auslegende Glaubensgemeinschaft gebunden, welche die Bibel mehr sein lässt als ein heterogenes Werk der Weltliteratur. Sie lässt Gottes Wort immer wieder neu erklingen, indem sie es durch ihre aktualisierende Verkündigung anders zur Sprache bringt und in pastorales Handeln übersetzt. Indem sie sich selbstkritisch der Schrift vergewissert und diese auf neue Situationen hin transzendiert, partizipiert die Kirche als eine Gemeinschaft des Glaubens am Vollmachtsanspruch Jesu, die überlieferte und in der Heilsgeschichte vielstimmig objektivierte Selbstzusage Gottes durch persönliches Zeugnis und im Dienst tätiger Nächstenliebe soteriologisch auszulegen, sodass das Wort Gottes nicht nur Text der Vergangenheit ist, sondern eine Gabe und Aufgabe für die zu bewältigende Gegenwart. Im Sinne280 Jesu Christi erschließt die Kirche darum – legitimiert durch die Hermeneutik des Messias – wahrhaft Neues, das sich dadurch als von Gott gewollt ausweisen lassen muss, dass es dem Leben und Heil der Menschen, der spürbaren Beziehung zur allein tragfähigen Liebe – Gott – zu dienen vermag. Diese Interpretationskompetenz der mündigen Kirche zur neuen Auslegung des überlieferten Glaubens, der im sakramentalen Leben der kirchlichen Gemeinschaft seinen Sitz hat, lässt sich darum auch nicht kleinreden, wenn es heißt, die Kirche habe „in keiner Weise die Vollmacht“ die konkrete Ausgestaltung ihrer Lehre zu verändern.281 Die Überlieferung entsprechend zu adaptieren und kritisch zu revidieren, obliegt der Kirche als dem „Zeichen und

280 Vgl. 1 Kor 2,16, wo die Lutherbibel präzise vom „Sinn“ spricht, die Einheitsübersetzung vom „Geist“. 281 So z. B. die Argumentation in Ordinatio Sacerdotalis (DH 4983). Analog im Responsum della Congregazione per la Dottrina della Fede ad un dubium circa la benedizione delle unioni di persone dello stesso sesso (15.3.2021: https://press.vatican.va/ content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2021/03/15/0157/00330.html#ted). Hingegen war für Pius XII. noch allgemein bekannt, „dass die Kirche, was sie festgelegt hat, auch verändern und abschaffen kann.“ (DH 3858) Und zwar sogar im dogmatischen Kernbereich von Form und Materie eines Sakraments. Das ist kein Freibrief zur Willkür. Doch die Entscheidung, was wesentlich zur Substanz eines Sakramentes gehört und was als akzidentiell erachtet wird, bleibt theo-logisch zu begründen und duldet, wie sich bei Pius XII. zeigt, eine gewisse Beweglichkeit in der Anwendung durch die Kirche. Vgl. Seewald, Reform, 80 – 86; aus kirchenrechtlicher Sicht: can. 841 CIC, wo die Vollmacht der Kirche und ihre Autorität betont wird.

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Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Joseph Ratzinger hatte das scharfsinnig erkannt. Zur Kirche gehöre wesentlich die „Vollmacht der Entscheidung, das Dogma; sie tritt überhaupt erst durch den Glauben an diese Vollmacht in Existenz.“282 Diese Vollmacht ist jedoch kein Freibrief. Darum betonte Ratzinger später283 in seiner Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation die Bindung dieser Vollmacht der Kirche an das Wort Gottes – das aber doch wiederum von der Kirche (bzw. dem Lehramt) verbindlich ausgelegt wird. Ratzinger kann diesem Zirkel nicht entkommen und löst ihn subjektiv je nach Bedarf je anders auf. Am Ende steht dann meist der „Gehorsam“ gegenüber der Auslegung des Lehramtes, das in der Rezeption plötzlich in einem Atemzug mit dem „Willen des Schöpfers“ genannt wird.284 Die Überlieferung der göttlichen Selbstkommunikation, die in der Hl. Schrift bezeugt wird, realisiert sich „in der Vollmacht der Kirche“ – bzw., und hier ist eben ein neuralgischer Punkt erreicht, „in denen, die in ihr Vollmacht haben“. Trotz sehr vorsichtiger Einschränkungen285 des zukünftigen Bischofs von Rom wird diese ekklesiologische Prämisse zur folgenschweren Hypothek für seinen pneumatologischen Ansatz. So gilt es auf die Tragweite des Zusatzes hinzuweisen, die lebendige Überlieferung habe ihr Organ in denen, die in der Kirche Vollmacht haben. Die pneumatologisch motivierten, offenbarungstheologisch plausiblen Folgerungen Ratzingers zur Überlieferungsdynamik, die im Sinne Jesu der Kirche anvertraut ist, stehen nämlich in einer nicht wirklich aufgelösten Spannung zu seiner Antwort auf die Frage, wer das hörende und rezipierende Subjekt des Offenbarungsempfangs denn nun konkret sei. Vgl. Ratzinger, J., Kirche. III. Systematisch, in: LThK2 6, 173 –183, 177. Vgl. Ratzinger, J., Grenzen kirchlicher Vollmacht. Einführung zum Apostolischen Schreiben „Ordinatio Sacerdotalis“ (1994), in: Ders., Gesammelte Schriften 12: Künder des Wortes und Diener eurer Freude. Theologie und Spiritualität des Weihesakramentes, Freiburg i. Br. 2010, 139 –153. 284 Vgl. Weimann, R., Dogma und Fortschritt bei Joseph Ratzinger. Prinzipien der Kontinuität, Paderborn 2012, 271 f. 285 Der Gedankengang könne, so Ratzinger, Ein Versuch, 46, Anm. 24, in diesem Kontext „nicht mehr – wie es eigentlich nötig wäre – näher entfaltet werden.“ Seine thematische Darstellung beschränke sich auf eine Entfaltung bis zu der Stelle, „an der sichtbar wird, dass Überlieferung mit ‚Kirche‘ zu tun hat […]. Was das näherhin heißt, könnte nur durch eine Analyse des Kirchenbegriffs weiter erhellt werden“. In der Tat müsste hier die Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils deutlich mehr Beachtung finden. 282 283

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Die Kirche gründet als Gemeinschaft, wie schon Paulus bewusst war, in vielen lebendigen Gliedern getaufter und geisterfüllter Rezipientinnen und Rezipienten. Für Ratzinger liegt die Deutungshoheit darüber, was Gott uns heute zu sagen hat, in jedem Fall bei der Kirche – die dann mit der Amtskirche identifiziert wird. Damit wird das bislang plausible, dynamische und dialogische Traditionsverständnis Ratzingers zum Opfer einer amtstheologisch verengten Ekklesiologie. Für Ratzinger bedeutet Tradition ja wesentlich Vergegenwärtigung der göttlichen Selbstoffenbarung durch die Rezeption und Auslegung der Hl. Schrift als geschichtlich bezeugtes Wort Gottes in der und für die Glaubensgemeinschaft der Kirche.286 Die Schrift lebt als solche stets in der lebendigen Aneignung durch die geisterfüllte Kirche.287 „Überlieferung ist für Ratzinger der vom Heiligen Geist ermöglichte und getragene Prozess der je neuen Aneignung und des vertieften Verstehens des in der Schrift bezeugten Offenbarungsgeschehens im Glaubensbewusstsein der Kirche.“288

Die Kirche ist demnach immer als Ganze engagiert und in der aktiven Rezeption der Schrift die Traditionsgemeinschaft des Glaubens, in der die Schrift als Heilige Schrift lebendig bleibt.289 Die Konsequenz daraus lautet: Die Kirche ist als communio und als Volk Gottes das „Subjekt“ der Tradition bzw. Rezeption im Heiligen Geist, wie das II. Vaticanum mit Blick auf den sensus fidelium deutlich macht. Ratzinger selbst hat in einem Interview darauf hingewiesen, dass es darin sogar einen Konsens zwischen ihm und der Befreiungstheologie (!) gebe. Denn die Bibel sei vom Volk Gottes geschrieben und insofern die einzelnen Autoren inspi-

286

Vgl. Wiedenhofer, Die Theologie, 118 f.; 191 f.; 198; 218. Ratzinger, J., Bemerkungen zum Schema „De fontibus revelationis“, in: Ders., Gesammelte Schriften 7/1: Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils. Formulierung – Vermittlung – Deutung, hg. v. G. L. Müller, Freiburg i. Br. 2012, 157–174, 162, verweist auf „dieses lebendige Ringen im Heiligen Geist, das ist der Vorgang des ‚tradere‘, das ist das über die Schrift und ihren Buchstaben hinausgreifende Plus der Tradition, nicht aber ein fertiger material zu tradierender Satz.“ 288 Voderholzer, Eine relecture, 291. Vgl. Weimann, Dogma, 141–144. 289 Vgl. Ratzinger, J., Perspektiven der Priesterausbildung heute, in: Ratzinger, J./ Scheele, P.-W., Unser Auftrag. Besinnung auf den priesterlichen Dienst, Würzburg 1990, 11–38, 28: „Den Kanon annehmen heißt immer schon, das Wort Gottes über seinen bloßen Augenblick hinaus zu lesen; es heißt, das Volk Gottes als den bleibenden Träger und Autor in den Autoren zu vernehmen.“ Zitiert nach: Voderholzer, Offenbarung, 102 f. 287

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riert seien, spreche durch sie das „Subjekt Kirche“, durch das wiederum Gott zu den Menschen rede: „Um die rein historischen, wissenschaftlichen Dinge auszulegen, braucht es natürlich die Gelehrten, die Spezialisten. Den eigentlich entscheidenden Sinn der Bibel aber begreift gerade auch der einfache Gläubige. Sie ist wirklich allen gegeben und auf ihre Weise auch allen verständlich. Der hl. Augustinus hat einmal ein sehr schönes Wort gesagt: Aus dem Bach, aus der Quelle trinkt der kleine Hase und trinkt der große Wildesel, und jeder kriegt seinen Durst gestillt. Und so ist es wirklich, dass Hase wie Wildesel trinken und jeder bekommt für seinen Durst das richtige.“290

Das hätte Luther kaum anders und besser formuliert. Denn die Hl. Schrift und ihre Rezeption sind so schon von ihrer Genese her demokratisiert; die Schrift ist in das Volk Gottes (zu dem ja auch Israel zählt) eingebettet, sodass die Rezeption und Auslegung eines Esels (der hier nun offenbar für das kirchliche Lehramt und die Theologie steht?) keineswegs mehr wert ist als die Lesart von einfachen Gläubigen. Ratzinger sieht also einerseits den lebendigen Glauben der Kirche „als den eigentlichen hermeneutischen Schlüssel“ der Schrift in ihrer Einheit und Ganzheit; er relativiert diese Sicht dann jedoch wieder dadurch, „dass der Kirche in ihren amtlichen Organen das entscheidende Wort in der Schriftauslegung zukommt.“291 Entscheidung bedeutet allerdings nicht alleinige Vollmacht und Auslegungskompetenz.292 Die Privilegierung einiger weniger Amtsträger als allein kompetente Empfänger und Ausleger der in der Schrift bezeugten und überlieferten Offenbarung und somit als „Organ“ der Tradition wäre wohl in der Tat ein fataler Subjektivismus – eine Gefahr, die offenbar der Gutachter der Habilitation Ratzingers, Michael Schmaus, in anderer Weise befürchtet hatte. Denn er monierte – nach Angaben Ratzingers293 – einen „gefährlichen Modernismus, der auf die Subjektivierung des Offenbarungsbegriffes hinauslaufen müsse.“ Die entscheidende Frage lautet hier allerdings: Verliert das objektivierte und schriftlich materialisierte Zeugnis (als Überlieferungsmedium göttlicher Offenbarung) in einem – auch bib290 Ratzinger, J./Benedikt XVI., Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, München 2013, 168. 291 Ratzinger, J., Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Weg der Exegese heute, in: Ratzinger, J. (Hg.), Schriftauslegung im Widerstreit (QD 117), Freiburg i. Br. 1989, 15 – 44, 20. 292 Vgl. Hoping, Theologischer Kommentar, 764. „Damit ist kein Interpretationsmonopol gemeint.“ 293 Ratzinger, Aus meinem Leben, 84.

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lisch begründbaren – dialogischen Offenbarungsverständnis, das sich seit dem II. Vaticanum durchsetzt, wirklich an Gewicht?294 Wird es in seiner normativen Geltung für den Glauben relativiert, wenn es in der notwendigen Rezeption durch die Kirche immer ad modum recipientis angeeignet und ausgelegt wird? Diesen Vorwurf wird man Ratzinger (vor allem retrospektiv) jedenfalls nicht machen dürfen. Immerhin erfährt die objektive Norm der Schrift eine signifikante Aufwertung durch das auf dem Konzil wiedergewonnene Offenbarungsverständnis. Notwendig und erlaubt bleibt aber dennoch die kritische Rückfrage, wer ihre Deutung anhand welcher Kriterien kompetent vornehmen soll. Wer ist das „Subjekt“ Kirche? Nicht die Gefahr des Modernismus, sondern die einer subjektiven Rezeption im Namen der Kirche, die eine allgemeine Gültigkeit beansprucht, steht dann zur Debatte. Denn plötzlich ist es ja nur die „Kirche in ihren amtlichen Organen“, die über die Tradition als rechte Schriftauslegung befindet. Das geht deutlich über das Konzil von Trient hinaus, denn dort war es noch – neutral – die „Mutter Kirche“.295 Die spätere Gleichsetzung mit dem Lehramt ist aber durchaus fragwürdig. In diesem Zusammenhang sieht Rudolf Voderholzer mit der Kirche „immer schon die konkrete Gestalt der Kirche mit ihrem Lehramt mitgesetzt.“296 Das wird wohl nur bedingt den kirchenhistorischen Tatsachen entsprechen, weil „die konkrete Gestalt“ der Kirche, wie wir sie heute kennen, eben nicht „immer schon“ gesetzt, sondern selbst schon das Produkt eines Rezeptionsprozesses ist297 – unabhängig von der Frage, ob dies im Nachhinein eine theologisch begründete oder gar notwendige Entwicklung gewesen sein mag. Will man aber betonen, es obliege dem Lehramt, die Auslegung der Schrift in jenem Geist zu gewährleisten, aus dem sie hervorgegangen ist, so ist dies insofern richtig, als das Lehramt für das apostolische Zeugnis und den Auslegungsprozess im Geiste Jesu 294 Zu der immer noch aktuellen Spannung in der Offenbarungstheologie vgl. Lerch, M., Offenbarung und Freiheit. Theologische Kontexte, systematische Struktur und säkularisierungsbezogene Herausforderungen des Modells von Thomas Pröpper, in: Dahlke, B./Irlenborn, B. (Hg.), Zwischen Subjektivität und Offenbarung. Gegenwärtige Ansätze systematischer Theologie (Kirche in Zeiten der Veränderung 6), Freiburg i. Br. 2021, 70 – 94. 295 DH 1507: sancta mater Ecclesia, cuius est iudicare de vero sensu et interpretatione Scripturarum sanctarum. 296 Voderholzer, Offenbarung, 76. 297 Vgl. Merkt, A., Bischof, Pfarrgemeinderäte und Zölibat. Aktuelle Reformthemen in der antiken Kirche, in: Merkt, A./Wassilowsky, G./Wurst, G. (Hg.), Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven (QD 260), Freiburg i. Br. 2014, 12–50.

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die persönliche Letztverantwortung trägt. Es muss das lebendige Wort Gottes verkünden, in Streitfragen entscheiden und auch die Kontinuität der Überlieferung in der apostolischen Nachfolge stellvertretend verbürgen.298 Es übt, wie wir noch sehen werden, ein Wächteramt aus.299 Das ändert jedoch nichts daran, dass die primäre Trägerin des Heiligen Geistes und des Offenbarungsprozesses, wenn man der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils folgt, nicht das kirchliche Lehramt, sondern das gesamte Volk Gottes ist. Jede vorschnelle, auch nur im Ansatz suggerierte Gleichsetzung von kirchlicher „Vollmacht“ und der Autorität des Lehramts wäre hinsichtlich des Traditionsgeschehens also eine ekklesiologische und pneumatologische Verkürzung, weil alle Glieder der Kirche an der Rezeption des Wortes und am Ringen um seine Be-Deutung für die eigene Zeit und Region aktiv beteiligt sind und die Amtsträger nicht automatisch den realen Glauben ihrer Gemeinde abbilden. Den Gläubigen selbst kommt sogar eine tragende Rolle im Traditionsgeschehen zu, wie z. B. Hilarius angesichts der arianischen Krise erkannt hatte: „Die Ohren der Gläubigen sind heiliger als das Herz der Bischöfe.“300 Wie in der Kirchengeschichte immer wieder deutlich werde, so Yves Congar, erweise sich der „Widerhall“ der Laien gegenüber dem Lehramt als „lebendiger Träger“ der Tradition und dabei sei es „unmöglich, dass er als ein solcher nichts Eigenständiges beiträgt.“301 Die Rezeption ist nicht nur ein passives Geschehen, sondern „ein aktiver und schöpferischer Prozess“, der an eine Rezeptionsgemeinschaft gebunden ist und 298 Vgl. Ratzinger, J., Primat, Episkopat und successio apostolica, in: Rahner, K./Ratzinger, J., Episkopat und Primat (QD 11), Freiburg i. Br. 1961, 37–59, hier: 45 –52. Ratzinger prägt dort die Formel: „Die Nachfolge ist die Gestalt der Überlieferung, die Überlieferung ist der Gehalt der Nachfolge.“ (49) Zu diesem Zeitpunkt kann aber das Dekret des II. Vaticanums über das Laienapostolat (Apostolicam Actuositatem) von Ratzinger noch nicht berücksichtigt werden, dessen Ziel es war, „dem apostolischen Wirken des Gottesvolkes mehr Gewicht zu verleihen“. Das wäre postkonziliar aber unbedingt zu berücksichtigen. 299 Vgl. später Kap. III.3.5. 300 Hilarius von Poitiers, Contra Arianos seu contra Auxentium 6, zitiert nach: Congar, Tradition und Kirche, 73. Hier zeigt sich, dass „die Laien, die den grundsatzlosen Anpassungsbestrebungen in der Politik und am Hofe ferner standen, aber gegenüber dem, was sie von ihren Hirten empfangen hatten, sich als treuer erwiesen.“ Es geht hier nicht darum, eine fertige Lehre passiv zu bewahren, sondern angesichts einer nicht voll entfalteten und gefestigten Christologie den tradierten Glauben aktiv so zu rezipieren, dass sich auf dieser Basis die Lehre erst formiert. 301 Congar, Tradition und Kirche, 73. Aus diesem Grund „sind das Lehramt und die Lehrer nicht die einzigen, die für dieses Wachstum im Bewusstsein der Kirche sorgen.“

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stets eine Reflexion der Machtverhältnisse bei der Auslegung der Schrift erforderlich macht.302 Andernfalls besteht die Gefahr, die von Ratzinger trefflich herausgearbeitete offenbarungstheologische Dynamik, die einen Akt des persönlichen Empfangens und Verinnerlichens bedeutet, zugunsten einer begrenzten Perspektive weniger Amtsträger zu relativieren. Ein vom lebendigen Glauben der Gesamtkirche isolierter – obgleich lehramtlich legitimierter – Subjektivismus würde aber nicht dadurch entschärft, dass er auf die Schultern der Bischöfe verteilt und damit (gegen den realen Glauben des Volkes Gottes und dessen Schriftdeutung im lebendigen Glaubensvollzug) amtstheologisch überhöht wird. Während man seitens mancher Bischöfe die apostolische Sukzession und Ordination zur Sicherung der eigenen Autorität in Erinnerung ruft, um Christus gegenüber der Gemeinde zu repräsentieren, vergisst man oftmals die damit verbundene Verpflichtung, die Gemeinde selbst und ihr faktisches Glaubensleben als legitime (in der Alten Kirche sogar durch Wahl bestätigte) Vorsteher zu vertreten. Eine entscheidende – also unterscheidende und urteilende – Rolle des Subjekts Kirche wird allzu oft mit den Amtsträgern als den (mehr oder weniger) kompetenten Subjekten der Schriftauslegung gleichgesetzt. Das wäre jedoch nicht nur ein Widerspruch zur Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils, sondern auch zu weiteren schrifthermeneutischen Aussagen von Benedikt XVI. „Der Zusammenhang mit dem Subjekt ‚Volk Gottes‘ ist für die Schrift vital. Einerseits ist dieses Buch – die Schrift – der von Gott herkommende Maßstab und die weisende Kraft für das Volk, aber andererseits lebt die Schrift doch nur eben in diesem Volk, das sich in der Schrift selbst überschreitet und so – in letzter Tiefe vom fleischgewordenen Wort her – eben Volk Gottes wird. Das Volk Gottes – die Kirche – ist das lebendige Subjekt der Schrift; in ihr sind die biblischen Worte immer Gegenwart.“303

Wenn von der Kirche als dem Subjekt des Offenbarungsempfangs und der Schriftauslegung die Rede ist, so ist damit zugleich zum Ausdruck gebracht, dass die Kirche (noch bevor sie selbst als sakramentales Zeichen und Werkzeug des Wortes Gottes der Vermittlung des Heils dient) we302 Vgl. Fischer/Winter, Schrift und Tradition, 43; 27. Vgl. Ratzinger, Primat, 51, wo er einen Zusammenhang von Glauben, Hören und der Verwiesenheit auf die Gemeinschaft der Glaubenden herstellt, die „jeder individualistischen Verengung“ entgegensteht. Die Haltung einer „hörenden“ Kirche bei Papst Franziskus werden wir noch in den Blick nehmen. 303 Ratzinger, J./Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i. Br. 2007, 20.

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sentlich Empfängerin und Geschöpf des Wortes Gottes ist.304 Sie ist creatura verbi – bzw. evangelii – insofern „ihr Sein ein Werden ist, das geschieht durch Gottes Wort und Sakrament als unverdiente und schlechthin unverdienbare Gnadengabe.“305 Und zwar ganz im Sinne einer creatio continua.306 Das hatte auch Martin Luther völlig richtig erkannt.307 Gott selbst ist das tragende Subjekt seines Volkes in der Rezeption der Hl. Schrift, weil er durch sein Wort und in seinem Geist diese Schrift je neu erschließt.308 Diese unverfügbare – gnadenhafte – und nicht planbare Dynamik der göttlichen Selbsterschließung ist durch das Wirken des Heiligen Geistes an das Volk Gottes und seinen Weg durch die Zeit gebunden. Die Verheißung seiner Treue gilt der Kirche als Ganzer. Sie ist empirisch gesehen Subjekt eines offenen Traditionsprozesses, der, theologisch betrachtet, unvermischt und untrennbar in Gott selbst und seinem Pneuma begründet ist.309

2.4. Die Gemeinschaft der Kirche als aktive Trägerin der Überlieferung Träger des Empfangs und der Vermittlung göttlicher Selbstoffenbarung ist das Volk Gottes, nicht nur die Hierarchie.310 Das betont auch Ratzinger in aller wünschenswerten Deutlichkeit: „Die Kirchlichkeit des Wortes Gottes, von der hier ausgegangen wird, stellt also nicht einfach eine Lehramtlichkeit dar, sondern umfasst die Gemeinschaft der Glaubenden insgesamt.“311 304 Rahner, J., Creatura Evangelii. Zum Verhältnis von Rechtfertigung und Kirche, Freiburg i. Br. 2005, 549. 305 Rahner, J., Creatura evangelii, 84. 306 Vgl. Rahner, J., Creatura evangelii, 84. 307 Vgl. WA 6, 560 f. 308 Vgl. Rahner, J., Creatura evangelii, 84. Daraus ergibt sich eine „strenge Theozentrik“ (vgl. 554). 309 Vgl. Wiederkehr, Das Prinzip Überlieferung, 79 ff. In dieser Differenzierung liegt das Potential der Traditionskritik. 310 Vgl. auch Hoping, Theologischer Kommentar, 755; 763. 311 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 526. Vgl. Benedikt XVI., Nachsynodales Schreiben Verbum Domini über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 187), Bonn 2010, Nr. 29: „Der ursprüngliche Ort der Schriftauslegung ist das Leben der Kirche.“ Eine dem Heiligen Geist entsprechende Auslegung der Hl. Schrift könne daher nur in der Gemeinschaft des Volkes Gottes erfolgen, weil dieses auf seinem gemeinsamen Weg das „lebendige Subjekt der Heiligen Schrift“ ist (vgl. Nr. 30; 86).

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Der Fortschritt des II. Vatikanischen Konzils im Vergleich zu Humani Generis sei „unverkennbar“.312 Darin zeige sich auch „ein wichtiges Stück einer erneuerten Theologie des Laikates“, das eben „die nicht bloß weltliche, sondern auch wahrhaft kirchliche und geistliche Funktion“ der Laien sichtbar mache.313 Ratzinger hält es jedoch für eine „glückliche Entscheidung“ des Konzils, nicht auf die „Theorie“ (!) vom Glaubenssinn zu rekurrieren, der zwar bei den Dogmen von 1854 und 1950 eine entscheidende Rolle gespielt habe, dem aber doch „zuviel Ungeklärtes“ anhafte.314 Das könnte vielleicht daran liegen, dass es Ratzinger bei der Theologie des Wortes Gottes plötzlich primär um die „Reinerhaltung des Wortes“ und seine konservative Bewahrung, nicht mehr um dessen Vermittlung im pastoralen Kontext zu gehen scheint. Im Gegenteil, es bestehe die Gefahr der „Begünstigung eigenmächtiger und sekundärer Überlieferungen“.315 Aber gilt diese Gefahr nicht mindestens genauso für das konservative Moment?316 Aus dem hörenden „Subjekt Kirche“, das sich im multilatera312 Vgl. DH 3886. Im Sinne von Pius IX. sah auch noch Pius XII. die Kompetenz zur authentischen Auslegung von Tradition und Schrift (die ja unklar und dunkel sei und vom klaren Licht des Lehramtes zu erhellen ist) allein beim kirchlichen Lehramt, letztlich bei sich selbst, nicht aber bei den Gläubigen und nicht einmal bei den Theologen. Man könnte bei diesem Magisteriozentrismus durchaus von einer subjektivistisch verengten Auslegung sprechen. Demgegenüber lässt der Kontext von DV für Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 526 f., klarer werden, „dass die auf das Lehramt beschränkte Funktion der authentischen Auslegung ein spezifischer Dienst ist, der nicht das Ganze der Gegenwartsweise des Wortes umgreift, in der es eine unersetzliche Funktion gerade auch der Gesamtkirche, Bischöfe und Laien zusammen, gibt.“ 313 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 527. Das passt eher bedingt zum Vorschlag R. Voderholzers, man solle den Begriff Laien durch „Weltchristen“ ersetzen – was nur die Frage aufwirft, ob es klerikale Christen gibt, die in einer Parallelwelt leben. Vgl. Voderholzer, R., Der Weltauftrag der Laien und die Suche nach einem Alternativbegriff. Vortrag vom 31.5.2014 auf dem 99. Katholikentag in Regensburg (https://www.bistum-regens burg.de/fileadmin/redakteur/Newsletter/PDF/2016-1-Weltchristen-Bischof_Rudolf.pdf, Zugriff: 7.4.2022). Voderholzer hat jedoch völlig Recht, dass der Begriff „Laie“ heute zutiefst missverständlich ist und überdacht werden sollte. 314 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 527. 315 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 527. 316 Vgl. Ratzinger, J., Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, München 82006, 130, wo er auf Tertullian verweist: „Christus hat sich die Wahrheit genannt, nicht die Gewohnheit“. Ratzinger kommentiert: „Der Vergötzung der consuetudo Romana, des ‚Herkommens‘ der Stadt Rom, die ihre Gewohnheiten zum selbstgenügsamen Maßstab des Verhaltens machte, tritt der Alleinanspruch der Wahrheit entgegen. Das Christentum hat sich damit entschlossen auf die Seite der Wahrheit gestellt und sich so von einer Vorstellung von Religion abgewandt, die sich damit be-

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len Dialog befindet und dabei an die Schrift als objektivierte und normative Tradition gebunden weiß, wird nun mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ein die Offenbarung selbst konstituierender „ekklesialer Subjektivismus“317 – eine Formulierung, die an die Mahnung von Schmaus erinnert und nicht mehr allzu viel Raum für eine objektive Distanz oder sachliche Traditionskritik lässt.318 Denn auch ein kirchlicher Subjektivis-

gnügt, zeremonielle Gestalt zu sein, der man schließlich auf dem Weg der Interpretation auch irgendeinen Sinn zuschreiben kann.“ Gelegentlich könnte in der Kirchengeschichte der Eindruck entstehen, als habe man eine Haltung der Flucht vor dem Logos „in die schöne Gewohnheit“ nicht überwunden, sondern vergessen, dass der Logos sich nicht im Brauchtum, sondern mitten im menschlichen Alltag bewahrheitet, da Gott diesen Alltag selbst als seine eigene Wirklichkeit angenommen hat. 317 Vgl. Voderholzer, R., Offenbarung und Kirche. Ein Grundgedanke des Habilitationsprojektes Joseph Ratzingers (1955/2009) und seine theologische Tragweite, in: Schlosser, M./Heibl, F.-X. (Hg.), Gegenwart der Offenbarung. Zu den BonaventuraForschungen Joseph Ratzingers (Ratzinger-Studien 2), Regensburg 2010, 50 –73, 61; Jall, A., Erfahrung von Offenbarung. Grundlagen, Quellen und Anwendungen der Erkenntnislehre Joseph Ratzingers (Ratzinger Studien 15), Regensburg 2019, 319. Dazu passt, dass plötzlich die Kirche bzw. das Lehramt „Ort des Offenbarungsgeschehens ist“ (410) – was die transzendentale Dimension des Pneumas, das universal in allen Hörenden des Wortes wirksam ist, um mit dem Wort der kirchlichen Verkündigung korrespondieren zu können, ebenso ignoriert wie eine differenzierte Gnadenlehre und die normative Objektivation in der Hl. Schrift. 318 Für Congar, Y., „Traditio“ und „Sacra doctrina“ bei Thomas von Aquin, in: Betz, J./Fries, H. (Hg.), Kirche und Überlieferung, FS für J. R. Geiselmann, Freiburg i. Br. 1960, 170 –210, 197, unterscheidet Thomas von Aquin zwischen der Autorität der Hl. Schrift und der nicht unfehlbaren Auslegung der Kirchenväter. „Unter diesem Gesichtspunkt versteht man, dass Thomas das Bestreben hatte, das, was wir die Offenbarung nennen, genau von dem, was nur inneres Licht, Gnade der Einsicht und Auslegung ist, zu unterscheiden“. Es handelt sich um eine Differenzierung zwischen der geschichtlich bezeugten Objektivierung der Offenbarung und ihrer persönlichen Aneignung, die in Ratzingers Interpretation des mittelalterlichen Offenbarungsverständnisses nun enger verbunden sind und auf die Kirche als Empfängerin der Offenbarung konzentriert wird. Immerhin zeigt sich, so Congar (198), eine allgemeine geistige Entwicklung: „im Gefolge der durch die gregorianische Reform hervorgerufenen kanonistischen Arbeit wurden die Geister dazu angeregt, nicht mehr wie früher das Augenmerk hauptsächlich auf die unmittelbare Tätigkeit Gottes (des Heiligen Geistes) zu richten, sondern mehr die Vollmacht zu berücksichtigen, die einer hierarchischen und juristischen Instanz der von Christus gegründeten Kirche gegeben ist. […] Thomas ordnet die Autorität der Väter kühn jener der Ecclesia unter und billigt jener nur Geltung zu auf Grund der Approbation der Kirche und der Übereinstimmung mit ihrer Lehre […] Zunächst handelt es sich um die Ecclesia, und zwar um die Ecclesia universalis. Ihr eignet die Indefektibilität und die Unfehlbarkeit.“ Die Universalkirche wird aber – im Sinne der mittelalterlichen Gesellschaft – repräsentiert durch allgemeine Konzile und den Papst. Der Schritt von der Autorität der Hl. Schrift hin zur interpretierenden Kir-

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mus ist, gerade wenn er auf einige wenige Entscheidungsträger und ihre subjektive Rezeption der Tradition reduziert wird, nicht unbedingt weniger willkürlich. Nimmt man das II. Vatikanische Konzil insgesamt in den Blick, so stellt sich die Frage, warum bei Ratzinger an dieser Stelle zunächst kein positiver Hinweis auf die pneumatologischen Ausführungen von LG 12 erfolgt. Der spätere Papst Benedikt XVI. sieht die konkrete Funktion der Gesamtkirche nämlich eher in dem „perseverat“ von DV 10, also „in der Beharrung, die die falsche und glaubenswidrige Neuerung als solche erkennt und überführt und ihr gegenüber die Treue zum Ursprünglichen durchhält.“319 Es geht aber um ein Verharren, durch das im Festhalten am überlieferten Glauben, in seiner aktiven Ausübung und in seinem Bekenntnis ein einzigartiger Einklang zwischen Vorstehern und Gläubigen herrschen soll.320 Eine Beschränkung auf die konservative Funktion des am schöpferischen – kreativen – Geist Gottes partizipierenden Volkes Gottes trägt weder der Konzilslehre vom Glaubenssinn aller Gläubigen Rechnung – die mehr sein dürfte als nur theologische „Theorie“ – noch der Tatsache, dass das in DV 10 beschriebene Idealbild des Einklangs von Vorstehern und Gläubigen jede Form von Dissens schlichtweg ausblendet. Die Dogmenund Konzilsgeschichte zeichnet hier doch ein ganz anderes Bild.321 Zugleich lässt Ratzinger an dieser Stelle das innovative Potential in DV 8 elegant unter den Tisch fallen, wo es explizit heißt, dass „das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte […] aufgrund des Nachsinnens und des Studiums der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen (vgl. Lk 2,19.51)“ – und nicht nur konservieren! – wächst und Fortschritte macht.322 Tradition ist che bzw. zum entscheidenden Lehramt ist für das Kirchenrecht dann nur ein kurzer – aus dogmatischer Sicht aber zu kurz, falls eine reflektierte Pneumatologie ausfällt. 319 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 527. 320 Vgl. DV 10: ita ut in tradita fide tenenda, exercenda profitendaque singularis fiat Antistitum et fidelium conspiratio. Diese conspiratio liefert geradezu eine Steilvorlage für das Wirken des Spiritus Sanctus, der in LG 12 der entscheidende Grund dafür ist, dass „die Gesamtheit der Gläubigen“ im Glauben „nicht irren“ kann. 321 Zur dogmatischen Bewertung des Dissenses vgl. im Folgenden Kap. III.3.6. 322 Vgl. Dulles, A., Das II. Vatikanum und die Wiedergewinnung der Tradition, in: Klinger/Wittstadt (Hg.), Glaube im Prozess, 546 –562, 561. „Der vom II. Vatikanum herausgestellte lebendige, wirklichkeitsgefüllte und vorwärtsschreitende Traditionsbegriff mag Erzbischof Lefebvre und seinen traditionalistischen Anhängern als Kapitulation vor dem Modernismus erscheinen. Er ist jedoch in Wirklichkeit dem Modernismus genauso diametral entgegengesetzt“. Er bezieht sich auf Blondel, M., Geschichte

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schließlich eine prozesshafte, dialogische Größe und dient der aktiven Vermittlung des Wortes Gottes, das durch die Schrift bezeugt wird. Sie meint nicht Hüten der Asche, sondern Weitergabe des Feuers. Die Tradition fungiert, anders als Ratzinger an dieser Stelle323 meint, eben nicht nur „konservativ“ auf der „Ebene der Vergewisserung“, sondern immer auch produktiv und kreativ, insofern der Schrift das Moment der Konservierung, der Tradition hingegen das Moment der je neuen Texterschließung zukommt – übrigens mit dezidiert soteriologischer Intention, wie DV 10 klar erkennen lässt: ad animarum salutem. Schrift, Überlieferungsprozess und Kirche als Traditions- und Rezeptionsgemeinschaft unter der Leitung des Lehramtes bilden sub actione unius Spiritus Sancti eine funktionale – soteriologisch finalisierte – dynamische Einheit. Wenn von dem Subjekt Kirche324 als der aktiven Empfängerin und Mittlerin der Offenbarung im Überlieferungsprozess die Rede ist, dann muss hier die Kirche insgesamt in ihrer Pluralität im Blick bleiben.325 Karl Lehmann hat mit Blick auf DV 10 ganz entschieden diese Einheit des Gottesvolkes aus Vorstehern und Gläubigen gegenüber dem Wort Gottes hervorgehoben: „Bewahrung und tätige Verwirklichung des Wortes Gottes ist Sache der ganzen Kirche und umfasst die Gemeinschaft der Glaubenden insgesamt.“326 Das ist durch die dogmatische Konstitution

und Dogma, Mainz 1963. Nach Ansicht von Dulles (560) fördere dessen Traditionsverständnis „jene menschlichen und religiösen Werte, die der Traditionalismus oftmals hemmt: persönliches Urteil, unmittelbare Erfahrung, Anpassung, verantwortliche Entscheidung und Innovation.“ Es seien Innovationen, die „aus der Erfahrung eben der von der Tradition überlieferten Wirklichkeit erwachsen“ und diese Tradition nicht zersetzen; sie „untermauern sie vielmehr und geben ihr frische Lebenskraft.“ 323 Vgl. Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 525 f. 324 Zur problematischen Prämisse eines einheitlichen „Subjekts“ Kirche vgl. Meyer zu Schlochtern, J., Ist die Kirche Subjekt oder Communio? Anmerkungen zu einem ekklesiologischen Begriffskonflikt, in: Geerlings, W./Seckler, M. (Hg.), Kirche sein. Nachkonziliare Theologie im Dienst der Kirchenreform. FS für H. J. Pottmeyer, Freiburg i. Br. 1994, 221–239. Zugrunde liege eine „differenzierte Einheit von Beziehungen“ (226). Vgl. auch Kehl, M., Ecclesia universalis. Zur Frage nach dem Subjekt der Universalkirche, in: Klinger/Wittstadt (Hg.), Glaube im Prozess, 240 –257. 325 Vgl. Wiederkehr, Das Prinzip Überlieferung, 71 ff.; 79 – 81. Er betont die Notwendigkeit des Dialogs. 326 Lehmann, K., Dei Verbum – Gottes Wort – eine Botschaft des Heils für die ganze Welt. Erste Einführung in die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 25 –50, 39.

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über die Kirche (Lumen Gentium) gedeckt. Insofern die Offenbarung für Dei Verbum das stets aktuelle und in die persönliche Gegenwart hineinreichende Kommunikationsgeschehen327 zwischen Gott und Mensch bezeichnet, das auf eine Gemeinschaft von Gott und Mensch sowie der Menschen untereinander zielt, ist die kommunizierende communio als solche involviert. Damit ist auch ihr Kommunikationsstil kritisch angefragt, wie Johanna Rahner erkannt hat. „Konsequent bestimmt das II. Vatikanum daher die Aktualisierung dieser Heilsgemeinschaft mit Gott in Leben und Dasein der ganzen Kirche, also die gesamte Lebenspraxis aller als eigentliches Medium und damit zum entscheidenden Akteur der Überlieferung des Offenbarungsgeschehens. Aus dieser theologischen Neukonstellation folgt letztlich die Notwendigkeit einer kritischen Hinterfragung des Kommunikationsstils innerhalb der Überlieferungsgemeinschaft der Kirche und mit dieser die Forderung nach einer notwendigen Revision der strukturellen Bedingungen dieser Überlieferung.“328

Das Stimmungsbild des II. Vatikanischen Konzils ist dahingehend sehr aufschlussreich, auch in Bezug auf die Genese der Texte. Das in DV eingefügte – relativ idealistische – Postulat einer harmonischen Gemeinschaft und des „einzigartigen Einklangs zwischen Vorstehern und Gläubigen“ verdankt sich, so Lehmann, vor allem Yves Congar, der sich damit unter anderem gegen Kardinal Ottaviani durchgesetzt hat.329 Der kanadische Kardinal Paul-Emile Léger betonte auf dem Konzil, dass die Offenbarung das Leben der Kirche sowie die feierlichen Akte des Lehramtes transzendiere. Die Erneuerung der Kirche sei verbunden mit der permanenten Rückkehr 327 Feiner, J., Offenbarung und Kirche – Kirche und Offenbarung, in: MySal I, 497–544, fasst dies unter den Begriff der Vergegenwärtigung, die an die rezipierende Gemeinschaft (Kirche und Israel) als empfangendes, antwortendes Subjekt und insofern als Trägerin der göttlichen Selbstoffenbarung gebunden ist. Die Glaubensgemeinschaft ist kein passives Objekt, sondern als Gemeinschaft immer aktiv in die Vergegenwärtigung und Aktualisierung des Wortes Gottes involviert. „Vergegenwärtigen bedeutet also die Offenbarung gemäß der geschichtlichen Situation der Kirche aktualisieren.“ (508) Und zwar im gesamten Lebensvollzug der Glaubensgemeinschaft. Dies gelte auch von den Dogmen und der Hl. Schrift, die als Medien des Wortes Gottes ständig gedeutet, erklärt und neu in das Denken und die Sprache der jeweiligen Zeit übersetzt werden müssten – als reale Gegenwart. „Vergegenwärtigen besagt immer: für Personen präsent werden lassen.“ (514) Dies ist von Anfang an (und nicht erst nachapostolisch) die Aufgabe der gesamten Glaubensgemeinschaft, der als Zeichen und Werkzeug eine soteriologisch relevante, vermittelnde Funktion zukommt, die nie nur auf auslegende Amtsträger beschränkt werden darf (vgl. 535; 539). Vgl. auch Löhrer, M., Träger der Vermittlung, in: Mysal I, 545 –587. 328 Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 201. 329 Vgl. Lehmann, Dei Verbum, 40.

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zur Offenbarung, deren Transzendenz – und Unverfügbarkeit – es anzuerkennen gilt. Hier sei eine Gewissenserforschung angebracht: „Es geschieht nämlich nicht selten, dass einige in der Kirche die Rolle des Lehramtes hinsichtlich der Offenbarung übertreiben.“330 Das lässt sich mit Blick auf die jüngere Kirchengeschichte in der Tat kaum leugnen. Johanna Rahner verweist auf den zunehmend eindimensionalen Kirchenbegriff der Gegenreformation, der klar auf „die strenge Hierarchisierung aller kirchlichen Vollzüge“ zielt: „Die hierarchische Verhältnisbestimmung von Klerus und Laien, die sich in Leitungsvollmacht bzw. Gehorsamspflicht ausdrückt, ist die zwangsläufige Folge dieser verengten Sicht.“331 Kirche ist in dieser Denkbewegung zunehmend das Amt, der Bischof bzw. der Papst – eine Entwicklung, die mit dem I. Vaticanum ihren Höhepunkt erreichte, aber wohl auch heute noch in einer allgemeinen Form des Klerikalismus nachwirken dürfte, den Papst Franziskus scharf anprangert. „Es ist unmöglich, sich eine Umkehr des kirchlichen Handelns vorzustellen ohne die aktive Teilnahme aller Glieder des Volks Gottes. Mehr noch: Jedes Mal, wenn wir versucht haben, das Volk Gottes auszustechen, zum Schweigen zu bringen, zu übergehen oder auf kleine Eliten zu reduzieren, haben wir Gemeinschaften, Programme, theologische Entscheidungen, Spiritualitäten und Strukturen ohne Wurzeln, ohne Gedächtnis, ohne Gesicht, ohne Körper und letztendlich ohne Leben geschaffen. Das zeigt sich deutlich in einer anomalen Verständnisweise von Autorität in der Kirche – sehr verbreitet in zahlreichen Gemeinschaften, in denen sich Verhaltensweisen des sexuellen wie des Macht- und Gewissensmissbrauchs ereignet haben –, nämlich als Klerikalismus, jene Haltung, die ‚nicht nur die Persönlichkeit der Christen zunichte [macht], sondern dazu [neigt], die Taufgnade zu mindern und unterzubewerten, die der Heilige Geist in das Herz unseres Volkes eingegossen hat‘. Der Klerikalismus, sei er nun von den Priestern selbst oder von den Laien gefördert, erzeugt eine Spaltung im Leib der Kirche, die dazu anstiftet und beiträgt, viele der Übel, die wir heute beklagen, weiterlaufen zu lassen. Zum Missbrauch Nein zu sagen, heißt zu jeder Form von Klerikalismus mit Nachdruck Nein zu sagen.“332 330 Zitiert nach Lehmann, Dei Verbum, 41. Kardinal Léger stellt klar: „Das Wort Gottes, das durch sich selbst definitiv ist, ist etwas anderes, als eine authentische Interpretation durch das Lehramt, das selber in den besonderen Fällen seiner Unfehlbarkeit eine Vervollkommnung zulässt. Nach dem Wort des Apostels sind die Reichtümer Gottes unergründlich, und wir kennen nur zum Teil seine Mysterien.“ 331 Rahner, J., Creatura Evangelii, 203. 332 Vgl. Papst Franziskus, Schreiben an das Volk Gottes vom 20.08.2018 (http://www. vatican.va/content/francesco/de/letters/2018/documents/papa-francesco_20180820_let tera-popolo-didio.html).

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Die juridisch verengte Institution der Amtskirche verdrängt „die lebendige Gemeinschaft aller Christgläubigen“, sodass man in der Tat sagen kann: „Der Hl. Geist kommt innerhalb eines solchen Konzeptes allenfalls noch als Garant der Autorität ins Spiel, die in Gestalt der Leitung und hier vor allem des römischen Lehramtes zum Kennzeichen und Inbegriff von Kirche wird.“333 Eine solche Verengung hat das II. Vaticanum in epochaler Weise aufgebrochen, ohne freilich alle offenen Fragen und Probleme beantwortet zu haben, was sich auch an der noch anhaltenden, teilweise ambivalenten Rezeptionsgeschichte zeigt.334 Ein funktionales und dynamisches Verständnis von Tradition kann sich gegen jede Form von Traditionalismus auf die tatsächliche Tradition der Kirche berufen.335 Zugleich gilt aber: „Noch immer tut sich die römisch-katholische Kirche mit dem Gedanken schwer, dass nicht jede ihrer Entwicklungen als eine unter dem Beistand des Hl. Geistes geschehene zu bewerten ist. Hier erweist sich die bleibende ‚Lücke‘ der Offenbarungskonstitution, die Tradition und Schrift allzu eng aneinander bindet und so eine kritische Distanz der Hl. Schrift zur Tradition nicht mehr ermöglicht, als bis heute wirksam.“336 Zwischen der aktualisierenden Interpretation des Wortes Gottes und seiner inhaltlichen Erweiterung bleibt zu unterscheiden. Ebenso präzise wäre daher nach dem Grad an Verbindlichkeit zu differenzieren und die konkrete Reichweite der lehramtlichen Auslegungskompetenz zu bedenken, um festzustellen, ob es sich um eine sogenannte authentische Auslegung oder um die (den allgemein verbindlichen Glaubenskonsens der Kirche aller Zeiten festhaltende) Erklärung in Gestalt einer dogmatischen Definition handelt, die selbst wiederum deutungsoffen ist.337 Ganz klar formuliert wird in DV 10 jedenfalls, dass das Lehramt nicht über dem Wort Gottes steht.338 Das Lehramt dient dem Wort Got333

Rahner, J., Creatura Evangelii, 265. Vgl. Rahner, J., Creatura Evangelii, 394 –544. Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. auch Buckenmaier, A., Der gerettete Anfang. Schrift und Tradition in Israel und der Kirche, Bad Tölz 2002. 335 Vgl. Rahner, J., Creatura Evengelii, 493 –505. Das „lehramtszentrierte, ja lehramtsmonopolisierte Traditionsverständnis ist nun aber ein explizit neuzeitliches Phänomen“ (497). 336 Rahner, J., Creatura Evangelii, 550. So „vermag sich katholische Ekklesiologie […] bis heute nicht von der kirchengeschichtlich erworbenen Abhängigkeit von Gesellschaftsmodellen ihres politischen Umfeldes zu lösen.“ 337 Dazu im Folgenden IV.2.4. 338 Vgl. Lehmann, Dei Verbum, 38 – 49. 334

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tes, seiner Vermittlung und Aktualisierung in der jeweiligen Situation neuer Erfordernisse. Und das Amt dient – theoretisch – der Einheit und Kommunikation in der Kirche. Kardinal Lehmann bemerkte, dass die Unterordnung des Lehramtes unter das Wort Gottes dogmatisch betrachtet einerseits eine selbstverständliche „Binsenweisheit“ sei, andererseits handle es sich um einen „Spitzensatz“ des Konzils, das daraus entsprechende Konsequenzen gezogen hat, die in dieser Deutlichkeit zuvor kaum vorzufinden sind.339 Unter Beistand des Heiligen Geistes werde, so DV 10, das Wort Gottes voll Ehrfurcht gehört, heilig bewahrt und treu ausgelegt. An erster Stelle steht jedoch das Hören als Voraussetzung einer angemessenen Auslegung. Hörerin des Wortes ist die Kirche in ihrer Einheit und Vielfalt, die den Text ihrer Hl. Schrift in unterschiedlichen Kontexten liest und anders – je neu – zu verstehen lernt.340 Schon vom Auferstehungsglauben her verbietet sich aber eine rein retrospektive Orientierung des christlichen Glaubens. „Christlicher Glaube ist ursprünglich mindestens ebenso sehr nach vorwärts wie nach rückwärts gewendet“.341 Insofern ist der „Charakter des Perfektischen“ und letztlich Normativen, das in der Schrift zum Ausdruck kommt, immer auf das Präsens gerichtet, weil die in Christus exemplarisch vollendete Beziehung zwischen Gott und Mensch „immer neu zum Vollzug kommen soll“.342 Dabei zeichnet sich der Beginn der dogmengeschichtlichen Entwicklung als Übersetzungsprozess der Selbstzusage Gottes in das aktuelle Leben der Gemeinde hinein bereits im biblischen Kanon ab. In dieser Dynamik, die sich in der Schrift selbst zeigt und die über sie hinausreicht, ist nach Ansicht Ratzingers der altchristliche Dogmenbegriff zu verorten, der sich am Begriff Kanon als regula fidei orientiert. Dogma und Überlieferung sind hier eng miteinander verbunden und auf die Schrift bezogen. Darum schließt ein solches Verständnis des christlichen 339

Vgl. Lehmann, Dei Verbum, 42 f. Vgl. Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 528: „Im Letzten ist die ganze Kirche hörend, und umgekehrt hat die ganze Kirche teil am Verharren in der rechten Lehre.“ Der pneumatologische Zusammenhang zwischen der Aufgabe des Lehramts, das Wort Gottes „Spiritu Sancto assistente“ verbindlich bezeugend auszulegen, und dem übernatürlichen Glaubenssinn aller Gläubigen, in dem nach LG 12 die Untrüglichkeit des kirchlichen Glaubens unter Beistand des Heiligen Geistes gründet, ist dann in jedem Fall zu beachten. 341 Ratzinger, J., Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie, in: Ders., Gesammelte Schriften 9/1: Glaube in Schrift und Tradition. Zur Theologischen Prinzipienlehre, hg. v. G. L. Müller, Freiburg i. Br. 2016, 553 –595, 565. 342 Ratzinger, Das Problem, 567. 340

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Kanons, so Ratzinger, immer ein „dynamisches Element“ mit ein, das dann auch für die Dogmenhermeneutik gelten muss: „Dogma wird dabei nicht als Lehrsatz begriffen, sondern besteht in dem die Schrift erschließenden und auslegenden Glauben der Kirche.“343 So gebe es nicht nur eine Geschichte zum Dogma hin, sondern eben auch eine „Geschichte des schon zum Dogma Gewordenen“ – eine Dogmengeschichte im umfassenden Sinn, die weiterläuft.344 Dabei kann die Explikation des Glaubens in Lehrsätze nicht nur die ursprüngliche Erfahrung absichern, festigen und vertiefen, sondern „zur Kruste werden, die das Leben erstickt; zum Schematismus, der den Lebensvorgang zunächst erleichtert, aber gerade so ihn auch gefährdet und schließlich entleeren kann.“345 Ratzinger sieht darum die Notwendigkeit zu einer doppelten Bewegung: einerseits der weiteren Entfaltung und der Reduktion.346 Bedingt durch die „Inkongruenz“ von menschlicher Sprache und (göttlicher) Wirklichkeit zeichne sich jede dogmatische Formel immer durch ein „doppeltes Ungenügen“ aus, und zwar gegenüber der anvisierten Wirklichkeit selbst und gegenüber der geschichtlichen Welt der Menschen.347 Das entspricht analog der Signatur der Hl. Schrift. Denn die Sprache des Glaubens ist im wahrsten Sinne des Wortes symbolisch, sie weist immer über sich und ihren (Kon-Text) hinaus.348 So setzt sich die spannungsvolle Hermeneutik des Wortes Gottes in menschlichen Worten in der Dogmengeschichte jenseits des biblischen Kanons auf andere Weise und mit klaren Grenzen, aber nach analogen Prinzipien, fort. Nach Ansicht von Michael Seewald legt Ratzinger damit „einen hoch dynamischen Ansatz der Dogmenentwicklung vor.“349 Dem Dogma komme bei Ratzinger nämlich „eine hermeneutische Funktion der Bibelexegese“ zu. Wie wir sehen konnten, steht dann aber die Frage nach der 343 Ratzinger, Das Problem, 569. „Wenn man versuchen wollte, die geschilderte Vorstellung zusammenfassend zu beschreiben, so könnte man sagen, Überlieferung werde hier verstanden als die Explikation des in der Schrift bezeugten Christusgeschehens in der Geschichte des Glaubens in der Kirche.“ Unter Berücksichtigung des AT müsste man sagen: des Schriftzeugnisses insgesamt, in Bezug auf das Christusereignis. 344 Vgl. Ratzinger, Das Problem, 570. 345 Ratzinger, Das Problem, 573. 346 Vgl. Ratzinger, Das Problem, 573. 347 Vgl. Ratzinger, Das Problem, 575. 348 Vgl. Ratzinger, J., Zur Frage nach der Geschichtlichkeit der Dogmen, in: Ders., Gesammelte Schriften 9/1, 596 – 609, 604. Daraus ergebe sich auch der „wesentlich kommunitäre“ Charakter des Dogmas. 349 Seewald, Dogma im Wandel, 256.

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Auslegungskompetenz im Raum. Hier zeigt sich die ganze Ambivalenz dieses auf Relationalität bedachten Offenbarungs- und Überlieferungsverständnisses, die Seewald treffend analysiert: „Die Dynamik in Ratzingers Ansatz kann einerseits Diskurse in bis dato ungeahnter Freiheit eröffnen, andererseits aber auch, falls sie sich mit den Instrumenten einer diskursempfindlichen Autorität verbindet, das offene Gespräch hemmen. Wenn nämlich zur Unterscheidung zwischen dem, was geoffenbart ist, und dem, was nicht geoffenbart ist, nicht mehr auf die positiven Quellen von Schrift und Tradition zurückgegriffen werden kann, sondern sich die Offenbarung nur durch das kriteriologisch unklar bleibende ‚lebendige Ringen im Heiligen Geist‘ ereignet – wie lässt sich dann eine allgemein einsichtige Bestimmung dessen, was nun tatsächlich und daher verbindlich geoffenbart ist oder mit der Offenbarung zusammenhängt, gewinnen? […] Ratzinger gibt auf diese Frage, in der er ‚das Grundlagenproblem der Theologie und des Glaubens‘ erblickt, keine eindeutige Antwort, besteht aber darauf, dass sich über Schrift und materialisierte Tradition hinaus ein ‚Faktor des Mehr‘ ergibt […]. Wie dieses Mehr, das ‚dem sich Einlassenden‘ zuteilwird, wiederum in eine gemeinsame Artikulation der Kirche mündet, wie also die überlieferten dogmatischen Formeln, die ‚nur vermittelnden Charakter auf den Vollzug der Begegnung hin‘ haben, so reformuliert werden können, dass sie diese Begegnung in der Gegenwart adäquat beschreiben, lässt Ratzinger offen“.350

Seewald kommt daher zu dem Fazit: „Ratzingers weiter Offenbarungsbegriff, der einerseits einen Raum der Flexibilität und der Reform eröffnen könnte, ist gleichzeitig also auch anfällig für Instrumentalisierungen, in der die Macht der Autorität die Kraft der Argumente zu ersetzen droht“.351 Die Nachfolge und das Glaubenszeugnis (im Sinne der per350

Seewald, Dogma im Wandel, 259 f. Seewald, Dogma im Wandel, 261. Vgl. Wiedenhofer, Die Theologie, 205 f.: „Der spannungsvolle katholische Traditionsbegriff bildet eine der wichtigsten, wenn nicht überhaupt die wichtigste Grundlage der Ratzinger’schen Theologie vom Anfang bis zur Gegenwart. In der reformtheologischen Phase wurde er hauptsächlich aktiviert, um die gegenwärtige katholische Tradition von den normativen Ursprüngen (Heilige Schrift und Kirchenväter) her zu erneuern und von den gegenwärtigen Fragen und Erkenntnissen her in einem gesamtkirchlichen Entscheid (II. Vatikanisches Konzil) zu verlebendigen. In der nachkonziliaren Auseinandersetzung dient er umgekehrt hauptsächlich der Bewahrung der Identität und Kontinuität der katholischen Tradition sowie der Kritik von bedrohlichen religiösen oder kulturellen Traditions-Alternativen.“ Die Entscheidung, wie Tradition in der jeweiligen Situation wirksam „aktiviert“ werden soll, droht aber letztlich doch der subjektiven Intention zu unterliegen. Sie hängt „vom pragmatischen Kontext“ ab (431). So bleibt die Frage nach den „Kriterien des rechten Verhaltens zur Glaubensüberlieferung“ unumgänglich (205), letztlich offen. Die Gefahr, das kirchliche Subjekt der Überlieferung mit der formalen Autorität und Meinung der Amtsträger gleichzusetzen, bleibt bestehen. Die in Ratzingers Habilitation formulierte Gegenüberstellung von 351

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sonalen Zeugenschaft in apostolischer Sukzession) ist in Gestalt der Bischöfe zweifellos in amtlicher und persönlicher Verantwortung verankert und für den Überlieferungsprozess auch unentbehrlich – beides darf jedoch nicht von der lebendigen Rezeption der Gesamtkirche, ihrem Glauben, ihrer Christusnachfolge, ihrer Lektüre und Deutung der Schrift isoliert werden, wie es im Laufe der Kirchengeschichte oft genug zum Schaden der Kirche geschehen ist und teilweise bis heute geschieht, wenn das Lehramt und die gesamtkirchliche Rezeption deutlich divergieren. Solcher Dissens wird uns noch eigens beschäftigen.352 Das Volk Gottes und sein Glaubenssinn müssen aber stets Gehör und Respekt finden, weil es jenseits theologischer Binnenlogik ein eigenes Gespür für die rechte Rezeption der Hl. Schrift besitzt. Auch deshalb forderte das II. Vatikanische Konzil eindringlich die Zugänglichkeit der Hl. Schrift für alle Gläubigen, die durch angemessene und verständliche Übersetzungen zu gewährleisten ist.353 Im Unterschied zu früheren Epochen354 gibt es heute mündige Leser/innen, die nicht mehr ausschließlich auf die theologische „hierarchisch-formalem“ und „historisch-materialem“ Traditionsbegriff (vgl. 206, Anm. 230), sollte nicht dazu führen, durch Entwertung von „geschichtlichen Inhalten“ als „Scheingeschichte“ historischer Rekonstruktion die juristisch verdichtete Autorität der kirchlichen Hierarchie zu maximieren. Diese Autorität bleibt an das objektive und normative Material der Überlieferung – die Schrift – gebunden. Sie kann sich der historischsachlichen Kritik durch die Vernunft nie entledigen. Nur so kann das Desiderat einer Traditionskritik eingelöst werden (vgl. 211). Wenn aber der kirchlichen Tradition „in ihrer ganzen Breite“ und faktischen Form mehr Vertrauen geschenkt wird als Rekonstruktionen der Historiker (vgl. 208), so fehlt im Falle eines blinden Vertrauens die objektive Distanz zur Kritik an Autoritäten und ihrer subjektiven oder missbräuchlichen Auslegung der Tradition. Zu Gefahren eines hierarchisch-formalen Traditionsverständnisses vgl. Verweyen, Ein unbekannter Ratzinger, 57–61; 132. 352 Vgl. im Folgenden Kap. III.3.6. 353 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 573, kommentiert: „Die Zäune, die seit dem 13. und besonders seit dem 15. Jahrhundert gegenüber der muttersprachlichen Bibel und dem Bibellesen des Nichttheologen aufgerichtet worden waren, werden hier entschlossen abgebaut.“ Die Übersetzung ist ja selbst schon Teil der Rezeption. Sie wird – wie die Vulgata – zwar „in Ehren gehalten“ (DV 22), aber nicht als exklusive Textgrundlage definiert. 354 Vgl. Wolf, H., Kirchengeschichte als Auslegungsgeschichte der Heiligen Schrift?, in: Wacker, M.-T. (Hg.), Wozu ist die Bibel gut? Theologische Anstöße, Münster 2019, 219 –237, 224 ff. Er beschreibt den restriktiv kontrollierten Zugang zur Bibel und die Machtausübung des kirchlichen Lehramtes. Vgl. auch Stonner, A., Bibellesen, in: LThk1 (1931) 2, 290 –292, 290, wo die „Verhütung der Preisgabe des Bibellesens an den Subjektivismus“ zu einer „gottgesetzten Alleinzuständigkeit des kirchlichen Lehramtes“ führte. Dass Martin Luther gegenüber den Bauern und ihrer Schriftauslegung plötzlich ähnlich restriktiv vorging, zeigt Wolf (226 ff.) ebenso.

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Expertise des Predigers angewiesen sind, sondern selbst aktiv in den Dialog über die Hl. Schrift eintreten. Dies führt zu produktiven relectures, durch die sich im Blick auf die Geschichte eine Zukunft erschließt, die legitimerweise von Einheit und Vielfalt geprägt ist.355 Eine amtstheologische Engführung, die einen ergebnisoffenen Dialog mit der Schrift und über die Schrift durch die autoritative Entscheidung ordinierter Amtsträger einfach zu neutralisieren wünscht, entspricht ursprünglich keineswegs der Intention Ratzingers; sie ist allenfalls eine unbeabsichtigte Nebenwirkung, die sich aus einer ekklesiologisch fragwürdigen Gleichsetzung (zumindest aber fehlenden Differenzierung) von Lehramt und Kirche als autorisiertem Subjekt des gläubigen Empfangens und Auslegens der göttlichen Offenbarung ergeben könnte. Dass es für solch fehlende Differenzierung extreme Präzedenzfälle gibt, zeigt Pius IX.356 Die biographisch bedingte Tatsache, dass Ratzinger selbst als Bischof, Kardinal, Präfekt der Glaubenskongregation und schließlich sogar als Papst die Kirche lehramtlich repräsentiert hat, mag diese Differenzierung für ihn gelegentlich erschwert haben.357 Doch ist dies eine Ge355 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 574, weist darauf hin, dass damit auch die „Absolutsetzung der lateinischen Kirche durchbrochen“ werde. In dem Nebeneinander von Grundtext und rezipiertem Text zeige sich zudem „die Ermöglichung der Vielheit“ – durch eine Besinnung zurück und eine Öffnung vorwärts, verbunden mit einer ökumenischen „relecture der Bibel aus unserer heutigen christlichen Situation heraus“. Das gilt aber auch für die gemeinsame Lektüre von Judentum und Christentum. Ratzinger erkennt die enorme Tragweite dieses in DV formulierten Prinzips von Vergewisserung und Aktualisierung, Einheit und Vielfalt in der Rezeption: „Trient ist hier in der Tat weit überschritten, und gerade die pragmatischen Aussagen dieses Textes sind in Wirklichkeit theologische Vorgänge von großer Bedeutung.“ 356 Wie sonst wäre die Aussage „Die Tradition bin ich!“ (La tradizione sono io) von Pius IX. zu verstehen? Vgl. Wolf, H., Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 2020. 357 Vor Ratzingers Ernennung als Präfekt der Glaubenskongregation war es unüblich, dass der Präfekt selbst aktiv an theologischen Debatten teilnimmt. Ratzinger bricht mit dieser Tradition. Rahner, K., Bekenntnisse. Rückblick auf 80 Jahre, hg. v. Georg Sporschill, Wien 1984, 40 f., stellte die Frage, „ob Ratzinger jetzt nicht in Gefahr ist, mit seiner großen theologischen Gelehrsamkeit und seinem dialektischen Scharfsinn nur eine römische Mentalität und römische Trends theologisch zu untermauern. Rom ist gewiss die bevorzugteste Stätte des katholischen Glaubens, aber nicht alles und jedes, was in Rom gedacht wird, ist darum schon eine verpflichtende Norm in der ganzen katholischen Welt. Wichtig wäre für ihn, eindeutig und klar zu unterscheiden zwischen Ratzinger als Theologen mit seinen berechtigten, vielleicht auch problematischen Eigenmeinungen, und Ratzinger als Chef der Römischen Glaubenskongregation. Das sind zwei ganz verschiedene Sachen. Es ist selbstverständlich, dass ein römischer Prälat eine bestimmte theologische Meinung hat. Trotzdem darf er sie anderen nicht amtlich

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fahr, die sich vielleicht weniger bei ihm selbst als vielmehr bei den späteren Interpretationen seiner Theologie abzeichnen dürfte.358 Immerhin war es Benedikt XVI., der in seinem Jesus-Buch sehr reflektiert und expressis verbis die eigene Schriftrezeption und -hermeneutik von einer verbindlichen lehramtlichen Auslegung im Namen der Kirche unterschieden hat. Zugleich sieht er sich dabei mit seiner theologischen Privatmeinung als ein aktiver Rezipient innerhalb der Gemeinschaft der Kirche.359

aufzwingen. Diese Unterscheidung ist wichtig, aber natürlich auch schwierig.“ Vgl. Rahner, K., Aggiornamento ist nicht vollendet. Gespräch mit G. Ruis über die Berufung von Kardinal Ratzinger nach Rom (1982), in: Imhof, P./Biallowons, H. (Hg.), Karl Rahner im Gespräch, Bd. 2 (1978 –1982), München 1983, 239 –244, 242, wo er die Fachkompetenz Ratzingers würdigt. „Aber gerade wenn nun ein bedeutender Fachtheologe an die Spitze der Glaubenskongregation tritt, darf man vielleicht auch warnend betonen, dass ein solcher Chef dieser Kongregation sich auch hüten muss, zu selbstverständlich seine eigene persönliche Position in die Entscheidungen und Maßnahmen der Kongregation einzubringen. Die Aufgabe der Theologie bleibt verschieden von der Glaubenskongregation und soll nicht mit ihr vermengt werden.“ 358 Die Vollmacht des Subjekts Kirche wird dann mit dem kirchlichen Lehramt und seinen Vertretern mehr oder weniger gleichgesetzt. Voderholzer (Offenbarung und Kirche, 61) sieht in Ratzingers Offenbarungstheologie relativ nahtlos „eine Begründung der kirchlichen Lehrautorität im christlichen Ursprungsgeschehen, die wesentlich tiefer greift als eine bloß theologisch-positivistisch behauptete, von außen autoritativ an die Schrift herangetragene Bedeutung.“ Mit Blick auf die Kritik an Ratzingers Habilitation kommentiert Voderholzer: „Es ist paradox, dass eine Studie mit einem solchen die kirchliche Lehrautorität im Offenbarungsgeschehen selbst gründenden Ergebnis offenkundig in Sorge um den rechten Glauben beinahe verhindert worden wäre.“ Doch die Befürchtung, dass diese – nach Voderholzers Deutung – direkt in Gott begründende „kirchliche Lehrautorität“ sich nicht mehr sauber von der subjektiven theologischen Denkform der jeweiligen Amtsträger unterscheiden lässt, also vorschnell als unmittelbarer Offenbarungsempfang mit göttlicher Autorisierung identifiziert und einer dialogischen Verständigung der Glaubensgemeinschaft am objektiven Material von Schrift und Tradition entzogen wird, weil das ordentliche Lehramt die Auslegungsbzw. Offenbarungsinstanz selbst ist, scheint nicht völlig unberechtigt. In diesem Fall würde die Autorität des hörenden Subjekts Kirche mit der Autorität ihrer lehrenden Amtsträger identifiziert. Diese reale Gefahr besteht in der Tat, falls subjektive theologische Auslegungen (z. B. in der Glaubenskongregation oder in Bischofskonferenzen) zur universalen Norm für die gesamte Kirche erklärt würden, ohne auf deren Glaubenssinn und Lesart der Schrift zu hören, um das persönliche Lehren traditions- und selbstkritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu hinterfragen. Die Differenz von Kirche und Repräsentant, Amt und Person ist hier – gerade wegen des personalen Charakters jedes amtlichen Zeugnisses – unbedingt zu beachten. 359 Vgl. Ratzinger, J./Benedikt XVI., Jesus, 22. Es handle sich um den Ausdruck seines „persönlichen Suchens“ und es stehe allen frei, ihm zu widersprechen. Das ist eine ganz klare Einladung zum offenen Dialog, ja auch zum theologischen Dissens. Ob er den

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Insofern ist das Prinzip Vergewisserung und Aktualisierung immer schon an das Prinzip Dialog gebunden, wie im biblischen Kanon selbst deutlich wird. Das Bischofskollegium hat diesen Dialog abzubilden, zu repräsentieren und in geregelte Bahnen zu leiten, kann ihn aber nicht einfach in seiner Breite und Tiefe für die Gesamtkirche ersetzen. Dazu später mehr.360 Wenn man aber, wie Joseph Ratzinger dies tut, eine pneumatologische Denkform für den Traditionsbegriff in Anspruch nehmen will und das Konzil von Trient mit guten Gründen für diese Argumentation ins Feld führen kann, dann sollte man wohl auch den dazugehörigen Bezug zur charismatischen Struktur der Kirche deutlich machen, die das II. Vaticanum bewusst vor ihre hierarchische Gliederung gesetzt hat. Dann ist jedoch mit Karl Rahner zu bedenken, „dass sich der Geist als der Herr der Kirche in der Verfasstheit der Kirche durchaus die Möglichkeit und das Recht wahrt, seine Impulse der Kirche mitzuteilen, ohne sie immer und überall gleich zuerst über die hierarchischen Amtsorgane der Kirche zu leiten.“361 Die Prophetie, die biblisch gerade die kritische Instanz gegen verfestigte Strukturen und Institutionen bildete, geht darum nicht in der Vergangenheit oder im hierarchischen Lehramt auf. Am „prophetischen Amt“ partizipieren (wie am königlichen und priesterlichen Amt) alle Getauften.362 Diese prophetische – traditionskritische – Aufgabe darf dann nicht einfach innerkirchlich gezähmt oder ignoriert werden. Die besagte Vollmacht der Kirche als Trägerin der Überlieferung und lebendigen Rezeption verteilt sich darum auf die gesamte Gemeinschaft devon ihm erbetenen „Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt“ immer auch anderen entgegenbrachte, kann hier nicht beurteilt werden. 360 Vgl. Kap. III.3.5. 361 Rahner, K., Episkopat und Primat, in: Rahner/Ratzinger, Episkopat und Primat, 13 –36, 31. Noch ausführlicher: Rahner, K., Das Dynamische in der Kirche (QD 5), Freiburg i. Br. 1958, 43. „Es gibt gerade unter frommen Katholiken, die kirchlich gesinnt sein wollen, unterschwellig und unausdrücklich, aber darum um so wirksamer und gefährlicher, die Meinung, das Amt in der Kirche sei der einzige Träger des Geistes oder die einzige Tür, durch die Geist in die Kirche eintritt. Sie haben eine etatistische und totalitäre Vorstellung von der Kirche.“ Das Charisma darf nicht zugunsten des Amtes geopfert werden. 362 Vgl. LG 12; 35. Die „Laien“ sind „mit dem Glaubenssinn und der Gnade des Wortes“ ausgerüstet. Vgl. auch Johannes Paul II., Christifideles Laici (DH 4852). Sie alle – und nicht nur Bischöfe – sind aktive Zeugen Christi. „Sie sind auch dazu berufen, die Neuheit und Kraft des Evangeliums in ihrem alltäglichen familiären und gesellschaftlichen Leben offenbar werden zu lassen“. Das klingt nicht nur nach konservativer Bewahrung, sondern nach kreativer Gestaltung.

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rer, die in der Taufe am Geiste Jesu Christi teilhaben und dessen soteriologische Sendung in seinem Sinne fortführen.363 Das gesamte Leben der Kirche wird durch ihre Anrufung des Heiligen Geistes bestimmt, wie Bertram Stubenrauch betont.364 Dabei ist zu beachten, dass die Epiklese365 eine anamnetische und präsentische Struktur impliziert. „Denn es entspricht dem Geistwirken, an die Großtaten Gottes von damals für heute zu erinnern.“366 Auf dieser Linie bietet der orthodoxe Theologe Dumitru Sta˘niloae ein epikletisches Verständnis der christlichen Tradition: Sie ist Anrufung und Empfang des Geistes Jesu Christi, der in die Gegenwart hinein wirkt.367 Der Heilige Geist ist der Garant der synchronen wie diachronen Einheit der Kirche, der sie auf ihrem Weg durch die Zeit begleitet, sie an Christus rückbindet und sie, um ihm treu bleiben zu können, immer wieder für Neues öffnet, das eben mehr ist als konservative Bewahrung. „Wer den Geist immer wieder epikletisch-anamnetisch erbittet, bleibt vor traditionalistischer Erstarrung wie progressivem Aktivismus gleichermaßen geschützt.“368 Das hat auch Papst Franziskus in der ersten Pfingstpredigt seines Pontifikates deutlich herausgestellt, die er tatsächlich mit einer Epiklese – Veni Sancte Spiritus! – beendet: „Das Neue macht uns immer ein wenig Angst, denn wir fühlen uns sicherer, wenn wir alles unter Kontrolle haben, wenn wir es sind, die unser Leben nach unseren Mustern, unseren Sicherheiten, nach unserem Geschmack aufbauen, programmieren und planen. Und das geschieht auch gegenüber Gott. […] Wir haben Angst, Gott könne uns neue Wege gehen lassen, uns herausführen aus unserem oft begrenzten, geschlossenen, egoistischen Horizont, um uns für seine Horizonte zu öffnen. Doch in der gesamten Heilsgeschichte ist es so: Wenn Gott sich offenbart, bringt er Neues – Gott bringt immer Neues –, verwandelt und verlangt, dass man ihm völlig vertraut […] Fragen wir uns heute: Sind wir offen für die ‚Überraschungen Gottes‘? Oder verschließen wir uns ängstlich vor der Neuheit des Heiligen Geistes? Sind wir mutig, die neuen Wege zu beschreiten, die die Neuheit Gottes uns anbietet, oder verteidigen wir uns, eingeschlossen in vergängliche Strukturen, die ihre Aufnahmefähigkeit verloren haben? […] 363

Vgl. Congar, Tradition und Kirche, 61; 70 –74. Stubenrauch, B., Anrufung des Geistes/Epiklese, in: NLKD, 62– 65, 64: „Das Leben der Kirche ist insgesamt epikletisch zu verstehen“. 365 Vgl. Böhnke, M., Gottes Geist im Handeln der Menschen. Praktische Pneumatologie, Freiburg i. Br. 2017, 99 –118. 366 Stubenrauch, Anrufung, 64. 367 Vgl. Sta˘niloae, D., Orthodoxe Dogmatik. Bd. I, Gütersloh 1985, 65. 368 Stubenrauch, Anrufung, 64 f. 364

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Dem Anschein nach schafft der Heilige Geist Unordnung in der Kirche, weil er die Unterschiedlichkeit der Charismen, der Gaben bringt, doch unter seinem Wirken ist all das ein großer Reichtum, denn der Heilige Geist ist der Geist der Einheit, was nicht Einförmigkeit bedeutet, sondern eine Rückführung von allem in die Harmonie. […] Nur er kann die Unterschiedlichkeit, die Pluralität, die Vielfalt erwecken und zugleich die Einheit bewirken. […] Der Heilige Geist lässt uns in das Geheimnis des lebendigen Gottes eintreten und bewahrt uns vor der Gefahr einer gnostischen und einer selbstbezogenen, in ihr Gehege eingeschlossenen Kirche; er drängt uns, die Türen zu öffnen, um hinauszugehen, um das gute Leben des Evangeliums zu verkünden und zu bezeugen, um die Freude des Glaubens, der Begegnung mit Christus zu übertragen. Der Heilige Geist ist die Seele der Mission.“369

Diese Mission eröffnet der Kirche einen neuen Horizont, weckt ihre Sensibilität für die Sorgen und Nöte ihrer Zeit; sie führt die Kirche an die Peripherie und verpflichtet sie darauf, sich selbst und ihre eigenen tradierten Vorstellungsmuster auf den je größeren Gott hin zu überschreiten.370 Der Glaube an den Heiligen Geist erinnert an die geschichtliche Bindung des Christentums, aber er entgrenzt dieses und bewahrt es in seiner Beziehung zum Auferstandenen „vor der Enge einer zu kurzsichtigen, eindimensionalen Inkarnationsauffassung.“371 In jedem Fall hatte Joseph Ratzinger schon früh erkannt, dass sich die Aktualität und Tragweite – die universale Offenheit – der Offenbarung als persönlicher Selbstzusage Gottes nicht auf die objektivierte Ur-Kunde der Hl. Schrift allein reduzieren lässt. Denn das pneumatische Plus des lebendigen Traditions- und Dialogprozesses (der sich in Dogmen wiederum objektiviert hat, um analog selbst rezipiert zu werden) liegt in der permanenten Vermittlung und Transponierung des Wortes Gottes in neue Horizonte, insofern dieses Wort in seiner soteriologischen Qualität nicht nur ein informatives, sondern eben auch ein performatives Poten369 Predigt von Papst Franziskus zu Pfingsten vom 19.05.2013, online: http://www.vati can.va/content/francesco/de/homilies/2013/documents/papa-francesco_20130519_ome lia-pentecoste.html 370 Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 755 –775. 371 Stubenrauch, B., Dialogisches Dogma. Der christliche Auftrag zur interreligiösen Begegnung (QD 158), Freiburg i. Br. 1995, 150. Auch Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 507, warnte vor einer falsch verstandenen, isolierten Christozentrik, die in DV vermieden worden sei. Wenn man überhaupt von Christozentrik sprechen wolle, so müsse diese – angesichts der Pneumatologie – stets theozentrisch rückgebunden werden. „So ist hier einerseits die pneumatologische Sicht nicht übersehen, die sich aus einer Auferstehungschristologie als Korrektur einer einseitigen Inkarnationschristologie von selbst ergibt, und zugleich die Theozentrik zur Geltung gebracht, auf die sich, recht verstanden, Christozentrik notwendig überschreitet.“

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tial in sich birgt.372 Die „Freiheit des Geistes und die Vollmacht der Kirche“ zu neuer und kreativer Auslegung (die oft wieder vergessen wird, wenn es um eine traditionskritische Reform der kirchlichen Lehre und Strukturen geht) ist aber – wie schon bei Jesus selbst! – stets gebunden an das Überlieferungsmaterial der Schrift in ihrer Eigenständigkeit und Normativität.373 „Das ist zweifellos die richtige Einsicht Luthers, der in der katholischen Kirche unter dem Anspruch des Lehramts, dessen innere Grenze nicht immer deutlich genug gesehen wurde, noch nicht genug Raum zugekommen ist.“374

Ratzinger verbindet diesen Gedanken explizit mit der Aufgabe einer kirchlichen reformatio.375 Jeder Status quo ist kritisch zu befragen und jede aktualisierende Neuauslegung muss sich erst der Schriftgrundlage vergewissern, sich also am Depositum der überlieferten Schriften „gemäß der Schrift“ als eine ihrem Geist entsprechende Deutung ausweisen können, was auch schon für die sogenannte regula fidei – den gelebten Glauben – in ihrem Bezug auf das Alte Testament und die Einheit der Heilsordnung aus Schöpfung und Erlösung galt. Der lebendige Auslegungsprozess, der Jesus, seine Apostel und die Kirche im gemeinsamen Glauben an die lebendige Durchsetzungskraft von JHWH verbindet und das Gespräch mit ihrer Zeit suchen lässt, vollzieht sich „in der ganzen Existenz der Kirche, in ihrem Glauben, ihrem Leben, ihrem Kult“376 und ist schon deswegen nicht auf die lehramtlichen Entscheidungsträger allein zu beschränken, sondern als eine umfassende Rezeptionsgeschichte – auch im Falle einer begründeten NichtRezeption – in den Blick zu nehmen. Die systematische Reflexion darauf ist Aufgabe der Dogmatik, die darum mehr ist als nur retrospektive Dogmengeschichte. 372 Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi. Über die christliche Hoffnung, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 179), Bonn 32008, 2. 373 Vgl. Ratzinger, Ein Versuch, 46 ff. Daraus resultiere ein „Wächteramt“ der Exegese (47) über den Text, das gegenüber aller „Gnosis“ auf die Geschichtlichkeit (als Bindung des Logos an die Sarx) achte. Damit werde der Wortsinn der Schrift zu einem relativ selbstständigen Kriterium des Glaubens, in enger Verbindung mit der regulativen Funktion der amtlichen Zeugen, die darüber wachen, dass die Schrift nicht gegen die regula fidei und den Glaubenskonsens der Kirche ausgespielt oder gar in ihrer kanonischen Geltung aufgelöst wird (48). 374 Ratzinger, Ein Versuch, 47. 375 Ratzinger, Ein Versuch, 48. Er sieht hier „neue Möglichkeiten“ im ökumenischen Gespräch eröffnet. 376 Ratzinger, Ein Versuch, 47.

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Schließlich zeigt sich in der Tat, dass die im Vorfeld des II. Vatikanischen Konzils diskutierte und letztlich offen gelassene Frage nach einer materialen Suffizienz der Hl. Schrift viel zu kurz greift, wenn sie auf ein formales Prinzip reduziert würde.377 Fest steht, dass weder die Genese der Schrift noch die des Kanons ohne Traditionsprozess denkbar ist, wie auch die Auslegung stets auf einen diese Schrift transzendierenden Rezeptionsprozess angewiesen bleibt. Zugleich weiß sich dieser Prozess an das normative Material der Hl. Schrift gebunden.378 „So hat das Konzil den Gedanken einer von der Schrift völlig unabhängigen Überlieferung verworfen.“379

2.5. Die Schrift in kritischer Differenz zur kirchlichen Tradition Auch für die Reformation und insbesondere für Martin Luther war ja nicht einfach ein formales Schriftprinzip als plumper Biblizismus entscheidend, sondern vielmehr das materiale Prinzip der Rechtfertigungslehre „in ihrer grundlegenden Intention“ und damit auch die soteriologische Dynamik des Evangeliums als Heilszusage Gottes (sola gratia), die so zum Träger kirchlicher Kontinuität wird, wobei das Wort Gottes nur im Medium der Hl. Schrift zeugnishaft abgesichert ist und in der kirchlichen Überlieferung lebendig – aber eben auch traditionskritisch – ausgelegt wird.380 Damit berühren wir freilich eine tief sitzende Wunde der abendländischen Ökumene. Denn die römisch-katholische Amtskirche provozierte, so könnte man sagen, einen Bruch der Reformation mit der kirchlichen Rezeptions- und Auslegungsgemeinschaft381 und ihrer (lehr377 Vgl. Friedrich, J., Die Bibel und ihr Kanon. Welche Bedeutung haben sie für kirchenleitendes Handeln heute?, in: Landmesser/Klein (Hg.), Normative Erinnerung, 51–70, 52 f. Anders als zum Teil in der späteren protestantischen Tradition gelte für Luther: Wort Gottes ist nicht die Schrift an sich, sondern „die schriftgebundene Predigt“ (53). Die Bibel dient im Rahmen eines allgemeinen Priestertums qua Taufe als Medium der Mündigkeit, der Freiheit und Verantwortung. Darum soll sie auch für alle zugänglich sein. 378 Vgl. Kasper, W., Schrift – Tradition – Verkündigung, in: Ders., Evangelium und Dogma, 386 – 419; Kasper, W., Das Verhältnis von Schrift und Tradition. Eine pneumatologische Perspektive, in: Ders., Evangelium und Dogma, 432– 474. 379 Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 10. 380 Vgl. Hauschild, W.-D., Die Bewertung der Tradition in der lutherischen Reformation, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I, 195 –231, 196 ff. Dieser Prozess der Traditio ist von den einzelnen traditiones humanae zu unterscheiden. 381 Vgl. Huebenthal/Handschuh, Der Trienter Kanon, 117: „Es ging in der Frage des Kanons nicht um eine kleinere Problemstellung, sondern um die Validität der durch

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amtlich verengten382) Autorität, da diese in ihrer eigenen Reformunfähigkeit und -unwilligkeit die Strukturen des Machterhalts über die verbindlichste Norm der Kirche stellte. Sie stellte ihre (amtliche) Schriftauslegung über das Zeugnis des Wortes Gottes, das sich den Hörenden des Wortes selbst wirksam offenbart und zu einem offenen Dialog führen muss. Umgekehrt wurde auf protestantischer Seite teilweise eine subjektive Fragwürdigkeit des Kanons provoziert.383 Dieser existierte ja niemals als eigenständige literarische oder theologische Einheit an und für sich, sondern immer für eine Überlieferungsgemeinschaft, als ein von Kreativität und Pluralität zeugendes – und darum auch nicht christologisch reduzierbares – Medium zur selbstkritischen Vergewisserung und Aktualisierung jenes Glaubens, der Israel und die Kirche verbindet und unterscheidet.384 Hierin besteht schon die kritische Funktion des AT als vorgegebenes Gegenüber zur christlichen Tradition, die darin verbindlich auf ihre Herkunft verwiesen bleibt. Die damit verbundenen Fragen zur protestantischen Verknüpfung von Schrift, Tradition und Amt stehen hier nicht weiter zur Debatte, insofern wir uns auf die katholische Perspektive konzentrieren. Dass sich die protestantische Kritik angesichts akuter und chronischer Missstände im kirchlichen Leben gerade auf die nachweislichen Entwicklungen und Innovationen, ja die Neuerungen kirchlicher Lehre und Praxis richten musste (die als die willkürliche Degeneration einer vermeintlich idealen biblischen Vergangenheit abgelehnt wurden), verwundert sicherlich kaum. Dass demgegenüber aber ausgerechnet die katholische Dogmatik auf der Notwendigkeit einer entwicklungsoffenen Dogmen- und Kirchengeschichte besteht (vgl. DV 8), um das Wort Gottes durch das Medium der Kirche in neuen Kontexten angemessen verstehen, aktualisieren und verbalisieren zu können, ist jedoch eine eigenwillige Ironie der Theologieschichte. Denn angesichts der Rechtfertigung der neuzeitlichen Maden Kanon konstituierten Diskursgemeinschaft und deren Interpretations- und Weitergabeinstitutionen insgesamt.“ 382 Vgl. Smolinsky, H., Schrift und Lehramt. Weichenstellungen in der römisch-katholischen Kirche des 16. Jahrhunderts, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis III, 204 –220. 383 Vgl. Seckler, Über die Problematik, 34 –37. 384 Vgl. Barth, K., Kirchliche Dogmatik I/1, Zürich 1980, 115. Die Bibel mache „sich selbst zum Kanon. Sie ist Kanon, weil sie sich als solcher der Kirche imponiert hat und immer wieder imponiert.“ Wenn der Kanon sich aber selbst „imponiert“, ohne selber davon zu wissen, so stellt sich doch die kritische Frage: Welcher Kanon imponiert sich denn nun konkret wem und nach wessen Kriterien? Die Aussage bleibt also fragwürdig.

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riendogmen scheint dies geradezu evident zu sein, auch wenn eine Entwicklung der Lehre hier mehr oder weniger unabsichtlich affirmiert wurde. In diesem Kontext wurde faktisch bestätigt, was man explizit ablehnte: „Innovation aus anti-innovatorischer Absicht.“385 Ökumenisch treten somit zwei neuralgische Punkte ins Blickfeld: a) die Autorität der Hl. Schrift in ihrer kanonischen Bindung an eine universalkirchliche, diachrone, durch apostolische Sukzession verbürgte Traditions- und Rezeptionsgemeinschaft der Kirche, die sich der Schrift vergewissert, sie ihrem lebendigen Geist entsprechend aktuell auslegen und mit Autorität letztlich entscheiden muss (das apostolische Anliegen der Catholica) und b) die Frage nach objektiven, materialen Kriterien und der konkreten Kompetenz solcher Auslegung, bei der die Glaubensgemeinschaft als Ganze Gehör finden muss, ohne dass lehramtlich über den realen Glaubenssinn und die Glaubensnöte aller Getauften hinweginterpretiert werden darf, weil es um den Glauben einer Gemeinschaft geht, der sich je heute artikulieren, aber an der Schrift bemessen lassen muss (Anliegen der Reformation).386 Es geht also um die Balance zweier Autoritäten: Die Autorität der Hl. Schrift, für welche die Kirche als Rezeptionsgemeinschaft im Glauben mit ihrem gemeinschaftlichen Traditionsprozess und apostolischen Amt bürgt und die Autorität des kirchlichen Lehramtes im Auslegungsprozess der Tradition, die sich anhand der Hl. Schrift messen und kritisieren, ja immer auch limitieren lassen muss.387 Dabei kann man 385 Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 36 – 42; Rahner/Lehmann, Geschichtlichkeit, 729 ff. 386 Die Gesamtverantwortung des Gottesvolkes für die Überlieferung des Glaubens ist ein ökumenischer Konsens. Vgl. Ökumenischer Arbeitskreis, Schriftverständnis, 370 –374. 387 Vgl. Ratzinger, Ein Versuch, 27 f.; 33. Für ihn wird bei den Reformatoren die Hl. Schrift zum Kriterium und Maßstab für das kirchliche Amt, während auf katholischer Seite das Amt als Kriterium für das Wort angesehen wurde, insofern es für das Wort bürge. Dies sei „der eigentliche Gegensatz im Kirchenbegriff von Katholiken und Reformatoren“ (28). Durch die Abweisung des Lehramtes als Kriterium (!) für das göttliche Wort sei es zu einer Reduktion auf eine sich selbst auslegende Schrift gekommen, wobei traditio mit abusus gleichgesetzt worden sei. Umgekehrt wird man für die katholische Seite von einer zunehmenden Verabsolutierung des Amtes sprechen müssen, dem die Schrift nur noch als schmückendes Beiwerk diente, während der Missbrauch (nicht nur des göttlichen Wortes!) durch Amtsträger systematisch nicht in Betracht kam. Beide Extreme befeuern sich gegenseitig. Für das Konzil von Trient, das durchaus auf Reform zielte, ist das in der Schrift bezeugte Wort „keine selbstständig über der Kirche schwebende Wirklichkeit“ (28). Das ist richtig. Doch stellt sich im Gegenzug die Frage: Wird die Schrift durch das Amt der Kirche personal „verbürgt“ oder selbst normiert und vereindeutigt? In der Rezeption von Trient bis hin zum I. Vatica-

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kaum leugnen, dass „Luthers Kampf um das Wort“ als „heilsamer Warnruf“388 bis zum II. Vaticanum nur sehr bedingt ernst genommen und danach auch gerne wieder überhört worden ist. Die Dynamik einer lebendigen Tradition, die als aktualisierende Rezeption die Hl. Schrift auch traditionskritisch zu lesen vermag, ohne jedoch mit der Tradition der Glaubensgemeinschaft zu brechen, darf weder ins Beliebige aufgelöst noch auf das fixierte Material der Schrift begrenzt werden. Aus Sicht der Orthodoxie formulierte Dumitru Sta˘niloae: „Die lebendige apostolische Tradition setzt demnach dem Bewusstsein der Kirche und der Gläubigen keine Grenze, wie es mit den protestantischen Bekenntnissen der Fall ist, sondern verleiht ihnen die Freiheit des geistlichen Denkens und Lebens in einem unendlich reichen und tiefen Horizont.“389 Doch die Offenheit – auch der formulierten Bekenntnisse – bleibt im „unendlichen Reichtum der Schrift“ begründet, sie wird eröffnet und getragen durch den Heiligen Geist, der das in der Hl. Schrift bezeugte Wort Gottes für je neue Herausforderungen neu erschließt. Die Kirche ist der „Dialog Gottes mit den Gläubigen durch Christus im Heiligen Geist.“390 Sie müsste diesen Dialog dann aber auch abbilden. Die Hl. Schrift (zunächst freilich das AT) wird in die apostolische Tradition und in das Leben der Kirche hinein „verlängert“, welche diese Schrift im Sinne Jesu Christi und seiner Apostel auslegen und aktualisieren muss.391 num ist diese Tendenz klar erkennbar. Dass das kirchliche Lehramt der Schrift und ihrer Rezeption durch die Gesamtkirche dient und sich kritisch daran messen lassen muss, ist ein Gedanke, den dann das II. Vaticanum in DV 10 klar formuliert hat. 388 Ratzinger, Ein Versuch, 30. 389 Staniloae, D., Die Heilige Schrift und die apostolische Tradition im Bekenntnis der ˘ Kirche, in: Kirchliches Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Die Heilige Schrift, die Tradition und das Bekenntnis, Frankfurt a. M. 1982, 30 – 45, 32. 390 Sta˘niloae, Orthodoxe Dogmatik I, 55. 391 Vgl. Sta˘niloae, Die Heilige Schrift, 43. „Die ins Leben der Kirche verlängerte apostolische Tradition ist nichts anderes als die Schrift oder die authentisch angewendete Lehre und das erlösende Wirken Christi.“ Vgl. Sta˘niloae, Orthodoxe Dogmatik I, 65: „Nur durch die Tradition wird der Inhalt der Heiligen Schrift im Verlauf der Geschichte von Generation zu Generation immer wieder lebendig – aktuell und dynamisch – wirksam.“ Tradition ist demnach die Anwendung des Inhalts der Hl. Schrift auf das Leben der Kirche. Sie ist Umsetzung ins Leben: immer neu und doch immer gleich. Vgl. dazu: Henkel, J., Dumitru Sta˘niloae. Leben – Werk – Theologie, Freiburg i. Br. 2017, 78: „Für Sta˘niloae sind der Inhalt der apostolischen Tradition und der Heiligen Schrift sowie die Kirche miteinander dynamisch und auf das Engste verbunden, die Tradition interpretiert die Heilige Schrift auf das Leben hin.“

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„Die apostolische Tradition ist nichts anderes als die Anwendung und die Verwertung des Schriftinhaltes durch die Apostel im Leben der ersten Christen. Dadurch ist sie zu unendlicher Entfaltung fähig, denn der Inhalt der Schrift, dessen Auslegungs- und Anwendungsnorm die Apostel gaben, ist selbst unerschöpflich, obwohl man das Wesentliche daraus zusammenfassen kann. Seine wahre Entfaltung behält denselben erlösenden Inhalt.“392

Das Wesentliche, in dem Kontinuität besteht, liegt also im erlösenden – theofinalen – Gehalt der Schrift, deren Auslegung in der Tradition grundsätzlich „unendlich“ entfaltbar ist. Hier stellt sich wiederum die traditionskritische Frage nach möglichen Missbräuchen und Fehldeutungen, die die Schrift und ihre apostolische Hermeneutik pervertieren.393 Die orthodoxe Theologie ist für dieses legitime Anliegen der Reformation tendenziell bedingt empfänglich, wenn betont wird: „Die Gläubigen der Orthodoxen Kirche bewahrten seit Jahrhunderten ihren Glauben ohne jede Veränderung.“394 Diese „ununterbrochene Tradition“ kennt aber unreflektierte Symbiosen mit staatlichen und weltlichen Strukturen; sie kennt Frömmigkeitspraktiken oder Deutungen, die als instrumentalisierte Auslegung der Schrift nicht unhinterfragt beibehalten werden sollten. Für Teile des Orthodoxen Christentums ist Traditionskritik (analog zu römisch-katholischen Positionen) dadurch erschwert, dass der zwar zeitgeschichtlich zu würdigende, aber heute auch kritisch zu befragende Wert von „geistlichen“ Bibelauslegungen nostalgisch überhöht wird. Problematisch ist in diesem Zusammenhang eine gewisse Verabsolutierung kirchenväterlicher Exegese.395 Neben der tendenziellen Gefahr ei392 Sta˘niloae, Die Heilige Schrift, 34. Mit Kyrill verweist Sta˘niloae (33) auf die orthodoxe Überzeugung, dass „eine ihrem Wesen nach neue Lehre verboten ist, nicht aber eine weitgehende Erklärung des Inhalts des Symbols oder der Schrift oder der apostolischen Tradition, die ihrerseits die Lehren des Heilands entwickelte, wie z. B. die Schriften und Worte des hl. Apostels Paulus.“ 393 Das ist teilweise ein blinder Fleck in der orthodoxen Argumentation. Vgl. Sta˘niloae, Die Heilige Schrift, 43: „Wir glauben, dass die Apostel den authentischen Sinn der erlösenden Worte und Taten Christi, deren schriftliche Bezeugung in der Schrift durch die Apostel erfolgte, besser kannten als die Verfasser der protestantischen Bekenntnisschriften aus dem sechzehnten Jahrhundert.“ Mag sein. Man wird aber davon ausgehen müssen, dass die Reformatoren die Situation der Kirche ihrer Zeit und deren missbräuchliche Praxis besser kannten als all jene, die den faktischen Missbrauch des apostolischen Erbes und seine unheilvolle Wirkungsgeschichte nicht mehr erlebten. Insofern sollte man sich davor hüten, die Tradition naiv mit dem „authentischen Sinn“ der Apostel gleichzusetzen. 394 Staniloae, Die Heilige Schrift, 31. ˘ 395 Makrides, V., Die Autorität und Normativität der Tradition. Zum Umgang mit Heiligen Schriften im Orthodoxen Christentum, in: Bultmann, C./März, C.-P./Makri-

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ner subjektiven Verabsolutierung der Hl. Schrift an sich (im Protestantismus) oder der Schriftauslegung des Lehramtes (im Katholizismus) wäre also auch die einer Verabsolutierung von materialisierter, vor allem patristischer Tradition (in der Orthodoxie) zu problematisieren. Trotz aller Betonung, dass die Glaubenslehre der Orthodoxie „in allen Zeiten dieselbe“ sei, gesteht Sta˘niloae zu, dass sie sich eine „ununterbrochene Elastizität“ bewahrt habe, „was Form, Ausdruck und Definition anbelangt. In ihrem Wesen veränderte sie sich nicht; dennoch ist ihre Form und ihr Ausdruck nicht starr.“396 So komme es im Laufe der Zeit zu einer „Vertiefung und Nuancierung“, auch zu Ergänzungen in der Lehre.397 Sta˘niloae sieht in vermeintlich starren Wendungen wie „sola fide“ und „sola scriptura“ Prinzipien, die nuanciert, vertieft und ergänzt werden müssten, was seit seiner Äußerung im ökumenischen Dialog auch zweifellos geschehen ist.398 Offen bleibt aber die kritische Frage, wer beurteilt, was genau zum erlösenden Wesen der Glaubenslehre gehört und was nicht. Der Verweis auf eine absolute Autorität der Schrift allein löst ja nicht die Frage nach ihrer angemessenen Auslegung jenseits subjektiver Optionen.399 An die Adresse der katholischen Kirche des, V. (Hg.), Heilige Schriften. Ursprung, Geltung und Gebrauch, Münster 2005, 72– 85, 81, konstatiert eine weitestgehend noch fehlende Historisierung des Orthodoxen Christentums, die in einer Art normativen „Dogmatisierung der Patristik“ begründet sei. Damit verbunden sei ein struktureller Konservativismus, der dazu tendiert, „einmal festgelegte Interpretationen als für alle Zeiten gültig zu betrachten.“ Das führt zu einer Problematik, die auch in der katholischen Kirche gelegentlich aufscheint: „Fragestellungen und Probleme des 20. Jahrhunderts werden durch die Brille des 4. oder 5. Jahrhunderts gesehen, obwohl sie zu jener Zeit überhaupt nicht auf die gleiche Weise gestellt worden waren.“ Dass die Schrift auch eine „Kontrollinstanz“ gegenüber der – meist pauschal als „heilig“ verstandenen – Tradition darstellt, findet sich im Ansatz bei Bulgakov, S., Die Orthodoxie. Die Lehre von der orthodoxen Kirche, Trier 3 2013, 40 f. 396 Staniloae, Die Heilige Schrift, 36. ˘ 397 Staniloae, Die Heilige Schrift, 36. „Von diesem Standpunkt aus könnte man be˘ haupten, dass die erweiterten orthodoxen Bekenntnisse elastischer als die protestantischen Bekenntnisse sind, die keine spätere Entwicklung mehr kennen.“ 398 Vgl. Ökumenischer Arbeitskreis, Schriftverständnis, 363 –370. Für einen historischen Überblick vgl. Sattler, D., Die Kirchen unter Gottes Wort. Schriftverständnis und Schriftauslegung als Thema ökumenischer Dokumente, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis III, 13 – 42. 399 Vgl. EKD (Hg.), Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 42015, 76 – 86. Wer entscheidet nach welchen Kriterien, ob eine heutige Auslegung „den biblischen Texten entspricht“ (79)? Theolog:innen? Kirchenvorstand? Jede(r) für sich? So-

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und der Orthodoxie könnte man die Mahnung formulieren, dass die Autorität des Lehramts oder der Tradition, wenn sie verabsolutiert würden, das traditionskritische Potential der Schrift in ihrer Bedeutung für den Glauben durch eine unbewegliche Haltung im Keim ersticken. Weil hier zwar potentiell verschieden, aber doch in ähnlicher Weise verabsolutiert wird, bedarf es einer Relationalität, die nur von denen als Relativismus diskreditiert wird, die das relationale Offenbarungsverständnis der Hl. Schrift wie auch des II. Vatikanischen Konzils nicht verstanden haben: Das Wort Gottes spricht je neu und je persönlich an; es ist geschichtlich an menschliche Bezeugung gebunden, aber zugleich pneumatologisch entgrenzt. Zugleich zielt es immer auf Gemeinschaft. Sta˘niloae sieht in der Vorgehensweise der ersten Ökumenischen Konzilien darum eine Praxis, die verhärtete Extrempositionen vielleicht neu zusammenführen kann, insofern man hier den Rezeptionsprozess geschichtlich rückbindet und doch bewusst nach vorne hin offen hält, ohne hart auszugrenzen: „Die Kirche hat es also immer vermieden, voreilig zu definieren, weil sie empfand, wie schwer das Mysterium des in der Hl. Schrift und der apostolischen Tradition offenbarten Glaubens mit Hilfe enger, rationaler Formeln in ausreichender Weise definierbar ist. Und als sie dazu gezwungen wurde, gab sie diesen Definitionen einen paradoxen Charakter, dem Enge und Einseitigkeit fremd waren. Diese Definitionen waren umfassend; Position und Gegenposition fanden in unauflöslicher Vereinigung in ihnen ihren Platz. Die Kirche hat viel Wert darauf gelegt, das weite und allumfassende Mysterium Christi und unserer Erlösung durch die Verbindung mit ihm in paradoxen Formeln zu umschreiben und enge, einseitige Formeln zu vermeiden.“400 mit wird es kaum verwundern, wenn fundamentalistische evangelikale Freikirchen in den USA dieselbe Schrift völlig gegenläufig zur Evangelischen Kirche in Deutschland lesen, basierend auf demselben Prinzip. Handelt es sich also wirklich um eine „eindeutige“ Richtschnur (76), die „sich selbst“ auslegt? Verweist man auf Synoden, so handelt es sich auch um einen gemeinschaftlich ausgeübten Autoritätsanspruch der Kirche mit Entscheidungskompetenzen (82), gegen die sich das „sola scriptura“ ja potentiell richtet (78). Sta˘niloae, Die Heilige Schrift, 38, sieht die Tradition dagegen organisch mit der Schrift verbunden, wie bei einem Baum, dessen Äste mit den Wurzeln durch den Saft verbunden seien, der durch den Stamm fließt. Er kommt zu dem Urteil: „Der Protestantismus hat die Beziehung zur Schrift durch den Stamm verloren; seine Verbindung ist ein isoliertes Buch und dadurch werden fünfzehn Jahrhunderte lebendiger Kommunikation mit der Schrift beseitigt.“ Man wird im Sinne dieses Bildes aber erwidern dürfen, dass es auch dürre Äste gibt, die gestutzt werden müssen, damit die Triebkraft eines Baumes nicht verloren geht. Das auch auf dem II. Vaticanum kursierende Motto „ad fontes“ kann insofern als eine traditionskritische Mahnung und als Mittelweg verstanden werden, der die genannten Anliegen verbindet. 400 Sta˘niloae, Die Heilige Schrift, 37.

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Die Einheit wird also – sogar bei zentralen Fragen der Christologie! – durch einen Kompromiss gesucht, der auf offenem Dialog (synchron wie diachron) und synodaler Verständigung basiert. Die Deutung der Schrift wird damit der Eindeutigkeit einer rein subjektiven Auslegung durch Einzelne entzogen. Diese auf ausgleichendem Dialog und auf „Elastizität“ beruhende Offenheit, die weitere Diskussion und Vertiefung zulässt, verbietet jede unbewegliche Haltung, die in einer gegen jede Traditionskritik immunisierten Verabsolutierung401 traditioneller oder lehramtlicher Schriftauslegungen ebenso gegeben ist wie in der starren Haltung eines biblischen Fundamentalismus, künstlichen Historismus oder ins Beliebige abgleitenden Subjektivismus. Die protestantische Kritik, angesichts der engen Verwobenheit von Schrift und Tradition sei eine richterliche Funktion der Schrift gegenüber der Kirche und ihrer Praxis kaum möglich402, ist also ernst zu nehmen. Ratzinger gibt ihr in seinem Kommentar zur Offenbarungskonstitution sogar explizit Recht: Es bestehe eine „bedauerliche Lücke“ hinsichtlich der innerkirchlichen Bedeutung der Schrift als Instanz potentieller Kritik und damit auch der Korrektur gegenüber entstellenden Traditionselementen. Die theologisch reflektierte Grundlage für eine „ecclesia semper reformanda“, der eigentliche Impetus für Reformen, sei durch ein Konzil, das sich bewusst als Reformkonzil verstanden habe, leider versäumt worden.403 Karl Lehmann sieht zwar in den Formulierungen des Konzils „durchaus und auch grundsätzlich einen Raum zwischen Schrift, Tradition und Kirche“ freigegeben, um darauf basierend „den bleibenden Gehorsam und eben auch die Möglichkeit des Ungehorsams im Einzelnen zu markieren.“ Doch er räumt zugleich ein: „Hier hat das Konzil der theologischen Arbeit eine große, aber ganz wichtige Aufgabe hinterlassen.“404 Jenseits der ökumenischen Dimension, die einst aus dem Anliegen der Reformation erwachsen ist, stellt sich hier also generell die Frage nach der Möglichkeit kirchlicher Reform durch neue und traditionskritische Rezeption, die sich auch als Tradition an die Schrift gebunden und zugleich von ihr unterschieden weiß. Es handelt sich nicht nur um ein ökumenisches Desiderat, sondern seitens der katholischen Theologie auch um ein dogmatisches Defizit, für dieses le401

Man könnte hier konkret an die Piusbruderschaft denken. Vgl. Lehmann, Dei Verbum, 46 f.; Ders., Die Bildung des Kanons, 63: „Im Kanon unterstellt sich die Kirche der Kritik.“ Vgl. auch: EKD, Rechtfertigung, 78, wo diese „Differenz zwischen Schrift und Tradition“ noch einmal kritisch hervorgehoben wird. 403 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 524 f. 404 Lehmann, Dei Verbum, 47. 402

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gitime Anliegen system- und traditionskritischer Schriftauslegung – jenseits aller kirchenpolitischen Optionen – keine konsensfähigen und verbindlich operationalisierbaren theologischen Kriterien kirchlicher Rezeption benennen zu können, die im Einklang mit den innerkanonischen Prinzipien der Hl. Schrift selbst stehen und auf dieser normativen Basis der nach vorne hin offenen Überlieferung zur Reform dienen können.405 Auch dazu will die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten. Eine Richtung weisen in diesem Zusammenhang auch topologische Ansätze, die wir später in den Blick nehmen werden.406 Eine Grundlage jeder theologisch fundierten Reform besteht zunächst in der hier gewonnenen Einsicht, dass eine Rezeption der Hl. Schrift im lebendigen Alltag der Glaubensgemeinschaft durch das pneumatische Plus des die Schrift transzendierenden Wortes Gottes immer neue Sinnhorizonte eröffnet. Entscheidend ist die Frage, wie sich eine dem Heiligen Geist entsprechende Neuauslegung der Schrift im Sinne dessen, was Gott uns heute sagen will, unterscheiden lässt von menschlichen Interessen.407 Es handelt sich um eine Problematik, die das Neue Testament interessanterweise an der defizitären Auslegungskompetenz von Petrus illustriert, wenn Jesus ihm vorhält, er habe „nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ (Mt 16,21 ff.) Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Petrus durch Widerspruch die Wege Gottes zu verstehen lernt (vgl. Gal 2,11–21).

405 Vgl. Söding, Einheit, 16. „Das traditionskritische Potential der Schrift in hermeneutisch reflektierter, theologisch verantworteter, kirchlich eingebundener Weise zu nutzen, bleibt eine noch zu lösende Aufgabe.“ 406 Vgl. im Folgenden Kap. IV.2.3. 407 Vgl. Stubenrauch, B., Unterscheidung der Geister, in: NLKD, 665 – 668, 668: „Im Blick auf das kirchl. Gemeinschaftsleben gilt es Kriterien zu entwickeln, die geeignet sind, die Jt. alten Erfahrungen des individuellen geistlichen Lebens auf Entscheidungssituationen in der kirchl. Öffentlichkeit zu übertragen: Wie hat sich die Kirche zu verhalten angesichts neuer Herausforderungen durch veränderte Lebensumstände und Mentalitäten? Wie lassen sich innerkirchl. Diskussionen über strittige theol. Neuansätze einer tragfähigen Entscheidung zuführen? Wo rührt bürgerliches Wunschdenken an das göttl. Gesetz, und wie verhält sich kluge Anpassungsfähigkeit zur Notwendigkeit, wider den Zeitgeist zu reden? Zur Beantwortung solcher Fragen sind erkenntnistheol. Rekurse insbes. auf das Wissen um den sensus fidei, die Lehre von den loci theologici nach M. Cano und von der Geistinspiriertheit der Schrift unerlässlich, deren Wort in jedem Fall den ersten und grundlegenden Anhalt für schwierige ekklesiale Entscheidungen bietet.“

271 3. Pneumatischer Plural der Auslegungen Es sei die Eigenart der Bibel, so die Päpstliche Bibelkommission, „kein strenges System zu bilden, sondern im Gegenteil in der Dynamik von Spannungen zu stehen. Die Bibel hat verschiedene Weisen, die gleichen Ereignisse zu interpretieren oder die gleichen Probleme zu bedenken. Sie lädt somit ein, Vereinfachungen und geistige Enge zurückzuweisen.“408 Das muss dann aber in gleicher Weise für die darauf basierende systematische Theologie und die offizielle Lehre der Kirche gelten. „Diese Polyphonie der biblischen Stimmen ist der Kirche als Modell angeboten, damit sie im Heute dieselbe Fähigkeit habe, die Einheit der Botschaft, die den Menschen zu übermitteln ist, mit dem notwendigen Respekt vor der vielförmigen Verschiedenheit der persönlichen Erfahrungen, der Kulturen und der von Gott geschenkten Gaben zu verbinden.“409

Beachtet man außerdem die verschiedenen Textvarianten, Anordnungen und Übersetzungen der Hl. Schriften, so muss man mit Adrian Schenker zu dem Schluss kommen, „dass die Bibel in verschiedenen Formen ‚subsistiert‘, da die Kirche dieses Wort [Gottes] in verschiedenen Formen hört und liest. Die unterschiedlichen Textgestalten schliessen sich demgemäss [sic] nicht aus, sondern haben alle Teil am offenbarten Wort Gottes. Sie bilden eine Symphonie. Sie ergänzen sich. Es gibt nicht einen einzigen, sondern einen mehrfachen Wortlaut.“410 Das „Subsistieren“ der Hl. Schrift in verschiedenen Ausprägungen (wie auch Übersetzungen) bedeutet, dass es keine exklusive Gestalt gab und gibt, die für sich allein Geltung beanspruchen kann. Die verschiedenen Verwirklichungsformen der Hl. Schrift mit ihren Textvarianten stehen nicht ohne Grund in einem engen ekklesiologischen Zusammenhang mit der Subsistenz der einen Kirche Jesu Christi, die neben ihrer römischkatholischen Gestalt auch andere Verwirklichungsformen keineswegs ausschließt (LG 8).411 Ein vermeintlicher Urtext kann, auch wo er hypo408

Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 94. Päpstliche Bibelkommission, Inspiration, 145. 410 Schenker, Die Kirche liest, 364. 411 Zur Formulierung in LG 8 (subsistit in) vgl. Weißer, M., Wozu brauchen wir die Kirche, in: Dirscherl/Weißer, Dogmatik, 223 –270, 247 ff.; Kasper, Katholische Kirche, 234 –238, 235: „Der Anspruch der katholischen Kirche wurde damit nicht relativiert oder gar zurückgenommen, aber er wird nun nicht mehr im Sinn des Alles oder Nichts vertreten. Es sollte gesagt werden, dass außerhalb der katholischen Kirche nicht einfach ein ekklesiologisches Vakuum besteht.“ Ebenso besteht außerhalb ihres Kanons 409

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thetisch rekonstruierbar wäre, nicht punktuell als götzenhaft definierbares Wort Gottes identifiziert werden. Es ist die lebendige Rezeptionsdynamik der Hörer/innen des Wortes, die das Wort Gottes in ihrer jeweiligen – wandelbaren – Situation empfangen, transponieren und ihm deutend eine neue Bedeutung für ihr Leben entnehmen. Insofern gilt es die ekklesiologischen Implikationen des philologischen Befundes im Rahmen des kanonischen Prozesses wahrzunehmen: Es handelt sich um eine offenbarungsvermittelnde Dynamik der Hl. Schrift, bei der eine textkritische Rekonstruktion des tradierten Wortlauts im Überlieferungsprozess unentbehrlich ist, wobei die ihm immanente Pluralität nicht eliminiert werden kann, da sie offenbar selbst konstitutiv für die kirchliche Tradition und Rezeption ist. Johanna Rahner verweist auf diese Mehrdeutigkeit und Pluralität der Perspektiven.412 Auch der Kanon selbst sei „ein lebendiger Dialog unterschiedlicher normativ gewordener Traditionen, die nur gemeinsam und in ihrer Verwiesenheit maßstäblich sind.“413 Durch die Kanonisierung soll das Prinzip der Pluralität gerade nicht erstickt, sondern beibehalten und gesichert werden. „Der Vorgang der Kanonbildung reduziert damit nicht Pluralität, sondern ermöglicht eine stets ins Plurale tendierende Verlebendigung. Der Kanon lenkt die möglichen Verlebendigungsformen allenfalls in geordnete Bahnen, verbürgt aber in seiner konkreten Gestalt genau die pluralisierende, multiperspektivische Dynamik, die ihn hervorgebracht hat.“414

Diese „Pluralitätsneigung und Ambiguitätsfähigkeit“ bleibt in der Rezeption durch Leser/innen erhalten und hat daher in der Tat ekklesiologisch-strukturelle „Sprengkraft“.415 Problematisch wird es, wenn sich die Frage nach der Auslegungskompetenz mit der Machtfrage verbindet. In diesem Moment ändern sich nämlich die Vorzeichen der Rezeption: „Grenzkriterien möglicher Auslegungen liefert nun nicht mehr die Soteriologie, sondern die Ekklesiologie.“416 Dabei sei der Streit um das reformatorische sola scriptura nur „ein Scheingefecht, denn es geht eigentlich nicht um die Tatsache, dass die Schrift stets ihrer verlebendigenden Umsetzung in Leben und Wirken kein theologisches Vakuum, wo die Schrift anders angeordnet, übersetzt oder gelesen wird; das gilt auch für das Judentum. 412 Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 187 ff. 413 Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 191. 414 Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 191. 415 Vgl. Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 194. 416 Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 196.

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der Kirche bedarf und wie die Verlebendigung zu gewährleisten ist, sondern es geht um die Frage nach der Richterfunktion im Streitfall und damit um die Frage nach der hermeneutisch relevanten Grundstruktur von Kirche – konkret: um den Papst als iudex scripturae. Nicht ohne Grund wehrt sich die Minorität des Trienter Konzils gegen die allein strukturell bedingte Instrumentalisierung des Themas ‚Tradition‘; sieht sie doch in der beabsichtigten Aufwertung der Tradition zu Recht eine Gefährdung der Einzigartigkeit der Hl. Schrift.“417 Hinter der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition stecke darum als „Schattenthema“ die „moderne Frage nach der inneren Legitimation der lehramtlich beanspruchten Richterfunktion […], die sich nun in Gestalt des spannungsvollen Mit- bzw. Gegeneinanders von Peripherie und Zentrale, Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und Lehramt, in Szene setzt.“418 Damit bricht das im Kapitel zuvor beschriebene ekklesiologische Desiderat der Ökumene erneut auf. Die sich andeutende Frage nach dem Umgang mit dem Widerspruch zur lehramtlich institutionalisierten Schriftauslegung, nach deren Kompetenz und legitimen Reichweite steht (für die katholische Kirche) mit aller Dringlichkeit zur Debatte und wird uns in Kap. III.3.5. und 3.6. ausführlicher beschäftigen.

3.1. Die Kirche im Dialog mit sich selbst, Gott und der Welt Einheit in Vielfalt gilt als ein Grundprinzip aller Katholizität und gründet letztlich in der Bibel und ihrer Polyphonie, die kein notwendiges Übel ist, sondern Ausdruck des kreativen Willens Gottes, sich im Anderen seiner selbst – in der Zeit als der dramatischen Geschichte des Heils – mitzuteilen, ohne selbst darin aufzugehen.419 Der Kanon legt von dieser unver417 Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 197. Man versuche diese Stellung (wie auch später auf dem I. Vaticanum) durch „eine mehr oder minder unreflektierte Vorstellung der Verbalinspiration zu wahren (vgl. DH 1501; DH 3006)“. Verschärft werde diese Tendenz durch die im 19. Jh. aufbrechende Forderung nach der „Irrtumslosigkeit“ der Schrift auch in empirischen Fragen. Dabei gehe es weniger um die Schrift an sich als um die Schriftauslegung des Lehramtes. 418 Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 198. Für das protestantische sola scriptura und seine Rezeption könne man eine analoge Geschichte beschreiben (vgl. 199). Dabei gibt es zwei Extremformen: Die prinzipielle Pluralität der Auslegungen zerläuft in reine Beliebigkeit oder führt zur rein wörtlichen, fundamentalistischen Auslegung. 419 Vgl. Childs, Die Theologie der einen Bibel, Bd. 2, 23: „Die biblische Sprache, die Gott in menschlicher Form schildert, ist keine unglückliche Anpassung an menschliche

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mischten und untrennbaren Verbundenheit Gottes mit den Menschen, ihrem Leben und ihren Erfahrungen, ihrer Freude und Hoffnung, Trauer und Angst ein vielstimmiges Zeugnis ab. Dabei markiert er (analog zu dem, was später als Dogma bezeichnet wird) die Leitplanken und eine Richtschnur, an der sich eine legitime Vielfalt zu orientieren hat und messen lassen muss. Aber wie weit reicht eine legitime Pluralität? Diese Frage ist letztlich nur durch die Glaubensgemeinschaft als konkrete Auslegungsgemeinschaft zu entscheiden, die sich dabei von ihrem Glaubensgespür leiten lässt und die sich auf der Grundlage ihres Kanons nicht nur dem internen, sondern auch einem ökumenischen Dialog stellen muss. Dieser schließt auf der Basis des Alten Testaments auch das Judentum mit ein, weil es aufgrund der gemeinsamen Hl. Schriften zum innerkirchlichen Dialog und damit auch ins Herz christlicher Theologie gehört, wie Johannes Paul II. richtig erkannt hat.420 Darum kann die christliche Theologie auch von der jüdischen Schriftauslegung, ihrem Erfahrungsschatz und ihrer „dialogischen“ Theologie lernen.421 Diese ist geprägt von einem konstruktiven Dialog „between Written Torah and Oral Torah (that is, between Scripture and tradition)“422 und betrachtet den Kanon niemals als eine monolithische Größe, sondern als vielstimmige Sammlung ernst zu nehmender Perspektiven. Auf diese Weise kann es auch gelingen, „to integrate findings of modern biblical criticism into a theologically relevant reading of Scripture.“423 Das erklärte Ziel ist dabei eine conversation und discussion, ein offener Diskurs auf Augenhöhe „among ancient, medieval, and modern voices, and for this reason too much Begrenztheit, sondern ein wahrhaftiger Reflex der freien Entscheidung Gottes, sich mit seiner Schöpfung in menschlicher Form zu identifizieren und doch gleichzeitig Gott zu bleiben.“ 420 Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an den Zentralrat, 75, für den die Begegnung mit dem Judentum einen „Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel“ darstellte. Erich Zenger (Heilige Schrift, 20) sprach von einer „Hermeneutik des kanonischen Diskurses“. 421 Vgl. Sommer, Biblical Theology, 1164: „This is a sensible model for a religion to which sola scriptura is completely foreign. We might term such a model ‚dialogical theology.‘ Dialogical biblical theologians describe Israelite thought found in the Bible, compare it and contrast it to later Jewish thought, and sometimes use each side of the comparison as a tool for judging and refining the other.“ Vgl. Stemberger, Hermeneutik, 140, der auf die Bedeutung der Polysemie für die jüdische Auslegung verweist; Childs, Critique, 181 ff. 422 Sommer, Biblical Theology, 1166. 423 Sommer, Biblical Theology, 1167.

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attention to the voice of the redactor or canonizer would squelch other voices who deserve a place at the table.“424 Nimmt man diese Sicht ernst, dann darf die kanonisierte ‚final form‘ des Textes nicht verabsolutiert werden. Sie bildet einen maßgeblichen Ausgangs- und Zielpunkt des Dialogs, muss sich aber den Fragen der Zeit stellen. Damit ist ein isoliertes und formal missverstandenes sola scriptura auf einen dynamischen Prozess der Tradition – auf eine lebendige Glaubensgeschichte – hin überschritten. Schrift und Tradition bilden eine innere Einheit, weil jeder Zugang zur Hl. Schrift bereits Interpretation ist.425 Das erkennt auch die Päpstliche Bibelkommission: „Da die Heilige Schrift aufgrund der Übereinstimmung von gläubigen Gemeinschaften entstand, die in ihrem Text den Ausdruck des geoffenbarten Glaubens erkannten, muss gerade auch ihre Interpretation selber wieder für den lebendigen Glauben der kirchlichen Gemeinschaften zur Quelle einer Übereinstimmung in den wesentlichen Punkten werden. Da der Ausdruck des Glaubens, wie man ihn in der von allen anerkannten Heiligen Schrift fand, sich immer wieder erneuern musste, um neuen Situationen zu begegnen […], bedarf die Auslegung der Bibel in gleicher Weise einer schöpferischen Dimension und der Stellung neuer Fragen, um von der Bibel her Antwort auf sie zu finden.“426

Es ist die Rede von Gemeinschaften, also im Plural, die auf der Suche nach einem Konsens „in den wesentlichen Punkten“ übereinkommen müssen. Hier wird die Konsensfindung mit einer Vergewisserung und Aktualisierung anhand des biblischen Kanons und einer Priorisierung im Wesentlichen verbunden. Der legitime Plural der Auslegungen wird explizit hervorgehoben. Er verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der sich wandelnden Glaubensgemeinschaft auf ihrem Weg durch die Zeit.427 Dabei handelt es sich um ein „schöpferisches“ Geschehen. Die biblisch bezeugte Wahrheit ist keine zeitenthobene Einheitlichkeit, die jede Vielstimmigkeit erstickt. „Der Kanon muss in seiner historischen Bedingtheit und vielschichtigen Gewachsenheit ernstgenommen werden […] die Wahrheit muss stärker als situativ und dynamisch, als dialektisch und dialogisch, als persönlich und als in Eigenverantwortung zu ergrei-

424

Sommer, Biblical Theology, 1167. Vgl. Dirscherl/Dohmen, Die Heilige Schrift, 60. 426 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 95. 427 Vgl. Dirscherl/Dohmen, Die Heilige Schrift, 61. „Tradition ist Weitergabe des Glaubens in der Zeit, die immer wieder die Treue zum Ursprung sucht. Sie bedeutet Offenheit für die Zukunft aus der Beziehung zum Vergangenen heraus.“ 425

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fende begriffen werden. Die kanonimmanente Pluralität muss als Ausdruck von Lebendigkeit und als heilsame Nötigung zur Dauerreflexion zu verstehen gelehrt werden. Wort Gottes ereignet sich nicht in einem kohärenten System, sondern in kontingenten Begegnungen.“428 Die inkarnierte Wahrheit des Wortes Gottes ist nicht statisch, sondern dynamischperformativ, relational-korrelativ, als personale Zuwendung zu verstehen (vgl. DV 2). Sie spricht Menschen an und tritt mit ihnen in einen interaktiven Dialog. Thomas Söding verweist auf diese „Hermeneutik des Dialogs“, aus der heraus die verbindende Kraft der Schrift immer wieder neu erkennen lässt, „was Zusammenhang und Gemeinschaft ist, Zentrum und Peripherie – und dass dies nicht ein für alle Mal festgelegt ist, sondern sich wandeln kann: im Prozess der Schriftwerdung und im Auge derer, die den Text lesen. Im Zeichen des Monotheismus gibt es keinen Zusammenhang, der nicht Differenzen integrierte und produzierte, weil der unsichtbare Gott nicht in einem menschlichen Bild dargestellt werden kann; sub specie Dei ist jedes Zentrum Peripherie – nämlich Erde im Unterschied zum Himmel, und jede Peripherie Zentrum – nämlich Ort der Nähe Gottes. Das zu entdecken, braucht es die Bibel; es entdeckt zu haben, macht die Bibel nicht überflüssig, weil es keine Geltung gibt, die von der Genese absehen könnte, es würde denn eine Norm erstarren und damit Gott auf einen menschlichen Begriff bringen.“429

Mit Bezug auf Franz Rosenzweig und Martin Buber versteht Söding die Schrift daher auch als Weisung bzw. als entscheidenden Wegweiser, der Gott und Menschen zusammenführen kann. Die sich versammelnde Kirche wird auf ihrem gemeinsamen Pilgerweg (syn-hodos) durch die Zeit immer wieder von diesem Navigationssystem Gebrauch machen, um sich für das eigene Gewissensurteil des richtigen Weges zu vergewissern. Es handelt sich dabei jedoch um ein „dialogisches Geschehen“430 zwischen der Bibel und unserer Situation heute. Oliver Reis und Thomas Ruster sprechen mit Christoph Theobald431 von einer „Strukturdualität“ 428

Dohmen/Oeming, Biblischer Kanon, 108. Söding, Wegweiser, 22. 430 Reis/Ruster, Die Bibel, 65. „Das Textsystem tritt uns gegenüber und muss das tun, um als Fremdreferenz in Anspruch genommen werden zu können, zugleich wird sein Operieren unser eigenes, wenn wir die Welt mit der Bibel beobachten. Das ist eine Paradoxie, die zu übersehen bedeuten würde, den biblischen Text entweder in der Vergangenheit zu belassen oder seine Aktualisierung beliebig werden zu lassen. […] Das Gespräch, das die Bibel führt, ist nicht das unsere, aber es kann als Fremdreferenz in unsere Gespräche Eingang finden.“ 431 Vgl. Theobald, C., Le christianisme comme style. Une manière de faire de la théologie en postmodernité, Paris 2008, 617– 640. 429

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(Wort Gottes – Rezeption), die mit dem Kanon gegeben sei.432 Das relationale Gegenüber des Kanons bleibt aber als eigenständiger Gesprächspartner auf weiterlaufenden Dialog durch aktive Rezeption verwiesen. Die Kanonisierung selbst ist ein „Akt der Rezeptionsgemeinschaft“ und ist an den Umgang mit den Schriften gebunden. Die Verbindlichkeit des Kanons liegt in der Lebendigkeit des Wortes Gottes für die Gemeinde, die sich daran gebunden weiß und darauf antwortet.433 Die Hl. Schriften können in der Patristik als konkreter Gesprächspartner gelten. Für Origenes bilden sie den „Leib“ des Wortes Gottes, durch den das Wort seiner Aufnahme oder Ablehnung, seiner Fraglichkeit und Mehrdeutigkeit geradezu ausgeliefert ist.434 In dieser „Verleiblichung“ begegnet, analog zur Inkarnation, das lebendige Wort Gottes, das mit unserer Geschichte unvermischt und untrennbar verbunden ist und dessen Geist lebendig bleibt, indem es erinnernd, tröstend und Hoffnung spendend die sakramentale Vergegenwärtigung des Heilshandelns Gottes je neu informiert. Die kirchliche Tradition legt die Schriften aus, durch die das geschichtlich bezeugte Wort Gottes selbstständig der menschlichen Verfügung gegenübersteht: Es empfängt seine Autorität nicht von der Kirche, die das ihr vorgegebene und übergebene Zeugnis teilt, wie auch die Sakramente.435 Insofern ist die Kirche an diese Ur-Kunde gebunden. „Denn die Überlieferung ist nicht unabhängig, sondern sie entwickelt und bildet sich, indem die Schrift dabei immer in sie eingeht, sie mitgestaltet.“436 Und zwar durch die Pluralität der Interpretation in verschiedenen Kontexten.437 Wort Gottes und Hörende des Wortes sind in einer dynamischen Beziehung miteinander verbunden. Das Wort Gottes erreicht uns nur in der Brechung menschlicher Worte, die kontingent und auslegungsbedürftig sind. Bevor die Kirche selbst verkündigt, muss sie daher hören.438 So ergibt sich für die Rezeptions- und Auslegungsgemeinschaft

432

Reis/Ruster, Die Bibel, 69. Vgl. Reis/Ruster, Die Bibel, 70. 434 Vgl. Schelkle, K. H., Heilige Schrift und Wort Gottes. Erwägungen zur biblischen Hermeneutik, in: Vorgrimler (Hg.), Exegese, 9 –24, 11 f. 435 Vgl. Schelkle, Heilige Schrift, 20 f. 436 Schelkle, Heilige Schrift, 21. 437 Vgl. auch Landmesser, C./Klein, A., Zur Einführung. Normative Erinnerung, in: Dies. (Hg.), Normative Erinnerung, 9 –17, 10 f. 438 Vgl. 1 Kor 15,3, wo Paulus betont, er verkündige das, was auch er empfangen habe. Um diese Überlieferung für alle Menschen authentisch vermitteln zu können, hört er aber zugleich auf seine Adressaten. 433

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stets eine dreifache Gesprächssituation. Denn die Kirche befindet sich im permanenten Dialog: a) mit sich selbst, d. h. als synchron kommunizierende Glaubensgemeinschaft, die stets um Konsens bemüht ist und sich zugleich diachron in einen Dialog mit ihrer Geschichte begibt, die im Kanon eine konstitutive und normative Gestalt als objektiviertes Gegenüber angenommen hat, das durch Tradition immer wieder neu aktualisiert und vielfältig gedeutet wird. Diese Dialogebene markiert den historischkritischen Kontext, der für die Schriftauslegung wie für die Betrachtung der Theologie- und Dogmengeschichte gleichermaßen von entscheidender Bedeutung ist. b) mit Gott, der niemals im Zeugnis der menschlichen Worte und in den historisch-kritisch rekonstruierbaren Kontexten aufgeht, sondern deren situative Bedeutung transzendiert. Um zu hören, „was Gott sagen wollte“, verweist DV 12 auf einen kanonischen Kontext, der durch die Einheit der Schrift und die Analogie des Glaubens, d. h. durch Betrachtung im Gesamtzusammenhang der überlieferten Glaubenszeugnisse und Glaubensaussagen in ihrer finalen Ausrichtung auf den sich mitteilenden Gott gegeben ist. Nur in einer sensiblen Synopse der Texte oder der Glieder („articuli“) des überlieferten Glaubens kann sich ein stimmiges Gesamtbild ergeben, das vor einseitiger Auswahl (= Häresie) einzelner Perspektiven bewahrt, wie sie z. B. durch Missachtung des AT gegeben wäre. Das Wort Gottes lässt sich nicht punktuell begrenzen oder destillieren; es ist mit einer universalen Heilsgeschichte verbunden, die es verbietet, einzelne Textschichten oder Traditionselemente zu verabsolutieren. Der kanonische Gesamtzusammenhang ist nur als eine dynamische Einheit von Gott her und auf Gott hin asymptotisch anvisierbar und erfordert Pluralität oder gar Widerspruch, wo Gott auf ein einziges, eindeutiges Offenbarungszeugnis, eine einzelne Theologie oder ein Narrativ der literarischen Analyse in sich geschlossener Zeit- und Kulturzeugnisse reduziert würde. c) mit der Welt, insofern sich die kontextuellen Rahmenbedingungen einer Glaubens- bzw. Rezeptionsgemeinschaft mit der Gesellschaft, in der sie existiert, notwendigerweise im Wandel befinden. Die Umwelt derer, die um angemessene Auslegung des überlieferten Glaubens vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen bemüht sind, kann bei der Rezeption niemals ausgeblendet werden. Denn für die Kirche geht es nicht nur darum, „was Gott sagen wollte“, sondern auch darum,

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was er heute sagen will. Es gibt neben dem historisch-kritischen und einem kanonischen Kontext auch einen lebensweltlichen Kontext, der zwangsläufig dazu führen muss, tradierte Texte und Sprachformen unter veränderten Blickwinkeln einer Relecture zu unterziehen – wie es auch schon das frühe Christentum aufgrund seiner völlig neuen Missionserfahrungen mit den Hl. Schriften Israels getan hatte. Zur Vergewisserung im eigenen Glauben gehört deshalb nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte (a) sowie der Gesamtheit und Vielfalt aller als verbindlich geltenden Glaubensdeutungen (b), sondern auch das lernfähige und offene Gespräch mit Wissenschaften, Gegenwartskulturen und anderen Religionen, die uns und unsere Erfahrungswelt heute prägen und so neue – vertiefte – Voraussetzungen für das Verständnis des Glaubens schaffen. Nur im Einklang der drei Kontexte wird die Theologie ihrer Aufgabe gerecht.439 Somit ist jede alternative Gegenüberstellung von historisch-kritischer, kanonischer und pastoraler Lesart letztlich eine beschränkte und ungenügende Verkürzung der Schrift in ihrer normativen Geltung als

439 Die Differenzierung von historisch-kritischer, kanonischer und „pastoraler“, auf die Lebenssituation bezogener Schriftauslegung klingt auch an bei Gabel, Engführungen, 145 ff., mit Bezug auf M. Oemings biblische Hermeneutik. Eine vierte, „systematisch-theologische“ oder auch „themenbezogene“ Dimension erscheint fragwürdig, da sie selbst keine neutrale „Sache“ neben und außerhalb dieser Zugänge erschließt, sondern auf die Verbindung und Vermittlung der ersten drei Kontexte (historisch, kanonisch, lebensweltlich) zielt, um den Gegenstand bzw. die „Sache“ der Theo-logie zur Geltung zu bringen. Die vierte Perspektive ist aus systematischer Sicht also keine eigenständige. Sie basiert als relationale Vermittlung auf den drei vorherigen. Man könnte diese (nicht trennscharf abgrenzbaren) Zugänge von Exegese, Theologiegeschichte und praktischer Theologie als Vollzugsbedingungen und damit als Voraussetzung für systematische Theologie deuten, die sich nicht ohne diese drei Bezüge realisieren lässt. Vgl. auch Ebeling, G., Dogmatik und Exegese, in: ZThK 77 (3/1980), 269 –286. Eine andere Systematisierung findet sich bei Kasper, W., Tradition als Erkenntnisprinzip. Systematische Überlegungen zur theologischen Relevanz der Geschichte, in: Ders., Evangelium und Dogma, 483 –507, 506 f. Die Zeugnisse der Tradition, in die auch die Schrift eingebettet ist, müssten in einer dreifachen Entsprechung interpretiert werden: a) in Entsprechung „zu den jeweiligen ‚Zeichen der Zeit‘, den natürlichen Erkenntnissen und Erfahrungen der Menschen damals und heute (‚analogia entis‘)“; b) in Entsprechung „zum Ganzen des Glaubens der gesamten Kirche, in Entsprechung zu den jeweils früheren wie den späteren Zeugnissen, besonders aber in Entsprechung zum biblischen Zeugnis von Jesus Christus (‚analogia fidei‘; ‚hierarchia veritatum‘)“; c) „in Entsprechung zum eschatologischen Ziel, wo Gott alles in allem sein wird (vgl. 1 Kor 15,28)“.

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Heilige Schrift für die Glaubensgemeinschaft der Kirche. Eine wissenschaftliche Bestimmung des von Kontinuität und Diskontinuität geprägten – geschichtlich situierten – Glaubens muss diese Dimensionen berücksichtigen. Jeder dieser Ansätze, die in der Geschichte biblischer Hermeneutik440 in unterschiedlicher Spielart und Kombination begegnen, hat seine Relevanz und Berechtigung, solange er sich nicht absolut setzt und die Anliegen der anderen Zugänge negiert.441 Das II. Vaticanum hat die Komplementarität dieser Perspektiven im Blick: „Das Konzil vertritt somit eine Verbindung von fachexegetischer Hermeneutik und gesamttheologischer Methodik und lebendig-kirchlichem Glaubensverständnis, die jedem die notwendige Besonderheit lässt, allen aber das gemeinsame Ziel weist: die immer vollere Erfassung und Aneignung der Offenbarungswirklichkeit.“442

Diese nicht mit den Texten oder einzelnen Textschichten identische Offenbarungswirklichkeit ist in ihrer soteriologischen Relevanz zutiefst lebendig und dynamisch. Sie wird je neu aktiviert. Die Frage, ob dies durch wissenschaftliche Exegese geleistet werden kann – oder muss – bedarf sicher einer eigenen Diskussion, die in diesem Rahmen nicht geführt werden soll. Dass aber die Lektüre der gesamten Schrift als Norm der Tradition in einer „Hermeneutik des Glaubens“443 durch die Rezeptionsdynamik der Glaubensgemeinschaft (die schon mit der Genese des Kanons verwoben ist) völlig neue, kreative wie auch traditionskritische Sinnpotentiale jenseits der rein historisch-kritischen Defragmentierung erschließen kann und muss, lässt sich kaum bestreiten. Die Schrift ist als Heilige Schrift das Medium der lebendigen Überlieferung einer konkreten Glaubensgemeinschaft, die sich selbstkritisch damit auseinandersetzt,

440 Vgl. Wischmeyer, O. (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin 2016; Wagner, H., Zum Verhältnis von Dogmatik und Exegese. Ein theologiegeschichtlicher Abriss, in: Wort und Antwort 51 (3/2010), 103 –107. 441 Vgl. Söding, T., Wissenschaftliche und kirchliche Schriftauslegung, in: Pannenberg, W./Schneider, T. (Hg.), Verbindliches Zeugnis II. Schriftauslegung – Lehramt – Rezeption (Dialog der Kirchen, Bd. 9), Freiburg i. Br. 1995, 72–121. 442 Grillmeier, Dogmatische Konstitution, 556. 443 Vgl. Benedikt XVI., Verbum Domini, Nr. 35. Vgl. Haunschmidt, C., „Der Geist ist es, der lebendig macht“. Biblische Hermeneutik im Diskurs zwischen John Breck, Ulrich Körtner und Joseph Ratzinger (SBS 249), Stuttgart 2020, 93 –101; Körner, B., Die Bibel als Wort Gottes auslegen. Historisch-kritische Exegese und Dogmatik, Würzburg 2011; Petri, H., Exegese und Dogmatik in der Sicht der katholischen Theologie, München 1966.

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um sie ihrem Geist gemäß für heute auszulegen.444 Man hat dabei die Texte und den Wortlaut in ihrer historischen Situiertheit immer schon überschritten, ohne die Bindung daran zu verlieren. Es handelt sich um eine inspirierte Transferleistung des Glaubens, der sich auf seine UrKunde besinnt, ohne diese zu verabsolutieren. Darum wird die stupide Rezitation der Bibel ihrer Bedeutung für den Glauben ebenso wenig gerecht wie ihre Behandlung als literarisches Relikt der Vergangenheit, das nur auf dem Seziertisch der Wissenschaft zerlegt wird. Sie ist erst in zweiter Linie eine historische Quelle der literaturwissenschaftlichen Betrachtung, insofern diese Betrachtung der kritischen Vergewisserung am normativen Material der Überlieferung dient und sachliche Argumente für eine fundierte, verständnisgeleitete, theologische Auseinandersetzung liefert, die aber nicht bei den einzelnen Fragmenten vergangener Epochen stehen bleiben wird.445 „Die Heilige Schrift steht in fortwährendem Dialog mit den Glaubensgemeinschaften: sie ist ja aus ihren Glaubenstraditionen hervorgegangen. Ihre Texte haben sich in der Beziehung zu diesen Traditionen entwickelt und andererseits zu ihrer Entwicklung beigetragen. Daraus folgt, dass die Auslegung der Heiligen Schrift innerhalb der Kirche stattfindet, in ihrer Pluralität und ihrer Einheit, und in ihrer Glaubenstradition. […] Der Dialog mit der Heiligen Schrift in ihrer Gesamtheit, also auch mit dem Verständnis des Glaubens, das früheren Epochen eigen war, geht notwendigerweise mit dem Dialog mit der zeitgenössischen Generation einher. Dies hat zur Folge, dass sich die Herstellung einer Beziehung von Kontinuität, aber auch die Feststellung von Verschiedenheiten ergibt. Daraus folgt, dass die Interpretation der Heiligen Schrift in Überprüfung und Auswahl besteht: sie bleibt in Kontinuität mit früheren exegetischen Traditionen, von denen sie viele Elemente beibehält und sich zu eigen macht; in gewissen Punkten aber befreit [!] sie sich davon, um fortschreiten zu können.“446

444 Vgl. Müller, K., Dogmatik und Exegese, in: Wort und Antwort 51 (3/2010), 101–102, 102: „Sich selbst überlassene historisch-kritische Exegese, die sich nicht wenigstens im Modus des Potentialis auf die Erwägung der Wirklichkeitsdeckung der von ihr untersuchten Narrative überschreitet, kann nur in eine skeptische Endlosschleife münden und damit ihre eigene theologische Relevanz dementieren.“ 445 Vgl. Kasper, Katholische Kirche, 89: „Wenn wir das in der Heiligen Schrift bezeugte Evangelium im Zusammenhang der ganzen Überlieferungsgeschichte auslegen, bedeutet dies, das Evangelium im Kontext nicht einer toten, sondern einer lebendigen Tradition auslegen. Im Hören auf das Zeugnis der Schrift müssen wir jeweils mithören, was andere vor und neben uns gehört und verstanden haben, was die großen Zeugen des Glaubens gehört und gelehrt und vor allem, was sie gelebt und oft erlitten haben.“ 446 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 96.

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Die Kirche befindet sich stets im kritischen Dialog mit sich selbst, mit ihrer eigenen Geschichte (zu der Israel und das Judentum gehören), mit ihren einzelnen Traditionen und unhinterfragten Gewohnheiten, die der Kritik unterstellt werden müssen, indem sie in einen kanonischen und überlieferungsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang eingeordnet und von dort her relativiert, positiv rückgebunden werden. Dabei handelt es sich nicht um eine „Diktatur des Relativismus“, sondern um die Relativierung diktatorischer Deutungshoheiten, die mit der Verabsolutierung einzelner – kontextuell bedingter – Lesarten einhergehen.447 Es geht um die Korrektur einseitiger Auslegungen mit ihren systematischen Prämissen. Eine Sensibilisierung für unheilvoll wirksame Entwicklungen ist aber nur durch Dialog möglich. Mit Rothenbusch kann man hier exemplarisch an die Rezeption von Gen 3 als einer Sündenfallgeschichte denken.448 Deren problematische Wirkungsgeschichte – bis hin zu einem limbus infantium – wurde offiziell erst unter Benedikt XVI. einer kritischen Revision unterzogen.449 Eine sensible Wahrnehmung der Exegese sowie der Heilssorgen und Nöte der Glaubensgemeinschaft durch offenen Austausch und dialogische Strukturen in der Kirche hätte eine dermaßen unheilvolle Rezeptionsgeschichte vielleicht verkürzen und vor kruden Auswüchsen bewahren können. Hier zeigt sich, dass die Rezeptionsdynamik – innerbiblisch wie dogmengeschichtlich – keine evolutionistische Hermeneutik meint, in der es vermeintlich nur Höherentwicklung und Fortschritt gibt.450 „Nicht alles, was in der Kirche existiert, muss deshalb auch schon legitime Tradition sein, bzw. nicht jede Tradition, die sich in der Kirche bildet, ist wirklich Vollzug und Gegenwärtighaltung des Christusgeheimnisses, sondern neben der legitimen gibt es auch die entstellende Tradition.“451 447 Zur Relativismusdebatte vgl. Seewald, M. (Hg.), Glaube ohne Wahrheit? Theologie und Kirche vor den Anfragen des Relativismus, Freiburg i. Br. 2018. 448 Vgl. Rothenbusch, Inspiration, 130. Die Wirkungsgeschichte von Gen 3 beginne in der Bibel (vgl. Sir 25,24; Weish 2,23 f.). Sie wird durch die augustinische Rezeption von Röm 5,12 folgenreich wirksam – eine Rezeption, die „mit einer modernen bibelwissenschaftlichen Interpretation des Textes nicht mehr zu vereinbaren ist“. 449 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Hoffnung auf Rettung für ungetauft sterbende Kinder, hg. v. Sekretariat der DBK (Arbeitshilfen 224), Bonn 2008. 450 Vgl. Rothenbusch, Inspiration, 130: „Dass das keine evolutionistische Sicht der Bibel impliziert, auch nicht vom Alten zum Neuen Testament, zeigt sich etwa, wenn das Dokument der Bibelkommission [Inspiration, Nr. 134] problematische neutestamentliche Aussagen zur Stellung der Frau (insbesondere in 1 Tim 2,11–15) von der Gleichstellung der Frau mit dem Mann in den beiden Schöpfungsberichten des Alten Testaments (Gen 1 f.) her beleuchtet und korrigiert.“ 451 Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 519. Vgl. auch Lerch, M., Kirche als Grund-

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Zugleich ist nicht jede historisch ältere Stufe (oder Textschicht) automatisch eine unantastbare, ewig gültige Norm. Das Bewusstsein für die Interpretationsbedürftigkeit geht einher mit dem Bewusstsein für Fehlinterpretationen oder Verabsolutierungen von Teilaspekten (Häresien im strengen Sinne des Wortes). Dass diese sogar durch offizielle Lehren der Kirche unreflektiert und ungewollt (aus Gewohnheit oder Gewöhnung) mittransportiert werden können, ist für die Dogmenhermeneutik ein zentraler Aspekt. Somit bedarf es stets einer Rückbesinnung auf den Weg theologischer Entwicklungen, die nur mit Hilfe historisch-kritischer Rekonstruktion erfolgen kann, um den ursprünglichen Kontext der Texte (oder Rezeptionsstufen) mit ihrer primären Aussageabsicht verstehen und im Lichte der weiteren Entwicklung der Glaubensgeschichte beurteilen zu können. Zugleich muss sich diese Rezeptionsgeschichte am Material der Texte abarbeiten und selbstkritisch reflektieren.452 Die Interpretation der Texte bleibt primär gebunden an deren Literalsinn453 und andererseits eingebunden in einen Kanon, der ein Gespräch eröffnet, indem er Gleichzeitigkeit erzeugt.454 Damit ist ein hermeneutischer Bezugsrahmen festgelegt, der die Texte aufeinander verweist, füreinander öffnet und in ihrer Gesamtheit zum Gesprächspartner werden lässt. Doch lassen sich im Anschluss an Umberto Eco eine „Interpretation“ des Textes und seine „Benutzung“ unterscheiden, sodass sich Grenzen der Interpretation ergeben.455 Michael Theobald schreibt angesichts des kritisch-konstruktiven, produktiven Dialogs der Texte untereinander (den die Bibel abbildet) und des Dialogs der Leserinnen und Lesern mit dem biblischen Text: „Einerseits soll der Text sagen können, was er in seiner Fremdheit und Andersartigkeit zu sagen hat – der Exeget als sein Anwalt hat dafür zu sorgen, dass er sich im methodisch kontrollierten Lesevorgang gegen alle Vorurteile sakrament. Zum Problem der Vermittlung von Gehalt und Gestalt, in: Dirscherl, E./ Weißer, M. (Hg.), Wirksame Zeichen und Werkzeuge des Heils? Aktuelle Anfragen an die traditionelle Sakramententheologie (QD 321), Freiburg i. Br. 2022, 102–116. 452 Anderson, G., Christian Doctrine and the Old Testament. Theology in the Service of Biblical Exegesis, Grand Rapids 2017, versucht umgekehrt von der kirchlichen Lehre her zu einem Verständnis biblischer Texte und speziell des AT zu kommen, das auch dem Judentum gerecht werden will. Es bleibt aber doch fraglich, ob dieser Weg von der Rezeptionsgeschichte hin zum Sinn der Texte nicht Gefahr läuft, mehr Eisegese als Exegese zu provozieren. 453 Vgl. Thomas von Aquin, STh I, q. 1, a. 10, ad 1. 454 Vgl. Assmann, Fünf Stufen, 100. 455 Vgl. Eco, U., Die Grenzen der Interpretation, München 21999.

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immer wieder neu ‚durchsetzt‘ und ‚ausreden‘ darf. Andererseits besitzt der ‚Leser‘ als Rezipient des Textes auch sein Recht und muss gegen die Zumutung geschützt werden, die Darstellung der ‚Sache‘ durch die Texte einfach nur nachsprechen zu sollen. Dieses sein Recht leitet sich von einem Verständnis des Glaubensvollzugs her, für welches das Moment selbstverantworteter Mündigkeit wesentlich ist. Der Leser hat diese Mündigkeit in Lebenskontexten zu bewähren, die von denen der Texte völlig verschieden sind. Darin gründet auch seine Freiheit, die ‚Sache‘ der Texte neu sagen zu dürfen – stets im Dialog mit den Texten und in Rückbindung an sie.“456

Die Exegese beansprucht für sich deshalb ein „Interventionsrecht im theologischen Diskurs, das nicht nur negativ – unterbrechend –, sondern auch positiv gestalterisch wirkt: Sie dringt darauf, dass in ihrem Wahrheitsanspruch unabgegoltene biblische Texte und Traditionen neu auf die Tagesordnung kommen. Positiv gestalterisch wirkt die Exegese, wenn sie rekonstruiert, wie Kirche am Anfang ‚erfunden‘ wurde und wie sich ihre Lebens- und Denkformen samt ihren Strukturen entwickelten, immer im Dienst am Evangelium, womit sie Spielräume für die anstehende Frage eröffnet, wie Kirche dort, wo sie als Institution überkommener Gestalt heute im Sterben liegt, neu ‚erfunden‘ werden kann. Sie ist Anwältin der Fremdheit der biblischen Texte in dem Sinne, dass sie diese – ohne den Habitus des Anti-Dogmatischen und darin selbst Dogmatischen (wie in den neuzeitlichen Anfängen der historischen Kritik) – ‚gegenüber allen institutionellen Selbstbeharrungstendenzen‘ erneut zur Geltung bringt.“457 Biblischen Texten geht es nicht um die Dokumentation von Fakten oder Offenbarungsinhalten, sie transportieren vielmehr spezifische Erfahrungen, wobei der „Deutungsvorgang religiöser Erfahrung als der Prozess einer stets aktualisierenden Sinnstiftung“ zu begreifen ist und einer aktualisierenden Interpretation im Sinne der „Erfahrungserhellung“ aus heutiger Perspektive unterliegt.458 456 Theobald, M., Exegese als theologische Basiswissenschaft. Erwägungen zum interdisziplinären Selbstverständnis neutestamentlicher Exegese, in: JBTh 25, 105 –139, 127 f. 457 Theobald, Exegese, 138; mit Bezug auf Lehmann, K., Der hermeneutische Horizont der historisch-kritischen Methode, in: Schreiner, J. (Hg.), Einführung in die Methoden der biblischen Exegese, Würzburg 1971, 40 – 80, 73 f.: „Die historisch-kritische Methode möchte gegenüber allen institutionellen Selbstbeharrungstendenzen die Souveränität des Willens Gottes zum Ausdruck bringen; darum überlässt sie die Bibel nicht der Tradition, sondern befragt die Schrift selbst im Blick auf das gegenwärtige Wirklichkeitsverständnis und erblickt in ihr den ‚Ruf der Freiheit‘.“ 458 Lauster, J., Erfahrungserhellung. Zur Bedeutung der Bibel für die Systematische Theologie, in: JBTh 25, 207–220, 215. Zu beachten sei, „dass die Pluralität der bib-

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Bei diesem Dialog sieht sich die Leserschaft nicht mit einem einheitlichen biblischen Konzept konfrontiert, sondern mit der pluralen Stimmenvielfalt des Kanons aus Altem und Neuem Testament.459 Der VierEvangelien-Kanon des Neuen Testaments ist ein „Spiegel der communio ecclesiarum; er impliziert die Anerkennung innerkirchlicher Pluralität“ und wehrt sich gegen jede Vereinheitlichung.460 Als Leseanweisung verweise der Kanon prinzipiell sowohl auf seine synchrone – kanonische – Struktur als auch auf seine diachrone Architektur.461 Die Doppelung wird wohl auch für den innerkirchlichen Dialog gelten müssen. Das Prinzip der Pluralität ist gebunden an die Suche nach Konsens.462 Konsensfindung bedeutet aber nicht Harmonisierung aller Perspektiven und Deutungen. Tatian konnte sich damit nicht durchsetzen. Die Einheit der Schrift, die nicht in ihr selbst begründet ist, realisiert sich in der pneumatischen Dynamik einer Rezeptionsgemeinschaft, die den Kanon mit Leben füllt und einen dialogischen Spielraum der Deutung eröffnet.463 Der Dialog mit der Schrift in ihrer synchronen wie diachronen Dimension ist geöffnet auf den Lebenskontext der Glaubensgemeinschaft hin.464 Ihre Lebenswelt korreliert wiederum mit den pluralen Perspektilischen Ausdrucksformen […] dem Wesen der religiösen Erfahrung selbst“ entspringt. Die Bedeutung religiöser Erfahrung mündet in plurale Deutungen, wie der biblische Kanon beweist. „Dazu bedarf es einer Auslegung, die den Erfahrungshintergrund erläutert und darum die Worte mit Leben füllt. Hinter den Programmankündigungen, in der Dogmatik dem biblischen Text treu sein oder gar Dogmatik erzählen zu wollen, verbirgt sich hingegen eine religiös motivierte Plausibilitätsverweigerung, die auf eine narrative Verflachung der Dogmatik hinausläuft. In dieser Gestalt einer sich biblisch nennenden Theologie kommen letztlich weder die Bibel noch die Theologie zu ihrem Recht.“ (212) Auch wenn das narrative Moment nicht ausgeschlossen werden kann, erschöpft sich Systematische Theologie nicht in einer Wiederholung biblischer Narrative oder Deutungsmuster, sondern in deren Übersetzung in heutige Verständnis- und Erfahrungshorizonte. 459 Vgl. das Beispiel bei Theobald, Exegese, 129. 460 Theobald, Exegese, 131. Dabei handle es sich um ein dem Kanon inhärentes Prinzip. 461 Vgl. Theobald, Exegese, 130 f. 462 Theobald, Exegese, 134: „Die Prinzipien altkirchlicher Communio, die hinter dem Kanon stehen, sind Pluralität und Konsens.“ Der Konsens schützt dabei die Identität des Christlichen, wie bei Irenäus deutlich werde. 463 Vgl. Theobald, Exegese, 135. 464 Nach Auffassung der Päpstlichen Bibelkommission, Inspiration, 148, lebt die Kirche in einem hermeneutischen Zirkel: „Sie entnimmt dem Hören auf die Worte der Heiligen Schrift die Prinzipien ihres Glaubens und von diesem Glauben erleuchtet ist sie fähig, nicht nur das, was sie in ihrem heiligen Buch liest, richtig zu interpretieren, sondern auch über den Wert all dessen, was Gehör verlangt, zu entscheiden. Der Hei-

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ven anthropologischer Grunderfahrungen im Hier und Heute, die einen eigenen Zugang zur Bibel markieren.465 Diesen zu heben ist nicht Aufgabe der Exegese, sondern der Praktischen Theologie. Ihn mit Schrift und Tradition neu zu verbinden und in ein kritisch-konstruktives Gespräch zu bringen, ist die spannungsvolle Aufgabe der Dogmatik, die jenseits theologischer Binnenlogik466 an die heutige Erfahrungswelt positiv anknüpfen kann, weil diese durch das Wirken des göttlichen Geistes kein gottfreier Raum ist. lige Geist ist das Prinzip der Wahrheit, das den Prozess des Glaubens in Gang setzt und ihn zum Ziel bringt, in einer unbegrenzten Öffnung auf die Offenbarung Gottes in der Geschichte.“ 465 Vgl. Porzelt, B., Grundlinien biblischer Didaktik, Bad Heilbrunn 2012, 56 ff. 466 Körtner, Der inspirierte Leser, 51 f., konstruiert eine fragwürdige „Hermeneutik des Unverständnisses“, die das Unverständnis für die biblische (bzw. neutestamentliche) Botschaft mit der eigenen Sündhaftigkeit verbindet: „Einverstanden mit den zentralen Inhalten der Bibel ist nur der, welcher versteht, und das heißt glaubt und seinen Glauben lebt. Unser Vorverständnis ist hingegen zunächst immer dasjenige des Unglaubens und darum des Unverständnisses. Theologisch gesprochen ist unser Vorverständnis das Unverständnis der Sünde, unser Unverständnis die ‚Sünde im Verstehen‘. Und eben deshalb sind wir von Haus aus überhaupt nicht einverstanden mit dem, was die biblischen Autoren über die Welt, die Verfassung der menschlichen Existenz und unser Gottesverhältnis zu sagen wissen.“ (51) Abgesehen von der problematischen Gleichsetzung von Glauben und Verstehen, mag der postulierte „circulus vitiosus“ für gewisse Spielarten protestantischer Anthropologie und deren hamartiologische Verengung zutreffen. Die katholische Theologie ist mit der alttestamentlichen Rede von der unverlierbaren Würde des Menschen als Ebenbild Gottes einverstanden; sie kann dem Dekalog zustimmen; die Rede von der Welt als ursprünglich sehr guter Schöpfung, für die es in Freiheit Verantwortung zu übernehmen gilt, wird nicht nur vom Christentum bejaht; die unvermischte und untrennbare Einheit von Gottes- und Nächstenliebe ist nicht unverständlich; Barmherzigkeit und grundloses Angenommensein aus reiner Gnade findet auch in vermeintlich ungläubigen Kreisen Zustimmung; Gleichnisse Jesu sind mitunter sogar für Grundschulkinder plausibel. Vielleicht ist in diesem Alter die „Sünde im Verstehen“ aber noch nicht so geschult? Unverständnis biblischer Passagen mit Unglaube und Sünde zu verbinden, sodass ein „Akt der Buße“ (51) nötig sei, ließe Hiob sprachlos zurück. Körtner geht es aber um „Ein-Sicht in die Sache und Sprache des Neuen Testamentes“, für dessen Verständnis „der Verlust der Sprache offen eingestanden“ werden müsse. Vgl. auch Körtner, U., Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015, 12; 101; 215 –250. Dass die Hermeneutik des Einverständnisses den Weg zum Verständnis biblischer Texte verbaut, erschließt sich wohl nur, wenn man den Menschen in seiner Weltlichkeit „madig macht“, um als Kontrastfolie die (Er-)Lösung zu präsentieren – eine Methode, die schon Bonhoeffer kritisierte. Vgl. Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Bonhoeffer Werke, Bd. 8, hg. v. Gremmels, C./Bethge, E., Gütersloh 1998, 511 f.; 504: „Wenn Jesus Sünder selig machte, so waren das wirkliche Sünder, aber Jesus machte nicht aus jedem Menschen zuerst einmal einen Sünder.“

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Im Dialog mit der Schrift und über die Schrift begegnet die Kirche Gott selbst gleichsam wie durch einen Spiegel (vgl. DV 7). Seine Offenbarung erschließt sich nur im persönlichen Dialog. Dieser Dialog geschieht immer im Präsens.467 Er ist aber vermittelt durch die Zeugnisse der Vergangenheit in ihrer Bedeutung für uns heute. Wie Walter Kasper schreibt, geht es dabei „nicht um das Stimmrecht der Toten, sondern um das Vernehmenkönnen der Stimme dessen, der gestern, heute und morgen derselbe ist.“468 Und genau darin liegt eine Sorge Ratzingers. Der Zusammenhang von Dogma und Entwicklung sei „in der modernen Theologie nicht fruchtbar geworden, weil das Problem der Zuordnung von Exegese, Kirche und Dogma nicht gelöst worden ist.“469 In einer bloß historisch-kritischen Behandlung geschichtlicher Zeugnisse sei das „Subjekt Kirche“ – die rezipierende Glaubensgemeinschaft, die nach der Identität ihres Glaubens fragt – kein Thema mehr. Für Ratzinger hängt „alles“ daran, „die zusammenhaltende Identität der Kirche wiederzufinden und so Glauben in der lebendigen Dynamik einer Entwicklung zu begreifen, in der Identität nichts Starres an sich hat, aber dafür nur um so tiefer ist“.470 Ihre Identität hat die Kirche nicht ex sese, sondern aus ihrer lebendigen Beziehung zu Gott, dessen Liebe je neue Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten freisetzt. Es handelt sich um eine relationale, relative Identität in der Dynamik des göttlichen Pneumas, die auf das Zeugnis der Schrift bezogen bleibt. Darin zeigt sich eine Kontinuität, die mit Entwicklungsoffenheit, Unabgeschlossenheit und Neuheit innerhalb einer inkarnierten Freiheitsgeschichte verbunden ist.

3.2. Gottes Wort in menschlicher Freiheit und Vielfalt Die Bibel ist für die sie lesende und auslegende Glaubensgemeinschaft nicht einfach ein Buch der Vergangenheit.471 Dieses Anliegen ist ernst zu nehmen. Doch jede „geistliche“ Lesart und Deutung bleibt, wie schon in 467 Vgl. Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 507; 527. Der Mensch als dialogisches Wesen und die Kirche der Gegenwart befinden sich in der Haltung des gemeinsamen Hörens auf Gottes Wort inmitten menschlicher Worte. 468 Kasper, W., Bewahren oder Verändern? Zum geschichtlichen Wandel von Glaube und Kirche, in: Ders., Evangelium und Dogma, 543 –562, 553. 469 Ratzinger, zitiert nach Wiedenhofer, Die Theologie, 210 f., Anm. 239. 470 Vgl. Wiedenhofer, Die Theologie, 211. 471 Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Damit die Bibel, 194 ff.; Hieke, Die doppelte Autorenschaft, 219 –223.

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DV 12 deutlich wird, auf die historisch-kritische Arbeit, auf die inkarnierte Geschichte des Gotteswortes verwiesen. Jede „Transzendierung“ der Texte in der Dynamik des in ihnen wirksamen Geistes hat ihren Anker in der Ursprünglichkeit dieser Texte; sie hat aber „unvermeidlich auch mit der Freiheit eines jeden Menschen zu tun.“472 Darum darf diese geschichtsund textgebundene Transzendenz auch nicht in der amtlichen Auslegung der Kirche erstickt werden, insofern der „befreiende Geist“ hinter dem Buchstaben die eigene, persönliche Beziehung zu Gott, dem Vater, durch Christus trägt und neue, plurale Sinnhorizonte erschließt, die sich von der Relecture der Hl. Schrift inspirieren lassen – analog zu eben jener immanenten Rezeptionsdynamik, die den Kanon als Einheit in Vielfalt konstituiert und zu der Grundlage des heutigen Glaubens werden lässt. „Der Glaube bestimmt sich nicht durch hypothetische Ergebnisse der Bibelwissenschaft und ist damit nicht auf rekonstruierbare ‚Originalworte‘ (der Propheten, des Mose, des Paulus oder Jesu) zu reduzieren, sondern stützt sich auf das gesamte Zeugnis der ‚Heiligen Schrift‘, die als Glaubensurkunde aus der Vergangenheit ins heutige Leben hereinkommt.“473 Hieke verweist mit der Literaturwissenschaft darauf, dass „Texte keine abgeschlossenen Container sind, die einen festen Inhalt konservieren und über die Jahrzehnte überliefern, sondern Sinndimensionen aufweisen, die im Zusammenspiel mit der Leserschaft und deren Fragen und Hintergründen neue Lektüreweisen ermöglichen, sodass Menschen jüdischen und christlichen Glaubens die gleichen Heiligen Schriften auf je ihre Weise mit Gewinn lesen können, ohne der anderen Seite etwas wegzunehmen.“474 Aus diesem Grund wird eine kanonische Schrifthermeneutik immer dann problematisch, wenn sie exklusiv den Anspruch erhebt, die einheitliche (christliche oder amtskirchliche) Lesart des Glaubens als eine hermeneutische Schablone über die Texte in ihrer Eigenständigkeit legen zu müssen.475 Es ist fragwürdig, wenn der Zugang zu dem Verständnis der Hl. 472

Benedikt XVI., Verbum Domini, Nr. 38. Hieke, Die doppelte Autorschaft, 206 f. 474 Hieke, Die Bedeutung, 35 f. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk Gottes, Nr. 22. 475 Zur verengten Sicht des canonical approachs bei Ratzinger vgl. Verweyen, Ein unbekannter Ratzinger, 123 –126. Hier zeigt sich, dass Ratzinger – nicht systematisch, sondern gelegentlich – die historisch-kritische Differenzierung und biblische Pluralität als inkompatibel mit dem vermeintlich einheitlichen Pneuma versteht, das sich in einer vereinenden – oder vereinnahmenden? – fides bzw. Autorität des kirchlichen Lehramts ausdrückt. Nicht zufällig geschieht dies in einer antijüdischen Sprache: „Das Geschäft des Historikers aber ist zunächst nicht das Vereinigen, sondern das Unterscheiden, 473

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Schrift nur noch die Kirche – bzw. das kirchliche Lehramt – ist.476 Die Kirche ist keine zeitenthobene Auslegerin synchroner Texte, sondern sie ist selbst eine vielstimmige Pilgerin durch die Zeit. „Hier wird deutlich, dass die Angemessenheit der methodischen Umsetzung des ‚canonical approach‘ ohne Lösung seiner impliziten ekklesiologischen Fragestellungen letztlich in der Schwebe bleibt. Eine vorurteilsfreie Wahrnehmung der tradierenden Glaubensgemeinschaft als Subjekt der Kanonbildung widerspricht zunächst nicht nur dem Versuch eines Ausspielens einzelner Traditionsstufen gegeneinander, sie hat sich […] auch der Frage nach dem Status der Einzelschrift, des Einzelzeugnisses der im Kanon konkret fassbaren biblischen Schriftsteller zu stellen und kann der adäquaten Erfassung ihrer Vielfalt im ‚Fächer der Stile‘ nicht durch einen kurzschlüssigen Rekurs auf das Gesamt des Kanons ausweichen.“477

Erforderlich ist die „Spurensuche“ nach der lebendigen und zeugnisgebenden Gemeinschaft, in ihrer Einheit und Vielfalt.478 Daran gebunden ist auch die Dynamik des kanonischen Prozesses bis hin zur Kanonisierung – eine Dynamik, die auf das Phänomen der Inspiration verweist479 und über den Kanon hinausreicht. „Ein solcher Blick auf die Kanonbildung hat eine rezeptionsgeschichtliche Schärfe und verdeutlicht die Relevanz der tradierenden Glaubensgemeinschaft gerade in ihrer Eigenschaft als Rezeptionsgemeinschaft.“480

nicht das Suchen nach dem einen Pneuma, das der Glaube in der ganzen Bibel wirksam weiß, sondern das Fragen nach den vielen Menschen, die je auf ihre Art an diesem bunten Gewebe gewirkt haben. Seine Aufgabe ist also gerade das, was die Väter ‚fleischliche Lektüre nach Art der Juden‘ genannt haben“. (Ratzinger, Die Bedeutung der Väter für die gegenwärtige Theologie, 141, zitiert nach Verweyen, 126.) Vgl. Ratzinger, Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie, 536: „Wer die Schrift nicht geistlich versteht, versteht sie überhaupt nicht, er ist ‚Judaeus‘.“ Damit kann die Hl. Schrift nur noch im Glauben der Kirche wirksam werden – eine These, die dem Wort Gottes an sich nicht mehr viel zutraut. Dass auch eine geistliche Lektüre durch Pluralität und Vielfalt begründet sein kann, war Ratzinger in anderen Zusammenhängen bewusst. Vgl. Ratzinger, J., Kirchlichkeit des Glaubens und kirchliche Auslegung des Glaubens, in: Ders., Vom Wiederauffinden der Mitte. Grundorientierungen. Texte aus vier Jahrzehnten, Freiburg i. Br. 21998, 158 –173, 162. 476 Vgl. Rahner, J., Schriftauslegung, 408 f. 477 Rahner, J., Schriftauslegung, 409. Die theologische Arbeit am ursprünglichen Sinn der einzelnen Texte und ihren Deutungen ist eine Grundlage für die Debatten innerhalb der Glaubensgemeinschaft (vgl. 415 f.). 478 Rahner, J., Schriftauslegung, 410. 479 Vgl. Rahner, J., Schriftauslegung, 410. 480 Rahner, J., Schriftauslegung, 411. Vgl. auch Dohmen/Oeming, 48.

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Die reiche Rezeptionsgeschichte jenseits des Kanons und seiner historisch (mehr oder weniger) rekonstruierbaren Kontexte bildet demnach eine eigene Aufgabe im Dialog zwischen Exegese, praktischer Theologie und – beide systematisch vermittelnd – der Dogmatik. Dies hat auch das II. Vaticanum erkannt, wie Alois Grillmeier hervorhebt: „Freilich ist dies nicht der Bereich der fachexegetischen Arbeit im engeren Sinn, wohl aber der Bereich des Bibeltheologen und Dogmatikers. Beide, Fachexeget und Theologe, sollen nach Kapitel VI der Konstitution [DV] zusammenarbeiten, um zur volleren Auswertung der Schrift für das Leben der Kirche zu führen.“481 Das dogmatisch relevante Feld der Rezeptionsforschung – die synchron wie diachron greift – überbrückt an der Schnittstelle von biblischer (historisch-kritischer) und praktischer (empirisch-soziologischer) Theologie daher eine vermeintliche Leerstelle. Für die Dogmatik gilt nun dasselbe Prinzip wie für den Kanon: Eine rein dogmengeschichtliche Rekonstruktion mit historisch-kritischer Analyse von lehramtlichen oder theologischen Texten – die ebenso unentbehrlich ist wie eine historisch-kritische Exegese – ersetzt noch nicht die systematisch-theologische Bemühung, die lebendige Rezeption der Glaubensinhalte durch die Glaubensgemeinschaft aus einer Hermeneutik des (um Verständnis bemühten) Glaubens heraus nachzuvollziehen, plausibel zu erschließen und für heute fruchtbar zu machen, da die Kommunikabilität der fides quae nie von der fides qua zu trennen ist. Das Rezeptionsinteresse und die auf verbindliches Verstehen zielende Glaubensperspektive der Glaubensgemeinschaft sind mit ihren Geltungsfragen für eine Glaubenswissenschaft – Theologie – unerlässlich und sie unterscheiden diese von rein deskriptiven Religionswissenschaften. Schriftauslegung im dogmatisch relevanten Rezeptionsprozess der Glaubensgemeinschaft zielt auf die Glaubenskommunikation im Alltag der Gemeinden, denen für ihren lebendigen Glaubensvollzug eine entsprechend freie Auslegungskompetenz zukommt.482 481

Grillmeier, Dogmatische Konstitution, 555. Vgl. Schöttler, H.-G., Schriftauslegung. IV. Praktisch-theologisch, in: LThK3 9, 260–262. Es handle sich um einen intersubjektiven Rezeptionsprozess, bei dem die Glaubenserfahrungen der Einzelnen untereinander und mit der Hl. Schrift (als Glaubensurkunde) „so vernetzt werden, dass sie sich gegenseitig erschließen.“ Schöttler hebt dabei explizit die „Kompetenz“ aller Glaubenden hervor, die „weit mehr“ ist als eine rein fachliche, insofern sie auf den Lebensvollzug und die gelebte Gottesbeziehung zielt, auf die sich diese Schriftauslegung primär richtet. Vgl. Pesch, O. H., Schriftauslegung – kirchliche Lehre – Rezeption. Versuch einer ökumenischen Zusammenschau in Thesen, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis III, 261–287, 272 f.: Die Bibel werde „von 482

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Ein „authentischer Interpretationsprozess“ ist, wie Benedikt XVI. betont hat, „niemals nur ein intellektueller Prozess […], sondern auch ein Prozess des Lebens, der das volle Eingebundensein in das kirchliche Leben als ein ‚vom Geist geleitetes‘ Leben (vgl. Gal 5,16) verlangt.“483 Das kirchliche Leben ist aber eingebunden in einen breiten gesamtgesellschaftlichen Kontext. Die kirchliche Gemeinschaft ist integraler Bestandteil einer Gesellschaft. Sie steht ihr nicht (wie fundamentalistische Entwürfe oft suggerieren) als Parallelgesellschaft gegenüber, sondern sie befindet sich in einer dialogischen Wechselbeziehung. Der Kirche geht es dabei, ihrem Anspruch nach, um „die Rettung der menschlichen Person“ und „den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft“ (GS 3). Das biblisch fundierte Zeugnis der Kirche und ihr soteriologisch ausgerichteter Dienst für die Welt im Dialog mit der Welt gehören daher zusammen. Eine entsprechende Analyse vergangener theologischer Epochen und Sprachformen mit ihren unhintergehbaren Zeugnissen bleibt die notwendige handwerkliche Grundlage der Dogmatik für ihre kommunikationstheoretisch orientierten Reformulierungen des Evangeliums unter aktuellen Bedingungen.484 Anders wäre die von Papst Franziskus angestoßene Programmatik einer je neuen „Evangelisierung“ theologisch undenkbar. Auf das Ungenügen einer rein retrospektiven, d. h. um ihrer selbst willen betriebenen Dogmengeschichte – wie sie oft ohne jede kirchliche Relevanz oder Rezeption zu finden ist – hatte einst Karl Rahner kurz

der Glaubensgemeinschaft, deren Identität sie stiftet, als Vergewisserungsbasis“ gebraucht – wobei dieser Gebrauch der historisch-kritischen Exegese nicht zugänglich sein muss, insofern er Glaubenserfahrungen im jeweiligen Lebenskontext stiftet. Es handle sich um einen echten „Mehrwert“ der Texte, wobei der historisch-kritischen Exegese eine Kontrollfunktion zur Sicherung gegen gänzlich unbiblische Instrumentalisierung zukommt. Vgl. auch Kasper, W., Exegese – Dogmatik – Verkündigung, in: Ders., Evangelium und Dogma, 420 – 431. 483 Benedikt XVI., Verbum Domini, Nr. 38. 484 Vgl. Lengsfeld, Tradition, 282: „Dogmatische Auswertung ist nicht mehr rein historische Beobachtung, sondern ein engagiertes Eingehen auf den Verkündigungscharakter und die spezifischen Ansprüche, welche das biblische Traditionsgeschehen erhebt.“ Vgl. auch Grillmeier, Dogmatische Konstitution, 552. Die historisch-kritische Arbeit sei die Voraussetzung für die Erschließung der Autorenabsicht und „wenigstens in einem ersten Zugriff“ auch auf den von Gott intendierten Sinn. Eine dezidiert theologische Hermeneutik der Texte, die sich von den Geschichts- und Literaturwissenschaften als einer retrospektiven Sicht unterscheiden muss, kann sich nicht darauf beschränken. Grillmeier unterscheidet zwischen den fachexegetischen Regeln der Hermeneutik und theologisch-dogmatischen Regeln der Schriftdeutung, die über die erste Perspektive hinausgehen muss.

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vor seinem Tod in aller Deutlichkeit hingewiesen.485 Denn es bedarf einer Dogmengeschichte für die Zukunft, das heißt konkret, einer traditionsbasierten und rezeptionssensiblen Theologie, die in der Lage ist, Traditionsprozesse durch Rezeption neuer Sprach- und Denkformen zu initiieren, zu begleiten und gegebenenfalls zu revidieren. Eine akademische Theologie, die dabei nicht ergebnisoffen und kreativ forscht und das theologische Experiment sucht, um Tradition mit aktuellen Erfahrungen der Glaubensgemeinschaft zu verbinden, verliert – völlig zurecht – ihre Existenzberechtigung gegenüber Literaturwissenschaften, historischen Wissenschaften oder Kulturwissenschaften. Insofern können Dogmatik und Dogmenhermeneutik dem normativen Quellenbefund der Schrift und seiner exegetischen Detailanalyse nicht rein deskriptiv gegenüber stehen, weil sie ihn (ebenso wie auch die weitere Tradition und die geltende Artikulation kirchlicher Lehre) mit dem aktuellen Selbstverständnis der rezipierenden Glaubensgemeinschaft heute in einen Dialog bringen müssen, während die Schrift als „das égemonik{n der Dogmatik“ dieser gegenüber eine kritische Funktion behält.486 So ergibt sich auch eine differenzierte Verhältnisbestimmung von Exegese und Dogmatik, die vor einer Verabsolutierung des Dogmas bewahrt.487 Eine in der Theologie unter dem Vorwand der Wissenschaftlichkeit vorgetragene, vermeintlich wasserdichte Fixierung auf das historische Quellenmaterial verhindert jedoch, dass solche Theologie ihr eigentliches Profil im Unterschied zu den methodisch naheliegenden Nachbardisziplinen schärft: den Bezug auf das Mysterium Gottes und den damit verbundenen Glauben einer lebendigen Glaubensgemeinschaft mit ihrem heutigen Rezeptionsinteresse, samt aller damit verbundenen Schwierigkeiten, die theologische Disziplinen im Blick behalten und gemeinsam zu bewältigen suchen.488 485 Rahner, K., Dogmengeschichte in meiner Theologie, in: Löser, W./Lehmann, K./ Lutz-Bachmann, M. (Hg.), Dogmengeschichte und katholische Theologie, Würzburg 1985, 323 –328. 486 Vgl. Rahner, K., Biblische Theologie und Dogmatik in ihrem wechselseitigen Verhältnis, in: LThK2 2, 449 – 451. Vgl. auch Ökumenischer Arbeitskreis, Schriftverständnis, 355 f., wo betont wird, dass eine rein historisch arbeitende Disziplin „nicht ohne weiteres in der Lage ist, mit ihrer genuinen Fragestellung und Methodik die Arbeit der normativen Auslegung zu leisten.“ 487 Seewald, M., Der Anspruch des Evangeliums. Zum Verhältnis von dogmatischer Theologie und biblischer Exegese, in: Wacker (Hg.), Wozu ist die Bibel gut, 67– 84, beschreibt dieses Verhältnis als: „affirmativ, positiv, spekulativ und kritisch“. 488 Vgl. Walter, Quelle, 101, mit Bezug auf Jüngel, E., Das Verhältnis der theologi-

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Der biblische Kanon diente originär nicht als „item of a theory of knowledge“489 im Rahmen einer systematisch-theologischen Erkenntnistheorie, sondern vielmehr als identitätsstiftendes Medium der Glaubenskommunikation. Er zielt auf die Vermittlung einer Gottesbeziehung, die für diese Glaubensgemeinschaft und ihr Selbstverständnis wesentlich ist. Dieses gründet in der geschichtlich und kulturell bedingten Bezeugung der Offenbarung Gottes, deren Rezeption sich je nach lebensweltlichem Kontext verschieden auswirken und fortsetzen kann. Nicht die Texte an und für sich, sondern ihre lebendige Wirkungsgeschichte und Rezeptionsdynamik auf ihrem Weg durch die Zeit bilden den „Interpretationsrahmen der Schrift und ihrer Exegese“.490 „Folglich gilt, dass die Heilige Schrift erst vom Glauben und Leben der Rezeptionsgemeinschaft her, in die jene eingebettet bleibt, ihren vollen rezeptiven Sinn sowie ihre normative Bedeutung gewinnt. Anders herum: Es bedarf einer rezeptiven Vergewisserung des Glaubensgrundes, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Diese Vergewisserung trägt […] den Charakter sowohl des gemeinschaftlichen Hörens auf das in der Schrift begegnende lebendige

schen Disziplinen untereinander, in: Ders., Unterwegs zur Sache. Theologische Bemerkungen (Beiträge zur evangelischen Theologie 61), München 1972, 34 –59, 37. 489 Vgl. Abraham, W. J., Canon and Criterion in Christian Theology. From the Fathers to Feminism, Oxford 1998, 470 f. In diesem Punkt ist Abraham zuzustimmen: „In the course of time the canonical heritage of the West was systematically epistemized; that is, canonical materials, persons, and practices were treated as items in a theory of knowledge. […] The canon of Scripture and the tradition of the Church were interpreted as divinely dictated, and the office of the papacy was interpreted as having, under the right circumstances, a special access to the mind and will of God. Thus Scripture, tradition, and that section of the Church joined to the Roman see were formally identified as sites of divine revelation. This reading of the canonical tradition began to overshadow any soteriological vision of the canonical heritage, even though soteriological considerations were never abandoned or ignored. The canonical heritage was subject to a kind of inversion. Epistemic considerations became primary, with the result that the whole tradition was reconceived to fit the primacy of epistemology. Within the Church in the West, how one knew that one knew the truth about God overshadowed knowing God. At least, this is how it eventually came to appear to many of those who revolted against the Roman see at the Reformation.“ (471) In diesem Sinn ersetzt das kirchliche Lehramt in seiner erkenntnistheoretischen Vorrangstellung die reale Rezeption der biblischen Texte durch das hörende bzw. lesende Volk Gottes in seinem sensus fidei. Eine sich nur noch als Kulturwissenschaft verstehende oder sich auf historischkritische Arbeit beschränkende „Theo“-logie ist aber derselben Gefahr ausgesetzt: Sie reduziert die Bedeutung des Kanons auf eine Quelle zum Erkenntnisgewinn, ohne das existentielle Sinnpotential für die Glaubensgemeinschaft und ihre Rezeption in den Blick zu nehmen. 490 Vgl. Lüning, Die Bibel, 238. Im Original kursiv.

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Wort Gottes als auch seiner mit den Mitteln der kritischen Vernunft jeweils neu zu bewährenden Auslegung.“491

Der Interpretationsrahmen bleibt dabei an die materiale Vorgabe des Textes gebunden, der zur „Erweiterung, Vertiefung und möglicherweise auch Korrektur“ des Verständnishorizontes führen kann.492 Permanente Vergewisserung am Text und aktualisierende Rezeption durch die Glaubensgemeinschaft führen zu einer Reziprozität von historisch-kritischer Exegese und geistlichem Zugang zur Bibel. Daraus ergebe sich, so Lüning, ein „Plural von Auslegungsinstanzen“ innerhalb der Kirche, welche die Hl. Schrift als Glaubensgemeinschaft rezipiert.493 Dies kann in einer Kommunikationsgemeinschaft jedoch nur durch Verständigung geschehen. „Die Dialektik von kommunialer Bestimmung des Glaubens und seiner individuellen Trägerschaft verweist zugleich auf den notwendigen und unhintergehbaren Plural an Auslegungsorganen der Heiligen Schrift in der Kirche, das kirchliche Lehramt, das theologische Lehramt, insbesondere die Exegese, der sensus fidelium, die Liturgie der Kirche, aber auch die gläubige Vernunft bzw. Einsicht des Einzelnen.“494 Jede dieser Instanzen habe auf ihre Weise die Aufgabe, „den Glauben an das lebendige Wort Gottes zu verbürgen“ und sei dabei auf die Bibel als Zeugnis und Medium dieses Wortes verwiesen. Lüning sieht die Theologie als eine „kritische Erkenntnisinstanz“, das kirchliche Lehramt als „verbindliche Bewahrungsinstanz“, den sensus fidelium und die Liturgie als „allgemeine Vergewisserungsinstanz“ und die Einsicht des Einzelnen als die „individuelle Verantwortungsinstanz“ des lebendigen Wortes Gottes, wobei es Überschneidungen zwischen diesen Auslegungsinstanzen geben könne.495 Solche Pluralität führe zu „realen Konflikten“ und zu Spannungen, wenn einzelne Instanzen dominieren oder andere zurückdrängen. Das gilt nicht nur synchron, sondern auch diachron. Lüning verweist auf Ratzingers Mahnung, die Hl. Schrift müsse auch ein traditionskritisches Element sein.496 Aktualisierende Rezeption und Auslegung der Schrift können sich in ihrer Pluralität niemals spannungs- und konfliktfrei vollziehen.497 Dafür könnte 491

Lüning, Die Bibel, 238. Vgl. Lüning, Die Bibel, 239. 493 Vgl. Lüning, Die Bibel, 239. 494 Lüning, Die Bibel, 239. Vgl. auch Rahner, J., Gotteswort, 34. 495 Vgl. Lüning, Die Bibel, 239 f. 496 Vgl. Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 524 f. 497 Vgl. Lüning, Die Bibel, 240. Dies liege im „Vorbehalt epistemologischer Kontingenz“ und der „Transzendenz des göttlichen Wortes“ selbst begründet. 492

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die Dogmengeschichte wohl ein reichhaltiges Tableau von Beispielen bieten. Angesichts des Plurals von Auslegungsinstanzen und ihrer Spannungen stellt Lüning eine wichtige Frage: „Gibt es eine theologische wie zugleich kritische Letztinstanz, die es ermöglicht, eine […] inhaltliche Konvergenz der verschiedenen Verbürgungsinstanzen des Glaubens in der Kirche einschließlich ihrer unterschiedlichen Methodologien selbst noch einmal zu verbürgen?“498 Die Bibel per se kann dies in ihrer Pluralität von Erfahrungszeugnissen und eigenen Deutungsbedürftigkeit als Gotteswort in menschlichen Worten nicht leisten. „Der Glaube an den sich medial selbst mitteilenden Gott als ein mögliches gemeinsames grundlegendes Materialobjekt ist wiederum zu abstrakt, um in einem präzisierenden Sinn als kritische und zugleich material bestimmbare Letztinstanz fungieren zu können.“499 Eine formal theozentrische, AT und NT verbindende Perspektive erachtet Lüning gegenüber Söding als noch nicht ausreichend, um als kritische und materiale Letztinstanz eines schriftgemäßen Glaubens zu dienen.500 Er präzisiert: „Insofern systematische als auch exegetische Theologie in einer soteriologischen Theozentrik das Spezifikum der geschichtlichen Selbstmitteilung des göttlichen Wortes an Mensch und Welt erblicken, ist die Selbstunterscheidung des lebendigen Wortes Gottes von seinem Medium der Heiligen Schrift auch aus kriteriologischer Perspektive von Gewicht“.501 Somit könne innerhalb der Kirche das lebendige Wort Gottes zwar nicht gegen die Schrift als seine ursprüngliche Bezeugungsinstanz gewendet werden, doch sei es durchaus möglich, dass durch das neue Hören und Lesen der Schrift und durch das kritische Bedenken ihrer historischen Kontexte bestimmte Ansichten und Praktiken für die Kirche und ihre Lehre kritisch hinterfragt werden können – oder hinterfragt werden müssen.

498

Vgl. Lüning, Die Bibel, 240. Vgl. Lüning, Die Bibel, 240. 500 Vgl. Lüning, Die Bibel, 241: „Zumindest mag die Anfrage von Seiten der Dogmatik an Söding erlaubt sein, ob nicht erst dann eine Theozentrik für Mensch und Welt entscheidende Bedeutung hat, wenn sie soteriologisch näher bestimmt werden kann bzw. muss.“ Man wird jedoch anmerken müssen, dass Söding die Theozentrik als verbindendes Element der Schrift immer schon soteriologisch pointiert versteht. Vgl. Söding, Einheit, 228; Ders., Wissenschaftliche und kirchliche Schriftauslegung, 86; 90; Ders., Alles neu, 169. 501 Vgl. Lüning, Die Bibel, 241. 499

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„Dies bedeutet, dass die normative Letztinstanz für kirchliches Lehren und Leben eben nicht ein Buch als solches sein kann, sondern das eine Wort Gottes selbst, wie es sich im schriftgemäßen Glauben der Gesamtkirche artikuliert.“502

In diesem Sinne ist die Hl. Schrift als eine „kritische Vermittlungsinstanz“ zu sehen, „derer sich das eine Heilswort Gottes bediente, um sich in der Ausdrücklichkeit von bibelexternen Bezeugungsinstanzen des Glaubens, wie etwa der Theologie, der Liturgie oder des Gewissens eines Einzelnen, erneut und in größerer Klarheit als zuvor in der Kirche verbindlich mitzuteilen.“503 Allein dem Wort Gottes selbst und der unerschöpflichen Dynamik seines Geistes kommt es zu, als je persönliche Heilszusage die letzte Instanz „gegenüber allen Verbürgungsinstanzen des Glaubens in der Kirche zu sein.“504 Das lebendige und nicht eingrenzbare – in diesem Sinne auch nicht endgültig und eindeutig definierbare – persönliche Wort Gottes selbst ist die letzte regula fidei, die an den biblischen Kanon gebunden bleibt, ohne einfach damit identisch zu sein. Auch für Michael Seewald markiert diesen entscheidenden Interpretationsmaßstab die rettende Zuwendung Gottes, verstanden als das – AT und NT verbindende – Evangelium, das sich durch seine Dynamik, soteriologische Zielbestimmung und Provozierung zum antwortenden Glauben auszeichnet.505 Ziel des gesamten Traditionsprozesses ist darum nicht eine Bewahrung und Überlieferung abstrakter Wahrheiten oder unwandelbarer Lehren, sondern ein „personales Geschehen“ der Vermittlung von Gott und Mensch und insofern die „Weitergabe einer lebendigen Wirklichkeit“, wie auch Rudolf Voderholzer deutlich macht.506 Die Bibel dient der Kirche dabei als notwendiges und normatives Medium zur Vergewisserung und Aktualisierung ihres Glaubens, welcher als je neue Antwort auf das je neu zu vernehmende, lebendige Wort Gottes zu verstehen ist. Der pneumatologische Zusammenhang von inspirierter wie inspirierender Schrift einerseits und dem sensus fidei andererseits manifestiert sich in einem dynamischen Traditionsprozess. Dieser Prozess bleibt an die Schrift gebunden, die es immer wieder neu angesichts 502 Lüning, Die Bibel, 241. Er verweist in Anm. 29 auf die Hierarchie der Wahrheiten als Gewichtung kirchlicher Lehren. Die aktualisierende Auslegung der Schrifttexte erfolge nach soteriologischen Gesichtspunkten. 503 Lüning, Die Bibel, 241. 504 Lüning, Die Bibel, 242. 505 Vgl. Seewald, Der Anspruch, 78 ff. 506 Vgl. Voderholzer, Offenbarung, 46.

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der Zeichen der Zeit auszulegen und zu deuten gilt. Und zwar von allen Gliedern der Kirche. Die Pluralität und der Dialog der Auslegungsinstanzen in der Glaubensgemeinschaft werden aber zuletzt relativiert, d. h. positiv rückgebunden an eine theofinal-soteriologische Priorisierung und Konzentrierung, die nicht nur den roten Faden des Kanons und seiner Genese, sondern auch seiner Rezeption markiert. Das soteriologisch relevante und allein genügende Wort Gottes, seine Selbstoffenbarung und Selbstzusage ist für den Glauben also das entscheidende Kriterium schlechthin, das es in jedem Fall zu bewahren und zu vermitteln gilt. Es ist in seiner Rezeption und Artikulation unter den diversen und wandelbaren Bedingungen der Kontinuitätsträger des kirchlichen Glaubens in all seiner Diskontinuität und möglichen – notwendigen – Entwicklung. Die selbstkritische Distanz angesichts veränderter Standorte und Zeiten, eine Reflexion auf den Wandel in den Zeichen der Zeit, führt zu neuen Bedingungen, unter denen Theologie zu betreiben ist. Jede theologische Innovation hängt dann von ihrem Standort und dessen Reflexion ab. Michael Seewald hat dies erkannt: „Die Wissenschaftlichkeit der Theologie besteht nicht darin, diese Standortgebundenheit eigenen Fragens zu verleugnen, sondern sie – im Sinne der Selbstreflexivität wissenschaftlichen Arbeitens – möglichst präzise zu benennen, um sie dann, wenn nötig, problematisieren und verändern zu können.“507

3.3. Sinnüberschuss und (con-)sensus fidelium Die theologische Suche nach der Aussageabsicht Gottes in und hinter den Texten der Hl. Schrift ist an die historische Aussageabsicht der Hagiographen bzw. Redaktoren gebunden508, darf aber nicht einfach darauf reduziert werden.509

507

Seewald, Dogma im Wandel, 76. Vgl. Grillmeier, Dogmatische Konstitution, 552: „1. Weil alles unter dem salutis causa der inspirierten Schrift steht, ist jede historisch-kritisch erarbeitete biblische Aussage schon echter sensus pneumaticus. Der pneumatische Schriftsinn darf nicht von dem historisch festgestellen sensus auctoris getrennt werden. 2. Jedes Suchen nach dem sensus plenior muss bei dem historisch-kritischen Ergebnis ansetzen, und dies nach legitimen theologisch-wissenschaftlichen Methoden. Eine vom echten sensus auctoris losgelöste Deutung ist Eisegese, nicht Exegese.“ 509 Vgl. Childs, Die Theologie, Bd. 2, 450: „Hatte die traditionelle Exegese unzulässigerweise den figurativen Sinn von seiner buchstäblichen Bedeutung abgelöst, wurde 508

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„Hat aber der historisch-kritisch erhobene Gehalt als ‚theologische‘ Aussage zu gelten, so ist die Reflexion auf seine Implikationen gerechtfertigt und sogar gefordert. Diese Reflexion wächst mit den verfeinerten Methoden der Begriffsanalyse, der Philologie, aber auch der Philosophie und schließlich der Theologie. Durch diese Reflexion auf die in biblischen Begriffen und Aussagen liegenden Implikationen allein ist eine Entwicklung der Glaubenserkenntnis, der Theologie und eine Entfaltung der Dogmengeschichte möglich. Zugleich aber wird der biblische Urgrund der späteren Dogmen und der theologischen Systematik sichtbar.“510

Traditionelle Methoden der Schriftauslegungen waren sich der Sinnoffenheit und Mehrdeutigkeit biblischer Texte stets bewusst.511 Dabei zielte auch die Exegese des Mittelalters auf die Aktualität der Schrift. „Intention dieser Auslegung ist also die Aktualisierung, die Anwendung des überlieferten Textes auf die eigene Situation.“512 Christoph Dohmen spricht von einem „relationalen Pluralismus“ in der Auslegung der Hl. Schrift.513 Schon für die Kirchenväter galt die „Aktualisierung des Schriftwortes als Auslegungsziel“.514 Doch muss dieser Prozess an den Literalsinn des Textes gebunden bleiben, dessen man sich vergewissert.515 Nach dem Willen des II. Vatikanischen Konzils soll sich die Theologie aber nicht nur auf eine einzige Sinndimension bzw. Bedeutung beziehen. Es ist nämlich die pastoral motivierte Orientierung an den Zeichen der

nun einzig und allein der Literalsinn der Schrift als legitim betrachtet, und dieser Sinn wurde zunehmend mit einer historisch-kritischen Bedeutung gleichgesetzt.“ 510 Grillmeier, Dogmatische Konstitution, 555. 511 Vgl. Schwienhorst-Schönberger, L., „Eines hat Gott gesagt, zweierlei habe ich gehört“ (Ps 62,12). Sinnoffenheit als Kriterium einer biblischen Theologie, in: JBTh 25, 45 – 61; Ders., Der vierfache Schriftsinn – ein Einblick und ein Ausblick, in: JBTh 31 (2016), 175 –202; Ders., Einheit und Vielheit, 66 ff. Er verweist neben dem Kontext des Kanons auch auf den lebensweltlichen Kontext der Rezeptions- und Interpretationsgemeinschaft. 512 Dohmen, Inspirierter Text, 42. 513 Dohmen, Vom vielfachen Schriftsinn – Möglichkeiten und Grenzen neuerer Zugänge zu biblischen Texten, in: Sternberg, T. (Hg.), Neue Formen der Schriftauslegung? (QD 140), Freiburg i. Br. 1992, 13 –74, 66 f. Vgl. Sander, Die kritische Autorität, 60 – 66. Er differenziert zwischen dem Sinn des Textes und der jeweiligen Bedeutung für die Rezipienten. 514 Vgl. Fiedrowicz, M., Theologie der Kirchenväter. Grundlagen frühchristlicher Glaubensreflexion, Freiburg i. Br. 2016, 104 f. 515 Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk, Nr. 20. „Man kann nicht zutreffend vom allegorischen Sinn eines Textes her argumentieren, sondern nur vom Literalsinn her.“ Darin liegt die Problematik einer übersteigerten Allegorie, wie sie bei den Kirchenvätern zur Anwendung kam: „Die Auslegung wurde willkürlich.“

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Zeit, mit denen der historisch-kritische Befund und der kanonische Gesamtzusammenhang in Korrelation zu setzen sind. Der Brückenschlag zwischen Ressourcement und Aggiornamento ist die ureigenste Aufgabe der Dogmatik. Bei der Selbstvergewisserung und Aktualisierung angesichts der Hl. Schrift und bisherigen Tradition sind ein Konsens und die Einheit der Kirche aller Räume und Zeiten angezielt, die immer wieder neu gefunden werden muss.516 „Es gilt also, in der Vielfalt und Fülle des Tradierten gleichsam den ‚roten Faden‘ herauszufinden. Dafür braucht es geistliches Gespür und Feinsinn, und ein wirkliches sentire ecclesiam.“517 Das persönliche Wort Gottes, das sich im Heiligen Geist durch das Gewissen bezeugt, transzendiert sein Medium und seine Bezeugungsinstanzen; als Gnade leuchtet es den Gläubigen unmittelbar ein und lässt sich weder durch Biblizismus noch durch Lehramtspositivismus ersetzen.518 Die Rede von einem sensus plenior des biblischen Textes zielt klassischer Weise nicht auf einen zusätzlichen oder neu hinzugefügten Sinn. Als Teil und Implikation des Literalsinnes wird etwas Neues erkannt, das den biblischen Autoren (oder Redaktoren) vielleicht selbst noch gar nicht bewusst war.519 Statt jedoch – wie in der ursprünglichen Theoriebildung520 – von einem „Vollsinn“ oder „Tiefensinn“ zu sprechen, der meist nur als christologische Erfüllung der alttestamentlichen Texte gilt, 516

Vgl. Kasper, Bewahren, 558 f. Kasper, Bewahren, 559. 518 Vgl. Hintzen, G., Die Selbstbezeugung des Wortes Gottes. Gedanken zu Schrift, Tradition und kirchlichem Lehramt, in: Catholica 44 (1/1990), 1–25, 3. Hintzen reduziert die Tradition aber vor allem auf die „Entfaltung des Christusereignisses“ (19). 519 Vgl. Dohmen, Inspirierter Text, 46 f. 520 Vgl. Walter, P., Sensus plenior, in: LThK3 9, 467; Coppens, J., Vom christlichen Verständnis des Alten Testaments (Les harmonies des deux Testaments), Leuven 1952, 21 ff.; Haag, H., Die Buchwerdung des Wortes Gottes in der Heiligen Schrift, in: MySal I, 289– 428, 412–423; Brown, R. E., The Sensus Plenior of Sacred Scripture, Eugene (OR) 1955; Brown, R. E., The problems of the sensus plenior, in: ETL 43 (1967), 460 – 469; Dunn, M., Raymond Brown and the sensus plenior interpretation of the Bible, in: Studies in Religion/Sciences Religieuses 36 (2007), 531–551; Osiek, C., Catholic or catholic? Biblical Scholarship at the Center, in: JBL 125 (1/2006), 5–22; Schillebeeckx, E., Offenbarung und Theologie, Mainz 1965, 148 –156. Die Wendung „sensus plenior“ wird neuerdings noch in einem anderen Kontext gebraucht. Die New Yorker Künstlerin Steffani Jemison beschreibt damit „a study of language, gesture, and movement through the practice of pantomime in the Black church“, wobei hier die Grenzen von Sprache und deren Überschreitung bewusst inszeniert werden: „Exploring the limitations of language, Jemison’s work resists the logic of conventional storytelling to expose the entanglements of time, history and progress.“ (https://www.galleriesnow.net/shows/satellite-10-pro 517

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sich vermeintlich aufgrund des kanonischen Kontextes oder durch die kirchliche Auslegung ergibt und dogmatisch final bestimmbar wäre, müsste man wohl eher in Anlehnung an Papst Franziskus von einem soteriologischen Sinnüberschuss in der wirkungsoffenen Dynamik der biblischen Texte sprechen: „Die unbestreitbaren historischen Wurzeln der in der Heiligen Schrift enthaltenen Bücher dürfen uns dieses ursprüngliche Ziel nicht vergessen lassen, nämlich unsere Erlösung. Alles ist auf dieses Ziel hin ausgerichtet, das tief in die Natur der Bibel eingeschrieben ist. Sie ist als Heilsgeschichte verfasst, in der Gott spricht und handelt, um allen Menschen zu begegnen und sie vor dem Bösen und dem Tod zu retten. Um dieses Heilsziel zu erreichen, verwandelt die Heilige Schrift unter dem Wirken des Heiligen Geistes das nach Menschenart verfasste Menschenwort in Gotteswort (vgl. Dei Verbum, 12). Die Rolle des Heiligen Geistes in der Heiligen Schrift ist von grundlegender Bedeutung. Ohne sein Wirken gäbe es immer die Gefahr, im bloß geschriebenen Text eingeschlossen zu bleiben. Das führt leicht zu einer fundamentalistischen Auslegung, von der man sich fernhalten muss, um den inspirierten, dynamischen und spirituellen Charakter des biblischen Textes nicht zu verraten. Der Apostel erinnert dementsprechend: ‚Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig‘ (2 Kor 3,6). Der Heilige Geist verwandelt also die Heilige Schrift in lebendiges Wort Gottes, das im Glauben seines heiligen Volkes gelebt und weitergegeben wird. Das Wirken des Heiligen Geistes betrifft nicht nur die Herausbildung der Heiligen Schrift, sondern ist auch in denen am Werk, die auf das Wort Gottes hören. Die Feststellung der Konzilsväter, dass die Heilige Schrift ‚in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde‘ (Dei Verbum, 12), ist dabei wichtig. Mit Jesus Christus erreicht die Offenbarung Gottes ihren Höhepunkt und ihre Vollendung; und doch wirkt der Heilige Geist weiter. Es wäre in der Tat eine Verkürzung, wollte man das Wirken des Heiligen Geistes nur auf die göttlich inspirierte Natur der Heiligen Schrift und ihrer verschiedenen Autoren beschränken. Es ist daher notwendig, Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes zu haben, der weiterhin eine besondere Form der Inspiration ausübt, wenn die Kirche die Heilige Schrift verkündet, das Lehramt sie verbindlich auslegt (vgl. ebd., 10) und jeder Gläubige sie zu seinem eigenen geistlichen Maßstab macht. In diesem Sinne können wir die Worte Jesu verstehen, wenn er zu den Jüngern, die bestätigen, die Bedeutung seiner Gleichnisse verstanden zu haben, sagt: ‚Deswegen gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt‘ (Mt 13,52).“521 gramme-steffani-jemison-sensus-plenior/ [22.3.2022]) Hier zeichnet sich ein neues Verständnis des „sensus plenior“ ab. 521 Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Aperuit illis. Zur Einführung des Sonntags des Wortes Gottes vom 30.09.2019 (http://www.vatican.va/content/francesco/de/mo

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Dieser Sinnüberschuss gründet in der Transzendenz und Unverfügbarkeit des Logos, dessen Finalität durch Christus sakramental vergegenwärtigt, aber keineswegs begrenzt wird. Ein und dasselbe göttliche Wort realisiert sich nämlich „vielfältig und auf vielerlei Weise“ (Hebr 1,1), eingebettet in die Zeugnisse der Hl. Schrift, inkarniert in der Person Jesu Christi, sowie in der fortlaufenden Heilsgeschichte durch die hörende – und auf das Wort glaubend antwortende – Zeugnisgemeinschaft. Sie entwickelt neue Wege der Verkündigung, erschließt ungeahnte Sinnhorizonte und übersetzt das ein für alle Mal gesprochene Wort Gottes, das sich trotz der Zeitgebundenheit seiner Bezeugung potentiell an alle Menschen richtet, in neue Situationen und Kulturen. Diesen inneren Zusammenhang zwischen dem Schriftzeugnis und seiner Entfaltung im Glauben, die sich nach vorne richtet, gilt es zu beachten. Dogmatik impliziert darum, wie Edward Schillebeeckx betont, immer eine „Aktualitätsnote“, insofern sie zu erhellen versucht, wie Gottes Wort uns Menschen heute in unserer Zeit anspricht.522 „Gerade weil innerhalb der Entwicklung eine Identität besteht zwischen dem Wort Gottes, von dem die Heilige Schrift zeugt, und dem Wort Gottes, das dogmatisch definiert wurde, muss in der Schrift selbst eine objektive Dynamik vorhanden sein, die nicht durch die philologisch-literarische Methode, sondern allein durch die christliche Exegese und Dogmatik ergründet werden kann.“523

Es dürfte klar sein, dass die damit angesprochene Dynamik ein Rezeptionsgeschehen des um Verständnis bemühten Glaubens (fides quaerens intellectum), eine Hermeneutik des Glaubens darstellt, der in dem schriftlich bezeugten und deutungsoffenen Wort Gottes einen je reicheren Sinn für das christliche Leben erschließt.524 Schillebeeckx verweist auf den sensus plenior der Hl. Schrift, in dem sich der historisch-kritisch zu analysierende Literalsinn transzendiert, sodass die inspirierende Dynamik des Geistes dahinter zu Tage tritt, die eine „innere Verwandtschaft“ des biblischen Wortes mit dem später in der Kirche (und im Dogma) gehörten und gesprochenen Wort konstituiert.525 „Tiefenwirklichkeit der tu_proprio/documents/papa-francesco-motu-proprio-20190930_aperuit-illis.html), Nr. 9 f. 522 Vgl. Schillebeeckx, Offenbarung, 146 f. 523 Schillebeeckx, Exegese, 104. 524 Vgl. Schillebeeckx, Offenbarung, 145 –148. Es geht um die „Glaubensverständlichkeit“ (147) in einem Gesamtzusammenhang. 525 Vg. Schillebeeckx, Exegese, 106: „Die Wahrheit besteht formal nie in einem Buch

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Schrift“ (Alten und Neuen Testaments) und dogmatische Entwicklung stehen daher in einem „innigen Zusammenhang“, der im lebendigen Geist begründet und mit der gott-menschlichen Struktur des Wortes verbunden ist.526 Schillebeeckx erkennt eine „objektive Dynamik“527 in den Worten der Hl. Schrift und versteht den sensus plenior als diese Dynamik der biblischen Texte, die auf etwas hinweisen, das durch die Kirche späterer Zeiten „in klarer Ausdrücklichkeit“ als Wort Gottes gehört wird, wenn sie diese Schrift liest.528 Es handle sich nicht um den „sensus consequens“ im Sinne einer theologischen Schlussfolgerung, sondern tatsächlich um die Dynamik des biblischen Sinnes in seiner neuen Rezeption. Die kirchlichen Dogmen seien dann die „Explizitmachung dessen, was im apostolischen Bewusstsein (dessen schriftlicher Niederschlag die Heilige Schrift ist) auf vage Weise schon vorhanden war.“529 Die Selbstoffenbarung Gottes, die schon vollumfänglich gegeben ist, bedarf der vertieften Aneignung im Glauben und einer je neuen Übersetzung. Der Bezug des göttlichen Wortes „zu der jeweiligen, stets wechselnden geistigen Situation der Menschheit“ bringe es mit sich, dass das, was nur mittels „Andeutungen“ bezeugt ist, erst „aufgrund einer neuen Problematik als von Gott wahrhaft bezeugt bewusst wird.“530 oder einem Wort, sondern in dem im Schreiben sprechenden, im Zuhören lebendigen Geist. Die göttliche Offenbarung, wie sie uns in Schrift und Tradition dargeboten wird, kann nur dann vom Herzen vernommen werden, wenn Gott selbst durch das Glaubenslicht ihren Sinn in unserem Herzen ans Licht bringt.“ 526 Schillebeeckx, Offenbarung, 148 ff. 527 Vgl. Schillebeeckx, Offenbarung, 150 f. „Es liegt in diesem menschlichen Wort ein ‚Plus‘, eine objektive Dynamik, deren Bedeutung man sich in der Kirche nur mühsam bewusst werden wird. Allein aufgrund des Glaubenslichtes haben wir eine Geistesverwandtschaft gerade mit der Göttlichkeit dieses Wortes. Aus diesem lebendigen Kontakt mit der Glaubenswirklichkeit selbst und nicht allein aus unserem Kontakt mit dem biblischen Wort über diese Heilswirklichkeit“ könne man eine tiefere Bedeutung der Schrift erkennen, die „zwar nicht ‚profan-exegetisch‘, aber doch entschieden ‚christlich-exegetisch‘ ist.“ 528 Vgl. Schillebeeckx, Offenbarung, 151. 529 Schillebeeckx, Offenbarung, 151. Das Wachstum und der Fortschritt gegenüber der Hl. Schrift finde im Laufe der Kirchengeschichte auf der Ebene der Ausdrücklichkeit statt. Vgl. 152: „Auf irgendeine Weise muss das wahrhaft Geoffenbarte schon in der apostolischen Zeit vernommen worden sein. Der Appell, der in dem göttlichen Testimonium als solchem gegeben ist, kann nie eine Einladung zur Ableitung von Folgerungen sein, sondern ist ‚invitatio ad credendum‘, ein Appell an den Glaubenden.“ 530 Schillebeeckx, Offenbarung, 152. Er vergleicht dies mit einem Lehrer, der im Examen dem Schüler, der nach der richtigen Antwort sucht, diese andeutet und eine

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Die Dogmenentwicklung wäre dann der „Übergang vom impliziten zum expliziten Bewusstsein“, aber keine logische Schlussfolgerung, die etwas hinzufügt.531 Die späteren Dogmen „erwachsen“ aus dem Depositum, von dem die Hl. Schrift zeugt, bei „mancherlei Anlässen, die die Glaubensreaktion lenken und anregen“.532 Durch eine neue Situation oder Fragestellung trete die andeutungsweise geoffenbarte Wahrheit, zu deren „depositum“ nichts hinzukomme, diskursiv ins Bewusstsein, da sie im Medium des ausdrücklich Mitgeteilten – Objektivierten – unter neuen Bedingungen gefunden und erkannt wird.533 Genügt aber ein derart „depositales“ und auch „exploratives“ Verständnis, um die Dogmenentwicklung zu beschreiben?534 Gerade wenn die hörende – und in ihrem Hören diskutierende – Glaubensgemeinschaft in der Rezeption der Schriftzeugnisse eine für solche Sinnerschließung konstitutive und entscheidende Rolle535 spielt, so rückt mit dieser „aktualen“ Perspektive der göttlichen Selbstoffenbarung die Frage nach neuen Erfahrungen und den Kriterien der Unterscheidung in den Vordergrund.536

Spur legt, ohne die Antwort selbst unmittelbar mitzuteilen. Das ausdrücklich Mitgeteilte sei „das Medium, durch das der Schüler die gemeinten Wahrheiten findet.“ Anders verhalte es sich bei der logischen Schlussfolgerung, die der Schüler zieht, ohne dass sie vom Lehrer intendiert war. 531 Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 109; Ders., Offenbarung, 153. Solche Schlussfolgerung sei zwar notwendig, aber „nur die Glaubensreaktion der ganzen Gemeinschaft auf diese durch Schluss gefundene Wahrheit kann darüber befinden, ob sie wirklich von Gott geoffenbart wurde, und nur das kirchliche Lehramt ist letztlich befugt, auf unfehlbare Weise für die Richtigkeit der Reaktion der Glaubensgemeinschaft zu bürgen.“ Das heißt: „Die Kirche gewinnt ihre Dogmen nicht durch theologische Schlussfolgerungen aus der Schrift, sondern sie erkennt ihr eigenes lebendiges Dogma in der Schrift wieder. Mit Recht durfte Yves Congar deshalb sagen: ‚Ich respektiere und befrage ununterbrochen die Wissenschaft der Exegeten, aber ihr Lehramt erkenne ich nicht an‘.“ (156) Sind theologische oder exegetische Schlussfolgerungen dann überhaupt dogmatisierbar, wenn sie nicht durch die Glaubensreaktion der gesamten Kirche auf das, was sie wirklich als Wort Gottes erfährt, gedeckt sind? 532 Schillebeeckx, Offenbarung, 153. 533 Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 110. 534 Zur dieser Klassifizierung vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 278. 535 Mit Hans Urs von Balthasar gilt: „an der Antwort haben wir das Wort.“ Vgl. Balthasar, H. U. v., Gott redet als Mensch, in: Ders., Verbum caro, 73 – 99, 98. Ein ähnliches Verständnis findet sich auch bei Lévinas, E., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg u. a. 1992, 341. Offenbarung „geschieht durch denjenigen, der sie empfängt, durch das inspirierte Subjekt.“ Vgl. Dirscherl, Die Frage, 29 –33. 536 Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 278 f.

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Es dürfte zudem eher missverständlich sein, hier von einer „objektiven“ Dynamik zu sprechen, wenn diese an die hörende Glaubensgemeinschaft gebunden ist. Das diskursive Ringen um die Mehrdeutigkeit der Texte verbietet eine allzu reibungslose, lineare Entfaltung des Impliziten, das doch nur expliziert werden müsste. Es gibt ein plurales Sinnpotential der Texte, in deren Rezeption Sinnmöglichkeiten und Sinnüberschüsse angelegt sind. Sie müssen sich – objektiv – an den Texten festmachen und an deren Kontext bemessen lassen, zwingen aber keineswegs zu einer vermeintlich „vertieften“ Lesart. Es ist keine zwingende Evidenz, sondern ein in der neuen Glaubenserfahrung verwurzelter, diskursiver Prozess des um Verständnis und Verständigung bemühten Glaubens, der sich angesichts der Relecture der Schriften vollzieht – und weiter mit Uneindeutigkeit konfrontiert ist. Das gilt für die christologische Auslegung der Schriften Israels durch das Urchristentum ebenso wie für die spätere Kirche, die ihren lebendigen Glauben beständig aktualisiert. Auch die Dogmen sind keine von vornherein zwingende Explikation des Schriftsinns – andernfalls bedürfte es keiner konziliaren Verständigungsprozesse und keines kirchlichen Lehramtes. Erst unter dem Eindruck der Debatten um die Verhältnisbestimmung von Vater und Sohn, erst angesichts der Gebetspraxis der jungen Kirche ist ein geistesgeschichtlicher und theologischer Kontext gegeben, der nun dazu führt, die Spuren zu einer trinitarisch differenzierten Gottrede bereits im Neuen Testament zu erkennen, sodass die Antworten auf neue, bislang unreflektierte Lebens- und Glaubensfragen in Texten schlummern, die man mit mehr und anderer Erfahrung neu und anders wahrzunehmen lernt. Nimmt man dieses potentielle „Plus“ ernst, so handelt es sich nicht um einen „Vollsinn“ oder um „den“ geistlichen Sinn, der im kanonischen Kontext (des AT in Verbindung mit dem NT) oder durch die Definition des Lehramtes konstituiert wird, sondern um eine pneumatologische Dynamik, die Verstehensprozesse ermöglicht und sich nicht in einer einzigen, exklusiven Deutung erschöpft – wie die trinitätstheologische Theoriebildung in ihrer dogmatisch legitimen und doch dem Diskurs anheim gegeben Pluralität zeigt. Dogmen partizipieren an der pneumatologisch bedingten Offenheit der Hl. Schrift und damit an ihrer Kontextualität und Auslegungsbedürftigkeit. Sie bringen den Traditionsprozess nicht durch die Explikation des Impliziten zum Abschluss, sondern führen ihn fort, indem sie Leitplanken der Auslegung markieren. Während Exegese „den von Gott garantierten Anfang und die von ihm in Bewegung gesetzte Tendenz studiert, die wegen ihrer Anfangsrich-

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tung immer eine kritische Instanz über den weiteren Verlauf der Bewegung bleiben wird“, blickt die Dogmatik zugleich auf den Fortschritt und die Entwicklung des kirchlichen Glaubens auf der Basis der Hl. Schrift.537 Die „Tendenz“ eröffnet jedoch keinen vorprogrammierten Verlauf und keine kritiklose Fortschrittsideologie, da das geschichtliche Zeugnis in einer Wechselwirkung mit völlig neuen und durchaus pluralen Erfahrungen steht, die sich auch traditionskritisch befragen lassen müssen. Dementsprechend muss die Dogmatik die „Bewegung vom Alten Testament zum Neuen Testament aus der Nähe“ verfolgen und selbst nachvollziehen, um die „Bewegung der frühapostolischen Kirche“ und die Tendenz der „fides quaerens intellectum“ für ihre Zeit mitvollziehen zu können.538 Es geht um die Verbindung von geschichtlich-situiertem Offenbarungszeugnis und je neuer Sinnerschließung, geschichtlicher und transzendentaler Dimension der Selbstmitteilung Gottes; um eine objektivierte Vorgabe und die subjektive Aufgabe zur Interpretation und persönlichen Aneignung. Wie Logos und Pneuma, geschichtliche und transzendentale Dimension der Selbstmitteilung Gottes innig zusammengenhören, so sind auch der geschichtlich situierte Literalsinn und seine offene Rezeption miteinander verbunden: konkret und universal. Die sich hierin abzeichnende dynamische Hermeneutik wurzelt in nichts anderem als der trinitarischen Dynamik Gottes selbst – und umgekehrt gilt: wir wissen lediglich von einer solchen Dynamik, weil der bleibend unverfügbare Gott (Vater) sich geschichtlich offenbart (durch sein in menschlicher Erfahrung gegebenes Wort) und sich transzendental erschließt (in die Einsicht der Hörenden hinein). Diese Dynamik von Wort und Geist, Geschichte und Transzendenz, bildet die Grundlage für das Spannungsverhältnis von Schrift und Rezeption, Alt und Neu. Und sie wird überhaupt erst daran erkennbar. Wir berühren hier den Kern theologischer Prinzipienlehre. Auch die Päpstliche Bibelkommission rechnet mit einem „sensus plenior“ biblischer Texte.539 Sie verweist hierfür exemplarisch auf die Trinitätslehre oder die Ursündenlehre gegenüber dem neutestamentlichen Befund. Bei dieser dogmatischen Entfaltung handelt es sich insofern um eine Auslegungsdynamik, die das Sinnpotential der Texte in neuen Kontexten und angesichts neuer Erfahrungen weiter vertieft. Jedoch warnt 537 538 539

Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 113 f. Vgl. Schillebeeckx, Exegese, 114. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 87 f.

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die Bibelkommission explizit vor der Gefahr, wenn eine Kontrolle am Material des Textes oder „durch eine authentische Lehrtradition“ fehlt, denn davon gelöste Deutungen könnten „zu subjektiven Auslegungen Anlass geben, denen jede Berechtigung fehlen würde.“540 Ein Subjektivismus solle durch den Text selbst oder durch die Auslegungsgemeinschaft verhindert werden. Dabei wäre ihre Tradition am objektiven Material des Textes selbst traditionskritisch zu messen, wie wir ja gesehen hatten. Welche Auslegung „berechtigt“ ist oder die Aussagekraft der Texte völlig verfehlt, entscheidet sich darum primär an den Texten selbst und ihrem Literalsinn. Angereicherte Sinndimensionen, die die Glaubensgemeinschaft auf dieser Basis unter dem Gesamteindruck ihres Kanons den Texten für sich verbindlich zuschreiben kann, sind jedoch an diese Lese- und Auslegungsgemeinschaft und ihre Erfahrungen gebunden, die ihre Lektüre bereichern können. Das schließt andere Lesarten aber nicht aus und qualifiziert diese keineswegs als minderwertig. Wenn die Urkirche die in sich gültigen Schriften Israels unter dem Eindruck von Ostern neu liest und darin ein Sinnpotential entdeckt, das sie nun verwirklicht sieht und für ihre Glaubens- und Auslegungsgemeinschaft als normativ erachtet, sodass sie es fortan mit diesen Schriften für sich verbindlich verbindet, dann wird ihre (soteriologisch motivierte) christliche Lesart der Schriften und der daraus entstandene Kanon sich fortan an dieser Relecture bemessen, ohne aber selbst auf eine einheitliche Lesart festgelegt zu sein, wie das Neue Testament eindrucksvoll demonstriert. Diese Wirkungsgeschichte in der Kraft des Heiligen Geistes, die das Bewusstsein und die Möglichkeiten der biblischen Autoren (und Redaktoren) transzendiert, wird immerhin bereits innerbiblisch reflektiert (vgl. Joh 16,12 f.). Die Tragweite alter Texte mit ihrer bereicherten Bedeutung wird aber erst durch neue Kontexte erkannt oder ermessen – durch je verschiedene neue Kontexte. Es ist darum nicht nur der „Kontext des Kanons“, der zum Schlüssel für ein volleres Verständnis der Schrift und ihrer Inspiration wird.541 Will man mit Blick auf den sich in der Rezeption erschließenden Sinn biblischer Texte vom „kanonischen Sinn“ sprechen, wie etwa Rothenbusch vorschlägt, so droht das Missverständnis, dass die „Fragestellungen der eigenen Zeit“ und die aktualisierende Auslegung in neue Lebenskontexte mit dem kanonischen Sinn vermischt und damit – gegen die Intention 540 541

Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 87. Darauf zielt Dohmen, Inspirierter Text, 50 f.

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Rothenbuschs – identifiziert würden.542 Genau das geschieht bei manchen synchronen Lesarten des Kanons, die eine diachrone Sinn- und Rezeptionsgeschichte der Texte durch eine Statik „erfüllter“ Verheißung auflösen und durch den Verweis auf diesen „Vollsinn“ sistieren. Das Wort Gottes entfaltet in menschlichen Zeugnissen, wie Rothenbusch sieht, über den Kontext des Kanons und sein normatives Sinngefüge hinaus eine inspirative und vielfältige Kraft. Durch die persönliche Auseinandersetzung mit der Hl. Schrift spricht diese die Gläubigen immer wieder neu an: „Ihre aktualisierende Auslegung, die als aktive Sinnkonstituierung etwas dem Literalsinn gegenüber durchaus Neues einbringt, führt die historische Überlieferung der Bibel weiter in die jeweilige Gegenwart ihrer Leserinnen und Leser.“543

Die Vergewisserung am konkreten Text in seiner historischen Sinndimension korrespondiert also mit der notwendigen Aktualisierung angesichts neuer Fragen und Herausforderungen.544 Das ursprüngliche Zeugnis der Selbstoffenbarung Gottes verdient es dabei, im Kontext seiner Zeit verstanden zu werden, um es dann – mit Blick auf eine kanonische Gesamtperspektive – unter den vielfältigen Bedingungen unserer Zeit aktuell zu erschließen. Der Rekurs auf einen verbindlichen Sinn „angesichts der Fragen und Aufgaben der eigenen Zeit und im Kontext der religiösen Gemeinschaft“545 erfordert jedoch die Differenzierung von historischer, kanonischer und lebensweltlicher Kontextualisierung. Der Kanon verbürgt die Vielstimmigkeit und Sinnpluralität biblischer Zeugnisse; er beschränkt durch seine Grenzen aber selbst einen unkontrollierten Pluralismus in der Überlieferung, indem er diese auf ein gewisses Maß in Gestalt der Ursprungserinnerung festlegt.546 Die Frage, wie eine legitime Pluralität in der Rezeption von subjektiver Willkür oder Instrumentalisierung zu unterscheiden ist, lässt sich nicht ohne Verweis auf die Verständigungsprozesse der Glaubensgemeinschaft mit ihren dogma542

Vgl. Rothenbusch, Inspiration, 120. Rothenbusch, Inspiration, 121. 544 Rothenbusch, Inspiration, 122–135, unterscheidet, ausgehend vom „Rezipientenstandpunkt in der religiösen Gemeinschaft […] zwei untrennbar miteinander verbundene Zugangsweisen“ zur Schrift: a) Die Interpretation der jeweiligen historischen Literalsinne (in ihrer Polysemie) und b) die aktualisierende Auslegung auf der Grundlage des ganzen Kanons. 545 Rothenbusch, Inspiration, 127. 546 Vgl. Rothenbusch, Inspiration, 127 f., mit Bezug auf J. Assmann. 543

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tischen Entscheidungen beantworten.547 Sie allein definiert, was für ihr Glaubensbewusstsein als legitimer oder gar verbindlicher Sinnhorizont der Hl. Schrift gültig ist und was vielleicht nicht (mehr). Sie hat in der Tat die Vollmacht, im Hören auf die Hl. Schrift, auf die sie bislang auslegende Tradition und in ihrer Sensibilität für das je aktuelle Wirken des Heiligen Geistes Entscheidungen auf der Basis einer Unterscheidung zu treffen: Worin vernimmt sie das Wort Gottes und worin nur menschliches Medium? Dafür bleibt sie an das historische Zeugnis deutungsoffener Texte gebunden, an deren Einbindung in den Kanon und an die Herausforderungen im Hier und Heute. Die Offenheit der Texte – des Alten und548 Neuen Testaments – korreliert mit dem Wirken des Heiligen Geistes, der in seiner schöpferischen Kraft neues Verstehen und ganz andere Zugänge hervorbringen kann, da 547 Die Notwendigkeit einer begründeten Entscheidung im Rahmen der Rezeptionsgemeinschaft betont (mit Blick auf Instrumentalisierungen der Bibel bei Themen wie Sklaverei, Todesstrafe und Apartheid) auch Schwienhorst-Schönberger, L., Bibel und Katechismus. Wider den antidogmatischen Affekt in der Exegese, in: HerKorr 7/2020, 31–35, 33 f. Ob man hier von einer „Sinnfestlegung“ der Texte sprechen darf, ist aber fraglich. Dass Schwienhorst-Schönberger vor der Lektüre der Bibel zuerst den Katechismus als Gebrauchsanweisung zur Hand nimmt, ändert nichts daran, dass diesem aus dogmatischer Sicht nicht die Rolle zukommt, den Sinn der Hl. Schrift festzulegen. Die Schriftauslegung des Katechismus hat per se keinen definierenden oder dogmatisch verbindlichen Charakter; er dient als Orientierung und „Arbeitshilfe“ (KKK 12), läuft aber Gefahr, die subjektive theologische Auslegung einiger prominenter Autoren oder Epochen zur allgemeinen Norm für die gesamte Kirche aller Zeiten zu erklären – vorbei am realen Glaubensbewusstsein der Rezeptionsgemeinschaft. Wer also ein „Verfahren“ zur Abwehr missbräuchlicher Auslegungen fordert, ist auf den synchronen wie diachronen Diskurs der Glaubensgemeinschaft verwiesen, nicht auf Sinnbegrenzung und Vereinheitlichung, die dem Wesen des Katholizismus widerspricht. Dass solche „Sinnfestlegungen“ (im Katechismus!) gerade selbst revisionsbedürftig sind, zeigt die Änderung des KKK durch Papst Franziskus hinsichtlich der Bewertung der Todesstrafe. 548 Der sensus plenior betrifft nicht „allein das Alte Testament“ in seiner ntl. Lesart, wie Christoph Dohmen meint. Vgl. Dohmen, C., Was Gott sagen wollte … Der sensus plenior im Dokument der Päpstlichen Bibelkommission, in: BiLi 69 (1996), 251–254, 252. Es geht auch „um die Bedeutung, die eine authentische Lehrtradition oder eine Konzilsdefinition einem Text der Bibel zuerkennt.“ (Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 87) Dass der „geistliche Sinn“ jedoch „meistens in Bezug auf das Alte Testament“ postuliert wird (85), zeigt, dass dieser meist mit einem verkürzten Schema von Verheißung und Erfüllung gleichgesetzt und oft auf einen christologischen Sinn reduziert wird. Der „sensus plenior“ betrifft aber – mit der Bibelkommission – auch Texte wie Röm 5,12–21 in ihrer Rezeptionsoffenheit (z. B. im Kontext der Ursündenlehre, deren Rezeption Fragen aufwirft). Neue Kontexte der Lektüre im Heiligen Geist (vgl. 85) ergeben sich deshalb auch mit Blick auf das NT und den Kanon insgesamt. Vgl. auch Schillebeeckx, Offenbarung, 150.

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der Prozess der Offenbarung als Ankunft – Advent – des Wortes Gottes unter neuen Bedingungen eben Neues und Anderes erfordert, das nicht einfach aus den Texten ableitbar, aber an ihnen zu prüfen ist. Ein neuer Kontext ist dabei nicht nur für Israels Schrift durch den Kanon, sondern auch durch die Lektüre des Kanons in seiner Einheit und Gesamtheit unter veränderten Umständen gegeben. Denn die Transzendenz des Wortes und das Wirken des Heiligen Geistes enden weder mit den Buchdeckeln der Bibel noch mit den Dogmen. Zwar ist der Kanon der primäre „Ort, an dem der Sinn der inspirierten Schrift festgemacht werden muss“549, doch das Potential menschlicher Zeugnisse, derer man sich hier vergewissert, führt zur aktuellen Befragung im Hier und Heute. Die Einheit der Schriften des Kanons bleibt eingebettet in die Einheit von Schrift und Tradition, verbunden mit der analogia fidei. Analogie meint aber eine je größere Unähnlichkeit, die es verbietet, den soteriologischen Sinnüberschuss als den Vollsinn oder Tiefensinn der Schriften in christozentrischer (oder ekklesiologischer) Reduktion exklusiv zu sistieren.550 Fülle und Tiefe der Hl. Schriften sind nie statisch gegeben, sondern werden in einem auf Zukunft hin offenen Prozess durch das Wirken des Geistes Gottes in der Geschichte in Gnade je neu erschlossen. Vermeintliche Einheitlichkeit und Eindeutigkeit sind dabei keine Kategorien des sich in der Geschichte offenbarenden göttlichen Mysteriums, das sich in seiner unverfügbaren Transzendenz jedem begrifflichen Zugriff entwindet. Oder mit den Worten von Ps 62,12: „Eines hat Gott gesprochen, zweierlei hab ich gehört“. Mit anderen Worten: Es gibt nicht den einen, exakt bestimmbaren „sensus plenior“ biblischer Texte, sondern es gibt in der Dynamik des Heiligen Geistes sensus pleniores – im Plural – als eine unabschließbare Vielfalt551 potentieller Sinnhorizonte, die ebenso reichhaltig sind, wie die schöpferische und inspirative Kraft jenes Gottes, auf den diese Schriften letztlich verweisen. Der pneumatische Plural potentieller Rezeption ist nach christlicher Lesart stets verbunden mit dem inkarnierten Logos und seiner durch menschliche Zeugnisse dokumentierten und tradierten Geschichte, die ja selbst Rezeptionsgeschichte ist. Die Kirche vertraut als Volk Gottes auf den Beistand des Heiligen Geistes bei ihrem Bemühen, diese pluralen Zeugnisse 549

Dohmen, Inspirierter Text, 50. Siehe oben: Kap. II.1.4. 551 Das sieht jüdische bzw. rabbinische Hermeneutik ganz analog. Vgl. Stemberger, Hermeneutik, 140. 550

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für ihre jeweilige Zeit angemessen zu deuten. Sie vertraut hierbei auf den (con)sensus fidelium, der sie als Ganze – so ihre Überzeugung – nicht in die Irre führen wird, wie das II. Vaticanum in LG 12 lehrt: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht fehlgehen, und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie mittels des übernatürlichen Glaubenssinns des ganzen Volkes immer dann kund, wenn sie ‚von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien‘ ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert. Durch jenen Glaubenssinn nämlich, der vom Geist der Wahrheit erweckt und erhalten wird, hängt das Volk Gottes unter der Leitung des heiligen Lehramtes, in dessen treuer Gefolgschaft es nicht mehr das Wort von Menschen, sondern wahrhaft das Wort Gottes empfängt (vgl. 1 Thess 2,13), dem einmal den Heiligen übergebenen Glauben (vgl. Jud 3) unwiderruflich an, dringt mit rechtem Urteil tiefer in ihn ein und wendet ihn im Leben voller an.“

Der proaktive sensus fidei552 der einzelnen Gläubigen, der immer geprägt sein muss durch ein synchrones wie diachrones553 sentire cum ecclesia, kann auch Zeugnisse oder Auslegungen problematisieren, die aufgrund wachsender Sensibilität554 und bereichernder Erfahrungen555 heute eben 552 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei und sensus fidelium im Leben der Kirche, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 199), Bonn 2014; Söding, T. (Hg.), Der Spürsinn des Gottesvolkes. Eine Diskussion mit der Internationalen Theologischen Kommission (QD 281), Freiburg i. Br. 2016; Slunitschek, A./Bremer, T. (Hg.), Der Glaubenssinn der Gläubigen als Ort theologischer Erkenntnis. Praktische und systematische Theologie im Gespräch (QD 304), Freiburg i. Br. 2020; Beinert, W., Der Glaubenssinn der Gläubigen in Theologie- und Dogmengeschichte. Ein Überblick, in: Wiederkehr, D. (Hg.), Der Glaubenssinn des Gottesvolkes – Konkurrent oder Partner des Lehramtes? (QD 151), Freiburg i. Br. 1994, 66 –131; Hünermann, P., Sensus fidei, in: LThK3 9, 465– 467; Böttigheimer, C., Glaubenssinn der Gläubigen, in: NLKD, 272–274; Löhrer, Träger der Vermittlung, 551–555; Congar, Tradition und Kirche, 75–78; Kasper, Das Verhältnis, 454 f.; Demel, S., Glaubenssinn der Gläubigen, in: Dies., Handbuch Kirchenrecht. Grundbegriffe für Studium und Praxis, Freiburg i. Br. 22013, 277–280. 553 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 97. Es bedarf einer Bibelauslegung, die dem Gespür der Kirche und für die Gemeinschaft der Kirche entspricht: secundum sensum Ecclesiae (DV 23). Diesen gilt es aber als consensus je neu und differenziert zu bestimmen. 554 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 8 f. Auch in seiner Ansprache an die 68. Generalversammlung der italienischen Bischofskonferenz am 18.05.2015 betonte Franziskus die erforderliche „sensibilità“, ein Gespür, empathisches Wahrnehmungs- und Einfühlungsvermögen bzw. Feingefühl. Vgl. Discorso Introduttivo del Santo Padre Francesco all‘ apertura dei lavori della 68a assemblea generale della conferenza episcopale italiana (C.E.I.), Aula del Sinodo, 18.05.2015 (http://w2.vatican.va/content/francesco/it/speeches/ 2015/may/documents/papa-francesco_20150518_conferenza-episcopale-italiana.html). 555 Bei Weimann Dogma, 267, zeigt sich die Tendenz, mit Ratzinger den sensus fidei quantifizieren zu wollen und die vermeintlich schwindende „Einsicht des Glaubens“

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nicht mehr Glaubenskonsens der Glaubensgemeinschaft sind.556 Es können dafür neue Sinnhorizonte auftauchen, die uns bislang noch gar nicht bewusst sind, weil sie durch den aktuellen Bestand der Glaubenslehre (noch) nicht erfasst oder angemessen gewürdigt wurden. Und der Glaubenssinn wird, wenn er sensibel ist für den Glauben vergangener Generationen, auch Deutungsmuster erkennen, die für die gesamte Glaubensgemeinschaft der Kirche in ihrer konkreten Artikulation durchaus auslegungsbedürftig, aber prinzipiell unüberholbar sind, weil sie das Grundverständnis ihres Glaubens und Lebens über die Zeiten hinweg berühren. Christoph Theobald übt darum Kritik an einer „eindimensional-lehrinhaltlichen Objektivierung des Glaubens“, die sich im Laufe der Theologiegeschichte eingeschlichen hat und bei welcher der aktive Glaubenssinn als sensus fidei in den nachkonziliaren Debatten über das Wesen des Glaubens und seine Glaubwürdigkeit „völlig unterbelichtet geblieben“ ist.557 Zur Debatte steht einerseits das Festhalten am übergebenen Glauben, andererseits die Urteilsfähigkeit in der Anwendung. Der Glaubenssinn gründet, wie Theobald mit 1 Thess 2,13 verdeutlicht, in der Wirksamkeit des Heiligen Geistes in den Gläubigen, die eine Frucht des Wortes Gottes ist und insofern das Kriterium darstellt, „mit dessen Hilfe der Glaubende das Menschenwort des Apostels als Gotteswort anerkennt.“558 Für Theobald ist der sensus fidei ein „stilistischer Sinn“, der auf eine Konkordanz zwischen Inhalt und Form zielt, um die Glaubwürdigkeit und Lebbarkeit des Wortes tiefer und voller zu erfassen.559 Es handelt durch „die äußere Autorität der Kirche“ in Gestalt des Lehramtes zu kompensieren. Autoritätsglaube ersetzt „die eigene Vernunftkraft“, auf die scheinbar „kein Verlass“ mehr ist. Das passt kaum zu Ratzingers differenzierten Ausführungen zu Glaube und Vernunft und übersieht, dass der sensus fidei primär gnadentheologisch zu fassen ist, da er christologisch und ekklesiologisch orientiert, aber pneumatologisch begründet bleibt – eine Dimension, die in der äußeren Logik des Hörens als Gehorsam unterbelichtet bleibt. 556 Vgl. Faber, E.-M., Sentire cum Ecclesia, in: LThK3 9, 471– 472. Solches Einfühlungsvermögen ist immer auch verbunden mit „konstruktiver Kritik“. Es geht um den christlichen „Sinn der Kirche“ im lebendigen Vollzug ihres Glaubens, nicht nur um formalen Gehorsam gegenüber einem „magisterium“, das z. B. Trient gar nicht weiter im Blick hat, weil es das „fortwährend in den Herzen der Gläubigen lebende Wort“ in den Mittelpunkt rückt. Vgl. Kasper, Das Verhältnis, 454 f., mit Bezug auf Möhler, Newman und Scheeben. Vgl. Knop, J., Sensus ecclesiae – (im) Sinne der Kirche, in: Brünenberg-Bußwolder/Münch/Sigismund u. a. (Hg.), Neues Testament, 190 –207. 557 Theobald, Christentum als Stil, 55; vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 119. 558 Theobald, Christentum als Stil, 57. 559 Theobald, Christentum als Stil, 57.

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sich um einen „Spürsinn“, der im Blick auf die Zeugen und ihr Zeugnis zu unterscheiden hilft. Mit Blick auf das Verhältnis Jesu zu denen, die ihm begegnen, spricht Theobald auch von einem sensus Regni, „einem inneren Sinn für die jetzt kommende Herrschaft Gottes.“560 Wenn Glaube vor allem ein „Begegnungs- und Beziehungsgeschehen in der Welt“ darstellt, so zeichnet sich dieses gerade dadurch aus, dass sich der/ die Empfänger/in „auf den schöpferischen Vorgang der Formgebung seines Glaubens selbst einlässt.“561 Es handelt sich um ein kreatives Geschehen, dessen Dynamik eng mit einem stilistischen Ansatz verbunden ist.562 „Die Neuheit von Jesu Art und Weise, die Welt zu bewohnen, lässt sich in der Tat am besten als ein bestimmter Typ von Begegnung beschreiben – genauer als Beziehung und deren Wirkung und Wirkungsgeschichte.“563 Auf dieses persönliche Begegnungsgeschehen konzentriert sich die Theologie von Benedikt XVI. ebenso wie Papst Franziskus.564 Vor diesem Hintergrund verweist Theobald mit Papst Franziskus auf die Vielfalt der Kontexte, die sich auch anhand eines Polyeders illustrie-

560

Theobald, Christentum als Stil, 57. Theobald, Christentum als Stil, 58. 562 Theobald, Christentum als Stil, 66 f.: „Die stilistische Perspektive legt sich deshalb nahe, weil diese relationale Struktur des Glaubensaktes das Gegenüber Jesu nicht nur in den komplexen, Glauben erzeugenden Prozess der Begegnung ganz miteinbezieht, sondern in diesem Gegenüber einen spezifischen inneren ‚Sinn‘ (sensus fidei – sensus Regni) voraussetzt oder wachruft. Dieser ‚Sinn‘ vermag sowohl die interne und letztlich unsichtbare Kohärenz oder Authentizität Jesu oder anderer Zeugen wahrzunehmen wie auch den Glaubenden – in dieser Wahrnehmung – zu eigener Kreativität und Formgebung zu befreien, so wie sich dies im ‚Übergang‘ vom ‚historischen Jesus‘ zur Schriftwerdung des in der Urgemeinde sich vollziehenden Begegnungsgeschehens dokumentiert findet. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass sich in den neutestamentlichen Erzählungen und im Hebräerbrief wie auch im heutigen Kontext eine Pluralität von Glaubensfiguren und Begegnungen mit dem primären Zeugen und seinen vielen Anhängern zeigen, dann wird auch verständlich, dass gerade ein stilistischer ‚Sinn‘ sowohl die Singularität eines jeden von ihnen als auch ihre mit dem ‚unergründlichen Reichtum‘ (Eph 3, 8) des Evangeliums gegebene Vielfalt und ihre gleichzeitige Zugehörigkeit zu ein und derselben ‚Familie‘ wahrzunehmen vermag; wie dies ja im PolyederModell von Papst Franziskus vorausgesetzt wird. Der stilistische Ansatz kann bereits hier als Weiterentwicklung der auf Relationalität angelegten Pastoralität des Zweiten Vatikanums verstanden werden, auch wenn damit die Frage nach der Interpretationskompetenz eines jeden Zeugen und dem kollektiven Aspekt des Glaubens noch nicht geklärt ist.“ 563 Theobald, Christentum als Stil, 58. 564 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 7 ff., mit Bezug auf Benedikt XVI. 561

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ren lässt.565 Denn die Multipolarität des Polyeders macht deutlich, dass das Evangelium immer in Korrelation zu je einzigartigen Hörenden steht. Für Theobald ist der sensus fidei als sensus Regni somit eine Sensibilität für die Zeichen der Zeit, angesichts erfüllter Zeit. Es handelt sich um eine Sensibilität, die mit einer entsprechenden Interpretationskompetenz verbunden ist. Die innere Pluralität der christlichen Tradition und die Divergenz des persönlichen Glaubens und offizieller Glaubenssprache setzen eine entsprechende „Kompetenz“ im Glaubensakt selbst frei: „die des Ausdrucks und der Interpretation“.566 In der Begegnung mit der messianischen Fähigkeit Jesu, Glauben zu erzeugen, entstehen neue, elementare Glaubensvollzüge.567 Sie sind individuell und nicht planbar. Sie ergeben sich in der persönlichen Begegnung mit Jesus und seiner Botschaft. „Es gelingt ihm, einen im Menschen gegebenen ‚Glaubenssinn‘ für die Kohärenz und Authentizität seines Gegenübers zu aktivieren und gleichzeitig seine Ausdrucks- und Interpretationskompetenz zu befreien.“568 Die Selbstinterpretation des heutigen Menschen ist dabei verwiesen auf die „konfliktive Vielfalt der Perspektiven innerhalb der Texte“.569 Der Rezeption wird Raum und eine eigene Freiheit eingeräumt, die sich durch die Haltung der Gastfreundschaft570 – die der Heiligkeit Gottes entspricht – näher qualifizieren lässt. Der darin eröffnete Resonanzraum571 setzt Neues und Unerwartetes frei, das sich als Gnade verstehen lässt. Dieses dynamische und ergebnisoffene Begegnungsgeschehen spiegelt das Neue Testament in seiner inneren Verbindung von Schrift (= AT) und weiterlaufender Tradition (Kirche) erkennbar wider. Denn die neutestamentlich-biblische Schriftwerdung relativiert sich ihrerseits als Schrift, „indem sie sich auf ihren tatsächlichen Grund – die jesuanische Gastfreundschaft ‚bis zum Ende‘ (eÙj t¤loj) – zurückbezieht und deren je neue Verwirklichung, über den ‚Graben‘ von Ostern hinweg hic et 565

Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 236 f.; Theobald, Christentum als Stil, 64 f. Theobald, Christentum als Stil, 87. 567 Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 96. 568 Theobald, Christentum als Stil, 96. 569 Theobald, Christentum als Stil, 97. 570 Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 58 – 63. Es gibt aber „keine wirkliche Gastfreundschaft ohne Offenheit für Überraschungen“ (331). 571 Zum Begriff der Resonanz vgl. Rosa, H., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. 566

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nunc, ermöglicht. Genau dieser Traditions- und Überlieferungsprozess bildet das Zentrum christlich-jesuanischen Glaubens.“572 Die im lebensspendenden Schöpfergeist begründete Kreativität, „mit der die Urgemeinde ihre Interpretationskompetenz ausgeübt hat“ und die auch heute der Gemeinschaft der Kirche in ihrer Multiperspektivität verheißen ist, kann nicht stark genug betont werden.573 Theobald verweist auf das Zusammenspiel von traditionsgeschichtlicher und narratologischer Exegese, die nicht auf eine neutestamentliche Hermeneutik reduziert werden dürfe, sondern den Alltagsbezug der Texte auf je neue Kontexte und deren Alltag hin aktualisieren müsse. Darin wurzle auch ein missionarisches Verständnis von Tradition. So sei der „Sinn“ für den Glauben – den elementaren, anthropologisch begründeten Lebensglauben – aller Menschen574 in den Offenbarungsbegriff selbst einzutragen, wobei der Erfahrungsbezug des theologalen Glaubens und sein Instinkt575 zu berücksichtigen sei, der auf konkrete Zeugen und ihr Zeugnis trifft und zu einer Konkordanz mit deren Wort, Handeln und Sein führt, sodass hier Gott selbst erfahrbar wird.576 Dessen Selbstmitteilung, in der er alles – sich selbst – gesagt und zugesagt hat, führt in ein „beredtes Schweigen“, das die vielfältige Antwort der Menschen in ihrer eigenen Ausdrucksform ermöglicht, sodass individuelle und kollektive Interpretationskompetenz gefragt ist. Es ist der pneumatologische Charakter von Pfingsten, der die Vielfalt der Perspektiven und Sprachen als ein Zeichen des Heiligen Geistes markiert.577 Das Hören des Gotteswortes ist jedoch komplex, es bedarf einer Kriteriologie zur Unterscheidung.578 Aus stilistischer Sicht klingen hier an: Kohärenz, Authentizität, Empathie und sozial-ethische Erwägungen.579 572

Theobald, Christentum als Stil, 110. Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 111 f. 574 Theobald spricht vom Glauben „Jedermanns“ – meint natürlich auch jeder Frau, letztlich: aller Menschen. 575 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 2; 49 f. 576 Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 113 ff. Man könnte auch auf das klassische Zusammenspiel von verbum externum und internum verweisen. Theobald (vgl. 116 f.) spricht hier von einem „stereophonen“ Hören. 577 Vgl. GS 44; AG 22, wo die vielfältigen Sprachen unserer Zeit zur Geltung kommen. 578 Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 117. Die Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 77, unterläuft hingegen den sensus selbst, insofern das Urteil über seine Authentizität nur dem Lehramt zukomme. 579 Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 235. Dem Ternar „Sehen – Urteilen – Handeln“ geht das Hören voraus. 573

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Das Hören und Sehen dessen, „was kein Auge je gesehen und kein Ohr gehört hat“ (Jes 64,3; 1 Kor 2,9) ist somit gleichzeitig „ein ‚Hören der verschiedenen Sprachen unserer Zeit‘ (GS, 44) und ein Sehen dessen, was sich in den ‚Zeichen dieser Zeit‘ (GS, 11) lesen lässt.“580 Das hat Konsequenzen für den inneren Zusammenhang von Schrift- und Glaubenshermeneutik: „Das ‚Wort‘ ertönt nicht nur in der Heiligen Schrift und im Gewissen derer, die es hören und sozusagen wieder- und anerkennen; es ist auch in den vielen Sprachen und Kulturen der Menschheit am Werk und in Erwartung; und – so müssen wir hinzufügen – in den Religionen und Spiritualitäten der Menschheitsfamilie; diese bleiben ihm nicht äußerlich, weil es eben nur im Menschen – als ‚Fleisch gewordenen Wort Gottes‘ auf völlig einmalige und endgültige Art und Weise – gehört werden kann.“581

Die Interpretationskompetenz des Volkes Gottes bezieht sich also, wie Theobald mit Blick auf GS 11 deutlich macht, nicht nur auf das biblische Zeugnis, sondern auch auf Erfordernisse der Menschheitsgeschichte.582 In all den Ereignissen, Forderungen und Wünschen unterscheidet das Volk Gottes, was der Wille Gottes ist. Damit ist noch einmal klar betont, dass das, was Gott uns heute sagen will, nicht allein aus dem Bibeltext oder von der Exegese erhoben werden kann. Eine derart geschärfte Wahrnehmung provoziert Kreativität: „Das Neue Testament und die es tragenden Kirchen des Urchristentums lassen sich als Verwirklichung einer solchen Kreativität verstehen, die heute […] auf erneute Aktivierung wartet. Die je einzigartige und neue Gestaltung christlicher Existenz in der Welt […] lässt sich nur in einem solchen Begegnungsgeschehen mit der Urgemeinde verwirklichen, in dem sich der Glaubend-Hoffende und Liebend-Handelnde heute auf den schöpferischen Vorgang im Traditionsgeschehen selbst einlässt.“583

Dabei werde eine vorherrschende anthropozentrische Perspektive „relativiert zugunsten einer die Schöpfung einbeziehenden, integralen Sichtweise.“584 Wo, wenn nicht im Alten Testament und in seiner Schöpfungstheologie wäre eine solche Perspektive als Grundlage der christlichen

580 Theobald, Christentum als Stil, 119. Ein vollständige Analyse des sensus fidei müsse alle Sinne (Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Tasten) berücksichtigen. Vgl. 118, Anm. 132. 581 Theobald, Christentum als Stil, 117 f. 582 Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 119 f. 583 Theobald, Christentum als Stil, 236 f. 584 Theobald, Christentum als Stil, 237, mit Bezug auf Laudato Si.

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Rede von Erlösung abrufbar? Die Inspiration und die Kreativität der (Ur-)Kirche haben ihren theologischen Anker, ihre Wurzel, die sie gegen jede gnostische Versuchung an den Boden der Überlieferung Israels rückbindet. Der „Geist heiliger Gastfreundschaft“585 und Offenheit spielt dabei eine wichtige Rolle. Er verweist auf die Peripherie, die Ränder der Gesellschaft, deren Urteilskraft und Interpretationskompetenz einen eigenen Raum – auch zum Widerspruch! – bekommen muss.586 Der mit dem sensus fidelium und seiner Interpretationskompetenz verbundene Wahrheitsanspruch lässt erkennen, wie die Wahrheit – analog zum Prinzip des Kanons – näher zu verstehen ist: „Einerseits lässt sie sich niemals aufzwingen und zeigt sich nur in einer niemand ausschließenden und ohne Zwang ablaufenden Kommunikation aller mit allen – was sie zu einer zwar notwendigen, Zwang und Gewalt offenbarenden, aber nur negativ formulierbaren Utopie macht; andererseits drängt sie sich aber auch innerhalb unserer Menschheits- und Erdgeschichte mittels ganz bestimmter Notwendigkeiten und Sanktionen auf.“587 Die Unterscheidung der Geister und eine das Leben empfangende Doxologie sind dabei eng miteinander verbunden.588 Was ist wirklich lebensspendend und konzentriert sich nicht nur auf Bios und Biologie, sondern auf Zoe, also auf ein erfülltes und tragfähiges, auf ewiges Leben? Im Glaubensbekenntnis wird im pneumatologischen Abschnitt auf diese qualitative Dimension des Lebens verwiesen.589 Spielt sie heute eine dogmenhermeneutisch relevante Rolle? Die lebensdienliche – soteriologische – Wahrheit der Hl. Schrift ist ein „offenes Beziehungsgeschehen“, das sich von Generation zu Generation je neu aktualisiert.590 Diese Dynamik erfordert eine Dezentrierung der Kirche in ihre jeweiligen Kontexte hinein.591 In diesem Sinne spricht Papst Franziskus bewusst von einer „heilsamen Dezentralisierung“.592 Sie verbietet zentralistische Planspiele, die ortskirchliche Entwicklungen oder Impulse einfach ignorieren. Denn schon für die „Ekklesiogenesis“ 585 586 587 588 589 590 591 592

Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 258 –262. Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 268. Theobald, Christentum als Stil, 268. Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 269. Vgl. DH 150: t| pneþma … zwopoi{n. Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 270. Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 278. Vgl. EG, Nr. 16; 32.

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gab es drei Hilfen: Schrift (Apg 1,20), Lebensstil Jesu (Apg 3,1–10) und die dÅnamij des Heiligen Geistes (Apg 1,8) – „Nichts ist Programm im Voraus.“593 Die fragile Spannung zwischen dem Glauben der Einzelnen und der Gemeinschaft wird durch Dialog zusammengehalten.594 Dieser ist offen für die Eigendynamik des Geistes Gottes, den es inmitten alter und neuer Zeitgeister als lebensdienlich zu unterscheiden gilt. Eine solche Unterscheidung betrifft auch die Frage, ob die konkrete Ausgestaltung kirchlicher Lehre oder Praxis mit dem christlichen Glauben in seiner konkreten Erfahrungswelt in Einklang zu bringen ist, oder ob vielleicht Unwesentliches das Wesentliche zu überlagern droht.595 Dass der sensus fidelium dabei „nicht nur reaktiv, sondern proaktiv und interaktiv“ zu verstehen ist und „nicht nur retrospektiv, sondern auch prospektiv“ zum Tragen kommt, wird auch von der Internationalen Theologischen Kommission explizit hervorgehoben.596 Daher spielen auch alle Gläubigen, die aktiv am kirchlichen Leben partizipieren und mit der Kirche fühlen (und leiden), eine „aktive Rolle in der Entwicklung des christlichen Glaubens“ und insofern auch bei der Entwicklung der kirchlichen Lehre.597 Dieser Aspekt ist für Papst Franziskus zentral.598 Um das Glaubensgespür der Gläubigen in ihrer Lebenssituation aber überhaupt wahrnehmen zu können, ist die Haltung einer aufeinander hörenden und voneinander lernenden Kirche unentbehrlich. Das kirchliche Lehramt hat in seiner Verantwortung für die lebendige Überlieferung des Glaubens dafür zu sorgen, dass diese Kommunikationsprozesse in einer Atmosphäre der freien Meinungsäußerung und des gegenseitigen Wohlwollens einen tragfähigen Konsens der Kirche suchen, der mehr ist als nur die aktuelle Mehrheitsmeinung oder ein öffentliches Stimmungsbild. Es handelt sich stattdessen, wie auch Papst Franziskus betont, um einen geistlichen Prozess. Dabei müssen die Gläubigen in ihrer Rezeption von Schrift und Tradition, in Begleitung durch die Theologie und andere Wissenschaften und unter Respekt – nicht blindem Gehorsam – gegenüber dem kirchlichen Lehramt zu Wort kommen. Eine „Konsultation der Gläubigen“599 ist dabei nicht nur optional oder begleitend zu verstehen. 593 594 595 596 597 598 599

Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 297. Vgl. AG 11, wo es um colloquium, conversatio, dialogus geht. Vgl. Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 60 – 65. Internationale Theologische Kommission, Sensus, Nr. 70. Vgl. Internationale Theologische Kommission, Sensus, Nr. 72. Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 119 f. Vgl. Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 120 –126.

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Sie ist dogmatisch essentiell für die authentische Erhebung des kirchlichen Glaubens, der sich anhand der Schrift und der sie rezipierenden Tradition unter der Anleitung des kirchlichen Lehramtes seiner selbst vergewissert, um sich in neuen Kontexten inkulturieren und aktualisieren zu können. Dabei gilt der alte Grundsatz: Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet.600

3.4. Synodalität als gemeinsame Suche nach Einheit und Konsens Die durch Papst Franziskus neu belebte Diskussion um das synodale Wesen der Kirche601 ist nicht einfach nur eine theologische Option, sondern eine dogmengeschichtliche Realität, die auch für die Entwicklung und Überlieferung des kirchlichen Glaubens von zentraler Bedeutung ist. „Die geschichtliche Wirklichkeit ist denn auch viel mannigfaltiger, als die eindeutigen Bezeichnungen und Begriffsbestimmungen des kirchlichen Gesetzbuches ahnen lassen.“602 Die Wurzeln der Synodalität und Konzilspraxis reichen dabei zurück bis in den Ursprung der Kirche – und weit darüber hinaus. So gab es traditionell den vielfältigen Versuch, die Konzilsinstitution vom Alten Testament (Dtn 17,8 –13) her zu begründen und mit Apg 15 zusammenzulesen.603 Durch die historisch-kritische Exegese kommt es nach Ansicht von Hermann Josef Sieben seit der 600 Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 122. Vgl. Becker, Mündliche und schriftliche Autorität, 5: Es gab „neben den Gottesdiensten von Anfang an in den Gemeinden die Institution einer ‚Vollversammlung‘, die ad hoc einberufen wurde, um Gemeindeprobleme aller Art zu erörtern und einer Lösung zuzuführen“. 601 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche (VAS 215), hg. v. Sekretariat der DBK, Bonn 2018; Graulich, M./Rahner, J. (Hg.), Synodalität in der katholischen Kirche. Die Studie der Internationalen Theologischen Kommission im Diskurs (QD 311), Freiburg i. Br. 2020; Andraos, M./ Courau, T.-M./Mendoza-Álvarez, C. (Hg.), Formen der Synodalität = Concilium 57 (2/2021); Schmiedl, J., Synodalität als Stil katholischer Ekklesiologie, in: ET Studies 11 (2/2020), 309 –317; Hilberath, B. J., Synodalität – Eine nicht selbstverständliche Selbstverständlichkeit, in: Una Sancta 75 (2/2020), 82– 93; Striet, M., Macht und Synodalität. Überlegungen zu einer Kirche der Zukunft, in: Lebendige Seelsorge 71 (2/2020), 110 –113; Siebenrock, R. A., „Ich bin bei Euch alle Tage bis zum Ende der Welt“: Entwurf einer Theologie der Synodalität der Kirche und des ganzen Volkes Gottes in sechs Thesen, in: das prisma 31 (1/2020), 28 –36; Osheim, A. C., Stepping toward a Synodal Church, in: Theological Studies 80 (2/2019), 370 –392. 602 Jedin, H., Kleine Konziliengeschichte, Freiburg i. Br. 81978, 11. 603 Vgl. Sieben, H. J., Dtn 17,8 –13 als Beitrag des Alten Testamentes zur Theologie des Konzils, in: Sieben, H. J., Studien zur Gestalt und Überlieferung der Konzilien, Pa-

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Zeit der Aufklärung aber allmählich zu einer „Abkoppelung der kirchlichen Konzilsidee von Dtn 17,8 –13“, wobei dadurch aber auch etwas Wichtiges verloren gegangen sei, „nämlich die Erinnerung, woher diese Idee letztlich stammt. Verloren ging die memoria. Wir haben vergessen, dass die Konzilsidee ihre Wurzel hier in Jerusalem hat.“604 Die Notwendigkeit der Interpretation und letztverbindlichen Entscheidung angesichts der göttlichen Weisung ist bereits für die christliche Urgemeinde belegt.605 Das kirchliche Konzilsprinzip lässt sich damit nicht unmittelbar begründen. Die Synoden und Konzilien sind mit ihren unterschiedlichen Ausgestaltungen und Geschäftsordnungen jedoch auch untereinander nur bedingt vergleichbar. Trotz aller Unterschiede gibt es aber eine gemeinsame Intention, die hinter einem solchen Prinzip steht. „Bei allem äußeren Wandel über die Jahrhunderte bleibt doch andererseits ein gleiches Wesen erkennbar. Es geht bei den Konzilien letztlich immer um die Erstellung und Feststellung eines Konsenses, sei es über Fragen der Kirchendisziplin, sei es über solche des Glaubens.“606 Dieses convenire et consentire geschieht „auf der Basis von Vorgegebenem, entweder Texten der Heiligen Schrift oder Traditionen der Kirche, die ihrerseits einen Konsens darstellen, so dass man einen horizontalen von einem vertikalen Konsens unterscheiden kann.“607 Die Aufgabe der dazu versammelten Bischöfe besteht in der Repräsentation ihrer Ortskirchen.608 Sie darf nicht im Sinne juristischer Stellvertretung als Delegation verstanden werden, sondern als geistliche Vertretung der congregatio fidelium. Zwischen dem repräsentierenden Konzil und der repräsentierten Kirche besteht allerdings auch „keine totale Identität“.609 Die Frage nach der aktiven Beteiligung und Einbindung des gesamten Gottesvolkes (der „Laien“) stellt darum bis heute eine Herausforderung für synodale und konziliare Prozesse dar. Das gilt auch für die Frage nach der tatsächlichen Repräsentanz der Gläubigen und ihres Glaubens

derborn 2005, 177–186. Im Titel des Artikels hat sich ein Tippfehler eingeschlichen („Dtn 7,8 –13“), der hier im Sinne des Autors korrigiert wird. 604 Sieben, Dtn 17,8 –13 als Beitrag, 186. 605 Vgl. Söding, T., Beraten und entscheiden. Synodale Prozesse im Fokus des Urchristentums, in: Graulich/Rahner (Hg.), Synodalität, 42– 94. 606 Sieben, H. J., Historische Dimensionen der Konzilsidee, in: Ders., Studien zur Gestalt, 15 –34, 16. 607 Sieben, Historische Dimensionen, 16. 608 Vgl. Sieben, Historische Dimensionen, 23 –26. 609 Sieben, Historische Dimensionen, 24

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durch den jeweiligen Bischof, der auch seiner Gemeinde verpflichtet und Rechenschaft schuldig ist. „Die einzelnen Bischöfe repräsentieren zunächst die einzelne Diözese, dann erst repräsentiert das collegium die ganze Kirche. Die Kirche ist auf dem Konzil in dem Maße repräsentiert, als die einzelnen Gläubigen durch ihre jeweiligen Bischöfe vertreten sind.“610 Darum herrschte stets ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass synodale bzw. konziliare Prozesse regelmäßig stattfinden müssten, da sie konstitutiv zum Leben der Kirche gehören – eine Forderung, die zwar immer wieder eingeschärft, aber mit zunehmender Hierarchisierung und Zentralisierung immer mehr ignoriert wurde.611 Die großen Synoden und Konzilien markieren Etappen eines notwendigen Übersetzungs- und Interpretationsprozesses der christlichen Glaubenstradition.612 Immerhin hielt „die Mehrzahl nicht nur der altkirchlichen, sondern auch der mittelalterlichen Theologen“ die Konzilien und ihre Entscheidungen für inspiriert – jedenfalls den befriedenden und versöhnenden Konsens, der als geistgewirkt gilt.613 Ähnlich wie bei der Hl. Schrift lässt sich auch hier eine göttliche und menschliche Dimension der Konzilien unterscheiden. Das Pneuma kann inmitten – und trotz – menschlicher Rechtsordnungen, politischer Machtspiele oder sündhafter Strukturen zur Geltung kommen, insofern die Kirchenversammlungen festgefahrene Konflikte überwinden, sich in respektvollem Dialog auf den Ursprung und das Ziels ihres gemeinsamen Glaubens verständigen und diesen angesichts der Zeichen der Zeit neu artikulieren. Die Pneumatologie bildet hierfür die dynamische Grundlage. Denn durch ihre vielfältigen Charismen ist die wesentlich synodal verfasste Kirche – analog zur Hl. Schrift und ihrer Pluralität – ein „offenes System“, dessen sich Gott bedient, um seinem Wort je neu Geltung zu verschaffen.614 Die Wirkung (Geltung) von Synoden und Konzilien war darum langfristig immer abhängig von ihrer Rezeption durch die Gesamtkirche.615 Die Synoden bzw. Konzilsversammlungen sind, nach Auffassung von 610

Sieben, Historische Dimensionen, 24 f. Vgl. Sieben, Historische Dimensionen, 29 f. 612 Vgl. Wohlmuth, J. (Hg.), COD, Bd. 1, IX. 613 Vgl. Sieben, Historische Dimensionen, 31 f. 614 Vgl. Rahner, K., Bemerkungen über das Charismatische in der Kirche, in: Ders., Schriften zur Theologie IX, Einsiedeln u. a. 21972, 415 – 431, 422; 428 f. 615 Vgl. Grieser, H., Hören auf das Gottesvolk? Bemerkungen aus kirchengeschichtlicher Perspektive zu einer Herausforderung seit frühchristlicher Zeit, in: Söding (Hg.), Der Spürsinn, 159 –189, bes. 176 –182. 611

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Giuseppe Alberigo, gerade auch mit ihren jeweiligen Vorbereitungs- und Rezeptionsphasen „eine der interessantesten und bedeutendsten Manifestationen jener Dynamik, die sich durch die Gemeinschaft unter den einzelnen Kirchen entfaltete – eine Gemeinschaft, die das Christentum der ersten Jahrhunderte kennzeichnete und es auch späterhin beständig belebt hat.“616 Während die frühen ökumenischen Konzilien des griechischen Ostens sich durch eine lebendige Verzahnung von Glauben und Glaubensleben auszeichneten, sind die lateinisch geprägten Kirchenversammlungen seit dem Mittelalter geprägt durch „die abstrakte Annahme einer als doctrina und veritas verstandenen fides, die begrifflich verfasst und definiert ist. […] Das kanonische Recht erlangt eine zentrale Stellung für die Kirche, wie sie so im ersten Jahrtausend noch unbekannt war.“617 Das Konzil von Trient führt als Kriterium für seine Arbeit zum ersten Mal eine formale Unterscheidung von „Fragen des Glaubens“ und „Reformproblemen“ ein.618 Dass die missbräuchliche Praxis in der Kirche aber auch erhebliche Relevanz für Glaubensfragen hat und umgekehrt sogar in einer problematischen Theologie mit ihren unreflektierten Prämissen und fragwürdigen Rezeptionenmustern wurzeln könnte, wurde bis zur aktuellen Aufarbeitung von Missbrauchsfällen oft verdrängt.619 Gerade um die Aufarbeitung dieses Zusammenhangs bemüht sich der sogenannte Synodale Weg in Deutschland.620 Die Wechselwir616 Alberigo, G., Die ökumenischen Konzilien in der Geschichte, in: Ders. (Hg.), Geschichte der Konzilien. Vom Nicaenum bis zum Vaticanum II, Wiesbaden 1998, 13 –19, 13. 617 Alberigo, Die ökumenischen Konzilien, 14. Das betrifft auch die Zusammensetzung der Versammlungen. 618 Vgl. Alberigo, Die ökumenischen Konzilien, 15. 619 Vgl. Remenyi, M./Schärtl, T. (Hg,), Nicht ausweichen. Theologie angesichts der Missbrauchskrise, Regensburg 2019; Hilpert, K./Leimgruber, S./Sautermeister, J./Werner, G. (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Raum von Kirche. Analysen – Bilanzierungen – Perspektiven (QD 309), Freiburg i. Br. 2020; Haslbeck, B./ Heyder, R./Leimgruber, U./Sandherr-Klemp, D. (Hg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020; Prüller-Jagenteufel, G./Treitler, W. (Hg.), Verbrechen und Verantwortung. Sexueller Missbrauch von Minderjährigen in kirchlichen Einrichtungen, Freiburg i. Br. 2021; Reisinger, D. (Hg.), Gefährliche Theologien. Wenn theologische Ansätze Machtmissbrauch legitimieren, Regensburg 2021. 620 https://www.synodalerweg.de/. Vgl. Karger, M., Bewährungsprobe Synodalität. Ein gemeinsames Ringen um die Zukunftsgestalt der Kirche, in: ThG 64 (1/2021), 2–12; Söding, T., Umkehr und Erneuerung. Der Synodale Weg im Kontext der Weltkirche, in: ThG 64 (1/2021), 13 –23; Knop, J./Kirschner, M., Der synodale Weg der Kirche in Deutschland und seine weltkirchliche Bedeutung, in: Concilium 57 (2/2021),

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kung von „fides et mores“ ist letztlich eben doch inniger, als es eine formale Differenzierung vermuten lässt. Eine synodal verfasste Kirche zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie das Subjektsein aller Glaubenden und ihre Gleichheit aus der Taufe heraus anerkennt, ihren sensus fidelium im Prozess kirchlicher Tradition und Entscheidungsfindung sensibel berücksichtigt und dabei die Stimmen der Ortskirchen in ihrer interkulturellen Pluralität universalkirchlich integriert.621 Die Synodalität ist insofern der „modus vivendi et operandi der Kirche als Gottesvolk“.622 Der argentinische Theologie Carlos María Galli beschreibt Synodalität als „Ethos des gesamten Gottesvolkes“ und als Realisierung der kirchlich und kulturell polyzentrischen Communio.623 Synodalität lasse sich im Sinne des II. Vatikanischen Konzils vom pilgernden Gottesvolk her verstehen.624 Das Leben und der Glaube der Kirche orientieren sich dabei nicht nur am Vorbild Jesu und seiner dynamischen Existenz, sondern an jener dynamischen Hermeneutik, die sich aus der Herkunft vom Gottesvolk Israel ergibt. Wie Israel ist die Kirche gleichsam Migrantin auf ihrem Weg durch die Zeiten und Kulturen, sie ist geprägt durch die „kontinuierliche Herausforderung, in der Dynamik des Wandels zu Hause zu sein.“625 Die plurale und diskursive Dynamik des biblischen Kanons hat hierfür wiederum Vorbildcharakter.

138 –148; Hoff, G. M., Performative Macht. Zur ekklesiologischen Bedeutung des Synodalen Wegs, in: ThGl 111 (2/2021), 125 –136. 621 Vgl. Kehl, M., Synode, Synoden, Synodalität, in: LThK3 9, 1187–1188; Rahner, J., Synode/Synodalität, in: NLKD, 618 – 620; Coda, P., Erneuerung des synodalen Bewusstseins im Volk Gottes, in: ThQ 192 (2/2012), 103 –120. 622 Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität, Nr. 6; 43; 70. 623 Vgl. Galli, C. M., Synodalität in der Kirche Lateinamerikas, in: ThQ 196 (1/2016), 73 – 96, 75. Schon die Etymologie vereine in sich zwei Dimensionen: „Das Verb sunodeÅw bedeutet ‚mitgehen‘ oder ‚begleiten‘; zugrunde liegt: é }d{j, der Weg. Ein anderes Wort – } ~d{j – bezeichnet die Türschwelle. SÅnodoj meint dann, gemeinsam dieselbe Schwelle zu überschreiten, eine Versammlung bilden. So verbinden sich zwei Bedeutungen, zwei Wörter, geschrieben in der gleichen Weise, differenziert nur durch das Geschlecht: vereint des Weges gehen und in einer Versammlung vereint sein.“ 624 Vgl. Galli, Synodalität, 78. 625 Vgl. Markl, D., Die Kirche als Migrantin. Zu den biblischen Ursprüngen des sich wandelnden Gottesvolkes, in: Kopp, S. (Hg.), Kirche im Wandel. Ekklesiale Identität und Reform (QD 306), Freiburg i. Br. 2020, 83 – 99, 91; 98. Die Dynamik des Wandels ist begründet durch das Lernen aus Erfahrung und wird durch die Bibel selbst dokumentiert und gefordert, insofern sie von Lernerfahrungen lebt und zeugt.

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„Schrifthermeneutisch ließe sich durchaus von der Synodalität der Bibel sprechen, insofern der Kanon den Raum bietet, in dem unterschiedliche Positionen gehört, berücksichtigt, integriert und miteinander ins Gespräch gebracht werden. Das Ergebnis ist keine Eindeutigkeit, sondern eine produktive Dynamik, die bei aller Diversität dennoch identitätsstiftend ist“.626

Die Kirche muss dieser produktiven Dynamik, in der sie selbst gründet, auf ihrer Suche nach neuen Wegen zu Gott Rechnung tragen627 und sich bewusst sein, dass Teile ihrer Pilgergruppe auch Irrwege beschritten haben oder aus Starrsinn schlichtweg zurückgeblieben sind. Synodalität bedeutet in ihrer theofinalen Ausrichtung letztlich „die Form, in der die Gläubigen und die Kirchen gemeinsam unterwegs sind.“628 Es handelt sich um ein Zueinanderfinden und gemeinsames Pilgern des Gottesvolkes in seiner Gesamtheit und all seiner kulturellen Vielfalt – eine Feststellung, die aus lateinamerikanischer Perspektive deutlich hervorgehoben wird.629 Schon Paul VI. sprach von einer „Berufung“ Lateinamerikas, „in einer neuen und genialen Synthese das Alte mit dem Modernen, das Geistige mit dem Zeitlichen, das, was andere uns überlieferten, und unsere eigene Originalität miteinander“ zu verbinden.630 In der synodalen Weggemeinschaft findet schließlich die hier beschriebene Hermeneutik, die Alt und Neu dynamisch miteinander verbindet, ihre lebendige Verwirklichung, die sich allmählich ihren Weg zurück in die Weltkirche bahnt, wenn diese sich insgesamt auf neue synodale Prozesse einlässt. Dabei ist Synodalität eine „gemeinschaftsbezogene, strukturelle und dynamische Äußerung der Kirche als Sakrament der Gemeinschaft“, die sich austauscht und deren Glaubenssinn auf dieser Basis zu unterscheiden hilft, was wirklich von Gott kommt.631 In ihrer 626 Vgl. Pyschny, K., Versammlung, Beratung und Entscheidung im Volk Gottes. Alttestamentliche Perspektiven, in: Graulich/Rahner (Hg.), Synodalität, 13 – 41, 41. Dabei gilt biblisch die „Normativität des Diskurses“. 627 Vgl. Weißer, M., Exodus statt Exitus. Dynamik einer lebendigen Kirche, Regensburg 2015 (https://www.feinschwarz.net/exodus-statt-exitus/). 628 Galli, Synodalität, 79. Vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität, Nr. 42; Hünermann, P., Synodalität: Philosophische Überlegungen zum „Weg“ der Kirche in der Zeit, in: ThQ 192 (2/2012), 149 –168. 629 Vgl. Galli, Synodalität, 80 f. 630 Papst Paul VI., Omelia. Sacra ordinazione di settanta sacerdoti, 3.7.1966 (https:// www.vatican.va/content/paul-vi/it/homilies/1966/documents/hf_p-vi_hom_19660703. html), hier auf deutsch zitiert nach Carlos M. Galli. 631 Vgl. Galli, Synodalität, 86 f. „Der Heilige Geist ist die Quelle der synodalen Gemeinschaft, die Kirche lebt die koinwnËa toþ pneÅmatoj (2 Kor 13,13). Das Konzil bezeugt die Communio des Geistes in der Würde der Glieder des Gottesvolkes (LG 9); im gemein-

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Synodalität verbindet die Kirche Partizipation und Autorität.632 Die Aneignung und Auslegung des Wortes Gottes, das nur in der Polyphonie und Polysemie menschlicher Erzählungen überlieferbar ist, kann nur im lebendigen Dialog, im Austausch mit dem und der Anderen und ihrer lebendigen Glaubenserfahrung erfolgen. Das entspricht auch der Hermeneutik Jesu, wie sie im NT dargestellt wird. Er generiert eine Weggemeinschaft. Für Galli ist bei diesen synodalen Unterscheidungsprozessen, wie sie z. B. in Aparecida633 stattfanden, der „dialogische Prozess“ letztlich „ein Zeichen unseres Glaubens an Gott, den Logos und Dia-Logos.“634

samen Priestertum der Getauften, zu Heiligkeit und Mission Berufenen (LG 10 –12); in der Lehre vom sensus fidelium, der das theologale Subjektsein der männlichen und weiblichen Laien fundiert (LG 12a); durch die Akzentuierung der Charismen (LG 12b); in der Gleichheit der Christgläubigen im Leib Christi (LG 32); durch das erneuerte Verständnis der liturgischen Versammlung (SC 11); durch die Wertschätzung der lokalen Kirchen in der apostolischen Gemeinschaft (LG 26). ‚Volk Gottes‘, das meint die Anerkennung des Subjektcharakters, den die kirchliche Kommunität und ihre Glieder haben. Dies schließt die kirchliche Kommunialität, die Gemeinschaft zwischen den Glaubenden (communio fidelium) ein. Die kommuniale Synodalität ist ein strukturierendes Prinzip der communio personarum und der communio ecclesiarum.“ Letztere dürfe nicht einfach mit der kollegialen Aktivität der Bischöfe identifiziert werden, die eine operative Dimension darstelle. Synodalität ist deutlich umfassender als die Kollegialität der Bischöfe (vgl. 88 f.). Zur Differenzierung vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität, Nr. 66; Seewald, M., Bischöfliche Kollegialität ex parte in einer synodalen Kirche. Zur dogmatischen Bedeutung der Bischofskonferenz, in: Schüller, T./Seewald, M. (Hg.), Die Lehrkompetenz der Bischofskonferenz. Dogmatische und kirchenrechtliche Perspektiven, Regensburg 2020, 57–79, 77 f. 632 Vgl. Galli, Synodalität, 89. „Während die Mitverantwortung Ausdruck einer Kirche von Subjekten ist, manifestiert die Synodalität eine Kirche als Subjekt. Die Synodalität ist die Form, die Verbindung zwischen Autorität und Partizipation in der Kirche zu leben.“ So werde die hierarchische Struktur der Kirche mit den Möglichkeiten echter Partizipation verbunden. 633 Vgl. CELAM, Aparecida 2007. Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik (Stimmen der Weltkirche 41), hg. v. Sekretariat der DBK, Bonn 2007. Ziel der Versammlung war, missionarisch und soteriologisch motiviert „den Weg der Erneuerung“ des II. Vaticanums fortzusetzen, verbunden mit einer „pastoralen Umkehr“ (Nr. 365). Dafür müsse man „die morsch gewordenen Strukturen, die der Weitergabe des Glaubens nicht mehr dienen, aufgeben.“ Aparecida bildet auch die Grundlage der Theologie von Papst Franziskus. Vgl. Galli, C. M., Die Ekklesiologie von Papst Franziskus: Die Gestalt des Volkes Gottes in missionarischer Konversion, in: Appel, K./Deibl, J. (Hg.), Barmherzigkeit und zärtliche Liebe. Das theologische Programm von Papst Franziskus, Freiburg i. Br. 2016, 39 –56. 634 Galli, Synodalität, 92.

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Auch Papst Franziskus räumt dem Prinzip der Synodalität darum größte Bedeutung ein.635 Er beschreibt seine eigenen Erfahrungen von Synodalität anlässlich des Abschlusses der III. Generalversammlung der außerordentlichen Bischofssynode von 2014 als gemeinsamen Weg, der von offenem und ehrlichem Dialog geprägt sein soll. Dabei gab es für ihn „wie bei allen Wegen Momente von großer Geschwindigkeit, als ob man gleichsam die Zeit besiegen wollte und mit größter Geschwindigkeit zum Ziel kommen wollte. Es gab andere Momente der Müdigkeit, als ob man sagen wollte, dass es jetzt reicht; es gab wiederum andere Momente des Enthusiasmus und des Fleißes. Es gab Momente des Trostes, beim Hören auf die Zeugnisse wahrer Hirten (Joh 10), die in ihren Herzen weise die Freuden und die Tränen ihrer Gläubigen tragen. Es gab Momente der Gnade und des Trostes beim Hören auf die Zeugnisse der Familien, die an der Synode teilgenommen haben und mit uns die Schönheit und die Freude ihres Lebens als Eheleute geteilt haben. Ein Weg, bei dem der Stärkste sich verpflichtet fühlte, dem Schwächsten zu helfen, wo der beste Experte den anderen gedient hat, auch in der Auseinandersetzung. Und weil es ein Weg von Menschen war gab es auch Momente der Trostlosigkeit [desolazione], der Spannung und der Versuchung“.636

Unter den vielen Versuchungen einer solchen Synodalität benennt der Papst an erster Stelle die „Versuchung der feindlichen Erstarrung“ als „Wunsch, sich im Geschriebenen einzuschließen und sich nicht von Gott überraschen lassen wollen, vom Gott der Überraschungen, dem Geist. Im Gesetz einschließen, in der Sicherheit dessen, was wir wissen und nicht dessen, was wir noch lernen und erreichen müssen. Das ist die Versuchung der Eifrigen, der Skrupulösen, der sogenannten ‚Traditionalisten‘ und auch der Intellektualisten.“637 Die durchaus emotionalen Diskussionen versteht der Papst im ignatianischen Sinne als „Bewegungen des Geistes“, die er auch mit den verschiedenen Charismen innerhalb der Gemeinschaft und ihrem sensus fidei in Verbindung bringt. Dabei gilt ihm der Heilige Geist als Förderer und Garant der Einheit und Har635 Vgl. Papst Franziskus, Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode vom 17.10.2015 (https://www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2015/ october/documents/papa-francesco_20151017_50 -anniversario-sinodo.html): „Genau dieser Weg der Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet.“ 636 Papst Franziskus, Ansprache zum Abschluss der III. Generalversammlung der außerordentlichen Bischofssynode am 18.10.2014 (online: https://www.vatican.va/content/ francesco/de/speeches/2014/october/documents/papa-francesco_20141018_conclusionesinodo-dei-vescovi.html). 637 Ebd.

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monie. Ihm verdankt es die Kirche, dass sie trotz aller Spannungen und Unterschiede, trotz der Missbräuche und Machtspiele immer wieder eine Einheit des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe bilden und je neu finden kann.638 Die Anwesenheit des Papstes garantiere Ruhe, inneren Frieden der Beteiligten und die Einheit der Kirche; sie gewährleistet also das offene Wort, die Freimütigkeit und das Zuhören.639 Die Autorität bzw. Autorisierung kirchlicher Amtsträger bestimmt Franziskus mit Benedikt XVI. als pastoralen Dienst, der die kirchliche „Vollmacht“ nun endlich auch inhaltlich qualifiziert und neu ausrichtet: Sie dient der Vermittlung einer eigenen Gottesbeziehung, der Entfaltung der je persönlichen Berufung, der tätigen Nächstenliebe und der Freiheit im Geiste der Gemeinschaft (vgl. PO 6); sie dient der Sendung der Kirche in ihrer soteriologischen Mission als Zeichen und Werkzeug des Heils (vgl. LG 1). Darum darf der Dienst der Amtsträger auch „nicht gegen die Berufung aller Gläubigen zum Leben in der Nachfolge Jesu Christi“ ausgespielt werden, denn schon nach neutestamentlichem Vorbild ist es „die Berufung der Ordinierten selbst, alle Glieder des Volkes Gottes an allen Beratungen und Entscheidungen genuin beteiligt zu sehen.“640 Wird diese amtliche Bevollmächtigung ordinierter Amtsträger systematisch verengt und vom Dienst am Wort und an der Einheit ebenso wie vom Hirtenamt losgelöst, so degeneriert sie zu einem elitären Attribut, das die ordinierte Person641 vermeintlich ontologisch verwandle und in ihrer Autorisierung nahtlos mit Christus identifiziert – eine Wurzel des Klerikalismus642 und eine Auffassung, die das II. Vaticanum ablehnte, die jedoch jüngst von Kardinal Sarah wieder neu verbreitet wurde643 und theologisch zutiefst problematisch ist.644 Hier wird der Dienstcha638 Vgl. ebd.: „Der Heilige Geist hat in der Geschichte immer das Schiff durch seine Diener geführt, auch wenn das Meer aufgewühlt war und die Diener ungläubig und sündig.“ 639 Damit übernimmt der Papst letztlich auch die frühere Rolle des Kaisers, der Konzilien einberief und für ihren geregelten, sicheren Ablauf zu sorgen hatte. 640 Vgl. Söding, Beraten und entscheiden, 93. 641 Gaillardetz, R., Die synodale Gestalt des Dienstes und der Ordnung der Kirche, in: Concilium 57 (2/2021), 202–211, will die „reduktive und verzerrte Theologie der Ordination“ (205) wieder neu an das Prinzip der Synodalität rückgebunden wissen. 642 Vgl. Kap. III.2.4.; Papst Franziskus, Schreiben an das Volk Gottes vom 20.08.2018. 643 Vgl. Legrand, H., Synodalität als Praxis. Ein Plädoyer für Lernprozesse, in: Concilium 57 (2/2021), 221–231, 225; 230, Anm. 26. 644 Zur Problematik vgl. Dirscherl, E., Christus als Täter? Die Verantwortung des Menschen als Bild Gottes und die Notwendigkeit der bleibenden Differenz in der sa-

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rakter des Amtes in seiner charismatischen Funktion für das synodale Miteinander der Gemeinschaft zugunsten einer personenbezogenen Sakralisierung nach monophysitischem Muster instrumentalisiert. Denn wer mit Christus oder gar mit Gott identisch ist, kann ja nur göttlich reden und lehren, er muss nichts durch Dialog oder gar Kritik lernen. So fand sich im Catechismus Romanus die blasphemische Aussage, dass Priester „mit Recht nicht nur Engel, sondern auch Götter genannt werden“.645 Von der Sendung durch Christus und seiner Beauftragung zur Verkündigung und zum Hirtendienst hin zu derartiger Selbstvergötzung liegt ein langer geschichtlicher Weg, der nicht selten von Amtsmissbrauch – und Missbräuchen aller Art – geprägt ist. Demgegenüber betont Papst Franziskus den Primat des lernfähigen Zuhörens – ein Hören auf das Wort Gottes und aufeinander; auch ein Hören auf berechtigte Kritik. Diese Haltung wurde 2018 im Rahmen der Jugendsynode im Vatikan explizit eingefordert.646 Sie gehört zum Wesen einer Kirche, für die Synodalität konstitutiv ist, da „Kirche und Synode Synonyme“ sind.647 „Eine synodale Kirche ist eine Kirche des Zuhörens, in dem Bewusstsein, dass das Zuhören ‚mehr ist als Hören‘. Es ist ein wechselseitiges Anhören, bei dem jeder etwas zu lernen hat: das gläubige Volk, das Bischofskollegium, der Bischof von Rom – jeder im Hinhören auf die anderen und alle im Hinhören auf den Heiligen Geist, den ‚Geist der Wahrheit‘ (Joh 14,17), um zu erkennen, was er ‚den Kirchen sagt‘ (vgl. Offb 2,7).“648

Dabei verweist der Papst immer wieder auf den subsidiären Aufbau der Kirche, der auch eine „heilsame Dezentralisierung“649 und die Stärkung

kramentalen Repräsentation Christi als Grunddaten der Amtstheologie, in: Remenyi/ Schärtl (Hg.), Nicht ausweichen, 259 –276. 645 Vgl. Catechismus ex decreto Concilii Tridentini ad Parochos Pii Quinti Pont. Max. iussu editus, Lipsiae 41853, Pars II, caput VII, q. II.: „quare merito non solum angeli, sed dii etiam […] appellantur.“ 646 Vgl. Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit an die jungen Menschen und an das ganze Volk Gottes (VAS 218), hg. v. Sekretariat der DBK, Bonn 2019, Nr. 38 – 42; 65. 647 Vgl. Franziskus, Ansprache zur 50 -Jahr-Feier, mit Bezug auf Johannes Chrysostomos. 648 Franziskus, Ansprache zur 50 -Jahr-Feier. Vgl. EG, Nr. 171; Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 126: „Demütiges Zuhören auf allen Ebenen und angemessene Konsultation der Betroffenen sind integrale Aspekte einer lebenden und lebendigen Kirche.“ 649 Vgl. EG, Nr. 16; 32.

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ortskirchlicher Entscheidungsstrukturen erfordert. Aus dem Zuhören müssen dann aber Konsequenzen für eine (selbst)kritische Relecture der Schrift, für das Lehren und Handeln der Kirche folgen. Denn wenn auf das Hören keine verständige Antwort erfolgt, läuft jeder Dialog ins Leere und muss zwangsläufig frustrieren. Echter Dialog, der das Wesen der Kirche prägt, lebt, wie Wolfgang Beinert in Erinnerung ruft, von bestimmten Voraussetzungen. Dazu gehört die „Symmetrie (Gleichberechtigung der Partner), Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik, Bereitschaft zur Korrektur der eigenen Meinung, Leidenschaft für die Wahrheit.“650 In dieser Hinsicht ist die ekklesiologische Metanoia und strukturelle Gestalt(ung) der Kirche, die das II. Vaticanum651 intendierte, bis heute nicht wirklich konsequent umgesetzt.652 „In diesem Zusammenhang ist das Verhältnis zwischen Theologie und Recht ein wichtiger Aspekt – insbesondere angesichts der vielfachen Unzulänglichkeiten des Codex von 1983 gemessen an seiner Hauptintention, nämlich eine Übersetzung der Lehren des Konzils über die Kirche in die Rechtsprechung darzustellen.“653 Für Carlos Schickendantz besteht ein enger Zusammenhang zwischen einer reaktionären Ekklesiologie und deren Zementierung durch das Kirchenrecht. „Von einer bestimmten ekklesiologischen Grundhaltung geprägt, legt das geltende Kirchenrecht eine skrupulöse Vorsicht an den Tag, um die bischöfliche Autorität nur ja nicht an Entscheidungsprozesse und einen Konsens zu binden.“654 Gerade darin offenbart sich jedoch ein systemisches Problem: „Es gibt kein geeignetes System der Rechenschaftspflicht.“655 650

Beinert, W., Dialog, in: NLKD, 123 –125. Vgl. Alberigo, G., Synodalität in der Kirche nach dem Zweiten Vatikanum, in: Geerlings/Seckler (Hg.), Kirche sein, 333 –347, 334 f. „Die Vorstellung von der Kirche ist nun geprägt von einem Gleichgewicht zwischen Kontinuität und Wandel, zwischen Verbindung und Kommunikation auf der einen und Respektierung des Polyzentrismus und der Vielfalt auf der anderen Seite.“ Das „innovative Potential der Synodalität“ verleite aber „die zentralen Strukturen dazu, deren Dynamik zu kontrollieren und zu reduzieren, wie es schon in der Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils geschehen war“ (346). 652 Vgl. Hinze, B., Synodality in the Catholic Church, in: ThQ 192 (2/2012), 121–130. 653 Schickendantz, C., Eine noch ausstehende „kopernikanische Wende“. Ekklesiologische Reflexionen zwischen Theologie und Recht, in: Concilium 57 (2/2021), 212–220, 213. 654 Schickendantz, Eine noch ausstehende „kopernikanische Wende“, 215. Vgl. Borras, A., Die formelle Synodalität in actu. Jenseits der Kluft zwischen beratend und entscheidend, in: Concilium 57 (2/2021), 184 –192, 187 f. 655 Schickendantz, Eine noch ausstehende „kopernikanische Wende“, 217. 651

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Die schuldige Rechenschaft bischöflicher Autorität besteht nicht nur gegenüber Rom oder den anderen Bischöfen, sondern primär gegenüber der eigenen Gemeinde, auch im Sinne der Rückbindung an den in ihr wirksamen Heiligen Geist, der das Amt in der Gemeinde überhaupt verankert.656 Partizipative Dialog-, Konsultations- und Entscheidungsstrukturen657 einer synodal verfassten Kirche sind daher nicht optional, sondern ekklesiologisch (wie liturgisch) essentiell und müssten auch kirchenrechtlich658 verbindlich sein, wobei die Synodalität auf der Ebene gemeinsamer Verantwortung und Entscheidung anzusiedeln ist.659 Die synodale Entscheidungsfindung ist zwischen unanimitas als idealtypischem Ziel und dem Mehrheitsprinzip (die maior pars entscheidet in demokratischer Härte z. B. das I. Vaticanum) anzusiedeln und lässt sich, nach dem Vorbild der Alten Kirche, die sich am römischen Senat orientiert, am besten durch den Begriff consensus erfassen.660 Er ist in Glaubensfragen essentiell und begründet die Untrüglichkeit der Gesamtkirche nach LG 12. Dieser Konsens ist horizontal (synchron) und vertikal (diachron) zu fassen und wird auf das Wirken bzw. die Inspiration des Heiligen Geistes zurückgeführt.661 Was jedoch, wenn ein einhelliger Konsens in dogmatischen Fragen nicht erreicht werden kann? Sind diese Angelegenheiten dann überhaupt als Glaubensfragen universalkirchlich definierbar? Hermann Joseph Sieben verweist auf Emil Ollivier, der als ein unparteiischer und fachkundiger Zeitzeuge des I. Vaticanums galt und diese 656

Vgl. Schickendantz, Eine noch ausstehende „kopernikanische Wende“, 218. Vgl. Rahner, J., Lehramt und Glaubenssinn. Anmerkungen zu einem zunehmend schwieriger werdenden dogmatischen Lehrstück, in: Knapp, M./Söding, T. (Hg.), Glaube in Gemeinschaft. Autorität und Rezeption in der Kirche. FS für H. J. Pottmeyer, Freiburg i. Br. 2014, 165 –181, 180. Vgl. Rees, W./Schmiedl, J. (Hg.), Unverbindliche Beratung oder kollegiale Steuerung? Kirchenrechtliche Überlegungen zu synodalen Vorgängen, Freiburg i. Br. 2014. 658 Vgl. Hahn, J., Lehramt und Glaubenssinn. Kirchenrechtliche Überlegungen zu einem spannungsreichen Verhältnis – aus aktuellem Anlass, in: Knapp/Söding (Hg.), Glaube in Gemeinschaft, 182–212. 659 Vgl. Demel, S., Synodalität als Schutz vor Klerikalismus? Eine Nagelprobe auf Diözesanebene, in: Graulich/Rahner (Hg.), Synodalität, 274 –298, 276. Es geht dabei um Anhörung, Mitsprache und Mitentscheidung, wobei „rechtliche Defizite“ (294) angesichts der theologischen Grundlagen deutlich zu Tage treten. 660 Vgl. Sieben, H. J., Consensus, unanimitas und maior pars auf Konzilien, von der Alten Kirche bis zum Ersten Vatikanum, in: Ders., Vom Apostelkonzil zum Ersten Vatikanum. Studien zur Geschichte der Konzilsidee, Paderborn 1996, 510 –550. 661 Vgl. Sieben, Consensus, 512 f. 657

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Frage relativ pragmatisch kommentiert: „Wenn es gegen den Protest einer Minderheit keine Glaubensentscheidungen geben kann, dann fällt das ganze Credo der Kirche in sich zusammen, denn es gibt darin keinen einzigen Artikel, der nicht von starken Minderheiten in Frage gestellt worden wäre.“662 Das gilt analog für die synodalen Prozesse unserer Tage. Auch in Glaubensfragen bedarf es einer finalen Urteilsfindung, die für die Handlungsfähigkeit und geschichtliche Identität einer Glaubensgemeinschaft notwendig ist und entscheidet, was der Kirche wirklich als Wort Gottes gilt – und was eben nicht. Zentral ist der Entscheidungsfindungsprozess, der sich durch einen entsprechenden Stil663 in Kommunikation und Argumentation, durch eine Hermeneutik des Wohlwollens, der Sympathie und Empathie auszeichnen muss. Das oft beschworene sentire cum ecclesia ist ein synchrones wie diachrones Einfühlen und Mitfühlen mit all ihren Gliedern und Instanzen, das nur durch freimütigen und offenen, (historisch-)kritischen Dialog möglich ist. Dieser Dialog erfolgt, wie wir sehen konnten, auf dreifacher Ebene: als Dialog mit der eigenen Situation, Herkunft und Geschichte; mit der Gesamtheit der als verbindlich überlieferten Glaubenszeugnisse; mit der Welt, in der sich der Glaube hier und heute artikulieren muss. Dazu bedarf es entsprechender Strukturen der aktiven Partizipation und der Einbindung in Entscheidungsprozesse.664 Ein Glaubenskonsens, der auf der Hl. Schrift und ihrer Rezeption durch die Tradition gründet und zugleich von möglichst allen Glaubenden mitgetragen werden soll, ist ohne die Anhörung und einbeziehende Würdigung des sensus fidelium schlichtweg unmöglich. Das II. Vaticanum hat diesem Prinzip – stilistisch angemessener als das vorausgehende Rumpfkonzil – mit seinen integrativen Bemühungen um einen consensus unanimis Rechnung getragen, aber letztlich doch mit einer herausragenden (und theologisch bestens abgesicherten) Mehrheit, die für die Kirche

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Ollivier, zitiert nach: Sieben, Consensus, 550. Vgl. Internationale Theologische Kommission, Nr. 70. 664 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität, Nr. 67 ff. Zum problematischen Verhältnis zwischen decision-making und decision-taking vgl. Knop, J., Communio hierarchica – communicatio hierarchica. Synodalität nach römisch-katholischer Façon, in: Graulich/Rahner (Hg.), Synodalität, 153 –169; Knop, J., Decision making – decision taking. Partizipation und Synodalität in katholischer Ekklesiologie, in: ZPTh 40 (1/2020), 7–18; Bauer, C., Vom Haben zum Sein? Partizipation in einer synodalen Kirche, in: ZPTh 40 (1/2020), 37–57; Söding, T., Partizipation in der Kirche. Biblischer Perspektiven, in: ThGl 111 (2/2021), 116 –124. 663

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insgesamt verbindlich ist, gegen Lefebvre und andere fundamentalistisch orientierte Opponenten entscheiden müssen.665 Dieses Muster zeigt sich bei fast allen Synoden bzw. Konzilien der Kirchengeschichte. Um ihre Entscheidungen auch im diachronen Konsens zu verankern, vergewissern sie sich der Schrift, die angesichts aktueller Herausforderungen ausgelegt werden muss. Wie Athanasius betont, „atmen“ (pn¤ousi) die Synodalen von Nizäa geradezu „die Schriften“.666 Das entspricht der Beobachtung, dass das Selbstverständnis der Konzilien in der Alten Kirche sich durch „die unbedingte Bindung des Konzils an Schrift und Überlieferung“ auszeichnet, die eine entscheidende Grundlage für die Konsensfindung bildet.667 „Aus dem Zwang zum Beweis ergibt sich von selbst heilsame Beschränkung der Konzilsmaterie: was nicht aus Schrift und Tradition eindeutig belegt werden kann, darf nicht definiert werden!“668 Dieser Anspruch ist im Rezeptionsprozess ständig einer Prüfung zu unterziehen.669 Das gilt auch für die durch den KKK 1992 eingeführte Kategorie vermeintlich definitiver Wahrheiten, die sich selbst nicht unmittelbar aus Schrift und Tradition begründen lassen, aber nach subjektiver Auslegung einiger Vertreter des Lehramtes „in einem notwendigen Zusammenhang“ (KKK 88) damit stehen.670 Hier zeigt sich die ganze Problematik der Frage nach der Auslegungskompetenz. Denn wer legt nach welchen Kriterien fest, welchen Sinn die Texte des biblischen Zeugnisses haben? Wer darf im Namen der Kirche 665 Die vielleicht gut gemeinten, letztlich aber einseitigen Versuche während des Pontifikats Benedikts XVI., die Piusbruderschaft wieder in die katholische Kirche zu integrieren, liefen durchaus Gefahr, nicht nur die Autorität des II. Vatikanischen Konzils, sondern auch den breiten Konsens der Universalkirche zugunsten einer fundamentalistischen Minderheit zu unterminieren. Sie sind rückblickend an der unbeweglichen Ideologie der Piusbruderschaft gescheitert. Vgl. Beinert, W. (Hg.), Vatikan und PiusBrüder. Anatomie einer Krise, Freiburg i. Br. 22009. 666 Vgl. Sieben, H. J., Die Konzilsidee der Alten Kirche, Paderborn 1979, 59. 667 Vgl. Sieben, Die Konzilsidee der Alten Kirche, 515. 668 Sieben, Die Konzilsidee der Alten Kirche, 516. 669 Vgl. Sieben, Die Konzilsidee der Alten Kirche, 516. „Es kann sich bei einer Überprüfung herausstellen, dass das Konzil seinem Anspruch nicht gerecht wird. Entsprechend wird die Rezeption von der Kirche verweigert.“ 670 Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 45 –51. Vgl. hierzu die Mahnung bei Ratzinger, J., Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf 1969, 143 f.: „Wo weder Einmütigkeit der Gesamtkirche vorliegt noch ein klares Zeugnis der Quellen gegeben ist, da ist auch eine verbindliche Entscheidung nicht möglich; würde sie formal gefällt, so fehlten ihre Bedingungen, und damit müsste die Frage nach ihrer Legitimität erhoben werden.“

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unterscheiden, was ihr auf der Basis ihrer Hl. Schrift als Wort Gottes gilt – und was eben nicht? Welche Schlussfolgerungen sind dabei „notwendig“ und zwingend?

3.5. Aufgaben und Grenzen des kirchlichen Lehramtes Das kirchliche Lehramt ist als Letztentscheidungsinstanz im Rezeptionsund Überlieferungsprozess nicht als isolierte Größe zu betrachten. In das Lehramt fließen Gaube und Glaubenssinn des gesamten Gottesvolkes mit ein.671 Das Magisterium hat sich demnach als Ministerium zu verstehen – es steht im Dienst kirchlicher Kommunion und Kommunikation: „Es soll eine Art Kommunikationszentrum sein.“672 Die Rolle des kirchlichen Lehramtes ist nicht die eines „autoritären Superkriteriums“.673 Seine Aufgabe, letztverantwortlich in Krisensituationen zu entscheiden und das letzte Wort sprechen zu können, bedeutet laut Walter Kasper eben „nicht das Recht, immer auch gleich das erste Wort zu sagen und den Dialog, bevor er erst recht angefangen hat, sofort zu unterdrücken, abzuschneiden oder einseitig zu manipulieren. Ebenso wenig wird eine kluge Autorität dauernd mit Notstandsmaßnahmen regieren wollen. Das Normale und Ordentliche in der Kirche muss darum die kollektive, dialogische Wahrheitsfindung sein.“674 Diese Aussage dürfte angesichts der Debatten um eine synodale Struktur der Kirche aktueller denn je sein.675 Soll das Lehramt, sobald kontrovers diskutiert wird, ein Machtwort sprechen – oder ist es originär seine Aufgabe, das Wort Gottes performativ zur Geltung zu bringen und die Konsensfin671 Vgl. Fries, Kirche und Kanon, 292; 309 ff., mit Bezug auf John Henry Newman. Die Auslegung der Schrift durch die Gesamtkirche mit all ihren Lebensvollzügen habe Vorrang vor der Auslegung einzelner. 672 Fries, Kirche und Kanon, 311, mit Bezug auf W. Kasper. Hier wird auch ein „Zentralanliegen der Reformation“ und der Ökumene berührt. Vgl. Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Kanon – Heilige Schrift – Tradition. Gemeinsame Erklärung, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis I, 371–397, 395. 673 Kasper, W., Zum Problem der Rechtgläubigkeit in der Kirche von morgen, in: Ders., Evangelium und Dogma, 738 –793, 763. 674 Kasper, Zum Problem der Rechtgläubigkeit, 763. Vgl. auch Fries, Kirche und Kanon, 311 f. 675 Vgl. Jürgens, B./Sellmann, M. (Hg.), Wer entscheidet, wer was entscheidet? Zum Reformbedarf kirchlicher Führungspraxis (QD 312), Freiburg i. Br. 2020.

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dung auf dieser Grundlage vermittelnd zu begleiten, indem es die Zielrichtung des Glaubens immer wieder durch sein lebendiges Zeugnis ins Gedächtnis ruft? Falls ein Bischof seine Amtsvollmacht als letzter Entscheidungsträger permanent und dauerhaft zur Verbindlichmachung seiner theologischen Privatmeinung missbrauchen wollte, müsste er wie jeder, der Notstandsvollmachten ausdehnt und verstetigt, als Diktator – Alleinherrscher – und nicht mehr als Episkopos – Hüter – seines Bistums gelten. Diese „totalitäre Vorstellung“676 kirchlicher Leitung überschreitet allerdings die Kompetenz des kirchlichen Lehramtes und zeigt klare Grenzen seiner Aufgaben auf. Wenn seine Autorität zudem nicht (wie in der frühen Kirche praktiziert677) neben der kollegialen Handauflegung durch die Zustimmung der Gemeinde legitimiert wird, dürfte eine authentische Repräsentation der Gemeinde durch einen von außen aufoktroyierten Amtsträger nicht wirklich gegeben sein. Ohne in diesem Rahmen auf kirchenrechtliche Defizite gegenüber dogmatischen Desideraten der Amtstheologie und die Voraussetzungen für die sakramentale Struktur des Ordo näher eingehen zu können, lässt sich mit der Päpstlichen Bibelkommission aber unmissverständlich festhalten: Die biblischen Texte wurden „für Gemeinschaften geschrieben“ und daher sind es „Gemeinschaften, denen die Bibellesung in erster Linie anvertraut ist.“678 Daraus ergibt sich auch eine aktive Beteiligung in der Rezeption der Schrift: „So haben alle Glieder der Kirche eine Rolle bei der Interpreta676 Vgl. Rahner, Das Dynamische, 43 f., der eine „totalitäre Vorstellung“ von Kirche kritisch in den Blick nimmt. „Totalitär wäre eine solche Auffassung, wenn man ausdrücklich oder stillschweigend meinte, die Kirche sei in keiner ihrer Handlungen fehlbar, wenn man annähme, alle Lebensregungen der Kirche könnten und dürften nur ausgehen von ihren Ämtern, alle Initiative in der Kirche sei nur berechtigt, insofern sie ausdrücklich oder wenigstens stillschweigend von oben veranlasst werde und erst nachdem sie autorisiert sei, alle Leitung des Heiligen Geistes setze immer und in jedem Fall bei den Ämtern der Kirche an, Gott leite seine Kirche nur durch das Amt, jede Lebensregung in der Kirche sei nur die Ausführung eines Befehles oder Wunsches ‚von oben‘.“ (44) Mit seiner Kritik an diesem Totalitarismus erinnert Rahner daran, dass es sich hier nicht um seine theologische Privatmeinung handle, sondern um die Lehre des kirchlichen Lehramtes selbst. Ebenso scharfe Kritik an einer totalitären, restaurativ-restriktiven Haltung findet sich bei Kasper, Zum Problem der Rechtgläubigkeit, 758, der sogar vom „Verrat an der wirklichen Katholizität“ spricht, der die „Kirche zur Sekte“ mache. 677 Vgl. Merkt, Bischof, 19 ff. 678 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 65 f. Vgl. auch Haag, Die Buchwerdung, 304.

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tion der heiligen Schriften zu übernehmen.“679 Hier wird explizit auf den sensus fidelium Bezug genommen. Die Bischöfe sind als Nachfolger der Apostel in Ausübung ihres „pastoralen Amtes“ dabei „die ersten Zeugen und Garanten einer lebendigen Tradition, in deren Licht die heiligen Schriften in jeder Zeit interpretiert werden.“680 Die Priester als Mitarbeiter der Bischöfe haben wie diese die Aufgabe der Verkündigung. Sie helfen den Gläubigen, „zu vernehmen und zu verstehen, was das Wort Gottes ihnen im Innersten ihres Herzens sagt“ und ihnen eignet dabei ein besonderes Charisma, wenn sie „nicht ihre eigenen Gedanken, sondern das Wort Gottes vortragen“ und das Evangelium „auf die konkreten Lebensverhältnisse anwenden“.681 Als „bevorzugte Hörer des Wortes Gottes“ gelten – schon in der Hl. Schrift – diejenigen, „die von der Welt als Leute einfacher Herkunft betrachtet werden.“682 Auch Leute in besonderer Not haben der Kirche für ihre Interpretation der Schrift vielleicht mehr zu sagen als manche Purpurträger: „Diejenigen, die sich in ihrer Ohnmacht und ohne alle menschliche Machtund Hilfsmittel gezwungen sehen, ihre einzige Hoffnung auf Gott und seine Gerechtigkeit zu setzen, haben für das Wort Gottes eine Auffassungsgabe und ein Verständnis, was die gesamte Kirche ernst nehmen muss“.683

Diese pastorale Offenheit entspringt einer soteriologischen Hermeneutik, die sich auf das Vorbild der Propheten ebenso wie auf Jesus selbst berufen kann. Da die Schrift „das Gut der ganzen Kirche“684 ist, ist das Lehramt auch nur die Letztinstanz in einem verbindlichen Prozess der Wegsuche und Entscheidungsfindung, bei dem zu klären ist, was mit dem Evangelium absolut unvereinbar ist und wo dieses neu kontextualisiert und anders artikuliert werden muss. Dass die Relecture der Hl. Schrift dabei kein rein individueller, von der Gemeinschaft der Gesamtkirche isolierbarer Vorgang685 ist, gilt auch für das Lehramt selbst. Es ist auf Beratung angewiesen.686 Um 679

Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 103. Dass es für ein Zusammenspiel der Bezeugungsinstanzen geordneter Regeln bedarf, wird auch in ökumenischer Perspektive wahrgenommen. Vgl. Münch, H.-H., Kanon und Auslegungsgemeinschaft. Schriftgemäße Theologie im Horizont der Ökumene, Darmstadt 2019, 305. 680 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 103. 681 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 104, mit Bezug auf PO 4. 682 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 105. 683 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 105. 684 Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 107. 685 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 105. 686 Vgl. Hallermann, H., Ratlos – oder gut beraten? Die Beratung des Diözesanbischofs (KStKR 11), Paderborn 2010.

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seinem Dienst gerecht zu werden, „konsultiert es die Theologen, die Exegeten und andere Experten, deren legitime Forschungsfreiheit es anerkennt und mit denen es in wechselseitiger Beziehung steht, im Hinblick auf das gemeinsame Ziel“.687 Otto Hermann Pesch hat auf den dogmengeschichtlichen Befund aufmerksam gemacht, dass konkrete Exegese einzelner Bibelstellen nie unmittelbarer Gegenstand kirchlicher Lehrentscheidungen war, insofern diese sich stets indirekt auf damit verbundene Sachfragen konzentrierten.688 Die Erkenntnisfortschritte in Exegese und Theologie müssen sich dann aber auch in der weiteren Auslegung lehramtlicher Texte niederschlagen, was einen kritischen und konstruktiven Dialog zwischen Lehramt und Theologie erfordert, der auch das Gefälle von Autorität und Macht reflektieren muss.689 Auch das Lehramt ist zunächst Rezipient des Wortes Gottes (vgl. DV 10). Die spezifische Rolle des Lehramtes besteht aber darin, die verschiedenen Lesarten über Raum und Zeit hinweg zu einem auch heute tragfähigen Konsens zu führen, auf dessen Basis dann Entscheidungen zu treffen sind. Es kann sich dabei selbst auf limitative „Notstandsmaßnahmen“ beschränken.690 Bernhard Nitsche erinnert daran, dass sich solche Entscheidungen auch an der „Hierarchie der Wahrheiten“ und an ihrem „soteriologischen Stellenwert“ zu orientieren haben.691 Es geht um die Frage, ob und wo in einer (legitimen) pluralen Auslegung der Schrift die 687

Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 107. Vgl. Pesch, O. H., Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bd. 1. Die Geschichte der Menschen mit Gott. Teilband 1/1: Wort Gottes und Theologie. Christologie, Ostfildern 2008, 238 f. Er betont, dass die kirchlichen Lehrentscheidungen „stets beanspruchen, zu einer umstrittenen Frage den ‚Gesamtsinn‘ der biblischen Botschaft festzustellen, sich aber nie direkt und formell auf den Sinn eines ganz bestimmten einzelnen Bibelwortes beziehen.“ Pesch spricht von „indirekt niedergelegten Interpretationen bestimmter Bibelstellen“ (239). 689 Vgl. Lehmann, K., Notwendigkeit und Grenzen des Dialogs zwischen Theologen und Lehramt, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis II, 157–174. 690 Vgl. Nitsche, B., Die Schrift als Norm des Glaubens, in: Wacker (Hg.), Wozu ist die Bibel gut, 45 – 65, 58 f. „Dem Lehramt kommt die pragmatische Aufgabe zu, im Dialog mit den Prozessen intersubjektiver Verständigung und Konsensfindung im vielgestaltigen Volk Gottes sowie im Dialog mit den Ergebnissen der theologischen Wissenschaft den Konsens des Glaubens zur Geltung zu bringen oder, wo nötig, kritische Grenzmarkierungen aufzuzeigen. Von daher kann das Lehramt unter der Voraussetzung eines Konsenses im Glauben innerhalb des Volkes Gottes orientierende Entscheidungen normativer Art treffen.“ 691 Vgl. Nitsche, Die Schrift, 58 f. „Dann wird nur an jenen Punkten eine definitive, lehramtlich normative Entscheidung zu treffen sein, bei denen es sich um das Sein und Bleiben der Kirche im Evangelium handelt.“ 688

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Heilsvermittlung, d. h. die Gottesbeziehung, durch eine authentische Kommunikation des Evangeliums gefährdet ist oder verdunkelt wird. Johannes Paul II. machte deutlich, die biblischen Texte seien „der Gemeinschaft der Gläubigen, der Kirche Christi anvertraut, um ihren Glauben zu nähren und zu einem Leben der Liebe anzuleiten. Die Achtung vor dieser Zielsetzung bestimmt die Gültigkeit der Interpretation.“692 Sinn und Zweck der Schriften bestehe darin, „die Gläubigen in persönlichen Kontakt mit Gott zu bringen.“693 Dies entspricht der soteriologischen Zielsetzung der kirchlichen Sendung, die von der universalen Offenheit für alle Menschen gekennzeichnet und von einer entsprechenden Hermeneutik geprägt ist, die mit permanenter Aktualisierung und Inkulturation einhergeht.694 Die lehramtliche Schriftauslegung darf diesen „Primat der Soteriologie über die Ekklesiologie nicht aus dem Blick […] verlieren.“695 Walter Kasper hat erkannt, dass in den Debatten um die kirchlichen Strukturfragen oft die Mittel den eigentlichen Zweck zu überlagern drohen: das Ziel nämlich, das Evangelium „in besserer, glaubwürdigerer und zeitgerechterer Weise“ zur Sprache zu bringen.696 Die Erinnerung daran, dass nicht die Kirche, ihre Ämter, ihre Struktur oder Gestalt(ung) im Mittelpunkt steht, sondern dass es sich hierbei nur um dienende Mittel zum Zweck handelt, wäre eigentlich Aufgabe des bischöflichen Amtes selbst, das sich dafür aber permanent relativieren, also positiv an die Vermittlung des durch die Schrift transportierten Evangeliums rückbinden müsste – was aber nur bedingt gelingt, wenn man sich selbst zum exklusiven und äußersten Maßstab aller Schriftauslegung stilisiert. Wenn die Hl. Schrift dem Glauben des Volkes Gottes entspringt, so ist sie dem Volk Gottes zur Rezeption aufgegeben. Sie erfordert daher auch eine (richtig verstandene) „Demokratisierung“ der kirchlichen Strukturen, die sich z. B. bei der Auswahl (bzw. Abwahl) von Amtsträgern, in der Schaffung subsidiärer und mitentscheidungsberechtigter Gremien (die auch die kirchliche Vielfalt abbilden), in einer Gewaltenteilung innerhalb der Kirche und in mehr Kommunikation und Transparenz nie692

Johannes Paul II., Ansprache, Nr. 10. Johannes Paul II., Ansprache, Nr. 11. 694 Vgl. Johannes Paul II., Ansprache, Nr. 15. 695 Sattler, D., Petrusdienst oder Papstamt? Ein Beispiel für die Bedeutung und die Grenzen einer ökumenischen Schrifthermeneutik, in: Wacker (Hg.), Wozu ist die Bibel gut, 85 –103, 99. 696 Vgl. Kasper, Der Dienst, 437. 693

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derschlagen müsste.697 Die Aufgabe des Bischofs besteht weiterhin in der Verkündigung und sakramentalen Vergegenwärtigung des Wortes Gottes.698 Das mediatorische und integrative Charisma des Bischofsamtes ist mit einer Letztentscheidungskompetenz ausgestattet, deren Autorität ebenso in der Gemeinde wie in der Hl. Schrift, der kirchlichen Tradition und der bischöflichen Kollegialität verankert sein muss. Das Amt ist ein Dienst am synchronen wie diachronen Dialog auf all diesen Ebenen, es ist daher selbst nur dialogisch zu erfüllen und erfordert insofern ein hohes Maß an kommunikativer Kompetenz. „Autoritativ eingreifen muss es immer dort, wo der Dialog grob gestört oder ganz verweigert wird. Ein solcher ‚Eingriff‘ soll jedoch den Dialog nicht abschließen, sondern aufschließen und wieder in Gang bringen.“699 Der Bischof ist immer verantwortlicher und bevollmächtigter Repräsentant der katholischen Weltkirche (qua Ordination) und seiner Ortskirche (qua Zustimmung durch seine Gemeinde). Das Charisma seines Dienstes lässt die eigene Person bei dieser Mittlerfunktion möglichst in den Hintergrund treten, damit andere Charismen ihre Wirkung entfalten.700 Er ist Moderator und Mediator im Dienste kirchlicher Apostolizi697 Vgl. Kasper, W., Der Dienst des Bischofs in der Kirche, in: Ders., Gesammelte Schriften 12. Die Kirche und ihre Ämter. Schriften zur Ekklesiologie II, Freiburg i. Br. 2009, 427– 437, 435 f. Vgl. Rahner, Das Dynamische, 63 ff. Entscheidend sei die Vermeidung von einseitiger Machtkonzentration durch Gewaltenteilung, die die Kirche in ihrem Wesen auszeichne. Ratzinger, J., Demokratisierung der Kirche?, in: Ders., Gesammelte Schriften 12, 159 –198, 178, verweist immerhin auf vier demokratische „Möglichkeiten“: Die Radiusbegrenzung des geistlichen Amtes; der Subjektcharakter der einzelnen Gemeinden; die kollegiale Struktur der kirchlichen Ämter; die Lehre vom Glaubenssinn. Einer „synodalen Struktur“ der Kirche, die über reine Bischofsversammlungen hinausgeht, kann Ratzinger wenig abgewinnen – was damit zusammenhängt, dass sein Verständnis sakramentaler Vollmacht von einem exklusiven „Akt geistlicher Gewalt“ ausgeht, der allein dem ordinierten Leitungsamt zukommt (vgl. 175). Diese unkontrollierte und ungeteilte „heilige Gewalt“ (die eher an Sakralität als an Sakramentalität erinnert) führt gerade in ihrem Versagen angesichts der Missbrauchskrise die Fragwürdigkeit dieser einseitigen Amtstheologie schmerzlich vor Augen. Der Glaubenssinn der Gläubigen bleibt für Ratzinger wohl nicht ohne Grund nur ein „rechtlich schwer zu fassender Faktor“ (185). 698 Kasper, Der Dienst, 436. 699 Kasper, Zum Problem der Rechtgläubigkeit, 761 f. 700 Vgl. Merkt, Bischof, 22. „Das ist sozusagen das Charisma des Amtes: Ohne besonderes persönliches Charisma das Fehlen charismatischer Gestalten zu kompensieren. […] später wird Irenäus von Lyon dieses Charisma im Unterschied zu allen anderen Charismen ein ‚sicheres Charisma‘ (charisma certum) nennen. Es wirkt mit Sicherheit, vorausgesetzt der Amtsträger erfüllt seine Pflichten in Lehre und liturgischem Dienst getreu und führt ein anständiges Leben.“

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tät und Einheit, die beide dynamisch zu verstehen sind.701 Das kirchliche Lehramt bürgt für die Identität des christlichen Glaubens und seine Kontinuität zum geschichtlichen Ursprung, indem es je neu Zeugnis von ihm ablegt. Durch das glaubwürdige und authentische Zeugnis, das gelebt und nicht nur gelehrt wird, wird überlieferte Wirklichkeit existentiell interpretiert, als Realisierung und Vergegenwärtigung im eigenen Leben. Die Lehre wird modellhaft vorgelebt und nicht vorgelegt. So wird jedenfalls im patristischen Kontext die soteriologische Bedeutung Jesu als Lehrer und Vorbild verstanden.702 Und genau darin – nicht in den juristischen Amtsvollmachten703 – liegt ursprünglich auch die theologische bzw. sakramentale Autorität des Zeugnisses. Doch besteht die Gefahr, dass das eigene Zeugnis mehr oder weniger unreflektiert auch autoritäre Machtansprüche legitimiert, die scheinbar keinem Diskurs mehr unterliegen.704 Statt im Sinne einer „epistemischen Autorität“705 zu überzeugen, wird dann mit Vollmacht diktiert oder mit gleichsam göttlicher Gewalt festgelegt. Ursprünglich geht es aber doch darum, eine soteriologisch relevante Erfahrung zu kommunizieren – nicht aufzuzwingen.706 „Das Zeugnis spricht das Urteilsvermögen der Adressaten an: ihr Gewissen. Im Gewissen ist darüber zu urteilen, ob ich mich von einem Zeugnis heraus701 Vgl. Strecker, Identität, 160: „Das im Neuen Testament noch nicht bezeugte Adjektiv ‚apostolisch‘ suggeriert indes eine anfängliche Einheit und Reinheit der Lehre in der frühen Kirche, die damals so nicht gegeben war. Das Label lenkt den Blick mithin allzu sehr auf die vermeintlich allein maßgebliche Autorität der zwölf Apostel, was den historischen Verhältnissen und Verläufen in dieser Eindimensionalität nicht gerecht wird.“ 702 Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 424 – 456. Das patristische Motiv der Paideia wird hier anhand der sozial-kognitiven Lerntheorie erschlossen. 703 Vgl. Lüdicke, K./Schüller, T., Hirten-Gewalt?, in: Knapp/Söding (Hg.), Glaube in Gemeinschaft, 37–53, 52. „Das reale Bild des Diözesanbischofs zeigt einen Manager, der mit vielen Aufgaben belastet ist […]. Mit seiner Stellung als Hirte einer Glaubensgemeinschaft haben diese Aufgaben zwar mehr oder weniger direkt zu tun. Es fällt aber auf, dass nur kleine Teile der Felder, auf denen der Bischof Verantwortung trägt, mit Lehre und Heiligung zu tun haben.“ 704 Zu dieser Gefahr vgl. Werbick, J., Die Autorität der Zeugen – und andere Autoritäten. Ein ekklesiologischer Diskurs über Glaubwürdigkeit, in: Knapp/Söding (Hg.), Glaube in Gemeinschaft, 19 –36. 705 Vgl. Seewald, Reform, 69. „Während eine juridische Autorität aus eigener Vollmacht heraus etwas zu setzen und die Anerkennung des von ihr Gesetzten zu erwirken vermag, kann eine epistemische Autorität nur um die Anerkennung des von ihr als gesetzt Erkannten und deshalb Bezeugten werben.“ 706 Vgl. Werbick, Die Autorität, 24.

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fordern lasse, mich dem im Zeugnis Bezeugten anzuvertrauen oder mich ihm zu verweigern. […] Das Zeugnis beweist nicht, was es bezeugt. Aber es kann dafür sprechen, sich mit ihm einzulassen und Erfahrungen mit der Erfahrung zu machen, die es kommuniziert. Es kann eine ‚Überzeugungsgeschichte‘ eröffnen, in der es darauf ankommen wird, ob ich mit den besten erreichbaren Gründen selbst zu der Überzeugung komme, dass sich mir Leben in Fülle öffnet, wenn ich mich dem Bezeugten anvertraue. Insofern und darin hat das Zeugnis, haben die Zeugen Autorität: eröffnende – initiatische – Autorität.“707

Die kirchliche Sendung insgesamt wie auch die Ordination der Amtsträger im Speziellen zielen vor allem darauf, durch existentielles Zeugnis die Initiative zu ergreifen und einen Beziehungsweg zu eröffnen, der sich dann als gemeinsamer Weg (syn-hodos) fortsetzt.708 Die vermittelnde – mediale – Dimension des Zeugnisses, zum dem bereits die Hl. Schrift zählt, erschließt dabei „eine nicht reduzierbare, genuine Erkenntnisquelle“, die „mit dem in der analytischen Erkenntnistheorie verbreiteten epistemologischen Individualismus zugunsten einer sozialen Epistemologie“ bricht und anerkennt, dass wir „in unserem Wissen auf andere – und zwar unentrinnbar – angewiesen sind.“709 Das Bezeugen erzeugt eine sonst unzugängliche Form von Wissen, wobei für die Beziehung zwischen Zeugen und Adressaten Glaubwürdigkeit und Vertrauen konstitutiv sind.710 Die Texte der Schrift legt man für die Glaubensgemeinschaft überzeugend aus, indem sie immer wieder neu und anders mit Leben erfüllt und adaptiert – gelebt – werden. Die Zeugenschaft beschreibt den sakramentalen Sinn kirchlicher Mission und Repräsentation durch das Amt und dessen Verantwortung, die oft nur kirchenrechtlich aufgelöst und in ihrer kommunikationstheoretischen Tiefe total unterlaufen wird. Die inzwischen chronische Autoritätskrise eines kirchlichen Lehramtes, das sich hinter seiner sakramental „verliehenen“ (statt: gelebten) Autorität verschanzt hat, wurzelt vor allem in einem Glaubwürdigkeitsproblem, das auf mangelnder Authentizität und fehlender Überzeugungskraft beruht, die teilweise mit rational kaum nachvollziehbaren Argu707

Werbick, Die Autorität, 25. Und man sollte hier keinesfalls vergessen, dass so viele Wege zu Gott führen, wie es Menschen gibt. Vgl. Ratzinger, J., Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche im neuen Jahrtausend. Ein Gespräch mit P. Seewald, München 52004, 35. 709 Zu Zeugenschaft und Zeugnisgeben durch Glaubwürdigkeit vgl. Krämer, S., Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2020, bes. 223 –260, hier: 225. 710 Vgl. Krämer, Medium, 226. 708

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mentationen verbunden ist.711 Dann aber ist es nicht verwunderlich, wenn kirchliche Lehre, die nicht durch glaubwürdiges und überzeugendes Leben gedeckt ist, auch nicht guten Gewissens rezipiert wird. Wie Jürgen Werbick beschreibt, wird in solchen Fällen das Gewissen zum Widerspruch provoziert.712 Auch hier setzt sich also die Stimme JHWHs im persönlichen Ruf gegen alle Autoritäten durch, gegebenenfalls auch gegen unausgereifte und nicht konsensuelle Positionen des kirchlichen Lehramtes, das nicht immer und automatisch „authentisch“ – glaubwürdig und durch den realen Glauben der Kirche gedeckt – lehrt und dann unter solchen Bedingungen im Namen Gottes und seines Evangeliums eben auch Widerspruch erdulden muss.713 Indem das II. Vaticanum714 das Gewissen und seine innere Freiheit als die oberste Instanz vor Gott anerkennt, gibt es dem Überlieferungsprozess des Evangeliums dessen soteriologische Dignität zurück, die in der persönlichen Aneignung durch Rezeption besteht und eine effektive – performative – Qualität jenseits reiner Informationsverarbeitung oder formaler Zustimmung aus blindem Gehorsam impliziert. Das Konzil ermächtigt insofern zum Hören der überlieferten Worte in ihrer ebenso kritischen wie befreienden Bedeutung als Wort Gottes für hier und jetzt, für das eigene Leben, das sich nicht im luftleeren Raum vollzieht, sondern in einem Netzwerk von Beziehungen, die bei der eigenen Gewissensbildung sensibel zu berücksichtigen sind. Wenn die Kirche heute mit der Kirche im Ursprung authentisch und glaubwürdig verbunden sein möchte, dann kann sie ihre Identität nur wahren durch einen Rückbezug auf das Zeugnis der Apostel und die Fortführung ihrer Sendung.715 Die Kirche kann im Wesentlichen – das 711 Vgl. Werbick, Die Autorität, 33: „Prekär wird es, wenn man die Amtsautorität mit theologischer Expertenautorität nur bemäntelt und ein unübersehbares Defizit in der theologischen Begründung mit Amtsautorität nur überspielt.“ Als Beispiel führt Werbick unter anderem die Entscheidung über „künstliche“ Empfängnisverhütung oder die Amtstheologie selbst an, die der Amtsautorität „erheblichen Schaden zugefügt“ habe. Er sieht die Gefahr, dass „die charismatische Autorität des Zeugen von einer fragwürdigen Kirchen- und Lehrpolitik ‚kontaminiert‘ und um ihre Wirkung gebracht wird.“ Demnach müssten verschiedene „Autoritätstypen“ unterschieden werden: Die Amtsautorität, Diskursautorität und Zeugnisautorität (vgl. 35 f.). 712 Vgl. Werbick, Die Autorität, 25. 713 Vgl. hierzu das folgende Kap. III.3.6. 714 Vgl. DiH 2. 715 Die Ausführungen zur Apostolizität decken sich teilweise mit: Weißer, Wozu brauchen wir, 241–345.

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es je neu zu suchen gilt – nicht einfach etwas völlig anderes verkünden als das, was von Anfang an ihr Glaube ist. Apostolizität besteht im Empfangen eines Zeugnisses, um dieses selbst aktiv und kreativ weiterzugeben (vgl. 1 Kor 15,3 –11). Sie ist Gabe und Aufgabe zugleich. Um den Spagat der Vermittlung von Damals, Heute und Morgen zu bewältigen, bildete die Kirche in einem dynamischen Rezeptions- und Überlieferungsprozess selbst Medien und Institutionen der Zeugenschaft aus, die ihr bei der permanenten Selbstvergewisserung und Anpassung an neue Kontexte oder Herausforderungen als sicheres Fundament dienen, um zu differenzieren: Was ist essentiell für den christlichen Glauben und was sind zeit- und kulturbedingte Ausdrucksformen, überholte Sprachmuster und Vorstellungen, die wandelbar sind und erneuert werden müssen, um den Kern des Evangeliums auf Dauer nicht zu überlagern? Für neuen Wein taugen nämlich keine alten, porös gewordenen Schläuche (vgl. Mk 2,22). Eckpfeiler des apostolischen Zeugnisses bilden a) der Kanon der Hl. Schrift, b) die Tradition bzw. Rezeption als ein dynamischer Auslegungsund Aneignungsprozess und c) das Bischofsamt. Die Schrift aus Altem und Neuen Testament ist die normative Grundlage für den weiteren Traditionsprozess, insofern sich in dem zweigeteilten Kanon das Glaubensbewusstsein und die Überlieferung der Apostel erhalten hat. Es ist Aufgabe der Bischöfe als ordinierte Amtsträger und Nachfolger der Apostel den Glauben der Kirche an Schrift und Tradition rückzubinden und ihn, mit Hilfe der Theologie, stets neu daran zu messen. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass die Glaubensgemeinschaft der Kirche in ihrem dialogischen Austausch bei allem Wandel und aller Reform ihre Identität wahrt, indem sie sich auch heute noch auf die menschgewordene Selbstzusage Gottes in Jesus Christus und seinen Heiligen Geist bezieht, d. h. in verbindender und verbindlicher Kontinuität steht zu der apostolischen Verkündigung des einen, auf Altem und Neuem Testament ruhenden Evangeliums. Um diese Kontinuität zu sichern und den theologisch untermauerten Rekurs auf den Kanon des Glaubens, den Kanon der Hl. Schrift und die sie auslegende Tradition zu wahren, stehen die Bischöfe in apostolischer Sukzession und katholisch vernetzter Kollegialität. Das personale Zeugnis und persönliche Eintreten für den katholischen (die Kirchen aller Zeiten und Regionen verbindenden) Glauben ist ein unentbehrlicher und nicht immer ungefährlicher Dienst am Glauben der Gesamtkirche und ihrer Glaubensgeschichte. Der Papst repräsentiert als Bischof von Rom und gewähltes Oberhaupt des Bischofskollegiums die katholische Kirche auf einer weltkirchlichen Ebene. Ihm obliegt

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die Aufgabe, die Bischöfe als Nachfolger der Apostel weltweit zusammenzuführen. Er ist Appellationsinstanz bei missbräuchlicher Amtsführung von Bischöfen. Falls er unter expliziter Berufung auf seine höchste Lehrautorität eine Einsicht der Kirche in Glaubens- und Sittenfragen ausdrücklich und definitiv festhält, also ex cathedra seine höchste Entscheidungsvollmacht im Namen der Kirche in Anspruch nimmt, dann gelten diese letztverbindlichen Entscheidungen als untrüglich, was nicht bedeutet, dass sie nicht weiter erklärt, entwickelt oder neu gedeutet werden müssten. Diese Entscheidungen ex cathedra, die bekanntlich sehr streng reguliert und extrem selten sind, beziehen ihre Endgültigkeit (die ja auf Glaubens- und Sittenfragen beschränkt ist) aus der Vollmacht der obersten Kirchenleitung, die nie am Konsens der Kirche vorbei lenken kann, aber urteilen muss, wenn in manchen Fällen vielleicht schlicht kein Konsens herstellbar ist.716 Auch diese päpstlichen Lehrentscheidungen ex cathedra sind jedoch gebunden an den Glauben der Kirche, wie er in der Hl. Schrift und Überlieferung zum Ausdruck kommt. Was im offenen Widerspruch zur norma normans steht, ist nicht definierbar; das heißt aber nicht, dass die Schrift nicht in ihrem eigenen – inhaltlich zu bestimmenden – Sinne weiter entfaltbar wäre.717 Man könnte solche päpstlichen Definitionen ex cathedra auch als außerordentliche „Notstandsregelung“ oder feierlichen Akt verstehen, der wichtige Einsichten im Überlieferungsprozess unbedingt absichern oder festhalten will, um sie dann später wiederum auslegen zu können. Sie stehen auf einer Ebene mit den dogmatischen Entscheidungen universalkirchlicher Konzilien, die einen synchronen wie diachronen Konsens im Glauben feststellen oder herstellen wollen. Solche verbindlich artikulierten Entscheidungen, die einseitige und dem Geist der Schrift widersprechende Interpretationen unter Würdigung einer Gesamtsicht des Glaubens und seiner Lebenspraxis abwehren wollen, gehen mit ihrer Verbindlichkeit gleichsam in das kulturelle Gedächtnis der Kirche ein, auf dessen Basis je neue Lernprozesse möglich sind.718 Sie sind als solche mehr oder weniger dem Kanon 716

Vgl. Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 40. „Muss denn die Heilige Schrift alle Beweislast bis hin zu den diffizilsten Fragen übernehmen?“ So fragte Schnackenburg, R., Zur dogmatischen Auswertung des Neuen Testaments, in: Vorgrimler (Hg.), Exegese und Dogmatik, 115 –133, 120. Hier ergebe sich Raum für eine „organische Entwicklung“ (121). Mit Blick auf die neuzeitlichen Mariendogmen werden wir auf diese Frage zurückkommen (vgl. Kap. IV.1.). 718 Vgl. Siebenrock, R. A., Amt der Einheit – Garantie der Vielfalt. Bemerkungen zur Bedeutung des Papstamtes in einer sich radikal verändernden Weltgesellschaft, in: Pas717

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und seiner Auslegung entsprungen, aber stets an ihm zu messen. Die „Untrüglichkeit“ solch substantieller Backups des Glaubens, die ja nicht generell für alle Wegweisungen des Lehramtes und keinesfalls für einen einzelnen Bischof oder römische Kongregationen gilt, ist rückgebunden an die Kollegialität der Bischöfe, die dem sensus und consensus fidelium dient, um sensible Unterscheidungen zu treffen, was das Wort Gottes für diese Zeit ist – und was eben nicht. „Damit das Evangelium in der Kirche für immer unversehrt und lebendig bewahrt werde, haben die Apostel Bischöfe als ihre Nachfolger zurückgelassen und ihnen ‚ihr eigenes Lehramt überliefert‘. Diese Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift beider Testamente sind gleichsam ein Spiegel, in dem die Kirche Gott, von dem sie alles empfängt, auf ihrer irdischen Pilgerschaft anschaut, bis sie hingeführt wird, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so wie er ist (vgl. 1 Joh 3,2).“ (DV 7)

Die Unversehrtheit des Evangeliums, das im Kanon das Alte und Neue Testament umfasst, ist gleichermaßen hervorzuheben wie seine Lebendigkeit. Daher trägt das „Hirtenamt“ in apostolischer Verantwortung sowohl aktuellen Erfordernissen als auch der identitätsstiftenden Kontinuität Rechnung.719 Die Hirten sind dem glaubenden und sich vom Geist Gottes leiten lassenden Volk Gottes in dessen Selbstvergewisserung und Gespür für den rechten Weg verpflichtet. Dieses Gespür kann sich wiederum nur im Geiste Jesu entfalten, wenn es sensibel bleibt für einen Dialog mit der historisch tradierten und gewachsenen Lehre der Kirche, mit der es sich aber angesichts veränderter Situationen kreativ auseinandersetzen darf und muss, um ihr Wesen weiter bewahren zu können. Papst Franziskus verlangt, „das bequeme pastorale Kriterium des ‚Es wurde immer so gemacht‘ aufzugeben.“720 Ein guter Hirte, so der Papst, müsse manchmal vorangehen, sich aber immer auch inmitten seiner Herde bewegen, den Geruch der Schafe an sich tragen und sensibel auf sie achten. Er wird auch „bei einigen Gelegenheiten […] hinter dem Volk hergehen, um denen zu helfen, die zurückgeblieben sind, und – vor allem – weil die Herde selbst ihren Spürsinn besitzt, um neue Wege zu finden.“721 Das Amt des Bischofs dient also der Gemeinschaft und dem Austausch in der Kirche angesichts heutiger Glaubensfragen und der toralblatt (10/2017), 291–296, 293. Das Papstamt sei insofern „Garant eines verbindlichen Lernprozesses im Glauben“. 719 Vgl. Löhrer, Träger der Vermittlung, 555 –573. 720 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 33. 721 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 31; 119; Spadaro, Das Interview, 42– 45.

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gläubigen Antworten früherer Zeiten, die beide durch ihn in ein konstruktives Gespräch gebracht werden. Insofern dient jeder Bischof der katholischen Einheit und Verständigung: vor Ort, überregional und über Grenzen der Zeit hinweg. Die Autorität des Amtes und sein spezifisches Charisma ergeben sich aus dem Auftrag, der Kirche den Kanon ihrer Hl. Schrift immer wieder „wie einen Spiegel“ vorzuhalten und ihr im Namen Jesu das darin vernommene Wort Gottes in den Sakramenten glaubwürdig und leibhaftig spürbar zu vermitteln. Das kirchliche Lehramt ist qua Ordination ein sakramentales Amt der vergegenwärtigenden, performativen Re-Präsentation der Selbstzusage Gottes. Es muss das lebendige Wort Gottes verkünden und in Streitfragen auf der Basis theologischer Expertise und unter Einbeziehung aller Stimmen unterscheiden und entscheiden. Wenn die Hl. Schrift in den Herzen der Gläubigen ihre eigene unverfügbare Resonanz erweckt, dann ist das kirchliche Lehramt keinesfalls ihre einzige oder beste Auslegungsinstanz; sie ist lediglich eine notwendige, die der Konsensfindung und Einheit der Kirche dient – synchron wie diachron. Das Lehramt hat insofern „keine Führungsrolle“, sondern eine „negative Wächterfunktion“ bei der Schriftauslegung, wie Helmut Hoping betont.722 Das Institutionelle (und so auch das Amt) ist in der Kirche ein – notwendiges, selbst auch charismatisches – „Regulativ“ ihres konstitutiv charismatischen Charakters.723 Bei der Wahrheitsfindung „ist das Lehramt unbeschadet seiner echten Autorität ein partikulares Moment in einem offenen System und nicht der Punkt, von dem als innerkirchlichem her das Glaubensbewusstsein der Kirche allein und adäquat bestimmt würde.“724 Dieser funktionale und gerade darin sakramentale Dienst des Lehramtes am Wort Gottes und an der kirchlichen Gemeinschaft wurde im Laufe der Kirchengeschichte zunehmend auf den Kopf gestellt. Das I. Vatikanische Konzil markiert hier zweifellos den Höhepunkt einer solchen Entwicklung, die heute immer noch ihre düsteren Schatten wirft.725 Wolfgang Beinert kritisiert die Hypothek, die das I. Vaticanum mit seinem Lehramtszentrismus und Antimodernismus hinterlassen hat. Sie halte einer Überprüfung anhand der theologischen Erkenntnislehre letzt722

Hoping, Theologischer Kommentar, 798. Vgl. Rahner, Bemerkungen über das Charismatische, 419. 724 Rahner, Bemerkungen über das Charismatische, 426. 725 Vgl. Neuner, P., Der lange Schatten des I. Vatikanums. Wie das Konzil die Kirche noch heute blockiert, Freiburg i. Br. 2019. 723

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lich nicht stand.726 Durch die „schleichende Infallibilisierung“727 und die in ihrer Verbindlichkeit undifferenzierte Gleichsetzung lehramtlicher Äußerungen entwickelte sich eine Verpflichtung zum blinden Gehorsam gegenüber allen lehramtlichen Aussagen, die als rezeptionspflichtig gelten, auch wenn sie einer rationalen Plausibilisierung offensichtlich nicht standhalten.728 Das kirchliche Lehramt reklamierte für sich zunehmend exklusiv die authentische und verbindliche Auslegung der Hl. Schrift und die aktive Entfaltung, Deutung und Aktualisierung der Lehre – nicht nur in Krisenzeiten oder zur Verteidigung des Glaubens, sondern ordentlich und generell.729 Wenn das kirchliche Lehramt nun für sich in Anspruch nimmt, den Willen Gottes (oder Christi) wiederzugeben, so stimmt diese Handlungsbegründung aber „nur dann, wenn dieser Wille direkt geäußert ist und zweifelsfrei vorliegt“.730 Handelt es sich jedoch – wie in den meisten Fällen – um Ableitungen und Schlussfolgerungen, dann gilt: „Die Geltung der Lehramtsvorlage beruht also auf deren Belastbarkeit. Diese ist sicher gegeben, wenn die Deduktion alternativlos ist. Das ist nicht immer der Fall.“731 Problematisch wird es, wenn die Vieldeutigkeit der Hl. Schrift seitens des kirchlichen Lehramts rein autoritativ in eine alternativlose Auslegung überführt wird, die nicht durch den Glauben der Kirche und ihre Glaubenserfahrungen gedeckt ist. Die Konsensfindung der alten Kirche geschah in Konfliktfällen grundsätzlich immer durch Dialogprozesse – synodal oder konziliar. Werden nun aber, wie seit dem 19. Jh. zunehmend der Fall, durch römische Kongregationen oder politisch opportune Hoftheologen der Päpste732 einzelne Deutungen autoritär als indiskutabel festgelegt, die gar nicht mit dem realen Glauben des Gottesvolkes im 726

Beinert, W., Das Lehramt und die Krise der Kirche, in: HerKorr 3/2021, 38 – 40. Vgl. Seewald, Reform, 14, mit Bezug auf A. Schmied. 728 Vgl. Beinert, Das Lehramt, 39. 729 Damit verbunden war auch die neue Begriffsbildung eines „magisterium ordinarium“. Vgl. Unterburger, K., Vom Lehramt der Theologen zum Lehramt der Päpste? Pius XI., die Apostolische Konstitution „Deus scientarum Dominus“ und die Reform der Universitätstheologie, Freiburg i. Br. 2010, 193 –199; Seewald, Dogma im Wandel, 36 –51; Ders., Reform, 49 – 64. 730 Beinert, Das Lehramt, 39. Er verweist hier exemplarisch auf die Gesetzgebung am Sinai. Der Dekalog wird von der biblischen Tradition ja explizit als unmittelbare Willensbekundung Gottes gekennzeichnet, wie wir sahen. 731 Beinert, Das Lehramt, 39. 732 Vgl. Daufratshofer, M., Das päpstliche Lehramt auf dem Prüfstand der Geschichte. Franz Hürth SJ als „Holy Ghostwriter“ von Pius XI. und Pius XII., Freiburg i. Br. 2021. 727

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Einklang oder in der Rezeptionsgemeinschaft verankert sind, so ist insgesamt eine Verweigerung des Gehorsams gegenüber dem kirchlichen Lehramt – das den Glauben der Ortskirchen, nicht nur der Bischöfe, im Dialog mit der Weltkirche repräsentieren müsste – geradezu vorprogrammiert. Man diktiert einen vermeintlich eindeutigen und alternativlosen Sinn der Hl. Schrift, der mit dem Glaubenssinn der Gläubigen, ihrer rationalen Einsicht und ihrem freien Glaubensvollzug (der mehr ist als nur kognitive Zustimmung zu fertigen Lehren) nicht zur Deckung kommt. Es handelt sich in solchen Fällen entweder um den Subjektivismus einzelner Theologien, Amts- oder Würdenträger, deren Glaubensverständnis und theologische Privatmeinung sich von den Basiskirchen schlichtweg entkoppelt haben, oder um eine fragwürdige Verabsolutierung satzhaft gefasster Wahrheiten, die als ewig gültig und unabänderlich verstanden werden und das christliche Verständnis von inkarnierter, dialogischer Wahrheit unterlaufen, da diese sich auf die persönliche Beziehung zum göttlichen Mysterium stützt. Solche instruktionstheoretischen Verengungen auf abstrakte göttliche Lehren, die an die Stelle der Wahrheit Gottes selbst treten, verkennen, dass auch die gesicherte, bleibend gültige und treu verbürgte Erkenntnis der Wahrheit durch neue Erkenntnisse in ihrem Verständnis wachsen und dazulernen kann. Nichts anderes wird von DV 8 und GS 44 beschrieben. Das kirchliche Lehramt ist eine spezifische Bezeugungsinstanz des Glaubens, die allerdings der Schrift, der Tradition und dem Glaubensgespür des Gottesvolkes insgesamt auf eine funktionale und dienende Weise nachgeordnet ist und andere loci theologici nicht gewaltsam ersticken darf. Wo eine lehramtliche Entscheidung am Glaubenssinn der Gläubigen, an der theologischen Sachanalyse und den Erfordernissen der Zeichen der Zeit vorbei gefällt wird, ist sie nicht durch den faktischen Glauben der Kirche gedeckt und ein Dissens innerhalb des Gottesvolkes, für das eine solche Entscheidung nicht rezipierbar ist, ist dann die logische Konsequenz.733 Es handelt sich deshalb nicht nur

733

Beinert, Das Lehramt, 40, führt als Beispiel die Entscheidung von Paul VI. gegen die „künstliche“ Empfängnisverhütung an, die gegen das Votum von Fachkommissionen und gegen einen breiten Widerstand der kirchlichen Basis gefällt wurde. Beinert kommentiert: „Der Papst ließ sich nicht von unmittelbar sachbezogenen Einsichten leiten, sondern von einem theologischen Argument, welches nichts mit der Anthropologie zu tun hat: von der Tradition. Sie reicht übrigens im Wesentlichen nur bis 1930 (Pius XI., ‚Casti connubii‘). Damit wurde seine Lehre für das Kirchenvolk von heute nicht mehr rezipierbar.“ Wenn weder theologische Sachargumente noch der Dialog mit der Glaubensgemeinschaft leitend sind, so handelt es sich entweder um eine sub-

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um eine Machtfrage innerhalb der Kirche, sondern vielmehr um eine theologische, die dogmatische Erkenntnis- und Prinzipienlehre betreffende Problematik. Der vom I. Vaticanum ausgehende Schatten eines Lehramtszentrismus und Antimodernismus (mit Papst Franziskus darf man ergänzen: des Klerikalismus) ist, wie Beinert deutlich macht, nicht einfach nur eine unglückliche kirchenpolitische Fehlentscheidung. „Vielmehr steht an der Wurzel eine unvollständige, die Fundamentalergebnisse der gesamten theologischen Überlieferung missachtende, theologisch mangelhafte Verfahrensweise.“734 Zugleich sei damit das Kirchenbild des 19. Jh. mit seiner auf geschlossene Schlachtreihen bedachten Feldherrenmentalität angefragt, von dem sich das II. Vaticanum (durch Rückbesinnung auf die Hl. Schrift) bewusst distanziert. „Die Kirche ist nicht militärisch zu beschreiben, sondern als communio, Volk Gottes in Gemeinschaft. Man hat das Konzil nicht wirklich zur Geltung kommen lassen. Die Tragik der zweiten Kirchenversammlung im Vatikan liegt darin, dass der Schatten der ersten übermächtig geblieben ist.“735 Sicher ist es kein Zufall, dass das umstrittene I. Vaticanum „vielleicht das einzige Konzil [ist], das ausschließlich ‚klerikal‘ ist.“736 Es kreist um die eigene Sicht der Dinge und um eine interessengeleitete, fertig gefasste Darlegung eines fertigen Glaubens, dem nur noch zugestimmt werden muss. Lehramtliche Entscheidungsträger müssten in selbstkritischer Reflexion hingegen dafür Sorge tragen, dass sie bei ihrem Urteil nicht einem in der Kognitionspsychologie als confirmation bias bekannten Bestätigungsfehler erliegen.737 Dabei kommt es aufgrund von Voreingenom-

jektive Urteilsfindung oder um die Verabsolutierung der Stimme einer speziellen Epoche der kirchlichen Tradition und ihres Zeitgeistes. 734 Beinert, Das Lehramt, 40. 735 Beinert, Das Lehramt, 40. 736 Alberigo, Die ökumenischen Konzilien, 15. 737 Mercier, H., Confirmation bias – Myside bias, in: Pohl, R. (ed.), Cognitive illusions. Intriguing phenomena in thinking, judgment and memory, London – New York 22017, 99 –114; Mietzel, G., Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens, Göttingen 8 2007, 292. „Man ist besonders beeindruckt von Belegen, die eigene Auffassungen bekräftigen; an ihnen hält man fortan noch entschlossener fest, während man Informationen, die eigene Überzeugungen in Frage stellen, mit höchster Skepsis betrachtet. Informationen, die den eigenen Vorstellungen widersprechen, werden besonders kritisch durchleuchtet, uminterpretiert und manchmal schlechtweg ignoriert. Eine solche Tendenz tritt auch bei Lehrern auf“ – und betrifft insofern natürlich auch das kirchliche Lehramt.

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menheit zu einer selektiven Wahrnehmung, Auswahl und Interpretation neuer Informationen, die einmal getroffene Entscheidungen stützen und untermauern, sodass die eigenen Erwartungen bestätigt werden. Dieser empirisch nachweisbare Effekt gilt übrigens als besonders groß, wenn es ein Überangebot von unübersichtlichen Informationen gibt oder wenn es sich um Entscheidungen handelt, die „irreversibel“ sind.738 Widersprüchliche oder „dissonante“ Informationen werden dann gezielt ausgeblendet. Die selektive Auswahl zur harmonisierenden Auflösung konfliktiver Erfahrungen könnte in theologischer Terminologie als „häretisch“ im ursprünglichen Sinne des Wortes verstanden werden. Sie beginnt bereits dort, wo die Hl. Schrift nur nach der Maßgabe der – vermeintlich – fertigen, irreformablen Kirchenlehre selektiv rezipiert wird.739 Die Hl. Schrift und die durch sie transportierte und verbürgte Glaubensgeschichte haben sich der neuscholastischen Logik zufolge der bestehenden, ewig gültigen Lehre zu unterwerfen und anzupassen, die in ihrer aktuellen Gestalt immer nur bestätigt werden darf. Eine selbstkritische Relecture des Dogmas durch eine Vergewisserung anhand der Hl. Schrift ist hier nicht mehr erwünscht und die von Joseph Ratzinger mit Martin Luther schmerzlich vermisste Traditionskritik kann überhaupt nicht mehr stattfinden. Auch eine Berücksichtigung der problematischen Wirkungsgeschichte kirchlicher Lehre, ihrer verfehlten Rezeption oder missverständlich gewordenen Formeln, bei der zeit- und kulturbedingtes Menschenwort vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen differenziert betrachtet und vom Wort Gottes unterschieden wird, ist einfach nicht mehr vorgesehen. Wird aber eine „vorgelegte“ Lehre vom polyphonen und deutungsoffenen Kanon der Hl. Schrift und der sie lebenden Glaubensgemeinschaft mit ihren potentiell dissonanten Erfahrungswerten losgelöst, so kann diese Lehre fortan nur noch autoritativ oder nach einer subjektiv verzerrten und sich selbst bestätigenden Wahrnehmung amtskirchlicher Binnenlogik zementiert werden. Damit steht die von Michael Schmaus an Joseph Ratzinger adressierte Warnung zur Debatte, dass das objekti738 Vgl. Peus, C./Frey, D./Stöger, H., Theorie der kognitiven Dissonanz, in: Bierhoff, H.-W./Frey, D. (Hg.), Handbuch der Sozialpsychologie und Kommunikationspsychologie (Handbuch der Psychologie, Bd. 3), Göttingen 2006, 373 –379, 376. 739 Wird das AT in seiner Eigenständigkeit unterlaufen und nur noch in einem christozentrischen Reduktionismus (und damit eben nicht vollständig und in seiner Widerständigkeit) rezipiert, so liegt bereits ein klassischer Fall von selektiver Wahrnehmung und Bestätigungsverzerrung vor: Man sieht nur, was angeblich von vornherein klar ist.

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vierte Interpretations- und Diskursmaterial der verbindlichen Offenbarungszeugnisse in die subjektive Interpretation einzelner Würdenträger, Theologen oder privilegierter Peergroups hinein aufgelöst wird. Es ist insofern durchaus konsequent, aber bezeichnend, wenn für Bischof Rudolf Voderholzer ein „ekklesialer Subjektivismus“740 die Voraussetzung dafür ist, um die sich selbst affirmierende Binnenlogik kirchlicher Tradition nach- und mitvollziehen zu können. Erforderlich wäre nach der Hermeneutik des II. Vatikanischen Konzils vielmehr das von Kritikfähigkeit geprägte Eintreten in einen vielfältigen und multilateralen Dialog – mit der Welt, mit der Wissenschaft, mit den verschiedenen Perspektiven innerhalb wie außerhalb der Kirche. Denn Aufgabe des Hirtenamtes ist eben nicht die doktrinelle Selbstverteidigung nach subjektiv plausiblen Interpretationsmustern, sondern die pastorale Sorge dafür, dass christliche Lehre und christliches Leben auch heute noch in Einklang zu bringen sind, damit die soteriologische – theofinale – Ausrichtung kirchlichen Handelns wirksam zur Geltung kommt. Die Bestätigungsverzerrung und selektive Wahrnehmung eines in der Schriftauslegung vorab festgelegten, voreingenommenen Lehramtes und dessen subjektive, sich selbst affirmierende Lesart der Schrift können nur vermieden werden, wenn die Kirche insgesamt der von Papst Franziskus verordneten Haltung des Hörens und Lernens folgt, um nicht in sich selbst gerundet „autistisch“ und „krank“ zu werden.741 Die Kirche bedarf des offenen und freimütigen, von Parrhesia742 geprägten Diskurses zur je neuen Aktualisierung und Artikulierung des Glaubens anhand der Hl. Schrift und ihrer (nicht immer glanzvollen) Auslegungsgeschichte, nicht allein auf der Grundlage vorgefertigter Schemata oder verabsolutierter Deu740

Vgl. Voderholzer, Offenbarung und Kirche, 61. Vgl. Papst Franziskus, El Jesuita. Mein Leben, mein Weg. Die Gespräche mit Jorge Mario Bergoglio von S. Rubin und F. Ambrogetti, Freiburg i. Br. 2013, 84. Einer Kirche, die sich in sich selbst einigelt, drohe das Gleiche wie jemandem, der eingesperrt ist: physische und mentale Verkümmerung und die Fäulnis eines geschlossenen Raumes. Auf sich selbst fixiert, werde die Kirche „psychotisch und autistisch.“ Wer hingegen auf die Straßen gehe, riskiere zwar einen Unfall, doch der Papst zieht „eine Kirche mit Unfallrisiko tausendmal einer kranken Kirche vor“, die sich nur selbst verwaltet, um ihre kleine Herde zu bewahren. Vgl. EG, Nr. 11; 49 sowie: Papst Franziskus, Ansprache: Die Römische Kurie und der Leib Christi, vom 22.12.2014 (http://www.vatican. va/content/francesco/de/speeches/2014/december/documents/papa-francesco_201412 22_curia-romana.html). Er nennt „Krankheiten“ der Kurie, die sich auf allen kirchlichen Ebenen wiederfinden. Die Kurie steht hier repräsentativ für die Gesamtkirche und ihr klerikales Auftreten. 742 Vgl. Böhnke, Gottes Geist, 118 –132. 741

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tungsmuster privilegierter Lesarten – und seien diese noch so prominent oder altehrwürdig. So steht hier zunächst das Kirchenverständnis zur Debatte, das sich selbstkritisch am biblischen Kanon und seiner Rezeption von der Patristik bis hin zum Konziliarismus und Papalismus zu hinterfragen hat. Die exegetisch plausible Begründbarkeit einer Ekklesiologie entscheidet dann aber auch über die Qualität und Legitimität des konkreten Kirchenbildes. Nimmt man dabei den Kanon als Maßstab ernst, so hat das verengte und hierarchische Kirchenverständnis des 19 Jh. sowohl in historisch-kritischer wie auch in kanonischer Lesart jedoch kaum valide Argumente. Vielleicht wollte es sich auch deswegen selbst als das erste (und einzig entscheidende) Prinzip allen Glaubens stilisieren, über den Glauben der Gläubigen hinweg. Doch dieser zentralistische, alle anderen Bezeugungsund Vermittlungsinstanzen des Glaubens unterwerfende Anspruch monarchistischer Macht743 disqualifiziert sich angesichts der verbindlichsten Norm der Kirche – der Hl. Schrift – ganz offensichtlich selbst (vgl. Mk 10,35 – 45). Zur Debatte steht dann ebenso das jeweilige Selbstverständnis des kirchlichen Lehramtes in seiner notwendigen und unerlässlichen Funktion für die Gemeinschaft der Kirche. Denn das Lehramt dient als die verantwortliche Letztinstanz der Wahrheitsbezeugung und sakramentalen Vergegenwärtigung, jedoch nicht als Einzelspieler der Tradition. Hierin hatte sich seine Rolle nach dem Konzil von Trient gewandelt. „Das eigentlich Neue bestand darin, dass nunmehr die aktive Funktion des Lehramtes wesentlich deutlicher als in der älteren Tradition herausgestellt wurde.“744 Das Lehramt thronte auch für das Tridentinum nicht exklusiv über der Hl. Schrift. Die „Mutter Kirche“ steht zunächst über der Schriftauslegung einzelner Interpreten (vgl. DH 1507). Man richtet sich also gegen einen Subjektivismus in der Rezeption der Schrift und ver-

743 Dabei handelt es sich sicher auch um eine kontextuell bedingte Gegenreaktion auf historische Umstände, die differenziert zu betrachten wären, hier aber nicht weiter zu erörtern sind. Vgl. Neuner, Der lange Schatten, 13 –34. 744 Kasper, Das Verhältnis, 450. Das Autoritätsprinzip trete weithin an die Stelle des Traditionsprinzips. „Immer mehr wurde das hierarchische Lehramt zum Subjekt und Organ der Tradition (Giovanni Perrone; Johannes Baptist Franzelin), ja Tradition und Lehramt wurden oft miteinander identifiziert.“ (451) Den Höhepunkt bildet Pius IX. Das Lehramt habe sich in seiner amtlichen Lehre diese Zuspitzung aber nie zu eigen gemacht, so Kasper.

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weist insofern auf die Gemeinschaft der Kirche insgesamt, die verbindlich ist.745 Die Gemeinschaft des Bischofskollegiums repräsentiert das katholische Netzwerk der vielen Ortskirchen in der Einheit der einen Weltkirche. Die Bischöfe sind Mittler dieser Einheit, die in der Kirche von Rom mit ihrem Bischof, dem Papst, eine sichtbare und notwendige Mitte hat. Die Einheit in Vielfalt, die der biblische Kanon abbildet, gilt auch für die katholische Kirche. Wie die Texte der Hl. Schrift mit ihren Erfahrungen und Zeugnissen, mit ihren verschiedenen Perspektiven und Deutungen in einen wechselseitigen Dialog eintreten, so muss sich auch die Kirche, die sich diesen Kanon selbst zur apostolischen Norm gesetzt hat, auf dieses Prinzip verpflichten. Der pneumatische Plural unterschiedlicher Deutungen und Glaubenserfahrungen ist kein Makel, sondern konstitutiv. Wie der biblische Kanon, so besitzt auch die Kirche kein statisches, isolierbares Zentrum mit absoluter, eindeutiger Lehre. Verschiedene Perspektiven legen sich gegenseitig aus und bereichern sich durch verschiedene Teilaspekte der einen Wahrheit (veritates als articuli, als einzelne Glieder des Glaubens). Ihre Einheit vollzieht sich dynamisch und wird genauso asymptotisch anvisiert, wie die des Kanons: Sie richtet sich auf ihren Ursprung und auf ihr Ziel, das persönliche Wort des lebendigen Gottes, das man in seiner befreienden und erlösenden Kraft unvermischt und untrennbar mit Jesus Christus verbunden weiß. Auch Gerhard Ludwig Müller war sich – zumindest in seinen theologischen Ausführungen – der Notwendigkeit einer pluralitätssensiblen Lehramtsausübung bewusst, die auf Freiheit, das individuelle Gewissen und innerkirchliche Kommunikation bedacht sein muss: „Bischöfe und Papst sind nicht in einem exklusiven Besitz der Glaubenswahrheit und der sittlichen Normen. Sie können sich nicht einfach auf eine formale Autorität berufen, die ihnen von Christus wie von einem Religionsstifter übertragen worden ist und von der sie nur einen dekretierenden Gebrauch machen müssten. Die Bischöfe haben eine besondere Verantwortung für das gesamte Leben der Kirche. Aber sie sind nicht identisch mit dem ganzen Leben der Kirche, sondern stellen innerhalb dieses Lebens der Kirche ein wesentliches Bauelement dar. Die ganze Kirche hat die Aufgabe, die eine Offenbarung Gottes in eine solche zeitentsprechende Gestalt umzusetzen, dass sie intellektuell verantwortbar und praktisch lebbar ist […].“746

745

Vgl. auch Walter, Quelle oder Steinbruch, 87. Müller, G. L., Was ist kirchlicher Gehorsam? Zur Ausübung von Autorität in der Kirche, in: Catholica 44 (1/1990), 26 – 48, 46. 746

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Diese „Übersetzungs- und Neuinterpretationsaufgabe“ kommt demnach der gesamten Kirche, vor allem auch der wissenschaftlichen Theologie zu.747 „Weil Wahrheitserkenntnis hier immer dialogisch ist, wird die eine Wahrheit Gottes auch in der zeitgerechten Gestalt kirchlicher Lehre vom einzelnen Menschen immer in seiner konkreten Individualität auf je eigene Weise geistig ankommen und rezipiert werden.“748 Die entscheidende „Vermittlungsinstanz“ zwischen kirchlicher Lehre und der persönlichen Rezeption durch die Gläubigen ist dabei das Gewissen, das dafür steht, dass „der Mensch selbst in die personale Begegnung mit Gott und dem Anspruch seiner Liebe eintreten kann, ohne dass er entmündigt und fremdbestimmt wird und damit einfach nur noch der willenlose Erfüller eines vorgegebenen Normensystems wäre.“749 Müller plädiert vehement für eine kommunikative Ausübung und Einbindung kirchlicher Autorität: „Hier geht es nicht darum, dass das Lehramt die dadurch entstehende Pluralität in der Rezeption zu überwinden sucht, sondern gerade fördert, um dadurch die je eigene individuelle Glaubensgestalt und den ganz persönlichen Glaubensweg zur Freiheit hin zu ermöglichen. Das gleiche wäre auch zur Verkündigung moralischer Normen zu sagen. […] Hier dürfen diejenigen, die in der Kirche mit vollem Recht die Autorität des apostolischen Zeugen ausüben, den Widerstand und die Kritik am Selbstmissverständnis von Autorität oder gar am Amtsmissbrauch nicht schon als Ungehorsam gegenüber der Offenbarung und als Zerstörung der Grundlagen kirchlichen Lebens diskreditieren. Jesus selbst weist auf die Gefahr der Ausübung kirchlicher Autorität hin […]. Auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens bedarf es einer kommunikativen Ausübung von Autorität. Alle müssen je auf ihre Weise dazu beitragen, dass eine zeitentsprechende Gestalt der kirchlichen Lehre und der Weisungen in Fragen der Sittlichkeit gewonnen wird, die auch die christliche Ethik als Gestalt des Evangeliums erkennen lässt. […] Auf allen Ebenen kirchlichen Lebens und in allen Bereichen des Glaubenslebens bedürfte es einer dialogischkommunikativ wahrgenommenen Autorität. Gerade in einer stärker synodal realisierten Leitung der Kirche würde es nicht einfach nach einem bloßen Mehrheitsprinzip gehen. Der Sinn müsste gerade der sein, dass alle entspre747 Müller, Was ist kirchlicher Gehorsam, 47. In Anm. 16 fügt er hinzu: „Eine Behinderung oder abschätzige Beurteilung der fachtheologisch zu leistenden Umsetzung der Glaubenswahrheit“ im Zuge dieses rational zu verantwortenden Aktualisierungs- und Inkulturationsprozesses „müsste nicht nur zu einem schweren Schaden für die Kirche führen […], sie würde auch, falls sie von einem Bischof vorgebracht wird, einen groben Verstoß gegen seine Verantwortung für die Überlieferung und zeitentsprechende Interpretation der Offenbarung darstellen.“ 748 Müller, Was ist kirchlicher Gehorsam, 47. 749 Müller, Was ist kirchlicher Gehorsam, 47.

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chend ihrer je eigenen Aufgabe und Fähigkeit sich in einen Prozess der Entscheidung in Fragen des Glaubens und der Sittlichkeit einbringen und zu einem gemeinsam verantworteten Ergebnis kommen.“750

Es wäre dem inneren Frieden in der katholischen Kirche und den ekklesialen Dialogprozessen wohl durchaus zuträglich, wenn Müller sich auch als Bischof und Kardinal an sein leidenschaftliches Plädoyer für kommunikative Strukturen und synodale Entscheidungsfindungsprozesse erinnern könnte, die doch zu einem „gemeinsam verantworteten Ergebnis“ führen sollen. Die zunehmende Individualisierung und Subjektivierung des Glaubens zu einem tragfähigen Konsens der Glaubensgemeinschaft führen zu können, stellt heute angesichts der digitalen Vernetzung eine noch größere Herausforderung dar als früher.751 Das kirchliche Lehramt dient darum der je neuen Zusammenführung kirchlicher Tradition und Rezeption; es dient also einer vermittelnden Konsensfindung angesichts vielfältiger Glaubensund Lebensformen. Diese müssten durch die Bischöfe tatsächlich in den kirchlichen Dialog eingebracht und zu Gehör gebracht werden, weil sie nicht als Zeugen ihres privaten Glaubens, sondern als Vertreter ihrer Gemeinden752 Verantwortung tragen. Sie handeln nicht nur „in persona Christi capitis“753 – des Hauptes eines Leibes – gegenüber ihrer Gemeinde, sondern immer auch umgekehrt, indem sie stellvertretend für ihre Ge750

Müller, Was ist kirchlicher Gehorsam, 47 f. Vgl. Campbell, H./Garner, S., Networked Theology. Negotiating Faith in Digital Culture, Grand Rapids 2016, 52: „Our social networks in a network society become both highly interconnected and highly individualized.“ Die digitale Vernetzung begünstige „flattened rather than hierarchical structures“ (14). Vgl. auch Fornet-Ponse, T., Digitale Transformation, „disruptiver Wandel“ und eine synodale Kirche?, in: Ruhstorfer, K. H. (Hg.), Zwischen Progression und Regression. Streit um den Weg der katholischen Kirche, Freiburg i. Br. 2019, 389 – 406. 752 Vgl. Legrand, H., Die Entwicklung der Kirchen als verantwortliche Subjekte: Eine Anfrage an das II. Vaticanum. Theologische Grundlagen und Gedanken zu Fragen der Institution, in: Alberigo, G./Congar, Y./Pottmeyer, H. J. (Hg.), Kirche im Wandel. Eine kritische Zwischenbilanz nach dem Zweiten Vatikanum, Düsseldorf 1982, 141–174, 158: „In der traditionellen Ekklesiologie ist man nur insofern in persona Christi, als man in persona ecclesiae ist, und dies in dem Maße, als man es bleibt. Die Vermittlung des apostolischen Glaubens und der aktuellen Gemeinschaft der Kirche ist die Bedingung für jede Stellvertretung Christi. […] Das christomonistische Modell, das man allzu häufig in den Lehrbüchern findet, ist offensichtlich nicht vereinbar mit einer Kirche, die Subjekt ist, geht es doch nicht von der koinonia aus“. 753 Vgl. hierzu: Seewald, M., Der Dienst des Weiheamtes im Kontext der ekklesialen Vergegenwärtigung Christi. Problemanzeigen und Perspektiven, in: Dirscherl/Weißer (Hg.), Wirksame Zeichen, 324 –342. 751

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meinde das Wort ergreifen, die sie vor Gott und der gesamten Kirche authentisch und ehrlich repräsentieren müssten, was jedoch vielen nicht gelingt, weil sie den dafür notwendigen Dialog innerhalb ihrer Ortskirche und mit der kirchlichen Basis kaum pflegen. Würde diesem offenen und kritischen Dialog – auch mit denen, die nicht nur die eigene Sicht bestätigen – mehr Raum gegeben, dann würde auch ein wachsender Dissens innerhalb der Kirche wahr- und ernst genommen, dem eine eigene dogmatische Bedeutung zukommt, insofern er auch die Dogmengeschichte nachhaltig geprägt hat.

3.6. Dissens und christliche Kommunikationskultur Immerhin ist sich das kirchliche Lehramt inzwischen selbst der geschichtlichen Bedingtheit und Begrenztheit seiner eigenen Auslegungen im Bereich nicht infallibel definierter (d. h. nicht zu den untrüglichen Prinzipien christlichen Glaubens gehörender) Lehren durchaus bewusst, wenn es zugesteht, „dass Lehrdokumente nicht frei von Mängeln waren. Die Hirten haben nicht immer gleich alle Aspekte oder die ganze Kompliziertheit einer Frage erfasst.“754 Man weiß deshalb auch, „dass gewisse Urteile des Lehramtes in der Zeit, in der sie ausgesprochen wurden, gerechtfertigt sein konnten, weil diese Aussagen wahre Feststellungen mit anderen, die nicht sicher waren, unentwirrbar vermischt haben. Erst die Zeit hat eine Unterscheidung gestattet, und als Ergebnis vertiefter Studien kam ein wirklicher Fortschritt in der Lehre zustande.“755

754 Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion Donum veritatis über die kirchliche Berufung des Theologen (VAS 98), hg. v. Sekretariat der DBK, Bonn 1990, Nr. 24. Vgl. außerdem: Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Mysterium ecclesiae zur katholischen Lehre über die Kirche, die gegen einige heutige Irrtümer zu verteidigen ist, Rom 1973 (https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/docu ments/rc_con_cfaith_doc_19730705_mysterium-ecclesiae_ge.html), Nr. 5: „Wenn auch die Wahrheiten, die die Kirche durch ihre dogmatischen Formeln in der Tat zu lehren beabsichtigt, sich von den wandelbaren Begriffen einer gewissen Epoche unterscheiden und auch ohne diese ausgedrückt werden können, kann es andererseits mitunter geschehen, dass jene Wahrheiten ebenso vom kirchlichen Lehramt in Worten vorgetragen werden, die selbst Anzeichen einer solchen begrifflichen Bedingtheit an sich tragen.“ Zwischen Gehalt und Gestalt der dogmatischen Aussagen ist also zu differenzieren. 755 Kongregation für die Glaubenslehre, Donum veritatis, Nr. 24.

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Weil die schwierige Unterscheidung zwischen dem Notwendigen und dem Zufälligen einen „Fortschritt in der Lehre“ kennt, der auf vertiefter und differenzierter Erkenntnis beruht, ist es nicht verwunderlich, dass es auch zu „Spannungen“ zwischen wissenschaftlicher Theologie und kirchlichem Lehramt kommen kann, die in einer Haltung gegenseitiger Wertschätzung „als ein dynamisches Element und als Anregung“ gelten, die das Lehramt und die Theologie ihre jeweiligen Aufgaben im gegenseitigen Dialog besser wahrnehmen lassen.756 Dieser konstruktive (aber auch kritische) Dialog habe bei einer Gefährdung der Gemeinschaft stets der Einheit in der Wahrheit und, wo Gegensätze stehen bleiben, der Einheit in der Liebe zu dienen.757 Es könne durchaus vorkommen, so die Glaubenskongregation, dass trotz einer umfassenden Gewissensprüfung, unter Würdigung aller theologischen Argumente und in Loyalität und Liebe zur Gemeinschaft der Kirche eine abweichende Meinung gegenüber der Vorlage des Lehramtes bestehen bleibe. Betroffene sollten sich dann in „schweigendem und betendem Leiden“ mit der Gewissheit trösten, „dass, wenn es wirklich um die Wahrheit geht, diese sich notwendig am Ende durchsetzt.“758 Wie eine konstruktive Sachkritik an einer nicht unfehlbaren Lehre oder die theologische Diskussion darüber, ob ein solcher Glaubensinhalt tatsächlich vorliegt, sich dann im Zweifelsfall wirksam artikulieren soll, bleibt offen. Fraglich bleibt auch, ob hier nicht doch die Suche nach der Wahrheit den innerkirchlichen Machtverhältnissen zum Opfer fällt, wenn eine dialogische Konsensfindung im Rahmen der gesamten Glaubensgemeinschaft autoritativ unterbunden wird. Karl Lehmann stellte allerdings auch fest: „Das Lehramt unterwirft sich in diesem Text selbst der realen Möglichkeit, dass eine abweichende Meinung, wenn es um die Wahrheit geht, sich schließlich am Ende von selbst durchsetzen kann. Dies ist eher Beleg für die Demut des Lehramtes und für das Bekenntnis eigener Grenzen als für eine autoritäre Willkür des Amtes.“759 Man überlässt es also schließlich der göttlichen Eigendynamik, die sich gegebenenfalls gegen alle Widerstände, sogar gegen die des kirchlichen Lehramtes, durchzusetzen vermag. Das Wirken des Heiligen Geistes, das der Kirche insgesamt 756

Kongregation für die Glaubenslehre, Donum veritatis, Nr. 25. Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Donum veritatis, Nr. 26. 758 Kongregation für die Glaubenslehre, Donum veritatis, Nr. 31. 759 Lehmann, K., Dissensus. Überlegungen zu einem neueren dogmenhermeneutischen Grundbegriff, in: Schockenhoff, E./Walter, P. (Hg.), Dogma und Glaube. Bausteine für eine theologische Erkenntnislehre. FS für W. Kasper, Mainz 1993, 67– 87, 76. 757

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verheißen ist, wird sich dann im Volk Gottes Gehör verschaffen, mit leidenschaftlichem, prophetischem Widerspruch im Namen JHWHs, der das Heil all seiner Geschöpfe will. Die Glaubenskongregation wehrt sich dagegen, dass eine subjektive Sicht oder ein subjektives Gewissensurteil als autonome, exklusive Instanz zur Beurteilung der Wahrheit öffentlich gegen das Volk Gottes und den Glauben der Kirche ausgespielt wird.760 Das wirft aber auch die Frage auf, inwieweit die subjektive Sicht jener Theologen, die in der Glaubenskongregation ihren Dienst tun, an das Volk Gottes und den Dialog mit ihm rückgebunden ist. Auch ist ein wissenschaftlicher Diskurs und die Meinungsbildung innerhalb einer theologisch informierten Glaubensgemeinschaft kaum ohne öffentlichen Diskurs möglich – der bereits die altkirchlichen Konzilien und ihr Umfeld prägte. Es geht letztlich um einen angemessenen Kommunikationsstil bei sachlichen Differenzen. Dies betrifft immer beide Seiten, die Theologie und das Lehramt. Der Kommunikationsstil innerhalb der Kirche muss sich, so Johanna Rahner, nach dem Kommunikationsstil Gottes richten, der die Menschen „wie Freunde“ anspricht (vgl. DV 2). „Ein solches Verständnis duldet daher nicht jeden Stil und legitimiert nicht jede ekklesiale Struktur, insbesondere nicht jede Gestalt der Vollmachtsausübung.“761 Subjekt der Tradition und ekklesialen Kommunikation762 ist die diachrone ecclesia universalis, die gewährleistet, dass eine Gruppe oder das Individuum „menschlicher Verengung und Selbsttäuschung nicht ausgeliefert ist“.763 Nach Josef Wohlmuth zeichnet sich im Umfeld des Konzils von Basel ein theologisches Konzept ekklesialer Verständigung ab, bei der auch eine „Hermeneutik kommunikativer Innovation“ vor Augen steht, die mit Johannes von Sergovia zwischen „spiritueller“ und „bürokratischer“ Verständigung präzise zu unterscheiden weiß. Die bürokratische Kommunikation verläuft dabei „in den festgelegten Bahnen der Verwaltung […], betrieben von einem Heer von ‚Höflingen‘, die sich selbst verwalten und deren Hauptinteresse die eigene Laufbahn ist. Demgegenüber erscheint das Konzil in der Option der Basler Idealisten als je760

Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Donum veritatis, Nr. 27 ff. Rahner, J., Zwischen Wahrheit, 202, mit Bezug auf Pottmeyer, H.-J., Die Rolle des Papsttums im Dritten Jahrtausend (QD 179), Freiburg i. Br. 1999, 133 f. 762 Pemsel-Maier, S., Differenzierte Subjektwerdung im Volke Gottes, in: Wiederkehr (Hg.), Der Glaubenssinn, 161–181. 763 Wohlmuth, J., Verständigung in der Kirche. Untersucht an der Sprache des Konzils von Basel (TtS 19), Mainz 1983, 258. 761

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ner Freiraum menschlicher Kommunikation, in die sich göttliche Inspiration immerhin ‚einmischen‘ und die somit zu wirklicher Innovation führen kann.“764 Dadurch vermag man sich einer „individuellen, interessenbelasteten ‚curvitas‘“ als Rundung in sich selbst zu entziehen.765 Strukturierte und regelgeleitete Kommunikation wird mit einer Offenheit der Dialogprozesse verbunden: „Beides, Regelgeleitetheit und Freiheit, ist für einen ‚Konsens-im-Werden‘ bedeutsam. […] Sozialer Ausgleich und freie Meinungsäußerung sind wohl grundsätzlich zwei der Präsuppositionen dafür, dass in den konziliaren Kommunikationsprozessen mehr geschehen kann als menschliche Kommunikation: spirituelle Innovation.“766 Auf dieser Basis fordert Wohlmuth, ein „eigenes Modell der Verständigung zu entwickeln, das einer institutionell-ekklesialen Verständigung, sei es im Binnenraum der Einzelkirchen, sei es im Großraum der Ökumene, einen ganz eigenen Stempel aufdrückte. Dies müsste in entsprechender Abstufung für alle institutionalisierten Formen ekklesialer Kommunikation gelten.“767 Eine solche spirituelle, pneumatologisch geprägte Dimension kirchlicher Kommunikation, die offen ist für die kreative Kraft des schöpferischen Geistes Gottes, müsste diese Kommunikation und Kommunion von anderen Prozessen einer rein politischen oder demokratischen Mehrheitsfindung abheben. Sie lebt vom lebendigen, sensiblen Austausch, der allein zum consensus im Glauben führen kann. „Fällt ekklesiale Kommunikation dadurch aus dem bürokratischen Rahmen, dass sie Beziehungen schafft, Mauern einreißt, Interessen von Individuen und Kleingruppen, aber auch von herrschenden Gesellschaftssystemen aufdeckt und Abhängigkeiten von Herkunft und Milieu bewusstmacht?“768

Die hier geforderte „Kommunikationsmystik“769 ist eine entscheidende Grundlage dafür, dass Synodalität viel mehr ist als parlamentarische Abstimmung. Sie ist eine authentische Plattform des Heiligen Geistes, der allein ein consentire der vielfältigen sensus fidelium je neu ermöglicht. Dies setzt aber eine entsprechende „Vertrauensgemeinschaft“ und Hörbereitschaft voraus, die – verbunden mit der „prima veritas“ und der Of-

764 765 766 767 768 769

Wohlmuth, Verständigung, 258 f. Vgl. Wohlmuth, Verständigung, 259. Wohlmuth, Verständigung, 259. Wohlmuth, Verständigung, 259. Wohlmuth, Verständigung, 260. Wohlmuth, Verständigung, 260.

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fenheit für das Wort Gottes – zu dem „offensten aller Systeme“ zu werden vermag.770 Grundlage dafür ist die Zusammenkunft der Gemeinde, die auf der Ebene der Universalkirche früher auch aus pragmatischen Gründen771 nur durch bischöfliche Stellvertretung möglich war, heute aufgrund neuer Kommunikationsmittel aber durchaus erweiterbar ist, um eine möglichst umfassende und unmittelbare Begegnung in der Gemeinschaft realisieren zu können. Wenn also Papst Franziskus im Jahr 2021 einen universalkirchlichen synodalen Prozess initiierte, dann hat dieses neue Format von Synodalität immerhin das Potential, durch multimediale Möglichkeiten interaktiver Partizipation in einer gestuften, subsidiären Struktur das erste dezentrale „Konzil“ der Weltkirche zu werden, deren Zusammenkunft und Austausch die räumlichen Kapazitäten eines Petersdoms heute sicher sprengen dürfte. Dem alten Grundsatz, was alle betrifft, müsse von allen verhandelt werden, kann hier erstmals ansatzweise Rechnung getragen werden. Das geschwisterliche772 Verständigungsideal, das für das Christentum charakteristisch sein sollte, prallt in der Kirchengeschichte immer wieder auf die harte Realität. Bei intersubjektiven und interinstitutionellen Verständigungsprozessen bestand und besteht die Gefahr politischer Interessen, des Machtmissbrauchs, der „Verschleppung, der Gruppen- und Koalitionsbildung, die die Sache nicht vorankommen lässt“.773 Solche „Schattenseiten“ dürfen nicht geleugnet werden. „Aber die Anerkennung der Grenzen auch einer ekklesialen Kommunikation ist vielleicht schon jener Anfang notwendiger Therapie, die die Mitglieder einer ekklesialen Kommunikationsgemeinschaft aus der kommunikationsfeindlichen Haltung der ‚curvitas‘ in die Offenheit auf Wahrheit hin (rectitudo) bewegt.“774 Wird ein Dissens vorschnell als diabolischer Akt verteufelt, besteht die Gefahr, Verständigung durch ein derart dualistisches Schwarz-WeißSchema zu verunmöglichen, weil die Gegenseite immer schon bekämpft 770

Vgl. Wohlmuth, Verständigung, 260. Mobilität, finanzielle Mittel, Zeit, Bildung und viele andere Faktoren mussten zwangsläufig dazu führen, dass vor allem die Bischöfe als Repräsentanten ihrer Gemeinden die Reise zu Synoden und Konzilien antraten. 772 Vgl. Papst Franziskus, Enzyklika Fratelli tutti über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 227), Bonn 2020. 773 Vgl. Wohlmuth, Verständigung, 266 f. 774 Wohlmuth, Verständigung, 267. 771

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und eliminiert werden muss.775 Gerade hierin zeigt sich aber die eigene, je persönliche Anfälligkeit für die Sünde, die sich dann natürlich auch in Strukturen der Kirche manifestieren kann.776 „Es scheint mit der […] menschlichen ‚curvitas‘ selbst zusammenzuhängen, dass die Unfähigkeit zur Kommunikation zuerst und zuletzt darin besteht, den anderen gar nicht Gesprächspartner sein oder werden zu lassen, weil er schon vorweg als einem verkehrten System, einer verkehrten Partei, einer verkehrten Rasse, einer verkehrten Zeit usw. angehörig erscheint. Immer markiert das ‚verkehrt‘, dass das jeweilige Ich auf der ‚richtigen‘, hellen, wahren Seite beheimatet ist.“777

Es ist eine sündhafte Rundung in sich selbst, die darin besteht, dass man eigene Vorurteile und die voreilige Verurteilung der Anderen dem aufrichtigen Bemühen um Verstehen vorzieht, das mit einem selbstkritischen Blick in den Spiegel verbunden sein sollte, der die Frage aufwirft, ob vielleicht ich es sein könnte, der verhindert, dass andere mit der universalen Barmherzigkeit Gottes glaubwürdig und spürbar in Kontakt kommen. „Aber, sagt sich der theologisierende Monsignore, mir scheint, ich falle unter keine dieser Kategorien. Und schon ist ihm das Gebet auf den Lippen: ‚O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie Räuber, Betrüger, Ehebrecher – oder wie dieser Zöllner da‘ (Lk 18,11). […] Es kann als ein die Theologiegeschichte durchziehendes Motiv gelten, dass dort, wo man die Hölle mit einer ‚massa damnata‘ von Sündern füllt, man durch irgendeinen bewussten oder unbewussten Trick sich (vielleicht vorsichtig, aber doch getrost) auf die andere Seite stellt.“778

Besinnt sich die Kirche jedoch auf den „transzendentalen Grund“779 ihrer Gemeinschaft und Verständigung, so kann sie diesem anklagenden (wörtlich: satanischen) Freund-Feind-Schema entrinnen, dem sie in ihrer Geschichte oft genug verfallen ist und das auch heute durch das Gesprächsklima in „social Media“ befeuert wird. Dass das II. Vaticanum nicht vorschnell den Weg der Ab- und Ausgrenzung, des verfluchenden Anathemas, sondern des offenen, obgleich durchaus differenzierten und kritischen Dialogs beschreitet, der zunächst um Konsens aus Verständnis und Verständigung bemüht ist, dürfte hier wegweisend sein. 775

Vgl. Wohlmuth, Verständigung, 268. Vgl. Kasper, Katholische Kirche, 247–254, bes. 249. 777 Wohlmuth, Verständigung, 268 f. 778 Balthasar, H. U. v., Kleiner Diskurs über die Hölle. Apokatastasis, Einsiedeln 4 2007, 38 f. 779 Wohlmuth, Verständigung, 269. 776

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In der kirchlichen Kommunikation bedingen sich Freiheit und Konsens – schon in der Gestalt von fides qua und fides quae – stets gegenseitig, womit auch eine Differenz zu totalitären und diktatorischen, in sich geschlossenen Systemen markiert sein sollte, die zwangsläufig Dissens generieren, um diesen sogleich entschieden zu bekämpfen.780 Damit steht die Frage nach der Rezeption781 und Rezipierbarkeit der gemeinsam getragenen Überzeugungen und Beschlüsse – dogmata (Apg 16,4) – durch eine kirchliche Gemeinschaft aus mündigen Gläubigen im Raum. Wenn Rezeption aber stets ein reziprokes Geschehen ist, „dann haben nicht nur die Rezipienten vom (Lehr)Amt zu lernen, sondern ebenso umgekehrt.“782 Die begründete Nicht-Rezeption einer kirchlichen Lehre sei, so Otto Hermann Pesch, auch ein Zeichen dafür, dass diese Lehre in ihrer aktuellen Form als bedingt förderlich für das Glaubensleben erachtet wird.783 Rezeption meint daher, schon nach altkirchlichem Muster, nicht einfach Gehorsam. Sie impliziert ein eigenes Urteil der Rezipierenden.784 Die für den Glaubensakt relevante Rezeption aus Einsicht und Überzeugung meint „einen Vorgang, dessen Ergebnis, dem Konsens der Ortskirchen, die Bedeutung eines Wahrheitskriteriums zukommt.“785 780

Vgl. Wohlmuth, Verständigung, 265 f. Vgl. Beinert, W., Die Rezeption und ihre Bedeutung für Leben und Lehre der Kirche, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis II, 193 –218; Rahner, K., Offizielle Glaubenslehre der Kirche und faktische Gläubigkeit des Volkes, in: Ders., Schriften zur Theologie XVI, 217–230. 782 Pesch, Schriftauslegung, 286. „Es kann eine kirchliche und gläubige Pflicht zur Nicht-Rezeption geben, wenn eine kirchliche Lehre offenkundig dem in der Heiligen Schrift bezeugten Evangelium widerspricht.“ Es könne aber sein, „dass eine solche Frage nach der Evangeliumsgemäßheit einer kirchlichen Lehrverkündigung nicht auf Anhieb eindeutig zu beantworten ist, vielmehr Konflikte kostet – so dass christlicher, buchstäblich ‚Geist‘-erfüllter Stil solcher Konflikte von den Kontrahenten je das gleiche Maß an Selbstrelativierung fordert, wie man von der Gegenseite erwartet.“ (287) Erneut stellt sich die Frage nach einem christlichen Kommunikationsstil. 783 Vgl. Pesch, Schriftauslegung, 286. 784 Vgl. Congar, Y., Die Rezeption als ekklesiologische Realität, in: Concilium 8 (1972), 500 –514; Pottmeyer, H. J., Rezeption und Gehorsam – Aktuelle Aspekte der wiederentdeckten Realität „Rezeption“, in: Beinert, W. (Hg.), Glaube als Zustimmung. Zur Interpretation kirchlicher Rezeptionsvorgänge (QD 131), Freiburg i. Br. 1991, 51– 91. 785 Pottmeyer, Rezeption, 57. „Der Verdacht, es handele sich dabei nur um die Normativität des Faktischen, ist dann entkräftet, wenn die Zustimmung, die sich in der Rezeption und im Konsens äußert, auf einem begründeten Urteil der Rezipierenden beruht, bei dem der geistgeleitete sensus fidei der Ortskirchen als wirksam geglaubt wird. Grundlage dieses Verständnisses von Rezeption ist deshalb eine pneumatologisch begründete Communio-Ekklesiologie.“ 781

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War diese Form der Rezeption in der Alten Kirche – und letztlich schon in der Schriftwerdung des biblischen Kanons – ein entscheidendes Kriterium, so wird in Gefolge des I. Vaticanums sowie der restaurativen Bemühungen der letzten Jahrzehnte, ausgehend von „Humanae vitae“, ein ekklesiologisch und amtstheologisch problematischer Autoritarismus verstärkt: „Da hier die Rezeption aus Einsicht und aufgrund des Urteils der Ortskirchen nicht gelingt, soll die Rezeption aus Gehorsam urgiert und mit disziplinarischen Mitteln durchgesetzt werden.“786 Wenn Einsicht und Überzeugung ausbleiben, wird Gehorsam bemüht und gegebenenfalls erzwungen. Mit der persönlichen Glaubensentscheidung und einer pneumatologisch fundierten Erkenntnistheorie hat ein solch plausibilitätsfreier, formaler Gehorsamsakt jedoch nicht mehr viel zu tun. Und genau hierin liegt die gegenwärtige Autoritätskrise des kirchlichen Lehramtes, das sich zu oft auf seine kirchenrechtliche Autorität beruft, statt theologisch sauber zu argumentieren.787 Die sakramentale Verantwortung, die überzeugende Zeugen für die Überlieferung haben, wird von einer juridischen Auffassung des Lehramts verschlungen, die dann formalistisch die eigene Autorität über die Wahrheitserkenntnis innerhalb der Glaubensgemeinschaft stellt.788 Hermann Josef Pottmeyer spricht von einem „Aufgehen des magisterium in der potestas iurisdictionis, das die normative Glaubensverkündigung immer mehr zu einer Lehrgesetzgebung geraten ließ.“789 Dieser Trend des 19. Jh. hat sich – gegen das II. Vaticanum – in den vergangenen Jahrzehnten erneut etabliert. Nicht mehr die in der Überlieferungsgemeinschaft verankerte Wahrheitsfindung und die dafür erforderlichen Such- und Unterscheidungsprozesse standen im Mittelpunkt, sondern eine formale Amtsgewalt, die ihre schwindende Überzeugungskraft durch Zwang zu sichern versuchte. Die Dogmatik wurde still und leise vom Kirchenrecht verdrängt. „Das Gewicht lag immer mehr auf der Entscheidungsbefugnis der rechtssetzenden Instanz, während der Entscheidungsvorgang, einschließlich der Entscheidungsvorbereitung oder – wie im Fall des Lehramtes – der Wahrheitsfindung, in den Hintergrund trat.“790

786

Pottmeyer, Rezeption, 61. Vgl. Rahner, K., Das kirchliche Lehramt in der heutigen Autoritätskrise, in: Ders., Schriften zur Theologie IX, 339 –365. 788 Vgl. Pottmeyer, Rezeption, 62 f. 789 Pottmeyer, Rezeption, 63. 790 Pottmeyer, Rezeption, 63. „Die Kirche übernahm für sich das Rechtsdenken des 787

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Die Frage nach der Würde des Gewissens im Zusammenhang mit der konkreten Bestimmung der Glaubenswahrheit wurde ebenso verdrängt wie die subsidiäre Struktur der Kirche, die auch den Vorrang der Person vor der Institution gewährleisten müsste. „Die Geistvergessenheit des kirchlichen Gesetzbuches, des Codex Iuris Canonici von 1983, der den Begriff des Glaubenssinns der Gläubigen unterschlagen hat, zeigt, dass institutionelle Geistvergessenheit durchaus pneumatomachische Züge annehmen kann.“791 Gegen ihre eigentliche Intention, der Wahrheit792 zu ihrem Recht zu verhelfen, haben wohl auch Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. zu dieser Akzentverlagerung – weg von der gesamtkirchlichen Wahrheitssuche hin zur formalen Verrechtlichung qua Amtsgewalt – teilweise unbewusst mit beigetragen.793 Vor diesem Hintergrund liest sich

modernen zentralistischen Obrigkeitsstaates, um zur Abwehr seiner Ansprüche und Übergriffe ihre eigene Souveränität zu behaupten und wirksam durchzusetzen.“ 791 Böhnke, Geist Gottes, 121 f. 792 Vgl. exemplarisch: Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio über das Verhältnis von Glaube und Vernunft, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 135), Bonn 72014, Nr. 24 –35; Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in der Liebe und in der Wahrheit, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 186), Bonn 2009, Nr. 4. 793 Vgl. dazu Pottmeyer, Rezeption, 62, mit konkreten Beispielen. Vgl. auch Lüdecke, N., Vom Lehramt zur Heiligen Schrift. Kanonistische Fallskizze zur Exegetenkontrolle, in: Busse, U./Reichardt, M./Theobald, M. (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung. FS für R. Hoppe, Göttingen 2011, 501–525. Der skizzierte Fall zeigt, dass im Zweifelsfall die „formale Lehrautorität“ bemüht wird, während „die (bibel-)theologischen Argumente“ keine Beachtung finden, weil eine „Diskursgemeinschaft Gleichberechtigter“ gar nicht intendiert sei (510). Vgl. ebd.: „Die Autorität des authentischen […] Lehramts in Glaubens- und Sittensachen ist nicht argumentationsabhängig, sondern formaler Natur“ – glauben zumindest Vertreter eines formalistisch verengten Kirchenrechts. Ebd., 521: „Ein katholischer Exeget, der diesen Namen im amtlichen Sinn verdienen will, beginnt hermeneutisch beim Lehramt und interpretiert die Heilige Schrift so, dass das Lehramt sich darin wieder erkennen kann, damit sein Weg wie alle Wege in Rom endet.“ Ratzinger hingegen scheint sich im konkreten Fall der Argumentation seines Freundes Mußner anzuschließen, der ihn in einem Brief freundlich daran erinnerte, dass in der Kirche als öffentlichem „Anwesen“ doch „über jedes Thema offen diskutiert werden darf, auch wenn es zu ihm Äußerungen des Papstes gibt“ (zitiert nach Lüdecke, Vom Lehramt, 517). Der Dialog dürfe „nicht zwangsweise unterbunden werden“. Diese Auffassung teilt der spätere Papst Benedikt XVI., Caritas in veritate, Nr. 4: „Denn die Wahrheit ist ‚lógos‘, der ‚diá-logos‘ schafft und damit Austausch und Gemeinschaft bewirkt. Indem die Wahrheit die Menschen aus den subjektiven Meinungen und Empfindungen herausholt, gibt sie ihnen die Möglichkeit, kulturelle und geschichtliche Festlegungen

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eine rhetorische Frage Ratzingers wie eine kritische Anfrage an ihn selbst. Muss sich die maßgeblich von ihm mitgeprägte Amtskirche der letzten Jahrzehnte nämlich nicht der Kritik stellen, „dass sie in einem Zuviel an Sorge mitunter zuviel verlautbart, zuviel normiert, dass so manche Normen wohl eher dazu beigetragen haben, das Jahrhundert dem Unglauben zu überlassen, als es davor zu retten, dass sie mit anderen Worten mitunter zuwenig Vertrauen in die sieghafte Kraft der Wahrheit setzt, die im Glauben lebt; dass sie sich hinter äußeren Sicherheiten verschanzt, anstatt der Wahrheit zu vertrauen, die in der Freiheit lebt und solche Behütungen gar nicht nötig hat?“794

Rezeption und Konsens der Gemeinde seien aber nicht die letzten Kriterien für die Beurteilung der Lehre, mahnt Wolfhart Pannenberg. „Auch die Gemeinde kann irren. Ein faktisch festzustellender Konsensus kann bloße Konvention sein und auf den Moden der Zeit oder auch auf traditionsbestimmten Denk- und Sprachgewohnheiten beruhen im Unterschied zum Evangelium. Umgekehrt kann auch der Widerspruch gegen die Lehrverkündigung der Kirche in solchen Gewohnheiten oder Neigungen gründen statt in der Bindung an das Evangelium. Die Glaubenden sind berechtigt und verpflichtet zur Prüfung der Lehre der Kirche. Aber der Maßstab dafür muss das Evangelium sein.“795 Für Pannenberg müssen Rezeption und Konsens seitens der Gläubigen daher „das Ergebnis der Prüfung auf Übereinstimmung mit dem Zeugnis der Schrift“ sein.796 Aber wer entscheidet über die „Evangeliumsgemäßheit“ und darüber, was „übereinstimmt mit dem Zeugnis der Schrift“, wenn diese in sich mehrdeutig ist? Es ist interessant, dass hier von evangelischer Seite auf das „Predigtamt“797 des Bischofs rekurriert wird, das eine „doctrinam dissentientem“ verwerfen soll (CA XXVIII). Aber auch der Bischof kann im Zweifelsfall der Subjektivität der eigenen Auslegung erliegen – eine Gefahr, die man auf katholischer Seite eigentlich dadurch vermeiden will, dass das Bischofskollegium, die Tradition und die Gesamtkirche in die Auslegung einbezogen werden. Erst am Ende dieses Prozesses bedarf es einer Entscheidung. Bei Pannenberg bleibt die Verantwortung dafür vage. Die Lehre soll dem zu überwinden und in der Beurteilung von Wert und Wesen der Dinge einander zu begegnen.“ Das gilt für Vertreter des Lehramts wie auch der Theologie. 794 Ratzinger, Das neue Volk Gottes, 265. 795 Pannenberg, W., Bleiben in der Wahrheit als Thema reformatorischer Theologie, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis II, 122–134, 127. 796 Pannenberg, Bleiben in der Wahrheit, 127 f. 797 Vgl. Pannenberg, Bleiben in der Wahrheit, 128, mit Bezug auf CA 28.

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Evangelium entsprechen; ob dies der Fall ist, entscheidet das Predigtamt; dieses wird wiederum gemessen am Evangelium, dessen präzise Bestimmung aber die Aufgabe des Amtes selbst ist … Dieser hermeneutische Zirkel hilft folglich nicht weiter. Die postulierte „Wechselbeziehung“ führt dazu, dass es letztlich eben doch an den Gläubigen ist, „die Lehre der Amtsträger zu prüfen, ob sie denn wirklich dem Evangelium entspricht.“798 Der Konsens der Gläubigen könne aber nicht die Legitimität oder Illegitimität der Lehre verbürgen.799 So wird „die Autorität des Evangeliums“ übergeordnet, das in der Anwendung auf aktuelle Fragen aber doch gerade selbst auslegungsbedürftig ist. Dies erfordere dann „gegenseitige Korrektur“. Egal wie man diese offensichtliche Aporie in Pannenbergs Hermeneutik dreht und wendet, an der gemeinsamen Interpretationsaufgabe und Rezeption der Gesamtkirche als Gemeinschaft im Hören des Wortes und an der Notwendigkeit finaler Entscheidungsträger, die einen diachronen Konsens im Glauben ermitteln und vermitteln, führt letztlich kein Weg vorbei.800 Ganz einfach deswegen nicht, weil das Evangelium, dem alle Auslegung entsprechen soll, aus guten Gründen – schon im Kanon – nur in der Pluralität verschiedener Stimmen gegeben ist. Spannungen im Glauben waren für das Glaubensleben der katholischen Kirche, die eine Einheit in Vielfalt darstellt, daher ursprünglich immer normal und – entgegen der totalitären Ideologie der Neuscholastik – auch völlig legitim, solange sie die Gemeinschaft im Glauben nicht durch gegenseitige Verurteilung spalten und auf dem Boden des gesamtkirchlich anerkannten Glaubens stehen. Einem bewusst gesuchten, die Gemeinschaft im Glauben zersetzenden Dissens im Sinne einer grundsätzlichen, systematisch organisierten Opposition muss das kirchliche Lehramt im Namen der Einheit und Gemeinschaft natürlich entgegentreten, um dauerhaft die Einheit und die Identität der Kirche wahren zu können.801 Solcher Dissens wird (in diesem spezifischen Sinn) aber mehr oder weniger mit Spaltung und Schisma gleichgesetzt.802 Wird also ein so verstandener und damit eher karikierter803 Dissens, der mit der heute geläufigen Verwendung des Begriffs 798

Vgl. Pannenberg, Bleiben in der Wahrheit, 128. Vgl. Pannenberg, Bleiben in der Wahrheit, 129. 800 Vgl. Pottmeyer, H. J., Bleiben in der Wahrheit. Verbindlichkeit des Glaubenszeugnisses der Kirche aus katholischer Sicht, in: Pannenberg/Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis II, 135 –156. 801 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Donum veritatis, Nr. 32– 41. 802 Vgl. Drumm, J., Dissens, in: LThK3 3, 268 –269. 803 Vgl. die profunde Analyse bei Lehmann, Dissensus, 77– 81. Die Zusammenarbeit 799

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(als Meinungsverschiedenheit hinsichtlich einer bestimmten Sachfrage) nicht allzu viel zu tun hat, verurteilt, so ist hier die Begriffsgeschichte, gerade im amerikanischen Kontext, mit zu berücksichtigen.804 Nicht jeder begründete Widerspruch und nicht alle innerkirchlichen Differenzen markieren aber sofort einen Bruch mit der katholischen Einheit. Jedenfalls ist eine differenziertere Sicht nötig, die eine abweichende Haltung zu jenen Lehren, die nicht untrüglich in der Selbstoffenbarung Gottes verankert und definitiv verbindlich sind, grundsätzlich legitimiert, solange eine abweichende Auslegung sachlich begründet ist und sich nicht rein subjektivistisch gegen die Gemeinschaft stellt, indem sie sich, die Einheit zersetzend, dem Dialog und der Konsensfindung verweigert.805 Es handelt sich dabei neben theologischer Sachkritik auch um persönliche Gewissensurteile, die nach reiflicher Prüfung und Schulung des eigenen Gewissens artikuliert werden (und aus Sicht des Kirchenrechts sogar artikuliert werden müssen806), aber nicht der kirchenpolitischen Instrumentalisierung verfallen sollen.807 In solchen Fällen handelt es sich, streng genommen, aber gar nicht um einen Dissens zu einer vermeintlich feststehenden und unveränderlichen „Vorlage“ des kirchlichen Lehramtes, das ein Deutungsmonopol für sich beanspruchen könnte, sondern um eine völlig legitime Artikulation des sensus fidei, der an den pluralen Sinnhorizonten partizipiert, die in der Hl. Schrift angelegt sind, in ihrer Rezeption durch die Überlieferung entfaltet werden und im Hören auf die sachlich zu begründenden Urteile des kirchlichen Lehramtes zu einem Konsens geführt werden. Es sind daher legitime Stimmen in einem offenen Diskurs um das richtige Auslegen und Ausleben des Glaubens in seiner jeweiligen Zeit und Kultur. Um bei dieser – nach dem Muster des Kanons – zunächst dissonant von Lehramt und Theologie, die positive Bedeutung der öffentlichen Vermittlung theologischer Fragen wie auch die Dignität theologischer Pluralität fehlten in der Instruktion „fast gänzlich“ (79). So entstehe eine „holzschnittartige Vereinfachung“, die teilweise zu wenig differenziert sei. 804 Vgl. dazu Lehmann, Dissensus, 81– 85. 805 Vgl. Sekretariat der DBK (Hg.), Schreiben der Deutschen Bischöfe an alle, die von der Kirche mit der Glaubensverkündigung beauftragt worden sind, 1967 (https://www. dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/deutsche-bischoefe/DB_0-1.pdf), Nr. 19, wo durchaus eine „der vorläufigen kirchlichen Lehräußerung entgegengesetzte Meinung“ zugestanden wird, solange sie keine „subjektive Überheblichkeit und voreilige Besserwisserei“ darstellt. Auf dieser Linie liegt auch die „Königsteiner Erklärung“ von 1968. 806 Vgl. can. 212 § 3 CIC. 807 Vgl. Lehmann, Dissensus, 85 ff.

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erscheinenden Vielstimmigkeit oder sogar Unstimmigkeit eine theologisch begründete Unterscheidung und Entscheidung treffen zu können, braucht es valide dogmatische Kriterien. Und es bedarf neben der persönlichen Verantwortung der Amtsträger institutioneller Strukturen, die eine dialogische Konsensfindung auf der Basis verbindlicher und irreversibel gültiger Wegmarken der Auslegung ermöglichen. Die Suche nach dem universalen Wort Gottes inmitten zeit- und kulturbedingter menschlicher Überlieferungen ist auf eine universale und konkrete, dezentrale, im wahrsten Wortsinn katholische Hermeneutik verwiesen: Sie verbindet Einheit mit Vielfalt zu einer dynamischen Sendung, die durch eine lebendig kommunizierende communio getragen wird, denn: „Wahrheit gewinnen wir immer nur im Austausch.“808 Dies erfordert auch eine entsprechende Sensibilität für die Pluralität der Wahrheitsgestalten, den Prozess der Konsenssuche und die „viatorische Konvergenz“ auf jene Wahrheit hin, die letztlich auch unter eschatologischem Vorbehalt steht.809 Es ist insbesondere die Aufgabe des kirchlichen Lehramtes, die Überlieferung und die aktuelle Gestalt der Lehre an der anvisierten Wahrheit Gottes immer wieder neu zu bemessen – durch eine Vergewisserung des Ursprungs und ein „Ressourcement aus der Schrift“.810 Dietrich Wiederkehr verbindet damit einen mehrfachen Prozess der Vergewisserung: „Durch Wiederaktualisierung von vergessener Tradition kann geradezu revolutionäre Vergegenwärtigung gewonnen und entbunden werden“, die bei aller Vergewisserung der Traditionskontinuität auch begründete Traditionskritik und dezentrale Inkulturation ermöglicht.811 Grundlage dafür ist aber eine „Vergewisserung der gegenseitigen Kommunikation“812 und eine selbstkritische „Vergewisserung der eschatologischen Offenheit“ in der Wahrheitssuche.813 Als Beispiel ließen sich die Auseinandersetzungen im sogenannten Gnadenstreit zwischen Thomisten und Molinisten anführen, bei dem man seitens des kirchlichen Lehramtes schließlich einforderte, auf gegenseitige Verurteilungen und eine definitive Antwort zu verzich808

Lehmann, Dissensus, 87. Vgl. Wiederkehr, D., Sensus vor Consensus: auf dem Weg zu einem partizipativen Glauben – Reflexionen einer Wahrheitspolitik, in: Wiederkehr (Hg.), Der Glaubenssinn, 182–206, 197. 810 Wiederkehr, Sensus, 200. 811 Vgl. Wiederkehr, Sensus 200 f. 812 Vgl. Wiederkehr, Sensus, 201. 813 Vgl. Wiederkehr, Sensus, 202. 809

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ten.814 Hier zeigte das Magisterium wahre Größe durch seine Bescheidenheit, unterschiedliche theologische Schulmeinungen und Zugänge zunächst laufen zu lassen. Die Geduld, offene Streitfragen nicht vorzeitig und autoritär zu entscheiden und vorschnell Verurteilungen auszusprechen, ist in der Neuzeit angesichts des zentralistischen Kirchenverständnisses jedoch immer seltener geworden.815 Der offene Prozess der Wahrheitssuche und die gemeinsame Konsensfindung brauchen Zeit, Geduld und das ehrliche Interesse daran, die Anliegen der je anderen Partei zu verstehen, ohne eigene Macht und Deutungsmonopole manipulativ durchzusetzen. Für solche Vergewisserung bürgt eigentlich das Lehramt, das seit dem 19. Jh. aber zunehmend selbst Partei ergriff, indem es selbst aktiv in theologische Diskurse eingriff und eine erwünschte Theologie monopolisierte. Insofern bedarf es nicht nur einer entsprechenden Kommunikationsstruktur, sondern auch einer angemessenen Kommunikationskultur.816 Sie kann sich freilich am Paradigma des biblischen Kanons orientieren, um den Prozess der Wahrheitssuche und diachronen Konsensfindung durch Vergewisserung und Aktualisierung auch heute zu bewältigen. „So neu und unerfahren wir in diesen Prozess eintreten, so haben wir dafür ein geschichtliches Beispiel: die Pluralität der Schriften“ im biblischen Kanon.817 Auch hier gibt es nicht die eine dominierende, maßgebliche Schrift oder den absoluten Maßstab, sondern nur eine „intentionale Konvergenz“ auf das gemeinsame Ziel des Glaubens hin, die sich dynamisch und vielstimmig vollzieht und dabei doch geschichtlich rückgebunden weiß. „Die sich so niederschlagenden Schriften haben ihren Konsens im gemeinsamen Ursprungsbezug, in einer gegenseitigen Kommunikation und in einer gemeinsamen eschatologischen Blickrichtung. Dem offenen Ursprung entspricht ein offenes Ende: Konsens in der Wahrheit gibt es nur als Konvergenz auf Wahrheit hin, als Prozess mit ‚open end‘.“818 Wohin die in Jesus Christus erfahrbar gewordene und eschatologisch bewährte Wahrheit des inkarnierten Wortes Gottes morgen führen wird, was sie für diese Zeit erfordern wird, ist heute noch nicht absehbar, denn ihr konkreter Gehalt kennt viele Ausgestaltungen. 814 Vgl. Clemens XII. mit seiner Bulle Apostolicae providentiae officio von 1733 (DH 2509 f.). 815 Vgl. Wiederkehr, Sensus, 202. 816 Vgl. Wiederkehr, Sensus, 203. 817 Wiederkehr, Sensus, 205. 818 Wiederkehr, Sensus, 205.

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Dies demonstriert der Kanon. Wo die Möglichkeit zum kritischen Dialog der einzelnen sensus nicht möglich und gegeben ist, bleibt der consensus fidelium nur eine leere Formel und die reale Einheit der Glaubensgemeinschaft rückt früher oder später in unerreichbare Ferne. Wer die freie Artikulation der pluralen sensus und ihr Gespräch miteinander unterdrückt, provoziert dann tatsächlich maximalen dissensus, der stets Spaltung, Austritt und Traditionsabbruch generiert. Die Reformation ist der beste Beweis dafür. Der potentielle Widerspruch durch den sensus fidelium als traditionsund institutionskritischer Instanz gegenüber bestehenden Strukturen der Kirche oder Teilaspekten ihrer Lehre wird auch von der Internationalen Theologischen Kommission erwähnt, aber als kirchliche Realität nicht ausreichend gewürdigt.819 Im Zweifelsfall wird die prophetische Kraft, die dem Glaubenssinn der Gläubigen innewohnt, entgegen der pneumatologischen Argumentation abgewürgt, wenn es nur die „Hirten“ der Kirche sind, die nach ihrem (subjektiven?) Befinden über die „Echtheit“ der sensus (im Plural) entscheiden dürfen. Es besteht die Gefahr der Entmündigung, zumindest aber einer Bevormundung im Glauben. Somit steht die kritische Frage im Raum, inwieweit die katholische Kirche und ihre polyphone Tradition tatsächlich pluralitätsfähig sind und sich auch gegen exkludierende „Vereindeutigungsstrategien“ mit der rein binären Struktur von orthodox/abweichend als konfliktfähig erweisen.820 Der sensible Dialog mit dem Judentum und seiner Hermeneutik könnte hier auch neue ökumenische Perspektiven eröffnen.821 819 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 63. „Alarmiert durch ihren sensus fidei, können die einzelnen Gläubigen ihre Zustimmung sogar gegenüber den Lehren legitimierter Hirten verweigern, wenn sie in den Lehren die Stimme Christi, des Guten Hirten, nicht erkennen.“ In einer Fußnote (Anm. 78) bezieht man sich auf Thomas von Aquin, für den der „Habitus“ des Glaubens die Gläubigen bei einer Verweigerung ihrer Zustimmung gegenüber dem Bischof ins Recht setzt, wenn dieser gegen den Glauben predigt. Denn der „Habitus“ des Glaubens lehre, „was immer zur Erlösung führt“. Somit bildet die soteriologische Ausrichtung des christlichen Glaubens auch hier eine valide Orientierungshilfe. 820 Vgl. Werner, G., „Diese Menschen müssen uns doch etwas zu sagen haben!“ Dissens und Konflikt als Zeichen der Zeit, in: Lebendige Seelsorge 69 (5/2018), 313 –318. Vgl. auch: Gaillardetz, R., Beyond Dissent: Reflections on the Possibilities of a Pastoral Magisterium in Today’s Church, in: Horizons 45 (1/2018), 132–136; Gruber, J., Umwertungen: Dissens als ekklesiologisches Prinzip, in: Slunitschek/Bremer (Hg.), Der Glaubenssinn, 301–317. 821 Vgl. Fornet-Ponse, T., Ökumene in drei Dimensionen. Jüdische Anstöße für die innerchristliche Ökumene (JThF 19), Münster 2011.

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Eine katholische Konfliktkultur könnte, richtig verstanden, die Ablehnung geschichtlich und kulturell bedingter Teilaspekte christlichen Glaubens angesichts ambivalenter und divergierender Erfahrungen begründen, um durch wechselseitige Lernprozesse zu einem differenzierten Konsens zu gelangen.822 Das Lernpotential, das sich aus Konflikten und Widerständen ergibt, kann als Gnade verstanden und gewürdigt werden.823 Die Notwendigkeit des Zuhörens und aufeinander Hörens im synodalen Miteinander lässt die kreativen, schöpferischen Nuancen des Wortes Gottes vernehmbar werden, das zu einem consentire im Heiligen Geist aufruft.824 Das schließt freilich ein verantwortungsbewusstes Machtwort dort nicht aus, wo die Glaubensgemeinschaft in ihren Grundfesten unterlaufen und der verbindliche Ursprung mit seiner verbindenden – theofinalen – Zielsetzung preisgegeben wird. Doch wo es solche Bevollmächtigung zur Unterscheidung und Entscheidung gibt, ist leider auch die Gefahr von Machtmissbrauch nicht weit.

3.7. Gefahr von Verdrängung und Machtmissbrauch im Rezeptionsprozess Die Dogmatik darf sich in diesem Zusammenhang nicht auf die amtliche „Siegergeschichte“ kirchlicher Tradition beschränken. Für eine genuin christliche Überlieferungs- und Geschichtshermeneutik steht wesentlich auch die memoria passionis im Mittelpunkt. Sie erfasst auch jene, deren Anliegen (oftmals zu Unrecht) verunglimpft und verdammt wurden, ohne dass man ihnen rückblickend wirklich gerecht wurde. Eine damnatio memoriae, die nicht nur auf Vergessen, sondern auf ein Verfluchen des Andenkens zielt, lässt unliebsame Erinnerungen verblassen und widersprüchliche Stimmen verstummen. Wie steht es um die „anamnetische Kultur“825 und das (selbst)kritische Geschichtsbewusstsein des Christentums und der Kirche, die oft genug ihre Einsichten nachträglich zum

822 Vgl. Hinze, B., The Dissent of the Faithful in the Catholic Church, in: Horizons 45 (1/2018), 128 –132. Die „Hierarchie der Wahrheiten“ (UR 11) eröffne die Möglichkeit eines „Differentiated Consensus“. Vgl. außerdem: Kirschner, M. (Hg.), Dialog und Konflikt. Erkundungen zu Orten theologischer Erkenntnis, Ostfildern 22018. 823 Vgl. Hinze, B., The Grace of Conflict, in: Theological Studies 81 (1/2020), 40 – 64. 824 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 226 –230, wo mit Bezug auf die Bischöfe des Kongo auch von einer „versöhnten Verschiedenheit“ die Rede ist. 825 Vgl. Metz, Memoria passionis, 41– 49.

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selbstverständlich ewig Gültigen erklärt hat und die leidvolle und kontingente Genese ihrer dogmatischen Erkenntnis verdrängt?826 Die Auffassung, dass das Dogma die Geschichte besiegen827 müsse, entspringt der Logik eines imperialistischen Totalitarismus, der die Geschichte – die auch die des inkarnierten Logos ist – der eigenen Interpretation unterwirft. Die schuldbeladene Beziehung zwischen Christentum und Judentum zeigt exemplarisch, wie weit diese vereinnahmende und unterdrückende Machtausübung gehen kann, um die eigene Deutungshoheit zur Not gewaltsam durchzusetzen. Zugleich stellt sich hier die Frage nach der „Erhebung der weniger bekannten Auslegungen, die in der exegetischen ‚Siegergeschichte‘ in Vergessenheit geraten sind.“828 Es ist unbestreitbar, dass in der Dogmengeschichte die Perspektive von Minderheiten und teilweise sogar offizielle theologische Positionen im weiteren Überlieferungsprozess entweder vergessen oder aber aus machtpolitischen Gründen bewusst verdrängt wurden.829 Dietrich Wiederkehr hat auf diese Problematik eines Überlieferungsverständnisses aufmerksam gemacht, das die Minderheiten und Unterlegenen gezielt außer Acht lässt und sich nur auf die amtliche Tradition konzentriert: „Solange die Tradition nur an einem schmalen Strang verfolgt wurde, an der Lehrverkündigung durch die Hierarchie, genügte es, diese Linie zu beschreiben, ohne an andere zu denken. Sobald aber der Überlieferungsprozess auf verschiedensten Strängen des weiterzugebenden Lebens verläuft, sobald die ganze Kirche, mit ihren Gliedern auf den verschiedenen Ebenen und noch gestreut auf die raum-zeitliche Vielfalt der Kirchen, die Überlieferung trägt, wird es schwieriger, die geschichtlichen Epochen zu beurteilen. Welche Stränge, welche kategorialen Ausdrucksformen der Überlieferung sind maßgeblich, welche Träger sind die authentischen Subjekte der Überlieferung? Dies lässt sich weder statistischquantitativ noch strukturell-hierarchisch oder -demokratisch festlegen. Weder die wirkungsgeschichtlich sich durchsetzende und überlebende noch die von der herrschenden Schicht in der Kirche durchgesetzte Tradition kann schon für sich Richtigkeit und Authentizität in Anspruch nehmen. Parallel zur kritischen Neuinterpretation der weltpolitischen und -gesellschaftlichen Geschichte ist auch grundsätzliche Kritik am herrschenden ‚religiösen Darwinismus‘ angemeldet worden. Gerade katholisches Traditionsverständnis, verstärkt durch die ideologieanfällige Geistverheißung, riskiert, 826

Vgl. Rahner, K., Dogmen- und Theologiegeschichte, 15 ff. Vgl. hierzu: Wolf, H., Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte, München 2015, 202 ff. 828 Merkt/Nicklas/Verheyden, NTP, 580. 829 Vgl. hierzu: Wolf, Krypta. 827

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den faktischen Verlauf als den gesollten Verlauf der Tradition anzusehen. Aus dieser resistenten Überlebenskraft einer Überlieferung wird auf ihre Richtigkeit geschlossen; aus ihrem Untergang wird auch ein sachliches Werturteil gefällt […]. Am wenigsten die Geschichte der Kirche des Gekreuzigten kann als Siegergeschichte dargestellt werden, als ob nicht oft authentische Impulse der Glaubenspraxis und des theologischen Denkens unterlagen oder unterdrückt wurden. Ebensowenig kann die kirchliche Lehrautorität ausschließlich die Rechtmäßigkeit und Authentizität der Überlieferung verbürgen, als ob nicht viele Impulse der Erneuerung von ‚unten‘ ausgegangen wären, selbst wenn sie wirkungslos untergingen. Das Gedenken an die Unterlegenen, die Verstummten oder Zum-SchweigenGebrachten gilt nicht nur für den Weg der Menschheit zu einer gerechteren Zukunft, sondern auch für den Weg der Kirche in der Bewahrung und Weitergabe des Vermächtnisses Jesu Christi: vergessene Tradition ist gegen die herrschende Tradition zu erinnern und zu wecken.“830

Weil die Kirche, anders als sie selbst zwischenzeitlich glaubte, eben keine „societas perfecta“, keine vollkommene und in sich geschlossene Gesellschaft ist, sondern stets der Umkehr und Bekehrung zu ihrem Ursprung und Ziel bedarf, muss sie immer wieder ihre Schuld bekennen. In besonderer Weise hat Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 ein Schuldbekenntnis im Namen der Kirche abgelegt und vor Gott und den Menschen um Vergebung für die Sünden gebeten, die die Kirche und ihre Vertreter im Laufe der Jahrhunderte auf sich geladen haben.831 Blickt man speziell auf die Dogmengeschichte, so ließe sich der diffamierende und verunglimpfende Umgang mit einigen Protagonisten in Erinnerung rufen, denen anachronistisch, d. h. nach den offenen Prozessen einer gemeinsamen Wahrheitssuche, Häresien unterstellt wurden, die sie so vielleicht gar nicht vertreten oder beabsichtigt hatten. Man denke z. B. an Nestorius, der wohl nie „Nestorianer“ war; an Pelagius, der selbst nicht zwingend für einen „Pelagianismus“ steht; an die vielen Opfer einer rigiden Form von Neuscholastik, die zensiert und diffamiert wurden. Diese Liste ließe sich wohl mühelos fortschreiben. Das Bewusstsein um die verdrängten „Heterotopien“832 in einem lebendigen, multimedialen Überlieferungsprozess muss auch den vielfälti830

Wiederkehr, Das Prinzip, 78. Vgl. Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II., Allgemeines Gebet, Schuldbekenntnis und Vergebungsbitte beim Pontifikalgottesdienst am 12.03.2000 in St. Peter in Rom (https://dbk.de/de/nc/presse/aktuelles/meldung/vergebungsbitte-von-papst-johannes-paul-ii/detail/). 832 Vgl. Nicklas, T., „Beyond Canon_“. Eine kurze Erläuterung des Projekts, in: Early Christianity 12 (2021), 265 –275. 831

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gen Rezeptionsformen jenseits des Kanons und der lehramtlich-offiziellen Tradition Rechnung tragen. Ihre wirkungsgeschichtliche Tragweite und lange Zeit unreflektierte „Autorität“ wird von der Dogmatik bisher allerdings kaum erfasst. Diese vielfältigen narrativen, materiellen, rituellen oder künstlerischen Dimensionen, letztlich alles, was zum Glaubensleben und der „lived religion“ einer Rezeptionsgemeinschaft gehört, ist Teil eines lebendigen und wirksamen Überlieferungsprozesses, wie Tobias Nicklas betont. „Selbst dort, wo der Kanon (mehr oder weniger) universell anerkannt ist, lassen seine Schriften und ihre Verwendung in verschiedenen Formen eines stets dynamischen christlichen Diskurses gewisse ‚Räume‘ offen, die die Verwendung kanonischer Schriften allein nicht ausfüllen kann. Diese im Verlauf der Geschichte notwendig werdenden ‚anderen Räume‘ werden in vielen Fällen durch außerkanonische Traditionen gefüllt, die sich dabei häufig bewusst in Bezug zu kanonischen Traditionen setzen. Manche von ihnen sind geradezu komplementär auf den Kanon bezogen, andere auf kompensatorische, antagonistische, affirmative oder auch ganz andere Weise.“833

Modifizierte Teilelemente dieser Rezeptionsströme können auf Umwegen auch wiederum ihren Weg in die offizielle dogmatische Tradition finden, die (wie die Rede von den „loci theologici“ zu verdeutlichen versucht) mehr zu berücksichtigen hätte als nur das, was formal definiert und tradiert wird. Der Rezeptionsstrom kennt unüberschaubar viele Verästelungen lebendiger Überlieferung, die sich im Glaubensleben verschiedener Gemeinden ihre Wege bahnen. Natürlich bleiben solche Auslegungen zunächst einmal unkontrolliert und unkontrollierbar. Dies ist auch solange kein Problem, bis missbräuchliche oder toxische Auslegungsformen entstehen, welche dann gesamtkirchlich diskutiert und reguliert, in Bezug auf eine regula834, den Kanon, limitativ in Grenzen verwiesen werden müssen, insofern sie sich auf ihn berufen oder von ihm kritisch absetzen. Die christliche Auslegungsgeschichte kennt z. B. antijüdische Rezeptionen und verengte Narrative, die eine ganz klare dogmatische Grenzziehung seitens der Amtskirche erfordern (oder viel früher erfor833

Nicklas, Beyond Canon, 271. Vgl. Cullmann, O., Die Tradition als exegetisches, historisches und theologisches Problem, Zürich 1954, 45 f., zitiert nach Böttigheimer, Die eine Bibel, 119: „Die Aufstellung eines Kanons kam der Erkenntnis gleich: von nun an muss unsere kirchliche Tradition überwacht werden; dies wird sie – mit dem Beistand des Heiligen Geistes – allein durch die schriftlich festgesetzte apostolische Tradition […]. Das Lehramt der Kirche hat mit dem entscheidenden Akt der Kanonbildung nicht abgedankt, hat aber seine zukünftige Tätigkeit von dieser Norm abhängen lassen.“ 834

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dert hätten), weil damit nicht nur Grenzen überschritten werden, die den Kanon zersetzen, sondern weil dadurch das innerste Wesen des sich auf ihn berufenden Glaubens pervertiert wird. Diese Kontrollfunktion auszuüben und in einem gemeinschaftlichen Prozess Entscheidungen und – notwendige – Zurückweisungen von Deutungen herbeizuführen, wäre eigentlich Aufgabe des kirchlichen Lehramtes (gewesen), das jedoch selbst immer wieder der Kontrolle bedarf, wie in der jüngeren Vergangenheit die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der Kirche gezeigt hat. Die Tatsache, dass der sexuelle Missbrauch eng mit spirituellem Missbrauch verbunden ist835 und teils auch unter expliziter Bezugnahme auf die Hl. Schrift erfolgen konnte, markiert eine hermeneutische Leerstelle an der Schnittstelle von Exegese und Dogmatik, die angesichts ihrer Methodendebatten lange Zeit die Augen vor diesem Problem verschlossen haben. Gerade weil die Hl. Schrift aber immer auch missbräuchlich instrumentalisiert836 wurde, ist ihre Auslegungsgeschichte auf einen (selbst)kritischen Diskurs der Traditions- und Rezeptionsgemeinschaft verwiesen, die sensibel wahr- und erstnehmen sollte, wenn das Wort Gottes den Machtmechanismen menschlicher Willkür unterworfen und gegen seinen Geist verkehrt wird. Nur durch offene Dialogprozesse und kritische Impulse von außen entsteht ein Bewusstsein für die Vulneranz unhinterfragter Auslegungen, die sich vielleicht über Jahrtausende hinweg verfestigt haben und daher als selbstverständlich gelten, obwohl sie heute in ihrer kulturellen und zeitgeschichtlichen, aber auch kontextuellen Prägung nach bestem Wissen und Gewissen vom Evangelium zu unterscheiden wären. Diese Unterscheidung muss von der gesamten Kirche je neu ermöglicht und getragen werden. Sie dann verbindlich festzuhalten, zu definieren und als Entscheidung zu vollziehen, ist Aufgabe des kirchlichen 835 Siehe die in Anm. 619 genannte Literatur. Vgl. Heyder, R./Leimgruber, U., Spiritueller und sexueller Missbrauch an erwachsenen Frauen. Was aus den Berichten von Betroffenen zu lernen ist, in: Haslbeck/Heyder/Leimgruber, u. a. (Hg.), Erzählen als Widerstand, 187–220. Zu entsprechenden Seelsorgesettings vgl. Leimgruber, U., Die Vulneranz von Seelsorgesettings im Blick auf den sexuellen Missbrauch erwachsener Personen, in: Dirscherl/Weißer (Hg.), Wirksame Zeichen und Werkzeuge, 188 –204. 836 Vgl. Nicklas, T., „Das Studium des Heiligen Buches ist gleichsam die Seele der Theologie.“ (Dei Verbum 24). Eine bibelhermeneutische Skizze, in: Lebendige Seelsorge 72 (2/2021), 104 –108; König, H., Wenn Gottes Wort entweiht wird und sich zuletzt doch als heilsam erweist: Die Rolle der Heiligen Schrift in Missbrauchskontexten, in: Haslbeck/Heyder/Leimgruber, u. a. (Hg.), Erzählen als Widerstand, 241–246; Fuchs, O., Kriterien gegen den Missbrauch der Bibel, in: JBTh 12, 243 –274.

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Lehramtes, das dem Wort Gottes dient (vgl. DV 10). Hier zeigt sich die Notwendigkeit einer Autorität, die einschreiten muss, um das vieldeutige Medium des Wortes Gottes nicht zum Medium des Missbrauchs werden zu lassen. Ein solcher Autoritätsanspruch wird bereits durch den Kanon selbst erhoben, wenn er allgemein anerkannte, rezipierte Überlieferungen von nicht notwendigen oder sogar nicht hinnehmbaren Traditionen abgrenzt. Damit ist jedoch auch der Kern des Problems berührt: Wo mit Autorität und „im Sinne“ Jesu oder seiner Traditionsgemeinschaft entschieden wird, besteht wiederum die Gefahr von Exklusion und Machtmissbrauch. Die entscheidenden Fragen dürften dann sein: Wird diese Gefahr im Rahmen der Entscheidungsfindungsprozesse a) ausreichend reflektiert, gibt es b) strukturelle Sicherungsmaßnahmen, die Auslegungen nach subjektiven oder gruppenspezifischen Interessen vorbeugen und hat man c) inhaltliche, theologisch tragfähige Kriterien für solche Unterscheidungsprozesse innerhalb der Glaubensgemeinschaft, die dann nicht allein auf Einfluss und Macht beruhen, sondern auf einer sachlichen Grundlage. Genau auf solche Kriterien zielt ja diese Untersuchung. Gegen religiöse Instrumentalisierung verwahrt sich die kanonisch dokumentierte Dynamik des biblischen Monotheismus, die sich gegen die Identifikation von Herrschaft und Heil, Ökonomie und Oikonomia, Götzen und Gott sperrt, wobei gerade die Ambiguität und Polyphonie, auf die der biblische Kanon verpflichtet, ein kritisches Korrektiv gegenüber jeder Form von Verabsolutierung und Totalitarismus darstellen.837 Dieses hermeneutische Korrektiv gilt analog für die Dogmatik. Wo biblische Rede in sprachlichen Bildern nicht als solche wahrgenommen wird, ihr Kontext ignoriert wird und die Differenz von Gehalt und Gestalt verschwimmt, sodass die unverfügbare Transzendenz Gottes auf menschliches Maß und menschliche Macht reduziert wird, dort gilt die Mahnung: „Die Geschichte des Sprechens über Gott war und ist immer auch eine ‚Missbrauchsgeschichte‘.“838 Ziel einer theologischen Hermeneutik müsse es aber sein, so Johanna Rahner, „die Augen für die Missbräuchlichkeit der Bilder wie die Mannigfaltigkeit von Sprache offen zu

837 Vgl. Rahner, J., Alter Disput vor neuen Herausforderungen. Zum Verhältnis von Exegese und Dogmatik – oder: Warum eine angemessene biblische Hermeneutik heute (nicht nur) dogmatisch nottut, in: Brünenberg-Bußwolder/Münch/Sigismund u. a. (Hg.), Neues Testament, 159 –189, 171 ff. 838 Rahner, J., Alter Disput, 177.

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lassen und dennoch auf ihren positiven Ertrag nicht einfach zu verzichten.“839 Wenn, wie wir mit Franz Mußner rekonstruiert hatten, der Kanon selbst die Unverfügbarkeit JHWHs nach dem Prinzip „Widerspruch und Rettung“ dokumentiert, so handelt es sich dabei um eine theofinale und soteriologisch motivierte Hermeneutik, die zwei zentrale Aspekte in sich trägt: einerseits den Bezug auf den einen Gott, der für alle biblischen Texte prägend oder zumindest implizit vorausgesetzt ist und jeder ungerechten oder verletzenden Machtausübung leidenschaftlich Widerstand leistet, und andererseits die Ausrichtung auf eine lebensdienliche, befreiende Erfahrungsdimension, die alle verabsolutierten, unterdrückenden Denkformen samt ihrer Vergötzung je neu aufzubrechen vermag, wie uns die innerbiblische Rezeptionsgeschichte zeigt. Ihre adaptability for life, von der James Sanders sprach, verdeutlicht, dass die Dynamik der Selbstdurchsetzung JHWHs mit einem offenen, noch andauernden Prozess verbunden ist: Der Kanon ist immerhin von der hoffnungsvollen Grundüberzeugung geprägt, dass sich der Gott des Lebens gegen alle Machtmechanismen, gegen jeden Missbrauch (!) seines Namens, gegen jede statische Theologie oder Wahrheitskonzeption aus eigener Macht durchsetzen wird; dass er dabei auf der Seite der Opfer dieser Geschichte steht, die auf ihn bauen. Eine solche soteriologische Hermeneutik der Selbst-Durchsetzung Gottes dient nicht der Zementierung des Status quo oder der Normativität des Faktischen. Sie ist vielmehr eine Mahnung zur je neuen Entgrenzung und Schleifung der Bastionen, die auch der Kanon und die Tradition der Kirche mit ihren Beharrungskräften gegenüber einer sich immer wieder neu durchsetzenden Dynamik des Pneumas zu errichten drohen. Hans Urs v. Balthasar beschrieb diese Gefahr so: „Es gibt in der Kirche keine Heiligkeit, die nicht ihre eigentliche Bewährung am Widerstand der innerkirchlichen Beharrungskräfte zu bestehen hätte; gegenüber dem neuen Boten von Gott her scheint der bisherige Gläubige in possessione zu sein: ist er nicht mit allem Nützlichen ausgerüstet und was bedarf er neuer Propheten? Die Apostel lächeln über das ‚Geschwätz der Weiber‘ mit ihren Gespenstererscheinungen (Lk 24,11), bevor sie ihrerseits ans Grab eilen, wie die Menge über den Pfingstgeist der Apostel lächeln und sie, schon frühmorgens, betrunken wähnen wird (Apg 2,13), wie die weisen Philosophen und Theologen von Athen die Nase rümpfen über die Auferstehungsbotschaft des Paulus (Apg 17,32). Und in der Tat, wäre die harte Schale der Possidentes nicht immer wieder neu zu durchbrechen, worin läge sonst der Erweis der 839

Rahner, J., Alter Disput, 177.

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Die inspirierte Einheit von Kanon und Traditionsprozess

Kraft dieser jungen Heiligkeit? […] Deshalb müsste scharf auf den Punkt hingeschaut werden, wo die junge Heiligkeit die Schalen des Gewesenen durchbricht, um frisch wie am ersten Tag ans Licht der jetzigen, gegenwärtigen Welt zu treten. Vielleicht ist dieser Punkt nicht leicht zu beobachten, weil Heiligkeit, die man kanonisiert (und heute in größeren Mengen als je), bereits wieder oder schon längst Geschichte und Tradition geworden ist, ja weil unter Umständen der Prozess der Kanonisation mehr als alles ein zu den Traditionskräften gehörender und diese Kräfte verstärkender Prozess ist.“840

Nun bringt die Kanonisierung (und analog die Dogmatisierung) den Prozess einer lebendigen Rezeption und Tradition und ihre pneumatologische Dynamik aber nicht zum Abschluss. Im Gegenteil, diese gefrorene Traditionsbildung wird je neu erschlossen. Gefährlich wird es immer dann, wenn man sich aus kirchlicher Sicht anmaßt, über die Eigendynamik Gottes verfügen und die kanonischen Zeugnisse vereindeutigen oder auch exklusiv verabsolutieren zu können. Das Prinzip „Widerspruch und Rettung“ ermöglicht und legitimiert dann jedoch Traditionskritik (wie bei den Propheten, bei Jesus selbst, bei Paulus …) gegenüber jeder Autorität – und sei es sogar die Hl. Schrift oder das Gesetz selbst, sobald diese toxisch wirken: Deus semper maior. Die soteriologische Theofinalität bedingt eine letzte Relativierung menschlicher Macht- und Autoritätsansprüche in der Auslegung der Hl. Schrift. Denn eine soteriologische Priorisierung und Konzentrierung zielt jederzeit auf die Frage: Was ist wirklich lebensdienlich, befreiend, was dient der persönlichen Gottesbeziehung in Frieden und Heil wie auch dem Zusammenleben aller Menschen, denen Gott sich heilsam zugesagt hat – und was dient dem eben faktisch nicht, weil ein lebensfeindliches, unterdrückendes Gottesbild, ein Götze oder eine lebensferne Lehre mit formaler Autorität oder aufgrund überkommener Konventionen diktiert wird? Mit dieser theofinal-soteriologischen Hermeneutik und ihrer Aktualisierung, die nur diskursiv (unter Einbezug der Marginalisierten, Aus840

Vgl. Balthasar, H. U. v., Schleifung der Bastionen. Von der Kirche in dieser Zeit, Einsiedeln 51989, 13 ff. Dass Balthasar den „Widerstand“ der Beharrungskräfte in der Kirche und ihrer Tradition einseitig als „alttestamentlich“ versteht und abwertend zur Kontrastfolie für den Neuen Bund werden lässt, zeigt eine problematische Verhältnisbestimmung von AT und NT. Dabei sind es doch gerade das Alte Testament und das Judentum, die eine bleibende Erwartungshaltung und Offenheit für die sich ereignende Heiligkeit und Wirksamkeit Gottes auszeichnet, während die Kirche oft Gefahr lief, einer apathischen und triumphalistischen Ideologie der Sieger zu verfallen (vgl. Metz, Memoria passionis, 59). Die Antithese von totem Buchstaben im AT und lebendigem Pneuma im NT ist längst falsifiziert und zeugt selbst von hartnäckigen Beharrungskräften einer Traditionsschicht, die zu überwinden ist.

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gegrenzten und Leidenden) zu gewinnen ist, hätte man durchaus klare Kriterien, um die Instrumentalisierung und Verabsolutierung der Hl. Schrift deutlich einzudämmen. Dazu bedarf es einer lebensweltlichen Kontextualisierung ihrer Texte, die eine historisch-kritische und kanonische Kontextualisierung ergänzt und je neu verflüssigt. Da sich die (pneumatologisch verstandene) Eigendynamik JHWHs im Rezeptionsprozess nicht dauerhaft sedieren, begrenzen oder zensieren lässt, muss sich auch der Blick der Dogmatik auf die lehramtlich nicht (oder nur ablehnend) erfasste Rezeptionsgeschichte jenseits des Kanons und der lehramtlichen Tradition richten. Sie muss zwar immer noch limitative Entscheidungen treffen (z. B. gegen Antijudaismus, Gnosis etc.), aber sie sollte sich eines spezifisch christlichen Stils bedienen, der auch sogenannte „Peripherien“ – dialogisch – ins Zentrum der Theologie zu holen und schließlich vielleicht doch zu würdigen vermag.841 Dieser dialogische Stil des aufmerksamen Zuhörens, der in der Dogmengeschichte immer wieder zu kurz kam, vermag dann auch die Lagerbildung nach einem Freund-Feind-Schema zu überwinden.842 Um sich des Evangeliums immer wieder anhand der Texte vergewissern und es aktualisieren zu können, wenn Auslegungen instrumentalisiert oder verabsolutiert werden, braucht es einen offenen Diskurs mit der und über die Schrift (und der weiteren Tradition). Es bedarf sensibler Unterscheidung und Entscheidung, im Zweifelsfall auch einer begründeten Ausscheidung von Deutungen, die von der Glaubensgemeinschaft im alltäglichen Leben als nicht lebensdienlich oder als anti-pastoral erfahren werden. Bereits der Kanon dokumentiert schonungslos ehrlich, dass die Ausrichtung auf Gott stets auch überdeckt, missbraucht und instrumentalisiert wurde, weil Gottes Zusage nur im Menschenwort kommuniziert, tradiert, gedeutet und adaptiert wird. Dies kann immer wieder scheitern oder zu ungewollten Missverständnissen führen und bedarf deswegen gemeinschaftlicher – synodaler – Verständigungsprozesse.

841 842

Hier sei an Ch. Theobald und seinen stilistischen Ansatz erinnert. Vgl. Kap. III.3.3. Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 16; 40 ff.

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IV. Unterscheidung und Entscheidung in einer offenen Dogmengeschichte Die ökumenischen Konzilien der Kirche räumen der Hl. Schrift – meist konzentriert auf das Evangelienbuch – symbolisch den Vorsitz in ihrer Versammlung ein, indem die Schrift gleichsam inthronisiert wird.1 Die Kirchenversammlungen stehen ihrem eigenen Selbstverständnis nach „unter dem Wort“ und ihre wesentliche Aufgabe ist es, „auf dieses Wort zu hören und es auszulegen.“2 Die Gegenwart Christi im Heiligen Geist soll dabei den rechten Weg weisen. Streng genommen müsste daher die Qualität einer Konzilsentscheidung und ihre theologische Bewertung im Nachhinein davon abhängen, inwieweit sie dem Anspruch der Schriftgemäßheit und der Hermeneutik der Schrift selbst entspricht. Die Definition der Existenz einer Hl. Schrift war hierfür nie notwendig – weder in Bezug auf die Schriften Israels noch auf das wachsende Neue Testament. „Die Kirche hatte nie Veranlassung zu definieren, dass es Heilige Schriften gebe, weil das einfach eine unbestrittene Tatsache und Voraussetzung des kirchlichen Lebens war.“3 Zu präzisieren war nur ihr Umfang und ihre funktionale Bedeutung als menschliches Zeugnis der göttlichen Selbstoffenbarung. Um ihrer geschichtlichen Bindung ebenso wie ihrer soteriologischen Relevanz für neue Kontexte gerecht zu werden, bedurfte es zu jeder Zeit des Dialogs und einer kritischen – unterscheidenden – Verständigung angesichts dieser Schriften, deren Auslegung4 zu pragmatischen Kompromissen (vgl. Apg 15,6 –21) und offensichtlichen Kompromissformeln (wie z. B. bei Chalcedon) führen konnte. Die hermeneutischen Muster und Prinzipien, die wir in der Genese und Struktur des biblischen Kanons nachweisen konnten, kommen dabei als 1 Vgl. Haag, Die Buchwerdung, 305. Diese Praxis sei erstmals für das Konzil von Ephesus bezeugt und wurde durchgehalten bis hin zum II. Vaticanum. 2 Vgl. Sieben, H. J., Konzilsdarstellungen – Konzilsvorstellungen. 1000 Jahre Konzilsikonographie aus Handschriften und Druckwerken, Würzburg 1990, 9 f. 3 Haag, Die Buchwerdung, 305. 4 Graumann, T., The Bible in doctrinal development and Christian councils, in: Paget/ Schaper (eds.), The New Cambridge History of the Bible (Vol. 1), 798 – 821, 811, verweist auf „the tentative searching for the hermeneutical interrelation of church practice, scriptural reading and constructive theology“, das dogmatische Entscheidungen der Konzilien prägte. Vgl. 820 f.: „Their doctrinal achievement is inextricably intertwined with the wider process of interpreting and appropriating the foundational writings of the church in the intellectual, cultural and social contexts of the time.“

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Unterscheidung und Entscheidung in einer offenen Dogmengeschichte

dogmenhermeneutisch relevante Kriterien zur Anwendung. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne eine genaue Detailanalyse, die den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, seien diesbezüglich in einer kleinen Exkursion zumindest exemplarische Etappen der Dogmengeschichte in Erinnerung gerufen. Die Auswahl dient zur Illustration und als Beleg, dass unsere anhand des Kanons gewonnenen Prinzipien tatsächlich an entscheidenden Knotenpunkten der Dogmengeschichte zum Tragen kamen – was nicht zwingend heißt, dass sie immer und in gleicher Weise zur Geltung kommen oder explizit ins Bewusstsein treten. Es genügt hier der Nachweis, dass die Prinzipien des Kanons wiederholt eine für Lehrentscheidungen der Kirche zentrale und durchaus konsensfähige Rolle im Umfeld dogmatischer Entwicklung gespielt haben, um ihnen als Kriterien zur Unterscheidung auch heute Validität und Gültigkeit zuzuerkennen und den Kanon als Paradigma der Glaubens- und Überlieferungsgeschichte verstehen zu dürfen. Eine tiefergehende Analyse, die wünschenswert wäre und ein Desiderat der Forschung bleibt, dürfte noch wesentlich umfassender die Rolle der kanonischen Prinzipien als dogmengeschichtlich relevante Kriterien aufzeigen können, als es in dieser kurzen Skizze möglich und für unseren Zusammenhang erforderlich ist. In den hier angesprochenen Wegmarken der Dogmengeschichte zeigt sich die sensible Balance von Kontinuität und Diskontinuität, die auch der Kanon selbst spiegelt und die für die kirchliche Glaubensgeschichte konstitutiv bleibt. Als produktive Spannung drängt sie auch heute zu einer theologisch reflektierten Begleitung der letztlich unverfügbaren – weil in Gnade gewirkten – Entwicklung kirchlichen Lebens auf der Basis der Überlieferung und neuer Erfahrungen. Vielleicht kann man sogar sagen, dass immer dann, wenn die hermeneutischen Prinzipien des Kanons nicht als Kriterien der Dogmenhermeneutik herangezogen werden, die Fragwürdigkeit und Rezeptionsschwierigkeiten einer kirchlichen Lehre besonders hoch sind – eben deswegen, weil eine solche Artikulation des Glaubens dann nicht den traditionell bewährten Gütekriterien (wie auch dem hermeneutischen Anspruch der Synoden und Konzilien) entspricht. Damit ist freilich keineswegs gesagt, dass solche Lehren per se hinfällig werden, wenn ihre Ausdrucksgestalt einer notwendigen Befragung und hermeneutischen Revision unterzogen werden muss. Umgekehrt müsste man jedoch vermuten, dass die Akzeptanz einer Lehre und ihre Rezeption in der Kirche immer dann relativ unstrittig sind, wenn diese Lehre auf der Basis der kanonischen Prinzipien gewonnen und nach ihren Kriterien kontinuierlich weiterentwickelt wurde.

381 1. Kleine Exkursion in die Dogmengeschichte Während Irenäus von Lyon die Heilsgeschichte rekapituliert5 und typologisch die Kohärenz der „Oikonomia“ aufzeigen will, ringen auf ihre Weise auch Augustinus, Hugo von St. Viktor oder Thomas von Aquin mit der Frage, wie das AT bzw. die Frommen des Alten Bundes mit dem christlichen Glauben des NT trotz allem theologischen Wandel in Kontinuität verbunden sein können.6 Die Frage nach der Entwicklung des Glaubens stellt sich ihnen also scheinbar ganz konkret angesichts der korrelativen Spannung von Altem und Neuem Bund, Altem und Neuem Testament. Vor dem Hintergrund seiner Zeichentheorie gelinge es Augustinus, so Michael Seewald, Alt und Neu miteinander zu verbinden. „Die Zeichen (unter die für Augustinus auch die Worte fallen) können sich ändern, die wahren Dinge hingegen, die sie bezeichnen, nicht. Auch wenn die exegetischen Einlassungen Augustins aus heutiger Sicht befremdlich erscheinen, darf nicht verkannt werden, mit wieviel Scharfsinn es dem Kirchenvater gelungen ist, eine im Glauben gründende Kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen Israel und der Kirche, und letztlich zwischen Juden und Christen zu begründen.“7 Augustinus kommt dabei nun zu der entscheidenden Einsicht: tempora variata sunt, non fides.8 Doch worin genau sollte eine Kontinuität des Glaubens zwischen den vielen Schriften des AT und NT, zwischen Bibel und Dogmengeschichte bestehen, wenn nicht im Bezug auf das anvisierte Ziel dieses Glaubensaktes – Gott selbst? Wenn Hugo von St. Viktor9 zwischen dem Glaubensakt (affectus) und seinem kognitiven Inhalt (cognitio) differenziert, so unterscheidet er 5 Vgl. Brox, N., SwthrËa und Salus. Heilsvorstellungen in der Alten Kirche, in: EvTh 33 (1973), 253 –277, 263. 6 Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 158; 161 f.; 168. 7 Seewald, Dogma im Wandel, 158. 8 Augustinus, In Ioannis evangelium tractatus, 45,9. 9 Vgl. Hugo von St. Viktor, De sacramentis Christianae fidei, 10,1. Vgl. Seewald, M., Doktrinaler Wandel als Thema christlicher Theologie, in: Könemann, J./Seewald, M. (Hg.), Wandel als Thema religiöser Selbstdeutung. Perspektiven aus Judentum, Christentum und Islam (QD 310), Freiburg i. Br. 2021, 141–160, 151: „Der Affekt bezeichnet in diesem Zusammenhang kein Gefühl, sondern den Akt der Hinwendung zu Gott – und zwar zunächst jenseits der propositionalen Detailbestimmtheit dieses Aktes, obwohl ein Akt ohne intentionale Bestimmtheit und damit ohne propositionalen Mindestgehalt nicht möglich ist, weil der affectus fidei, wie Hugo ihn bestimmt, sich auf etwas, nämlich den von Jesus als Vater angesprochenen Gott Israels, richtet. Dennoch

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zwischen der wesentlichen „Substanz“ des intentional auf Gott selbst gerichteten Glaubensaktes und der damit verbundenen, weiter zu entfaltenden und zu bearbeitenden „Materie“, die auf tiefere Erkenntnis zielt.10 Thomas von Aquin spricht ebenfalls von einer Kontinuität in der unveränderlichen Substanz des Glaubens, während es durch weitere explicatio durchaus zu einem profectus cognitionis kommen kann.11 Was sollte, um dieses ontologische Sprachspiel in eine relationale Denkform12 zu übersetzen, die „Substanz“ des Glaubens aber anderes sein als seine Bindung an ein und denselben Gott, der verschieden zur Sprache kommt und in anderen Kontexten unterschiedlich erfahren wird? Würde das Neue Testament einen wesentlich anderen Gott verkündigen als die Schriften Israels, dann würde der christliche Glaube keine neue, eschatologische Dimension des Glaubens Israels angesichts der Christuserfahrung erschließen, sondern einen radikalen Bruch markieren, den der christliche Kanon nicht mehr hätte überbrücken können. Irenäus war sich bewusst, dass eine theologisch reflektierte Ausdifferenzierung des Glaubens substantiell nicht mehr vermag oder mehr wert ist als der einfache Glaube der Gläubigen.13 Nimmt man dieses Argument allerdings ernst, so stellt sich die Frage: Fügt die später entfaltete Christologie, die Christgläubige bzw. „Judenchristen“ der ersten Jahrhunderte gar nicht kannten und die auch heute viele Gläubige nicht wirklich verstehen (aber vielleicht unbewusst leben) dem heilsrelevanten Glauben an Gott „substansteht beim affectus das Vollzugsmoment, nicht die inhaltliche Bestimmtheit des Aktes im Vordergrund. Hugo sah den Affekt als das Wesen – die Substanz – des Glaubens.“ 10 Vgl. Seewald. Dogma im Wandel, 160 –163. Ratzinger sieht es (mit Bonaventura) offenbar ähnlich: Die Auslegung des Glaubens könne sich ändern, die Substanz bleibe gleich. Bei ihm wird dann aber die Kirche zur Zeugin und Garantin der Kontinuität, die jedoch an ihren Ursprung rückgebunden – also relativiert – werden muss. Vgl. Weimann, Dogma, 289; 285: „Wenn Hierarchie als heiliger Ursprung verstanden werde, dann müsse die Zugewandtheit zum Ursprung das entscheidende Kriterium sein.“ 11 Vgl. STh IIa-IIae q. 1 a. 7 ad 2. Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 169 f. 12 Für ein Verständnis der Wirklichkeit Gottes als Beziehungswirklichkeit im Sinne „relationaler Ontologie“ vgl. Höhn, H.-J., Gottes Wort – Gottes Zeichen. Systematische Theologie, Würzburg 2020. 13 Siehe S. 34, Anm. 4 zu Adv. Haer. I,10,2 f. Vgl. auch Congar, Tradition und Kirche, 72: „Darum können die einfachen Gläubigen die ganze Tradition übergeben, selbst wenn sie ziemlich unwissend hinsichtlich der Begriffe und der Feinheiten der Dogmatik sind.“ Vgl. Brox, N., Der einfache Glaube und die Theologie. Zur altkirchlichen Geschichte eines Dauerproblems, in: Ders., Das Frühchristentum. Schriften zur Historischen Theologie, hg. v. F. Dünzl, A. Fürst, F. Prostmeier, Freiburg i. Br. 2000, 305 –336; Grieser, Hören auf das Gottesvolk, 167–170.

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tiell“ überhaupt irgendetwas hinzu, das additiv erst durch die Dogmen ergänzt würde und die allein heilsrelevante (soteriologisch suffiziente) Gottesbeziehung wesentlich verändert? Dies ist gerade nicht der Fall. Denn das eigentlich Neue des Neuen Testaments sind nicht additiv hinzutretende, das vermeintlich Defizitäre oder nicht Ausreichende nun ergänzende Elemente; es sind, wie auch Benedikt XVI. weiß, „nicht neue Ideen, sondern die Gestalt Christi selber, der den Gedanken Fleisch und Blut, einen unerhörten Realismus gibt. Schon im Alten Testament besteht das biblisch Neue nicht einfach in Gedanken, sondern in dem unerwarteten und in gewisser Hinsicht unerhörten Handeln Gottes.“14 Es geht um die sakramentale Verkörperung15 und einzigartige, neuartige Vermittlung, um den eschatologischen Mittler, als die inkarnierte Präsenz ein und desselben Logos, durch den Gott selbst immer schon und immer wieder Menschen nahe kommt, um ihr Leben in seiner Liebe zu verwandeln. Es geht um einen untrüglichen Anker und ein effektives Vorbild dieses Glaubens, um ein lebendiges Kriterium zur Unterscheidung und Lebensentscheidung; es geht um neue, für das Christentum konstitutive und nicht überholbare Erfahrungen, die mit diesem Glauben verbunden werden – aber es ging nicht um einen wesentlich anderen Glauben. Im Nachhinein und aufgrund einer neuen, bahnbrechenden Erfahrung, die es mit dem tradierten Glauben theologisch zu verbinden galt, erkannte man, dass die rettende Präsenz und siegreiche Liebe Gottes immer schon als eine lebendige und lebensspendende Dynamik verstanden werden kann, angesichts derer ein sich selbst schenkender, nicht greifbarer Ursprung – uns persönlich ansprechend und für sich beanspruchend – berührt. Der Glaube an Jesus Christus, den JHWH vor dem ewigen Tod bewahrt hat und der nun für alle den Weg vollendeten Lebens offenbart, ist – und bleibt – der Glaube an die befreiende, in Jesus realsymbolisch verdichtete Macht jenes Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Israel ebenso bekennt wie heute das Judentum oder Christentum. Auf verschiedene Weise, aber im Wesentlichen doch verbunden. Die Präexistenzchristologien des frühen Christentums waren sich dessen bewusst: In Christus berührt uns der Logos JHWHs, der im14 Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est. Über die christliche Liebe, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 171), Bonn 2006, Nr. 12. 15 Vgl. Söding, T., Neuer Wein in neue Schläuche. Jesus als Reformer, in: Damberg/ Sellmann (Hg.), Die Theologie, 55 –77, 62. „Neu ist, dass er kommt – und stirbt und von den Toten aufersteht. Der Neue, der das Neue bringt, ist der Messias, der Gottes Reich verkündet, verwirklicht und verkörpert. Deshalb ist auch das Neue eschatologisch zu verstehen: als Antizipation der Vollendung, die aussteht.“

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mer schon in der Geschichte präsent war und nun für alle greifbar auf Augenhöhe begegnet. Der soteriologisch entscheidende Bezug zum einen Gott – charakterisiert als gütiger Vater – bleibt jedoch konstant. Es bleibt also der Glaube an denselben Gott (JHWH), der durch seinen Logos und im Pneuma rettend wirksam wird und schöpferisch wirksam bleibt. Die eschatologische Tragfähigkeit und Tragweite seiner universalen Liebe ist aus christlicher Sicht nun vollends offenbar geworden. Der im Vergleich zu einer entfalteten Trinitätslehre und zum christlichen Symbolum (das sich an dem Realsymbol16 des Logos orientiert) nicht trinitarisch ausdifferenzierte Gottesglaube impliziert nicht zwingend schon das christliche Bekenntnis.17 Israels Glaube, der immerhin der Glaube Jesu und seiner Jünger/innen war, wird hier nun aufgrund neuer Erfahrungen mit Jesus dem Christus verbunden, ohne aber Gott und Mensch gleichzusetzen oder zu vermischen. Dieser Glaube musste weiter ausdifferenziert werden, um den Glauben an den Gott Israels nicht zugunsten der Gnosis oder eines Tritheismus preiszugeben. Der Glaube an den einen, allein erlösenden Gott wird angesichts der Christuserfahrung neu reflektiert, mit Hilfe der Schriften Israels vertieft, aktualisiert und mit 16 Die katholische Theologie spricht von Christus als dem Ursakrament des Mysteriums, das Gott ist. Gott und Jesus Christus werden nicht einfach identifiziert, sondern im Sinne der chalcedonischen Hermeneutik wird eine unvermischte und untrennbare Beziehung ausgesagt, die in Christus personifiziert begegnet. Im Anschluss an Karl Rahner kann Christus als das Realsymbol des Logos – als Sakrament, Unterpfand göttlicher Treue schlechthin – verstanden werden. Vgl. Rahner, K., Zur Theologie des Symbols, in: Ders., Schriften IV, 275 –311. 17 Vgl. Seewald, Doktrinaler Wandel, 152 ff. Die fides implicita wurde immer wieder als Modell der Dogmenentwicklung herangezogen. Es wird später expliziert, was vorher schon enthalten sei. Auf diese fides implicita richtet sich nach Seewald auch Martin Luthers Kritik am sogenannten „Köhlerglauben“. Die protestantische Kritik zielt aber primär auf die fehlende materiale Bindung an die Hl. Schrift. Vgl. Bayer, O., Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 32007, 72. Fraglich bleibt jedoch angesichts der Pluralität, Textkritik und Uneindeutigkeit der Schrift, ob „das Kontinuitätsmoment christlichen Glaubens durch die exklusive Bindung der evangelischen Kirche an die Schrift“ (Seewald, Doktrinaler Wandel, 160) zu sichern ist und ob die Diskontinuitäten darin nicht ebenso ignoriert werden wie in der Dogmengeschichte. Die Sicherung der Kontinuität ist für die evangelische Tradition nur möglich, wenn Christus als vermeintliche Mitte und zentraler Inhalt der Schrift die materiale Schablone bildet – ein gewaltsames Postulat Luthers, das angesichts der Schriften Israels aber nicht trägt, wie wir sehen konnten. Christus markiert keine materiale Kontinuität im Kanon; er bildet jedoch den christlichen Lektüreschlüssel und die hermeneutische Norm zur Unterscheidung und Entscheidung, die auch jenseits des Kanons im Traditionsprozess erforderlich wird – bereits mit Blick auf die Christologie selbst.

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Jesu Existenz – einer ganz neuen Ausdrucksform und einem unerwarteten, einzigartigen Inhalt – in Verbindung gebracht, die sich auf der „substantiellen“ Grundlage des Glaubens an JHWH bewahrheiten musste und zugleich neue, irreversible Sinnhorizonte dieses Glaubens erschloss, die sich nachträglich nicht wieder versiegeln ließen. Die Kontinuität im Ursprung und Ziel dieses Glaubens – Gott selbst – bleibt für das Christentum aber bestehen, wenn seine Lehre und inhaltliche Entfaltung des Verhältnisses zwischen AT und NT, Israel und Kirche fortgeschrieben wird. Entweder der als trinitarische Dynamik erfahrene Gott ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott Jesu, oder man verrät mitsamt dem Glauben Israels die eigene Herkunft und Tradition, d. h. das Fundament des eigenen Glaubens. Er kennt keine Höherentwicklung, weil die neu mit diesem Glauben verbundenen Inhalte dem Gottesbezug und dem Zeugnis der Schriften Israels treu bleiben und nicht „mehr“ intendieren, als den Glauben an Gott heilswirksam zu bezeichnen und zu vermitteln. Gottes siegreiche Gnade und die Beziehung zu ihm sind nicht quantitativ steigerbar oder portionierbar, sondern eben qualitativ anders – inkarniert, in universaler und eschatologischer Dimension – greifbar und darum für alle erlösend erfahrbar. Die Selbstmitteilung Gottes gilt aufgrund seiner eschatologisch irreversiblen Selbstzusage an alle Menschen in der Auferweckung Jesu als endgültig besiegelt, aber Gott kann quantitativ überhaupt nicht „mehr“ sagen als sich selbst und er kann qualitativ nichts anderes sagen als sein Jawort zum Menschen, das in der Geschichte Israels doch bereits immer wieder aufleuchtete. Das menschgewordene Wort Gottes sagt nichts wesentlich anderes als das ewige Schöpfungs- und Bundeswort Gottes (vgl. Joh 1,1–14), auch wenn es nun in unvermischter und untrennbarer Einheit mit der menschlichen Wirklichkeit Jesu begegnet. Es vergegenwärtigt Gott selbst und als solches wird es in neuen Kontexten wiederum neu verstanden und verinnerlicht, weil es in seinem Geist durch die Geschichte weiterhin auf verschiedene Weise und in verschiedenen Kontexten wirkt, in unendlich vielen Nuancen. Die Entfaltung des christlichen Glaubens basiert auf einer persönlichen Erfahrung, die „für viele“ allein durch Christus möglich wurde, und auf einem Prozess des Umdenkens, der Metanoia, als existentieller Nachfolge. Es handelt sich um einen Lernprozess.18 Er gründet in Jesus von Nazareth und dessen soteriologischer Bedeutung „für uns“. 18 Vgl. Nicklas, T., Die Botschaft vom Reich Gottes. Erziehung und Bildungsangebot im Markusevangelium, in: JBTh 35 (2021), 115 –134.

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Durch den „Sohn Gottes“ richtet sich der christliche Glaube auf Gott – den Vater – und bleibt in seiner Theofinalität wesentlich derselbe – homoousios/consubstantialis – wie der Glaube an den Gott Israels.19 Diese Zielbestimmung behielt für das sich ausbildende Christentum oberste Priorität gegenüber allen, die einem zweiten oder irgendeinem anderen Gott huldigten oder gar hybride Zwischeninstanzen einführen wollten. Es war der soteriologisch entscheidende – theofinale – Bezugspunkt des Glaubensaktes, der in der Entwicklung der Lehre die Kontinuität wahrte und bewahren musste. Wenn diese Wahrung der Glaubenssubstanz auf den ersten Blick auch die Frommen des „Alten Bundes“ rechtfertigt, dann sollte man bedenken, dass vielmehr umgekehrt20 die Christologie überhaupt nur durch die „Homoousie“ des inkarnierten Logos mit JHWH gerechtfertigt werden konnte, da diese jede Zwischeninstanz oder einen zweiten Gott kategorisch ausschloss, sodass der Referenzpunkt des Glaubensaktes gesichert war, der in seiner weiteren Entfaltung fortan den „neuen Weg“ (des Christentums) beschreiten konnte. Eine soteriologische – theozentrische – Konzentrierung war für die Entfaltung der Trinitätslehre essentiell notwendig. Ihre Entwicklung vollzog sich als ein Prozess der Vergewisserung „gemäß der Schrift“ und Aktualisierung angesichts der Christuserfahrung sowie des Glaubensgespürs der frühen Kirche, die bekanntlich auch der dogmatischen Theoriebildung vorausging, wobei die verbindlichen dogmatischen Klärungen selbst unter Bezugnahme auf die Schriften Israels in einer dialogischen, konziliaren Konsensfindung (von Nizäa bis zu Konstantinopel) erfolgten, während sich parallel der Schriftenbestand des Neuen Testaments zu einem eigenen Textcorpus formiert. Und wie es plurale narrative oder doxologische Einkleidungen des Wortes Gottes im biblischen Kanon gibt, so finden sich bis heute unterschiedliche, plurale Zugänge zur Trinitätslehre – die vor dem Hintergrund des biblischen Zeugnisses zwar unter-

19 Nur so war eine Vorstellung von Erlösung denkbar, die nicht gotteslästerlich ist. Vgl. Lehmann, K., Dogmenhermeneutik am Beispiel der klassischen Christologie, in: Casper, B., u. a., Jesus. Ort der Erfahrung Gottes. FS für B. Welte, Freiburg i. Br. 1976, 190 –209, 204 f. „Die Glaubenseinsicht der Kirche, genährt durch die Schrift und gestärkt durch die Überlieferung, war wegweisend für die zu findende Antwort“ (207). 20 Vgl. Dünzl, Die Entscheidung, 29: „Die Christusverkündigung war auf dem Boden der jüdischen Bibel entstanden, sie war an deren Aussagen (etwa den Gottesknechtsliedern oder den Psalmen) geformt worden – nun, anderthalb Jahrhunderte später, nehmen christliche Theologen in einer Art Zirkelschluss beglückt wahr, dass der Christus der Kirche in den Büchern des Alten Testaments bis ins Detail ‚vorhergesagt‘ ist.“

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schiedlich plausibel erscheinen, aber zur legitimen Vielfalt katholischer Dogmatik gehören. Genese und bleibender Sinn des trinitarischen Dogmas bestätigen in jedem Fall die Anwendung unserer Prinzipien. Das Dogma selbst lässt in seiner soteriologischen Relevanz zugleich die Notwendigkeit sprachlicher Aktualisierung erkennen, insofern die alte Wendung „ein Gott in drei Personen“ aufgrund des heutigen Personenverständnisses dringend vor Missverständnissen zu schützen wäre.21 Eine sinnvolle und nachvollziehbare Aktualisierung müsste sich auf das biblische Zeugnis zurückbesinnen, sich von abstrakten Formeln lösen und dabei neu der heilsökonomischen Realität vergewissern, die in den Schriften bezeugt wird. Immerhin ist es diese heilsgeschichtlich konkrete – ökonomische – Erfahrung, die überhaupt erst auf eine immanent trinitarische Beziehungsdynamik Gottes schließen lässt. Um theologisch sprachfähig zu sein, bediente sich das Christentum der Motive, die es aus der Hl. Schrift (Israels) kannte. Begriffe wie Logos und Pneuma, Wort und Atem Gottes, die das Christusereignis von Ostern her deuten und erhellen sollten, sind zunächst der Schrift entnommen, die zur Vergewisserung im Glauben diente. Diese Motive erwiesen sich zugleich als anschlussfähig für einen erhellenden Dialog mit griechischer Philosophie – dem aktuellen „Zeitgeist“ der Urkirche! Wenn sich diese enge Verknüpfung von hebräischem und griechischem Denken bereits in der Bibel selbst abzeichnet (man denke nur an den Johannesprolog oder die Weisheitsliteratur) und sich in der Dogmengeschichte weiter und anders fortsetzt, so ist damit nur die These bestätigt, dass schon im Kanon selbst musterhaft und normativ jene interkulturelle Übersetzungsdynamik präfiguriert ist, die dann auch für spätere und heutige Rezeptionsprozesse als Vorbild gelten kann.22 21

Vgl. Rahner, K., Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: MySal II, 317– 401. 22 Für Thomas von Aquin bildet dann wiederum aristotelische Philosophie eine attraktive Dialogpartnerin. Vgl. Müller, K., Plastizität des Gottdenkens. Über den Stachel der Geschichtlichkeit im Vernunft-Glaube-Verhältnis, in: Grundmann, R./Kattan, A. E. (Hg.), Jenseits der Tradition? Tradition und Traditionskritik in Judentum, Christentum und Islam, Boston – Berlin – München 2015, 153 –170. Er beschreibt für das Christentum vier „Schübe von innovatorischer Diskontinuität“: a) der Überschritt des jungen Christentums aus dem jüdischen Kontext in die griechische Ökumene; b) der christliche Aristotelismus im Mittelalter; c) die philosophische Moderne und ihre theologischen Konsequenzen; d) die mit dem II. Vaticanum verbundene Erfahrung der Kirche als polyzentrische Weltkirche (154 –157). Zur Frage der Inkulturation und Interkulturalität vgl. im Folgenden: Kap. IV.2.3.

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Die neu erforderlich gewordene Verbindung von Monotheismus und Christusglaube führte zu einer Aktualisierung des theologischen Sprechens und Denkens. Für Theologen wie Origenes, der jeweils das Problem in der einen, die Bibel in der anderen Hand23 hatte, zeichnet sich auf Basis der Hl. Schrift ein Konsens ab, der auch für strenge Monarchianer akzeptabel erscheinen konnte. Doch waren damit längst nicht alle Fragen gelöst. Ganz im Gegenteil. Jeder Versuch, eine Eindeutigkeit der Schrift herzustellen, war mit Einseitigkeiten und neuen Dialogprozessen verbunden. Während Arius bei seiner Bekämpfung des Begriffs homoousios selbst zwar formal, aber selektiv auf die Hl. Schrift rekurrieren konnte, bemühten sich die Verteidiger des Konzils von Nizäa, „den von der Schrift gemeinten Inhalt in neuer Sprache unmissverständlich und nach den konkreten geistigen Bedürfnissen der damaligen Situation auszusagen. Das Anliegen der Väter war, die soteriologische Aussageabsicht der Schrift eindeutig auszulegen. […] Die Väter waren implizit der Überzeugung, dass sie sich durch diesen Sprachgebrauch nicht von der Schrift entfernen, sondern tiefer zu ihrem entfalteten Sinn zurückkehren.“24 Um die soteriologische Sinnrichtung der Schriften zu wahren und die Schrift vor einseitigen Interpretationen zu bewahren, musste man diese Schriften transzendieren und eine neue Sprache sprechen. Es wird deutlich: „Bewahrung der apostolischen Tradition erfolgt nicht durch die Repetition der Bibel, sondern in der Reflexion auf die volle Dimension des Sinnes der Schrift.“25 Die durch Nizäa intendierte Vereindeutigung, die für die Ausbildung einer kirchlichen Doktrin prägend wurde, geschah allerdings auf Betreiben einer staatlichen Autorität (des Kaisers) und seiner religionspolitischen Interessen, die primär auf Recht und Ritual konzentriert blieben. So wurden römische Rechtskategorien in das christliche Glaubensverständnis hineingetragen.26 Das christliche Glaubensverständnis, das bis 23 Vgl. Brox, N., „Gott“ – mit und ohne Artikel. Origenes über Joh 1,1, in: Ders., Das Frühchristentum, 423 – 429, 427. 24 Lehmann, Dogmenhermeneutik, 203. Vgl. Essen, G., Spätantike Dogmatisierungsprozesse zwischen kirchlicher Traditionsbildung, hellenistischer Wissenskultur und römischer Verfahrensordnung, in: Essen, G./Jansen, N. (Hg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, Tübingen 2011, 23 –37, 30: „Die Normativität selbst autoritativer, heiliger Texte stellt sich sozusagen nicht von selbst ein, sondern verlangt nach einer Interpretation. Normative Eindeutigkeit soll deshalb durch einen Rückgriff auf bestimmte Grundbegriffe erlangt werden.“ Darin liege eine „Hermeneutisierung der Wahrheitsfrage“ (29), die der Mehrdeutigkeit der biblischen Texte Rechnung trägt. 25 Lehmann, Dogmenhermeneutik, 199. 26 Vgl. Essen, Spätantike, 36: „Inhaltlich bestimmte religiöse Vorstellungen und ent-

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heute durch eine solch juridische Logik belastet ist, verlangte aber eine inhaltliche, konsensuelle Auseinandersetzung, keine formal-juristische, die Kontroversen normativ reguliert und definitiv abschließt. Der Glaube, der nach Verständnis und freier Zustimmung suchte, begnügte sich nicht mit einer Formel als Norm. Die Dogmengeschichte ging darum weiter – und mit ihr die Konzilsgeschichte als Rezeptionsgeschichte der Hl. Schrift. Es gelang auch dem Konzil von Nizäa nie, die erhoffte Eindeutigkeit herzustellen, weil es selbst neue interpretationsbedürftige Formulierungen hervorbringt, die in der weiteren Dogmengeschichte gegen neue Tendenzen der Verabsolutierung zu verteidigen waren. So drohte die Gefahr eines immer wieder aufkeimenden Monophysitismus, der auch von einer Akzentverlagerung in der liturgischen Praxis27 geprägt war – eine Tendenz, die erst durch das Konzil von Chalcedon und den ihm zugrundeliegenden theologischen Diskurs in Grenzen verwiesen und in eine spannungsvolle Balance gebracht werden konnte. Einer instinktiven28 Gegenreaktion der kirchlichen Gebetspraxis und des Glaubenssinns auf einseitige Tendenzen und Probleme eines mittelplatonischen Denksystems musste wiederum durch die Vergewisserung an-

sprechend deren Deutung und Interpretation sind Konstantin zufolge sekundär gegenüber dem, was römischerseits als Zentrum von Religion betrachtet wurde.“ Als Folgen benennt Essen (37): „eine zunehmende Theoretisierung von Bekenntnistexten […], in die – zum doktrinellen Gebrauch und in disziplinarischer Absicht – begriffsscharfe Glaubensformeln eingefügt werden. Die andere Entwicklung besteht […] in einer Verrechtlichung der zum doktrinären Gebrauch bestimmten Bekenntnisse.“ Der im Unterschied zu den frühen Taufformeln nun propositional festgelegte Glaube wird so verrechtlicht, dass die Zustimmung zu einer vorgelegten Norm „zu einer juridisch ausweisbaren Form von Rechtgläubigkeit wird.“ Es handelt sich um „einen römischen Normierungsvorgang innerhalb einer hellenistisch inkulturierten christlichen Theologie.“ 27 Vgl. Lehmann, Dogmenhermeneutik, 206: „Die frühe Gebetsweise der Kirche, Jesus Christus als Mittler der Menschen zum Vater hin zu betrachten, wurde durch den Arianismus selbst entwertet, weil dieser Mittler einseitig auf die Seite der Geschöpfe gestellt wurde. So konnte man nicht mehr ‚im Sohn‘ wirklich zum Vater gelangen. Diese Schwierigkeit erzeugte in weiten Teilen der Kirche eine Gegenreaktion: Das Gebet zu Jesus Christus, ja seine Anbetung als Gott verdrängte das Beten durch Jesus Christus zum Vater (bekanntlich hat die römische Liturgie diese Gebetsweise festgehalten). Auch diese Form des Betens war der alten Überlieferung nicht fremd, jedoch schuf der beschriebene Wandel eine solche Umakzentuierung, dass die christliche Frömmigkeit auf lange Zeit von solchen Einseitigkeiten des Christusbildes geprägt blieb.“ Lehmann bezieht sich auf: Jungmann, J. A., Die Stellung Christi im liturgischen Gebet, Münster 21962. 28 Das bedeutet auch: vom sensus fidelium geleiteten.

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hand der anerkannten Überlieferung in Gestalt der Schrift begegnet werden, um nicht selbst wieder in eine problematische Einseitigkeit abzudriften, die alles Menschliche an Jesus vergisst oder verdrängt. Die Dogmengeschichte und die mit ihr verbundene Hermeneutik erweisen sich demnach als ein permanent weiterlaufender, dynamischer Prozess der Relecture und Reinterpretation der in sich polyphonen Offenbarungszeugnisse im offenen Diskursraum einer Glaubensgemeinschaft, die im lebendigen Dialog mit ihrer Umwelt steht. Dogmatische Formeln sind dabei verbindliche Wegmarken eines Interpretationsprozesses, bei dem immer wieder neue Unterscheidungen und Entscheidungen notwendig sind, um die Identität des Glaubens im Wandel der Zeiten, Sprachen und Kulturen zu markieren. Dabei eröffnen alle dogmatischen Definitionen und Feststellungen, wo der Glaube authentisch erfasst und ausgedrückt sei (und wo vielleicht nicht mehr), mit ihren richtungsweisenden, aber zugleich kontingenten Formulierungen wiederum selbst neue Fragehorizonte, die einen weiteren Auslegungsprozess mit neuen Differenzierungen aufgrund neuer Glaubenserfahrungen initiieren – einen offenen Rezeptionsprozess, der an den Kanon der Hl. Schrift rückgebunden bleibt und an ihr Maß nehmen muss, um das Kerygma in seiner Pluralität und kanonischen Kohärenz vor der einseitigen und tendenziösen Auswahl (Häresie) einzelner Teilaspekte schützen zu können.29 Dies gilt auch dann, wenn Dogmen in ihrer Rezeption eine zunächst unbewusste oder nicht intendierte Einseitigkeit generieren.30

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Vgl. Lehmann, Dogmenhermeneutik, 203 f.: „Die richtig verstandene dogmatische Formulierung tritt nicht in Konkurrenz mit der Form und der Formulierung der Schrift; sie ersetzt diese nicht; sie erhebt nicht den Anspruch, besser, vollständiger, ‚moderner‘ das Gemeinte auszudrücken. Sie will das Evangelium verstehen helfen. Das Dogma ist in diesem Sinne keine Grundlegung, sondern nur eine Auslegung der Offenbarung. Es bleibt zurückbezogen auf das Kerygma und sucht es vor voreiligen Übergriffen des menschlichen Denkens zu schützen und zu retten. Gleichwohl ist es gerade in dieser Funktion unentbehrlich und darum auch in der jeweiligen Grundentscheidung unüberholbar.“ 30 Das II. Vaticanum reagiert z. B. auf eine historisch bedingte, einseitige Betonung der Bedeutung des Papstes durch das I. Vaticanum, wenn es diesen – in seiner legitimen Rollenbeschreibung – an das Bischofskollegium und die Gesamtkirche rückbindet. Ein Teilaspekt (die außerordentliche Notwendigkeit einer Letztverantwortung und des personalen Zeugnisses im Dienste der Einheit) wird gegen maximalistische und zentralistische Tendenzen in den Gesamtzusammenhang einer als „communio“ verstandenen Kirche eingeordnet, die nicht in einer Institution aufgehen darf, wenn sie „Zeichen und Werkzeug“ des Heils sein will (LG 1).

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„Wenn das Dogma der Kirche auf das Ganze der Offenbarungsvermittlung bezogen bleibt, muss es auch immer wieder den Weg von seiner eigenen Partikularität und Endlichkeit zum vielfältigen Schriftzeugnis zurückgehen. Jedes Dogma, gerade wenn ihm eine bestimmte und unaufgebbare Wahrheit eignet, weiß, dass es nicht nur einen realen und bleibenden Erkenntniszugewinn darstellt, sondern dass es auch in der verschärften Pointierung eines unaufgebbaren Wahrheitsmomentes einen neuen und vielleicht auf lange Zeit nicht erkennbaren Schatten werfen kann. Darum muss das Dogma in der ihm eigenen Pilgergestalt entdeckt und stets von neuem nach ‚rückwärts‘ und nach ‚vorne‘ in das Ganze des Glaubensbewusstseins der geschichtlichen Kirche eingeborgen werden.“31

Hier zeigt sich im theologischen und ekklesialen Dialog das Prinzip der Vergewisserung und Aktualisierung (anhand der Hl. Schrift und gesamten Tradition sowie des aktuellen kirchlichen Glaubensbewusstseins) ebenso wie die soteriologische Intention, die sich bereits bei Nizäa32 auf die Vermittlung des göttlichen Heils richtet, das der christliche Glaube mit Jesus Christus unmittelbar in Verbindung bringt und das in die Sprache (und somit das Denken) der jeweiligen Zeit übersetzt werden muss. Dem Heil kann nur dienen, was praktikabel kommunizierbar ist. Dabei wird auch deutlich: Begriffe, die später als dogmatische Fachtermini einer vermeintlich unabänderlichen Lehre galten (homoosios, hypostasis etc.), waren immer auch „Ausprägungen einer Art von höherer Umgangssprache“ des damaligen Zeitgeistes!33 Die Väter von Nizäa bedienten sich mit dem homoousios einer unbiblischen Begrifflichkeit, die die Schrift im Sinne der Schrift erklären soll.34 31

Lehmann, Dogmenhermeneutik, 207; im Original hervorgehoben. Vgl. Lehmann, Dogmenhermeneutik, 197: „Für die Väter von Nikaia ist der Sohn nicht in erster Linie eine Funktion des Weltbildes, sondern der soteriologische Bringer von Offenbarung und Heil. Es geht Nikaia vor allem um die Klärung der Sohnesaussagen der Schrift.“ Anhand des Terminus homoousios zeige sich, so Lehmann (ebd., 202, im Original kursiv), „eine wichtige sprachliche Struktur des kirchlichen Dogmas, das weniger in terminologisch fixierten Begriffen gefasst wird, sondern nicht zuletzt dem gemeinsamen Sagenkönnen der kirchlichen Lebensgemeinschaft entspringt. So eignet dem ‚homousios‘ [sic] ein Stück weit der Charakter einer ‚pragmatischen‘ Sprachkonvention (‚Sprachregelung‘), was auch den jahrzehntelangen Prozess seiner kirchlichen Rezeption eher verständlich machen kann.“ 33 Vgl. Lehmann, Dogmenhermeneutik, 208. „In ihrem vulgär-wissenschaftlichen Sinn haben sie an der Struktur der Alltagssprache Anteil.“ Daraus resultiere auch ihre „Flexibilität und Porösität der Bedeutungskraft“. Gerade darum eigne ihnen wohl eine „überraschende innere Konsistenz und eine sich durch alle Wandlungen bezeugende geschichtsmächtige Kraft“ (209). 34 Vgl. Nicklas, Die Kanonisierung, 94. „In einer Auseinandersetzung, in der verschie32

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Dabei beanspruchen sie – unreflektiert – eine Deutungshoheit über die Schrift, die in ihrer Rezeption wiederum nicht unproblematisch blieb. Bis weit über Chalcedon hinaus wurde damit gerungen, um dem Zeugnis der Hl. Schrift und ihrer Polyphonie gerecht zu werden. Es galt, das Bekenntnis „gemäß der Schrift“ auszuweisen. Dass die sich entfaltende Christologie in der frühen Dogmengeschichte wie schon im NT von einer Vielfalt geprägt war, wird heute gerne vergessen.35 Dass ein christologischer Konsens überhaupt nur nach langem und zähem Ringen, nach viel Dialog und Verständigung möglich geworden war, sollte aber allgemein bekannt sein. Der rote Faden, der sich durch diese Debatten zieht, ist interessanterweise der Verweis – aller Seiten – auf die Soteriologie. Nur wenn Gott selbst uns durch Jesus Christus anspricht, kann dieser erlösen; nur wenn diese Erlösung wirklich durch einen echten Menschen „wie Du und Ich“ vermittelt wird, kann solche Erlösung bei uns ankommen und uns auch wesentlich betreffen: quod non assumptum, non sanatum. Auch für den Heiligen Geist gilt, dass er nur dann als lebensspendende Kraft des Schöpfers zu verstehen ist, die schon durch die Propheten – im AT – gesprochen hat, wenn in ihm wirklich Gott selbst gegenwärtig ist, der im Menschen und in der Gemeinschaft von Menschen wirkt. Die Soteriologie – in ihrer theofinalen Ausrichtung – bildet daher die Argumentationsgrundlage sowohl der Christologie als auch der Pneumatologie; sie ist in diesem Sinne also gleichsam die „Mutter aller Dogmen“36 und der Motor der frühen Dogmengeschichte, die den Bezug zum einen und einzigen Gott wahren will und einmalige Erfahrungen eschatologischer Tragweite und bleibender Unüberholbarkeit damit verbindet. Dass aber die verschiedenen Perspektiven aus Alexandria und Antiochien sich auf dem Konzil von Chalcedon überhaupt zu einer Kompromissformel verbinden konnten, war nur durch einen offenen und kritischen Dialog möglich, der konsequent synodal vollzogen wurde. Verschiedene Lesdene Gruppen ihre Argumente mit der Schrift belegen wollten, wählen die Väter von Nicaea einen nicht in der Schrift zu findenden, zudem aufgrund seiner Verwendung in ‚gnostischen‘ Kreisen nicht unproblematischen Begriff, um eine entscheidende Frage zu klären. Dabei wollen sie, obwohl sie begrifflich die Schrift verlassen, um einen alleine mit der Begrifflichkeit der Schrift nicht aufzulösenden Konflikt zu klären, auf dem Boden der Schrift verbleiben – und üben damit natürlich eine Deutungshoheit aus, die, wie die lange Nachgeschichte zeigt, von den Gegnern Nicaeas nicht anerkannt wird.“ 35 Vgl. Kany, Christologie, 154; Grillmeier A., Jesus der Christus im Glauben der Kirche. Bd. 1. Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg i. Br. 31990. 36 Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 20.

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arten der Schrift wurden schließlich nach hartem Ringen zusammengeführt. Diese Einheit im Bekenntnis erfolgte ja nicht durch das Responsum einer Glaubenskongregation und ihre subjektive Lesart der Schrift, sondern durch theologisch geprägten, konziliaren Diskurs, sowie unter Anrufung eines Schiedsrichters, der vermittelnd eingreift, wenn der Diskurs festgefahren scheint. Gerade das „latrocinium“ von Ephesus zeigt hierbei auch, dass weder verbaler noch psychischer oder körperlicher Zwang oder irgendeine andere Machtdemonstration glaubwürdige Argumente und ein angemessener Stil sind, um die menschgewordene Liebe Gottes authentisch zu bezeugen. Es zeigt sich vielmehr in aller Klarheit, dass nur ehrliche Aussprache den theologischen Dissens im Glauben nachhaltig zu befrieden vermag. Die beiden großen Perspektiven (Einigungs- wie Unterscheidungshermeneutik) behielten in der Christologie bis heute ihre Berechtigung, solange sie sich durch die jeweils andere Perspektive begrenzen und vor ihren Extrempositionen schützen lassen. „Auf der höchsten Ebene dogmatischer Autorität wird die Negation zu einem tragenden Argument der Position und damit Pluralität zur Basis der Einheit.“37 Darum ist Chalcedon Ende und Anfang zugleich: Resultat von Dialog und Aktualisierung im Hinblick auf den soteriologischen Sinn – und bleibender Auftrag, den Weg der Glaubenskommunikation weiter zu beschreiten.38 Zugleich spiegelt die Dogmengeschichte hier die Pluralität des Kanons, in dem sich bekanntlich auch schon aszendenz- wie deszendenzchristologische Blickwinkel treffen und alttestamentliche Motive im Lichte der Auferstehung oder des Pfingstereignisses neu lesen und mit wachsendem Verständnis weiter vertiefen. JHWH, auf den alles – auch sein Christus – hingeordnet ist, bleibt für jede Christologie dabei der Ursprung und das Ziel aller Heilsdynamik.39 Die neutestamentlichen Christologien haben einen dezidiert theozentrischen und insofern soteriologischen Charakter.40 Der Auferweckte verherrlicht durch sein Leben für Gott und für die Menschen den einen und einzigen Gott, „und zwar dadurch, dass er die Seinen in seine theozentrische Hinordnung auf den Vater rettend einbezieht“.41 Christologie 37

Vgl. Sander, Die kritische Autorität, 48. Vgl. Rahner, K., Probleme der Christologie von heute, in: Ders., Schriften zur Theologie I, 169 –222, 170. 39 Vgl. Thüsing, W., Das Gottesbild des Neuen Testaments, in: Ders., Studien, 59 – 86, 64. 40 Vgl. Thüsing, Das Gottesbild, 73. 41 Thüsing, Das Gottesbild, 74. 38

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ist und bleibt darum nur legitim, wenn sie die Proexistenz Jesu von Gott her (Ursprung) und auf Gott hin (Ziel) versteht.42 Sie gibt Gott-Vater die oberste Priorität und ehrt auf diese Weise den Sohn. Darin besteht die wesentliche Kontinuität zum Glauben der Hl. Schriften Israels: Es ist derselbe Gott, der durch Christus alle Menschen anspricht und in seinem Geist offenbart, dass dieser den Weg des Lebens markiert, indem er den Willen des Vaters tut: bedingungslos zu lieben, aus reiner Gnade. Wilhelm Thüsing betonte daher: „Die ur-sprüngliche Gottesoffenbarung, die keimhaft schon alles in sich enthält, ist die Offenbarung des Jahweh-Namens im AT. Diese schließt die Selbstmitteilung Gottes durch einen singulären Menschen nicht aus, sondern ist offen für ein andrängendes ‚Da-Sein‘ Jahwes – selbst in der ungeahnten Weise des Jesusgeheimnisses. Christusglaube ist nicht Christozentrismus im Sinn eines subkutanen Monophysitismus, der den Ursprung und das Ziel allein in ‚Christus‘ sieht; vielmehr ist Jesusglaube – im Sinn von Hebr 12,2 – sowohl der Glaube Jesu (Jesus selbst wird in Kontinuität zum alttestamentlichen Glauben ‚theozentrisch‘ gesehen) als auch der Glaube seiner Jünger an Jahweh, der jetzt durch die Gemeinschaft mit Jesus ihr ‚Vater‘ geworden ist. Das Neue im NT und von daher auch der Zusammenhang zwischen NT und AT ist weithin durch den Pneuma-Gedanken erfasst. Das Pneuma ist jetzt, im NT, durch die Verbindung mit dem singulären ‚Sohn Gottes‘, Medium der Gottunmittelbarkeit nicht nur für einzelne Geistträger, sondern für alle in Gemeinschaft mit Jesus Stehenden – und potentiell bzw. intentional für alle Menschen“.43

Nicht nur mit Blick auf das Ursakrament, sondern auch im Bereich der Sakramententheologie zeigt z. B. die Entfaltung des Bußsakraments an sich (als eine zweite Möglichkeit zur Umkehr und Versöhnung jenseits der Taufe) wie eben auch die Tatsache, dass sich – gegen anfänglichen Widerstand des Lehramtes44 – die Absolutionsbuße mit der Möglichkeit zur wiederholten Versöhnung statt der einmaligen Exkommunikationsbuße durchsetzen konnte, dass die pastorale Praxis der Kirche sich an der soteriologischen Intention des Evangeliums ausrichtete, weil man Menschen nicht unversöhnt und ohne den Zuspruch der Barmherzigkeit Gottes sterben lassen wollte. Während manche meinten, hier eine vermeintliche Aufweichung der Lehre bekämpfen zu müssen, haben sensible Seelsorger diese Lehre auf ihr ursprüngliches Ziel hin befragt und eine 42

Vgl. Thüsing, Das Gottesbild, 75. Thüsing, Das Gottesbild, 83 f. 44 Vgl. Nocke, F.-J., Spezielle Sakramentenlehre. IV. Buße, in: Schneider, T. (Hg.), Handbuch der Dogmatik. Bd. 2, Düsseldorf 32006, 306 –334, 315. 43

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dogmatische Aktualisierung angestoßen, die sich auch auf die Hl. Schrift berufen kann, wo die scheinbar unerschöpfliche Versöhnungsbereitschaft des barmherzigen Vaters bereits in der jesuanischen Hermeneutik artikuliert wird (vgl. Mt 18,21 ff.). Wieviel Diskurs und wohl auch Widerspruch im Umfeld einer solchen Entwicklung nötig war, lässt sich nur noch erahnen. Doch die kirchliche Praxis setzt sich mit ihrer Innovation schließlich durch – wiederum um des Heiles der Menschen willen. Dass es hingegen in der Tauftheologie zu einer unheilvollen Verbindung mit der Ursündenlehre gekommen war, die auch auf unreflektierte anthropologische Prämissen45 hin zu befragen ist, wurde zuvor schon angedeutet.46 Die hoch problematische Wirkungsgeschichte von Gen 3 – von der paulinischen Rezeption über Augustinus bis hin zum eschatologischen Postulat eines limbus infantium – wurde offiziell von lehramtlicher Seite erst unter Benedikt XVI. einer teilweise kritischen Relecture und Revision unterzogen.47 Die bedrohlichen Auswüchse dieser theologischen Theoriebildung sind nach einer kritischen Vergewisserung anhand des biblischen Textes offensichtlich nicht haltbar.48 Vielleicht hätte man durch ein Mehr an Dialog mit der kirchlichen Basis und ihrem Glaubensgespür schon deutlich früher erahnen können, wie hier die Frohbotschaft in eine Drohbotschaft verkehrt wurde. Dass Augustinus seine (übrigens stark subjektiv und biographisch eingefärbte) Auslegung einer universalen Sündenverstrickung aber eigentlich von der universalen Erlösungstat Jesu Christi her49 und insofern mit einer soteriologischen Intention entworfen hatte, nämlich um die Gnade Gottes gegenüber menschlichem (Pelagianismus) wie auch kirchlichem (Donatismus) Leistungsdruck und der Gefahr einer heillosen Überforderung des Menschen zur Geltung zu bringen, sei hier zumindest erwähnt.50 Er reagiert aus seiner (begrenzten) 45 Vgl. Böttigheimer, C./Dausner, R. (Hg.), Die Erbsündenlehre in der modernen Freiheitsdebatte (QD 316), Freiburg i. Br. 2021. 46 Vgl. Kap. III.3.1. 47 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Hoffnung auf Rettung für ungetauft sterbende Kinder, hg. v. Sekretariat der DBK (Arbeitshilfen 224), Bonn 2008. 48 Vgl. Rothenbusch, Inspiration, 130. Die Wirkungsgeschichte von Gen 3 beginne in der Bibel (vgl. Sir 25,24; Weish 2,23 f.). Sie wird durch die augustinische Rezeption von Röm 5,12 folgenreich wirksam – eine Rezeption, die jedoch „mit einer modernen bibelwissenschaftlichen Interpretation des Textes nicht mehr zu vereinbaren ist“. 49 Vgl. Dirscherl, Grundriss, 200. 50 Vgl. Merkt, A., Theologie und religiöse Volkskultur. Patristische Streiflichter auf eine schwierige Beziehung, in: Grieser, H./Merkt, A. (Hg.), Volksglaube im antiken Christentum, Darmstadt 2009, 472– 490.

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Sicht auf einseitige Entwicklungen. Neue Bedingungen führen immer zu neuen theologischen Reaktionen.51 Dass die aktualisierte Rede von „Strukturen der Sünde“52 eine wichtige soziale Dimension, die intersubjektive Heilssolidarität, Leibhaftigkeit und Geschichtlichkeit in Erinnerung ruft, macht deutlich, dass der in der Ursündenlehre anvisierte Heils- und Unheils-Zusammenhang aller mit allen letztlich einen positiven Gehalt in sich trägt: Er markiert die (sozial)ethische Verantwortung für unsere Mitmenschen und unsere Umwelt, wie z. B. auch die Theologie der Befreiung in Erinnerung ruft. Die Ursündenlehre erinnert quasi ex negativo daran, dass sich die Beziehung zu Gott und die theofinale Ausrichtung aller Theologie nicht von der Beziehung zu unseren Mitmenschen isolieren lässt, für deren Heil wir gemeinsam mitverantwortlich sind. Demgegenüber stellen z. B. die neuzeitlichen Mariendogmen von 1854 und 1950 aufgrund ihrer Genese eine besondere Herausforderung für jede Dogmenhermeneutik dar. Fakt ist, dass es in diesem Zeitraum eine ausgeprägte Marienverehrung im Volk Gottes gibt, die als solche nicht unmittelbar mit dem Kanon der Hl. Schrift selbst begründet werden kann, aber länger schon untergründig in der Tradition transportiert worden war. Die Marienfrömmigkeit kann sich dabei auf sehr alte apokryphe bzw. apokryph gewordene Schriften53 jenseits des biblischen Kanons berufen, die in einer überlieferten Frömmigkeitspraxis wurzeln und diese unter der Oberfläche der offiziellen Tradition gleichsam subkutan prägten. Die darin gründende Volks- und Alltagsfrömmigkeit ist also über die Jahrhunderte hinweg von einer unkontrollierbaren Eigendynamik in der Rezeption gekennzeichnet, die schließlich (aus nicht ganz interessefreien Gründen) durch das kirchliche Lehramt explizit aufgegriffen und in offizielle Bahnen gelenkt wird – und gelenkt werden musste. Denn mit den Dogmatisierungen werden indirekt (vielleicht sogar unbewusst) klare Grenzen definiert, sodass potentielle Auswüchse der Marienverehrung – jedenfalls von offizieller Seite – eingedämmt wurden. In 51 Das gilt auch für die Eschatologie. Vgl. Nicklas, Die Kanonisierung, 100. Die Entwicklung zur Volkskirche, die nicht nur überzeugte Christusanhänger umfasst, führt zu einer Hierarchisierung des Himmels: „Auch die Bilder vom Jenseits mussten, um ihrer pädagogischen Funktion gerecht zu bleiben, angepasst, hierarchisiert werden.“ 52 Vgl. Dirscherl, E., Sünde – glückliche Schuld?, in: Dirscherl/Weißer, Dogmatik, 115 –141, 139 f. 53 Vgl. Shoemaker, S. J., Mary in Early Christian Faith and Devotion, New Haven 2016.

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dogmatischer Hinsicht ist z. B. mit dem Assumptio-Dogma von 1950 ein für alle Mal klargestellt, dass die Verehrung Mariens ausschließlich auf einer rein anthropologischen Ebene54 anzusiedeln ist. Während bis heute manch exzessive Frömmigkeitspraktiken und problematische Gebets-/ Gesangstexte sich noch im dogmatischen Niemandsland nahe der Idolatrie55 bewegen, ist die offizielle Lehre der katholischen Kirche diesbezüglich klar abgesteckt.56 Mit der Fortführung der Lehre und den richtungsweisenden Entscheidungen des II. Vatikanischen Konzils57 (vgl. LG 52– 69) wird nämlich die unhaltbare Vorstellung verworfen, Maria selbst als die soteriologisch maßgebliche oder gar entscheidende Wirklichkeit zu betrachten. Diese besteht einzig und allein im dreifaltigen Gott.58 Als Mutter des Erlösers und Urbild bzw. Vorbild der Kirche59 steht sie eindeutig auf Seite der Menschen, hat als Frau und Mutter eine unersetzliche, mittelbare Funktion in der Heilsgeschichte, die aber mit dem Titel qeot{koj schon auf dem Konzil von Ephesus christologisch rückgebunden wurde und insofern immer schon relativiert – an Christus gebunden – ist. Die neuzeitlichen Mariendogmen greifen mit ihrer sehr voraussetzungsreichen60 und heute kaum noch zugänglichen Definition nicht nur eine real existierende Glaubenspraxis der Kirche auf, sondern sie markieren auch deren Grenze, die dort erreicht ist, wo die substan54 Vgl. Müller, Katholische Dogmatik, 478. Bei der Mariologie handelt es sich, wie Müller hervorhebt, um eine „gnadentheologisch konkretisierte Anthropologie“. 55 Die Marienverehrung unterscheidet sich „wesentlich vom Kult der Anbetung, der dem menschgewordenen Wort gleich wie dem Vater und dem Heiligen Geist dargebracht wird“ (LG 66). 56 Vgl. Beinert, W./Petri, H. (Hg.), Handbuch der Marienkunde, Bd. 1: Theologische Grundlegung. Geistliches Leben, Regensburg 21996. 57 Vgl. Greshake, G., Maria-Ecclesia. Perspektiven einer marianisch grundierten Theologie und Kirchenpraxis, Regensburg 2014, 175 –189. 58 Nach Greshake, Maria-Ecclesia, 583, ist Maria der „Prototyp des glaubenden Menschen“; Müller, Katholische Dogmatik, 480, spricht vom „Paradigma des begnadeten und glaubenden Menschen und Typus der Glaubensgemeinschaft der Kirche (LG 53).“ 59 Vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben Marialis cultus, Rom 1974 (https://www.vati can.va/content/paul-vi/de/apost_exhortations/documents/hf_p-vi_exh_19740202_maria lis-cultus.html), Nr. 25; 57. 60 Auch die von der Ursündenlehre abhängige, gewisse Aporien einer einseitig rezipierten Ursündenlehre gnadentheologisch kompensierende und insofern gleich mehrfach erläuterungsbedürftige Formel der „immaculata conceptio“ markiert – bei allem Interpretationsbedarf und aller Fragwürdigkeit in der Formulierung dieses Dogmas – ganz klar das Feld theologischer Anthropologie, innerhalb derer sich das Zur-Welt-kommen Mariens und ihre Wirkung bewegt. Gleiches gilt für die vollkommene Vollendung ihrer geschaffenen Wirklichkeit durch Gott.

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tielle Kontinuität im Glauben an den einen Gott selbst und seine exklusive soteriologische Bedeutung zur Debatte steht, die mit seiner Selbstoffenbarung durch und in Jesus Christus verbunden wird, aber niemals auf eine rein geschöpfliche Wirklichkeit übertragbar oder additiv ergänzbar ist. Denkt man in diesem Zusammenhang an das Magnificat (Lk 1,46 –55), so ist sofort erkennbar, dass ausgerechnet hier die machtvolle Durchsetzungskraft und Treue JHWHs im Lobpreis zur Sprache kommt – mit höchster Priorität und nicht zufällig nach dem Prinzip von Widerspruch und Rettung.61 Die Vergewisserung anhand der Hl. Schrift verbietet hier jede Grenzüberschreitung hin zu einer Mariologie, in der die Gottesmutter mit Gott selbst oder seinem inkarnierten Wort gleichgestellt wird. Zugleich war im Umfeld der Mariendogmen eine Aktualisierung des Glaubens möglich, die sich auf eine zwar niemals vergessene, aber allmählich deutlicher ins Bewusstsein tretende Glaubenserfahrung stützt, die für die (soteriologisch entscheidende) Gottesbeziehung durchaus relevant und auch heilsbedeutsam sein kann: Die irreduzible Würde und aktive Bedeutung von Frauen und Müttern in der Heilsgeschichte. Man konnte dabei positiv an den Kanon anknüpfen, hat aber dessen Potential diesbezüglich wohl bis heute nicht annähernd ausgeschöpft. Indem sich die Päpste bei den neuzeitlichen Mariendogmen vor ihren Entscheidungen nach dem tatsächlichen Glaubensleben der Kirche(n) erkundigten und so (zumindest rudimentär) auf ein dialogisches Moment rekurrierten, banden sie die Rezeptionsgemeinschaft der Kirche und ihre Glaubenspraxis in den Prozess ihrer Definition ein, die dann freilich nicht gegen das Fundament der Hl. Schrift erfolgen konnte, vor deren Hintergrund auch eine aktualisierende Auslegung und kritische Relecture der Dogmen notwendig ist. So kamen die Prinzipien der skizzierten Hermeneutik auch hier jedenfalls indirekt zum Tragen. Dass in einem veränderten Kultur- und Frömmigkeitskontext aber eine Reformulierung 61 Der Jubel über „Gott, meinen Retter“ verbindet sich mit der Erkenntnis: „Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig.“ Dass dieser Lobpreis der Treue Gottes mit der Erinnerung an die Geschichte Israels und dessen bleibende Erwählung verbunden ist, darf nicht übersehen werden. Er verweist zwangsläufig zurück auf die Schriften Israels und markiert dabei, trotz allem Wandel, eine theologische Kontinuität in Ursprung und Ziel.

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und Reinterpretation, vielleicht ein traditionskritischer Rückblick unter Beachtung der kanonischen Kriterien sowie der Rezeptionsschwierigkeiten der mariologischen Formeln weitestgehend ausbleibt, verringert das Verständnis und die Akzeptanz der besagten Dogmen immens. Mit der ekklesiologischen Einordnung und impliziten anthropologischen Unterordnung der menschlichen Mutter des inkarnierten Gotteswortes unter dieses Wort selbst hat das kirchliche Lehramt aber für die weitere Überlieferung Grenzen markiert, die es in diesem Moment selbst vielleicht gar nicht im Blick hatte, die aber für den christlichen Glauben wesentlich sind.62 Gleichzeitig bediente es sich eines Stils, der – rückblickend63 – dem sensus und consensus fidelium zu seinem vollen Recht verhalf. Der sensus fidelium wird „zum primären Kriterium“ der Tradition, wie Joseph Ratzinger erkannt hat.64 Vorsichtig fügt er hinzu: „So Wichtiges hier auch gesehen sein mag, es besteht die Gefahr, dass hinter dem sich selbst genügenden Bewusstsein – typisch neuzeitlich – das Sein verschwindet, dass das, was Kriterium der T[radition] sein sollte, sich selbst als T[radition] setzt u. dass gleichzeitig mit diesem Bewusstseinspositivismus der Gesamtkirche ein Lehramtspositivismus erwächst, der über dem pneumatischen Präsens das christolog. Eph’hapax übersieht u. so die Grundstruktur der christlichen Tradition verkennt.“65

Die von Ratzinger erkannte Gefahr eines Lehramtspositivismus, der Schrift und Tradition als kritische Instanzen hinter sich lässt, wird aber umso größer, wenn „die kirchliche Lehrautorität“ und ihr „ekklesialer Subjektivismus“ vom Offenbarungsvorgang selbst kaum unterschieden werden.66 Diese Spannung wird bei Ratzinger selbst je nach Bedarf ver62 Kanonisierungen wie Dogmatisierung können trotz aller macht- und kirchenpolitischen Interessen offenbar rückblickend auch einen ursprünglich nicht intendierten Sinnüberschuss und positiven „Nebeneffekt“ beinhalten, der sich vielleicht erst in der Rezeptionsgeschichte der definierten Texte zeigt. Das gilt auch für einige altkirchliche Konzilien. Diese die menschlichen Interessen transzendierende Eigendynamik lässt erneut erahnen, wie Inspiration pneumatologisch zu verstehen ist. 63 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Sensus fidei, Nr. 37 f.; 43, wo von conspiratio die Rede ist. 64 Ratzinger, Tradition, 296. 65 Ratzinger, Tradition, 296 f. 66 Vgl. Voderholzer, Offenbarung und Kirche, 61. Zur Problematik vgl. Langenfeld, A., Kirche als Subjekt der Einheit? Anmerkungen zu Thomas Marschlers Begriff von Dogmengeschichte im Kontext der Frage nach einer Einheit der Theologien, in: Dürnberger, M./Langenfeld, A./Lerch, M./Wurst, M. (Hg.), Stile der Theologie. Einheit und Vielfalt katholischer Systematik in der Gegenwart (ratio fidei 60), Regensburg 2017, 169 –179.

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schieden aufgelöst. Entweder ist es die geschichtliche Verbindlichkeit des Offenbarungszeugnisses, über das die Kirche ja nicht einfach eigenmächtig verfügen dürfe, um z. B. aus pastoraler Notwendigkeit die Zulassungsbedingungen für die Ordination zu modifizieren, oder aber es ist die Kompetenz der Kirche, der die Vollmacht zur je neuen Auslegung gegeben ist: „Die Kirche kann eine neue Beleuchtung eines Textes in neuen Zusammenhängen vollziehen, ohne damit dem Wort Gottes untreu zu werden, denn ähnlich wie der Evangelist (wenn auch anders) gehört sie selbst in den Vorgang der Wortmitteilung, der Offenbarungsvergegenwärtigung hinein. Das Wort Gottes ist gegeben in der überliefernden Tat der Kirche.“67 Gibt es aber nun theologische Kriterien, die jenseits aller subjektiven Befindlichkeiten oder kirchlichen Mehrheitsverhältnisse entscheiden, ob die geschichtliche Vorgegebenheit oder pneumatische Dynamik und Freiheit stärker zu gewichten sind? Die pneumatische Dynamik der Offenbarung bleibt immer auf das geschichtlich objektivierte Material des Offenbarungszeugnisses (und nicht nur auf die rezipierenden Zeugen oder deren Autorität) verwiesen. Allein in einer dialogischen Vergewisserung, die synchron und diachron erfolgen muss, kann die Kirche als Glaubensgemeinschaft dann die soteriologische Bedeutung des Wortes Gottes jenseits seiner menschlichen Bezeugung für hier und heute erschließen, um damit unter den jeweils aktuellen Bedingungen eine je erlösende Beziehung zum Ursprung und Ziel aller kirchlichen Tradition zu vermitteln: zum Gott des Lebens. Seine Offenbarung und ihre Tradition bleiben nicht auf das Material der Hl. Schrift beschränkt, sondern erlauben eine Art „Transferleistung“ der Kirche, die angesichts von Schrift und Tradition wie auch von der pastoralen Situation her zu begründen und gemeinsam zu bestimmen ist. Sogar die Existenz der Kirche selbst entspringt einer solchen Transferleistung im Sinne Jesu! Hier konnte bereits vom neutestamentlichen Befund her darauf verwiesen werden, dass nicht nur die Wesensbeschreibung der Kirche (Ekklesiologie), sondern sogar ihre gesamte Existenz und Entstehung (Ekklesiogenese) mit den kanonischen Mustern korrespondiert.68 Die Kirche steht ja in ihrem Selbstverständnis und ihrer stets soteriologisch begründeten und motivierten Mission (vgl. LG 1) zwar in keinem direkten Widerspruch zu der primären Intention Jesu (der Herrschaft Gottes und 67 68

Ratzinger (JRGS 2, 67), zitiert nach Voderholzer, Offenbarung und Kirche, 55. Vgl. Ratzinger, Ein Versuch, 41.

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Sammlung Israels), sie ist aber, wie Joseph Ratzinger es formulierte, „in der Stufenfolge der Christusoffenbarungen erst eine zweite Möglichkeit.“69 Das gilt auch für die Öffnung der Christusgemeinde über den Adressatenkreis Israels hinaus, die sich erst sekundär aus einer „Reihe von geschichtlichen Anstößen“ und damit auch gegen das vorherrschende dogmatische System ergeben hatte – in einer Transzendenz des persönlichen Wirkungskreises Jesu. Es handelt sich deshalb um eine eigene Entscheidung der Kirche im Heiligen Geist, durch welche die Urgemeinde „jene neue Interpretation der Christusbotschaft“ eröffnete, auf der die Kirche selbst „wesentlich ruht.“70 Die Synode der Apostel konzentriert sich bei ihrer Entscheidung auf die soteriologische Zielsetzung bzw. den faktischen Befund, allen Menschen guten Willens eine erlösende Gottesbeziehung durch Jesus Christus vermitteln zu können. Sie ordnet dieser obersten Priorität all jene dogmatisch verbindlichen Ausgestaltungen ihrer Zeit unter, denen sogar Jesus selbst sich als Jude verpflichtet wusste – wie Beschneidung, Speisegebote, etc. Noch mehr: Die daraus erwachsende Kirche riskiert und akzeptiert das vielleicht schmerzhafteste aller Schismen, nämlich den Bruch mit der für sie verbindlichen, fest in der Tradition stehenden Synagoge – einzig und allein um des Heiles der Heiden willen. Das sogenannte Apostelkonzil begründet seine innovative Entscheidung, indem es sich der Schrift vergewissert und ihren Sinn neu zu verstehen lernt, angesichts der Missionserfolge und einer Zuwendung der Heiden zum Gott Israels. Man reagiert auf aktuelle Ereignisse und erweitert die eigene Gemeinschaft in einer als skandalös geltenden Weise auf all jene hin, die moralischen und dogmatischen Maßstäben des theologischen Status quo suspekt sind. Um sie ansprechen zu können, wird geltende Lehre zugunsten einer theofinalen Dynamik relativiert, also positiv rückgebunden an ein letztes Kriterium: die heilsame Beziehung zu Gott, die durch Christus nun für alle erschlossen wird und die den Geist der Freiheit schenkt. Keiner hat dies präziser zum Ausdruck gebracht als Paulus: „Den Juden bin ich ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen; denen, die unter dem Gesetz stehen, bin ich, obgleich ich nicht unter dem Gesetz stehe, einer unter dem Gesetz geworden, um die zu gewinnen, die unter dem Gesetz stehen. Den Gesetzlosen bin ich sozusagen ein Gesetzloser geworden – nicht als ein Gesetzloser vor Gott, sondern gebunden an das Gesetz Christi –, um die Gesetzlosen zu gewinnen. Den Schwachen bin ich ein Schwacher gewor69 70

Ratzinger, Ein Versuch, 41. Ratzinger, Ein Versuch, 41.

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den, um die Schwachen zu gewinnen. Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an seiner Verheißung teilzuhaben.“ (1 Kor 9,20 –23)

Was die einen als Relativismus brandmarken würden, ist für den Völkerapostel eine relationale Rückbindung, eine positive Relativierung von Gesetz und Lehre zugunsten einer soteriologisch finalisierten Mission: Die universale Ermöglichung der Christusnachfolge auf dem Weg zum Vater, getrieben durch den Heiligen Geist, dessen Dynamik die Kirche als junge „Bewegung“ überhaupt erst begründet.71 All dies geschieht durch einen zunächst ergebnisoffenen, konfliktreichen und leidenschaftlich geführten Dialog, im gegenseitigen Zuhören und Lernen. So prägt Paulus die ekklesiologische Metapher vom einen Leib in vielen Gliedern, der christologisch fundierten Einheit in legitimer Vielfalt verschiedenster Charismen des Heiligen Geistes, aus denen später erst neue Ämter und Aufgaben in der Gemeinde erwachsen sollten. Warum es nicht auch heute neue Funktionsämter oder Mandate in der Gemeinde und für die Gemeinde geben sollte, die soteriologisch wirksam sein könnten, würde Paulus daher wohl kaum verstehen. Zumal er selbst mit Blick auf Christus ja keine Unterschiede mehr zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, männlich und weiblich machen will (vgl. Gal 3,28), weil diese alle gerufen und berufen sind, um als Kinder Gottes dem Sohn Gottes auf dem Weg universaler Liebe proaktiv nachzufolgen – für das Heil aller. Man kann schwerlich meinen, dass die soteriologische Priorisierung und Konzentrierung, die Vergewisserung und Aktualisierung angesichts der Zeichen der Zeit und der ergebnisoffene Dialog in heutigen Reformdebatten der Kirche bislang in gleicher Weise zur Geltung kommen wie in der Urkirche. Vielleicht liegt gerade darin die missliche Lage der Kirche von heute, die von den Nachfolgern der Apostel theologisch begründete Auskunft und Rechenschaft verlangt.

71 Vgl. hierzu auch: Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit A. Tornielli, München 2016, 89. Darum seien Gesetzeswächter (nicht das Gesetz!) mit ihrer starren und unbeweglichen Haltung die führenden Gegner Jesu (vgl. 86). Eine Haltung der „Heuchler“, die heute im Klerikalismus begegne (vgl. 91 f.). Franziskus stellt ihnen die offene und bewegliche Haltung Jesu gegenüber, die einer soteriologischen Hermeneutik entspringt (vgl. 88), weil diese „einen neuen Horizont“ eröffnet, nämlich „den der Logik eines Gottes der Liebe, eines Gottes, der das Heil aller Menschen will.“

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In all diesen nur exemplarisch beleuchteten Etappen kamen die „kanonischen“ Prinzipien als maßgebliche Kriterien der dogmatischen Entwicklung mehr oder weniger bewusst zum Einsatz. Dass dies auch in der jüngsten und umfassendsten Bestimmung des kirchlichen Glaubensund Selbstverständnisses der Fall war, soll nun ein kurzer Blick auf das II. Vatikanische Konzil zeigen.

404 2. Das II. Vatikanische Konzil und seine Hermeneutik der Erneuerung In diesem Zusammenhang ist es weder erforderlich noch intendiert, den historischen Verlauf und herausragenden theologischen Stellenwert des II. Vatikanischen Konzils zu rekonstruieren. Vieles davon darf wohl vorausgesetzt werden und für weitere Detailfragen zur Konzilsrezeption sei hier auf die aktuelle Debattenlandschaft verwiesen.72 Es muss daher genügen, wesentliche Anliegen, Methoden und Aussagen des Konzils in Erinnerung zu rufen, um dessen Deutung bis heute so lebhaft gerungen wird. Dabei gibt es auch Kernelemente, die weitestgehend unstrittig sind. Trotz der verschiedenen Konzilsinterpretationen besteht, jenseits aller kirchenpolitischen Lager, zumindest ein theologischer Konsens darüber, dass das II. Vaticanum einen epochalen Paradigmenwechsel markiert. Einem institutionell verfestigten und zeitenthobenen Juridismus wird der lebendige Glaube an das Mysterium in seiner heilsgeschichtlichen Dynamik entgegengesetzt.73 Das Konzil steht für die bewusste Abkehr von einer neuscholastischen, juridisch-doktrinellen Engführung74 im christlichen Offenbarungs- und Traditionsverständnis, die zur sukzessiven Isolierung einer 72 Vgl. exemplarisch: Tück, J.-H. (Hg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg i. Br. 22013; Böttigheimer, C. (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil. Programmatik – Rezeption – Vision (QD 261), Freiburg i. Br. 2014; Böttigheimer, C./Dausner, R. (Hg.), Das Konzil „eröffnen“. Reflexionen zu Theologie und Kirche 50 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil, Freiburg i. Br. 2016; Böttigheimer, C./ Dausner, R. (Hg.), Vaticanum 21. Die bleibenden Aufgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils im 21. Jahrhundert. Dokumentationsband zum Münchner Kongress „Das Konzil ‚eröffnen‘“, Freiburg i. Br. 2016. 73 Vgl. Quisinsky, M., Geschichtlicher Glaube in einer geschichtlichen Welt. Der Beitrag von M.-D. Chenu, Y. Congar und H.-M. Féret zum II. Vaticanum (Dogma und Geschichte 6), Berlin 2007, 330: „Unabhängig davon, wie sich die Konzilsteilnehmer verschiedener nationaler, theologischer und spiritueller Provenienz im weiteren Verlauf des Konzils positionierten, kann zu Beginn des Konzils ein weitverbreiteter Wille festgestellt werden, die heilsgeschichtliche Dimension der Offenbarung stärker zu bedenken.“ 74 Vgl. Reikerstorfer, J., Der Wandel im Offenbarungsverständnis. Vatikanum I – Vatikanum II – weiterführende Perspektiven, in: Tück (Hg.), Erinnerung, 545 –558; Hoping, Theologischer Kommentar, 807: „Der Akzent verschiebt sich von einem instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnis zu einem personalen, geschichtlichen und soteriologischen, auf das Heil der Menschen bezogenen Verständnis der Offenbarung.“ Es handelt sich dabei um „ein dynamisches Heilsgeschehen“. Diese als „dialogischer Prozess“ (808) zu verstehende Dynamik wehre einen äußeren Buchstabenglauben ebenso ab wie „eine einseitige Fixierung auf die Lehrtradition“, die sich aber in jüngeren Dokumenten der nachkonziliaren Lehrverkündigung wieder eingeschlichen haben mag (vgl. 809).

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lehramtlich vorgelegten fides quae von der lebendigen fides qua der kirchlichen Glaubensgemeinschaft geführt hatte.75 Der von Johannes XXIII. programmatisch geprägte Terminus Aggiornamento bezeichnet neben der konkreten Zielbestimmung für das II. Vatikanische Konzil aus systematisch-theologischer Sicht die innere „Verknüpfung von Glaubensvertiefung und Zeitbezug“ als „bleibende Aufgabe der Kirche“.76 Es handelt sich um eine Art Update bzw. um eine Aktualisierung des Glaubens im Hier und Heute.77 Dabei folgt das Konzil, das nicht nur auf seine Texte reduziert werden darf, genau den Prinzipien, die wir zuvor anhand des biblischen Kanons gewonnen haben und die weiterhin als Kriterien einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Kontinuität und Diskontinuität zur dogmatischen Unterscheidung und Entscheidung dienen könnten.

2.1. Theofinale Konzentration auf das Mysterium salutis Dass der inzwischen heiliggesprochene Papst Johannes XXIII. das Konzil seinerzeit „gegen allen Widerstand“78 einberief, mag im Nachhinein als eine kirchengeschichtliche Randnotiz erscheinen. Doch bereits der Tatsache einer solchen Entfesselung der kirchlichen communio kommt eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Nach langem Winterschlaf kam die Kirche neu in Bewegung und fragte sich nun verwundert: Wohin soll die Reise eigentlich gehen? Als unmittelbarer Berichterstatter und einer der charismatischsten Kommentatoren des Konzils attestierte Mario von Galli dem II. Vaticanum eine Art geistliche Bekehrung, die mit konkreten Konsequenzen und grundsätzlichen Tendenzen verbunden gewesen sei, insofern man 75 Zur Kritik vgl. De Lubac, H., Die göttliche Offenbarung. Kommentar zum Vorwort und zum ersten Kapitel der Dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ des Zweiten Vatikanischen Konzils. Aus dem französischen übertragen und eingeleitet von R. Voderholzer, Paris 1983/Einsiedeln 2001, 171; 221 f.; 225 ff. 76 Vgl. Bredeck, M., Das Zweite Vatikanum als Konzils des Aggiornamento. Zur hermeneutischen Grundlegung einer theologischen Konzilsinterpretation (Paderborner Theologische Studien 48), Paderborn 2007, 17–34; 70. 77 So auch Sievernich, M., Kirche im Kontext. Der „pastorale“ Grundzug des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Ansorge, D. (Hg.), Das Zweite Vatikanische Konzil. Impulse und Perspektiven (Frankfurter Theologische Studien 70), Münster 2013, 1–22, 9 f. 78 Vgl. Pesch, O. H., Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Nachgeschichte, Würzburg 2001, 50 –54. Er skizziert die teils massiven Widerstände unter den Kardinälen.

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sich eher von der Dynamik des Heiligen Geistes als von einem fertigen „Plan“ habe leiten lassen. Eine Grundintention sei dabei eine bewusste „Entjuridizierung“ gewesen.79 Er stellt fest, dass die Konzilsväter im Rückgriff auf die Ursprünge des Christentums und angesichts der orthodoxen Schwesterkirchen „darüber erschraken, wie verrechtlicht ihr Denken doch geworden ist.“80 Dabei stand und steht gewiss nicht zur Debatte, dass es eine heilsame Notwendigkeit von Recht und Gesetz in der Kirche gibt. „Niemand leugnete das. Aber es schien doch, als ob das Rechtsdenken den Geist Gottes da und dort überwuchert habe.“81 Das von Papst Johannes XXIII. ausgegebene Ziel des Aggiornamento, der aktualisierenden Vergegenwärtigung des Evangeliums durch Anpassung der Glaubenskommunikation an neue und zu differenzierende Zeitumstände, kollidiert grundsätzlich mit dem starren Beharren auf geltendem Kirchenrecht.82 Aus diesem Grund wollten die versammelten Bischöfe „eine allzu rechtliche Sprache vermeiden und den inneren Sinn, den Kern ihrer Botschaft herausstellen. Auch Papst Paul VI., von Haus aus ein Jurist, verstand diese Tendenz sehr wohl.“83 Dem atmosphärischen Umfeld des Konzils war also völlig klar, dass jede Reform im Heiligen Geist, d. h. im Sinne Jesu, niemals einem statisch verstandenen Kirchenrecht und dem legalistischen Status quo entspringen kann. Das Bewusstsein dafür, dass ein formaler Rückzug auf geltende Normen und Gesetze sowie eine Sprache des Gehorsams theologisch insuffizient bleibt, war deutlicher ausgeprägt, als es postkonziliare Versuche der Restauration und Rückübersetzung in ein neues Kirchenrecht vermuten lassen. Man erkannte durchaus die Problematik, dass römisches Rechtsdenken, dessen Einseitigkeit in der lateinischen Tradition (anders als im griechischen Osten) bis in die Soteriologie84 hinein charakteristisch geworden war, die lebendige Glaubensüberlieferung im Wandel der Zeit zu ersticken droht.85 79 Vgl. Galli, M. v., Plan oder Geist, in: Ders., Prophetische Reden, hg. von U. Stockmann, Zürich 1988, 66 – 84, 67. 80 Galli, Plan oder Geist, 68. 81 Galli, Plan oder Geist, 69. 82 Vgl. Galli, Plan oder Geist, 69. 83 Galli, Plan oder Geist, 70. Er zitiert Paul VI. (Ansprache vom 7.12.1965) mit den Worten: „Die Kirche hat sich in ihrem geistlichen Bewusstsein gesammelt, … nicht um sich der erneuten Behauptung ihrer Rechte und der Umschreibung ihrer Gesetze zu widmen, sondern um in sich selbst, in ihrem Leben und Wirken, im Heiligen Geist das Wort Christi wiederzuentdecken und tiefer in ihr Geheimnis einzudringen.“ 84 Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 647– 652. 85 Vgl. Galli, Plan oder Geist, 69 f.: „Neue Situationen entstehen, denen mit den alten

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Eine nahezu identische Analyse findet sich bei einem der hochrangigsten Konzilsväter, Léon-Joseph Kardinal Suenens. Der Erzbischof von Mecheln-Brüssel spielte als enger Vertrauter des Papstes, als Planer des Konzils und einer der vier Konzilsmoderatoren eine tragende Rolle auf dem II. Vaticanum. Auch er warnte vor den Gefahren des Juridismus und Legalismus, die der Eigendynamik des Pneumas nicht vertrauen.86 „Die Gefahr des Juridismus wird jedesmal dann deutlich, wenn die zentrale Autorität zu genaue Gesetze mit weltweiter Gültigkeit erarbeitet, mit dem großen Risiko, das die konkrete Anwendung in jeweils ganz verschiedenen Situationen in sich trägt. Die Versuchung ist groß, die Einheit der Kirche auf dem Wege von Gesetzen und Erlassen zu erreichen. Auf diese Weise verwechselt man Einheit mit Uniformität.“87

Suenens hat im zeitlichen Umfeld der Enzyklika Humanae vitae mit seinem deutlichen Protest gegen das zentralistische System der Kurie diese Haltung eindrucksvoll unterstrichen.88 Die Tatsache, dass sein öffentlicher Widerspruch, zu dem er sich gezwungen sah, als solcher notwendig wurde und teilweise enorme Resonanz auslöste, zeigt, wie schnell der Geist des Konzils auf die harte Realität kirchlicher Gesetzgebung prallte. Dass nun erneut nicht die gemeinsame Weg- und Wahrheitssuche im Dialog, sondern blinder Gehorsam auf der Tagesordnung stehen sollte, musste viele Konzilsteilnehmer zutiefst befremden. Dabei war ein nicht zu bestreitender, sich auch in den finalen Dokumenten manifestierender Wesenszug des Konzils erkennbar gewesen: Die Eigendynamik eines offenen Dialogs.89 Erstmals versammelte sich die katholische Kirche tatund in anderer Umwelt erprobten Gewohnheiten und Normen nicht beizukommen ist. Die Kirche steckt in ihrem imponierenden ‚Recht‘ wie Goliath in seiner Rüstung. Sie ist unbeweglich und schwerfällig geworden. Sie wirkt wie ein Anachronismus. Und weil die Menschen das Zeitbedingte und Wechselbare vom Unvergänglichen und immer Bleibenden oft nicht unterscheiden, sehen sie auch den Glauben als überholt und altmodisch an. Ich sage nicht, dass damit das Phänomen des heutigen Atheismus erklärt ist. Es hat noch andere, tiefere Wurzeln. Aber ein Moment liegt sicher hier, und deshalb sprach Papst Johannes immer in einem Atemzug vom Konzil und einer Erneuerung des Kirchenrechts. Für ihn waren diese Dinge unzertrennlich miteinander verbunden.“ 86 Vgl. Suenens, L.-J., Hoffen im Geist. Ein neues Pfingsten der Kirche, Salzburg 1974, 25. „Das kanonische Recht muss andauernd dem Geist gegenübergestellt werden und von ihm Impulse empfangen. Das Evangelium ist, im eigentlichen Sinn, das oberste Gesetz. Das Wort Gottes und der Geist Jesu müssen die Kirche unangefochten beherrschen, und die ganze Hierarchie hat ihnen zu dienen.“ 87 Suenens, Hoffen im Geist, 25 f. 88 Vgl. Broucker, J. d., Das Dossier Suenens. Diagnose einer Krise, Graz 1970. 89 Vgl. Galli, Plan oder Geist, 73 –77.

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sächlich als universale Weltkirche. 90 Die Bischöfe wurden zur Begegnung und zum Austausch miteinander unmittelbar genötigt, weil sie gleichsam aus ihrem betreuten Wohnen herausgeholt und mit der Realität ihrer Geschwister konfrontiert wurden; ihre Kommunikationsgemeinschaft gebar Überraschungen, die zuvor nicht absehbar gewesen waren und sich nur in persönlicher Gemeinschaft ergaben.91 Dass eine solche communio und communicatio mehr ist als reiner Informationsaustausch, war der katholischen Theologie eigentlich immer bewusst; spätestens seit der Corona-Pandemie erkennt man nun aber auch, dass Gemeinschaftsbildung und Kommunion dauerhaft nicht allein durch Telefonate, Briefe, Mails oder Zoom-Sitzungen ersetzbar sind. Das gilt auch für neue Formate synodaler Prozesse. Diese Erfahrung machten auch die Konzilsväter. Ihr Dialog umfasste – wie Mario von Galli das Stimmungsbild damals beschreibt – a) das gegenseitige Kennenlernen, die Entwicklung eines Einfühlungsvermögens, indem man sich in den Anderen hineindenkt; das Gewinnen eines Eindrucks, wo positive Anknüpfungspunkte gegeben sind, um die frohe Botschaft neu zur Geltung zu bringen. Hinzu kam sodann b) die Bereitschaft zu lernen, den Anderen anzunehmen und wahrzunehmen, dass auch in ihm und in seinem Leben Gott schon gegenwärtig ist und wirkt. Dies führte schließlich dazu, dass c) durch gemeinsames Suchen etwas wirklich Neues gefunden werden konnte, das für die Gesprächspartner vorher so nicht absehbar und erwartbar war.92 Nachdem man sich daran erinnert hatte, dass der dreifaltige Gott selbst ewiger Dialog ist, sich in seinem Logos selbst äußert und entäußert, um mit den Menschen wie ein guter Freund auf Augenhöhe zu kommunizieren (vgl. DV 2) und dabei ihre Freiheit und Würde zu achten, da hatte sich bereits das Verständnis von Kirche und Tradition verändert. Es war klar geworden: „das Triumphalistische, Klerikale und Feudale, widersprach und widerspricht der 90 Zur epochalen Bedeutung vgl. Rahner, K., Theologische Grundinterpretation des II. Vatikanischen Konzils, in: Ders., Schriften zur Theologie XIV, 287–302; Rahner, K., Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils, in: Ders., Schriften zur Theologie XIV, 303 –318. 91 Vgl. Galli, Plan oder Geist, 76: „So erhob sich eine weitere Frage, welche die Bischöfe lange bewegte: Sind wir nicht vielleicht deshalb so isoliert von der modernen Welt überhaupt, weil wir nicht mehr ihre Sprache kennen? […] Ist es nicht ein Irrtum zu meinen, wir hätten der Pflicht der Glaubensverkündigung genügt, wenn wir in einer Sprache reden, die unsere Zuhörer deshalb nicht verstehen können, weil wir die lebendigen Wünsche und Hoffnungen, die in ihnen leben, gar nicht treffen?“ 92 Vgl. Galli, Plan oder Geist, 76 f.

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dem Christen aufgetragenen und einzig angemessenen Haltung des Dialogs.“93 Das II. Vaticanum selbst hat diesem Prinzip in völlig neuer Weise Rechnung getragen. Es öffnet sich für innerkirchlichen, ökumenischen und interreligiösen Dialog; für einen Dialog mit der Welt und allen Menschen guten Willens; letztlich sogar für einen Dialog mit Kirchenkritik und Atheismus.94 Dabei ist aber auch klar: „Wenn schon der Dialog ein Wesensmerkmal des Christen sein soll, dann ist der Christ auf den Weg gestellt, immer Neues hinzuzulernen; dann ist er nicht am Ende angekommen.“95 Darin zeigt sich eine dritte Tendenz: Das Selbstverständnis einer pilgernden Kirche, die sich dynamisch auf ihr Ziel hin bewegt und als Sakrament, als universales Zeichen und Werkzeug der Verbundenheit von Gott und Mensch (LG 1), sich ihrer Geschichtlichkeit wieder neu bewusst wird.96 Was für jeden wahren Menschen und nach dem Zeugnis der Synoptiker eben auch für Jesus97 selbst gilt – man lernt nie aus –, wird in GS 44 und DV 8 nun auch der Kirche als Glaubensgemeinschaft wieder in Erinnerung gerufen. Die Kirche lernt, das ihr in menschlichen Worten überlieferte Zeugnis von Gottes erlösender und befreiender Selbstzusage angesichts neuer Situationen und Herausforderungen immer tiefer zu verstehen und wiederum neu zu kommunizieren, neu zu kontextualisieren und zu übersetzen. Sie lernt zu diesem Zweck „unter dem Beistand des Heiligen Geistes“ nicht nur von neuen Kulturen, von der Wissenschaft und der Theologie, sondern auch von ihren Kritikern. Hier lohnt ein ausführlicher Blick auf den Erkenntnisgewinn des Konzils: „Von Beginn ihrer Geschichte an hat sie gelernt, die Botschaft Christi in der Vorstellungswelt und Sprache der verschiedenen Völker auszusagen und darüber hinaus diese Botschaft mit Hilfe der Weisheit der Philosophen zu verdeutlichen, um so das Evangelium sowohl dem Verständnis aller als auch berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen zu verkünden. Diese in diesem Sinne angepasste Verkündigung des geoffenbarten Wortes muss ein Gesetz aller Evangelisation bleiben. Denn so wird in jedem Volk die Fähigkeit, die Botschaft Christi auf eigene Weise auszusagen, entwickelt und zugleich der lebhafte Austausch zwischen der Kirche und den verschiedenen nationalen Kulturen gefördert. Zur Steigerung dieses Austauschs bedarf die 93

Galli, Plan oder Geist, 77. Vgl. Weißer, Wozu brauchen wir, 256 –259; Siebenrock, R. A./Hünermann, P./Sander, H.-J./Fuchs, O., Identität und Dialog. Die Gestalt des Gotteszeugnisses heute, in: HThKVatII, Bd. 5, 311–379. 95 Galli, Plan oder Geist, 79. 96 Vgl. Galli, Plan oder Geist, 78 – 84. 97 Siehe oben: Kap. III.1.2. 94

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Kirche vor allem in unserer Zeit mit ihrem schnellen Wandel der Verhältnisse und der Vielfalt ihrer Denkweisen der besonderen Hilfe der in der Welt Stehenden, die eine wirkliche Kenntnis der verschiedenen Institutionen und Fachgebiete haben und die Mentalität, die in diesen am Werk ist, wirklich verstehen, gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt. Es ist jedoch Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören, sie zu unterscheiden, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und passender verkündet werden kann. […] Die Kirche erfährt auch dankbar, dass sie sowohl als Gemeinschaft wie auch in ihren einzelnen Kindern mannigfaltigste Hilfe von Menschen aus allen Ständen und Verhältnissen empfängt. Wer nämlich die menschliche Gemeinschaft auf der Ebene der Familie, der Kultur, des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, der nationalen und internationalen Politik voranbringt, leistet nach dem Plan Gottes auch der kirchlichen Gemeinschaft, soweit diese von äußeren Bedingungen abhängt, eine nicht unbedeutende Hilfe. Ja selbst die Feindschaft ihrer Gegner und Verfolger, so gesteht die Kirche, war für sie sehr nützlich und wird es bleiben.“ (GS 44)

Wer das Selbstverständnis und Wesen des Konzils erfassen will, darf nicht nur es selbst und seine Vergangenheit betrachten, sondern muss auch auf die von ihm anvisierte Zukunft blicken. Man muss sein Ziel vor Augen haben. „Um die Bedeutung des Konzils zu verstehen, genügt es nicht, seinen Standort im Verhältnis zu der Vergangenheit zu bestimmen, die mit ihm endet. Man muss auch seine in die Zukunft weisenden Kräfte betrachten, die es enthält. Denn es ist selbst ein Anfangspunkt, wie uns Papst Paul VI. nachdrücklich vor Augen gehalten hat.“98 Nicht nur die stets gültige99 Maxime ecclesia semper reformanda, sondern auch der auf eine offene Zukunft hin ausgerichtete Wille zum Aggior98 Suenens, L.-J., Die Mitverantwortung in der Kirche, Salzburg 1968, 10. Vgl. auch Rahner, K., Das Konzil – ein neuer Beginn. Mit einer Hinführung von K. Lehmann, hg. v. A. Batlogg/A. Raffelt, Freiburg i. Br. 2012. 99 Vor allem seit dem Spätmittelalter zeigt sich eine gewisse Diskrepanz zwischen neuer, zentralistischer, jurisdiktioneller Rechtsordnung und polyzentrischer, sakramentaler Präsenz, die eine Diskrepanz zwischen klerikaler Realität und pastoralem Ideal verstärkt. Die Reformbewegungen setzten dabei ihre Hoffnung auf eine Rückkehr zur synodalen Struktur der Kirche. Vgl. Unterburger, K., „Reform der ganzen Kirche“. Konturen, Ursachen und Wirkungen einer Leitidee und Zwangsvorstellung im Spätmittelalter, in: Merkt/Wassilowsky/Wurst (Hg.), Reformen in der Kirche, 109 –137, bes. 119; 124 f.; 136: „Mag die Neuausrichtung an Idealen und Normen immer zum kirchlichen Leben gehören, erst die Zunahme an Bildung und christlicher, ernster Heilssorge haben im Spätmittelalter eine Reform der Kirche zu einem immer dringlicheren Postulat gemacht. Zu diesem moralischen Aspekt kam der strukturelle: Der Ruf nach einer Reform an Haupt und Gliedern

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namento der je persönlichen Zuwendung Gottes prägen das Konzil und seine Verhältnisbestimmung von Leben und Lehre der Kirche. Denn diese befindet sich nicht im herrschaftlichen Besitz unveränderlicher Lehren, sondern sie partizipiert mit der unbeirrbaren Gewissheit ihres Glaubens, ihrer Hoffnung und ihrer Liebe am unverfügbaren mysterium salutis, das sie vergegenwärtigt und je neu vermittelt. Das mysterium paschale100 – nicht die Kirche selbst, ihre Lehre, rechtliche Struktur oder Amtstheologie – stand für das Konzil im Zentrum. Denn die Kirche selbst ist immer Kirche „im Übergang“ und befindet sich auf einem Weg, der von geistlicher Bekehrung und geistigen Übergängen getragen ist.101 Johannes XXIII., der gerne als „Übergangspapst“ bezeichnet wurde, hat diese Rolle offenbar sehr reflektiert und aktiv angenommen, denn „aus ständigen Übergängen entsteht die Kontinuität der Kirche.“102 Demgegenüber formierte sich bereits während des Konzils eine Minderheit103, deren Angst vor dem Neuen und Unbekannten, dem nicht Kontrollierbaren und herrschaftlich Verfügbaren jede Bewegung zu blozielte auf eine Rückkehr zum vorgregorianischen, altkatholischen Kirchenrecht mit seiner Zentrierung auf die Sakramente und die Seelsorge unter dem Bischof; mithin gegen die Zentralisation der Kirche mittels des päpstlichen Jurisdiktionsprimats und dessen Verknüpfung mit dem Rekrutierungs- und Finanzsystem der päpstlichen Kurie.“ Der CIC von 1983 bleibe letztlich in dieser – damals neu etablierten – zentralistischen Jurisdiktionslogik und ihrer Reformbedürftigkeit verhaftet. 100 Vgl. Hoping, H., Die Mysterientheologie Odo Casels und die Liturgiereform, in: Tück (Hg.), Erinnerung, 163 –184. Er sieht im „mysterium paschale“ einen Schlüsselbegriff des Konzils, der mit dem Gedanken der „participatio actuosa“ korrespondiert. Im Umfeld des Konzils entsteht nicht zufällig eine monumentale Dogmatik, die in ihrer heilsgeschichtlichen Konzeption aus sieben Bänden dieses Mysterium ins Zentrum stellt: Feiner, J./Löhrer, M. (Hg.), Mysterium Salutis. Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik, Zürich/Einsiedeln/Köln 1965 –1976. Zur Konzeption und theologischen Begründung vgl. Bd. 1, XXIII–XLIII. 101 Vgl. Suenens, Die Mitverantwortung, 11. 102 Zitiert nach: Suenens, Die Mitverantwortung, 11. 103 Vgl. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, 373: „Selten in der Kirchengeschichte ist eine nicht einmal qualifizierte Minderheit […] auf einem Konzil so pfleglich, geradezu zartfühlend […] behandelt worden unter Inkaufnahme widersprüchlicher, jedenfalls uneindeutiger Formulierungen der Konzilstexte. Und selten hat diese Minderheit anschließend ungenierter – um nicht zu sagen: schamloser und dreister – die von ihr erzwungenen Uneindeutigkeiten der Konzilstexte ausgenutzt, um sich an dem klaren Mehrheitswillen der Repräsentanten der Weltkirche vorbei auf den Bahnen des Hergebrachten durchzusetzen.“ Das Problematische an dieser sich auch heute wieder formierenden Minderheit ist nicht, dass sie eine von der Majorität abweichende Haltung beansprucht, die nicht Gehör und Geduld verdient hätte. Das Problem ist ihre dialogfeindliche und totalitäre Haltung.

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ckieren drohte.104 Die Angst vor dem, worüber wir nicht souverän verfügen, ist durchaus menschlich; sie sollte dann aber auch als solche – menschliche – Haltung reflektiert und nicht als göttlich gewollter Konservativismus überhöht werden, während man den Mut, einen als Gnade angebotenen Wandel auch frei annehmen zu wollen, plump als Verrat an der Tradition brandmarkt.105 Die weitreichenden Zugeständnisse an eine solche Minorität, die man im Streben nach einem consensus unanimis zu machen bereit war, obwohl sie formal-juristisch überhaupt nicht nötig gewesen wären, hatten wohl durchaus ihren Preis, insofern der Reformund Aktualisierungswille der überwältigenden Majorität gebremst wurde. „Die Einstimmigkeit musste teuer erkauft werden.“106 Und doch verrät diese Sensibilität viel über den Geist und die Hermeneutik des Konzils. Es bringt Stimmen, die mit veralteten theologischen Systemen operieren oder in kaum noch rezipierten Schemata denken, nicht einfach völlig zum Verstummen. Die sogenannten Juxtapositionen in den Konzilstexten, das Nebeneinander von Alt und Neu, Wiederholung und echter Innovation, sind hinreichend bekannt. Knut Wenzel107 legt darauf Wert, dass es sich nicht nur um reine Kompromisstexte handelt, denn diese Texte seien durchaus von einem „Ensemble aufeinander bezogener Grundoptionen“ geprägt – „nicht im Sinn eines starren Systems, sondern dynamisch, entsprechend des Entstehungsprozesses der Texte, der auch ein Lernprozess des Konzils gewesen ist.“ Liegt hierin nicht eine gewisse Analogie zur Struktur und Genese des biblischen Kanons? Immerhin, das Konzilskompendium liest sich gelegentlich fast wie die Hl. Schrift – und zwar nicht nur wegen seiner gediegenen und aus heutiger Sicht antiquierten Sprache. Es ist vielstimmig, nuancenreich und nicht einfach auf eine eindeutige, wasserdichte Position festzunageln. Es lässt mehrere Optionen und Rezeptionswege offen und eröffnet damit plurale Sinnhorizonte, 104 Vgl. Galli, Plan oder Geist, 78: „Ja, ich glaube, dass das Unbehagen des bald grösseren bald kleineren Kreises der sogenannten ‚Konservativen‘ (die ja keine fest umrissene ‚Partei‘ nach Art einer Parlamentsfraktion bildeten) gerade in dem Misstrauen gegenüber diesem ‚Neuen‘ und ‚Anderen‘ bestand, dessen genaue Abgrenzung gegenüber dem ‚Alten‘ ihnen äußerst schwierig, ja gefährlich erschien.“ 105 Hans Urs von Balthasar stellt fest, dass Schismen in der Kirchengeschichte in letzter Konsequenz immer auf Traditionalisten zurückgingen, die sich nicht mehr dazu bewegen lassen wollten, die Tradition neu fortzuführen. Vgl. Balthasar, H. U. v., Integralismus heute, in: Diakonia 19 (4/1988), 221–229, 226 f. 106 Suenens, Die Mitverantwortung, 15. 107 Wenzel, K., Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine Einführung, Freiburg i. Br. 2014, 254 f.

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die erst durch die autoritative Deutung des CIC von 1983 teilweise abgedichtet und mehr oder weniger vereindeutigt wurden. Das Konzil selbst traf keine definierenden Festlegungen, es lässt bewusst Luft zum Atmen, da es sich vom selben Geist und der gleichen Dynamik inspirieren ließ wie einst die Hl. Schriften. Und doch markiert auch dieses Konzil um seines Ursprungs und Zieles willen klare Grenzen – analog zum Kanon. Jede latent oder offen antisemitische, die Würde des menschlichen Gewissens verachtende, die Freiheit des Heiligens Geistes totalitär vereinnahmende, klerikale Haltung fundamentalistischer Gruppen wie z. B. der Piusbruderschaft kann sich offensichtlich nicht auf dieses Konzil und seine einzigartige Repräsentation der Weltkirche berufen. Nicht, weil diese im juristischen Stil formale Anathemata ausgesprochen hätte, sondern weil hier eine extreme Randgruppe sich mit ihrer inkurvierten Interpretation einzelner Traditionselemente offenkundig selbst der rationalen Argumentation und dem Glauben der katholischen Kirche, der sich verbindlich im Dialog der Weltkirche aktualisiert hat, verweigert. Die angeblichen Traditionalisten verweigern sich der ergebnisoffenen Relecture der Tradition, die für das II. Vaticanum methodisch absolut verbindlich war. Aus dieser Relecture gewann man im Umfeld des Konzils ein den Hl. Schriften entsprechendes, dialogisches Offenbarungsverständnis.108 Dieses basiert nicht nur auf der sachlichen Mitteilung und Demonstration von heilsrelevanten Informationen oder Gesetzen, die in Schrift und Tradition wie in Containern „enthalten“ sind und daher rein objektiv „vorgelegt“ werden könnten. Es gründet vielmehr, weit darüber hinausgehend, in der Selbstmitteilung Gottes als performativer communicatio, die auf die lebendige communio und participatio freier Subjekte am Leben Gottes zielt. Das Mysterium bzw. sacramentum – Unterpfand – der Treue und des universalen Heilswillens Gottes109 lässt sich dann aber auf analoge Weise christologisch, ekklesiologisch und sakramententheologisch verstehen. Bei dieser Sakramentalität, die mehr ist als kognitive 108 Vgl. hierzu: Hoping, H., Die Lehraussagen des Konzils zur Selbstoffenbarung Gottes und zu seinem Handeln in der Geschichte, in: HThKVatII, Bd. 5, 107–119; Ders., Theologischer Kommentar, 739; Lehmann, Dei Verbum, 35; Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 506 f.: „An die Stelle der ‚ewigen Dekrete seines Willens‘ ist das ‚sacramentum‘ seines Willens getreten. An die Stelle der gesetzlichen Sicht, die Offenbarung weithin als Erlass göttlicher Dekrete betrachtet, ist eine sakramentale Sicht getreten, die Gesetz und Gnade, Wort und Tat, Botschaft und Zeichen, die Person und ihre Äußerungen in der umfassenden Einheit des Mysteriums ineins schaut.“ 109 Vgl. DV 2 und 7; LG 1; 8 und 16 in Verbindung mit GS 22 und NA 2.

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Informationsverarbeitung, geht es immer um einen dynamischen Übersetzungsprozess des Wortes Gottes in geschöpfliche Beziehungs- und Erfahrungsmuster hinein, der sich durch wirksame Zeichen und Werkzeuge des Heils (d. h. der erlösenden Verbundenheit von Gott und Mensch wie auch der Menschen untereinander) realisiert.110 Es geht nicht um ein instruktionstheoretisches Belehrungskonzept das mit rein passiver Rezeption operiert und in seinem statischen Verständnis von „Lehre“ dem aktuellen pädagogisch-psychologischen Erkenntnisstand längst nicht gerecht wird. Eine sozial-kognitive Lehr- und Lerntheorie111, die auch an patristische Vorstellungen anknüpfen kann, blickt dagegen auf den sich in der Erfahrung der Jünger/innen bewahrheitenden, eschatologisch autorisierten Mittler des Heils. Sie blickt auf einen einzigartigen Mediator zwischen Gott und den Menschen, der in seiner Person göttliche und menschliche Wirklichkeit unvermischt und untrennbar verbindet. Der Blick richtet sich auf die Gemeinschaft in seiner Nachfolge, die seine soteriologische Bedeutung „für uns“ – effektiv, wenn wirklich glaubwürdig – vergegenwärtigt und vermittelt, wenn sie durch angemessene Sprache und konveniente Medien das Mysterium gott-menschlicher Verbundenheit leibhaftig spürbar werden lässt. Diese „Sakramentalität der Offenbarung“112 erfordert auch ein sakramentales, interpersonales, dynamisches, die Differenz von Gehalt und Gestalt reflektierendes Verständnis von Tradition und Rezeption. Es erfordert eine sensible Balance von Passivität und Aktivität, Verbindlichkeit und Freiheit, Einheit und legitimer Vielfalt. Es zielt auf eine Unterscheidung zwischen Gottes heilsamer Nähe, die für Kontinuität und Treue steht, und den situativen Ausdrucksgestalten ihrer Vermittlung, die sich in ihrer unterschiedlichen Intensität unterscheiden und auch verändern können. Dabei ist es bezeichnend, dass im Zuge der Erarbeitung der Offenbarungskonstitution die Frage nach dem theologischen Eigenwert und der heilsgeschichtlichen Eigenbedeutung des Alten Testaments offenbar ein tragendes Argument gegen ein doktrinell verengtes Offenbarungsverständnis und zugunsten der heilsgeschichtlich-sakramentalen, personalen Sichtweise bildete.113 Das Konzil bediente sich also, kurzfristig im110 Für ein differenziertes Verständnis der sakramentalen Wirklichkeit vgl. Weißer, M., Mysterium und Medium. Sakramentale Wirklichkeit und ihre offenen Grenzen, in: Dirscherl/Weißer (Hg.), Wirksame Zeichen, 117–136. 111 Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 439 – 456. 112 Vgl. Hoping, Theologischer Kommentar, 741. 113 Vgl. Smulders, P., Zum Werdegang des Konzilskapitels „Die Offenbarung selbst“,

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provisierend114 aber in diesem Punkt nahezu unumstritten, der hier entfalteten Hermeneutik. Die Kirche klammert sich somit nicht länger an einzelne Sätze, an Bruchstücke einer abstrakten Lehre und des Buchstabendienstes. Sie besinnt sich auf ihren Ursprung, auf ihren Gottesdienst und Dienst an den Menschen. Sie vergewissert sich nicht, nach gnostischer Manier, einzelner Lehrstücke und Regeln, sondern der Gegenwart des lebendigen Gottes in seinem Wort, das uns nicht irgendetwas lehrt, sondern das Heilige Geheimnis115 – Gott selbst – spürbar nahe bringt. Seine Nähe wird aber von den biblischen Schriften ebenso vielstimmig wie einhellig bezeugt. Darum orientiert sich die Kirche in ihrer Relecture der Hl. Schrift116 an diesem Mysterium der Verbundenheit von Gott und Mensch, das ihr – in analoger Weise – in der Eucharistie ständig vor Augen steht. Auch hier lassen sich dieselben hermeneutischen Prinzipien erkennen. Denn die Eucharistie ist immer geprägt von Erinnerung und Vergewisserung, von aktualisierender Vergegenwärtigung und Hoffnung auf das Ziel, die Gemeinschaft in Gott. Sie realisiert das mysterium paschale als Übergang und als Wandlung – q¤wsij im lebendigen Vollzug – und ist damit nicht nur Sinnbild einer theofinal ausgerichteten Kirche, die sich beständig wandelt117 und bekehrt, sondern auch einer Dogmatik, die sich geschichtlichen Rahmenbedingungen und kulturellen Veränderungen nicht

in: Klinger/Wittstadt (Hg.), Glaube im Prozess, 99 –120, 102. Vgl. 115: „Der einseitige Doktrinalismus, der den geheimnisvollen Reichtum der biblischen Offenbarung zu reduzieren drohte, hatte einer Synthese von Heilslehre und Heilsereignis weichen müssen.“ 114 Vgl. Smulders, Zum Werdegang, 116. 115 Vgl. Rahner, K., Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie, in: Ders., Schriften zur Theologie IV, 51– 99. Vgl. GS 41, wo das Geheimnis (mysterium) Gottes als letztes Ziel (ultimus finis) der Menschen im Blick ist. Das von der Kirche verkündete Evangelium „verkündet und proklamiert die Freiheit der Kinder Gottes; sie verwirft jede Art von Knechtschaft, die letztlich aus der Sünde stammt; sie respektiert sorgfältig die Würde des Gewissens und seiner freien Entscheidung; unablässig mahnt sie dazu, alle menschlichen Talente im Dienst Gottes und zum Wohl der Menschen Frucht bringen zu lassen; alle endlich empfiehlt sie der Liebe aller. Dies entspricht dem grundlegenden Gesetz der christlichen Heilsordnung.“ 116 Vgl. Wenzel, Das Zweite Vatikanische Konzil, 176: „Im Zentrum von Dei Verbum steht die Wiederentdeckung der Bibel“ und damit auch ihres Verständnisses von Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes. 117 Vgl. Kopp, S. (Hg.), Kirche im Wandel. Ekklesiale Identität und Reform (QD 306), Freiburg i. Br. 2020; Rahner, K., Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance. Mit einer Einleitung von M. Seewald, Freiburg i. Br. 2019.

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ängstlich entzieht, sondern zu jeder Zeit ausgesetzt weiß, wie das Allerheiligste, das mysterium fidei, dessen dynamische Wirklichkeit in das Hier und Heute, in den konkreten Alltag der Menschen hinein kommuniziert werden muss. Die Eucharistie ist dabei, wie Kardinal Suenens hervorhob, über Raum und Zeit hinweg immer dieselbe – „Und doch: welche Verschiedenheit im Akzidentiellen ist dabei im Laufe der Geschichte zu verzeichnen! Die Eucharistie ist in den verschiedensten Liturgien gefeiert worden: Ihre Sprache war aramäisch und griechisch, lateinisch und altslawisch, und gegenwärtig spricht sie alle Sprachen schlechthin. Sie hat gregorianische und polyphone Melodien gesungen; gegenwärtig übernimmt sie die Musik der Völker, denen sie auf ihrem Weg begegnet, und wird allen alles. Sie hat in nüchternen, klassischen Formeln römischen Zuschnittes gebetet, greift aber auch zur Lyrik und zum Überschwang des Orients; so verspürt sie gegenwärtig die dringlichste Notwendigkeit, sich der Empfindungsfähigkeit des heutigen Menschen entsprechend auszudrücken. Aber nicht nur Sprache und Ausdruck haben sich im Laufe der Zeit seit der ersten eucharistischen Feier im Abendmahlssaal von Jerusalem gewandelt – die Eucharistie ist in den verschiedensten Rahmen gefeiert worden: in den Katakomben auf dem Grab eines Märtyrers, in der pompösen Villa eines bekehrten Patriziers, in den Basiliken der konstantinischen Zeit, in den romanischen Kirchen, in den Kathedralen der Gotik, der Renaissance, des Barock und heute unter den schmucklosen Gewölben moderner Kirchen. Doch es ist immer dieselbe Eucharistie, die sich in einer zugleich sich selbst treubleibenden und dabei ständig anpassenden Liturgie Ausdruck schafft. Etwas ganz Ähnliches vollzieht sich bei der Kirche in ihrer theologischen und pastoralen Entwicklung. Den Christen, die sich aus der Fassung bringen lassen, wenn gewohnte Dinge in Frage gestellt sind und nach neuen gesucht wird, muss man sagen, dass der Glaube zugleich Gewissheit und ständiges Suchen ist. Es ist normal und in sich heilsam, dass die Theologen von Zeit zu Zeit die Formeln überprüfen, in denen unsere Dogmen und unser Glaubensgut gefasst ist. Wir neigen zu der Annahme, der Glaube sei ein Komplex von sogar in ihrer Ausdrucksform gleichbleibenden Wahrheiten, ein Komplex, den man weitergeben muss, wie Barren von Rohgold, die in einer kunstvoll bearbeiteten Truhe liegen. In Wirklichkeit ist der Glaube Leben und Lebensquelle. Alles aber, was lebendig ist, wächst, aber wächst kontinuierlich: Hier liegt der Kern des Problems.“118

118

Suenens, Die Mitverantwortung, 19 f.

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Eine präzise Unterscheidung von Inhalt und Ausdrucksgestalt ist dabei völlig unmöglich.119 Und doch weist die Orientierung an der personalen Wirklichkeit des sich offenbarenden Gottes eine verbindliche Richtung. „Je mehr man an das Herz dieses Mysteriums rührt, desto weniger sieht man sich imstande, seinen Gehalt auszudrücken, und um so berechtigter ist der Versuch, eine immer bessere Formulierung dafür zu suchen.“120 Es geht um das Bewusstsein, dass das erlösende Wort Gottes, das alle Menschen anspricht, nicht einfach als objektivierbares Destillat starrer Inhalte121 gegeben ist, sondern als unverfügbare, miteinander teilbare und mitteilbare Zuwendung, die bis zu einem gewissen Grad – den es sensibel zu bestimmen gilt – immer neu und anders ausgedrückt und entfaltet werden muss. „Diese Erneuerung wird bei denen Anstoß erregen, die fertige Lösungen, zeitlose Formeln, unwiderlegliche und schnelle Antworten auf Probleme wollen, die sich abzeichnen. Doch ist sie unvermeidbar. Jede Generation greift aufs neue zum Pilgerstab und sucht von neuem, um den Dialog mit ihrer Umwelt aufzunehmen und zu erneuern.“122 Die früheren Etappen dieser Pilgerreise und ihre Suchbewegungen – wie auch ihre kritikwürdigen Irrwege – wurden im biblischen Kanon, dem normativen Gedächtnis der Glaubensgemeinschaft, bewahrt und zur je neuen Deutung aufgegeben. Der Kanon ist dabei eine richtungsweisende Landkarte, die eine alles entscheidende Kontinuität markiert: die Treue JHWHs, die sich nicht nur in (text-)analytischer Deskription erschöpft, sondern das hörende Subjekt persönlich involviert, um die Freiheitsgeschichte des irreversibel erfahrbar gewordenen Heils mit eigenen Worten und Taten kreativ fortzuschreiben – bezogen auf diesen entzogenen Ursprung und das erhoffte Ziel. Papst Franziskus und Benedikt XVI. haben diese personale Relationalität in ihrer performativen Kraft, die in der Verkündigung wie der Theologie oft abhandenzukommen droht, unmittelbar vor Augen: „In Wirklichkeit ist das Zentrum und das Wesen des Glaubens immer dasselbe: der Gott, der seine unermessliche Liebe im gestorbenen und auferstandenen Christus offenbart hat.“123 Unter Verweis auf das II. Vatica119 Zur Grundproblematik vgl. Tapp, C., Kann es im kirchlichen Glauben Neues geben?, in: Damberg/Sellmann (Hg.), Die Theologie, 139 –168. 120 Suenens, Die Mitverantwortung, 21. 121 Vgl. Essen, G., Die Geschichte, die aus der Wahrheit kommt. Reflexionen zu einer innerkirchlichen Kultur der Innovationstoleranz, in: Damberg/Sellmann (Hg.), Die Theologie, 169 –196, 181 f.; 188. 122 Suenens, Die Mitveranwortung, 22. 123 Papst Franziskus, EG, Nr. 11.

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num und seine Lehre von der „Hierarchie der Wahrheiten“ (UR 11) betont Franziskus daher immer wieder vehement: „In diesem grundlegenden Kern ist das, was leuchtet, die Schönheit der heilbringenden Liebe Gottes, die sich im gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus offenbart hat.“124 Er beruft sich dabei auf seinen Vorgänger, Benedikt XVI., der in der persönlichen Begegnung mit der heilbringenden Liebe, die Gott ist, ebenfalls den kontinuierlichen Kern christlicher Überlieferung erkennt.125 Von daher verweist Franziskus auf die primäre – befreiende – Wahrheit, die sich in Jesus Christus verdichtet und endgültig bewahrheitet, die aber in der gesamten Bibel von der Genesis bis zur eschatologischen Thronvision transportiert wird, auch wenn ihr nicht wenige Lernprozesse und Aktualisierungen zugrunde liegen, reichlich Widersprüche begegnen und diese Wahrheit bis heute immer wieder von juridischer Strenge verschüttet zu werden droht: „Zuerst möchte ich jedem die erste Wahrheit sagen: ‚Gott liebt dich.‘ Wenn du das schon mal gehört hast, egal, ich möchte dich daran erinnern: Gott liebt dich. Zweifle nie daran, egal, was dir im Leben passiert. Egal in welcher Lebenslage du dich befindest, du bist unendlich geliebt.“126

Die Rede von einer „Hierarchie der Wahrheiten“ operiert teilweise noch in einem System von einzelnen Satzwahrheiten, die zu einem mehr oder weniger unantastbaren nexus mysteriorum verflochten sind. Zugleich setzt das Konzil damit aber Prioritäten, nicht nur im ökumenischen Dialog. Einzelne Lehraussagen, die auch in der Neuscholastik nach verschiedenen Verbindlichkeitsgraden und Zensuren gewichtet 127 waren, werden vor dem Hintergrund des dialogischen Offenbarungsverständnisses zugunsten der göttlichen Selbstmitteilung relativiert, weil sie sich – im Sinne der reductio in mysterium128 – an der ursprünglichen, heils124

Papst Franziskus, EG, Nr. 36. Vgl. EG, Nr. 7, mit Bezug auf Benedikt XVI., Deus caritas est, Nr. 1. 126 Papst Franziskus, Christus vivit, Nr. 112. 127 Vgl. Scheeben, M. J., Handbuch der katholischen Dogmatik. Bd. 1, Freiburg i. Br. 1873, 186 –195; Ott, L., Grundriss der katholischen Dogmatik, Bonn 112005, 35 f. Tatsächlich übernimmt die Neuscholastik diese Verbindlichkeitsgrade im Wesentlichen von einer dogmatischen Konzeption, deren differenzierte Ausrichtung an einer regula fidei sie bekämpfte, da sie selbst auf eine vollständige Anerkennung aller Lehrsätze sehr großen Wert legte: Chrismann, P. N., Regula fidei catholicae et collectio dogmatum credendorum. Denuo revidit et edidit P. J. Spindler, Augusta Vindelicum 1846. Vgl. hierzu Seewald, Dogma im Wandel, 34 ff. 128 Vgl. Rahner, K., Überlegungen zur Methode der Theologie, in: Ders., Schriften zur Theologie IX, 79 –126, bes. ab 113. Vgl. Siebenrock, R. A., ‚reductio in mysterium‘: 125

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geschichtlich orientierten regula fidei zu bemessen haben. Die entscheidende Frage lautet fortan nicht mehr, ob eine kirchliche Lehre vollständig und korrekt rezipiert wird129, sondern: Was führt mit untrüglicher Gewissheit zum Glauben an den einen Gott, der sich durch seinen Christus und in seinem Geist offenbart, der in Gemeinschaft erfahren wird, sich als unendlich treu und tragfähig erweist und ein Leben in Vollendung schenkt? Das Gewicht aller Glaubensaussagen oder kirchlicher Lehre, ihre Verbindlichkeit, tatsächliche Reichweite und Bedeutung sind allein von diesem personalen Offenbarungszentrum und dem soteriologischen Ziel des Glaubensaktes her zu bestimmen. Das hat Konsequenzen für die kirchliche Sendung. Was sich nicht auf Gott selbst bezieht, kann nicht heilsnotwendig sein. Jede Lehre wäre daraufhin zu befragen, ob und inwiefern sie in ihrer etablierten Gestalt das lebendige Mysterium transportiert und einen Zugang zu ihm ermöglicht. Wo dies aber nicht der Fall ist, bedarf es einer Revision theologischer Denkmuster, kirchlicher Sprache, und kultureller Prämissen. Es bedarf der neuen, pastoral motivierten Übersetzung des Logos in den Lebensalltag der Menschen. In diesem Sinne kann man mit Leonhard Hell den christlichen Glauben selbst als „ein Phänomen der Übersetzung“ verstehen, denn er „entstammt Übersetzungen, er vollzieht Übersetzungen und er führt zu Übersetzungen.“130 Die Menschen können nicht Gottes „Sprache“ sprechen und wortwörtlich lehren. Sie ist weder Hebräisch noch Griechisch und ganz sicher nicht Lateinisch. Es ist vielmehr umgekehrt. „Gott spricht, um sich vernehmbar zu machen, die Sprache des Menschen. Und er spricht daher immer die Sprache dessen, den er anspricht.“131 Das wird an Pfingsten deutlich.132 Immerhin, sind nicht soTheologie als transzendental-theologische Entfaltung der Verwiesenheit des Menschen auf das Geheimnis. Eine Rückbesinnung auf Karl Rahner heute, in: Dürnberger/Langenfeld/Lerch/Wurst (Hg.), Stile der Theologie, 181–204. 129 Vgl. hierzu auch Müller, Katholische Dogmatik, 82: „Gegenüber einer unterschiedslosen Gleichstellung aller einzelnen Dogmen […] ergibt sich […] eine inhaltliche Gewichtung und organische Zuordnung zum Zentrum der Offenbarung: der Selbsterschließung des dreieinen Gottes. Darum muss vom einzelnen Gläubigen nicht für jedes Dogma eine ausdrückliche und vollreflexe Aneignung gefordert werden“. 130 Hell, L., Translatio Dei. Der christliche Glaube in und als Übersetzung, in: Lehmann/Rothenbusch (Hg.), Gottes Wort, 367–380, 367. 131 Hell, Translatio, 375 f. Vgl. hierzu: Wohlmuth, J., Die Tora spricht die Sprache der Menschen. Theologische Aufsätze und Meditationen zur Beziehung von Judentum und Christentum, Paderborn 2002. 132 Vgl. Söding, T., Wie muss und kann die Kirche sich ändern? Ein neutestamentlicher

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gar die Inkarnation und jede Form von Sakramentalität eine Art existentielle, auslegende Übersetzung und Umsetzung des Wortes Gottes in das menschliche Leben?133 Gott ist selbst Wort, eine einladende Zusage, die in ihrem Sinnhorizont zwar unerschöpflich, aber für uns doch mitteilbar und vermittelbar, in seinem Geist auch verständlich ist.134

2.2. Lebendige Übersetzungsprozesse durch Ressourcement und Aggiornamento Das Konzil selbst hat bewusst keine starren gesetzlichen Normen hinterlassen. Seine Rezeption wurde, jedenfalls in Fragen des Glaubens und der Sitten, erst später durch eine zentrale Behörde kanalisiert, die eine dezentrale Übersetzung durch Regionalsynoden (wie z. B. die Würzburger Synode) nicht unerheblich einschränkte. „Die Probleme, welche die Lehre betrafen, kehrten unter die eifersüchtig gehütete Zuständigkeit des Sanctum Officium (neuerdings ‚Kongregation für die Glaubenslehre‘ genannt) zurück!“135 Auch der in seiner Intention und Verbindlichkeit häufig missverstandene Weltkatechismus136 und seine problematische Schrifthermeneutik137 haben den Eindruck einer einheitlichen und objektiv dargelegten Anfang, in: Kopp (Hg.), Kirche im Wandel, 100 –119, 106 f.: „Der Plural der Sprachen erweist sich nicht als Quelle von tödlichen Missverständnissen, sondern von lebendigen Zeugnissen und von guten Übersetzungen, die Verständigungen über Kulturgrenzen hinaus erlauben. […] Den Schlüssel zur Glaubenssprache bieten Übersetzungen: von Sprache zu Sprache, von Generation zu Generation, von Kultur zu Kultur, von Kirche zu Welt und zurück.“ 133 Der Gedanke findet sich in DV. Gott spreche „durch Menschen nach Menschenart“ (DV 12) und in DV 13: „Denn Gottes Worte, durch Menschenzunge formuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des ewigen Vaters Wort durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist.“ 134 Vgl. Hell, Translatio, 378: Den „garstig breiten Graben“ zwischen Gott und Mensch „überwindet der sprechende Gott von sich aus, indem er über-setzt, indem er sich übersetzt.“ Vgl. auch Balthasar, H. U., Gott redet als Mensch, in: Ders., Verbum Caro, 73 – 99. 135 Alberigo, G., Die Fenster öffnen. Das Abenteuer des Zweiten Vatikanischen Konzils, Zürich 2006, 238. 136 Vgl. Seewald, M., Gute Katholiken sollten nicht päpstlicher sein als der Papst, in: Christ in der Gegenwart 18/2021, 3 – 4. Zur Problematik siehe oben in Kap. III.3.3.: S. 308, Anm. 547. 137 Hieke, T., Die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben, in: ThGl 110 (1/2020), 21– 40, 31, verweist auf das problematische Schriftverständnis im KKK. Dort „dienen die angeführten Bibelstellen nur als angebliche Beweise für bestimmte Lehrsätze. Unterzieht man diese Passagen einer genaueren Exegese, so können

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Lehre teilweise neu erhärtet. Wieder wurde der dynamische Rezeptionsprozess138 auf die gehorsame Annahme geltender Auslegungsmuster festgelegt, sodass ein dezentraler und pastoral differenzierter Reformprozess erneut sistiert wird.139 Eher unausdrücklich und wohl auch unreflektiert wird auf eine altbekannte Hermeneutik zurückgegriffen, die sich von der des Konzils (sowie des Kanons) klar unterscheidet. In dieser auf die Kanonistik140 ausweichenden und primär auf den Buchstaben des Gesetzestextes141 verengten Hermeneutik bzw. Hermetik wird dann eine vergleichsweise primitive, rechtspositivistische Endtextexegese142 betrieben, die und wollen sie die ihnen aufgebürdete Beweislast gar nicht tragen.“ Damit falle das Schriftverständnis des Katechismus hinter das II. Vaticanum zurück. Hieke verweist auf die Vielfalt der Hl. Schrift (vgl. 32), die nicht in eine vermeintlich eindeutige Uniformität überführt werden dürfe: „Die Meinung, hiermit hätte man ein für alle Mal aufgeschrieben und definiert (gleichsam ‚betoniert‘), was katholische Lehre sei, ist im Übrigen eine modernistische Neuerung in der Kirche.“ Die Vielfalt der Hl. Schrift erfordere synodale Prozesse, die nicht verabsolutieren, sondern in Relation setzen. Das Kriterium sei dabei, mit DV 10, das „Heil der Seelen“ (32). 138 Vgl. Boff, L., Eine kreative Rezeption des II. Vatikanums aus der Sicht der Armen: Die Theologie der Befreiung, in: Klinger/Wittstadt (Hg.), Glaube im Prozess, 628 – 654, 630 f. 139 Vgl. Alberigo, Die Fenster, 238. „Das Konzil wurde ganz und gar auf die Gesamtheit seiner Beschlüsse reduziert, und diese Beschlüsse sollten in dem Maße Konsequenzen haben, wie sie sich in den vorgegebenen Rahmen der katholischen Kirche und vor allem ihres römischen Zentrums einfügten.“ 140 Dass der Terminus canon – Richtschnur – heute detaillierte canones des Kirchenrechts bezeichnet, ist ein Hinweis darauf, dass im Laufe der Kirchengeschichte eine schleichende Akzentverschiebung stattgefunden hat, insofern konkrete Rechtsnormen nun eine „kanonische“ Autorität beanspruchen, die sich mit der dogmatischen (und exegetischen) Herkunft der regula fidei von einem kanonischen (Rezeptions-)Prozess und ihrer bleibenden Pluralität und Rezeptionsoffenheit nicht leicht zur Deckung bringen lässt. Die Verengung des Kanon-Begriffs, die ihn von gesammelten Synodalentscheidungen löste und zum geschlossenen System von Rechts- und Lehrsätzen werden ließ, korrespondierte wohl nicht zufällig mit der Vereinheitlichung und zentralistischen Gleichschaltung des kirchlichen Lebens, die eine pastoral sensible Unterscheidung und Aktualisierung nur bedingt reflektiert oder intendiert. 141 In can. 17 CIC (1983) wird festgehalten, die Gesetze seien zu verstehen „gemäß der im Text und im Kontext wohl erwogenen eigenen Wortbedeutung; wenn sie zweifelhaft und dunkel bleibt, ist zurückzugreifen auf Parallelstellen, wenn es solche gibt, auf Zweck und Umstände des Gesetzes und auf die Absicht des Gesetzgebers.“ Die historisch-kritische Rekonstruktion der Textgenese, der Diskussionsverlauf, die Mehrheitsverhältnisse und theologischen Grundtendenzen des Konzils wären bei der Auslegung und Anwendung auch zu berücksichtigen. 142 Für eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Positionen vgl. Wijlens, M., Die Verbindlichkeit des Konzils. Eine kirchenrechtliche Betrachtung, in: Böttigheimer/ Dausner (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil, 37– 62; Demel, S., Wer interpretiert

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allerdings dem Selbstverständnis des kirchlichen Rechts nicht gerecht wird, da sie mit der theologischen Fundierung des Kirchenrechts in der göttlichen Selbstoffenbarung und seiner soteriologischen Ausrichtung auf das Heil der Menschen völlig unvereinbar ist.143 Dennoch entsteht oft der Eindruck, als habe sich die Vermittlung der göttlichen Offenbarung geltendem Kirchenrecht anzupassen, nicht umgekehrt.144 Im freundschaftlichen Diskurs der theologischen Disziplinen und bei voller Anerkennung des kirchlichen Gesetzgebers wird man vielleicht in aller Bescheidenheit darauf hinweisen dürfen: Die dogmatische Legitimation durch den Glauben der Kirche gibt dem Kirchenrecht überhaupt erst seine Existenzberechtigung und macht es zu einer der Theologie entsprechenden und insofern jederzeit nachgeordneten Größe. Dieser indiskutablen Asymmetrie müsste heute auch seitens kirchlicher Verantwortungsträger wieder Beachtung geschenkt werden, sobald der dogmatisch unseriöse Versuch unternommen wird, die Fragen nach der kirchlichen Reformierbarkeit mit dem Verweis auf geltendes Recht abzuwürgen. Diese Art von autoritärer Hermeneutik, die nicht die des christlichen Glaubens ist, funktionierte weder gegen die Propheten und ihre traditionskritische Rezeption der Tora, noch gegen Jesu Schriftauslegung, geschweige denn gegen Paulus, der so vehement daran erinnert, dass der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht (vgl. 2 Kor wen? Der Codex Iuris Canonici als „Krönung“ des Konzils?, in: HerKorr Spezial (2012): Konzil im Konflikt. 50 Jahre Zweites Vatikanum, 13 –18; Müller, L., Das Zweite Vatikanische Konzil und das Kirchenrecht, in: Tück (Hg.), Erinnerung, 385 – 400. Vgl. auch Böhnke, M., Kirche in der Glaubenskrise. Eine pneumatologische Skizze zur Ekklesiologie und zugleich eine theologische Grundlegung des Kirchenrechts, Freiburg i. Br. 2013. 143 Vgl. Demel, S., Kirchenrecht, in: Dies., Handbuch, 336 –340. Daraus ergibt sich die Forderung einer ständigen „Modifizierung des Rechts durch die Theologie“. Vgl. Hahn, J., Recht neu? Kirchenrecht und Kanonistik zwischen Tradition und Innovation, in: Damberg/Sellmann (Hg.), Die Theologie, 309 –326, 313 f. Das Recht neige tendenziell zum Konservativismus und zur Bewahrung des Status quo, die aber den Verlust der Aussagekraft der Heilsbotschaft riskiere, wenn sie sich der rechtlichen Reform verweigert. 144 Vgl. Seewald, M., Was gilt in der Kirche? Über göttliches Recht und die Möglichkeit dogmatischen Wandels, in: Kopp (Hg.), Kirche im Wandel, 145 –158, 146. Er problematisiert die Verrechtlichung der Glaubenslehre und stellt fest: „Das einmal zum Gesetz Gewordene ist […] der dogmatischen Diskussion entzogen. […] Wer sich mit dogmatischem Wandel in der katholischen Kirche – also der Frage, was sich an dogmatisch Definiertem verändern kann – befasst, hat es, bevor er auf eine an Argumenten orientierte Theologie stößt, mit verschiedenen Qualitäten des Rechts und folglich in erster Linie mit Autorität zu tun: auctoritas, non veritas facit legem.“

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3,6). Recht und Gesetz sind für den Menschen da, nicht der Mensch für das Gesetz. Es bedarf einer theologisch fundierten und soteriologisch orientierten Hermeneutik, die auch für den alltäglich gelebten (und lebbaren) Glauben sensibel ist und sich von reiner Gesetzesobservanz unterscheidet. Der vielfach beschworene „Geist des Konzils“ und der buchstäbliche, auch juristisch belastbare (oder auch vorbelastete) Wortlaut stehen aber ebenso unvermischt und ungetrennt in Beziehung wie im biblischen Kanon das Wort Gottes und seine menschliche Bezeugung. Hermeneutisch steht man vor derselben Aufgabe, sich die Dynamik des Pneumas in und hinter den jeweiligen Texten mit ihrer Genese und zeitgeschichtlichen Kontextualisierung anhand rekonstruierbarer und neuer Dialogprozesse anzueignen, um die Beweggründe und Grundtendenzen des Wandels nach- und mitvollziehen zu können. Hier greifen analog eine historischkritische, kanonische (das ganze Konzil berücksichtigende) und lebensweltliche Kontextualisierung, die vom Konzil selbst ja explizit eingefordert wird. Wer den Beschlüssen des Konzils gerecht werden will, muss sich seine soteriologische Zielbestimmung und pastorale Haltung auf dem Weg zu diesem Ziel zu eigen machen, um sie in neuen Kontexten sensibel umzusetzen. Der durch das Konzil aktiv und maßgeblich fortgeschriebene Traditionsprozess erschöpft sich nicht im Buchstabendienst oder in juristischer Durchsetzung; er realisiert sich vielmehr in der entsprechenden Übersetzung durch aneignende und transformierende Rezeption, die sich ihres verbindlichen Ursprungs und Ziels bewusst ist, sich durch Erinnerung ihrer Herkunft vergewissert, um so ihre Botschaft im multilateralen Dialog zu vergegenwärtigen und auf Zukunft hin zu aktualisieren.145 Für eine solche Übersetzung bedarf es einer doppelten Bewegung, die sich das II. Vaticanum angeeignet hat: a) ein (selbst)kritisches Ressourcement anhand der Überlieferung und ihrer normativen Referenzgröße, der Hl. Schrift, und b) ein Aggiornamento in die heutigen, pluralen Lebenskontexte hinein.146 „Die Theologie des ressourcement, die hinter die nachtridentinisch gegenreformatorisch verengte Tra145 Vgl. Stubenrauch, B., Tradition und kirchliche Erneuerung, in: StZ 121 (1996), 478 – 486, 480 f. 146 Vgl. O’Malley, J. W., „The Hermeneutic of Reform“: A Historical Analysis, in: Theological Studies 73 (2012), 517–546, 540. Anders als kontinuierliche Entwicklung lässt das Zusammenspiel von Ressourcement und Aggiornamento auch Traditionskritik zu. Die damit verbundene Hermeneutik „challenges the status quo, and it has in the history of the church sometimes challenged it radically.“

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dition der Neuscholastik auf die Quellen von Bibel und Patristik zurückgreift, und die Schärfung des zeitdiagnostischen Sensoriums gehören zusammen.“147 Benedikt XVI. sprach von einer „Hermeneutik der Reform“ und wollte damit die Spannung zwischen einer als Bruch verstandenen Diskontinuität und einer innovationslosen Kontinuität, die jede Entwicklung und Neuheit negiert, überbrücken.148 Bei aller Diskontinuität, die auch Korrekturen an vergangenen Fehlentscheidungen der Kirche impliziert (er verweist hier auf die Erklärung über die Religionsfreiheit), sei eine Kontinuität149 im Bereich des Wesentlichen und der grundsätzlichen Entscheidungen zu bewahren. Belastbare Kriterien der Unterscheidung, worin die „wahre Natur“ und Identität des kirchlichen Glaubens liegen, nennt Benedikt XVI. jedoch nicht.150 Hierzu müsste man wohl auf sein relationales Denken rekurrieren, das bei ihm in diesem Zusammenhang zugunsten ontologischer Sprachmuster in den Hintergrund rückt. Ein Übersetzungsprozess der Selbstzusage Gottes hätte sich an der verbindlichen Vorgabe der geschichtlich bedingten Bezeugung dieses Wortes in seinen vielfältigen Facetten abzuarbeiten, die nicht einfach ignoriert oder eigenmächtig verfälscht werden darf. Jede Übersetzung hat ja Sprache, Zeit, Kultur und die jeweiligen Adressaten mit ihrer Sprache etc. zu berücksichtigen. Dabei gibt es auch misslungene oder missverständliche Übersetzungen, die korrigiert werden müssen, denn nicht jeder Versuch einer solchen Übersetzung glückt. Auch davon zeugen die 147 Tück, J.-H., Erinnerung an die Zukunft. 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil. Einleitung, in: Ders. (Hg.), Erinnerung, 15 –39, 26 f. Vgl. auch Kasper, Das Verhältnis, 457. 148 Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie beim Weihnachtsempfang vom 22.12.2005 (https://www.vatican.va/con tent/benedict-xvi/de/speeches/2005/december/documents/hf_ben_xvi_spe_20051222_ roman-curia.html). Vgl. Knop, J., Hermeneutik der Reform – Reform der Hermeneutik. Über Fortschritt und Erneuerung in kirchlicher Überlieferung, in: IKaZ 46 (2017), 255–267. 149 Vgl. O’Malley, Hermeneutic of Reform, 543: „However, to press continuity to the exclusion of any discontinuity is in effect to say that nothing happened. As applied to the Vatican II, it reduces the council to a nonevent.“ Vgl. auch: O’Malley, J. W., Vatican II: Did anything happen?, in: Theological Studies 67 (2006), 3 –33. Das Konzil kennzeichne „a change in style“ of discourse (31) mit einer neuen „epideictic“ form (vgl. 26). 150 Vgl. Walter, P., Kontinuität oder Diskontinuität? Das II. Vaticanum im Kontext der Theologiegeschichte, in: Ders., Syngrammata. Gesammelte Schriften zur Systematischen Theologie, Freiburg i. Br. 2015, 316 –333.

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Kirchen- und Theologiegeschichte. Das italienische Sprichwort traduttore – traditore macht deutlich, dass jede Übersetzung bzw. Überlieferung immer auch in der Gefahr steht, zum Verrat zu werden. Und doch musste und konnte die Frohe Botschaft des christlichen Glaubens, die sich wesentlich auf das Mensch gewordene, sakramentale Wort Gottes richtet, immer wieder neu inkulturiert werden. Diese Inkulturation151 des Evangeliums in verschiedenen Regionen und Zeiten, Sprachen und Gegenwartskulturen – wie sie bereits bei der Begegnung der Kirche mit dem hellenistischen, römischen oder germanischen Denken erforderlich war, wie sie auch angesichts der Moderne, Postmoderne oder im digitalen Zeitalter erneut aktuell war und ist – muss dabei die personale und theofinale, soteriologische Dynamik des Evangeliums als relationaler Realität bewahren. Es geht nicht nur um die Übertragung eines destillierbaren Informationsgehalts152 im Sinne einzelner Lehren, sondern um die Übersetzung eines durch Sprache transportierten Beziehungsgeschehens in neue Kontexte.153 Natürlich wird dieses Geschehen immer anhand inhaltlicher Erzählung und Bezeugung konkretisiert, illustriert, verbalisiert und tradiert. Und doch bleibt es primär ein Beziehungsgeschehen, welches z. B. narrativ, performativ oder doxologisch erinnert, aktualisiert und in Symbolsprache (auch in sogenannte Symbola, also Bekenntnisse) gebracht wird und auf verschiedene Weise identitätsstiftend wirken kann. Dieses je neue Zur-Sprache-bringen zielt auf einen je neu und je anders, weil je persönlich und doch gemeinsam gelebten Glaubensakt, der sich nicht nur auf einzelne „articuli“ des Glaubens reduzieren lässt, sondern in neuen Kontexten entsprechend anders artikuliert und re-form-uliert, d. h. in eine völlig neue Gestalt gebracht werden muss, die auch mit neuen inhaltlichen Akzenten verbunden ist.

151

Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 115; 126; 122; vgl. II. Vaticanum: GS 42; 44; AG 6;

22. 152 So das Missverständnis bei Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie, 371 ff. Dass durch den Begriff der Inkulturation zwangsläufig ein „reines“ Evangelium einer strikt davon getrennten „reinen“ Kultur „nach dem Modell zweier vollkommen getrennter Entitäten“ (373) gegenüberstehe, kann durch den Inkulturationsbegriff gar nicht intendiert sein, wenn er sich am Begriff der Inkarnation orientiert. Dann greift eine chalcedonische Hermeneutik, die Markschies völlig unterschätzt. 153 Vgl. Höhn, H.-J., Entdecken und Übersetzen. Basiskategorien einer Theologie der Offenbarung, in: Ders. u. a. (Hg.), Analytische und Kontinentale Theologie im Dialog, Freiburg i. Br. 2021, 424 – 449.

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In seinem Missionsdekret Ad Gentes hat das II. Vaticanum diese Herausforderung differenziert und sensibel beschrieben.154 Mit Bezug auf die Kirchenkonstitution wird der sakramentale Charakter der Kirche betont, deren Aufgabe darin bestehe, „dem Heil und der Erneuerung aller Kreatur zu dienen“ und so allen Menschen das Evangelium zu verkündigen.155 Darin liegt auch das dynamische Wesen der Kirche und ihrer Sendung begründet. „Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach ‚missionarisch‘ (d. h. als Gesandte unterwegs), da sie selbst ihren Ursprung aus der Sendung des Sohnes und der Sendung des Heiligen Geistes herleitet gemäß dem Plan Gottes des Vaters.“156 Zwar wirke der Heilige Geist schon in der Welt, bevor Christus verherrlicht wurde (ein Gedanke, der für die Würdigung der Bibel Israels nicht unwichtig ist), doch begleite er die Kirche, mit der die Ausbreitung des Evangeliums unter den Heiden beginnt.157 Die Vereinigung der Menschen untereinander und im Glauben an die Universalität göttlicher Liebe wird präfiguriert in der Kirche, „welche in allen Sprachen spricht, in der Liebe alle Sprachen versteht und umfängt und so die babylonische Zerstreuung überwindet.“158 Das Wirken des Heiligen Geistes eint die Kirche als Gemeinschaft und in ihrem Dienst und belebt sie wie die Seele den Leib. Doch bleibt dieser Geist Gottes nicht darauf beschränkt: „Bisweilen geht er sogar der apostolischen Tätigkeit voran, wie er sie auch auf verschiedene Weisen unablässig begleitet und lenkt.“159 Die Kirche steht in der Nachfolge der Offenheit Jesu Christi und führt seine Sendung durch den Vater in der Welt fort. Auch wenn die Sendung der Kirche stets dieselbe sei, hängen Umsetzung und Vermittlung des Evangeliums von den Bedingungen ab, die es sensibel und flexibel mit je geeigneten Mitteln zu berücksichtigen gilt.160 Man könne nicht davon sprechen, dass die Kirche in manchen Bereichen schon bzw. noch verwirklicht sei oder eben nicht, denn es gebe verschiedene „Stufen“ und fließend durchlässige Zustände der Durchdringung des Evangeliums. Das Ziel ist die „Einpflanzung“ der Zeugnis ablegen154

Diese Charakterisierung des Missionsverständnisses findet sich ausführlicher bei: Weißer, Der Heilige Horizont, 755 –769. Dort werden die programmatischen ekklesiologischen Konsequenzen skizziert, die Papst Franziskus für eine „missionarische“ Kirche formuliert hat. 155 AG 1. 156 AG 2. 157 Vgl. AG 4. 158 AG 4. 159 AG 4. 160 Vgl. AG 6.

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den Kirche bei den Völkern und Gemeinschaften, die motiviert ist durch den universalen Heilswillen Gottes und dessen Zuwendung in Jesus Christus, die an alle Menschen herangetragen werden soll.161 Damit besteht die Notwendigkeit der Kirche in ihrer soteriologischen Mission.162 Denn der Heils- und Schöpfungsplan Gottes wird erfüllt, wenn alle Menschen sagen können: „Vater unser“.163 Damit wird die theozentrische bzw. theofinale Ausrichtung der Kirche deutlich, sofern sie sich mit Christus im Dienst für die Menschen vom Heiligen Geist bewegen lässt, während sie sich auf dem Weg zum Vater befindet.164 Sie müsse daher, auch wo sie ihre Botschaft und Lehre noch nicht – oder nicht mehr – voll entfalten kann, je nach Möglichkeit einen je volleren Zugang zu Gott durch die Vermittlung der Begegnung mit Christus eröffnen oder offenhalten: „Die Jünger Christi hoffen, durch die enge Verbindung mit den Menschen in ihrem Leben und Arbeiten ein wahres Zeugnis abzulegen und auch da zu deren Heil beizutragen, wo sie Christus nicht ganz verkünden können.“165 Mit anderen Worten: Sogar im dogmatischen Kernbereich – der Christologie – muss im Zweifelsfall nicht sofort alles „ganz“ verkündigt und verstanden werden. Man wolle in solchen Situationen „langsam einen volleren Zugang zu Gott“ eröffnen. Es handelt sich um eine theofinale Priorisierung. Denn: „So wird den Menschen in der Erlangung des Heils durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten geholfen; das Geheimnis Christi beginnt aufzuleuchten, in dem der neue Mensch erschienen ist, der nach Gott erschaffen wurde, in dem Gottes Liebe sich geoffenbart hat.“166 Wer auf glaubwürdige Weise eine bedingungslose Liebe und Zuwendung aus reiner Gnade erfährt, wird Christinnen und Christen früh genug nach ihrer Motivation und Überzeugung fragen, die ihrem selbstlosen Einsatz, ihrer gelebten Proexistenz für ihre Mitmenschen zugrunde liegt. Dann wird man gerne Rede und Antwort stehen und auf den Grund christlicher Hoffnung verweisen. 161 Vgl. AG 6 f. Vgl. auch: Konzilsväter des II. Vatikanischen Konzils, Wege zur Erneuerung der Kirche. Botschaft der Konzilsväter an die ganze Menschheit, in: HthKVatII, Bd. 5, 491–494. 162 Vgl. Papst Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi über die Evangelisierung in der Welt von heute, Rom 1975 (https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/ veroeffentlichungen/verlautbarungen/VE_002.pdf), Nr. 14 (DH 4573). 163 AG 7. 164 AG 15. 165 AG 12. 166 AG 12.

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Es geht einer sakramental verstandenen Kirche bei ihrer Sendung nicht um eine vollständige Darstellung und Durchsetzung ihrer Lehre, sondern um ein soteriologisch wirksames Zeugnis durch eine überzeugende, glaubwürdige Performance, die mehr ist als kognitive Informationsvermittlung und gnostischer Lehrinhalt. Jede Form von Zwang zum Glauben, Beeinflussung oder Anlockung durch ungehörige Mittel wird streng verboten.167 Die Kirche dürfe, wie Jesus selbst, niemals auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein, sondern muss, so könnte man sagen, permanent in der Haltung einer eucharistischen Proexistenz leben: Sie empfängt sich, um sich für andere einzusetzen. „Die christliche Liebe erstreckt sich auf alle, ohne Unterschied von Rasse, gesellschaftlicher Stufe oder Religion; sie erwartet nicht Gewinn oder Dankbarkeit; denn wie Gott sich uns mit ungeschuldeter Liebe zugewandt hat, so sind auch die Gläubigen in ihrer Liebe auf den Menschen selbst bedacht und lieben ihn mit der gleichen Zuwendung, mit der Gott den Menschen gesucht hat. Wie also Christus durch die Städte und Dörfer zog, jederlei Krankheit und Gebrechen heilend zum Zeichen der kommenden Gottesherrschaft, so ist auch die Kirche durch ihre Kinder mit den Menschen jeden Standes verbunden, besonders aber mit den Armen und Leidenden, und gibt sich mit Freuden für sie hin. Sie nimmt an ihren Freuden und Schmerzen teil; sie weiß um die Erwartungen und die Rätsel des Lebens, sie leidet mit in den Ängsten des Todes. Denen die Frieden suchen, bemüht sie sich in brüderlichem Gespräch zu antworten, indem sie ihnen Frieden und Licht aus dem Evangelium anbietet.“168

Hier zeigen sich doch deutliche Parallelen zur Pastoralkonstitution Gaudium et Spes. Aus dieser theoretischen Nähe zu den Menschen muss allerdings auch eine lebenspraktische Anknüpfung an deren Lebensweise und Situation entspringen. In jedem sozio-kulturellen Großraum müsse insofern die theologische Besinnung angespornt werden, die im Lichte der bisherigen Tradition der Gesamtkirche die Schrift und Tradition neu durchforscht, um einen Einklang verschiedener Gepflogenheiten und Lebensauffassungen mit dem durch göttliche Offenbarung bezeichneten Ethos zu erlangen. Diese vielstimmige Harmonie ist die Grundlage apostolischer Katholizität. „Von da öffnen sich Wege zu einer tieferen Anpassung [aptationem] im Gesamtbereich des christlichen Lebens. Wenn man so vorangeht, wird jeder Anschein von Synkretismus und falschem Partikularismus ausgeschlossen; das christliche Leben wird dem Geist und der Eigenart einer jeden Kultur ange167 Vgl. AG 13. Vgl. auch: Silber, S., Synodalität, Befreiung, Widerstand. Neue Perspektiven für die Missionstheologie, in: ThPQ 168 (3/2020), 262–270. 168 AG 12.

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passt [accommodabitur]; die besonderen Traditionen, zusammen mit den vom Evangelium erleuchteten Gaben der verschiedenen Völkerfamilien, werden in die katholische Einheit hineingenommen.“169

Man darf eine solche „Anpassung“ des christlichen Lebens freilich nicht als relativistische, sich anbiedernde Preisgabe des Glaubens missverstehen, denn dieser bleibt doch im Wesentlichen immer derselbe. Er gründet in der erfahrbaren, heilsamen und befreienden Zuwendung Gottes aus reiner Gnade, die in Dei Verbum beschrieben wird. Diese Zuwendung, die nicht nur gelehrt, sondern gelebt werden muss, wird durch Jesus Christus verkörpert und somit für alle Menschen sakramental vermittelt. Sie wird durch das lebendige Zeugnis und die gelebte Überlieferung der Kirche je neu und auf vielfältige Weise vergegenwärtigt (wenn auch nur analog, d. h. mit einer je größeren Unähnlichkeit), um Menschen zu berühren170 und zur aktiven Teilhabe und Nachfolge im Geiste Jesu zu bewegen. Speziell für den mitteleuropäischen Kontext, der erneut ins Blickfeld der kirchlichen Mission und Neuevangelisierung rückt, bedeutet dies auch eine missionarisch-sensible Anpassung im Umgang mit der Vermittlung des Evangeliums. Offensichtlich wurde dies schon durch die Konzilsväter in prophetischer Weitsicht erkannt.171 Auch Papst Franziskus hat bei seiner Vision einer missionarischen Kirche eine lebensdienliche 169 AG 22. Das Missionsdekret wurde mit 2394 Ja-Stimmen (99,8 %) der Konzilsväter feierlich verabschiedet. Es handelt sich de facto um einen verbindlichen consensus unanimis der Weltkirche. 170 Der Gedanke dieser „berührenden“ Begegnung (als realsymbolische Vermittlung des universalen Heilswillens Gottes, der durch die Kirche analog transportiert wird) prägt von Anfang an die Theologie Karl Rahners, der wiederum das konziliare Offenbarungsverständnis im Sinne der Selbstmitteilung Gottes wesentlich mitgeprägt hat. Vgl. Rahner, C., De Gratia Christi. Summa praelectionum in usum privatum auditorum ordinata, Innsbruck 51959/60, 19 (Vgl. Rahner, K., De Gratia Christi/Über die Gnade Christi, in: Ders., SW 5/1 und 5/2: De Gratia Christi. Schriften zur Gnadenlehre. Bearbeitet von R. A. Siebenrock und A. Raffelt, Freiburg i. Br. 2015/2017, 239 – 494; 605 –1361): „Haec Dei voluntas salvifica nos attingit in Christo Jesu in Ecclesia.“ 171 Vgl. AG 6: „Überdies ändern sich die Gemeinschaften, innerhalb deren die Kirche besteht, aus verschiedenen Ursachen nicht selten von Grund auf, so dass völlig neue Bedingungen auftreten können. Dann muss die Kirche erwägen, ob diese Bedingungen ihre missionarische Tätigkeit neuerdings erfordern. Außerdem sind die Verhältnisse manchmal von der Art, dass für bestimmte Zeit die Möglichkeit fehlt, die Botschaft des Evangeliums direkt und sofort vorzulegen. Dann können und müssen die Missionare geduldig, klug und zugleich mit großem Vertrauen wenigstens Zeugnis ablegen für die Liebe und Güte Christi und so dem Herrn die Wege bereiten und ihn in gewissem Sinn gegenwärtig werden lassen. So wird deutlich, dass die missionarische Tätigkeit zuinnerst aus dem Wesen der Kirche hervorquillt. Sie breitet ihren heilschaffenden

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Evangelisierung im Blick, bei der die Botschaft von der barmherzigen Nähe und siegreichen Gnade Gottes ins Leben übersetzt und für alle Menschen zugänglich artikuliert werden muss. Die Kirche könne dabei „auch dazu gelangen, eigene, nicht direkt mit dem Kern des Evangeliums verbundene, zum Teil tief in der Geschichte verwurzelte Bräuche zu erkennen, die heute nicht mehr in derselben Weise interpretiert werden und deren Botschaft gewöhnlich nicht entsprechend wahrgenommen wird. Sie mögen schön sein, leisten jedoch jetzt nicht denselben Dienst im Hinblick auf die Weitergabe des Evangeliums. Haben wir keine Angst, sie zu revidieren! In gleicher Weise gibt es kirchliche Normen oder Vorschriften, die zu anderen Zeiten sehr wirksam gewesen sein mögen, aber nicht mehr die gleiche erzieherische Kraft als Richtlinien des Lebens besitzen. Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ‚ganz wenige‘ sind. Indem er den heiligen Augustinus zitierte, schrieb er, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufordern sind, ‚um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen‘ und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während ‚die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei‘. Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen.“172

Die Neuinterpretation und Reform kirchlicher Lehre kann sich – wie der biblische Kanon – am Ursprung und Ziel des Glaubens orientieren, d. h. an der heilsamen Beziehung zum lebendigen Gott, die durch Jesus Christus vermittelt und im Heiligen Geist persönlich erfahrbar wird. Dabei ist sensibel zu unterscheiden, was dieser Beziehung dient – oder was sie behindert und verstellt. Wo dient die Lehre dem Leben und wo muss heute das Leben einer abstrakten Lehre dienen? Dies herauszufinden ist nur im Dialog mit den Adressaten des Evangeliums möglich, sodass es einer hörenden und lernbereiten Haltung bedarf. Allein auf dieser Basis lassen sich dann die verbindlich vorgegebenen Zeugnisse und Eckdaten des Glaubens, derer man sich gemeinsam vergewissert, in neue Formate übersetzen und rezipieren, ohne dabei ihr ursprüngliches Ziel zu verraten. Eine Unterscheidung der Geister orientiert sich dabei an der Wirklichkeit Gottes selbst – an der Durchsetzungskraft universaler Liebe – als dem befreienden mysterium salutis. Glauben aus, verwirklicht in der Ausbreitung ihre katholische Einheit und wird von ihrer Apostolizität gehalten.“ 172 Papst Franziskus, EG, Nr. 43.

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Ein so verstandenes Aggiornamento der treuen Selbstzusage Gottes und seines universalen Heilswillens wird durch die Liturgie in Wort und Tat mit allen Sinnen zelebriert. Das Wort wird hier sakramental vermittelt, während es in der Dogmengeschichte differenziert bzw. inhaltlich entfaltet und in der Pastoral caritativ mitvollzogen und realisiert wird. Eine lebendige Liturgie, zu der ja auch die Relecture und aktualisierende Auslegung der Hl. Schrift173 gehören, könnte der Dogmenhermeneutik als Vorbild174 gelten, wenn sie sich auf die aktuellen Hörer/innen des Wortes einlässt und nicht als zeitloses Reservoir sich selbst genügender Riten missverstanden wird. Die Erinnerung, das anamnetische Gedächtnis, zu dem auch die Vergegenwärtigung einer Leidens- und Schuldgeschichte gehört, ist pneumatologisch motiviert und zutiefst dynamisch. Die Anamnese ist dabei verbunden mit der auf Zukunft hin offenen und hoffenden Epiklese175 einer Ekklesia, die durch den Ruf Gottes zu ihrer Zeit herausgefordert ist, ihrem Ursprung Zukunft zu geben.176 Sie tut dies, wenn sie sich selbst in den eucharistischen Wandlungsprozess einbeziehen lässt, indem sie sich dankbar aus immer neuen Charismen empfängt und Gottes Geist anheimgibt, indem sie umkehrt und (in wörtlicher Metanoia) umdenkt, ihre eigene Schuld bekennt, ihre Schwächen und Defizite erkennt, ihre Fehler und ihr Fehlen anerkennt – indem sie sich 173 Für Origenes sind sakramentaler Leib Christi (in der Eucharistie) und Wort Gottes (in der Hl. Schrift) geradezu gleichgestellt. Vgl. Haag, Die Buchwerdung, 303 ff. Vgl. zudem DV 21. 174 Vgl. Kranemann, B., Biblische Texte als Heilige Schrift in der Liturgie, in: Bultmann/März/Makrides (Hg.), Heilige Schriften, 159 –171, 162: „Den Umgang des Gottesdienstes mit der Bibel kann man als produktiv bezeichnen. Er bleibt äußerst kreativ, weil er immer wieder Neues zur Sprache bringen kann, denn er nützt die Polyvalenz der biblischen Texte.“ Es geschieht eine kontextualisierte Vergegenwärtigung durch Anamnese (vgl. 170). So lebe die Vieldeutigkeit der Texte fort, die in einen „offenen Rezeptionsprozess“ münde (171). 175 Vgl. Böhnke, M., Geistbewegte Gottesrede. Pneumatologische Zugänge zur Trinität, Freiburg i. Br. 2021, 276: „Die Epiklese bittet um Ausstehendes, das durch die Verheißung der Treue Gottes verbürgt ist“. Die Spannung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit Gottes wird durch die Zusage seiner Treue überbrückt. Sie eröffnet einen aktiven Handlungsraum durch eine gelebte „Praxis der Hoffnung“ und bedeutet auch, dass „die Anrufung Gottes im Gebet im Aufruf zur geistgemäßen Ausrichtung des Handelns und zur Erneuerung der Welt mündet […]. Eine so verstandene Erneuerung der Welt fördert die schöpferischen Kräfte des Lebens.“ (277) Diese Erneuerung im Heiligen Geist zielt daher auf Freiheit und Sensibilität für das Leben des Anderen. 176 Vgl. Stubenrauch, B., Verbindlichkeit im Kontext persönlicher Freiheit (Vatikanum II). Zur Deutung und Bedeutung konziliarer Geltungsansprüche, in: Böttigheimer (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil, 19 –36, 24; 27.

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auf geschwisterliche Kritik einlässt und alles menschlich Machbare tut, damit das befreiende Wort Gottes wirklich bei allen Menschen persönlich und leibhaftig spürbar ankommen kann. In diesem Sinne kann man mit Roman A. Siebenrock von einer „Hermeneutik der Wandlung“ sprechen, die dem II. Vatikanischen Konzil vor Augen stand.177 Das Konzil zielte primär auf „einen neuen Habitus“ der Kirche und ihrer Gläubigen.178 Intendiert ist also ihre permanente Bekehrung und Neuausrichtung, die natürlich auch entsprechend reflektiert und kommuniziert werden muss. Die kritische Befragung der Glaubwürdigkeit kirchlichen Lebens mündet in eine tragfähige Neufassung der Lehre, die dem gelebten Glaubensvollzug nachfolgt und ihm dient. Das II. Vaticanum realisierte dabei – für eine sakramental verstandene Kirche essentiell – auf performative Weise eine entsprechende Haltung, die das Konzil zum Symbolereignis ad intra wie ad extra werden ließ. Ein solcher Habitus erschöpft sich nicht in einer juridisch verengten Konzilsauffassung, die hinter der kirchengeschichtlichen Forschung zurückbleibt.179 Dabei rückt nicht nur der final gelehrte, sondern der gelebte und potentiell lebbare Glaube der Kirche in das Blickfeld der Betrachtung. Es geht um einen erneuerten Habitus und Stil der Kirche180 und insofern um eine glaubwürdige und authentische Verbindung von fides quae und fides qua. Dass ein christlich interpretierter Lebensstil stets pastoral sensibel, weltkirchlich plural und mit Blick auf die kirchliche Mission am vorbildlichen „Stil“ Jesu Christi orientiert sein muss, hatten wir bereits mit Christoph Theobald herausgearbeitet.181 Dabei ist, ganz im Sinne des Konzils, die unverfügbare Dynamik des Mysteriums im Blick, dessen er177 Vgl. Siebenrock, R. A., „Siehe, ich mache alles neu!“ – „Hermeneutik der Wandlung“. Von der rechten Weise, das Zweite Vatikanische Konzil zu realisieren, in: Böttigheimer/Dausner (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil, 101–139. 178 Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 111. 179 Vgl. Wassilowsky, G., Das II. Vatikanische Konzil als Symbolereignis, in: Böttigheimer (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil, 180 –200, 182. Ein „handlungs- und symboltheoretisch ausgerichtetes Konzept von Kirchengeschichte“ ist angesichts der Quellen nicht nur möglich, sondern zwingend erforderlich. Es orientiert sich nicht nur am Endtext oder an der Rekonstruktion der Textgeschichte: „Um ein Konzil als Ereignis wirklich wahrnehmen zu können, bedarf es vielmehr einer Analyse der Praxis eines Konzils, der Interaktion zwischen den Teilnehmern, der Kommunikation zwischen konziliarer Versammlung und aktiv beobachtender Welt.“ 180 Vgl. Wassilowsky, Das II. Vatikanische Konzil, 183. 181 Siehe oben: Kap. III.3.3. Vgl. auch Theobald, C., Le courage de penser l’avenir. Études oecuméniques de théologie fondamentale et ecclésiologique (Cogitatio Fidei 311), Paris 2020.

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eignishafte und geschichtliche Dimension „gegenüber einer einseitigen Ritualisierung“ geschützt wird.182 Diese Dynamik erfordert auch, dass „Zukunft nur von einem schöpferischen Umgang mit dem ‚Ursprung‘ des Christentums angegangen werden kann.“183 Die Kirche ist als creatura verbi eben auch eine creatio continua, die an der dynamischen Lebenskraft ihres Schöpfers aktiv partizipiert. Diese Hermeneutik vermag das Neue und bislang Unbekannte „als Möglichkeit des biblischen Gottes zu würdigen“.184 Sie zielt dabei auf die Entwicklung und Kohärenz einer Geschichte des Glaubens, der von der Bereitschaft lebt, sich in der Begegnung mit dem Fremden und Anderen selbst je neu zu wandeln. Für John Henry Newman bedeutet Leben daher, „sich wandeln, und vollkommen sein heißt sich oft gewandelt haben.“185 Der mit einem lebendigen Glauben verbundene Lebenswandel erschöpft sich nicht in einer Doktrin. Er zielt nicht auf die Wiederherstellung eines idealisierten und uneinholbaren Zustandes vergangener Zeiten und sucht nicht den Zeitgeist früherer Epochen. Er zielt auf eine je neue Wandlung im Sinne der Erneuerung, die sich aus dem Ursprung nährt, aus Sackgassen herausführt, aber wieder neu auf jene absolute Zukunft hin ausrichtet, die Gott selbst ist. Dieser lebendige Glaube verbindet Kontinuität und Diskontinuität durch ein ebenso mutiges wie dem eigenen Ursprung treues Voranschreiten, das sich jedoch nicht in einer evolu182 Vgl. Theobald, C., Das Christliche als Lebensstil. Die Suche nach einer zukunftsfähigen Gestalt von Kirche aus einer französischen Perspektive, in: Böttigheimer (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil, 203 –219, 211 f. 183 Theobald, Das Christliche als Lebensstil, 217. Als grundlegend erweisen sich für das Konzil die Begriffe conversatio, colloquium und dialogus, der normative Bezug zur Hl. Schrift, die leiblich-sakramentale Dimension des Glaubens und die universale Dimension einer gastfreundlichen, geschwisterlichen Kirche, die zur Kontemplation einlädt (vgl. 217 ff.). 184 Vgl. Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 136. 185 Vgl. Newman, J. H., Über die Entwicklung der Glaubenslehre. Durchgesehene Neuausgabe der Übersetzung von Th. Haecker. Besorgt, kommentiert und mit ergänzenden Dokumenten versehen von J. Artz, Mainz 1969, 41. Vgl. hierzu Siebenrock, R. A., Leben heißt sich wandeln. Systematisch-theologische Annäherung im Geiste John Henry Newmans an das Thema „Wandlung“ im Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil, in: Biemer, G./Trocholepczy, B. (Hg.), Realisation – Verwirklichung und Wirkungsgeschichte. Studien zur Grundlegung der Praktischen Theologie nach John Henry Newman (Internationale Cardinal-Newman-Studien XX), Frankfurt a. M. 2010, 295 –312; Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 135 f., Anm. 98. Damit widerspreche Newman dem Grundsatz „semper eadem“ bei Vinzenz von Lerins, Commonitorium I,2. In diesem Licht sind auch seine Bemühungen um Kriterien bzw. Merkmale legitimer Entwicklung zu lesen. Vgl. auch Seewald, Doktrinaler Wandel, 154 –157.

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tiven Fortschrittsideologie erschöpfen darf.186 Im Gegenteil, es wird erkennbar, wo die Treue zum Ursprung preisgegeben wird. Dort nämlich, wo die Lehre selbst über jenen Gott gestellt wird, der das Leben und Heil aller Menschen will und ermöglicht. So ermöglichte eine selbstkritische Relecture von Röm 9 –11 angesichts der Katastrophe der Shoa eine neue Haltung zu Israel und dem Judentum – eine Wandlung im kirchlichen Glauben durch eine beschämte Metanoia und das Eingeständnis eigener Schuld, die sich dann in einer Erneuerung kirchlicher Lehre niederschlugen. Auch dieser Wandel vollzog sich durch einen Sinneswandel, durch den – viel zu späten – Dialog, durch Vergewisserung und Aktualisierung. Letztlich durch die kritische Rückbesinnung auf das salutare Dei mysterium, welches das innige Band zwischen Altem und Neuem Testament konstituiert und je neue Wege in die Zukunft eröffnet.187 Eine „Hermeneutik der Wandlung“ ist sich dessen bewusst, dass Erneuerung immer notwendig ist, um der Fülle des Mysteriums auf unserem Weg durch die Zeit annähernd gerecht werden zu können. „Eine ‚Hermeneutik der Wandlung‘ sieht Erneuerung und Reform als Normalfall des christlichen Lebens an.“ Dabei „stehen auch die institutionellen und strukturellen Maßstäbe unter dem Primat des Evangeliums, das in diesem Prozess, der Irren und Hoffen impliziert, neu entdeckt werden will.“188 Diese Wandlung verbindet die Erinnerung mit Hoffnung. „Die Hoffnung auf die absolute Zukunft Gottes, auf das eschatologische Heil, das der absolute Gott selbst ist, ist nicht die Legitimation eines Konservativismus, der – alles versteinernd – angstvoll die sichere Gegenwart einer unbekannten Zukunft vorzieht, nicht das ‚Opium des Volkes‘, das im Gegenwärtigen beruhigt, auch wenn dieses leidvoll ist, sondern die Ermächtigung und der Befehl zu einem immer wieder aufgenommenen, vertrauenden Exodus aus der Gegenwart in die (auch innerweltliche) Zukunft.“189 186 Hier sei erneut an das Schema der Päpstliche Bibelkommission (Das jüdische Volk, Nr. 64 f.) erinnert, die das Verhältnis von AT und NT durch Kontinuität – Diskontinuität – Progression beschreibt. Vgl. Kap. II.1.4. 187 Vgl. NA 4: „Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist. So anerkennt die Kirche Christi, dass nach [iuxta!] dem Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung sich schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten finden.“ 188 Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 137. Dort mit Bezug auf Kardinal Döpfner. Vgl. auch Ganoczy, A., Kirche im Prozess der pneumatischen Erneuerung, in: Klinger/Wittstadt (Hg.), Glaube im Prozess, 196 –206. 189 Rahner, K., Zur Theologie der Hoffnung, in: Ders., Schriften zur Theologie VIII, Einsiedeln u. a. 1967, 561–579, 576.

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Die Kirche ist ein dynamisches, „aktives Subjekt in der Heilsökonomie, das um der Kontinuität der Tradition willen zu Innovationen ermächtigt ist.“190 Die Innovation ist im kirchlichen Traditionsprozess ein „Wagnis um der Kontinuität willen. Sie impliziert das Vertrauen, dass die Kontinuität neue geschichtliche Konkretionen zulässt. Ja, wahre Kontinuität treibt selbst Innovation hervor, ohne die sie nicht bestehen könnte.“191 Dies schließt natürlich mögliche Fehlentwicklungen und deren Korrektur ein, die mit Metanoia verbunden ist. Betroffen sind von diesem Erneuerungsprozess „Mentalitäten, Haltungen, Praktiken und Strukturen“.192 Die Kirche realisiert angesichts der Neuzeit also zunehmend ihre eigene Geschichtlichkeit. Sie „entdeckt sich als Subjekt jener menschlichen Vermittlung, durch die sich die Selbstmitteilung Gottes vermittelt.“193 Sie versteht sich in diesem weiten Sinne194 als Sakrament, das göttliche und menschliche Wirklichkeit unvermischt, aber auch untrennbar miteinander verbindet, als aktive Gemeinschaft, die geschichtlich verortet ist und geschichtlich handelt, aber lange Zeit nicht (mehr) reflektierte, dass ihre Innovationen selbst das „Ergebnis kirchlicher Entscheidung und Entwicklung und nicht detaillierter Aufträge Jesu Christi oder der Apostel waren […]. Wenn die alte Kirche den Konzilien nur deshalb Autorität zuschrieb, weil sie nichts anderes als die alte Tradition bezeugten und nichts Neues sagten, reflektierte sie gleichfalls nicht, dass sie die alte Lehre bereits in neuen Begriffen zur Sprache brachte, die Ergebnis ihrer eigenen Reflexion und Entscheidung waren.“195 Als eigenverantwortliches Handlungssubjekt beansprucht die Kirche, im Sinne Jesu zu unterscheiden und (sich) zu entscheiden. So verstand sich die Kirche als eine dem Staat und seinen Interessen gegenüber eigenständige Größe, mit „eigenen Zielen und Strukturen. Das Selbstbewusst190 Pottmeyer, H. J., Kontinuität und Innovation in der Ekklesiologie des II. Vatikanums. Der Einfluss des I. Vatikanums auf die Ekklesiologie des II. Vatikanums und Neurezeption des I. Vatikanums im Lichte des II. Vatikanums, in: Alberigo/Congar/ Pottmeyer (Hg.), Kirche im Wandel, 89 –110, 101. 191 Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 100. 192 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität, Nr. 104. 193 Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 102. 194 Vgl. Wassilowsky, G., Universales Heilssakrament Kirche. Karl Rahners Beitrag zur Ekklesiologie des II. Vatikanums (ITS 59), Innsbruck 2001; Boff, L., Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung. Versuch einer Legitimation und einer struktur-funktionalistischen Grundlegung der Kirche im Anschluss an das II. Vatikanische Konzil, Paderborn 1972. 195 Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 102.

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sein der Kirche verdankt sich also nicht nur einer theologischen Dynamik, sondern ist auch das Ergebnis einer Wechselbeziehung mit der außerkirchlichen Entwicklung. Das lässt sich am I. und II. Vatikanum ohne Schwierigkeiten ablesen. Das I. Vatikanum will die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem souveränen Staat betonen und definiert sich zu diesem Zweck nach dessen Modell, das II. Vatikanum findet sich in einer Gesellschaft, die sich auf das Prinzip der Selbstbestimmung beruft; es betont die Mitverantwortung von Episkopat und Gläubigen und bestätigt den Ortskirchen eine relative Selbstständigkeit.“196 Der Grund dafür liegt in ihrer Botschaft, die sie aktiv durch die Zeit transportiert: „Die Selbstmitteilung Gottes, Ausdruck des freien Heilsratschlusses und der Liebe Gottes, kann nur in Freiheit vernommen und als Liebe beantwortet werden. Die Selbstmitteilung Gottes setzt sich deshalb die geschöpfliche Freiheit, setzt sich Subjektivität und die erlösende Befreiung dieser Freiheit zu einer Antwort aus Liebe voraus. Die Bedingung der Subjektivität gilt nicht minder für jene menschliche Vermittlung, die das Wort Gottes in den Dienst seiner Selbstvermittlung nimmt. Das Subjektsein der Kirche in der Heilsökonomie und ihr wachsendes Bewusstsein davon sind die immer mehr sich auszeitigende Frucht der Selbstüberlieferung Jesu Christi. Sie zielt darauf, dass die Kirche nicht nur Sakrament der Heilsvermittlung an die Welt ist, sondern sich selbst in vollem Bewusstsein als solches vollzieht, sich in Freiheit und Liebe in den Dienst nehmen lässt.“197

Wie Jesus – gegen alle monotheletistischen Häresien – eine eigene menschliche Freiheit hatte, so hat sie auch die Kirche als Gemeinschaft in seiner Nachfolge. Sie darf und muss aktiv davon Gebrauch machen, um das Wort Gottes je aktuell zu vermitteln. Entscheidend ist, wie Hermann J. Pottmeyer betont, dass sich die Kirche in dieser sakramentalen Funktion nicht selbst an die Stelle des zu Überliefernden setzt. Dies impliziert das Bewusstsein um die je größere Differenz zwischen dem inkarnierten Wort Gottes und der es nur bezeugenden Kirche, sodass „die Kirche ständig der Umkehr, der Ausrichtung am Wort Gottes und der Auferbauung 196 Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 103. Hierin liegt eine Gemeinsamkeit von Vaticanum I und II: „Es ist die Erkenntnis von der Entscheidungs-, Gestaltungs- und Innovationsmacht der Kirche, von ihrer geistgeführten Ermächtigung, das unverfälschte Evangelium entsprechend den Herausforderungen der Zeit je neu verbindlich anzusagen und treu zu bewahren.“ Das II. Vaticanum korrigiert dabei die einseitige Fixierung auf den Papst als vermeintlich alleinigem Subjekt der Unterscheidung und Entscheidung. 197 Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 103 f.

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durch das Wirken Christi im Geiste bedarf.“198 Das Prinzip der Verbundenheit in bleibender Unterschiedenheit ist dem II. Vaticanum dabei wesentlich stärker bewusst als seinem Vorgängerkonzil. Es lässt Raum für Traditionskritik. Dieses Bewusstsein ist im Zuge aktueller Missbrauchskrisen weiter gewachsen und prägt die heutigen Anfragen an die Theologie der Sakramente.199 Gewachsen ist auch das Bewusstsein (besser: die Erinnerung daran), dass das hörende und auf die Selbstoffenbarung Gottes frei und eigenverantwortlich antwortende Überlieferungssubjekt Kirche eine dezentrale, dynamische und plural verfasste „Kirche von Subjekten“ mit ihrer je eigenen Freiheit und Verantwortung darstellt.200 Sie alle haben aktiv Anteil am dynamischen Prozess der Tradition und Rezeption. „Insofern die Kirche diesen geschichtlichen Prozess der Glaubensüberlieferung selbst aktiv gestaltet, vollzieht sie, was der Begriff des Subjekts für den neuzeitlichen Menschen vorrangig bedeutet: Sie handelt in Freiheit und eigener Verantwortung als Subjekt.“201 Die Kirche ist dabei immer nur als synchrone wie diachrone communio eine sakramentale Wirklichkeit, an der es aktiv und kreativ, dialogisch zu partizipieren gilt.202 Sie zielt auf die Subjektwerdung der Armen, der Entrechteten, der Benachteiligten in dialogischer Gemeinschaft.203 Sie bezieht nicht nur die ortskirchlichen Handlungsträger, sondern alle Menschen in ihren Adressatenkreis ein, erneuert und generiert sich in der vermeintlichen Peripherie, in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen im Hier und Heute, deren personale Würde und Eigenständigkeit sie achtet und fördert, wenn sie ihrer Sendung gerecht werden will.204 198

Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 104. Vgl. Dirscherl, E./Weißer, M., Zur Theologie der Sakramente – Aktuelle Anfragen in Krisenzeiten, in: Dies., Wirksame Zeichen, 13 –26. 200 Vgl. Legrand, Die Entwicklung, 143 ff. 201 Meyer zu Schlochtern, Ist die Kirche, 235. 202 Pottmeyer, H. J., Die Suche nach der verbindlichen Tradition und die traditionalistische Versuchung der Kirche, in: Wiederkehr, D. (Hg.), Wie geschieht Tradition? Überlieferung im Lebensprozess der Kirche (QD 133), Freiburg i. Br. 1991, 89 –110, 102. Es handle sich um ein „Geschehen personaler Kommunikation zwischen Gott und den Glaubenden und den Glaubenden untereinander“. 203 Vgl. Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 108: „Im solidarischen Eintreten für das Subjektwerden aller gewinnt das Subjektsein der Kirche selbst eine neue Konkretion.“ Vgl. auch: Eckholt, M., Die Gläubigen als Ort theologischer Erkenntnis. Subjektwerdung im Glauben in Gemeinschaft und theologische Erkenntnis, in: Slunitschek/ Bremer (Hg.), Der Glaubenssinn, 96 –122. 204 Zu diesem biblisch fundierten Paradigmenwechsel und der damit verbundenen programmatischen Vision einer je neuen Ekklesiogenese vgl. Theobald, C., Die Kirchenkon199

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Wie die einzelnen Schriften der Hl. Schrift mit ihrer je eigenen Perspektive und transformativen, differenzierten Aneignung des Wortes Gottes sich in den Dialogprozess einer dynamischen Überlieferung eingebracht haben, so müssen es auch heute alle Glieder der Kirche tun, um an der Dynamik der Selbstmitteilung Gottes und ihrer Überlieferung aktiv teilzuhaben und sie in neue Kontexte zu übersetzen.205 Die participatio actuosa, von der das II. Vaticanum im Hinblick auf die Liturgie spricht, gilt für alle Getauften und für alle Vollzüge des kirchlichen Lebens. Interessanterweise heißt es in diesem Zusammenhang in SC 21 auch, die Liturgie enthalte „einen kraft göttlicher Einsetzung unveränderlichen Teil und Teile, die dem Wandel unterworfen sind.“ Diese Beschreibung zeigt die Parallele von Liturgie und Dogmatik auf, insofern es jeweils um eine Unterscheidung von Wandelbarem und Unwandelbarem, von Kontinuität und Diskontinuität geht.206 Der erbitterte Streit um die Liturgiereform ist daher nichts anderes als ein Streit um die rechte Überlieferung des kirchlichen Glaubens, verbunden mit dem krampfhaften Versuch einiger Konservatoren, die dynamische Hermeneutik des Konzils zu revidieren. Auch bei der Liturgiereform handelte es sich um theologisch begründete und pastoral orientierte Übersetzungsprozesse, die auf einer Wiederentdeckung der Geschichtlichkeit und Pluralität des christlichen Betens und Glaubens gründeten und auf eine aktive Teilhabe aller Gläubigen zielten.207 Die restaurativen Versuche, die Liturgiereform umzukehren, sind letztlich auch ein Angriff208 auf die Hermeneutik des stitution Lumen Gentium. Programmatische Vision – Kompromisstext – Ansatz für einen Paradigmenwechsel, in: Tück (Hg.), Erinnerung, 221–240; Theobald, C., Vom Mut, die Zukunft der Kirche vorwegzunehmen, in: Concilium 54 (4/2018), 361–369. 205 Für Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 105, ist die Dynamik der Selbstmitteilung Gottes „die grundlegende Kontinuität der Heilsökonomie“, die es durch Innovation zu bewahren gilt. 206 Vgl. Böntert, S., „Die Kirche wünscht nicht eine starre Einheitlichkeit der Form“. Inkulturation als Schlüssel für die Zukunft des Gottesdienstes, in: Damberg/Sellmann (Hg.), Die Theologie, 327–347. 207 Vgl. Faggioli, M., True Reform. Liturgy and Ecclesiology in Sacrosanctum Concilium, Collegeville (Minnesota) 2012, 26 f. 208 Faggioli, True Reform, 165, bezeichnet diese Versuche als „forefront of an overall rejection of the theology of Vatican II“, denn sie betreffen „the essence of Vatican II“ (91) und den inneren Zusammenhang von lex orandi et lex credendi. Vgl. 92: „The new rite’s language (comprehensible modern languages), symbols (inculturated traditions), scriptural passages (taken both from the Old Testament and the New Testament) contribute to shape a new lex credendi.“

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Konzils selbst, was Papst Franziskus inzwischen durchaus erkannt und verurteilt hat.209 Es ist nichts anderes als die Flucht in die Gewohnheit, aus Angst vor der Komplexität der Wirklichkeit und getrieben von der Furcht, die Grenzen einer sakral isolierten, gnostischen Binnenlogik zu verlassen und sich auf einen Dialog jenseits der eigenen Filterblase einzulassen. Doch wer gerne auf die tridentinische Messe rekurriert, sollte wissen: Das II. Vaticanum operiert mit einer vergleichbaren Hermeneutik wie das Konzil von Trient, wenn es mit kritischem Blick auf die Zeichen, Erfordernisse und Nöte der eigenen Zeit zwei Kriterien zur Anwendung bringt: Ressourcement und Aggiornamento, „fidelity to the tradition and adequacy to the day.“210 Das Tridentinum bindet sich 209 Vgl. Papst Franziskus, Motu Proprio Traditionis Custodes über den Gebrauch der Römischen Liturgie in der Gestalt vor der Reform von 1970, Rom 2021 (https://press.va tican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2021/07/16/0469/01014.html#tedM) und ergänzend dazu: Papst Franziskus, Lettera ai Vescovi di tutto il mondo per presentare il Motu Proprio „Traditionis Custodes“ sull’uso della Liturgia Romana anteriore alla Riforma del 1970, Rom 2021 (https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/ pubblico/2021/07/16/0469/01015.html#lettted). Hinter der Ablehnung der Liturgiereform stehe häufig die Ablehnung des II. Vatikanischen Konzils selbst, „unter der unbegründeten und unhaltbaren Behauptung, dass es die Tradition und die ‚wahre Kirche‘ verraten habe. Wenn es zutrifft, dass der Weg der Kirche innerhalb der Dynamik der Überlieferung verstanden werden muss, und ‚diese apostolische Überlieferung […] in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt [kennt]‘ (Dei Verbum, 8), dann stellt das Zweite Vatikanische Konzil die jüngste Etappe dieser Dynamik dar, bei der sich der katholische Episkopat in eine Haltung des Zuhörens begeben hat, um zu unterscheiden, welchen Weg der Geist der Kirche weist. Am Konzil zu zweifeln heißt die Absichten der Konzilsväter selbst in Zweifel zu ziehen, die im Ökumenischen Konzil ihre kollegiale Vollmacht in feierlicher Form cum Petro et sub Petro ausgeübt haben. Es heißt letztlich am Heiligen Geist zu zweifeln, der die Kirche führt.“ Franziskus kann auf vergangene Reformen der Liturgie verweisen und sich auf liturgiehistorische Befunde stützen, denen die Verabsolutierung einer einzelnen Epoche, Feiergestalt etc. ebenso wenig standhält wie das damit verbundene und oft gezielt transportierte, statisch-totalitäre Traditionsverständnis, das eine katholische Einheit in Vielfalt bewusst negiert und zersetzt. Die Liturgie wird damit zu einem Vorwand und zum „locus ideologicus“ (Seewald, Refom, 120) für die restaurative Nostalgie einer philosophia perennis. Vgl. Faggioli, True Reform, 163 f.: „The problem with the current attempts to undermine the liturgical reform of Vatican II is that they are the fruit of a fascination with a world that does not exist anymore, and this is not Vatican II’s fault. The nostalgia for the old rite usually discards globalization of Catholicism as a theologically irrelevant fact, or as a mistake, or as a thing that happened only after 1965, and not as a constitutive element of Christianity and Catholicism in their relationship with culture since its very origins.“ 210 Vgl. Faggioli, True Reform, 166, mit Bezug auf: Komonchak, J., The Council of Trent and the Second Vatican Council, in: Bulman, R./Parella, F. (eds.), New York 2006, 76 f.

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hierzu an den Kanon der Hl. Schrift, den es definiert, und an die apostolische Tradition; es ist sich aber, wie wir mit Ratzinger sehen konnten, auch der pneumatologischen Dynamik bewusst, die das kirchliche Leben bewegt und erneuert. Es hat eine Reform und die Bekämpfung von Missbräuchen zum Ziel. Doch während Trient wie auch frühere Konzilien von einem apologetischen Interesse getrieben war, konnte sich das II. Vaticanum in Freiheit und aus eigener Souveränität auf die pastoralen Erfordernisse einlassen, weil es sich – auf Basis einer entsprechenden Schrifthermeneutik! – erneut auf die gesamte Traditionsgeschichte besinnt.211 Die Hl. Schrift dient in ihrer Orientierungsfunktion für den pastoral sensiblen Glauben der Kirche heute als Grundlage für die Vergewisserung und Aktualisierung, sie bedingt „eine kreative Begegnung zwischen Gegenwart und biblischer Vergangenheit.“212 Sie wird nicht mehr nur als Steinbruch für dicta probantia und die affirmative Bestätigung einer zu verteidigenden, geschichtsenthobenen Wahrheit herangezogen, sondern nun in ihrem eigenen Duktus und in ihrer Gesamtheit aus AT und NT wahrgenommen und auch mit Hilfe exegetischer Methoden ernst genommen. Die Hl. Schrift gilt dem Konzil darum als „Fundament“ und „Seele der Theologie“ (DV 24 und OT 16), die Identität im Wandel213 ermöglicht. Über 50 % aller Schrift211 Bei früheren Konzilien ging es fast immer um die Überwindung einer Häresie, die Wiedergewinnung eines Konsenses, die Aufhebung von Spaltung oder die Reform der Kirche. Das II. Vaticanum stellt hingegen, so Peter Hünermann, eine „theologische Besinnung auf die gesamte Traditionsgeschichte der Kirche dar“ (Hünermann, P., … in mundo huius temporis … Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils im kulturellen Transformationsprozess der Gegenwart: Das Textcorpus des Zweiten Vatikanischen Konzils ist ein konstitutioneller Text des Glaubens, in: Tück (Hg.), Erinnerung, 40 – 62, 46). Hünermanns Vorschlag, von „konstitutionellen“ Texten nach Art einer Verfassung zu sprechen, stieß hingegen – auch wegen der juridischen Analogie – teils auf berechtigte Kritik. Richtig ist aber seine Beobachtung (ebd.): „Im Unterschied etwa zu den mittelalterlichen und neuzeitlichen Konzilien, in denen die Schrifttexte als dicta probantia dienen, um so in einer gleichsam geschichtslosen Weise eine Wahrheit des Glaubens zu bekräftigen, stellt das Konzil seine Aussagen von vornherein in einen heilsgeschichtlichen biblischen Zusammenhang und gewinnt dadurch die Möglichkeit, sowohl die alttestamentlichen Texte wie die mannigfaltigen neutestamentlichen Texte ihrem eigenen Duktus entsprechend einzubeziehen.“ 212 Vgl. Fuchs, O., Exkurs I: Einige Aspekte zum Bibelbezug des Zweiten Vatikanums, in: HThKVatII, Bd. 5, 217–224, 224. Mit dieser Hermeneutik „entspricht das Konzil in einer geradezu kongenialen Weise der inneren pastoralen Hermeneutik der meisten biblischen Texte, insofern auch diese ihre Entstehung ganz bestimmten Krisen und pastoralen Notwendigkeiten verdanken.“ 213 Vgl. Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 577. „Das ‚Haus‘ der Theologie ist kein

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zitate aller Ökumenischen Konzilien zusammen214 gehen auf das Konto des II. Vatikanischen Konzils, das von diesem Ansatz her ein entsprechend umfangreiches Textcorpus in heilsgeschichtlicher und geschichtssensibler Perspektive vorlegen konnte, in die auch die Theologie der Patristik in hohem Maße einfloss, um die Schrift und ihren Rezeptionsweg auf die heutigen Fragen hin einer Relecture zu unterziehen. „Noch nie hat ein Konzil oder überhaupt das das höchste Lehramt der katholischen Kirche so intensiv und so ausführlich über das Wort Gottes und über die Heilige Schrift gesprochen.“215 Nach den schrecklichen Erfahrungen des 20. Jh. und angesichts ihrer eigenen Sprachlosigkeit und Sünde216 ließ sich die Kirche selbst vom Geiste Christi bewegen und neu inspirieren.217 In diesem Sinne sind Ressourcement und Aggiornamento hier also tatsächlich ein freier Akt218 der geistlichen Besinnung, der Umkehr zum eigenen Ursprung und Ziel, das man teilweise aus den Augen verloren hatte. Die gemeinsame Bereitschaft zur Umkehr, zur Reue, Buße und zu einem beherzten Neuaufbruch wäre auch heute dringend erforderlich.219 Nicht nur angesichts der Schuld, welche die Institution Kirche durch das hartnäckige Verharren in offenkundig schweren, strukturell verfestigten Sünden erneut und immer wieder auf sich geladen hat, sondern auch angesichts dessen, was die ein für allemal errichteter Bau, sondern es steht nur dadurch, dass Theologie lebendig vollzogen wird“. 214 Hünermann, P., Der Text: Werden – Gestalt – Bedeutung. Eine hermeneutische Reflexion, in: HThKVatII, Bd. 5, 5 –101, 68 f. 215 Rahner, K./Vorgrimler, H., Kleines Konzilskompendium, Freiburg i. Br. 352008, 366. 216 Das Bewusstsein um die eigene, gemeinsame Sünde und Schuld artikuliert sich nicht erst mit der Vergebungsbitte von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 (s. o., S. 371, Anm. 831), sondern auch permanent während des Konzils, wie das tägliche Gebet der Konzilsväter deutlich zeigt: „Hier sind wir, Herr, Heiliger Geist. Hier sind wir, mit ungeheueren Sünden beladen, doch in Deinem Namen ausdrücklich versammelt …“ (Das tägliche Gebet der Konzilsväter, in: HthKVatII, Bd. 5, 490 – 491). 217 Vgl. Papst Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit, Rom 1963 (https:// www.vatican.va/content/john-xxiii/de/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_110419 63_pacem.html). 218 Vgl. Rahner/Vorgrimler, Konzilskompendium, 19 ff. Darin wird der pastorale Charakter des Konzils deutlich, der einen neuen Stil prägt (vgl. 26). 219 Vgl. Bischof, F. X., Reform als Strukturprinzip der Kirche, in: Kopp (Hg.), Kirche im Wandel, 120 –141; Siebenrock, R. A., „Ecclesia semper reformanda“. Umkehr und Buße an Haupt und Gliedern als Zeichen der wahren Kirche Jesu Christi, in: Dirscherl/ Weißer (Hg.), Wirksame Zeichen, 277–298.

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Kirche den Menschen von heute schuldig bleibt, wenn sie nicht bereit ist, sich mit Christus auf sie zuzubewegen. „Es gibt auch Häresien durch engstirnige Verweigerung, Theologe im Hier und Heute zu sein und Theologie als lebendige Weitergabe der Tradition zu treiben und somit den jeweiligen kairós zu verschlafen. Wer für alle Zeiten reden will, redet am Ende für keine Zeit.“220 Das Konzil fordert keine rückwärtsgerichtete Rückkehr, sondern eine Erneuerung221 und Neuausrichtung, durch die all jene liturgischen Elemente, die „sich als weniger geeignet herausgestellt haben“, verändert werden sollen. Für dogmatische Sprache und theologische Denkmuster hat dies in gleicher Weise zu gelten – von den institutionellen Strukturen kirchlichen Lebens und Richtlinien der Moral ganz zu schweigen. Das Konzil benennt ein Ziel und Kriterium zur Unterscheidung: „Bei dieser Erneuerung sollen Texte und Riten so geordnet werden, dass sie das Heilige, dem sie als Zeichen dienen, deutlicher zum Ausdruck bringen, und so, dass das christliche Volk sie möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann.“ Entscheidend für die Erneuerung der Liturgie sind demnach a) Tauglichkeit und Transparenz für eine effektive Vermittlung des Mysteriums und einer heilsamen Gottesbeziehung, und b) die Ermöglichung der aktiven Beteiligung der gesamten Gemeinde. Bedenkt man, dass sich die Kirche selbst nun insgesamt als „Zeichen und Werkzeug“ des Heils, also als sakramentale Wirklichkeit versteht (vgl. LG 1), so gilt dieses Kriterium der Erneuerung analog für die kirchliche Lehre, das kirchliche Leben und die kirchlichen Strukturen. Man kann nur schwerlich behaupten, dass das konziliare Postulat einer solchen auf Zukunft hin offenen Erneuerung auch über den Bereich der Liturgie hinaus hinreichend Beachtung gefunden hätte. Darin dürfte das eigentliche Problem liegen. Der Zusammenhang von lex orandi et lex credendi ist aber immer noch von Bedeutung. Auch in der Krise. Er zeigt die innige Verbindung auf, die zwischen der (fehlenden) Teilnahme an einer oft unverständlich gewordenen Liturgie und dem (fehlenden) Verständnis für veraltete Sprachmuster und fremd gewordene Ausdrucksformen zentraler Glaubensinhalte besteht, die wiederum von einem Reformstau in Gestaltungs-, Macht- und Strukturfragen inzwischen voll220

Kasper, Katholische Kirche, 91. In SC 21 ist von instauratio die Rede: Wiederherstellung, Instandsetzung, Auffrischung. 221

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kommen überlagert werden. Wenn die Liturgie nur noch um des Ritus willen zelebriert wird, weil Lehrformeln zu Leerformeln222 erkaltet sind, weil die erlösende, personale und performative Zuwendung Gottes nur noch auf Fragen des vermeintlich apostolisch Legitimierten oder Ungewollten – primär auf Rechtskategorien – reduziert wird, dann ist ein Ausbleiben der Rezeption kaum verwunderlich. Versteht man aber Tradition nicht nur als einen statischen Rechtssatz, sondern – wie das Konzil – als einen dynamischen Prozess einladender und performativer Kommunikation, dann ist nicht ein angeblicher Traditionsbruch, sondern der heutige Traditionsabbruch das eigentliche Problem unserer Zeit. Dabei droht die ursprüngliche Zielrichtung christlicher Liturgie und Lehre zu verblassen: die lebendige Feier der Verbundenheit von Gott und Mensch, die in Erinnerung an den Mensch gewordenen Bund Gottes mit den Menschen alle Menschen einlädt und teilhaben lassen will – als persönlich angesprochene, frei und eigenverantwortlich antwortende Subjekte, die ihren Glauben in diese Gemeinschaft des Glaubens aktiv und kreativ einbringen sollen, um Gottes Liebe die Ehre zu geben. Die participatio actuosa des Menschen, die sich in der liturgischen Feier verdichtet, gründet, wie Knut Wenzel erkannt hat, in einem entsprechenden Offenbarungs- und Glaubensbegriff, der auf diese Antworthaltung des angesprochenen Subjekts zielt. 223 „Offenbarung wird nicht mehr reduktiv als Mitteilung göttlicher Sätze verstanden, die von der Kirche als mit entsprechendem Verbindlichkeitsgrad zu glauben vorgelegt werden; Offenbarung wird vielmehr als heilshafte Selbstmitteilung Gottes aufgefasst, der die Menschen in seiner Hinwendung zu ihnen als sie selbst, in ihrer personalen Mitte, anspricht und fordert. Welche andere Reaktion des Menschen könnte dieser göttlichen Selbstzusage angemessen sein, wenn nicht eine personal, mit der gesamten Existenz verantwortete? Der Glaubensakt wird also nicht mehr als bloßer (intellektueller) Gehorsam gegenüber einer mitgeteilten Wahrheit verstanden, sondern als Grundakt des personalen Selbstvollzugs. In diesem neuen Verständnis von Offenbarung und Glaube als personalem Geschehen zwischen Gott und Mensch ist der Glaubensakt des Menschen nicht anders denn als freier, nicht delegierbarer Akt der antwortenden Selbstverfügung auf den Anruf Gottes denkbar; der Mensch antwortet durch sich selbst: Es ist überhaupt keine weitergehende theologische Würdigung des Menschen in seiner Personalität und

222 Vgl. Ratzinger, J., Vorfragen zu einer Theologie der Erlösung, in: Scheffczyk, L. (Hg.), Erlösung und Emanzipation (QD 61), Freiburg i. Br. 1973, 141–155, 142. Diese „Leerformeln“ müssten wieder neu auf ihren Erfahrungsgehalt hin geöffnet werden. 223 Vgl. Wenzel, Das Zweite Vatikanische Konzil, 256 f.

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Subjektivität – und das heißt eben in seiner Selbsttätigkeit – möglich, als sie diesem Verständnis des Glaubensaktes zugrunde liegt.“224

Seine Welt, Geschichte, Kultur und Sprache sind dann als jener Präsenzraum zu verstehen, in dem der Mensch sich auf Gott und seine Mitmenschen hin vollzieht. Sie sind der Schauplatz, in dem er sich für oder gegen ein Leben in der Wirklichkeit Gottes entscheidet. Wer das Wort Gottes in diesen Resonanzraum hinein übersetzen und vernehmbar – annehmbar – vermitteln will, tritt immer schon in einen grenzenlosen Dialog ein. Denn letztlich findet das Christentum die lebendige, soteriologisch entscheidende Begegnung mit Gott primär „in der brutalen, gewöhnlichen, grauen Alltäglichkeit unseres Lebens […] und wir dürfen durchaus sagen, alles Gebet, aller Kult, alles Recht der Kirche, alle Institution der Kirche seien nur dienende Mittel, damit wir das eine tun: Gott und den Nächsten zu lieben, und wir können Gott nicht lieben, als dass wir ihn in unserem Nächsten lieben.“225 Hatte Johannes XXIII. das Konzil auf das Programm eines Ressourcement und Aggiornamento des Evangeliums verpflichtet226 und damit das Prinzip der Vergewisserung und Aktualisierung wieder neu zur Geltung gebracht, so war es sein Nachfolger, Paul VI., der dieses Programm durch vielfältigen und offenen Dialog entsprechend durchführte.227 „Die Kirche muss zu einem Dialog mit der Welt kommen, in der sie nun einmal lebt. Die Kirche macht sich selbst zum Wort, zur Botschaft, zum Dia224 Wenzel, Das Zweite Vatikanische Konzil, 257. Vgl. hierzu auch: Wenzel, K., Offenbarung – Text – Subjekt. Grundlegung der Fundamentaltheologie, Freiburg i. Br. 2016, 122–126. Auch Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 110; 125, betont mit Christoph Theobald die Achse „Offenbarung – Freiheit und Würde des Menschen“ als eine Grundmatrix des Konzils. 225 Rahner, K., Der neue Auftrag der einen Liebe, in: Ders., Glaube, der die Erde liebt. Christliche Besinnung im Alltag der Welt, Freiburg i. Br. 51971, 85 – 95, 94 f. 226 Vgl. Johannes XXIII., Gaudet Mater Ecclesia. Ansprache anlässlich der feierlichen Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils am 11.10.1962, in: HThKVatII, Bd. 5, 482– 490, 486 f. „Doch es ist nicht unsere Aufgabe, diesen kostbaren Schatz nur zu bewahren, als ob wir uns einzig und allein für das interessieren, was alt ist, sondern wir wollen jetzt freudig und furchtlos an das Werk gehen, das unsere Zeit erfordert, und den Weg fortsetzen, den die Kirche seit zwanzig Jahrhunderten zurückgelegt hat.“ Dies bedeute keine einfache Wiederholung der Lehre, sondern ihre erforschende Relecture und Reinterpretation müsse so erfolgen, „wie unsere Zeit es verlangt“ (487). 227 Vgl. Paul VI., Enzyklika Ecclesiam suam. Auf welchen Wegen die Katholische Kirche heute ihren Auftrag erfüllen muss, Rom 1964 (https://www.vatican.va/content/paul-vi/de/ encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_06081964_ecclesiam.html). Er betont die soteriologische Sendung der Kirche, das Prinzip der Erneuerung und die Methode des Dialogs.

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log.“228 Die Kirche antwortet auf den von Gott eröffneten, durch Christus vermittelten und vom Heiligen Geist getragenen, universal einladenden Dialogprozess, der auf das Heil aller Menschen zielt: auf die Gemeinschaft mit Gott und untereinander. Dieser „Dialog des Heils“ und für das Heil aller ist wesentlich geprägt durch seinen Ursprung und sein Ziel, denn er bleibt verwiesen auf das Teilen und Mitteilen der göttlichen Selbstmitteilung als universale, bedingungslose Liebe. Auf die Frage, was in dieser Zeit der Gottvergessenheit über dieses Konzil zu sagen bliebe, wenn ihm nach menschlichen Maßstäben kein Erfolg beschieden sei, antwortete Paul VI. deshalb: „Diese Zeichen der Liebe werden eines Tages dem Geschichtsforscher, der sich bemüht, die Kirche in diesem entscheidenden Höhepunkt ihrer Existenz zu charakterisieren, und der fragen wird: ‚Was tat die katholische Kirche in diesem Zeitpunkt?‘, antworten: ‚Sie liebte!‘“229

Das gesamte Konzil ist geprägt von dieser Hermeneutik des universalen Heilswillens Gottes, der sich schon in der Dynamik des biblischen Kanons gegen alle Widerstände durchsetzt und den es heute durch einen aktualisierten Dialog spürbar und glaubwürdig zu vermitteln gilt.230 In dieser für Gottes Gnade offenen und lernbereiten Dynamik liegt auch der ultimative Maßstab für jede Reform(ulierung) kirchlicher Lehre oder Strukturen, denen es um eine glaubwürdige Vermittlung des Wortes Gottes, nicht um dessen Kontrolle gehen muss.231 „Dieses Konzil ist daher der Schwäche jenes Wortes nicht unähnlich, das sich ganz dem Menschen

228 Paul VI., Ecclesiam suam, Nr. 67. Vgl. ebd., Nr. 72: „Der transzendente Ursprung des Dialogs, Ehrwürdige Brüder, liegt im Plane Gottes selbst. Die Religion ist ihrer Natur nach eine Beziehung zwischen Gott und dem Menschen. Das Gebet spricht im Dialog diese Beziehung aus. Die Offenbarung, das heißt die übernatürliche Beziehung, die Gott selbst durch freien Entschluss mit der Menschheit herstellen wollte, wird in einem Dialog vollzogen, wobei das Wort Gottes sich in der Menschwerdung und dann im Evangelium zum Ausdruck bringt. […] Die Heilsgeschichte erzählt diesen langen und vielgestaltigen Dialog, der von Gott ausgeht und zu einer wunderbar verschiedenartigen Zwiesprache mit dem Menschen wird. In diesem Gespräch Christi mit den Menschen gewährt Gott etwas Einblick in das Geheimnis seines Lebens, […] er sagt uns, wie er erkannt werden will, er ist Liebe; und wie er von uns geehrt werden will und wie wir ihm dienen sollen: Liebe ist unser oberstes Gebot.“ 229 Paul VI., Ansprache zur Eröffnung der vierten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils (14.9.1965), in: HthKVatII, Bd. 5, 542–551, 546. 230 Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 126 ff., bezeichnet den universalen Heilswillen Gottes daher auch als das „Grunddogma des Zweiten Vatikanischen Konzils“. 231 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 47.

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ausgesetzt und anvertraut hat.“232 Wenn Papst Franziskus wie auch Johannes XXIII. und das II. Vaticanum immer wieder belächelt werden, weil man die pastorale Ausrichtung ihrer durchaus fundierten Dogmatik für weniger verbindlich erachtet als ein unbewegliches und völlig in sich gerundetes System von Lehrsätzen, dessen Vertreter meinen, ganze Pontifikate nach ihrer theologischen Privatmeinung strukturieren zu müssen, so sollte man sich vielleicht auf das in seiner Schwäche und Uneindeutigkeit doch unendlich tragfähige Mysterium des christlichen Glaubens besinnen, „dessen gegenwärtiges Zeichen das gebrochene Brot ist“.233 Daher hat jeder Versuch, Pastoral und Dogmatik auch nur im Ansatz getrennt voneinander zu betrachten, die essentielle Grundlage dogmatischer Hermeneutik, ihre eigentliche „Grammatik“234 nicht verstanden, auch wenn noch so viele Lehrsätze zitiert und aneinandergereiht werden. Ottmar Fuchs erkennt dabei in der Hermeneutik des Konzils dieselbe Hermeneutik wie im biblischen Kanon: „Das Konzil […] verdankt sich den gleichen Entstehungsprozessen wie die biblischen Texte selbst: nämlich dass es damals wie heute notwendig wurde bzw. wird, in einer bestimmten Zeit das Evangelium kontextbezogen zu verkünden und die dabei entstehenden Probleme und Möglichkeiten zu bearbeiten. Die aktuelle pastorale Perspektive begegnet sich in den biblischen Texten selbst, erkennt sich in ihnen wieder und kann es deswegen auch stellenweise wagen, biblischen Texten gegenüber, weil sie in einer anderen Zeit sind, nun in dieser Zeit andere pastorale Konsequenzen in den Blick zu nehmen.“235

In dieser Hermeneutik liegt die epochale Stärke des II. Vatikanischen Konzils, das, analog zum Kanon der Hl. Schrift, nicht die Hermetik eines geschlossenen Lehrsystems236 repräsentiert, sondern ein für neue Rezeptionswege offenes, verbindliches Glaubenszeugnis bietet, das es zu übersetzen gilt. Der Weg der Dogmatik führt sie mitten in die Welt hinein, um das Wort Gottes in dieser Welt und für diese Welt im Dialog mit ihr zur Geltung zu bringen – im Bewusstsein dafür, dass es sich um ein mit ihr verbundenes, aber doch auch von ihr unterschiedenes Wort handelt, das 232

Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 129. Vgl. Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 129. 234 Vgl. Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 131. Diese dogmatisch-pastorale Grammatik sei elementar für das Konzil. 235 Fuchs, Exkurs, 224. 236 Vgl. Siebenrock, Hermeneutik der Wandlung, 135: „Ein Konzil kann nicht kohärenter oder ‚logischer‘ sein als die Kirche in ihrer höchst komplexen Geschichte selbst oder die Pluralität im Kanon der Schrift.“ Das sieht Christoph Theobald (Die Kirchenkonstitution, 207) ähnlich. 233

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sich die Welt selbst nicht sagen kann, weil ihr dieses Wort – als erlösende Botschaft begründeter Hoffnung auf ewiges Heil – unverfügbar als ein bleibendes Gegenüber begegnet.

2.3. Dynamischer Kairos des Dialogs als entgrenzte Topologie Durch eine einseitige Rezeption des Tridentinums war es zu einer neuartigen Verengung im Traditionsverständnis gekommen, die auch zu einem Ekklesiozentrismus führte.237 „Es schien, als sei das Heil nunmehr gepachtet und allein verwaltet von der katholischen Kirche, der einzigen wahren Kirche und des einzigen vom Bösen nicht verseuchten Hortes der Menschheit.“238 Dass dieses konstruierte Narrativ durch die Aufdeckung der Missbrauchsskandale und ihrer systematischen Vertuschung innerhalb der Katholischen Kirche endgültig und evident widerlegt ist, bedarf keiner Diskussion. Dass der vermeintliche Heilsexklusivismus bereits durch das II. Vaticanum zugunsten eines sakramentalen Selbstverständnisses der Kirche als „Zeichen und Werkzeug“ revidiert wurde, ist ebenfalls bekannt. Die Welt jenseits der Kirche war und ist kein gottloser Raum. Bereits Johannes XXIII. wandte sich gegen alle Unheilspropheten, die nur die vermeintliche Verderbtheit der Gesellschaft und der Moderne anprangerten. Das Konzil öffnet die Kirche für den Dialog mit ihrer eigenen Vielfalt und Geschichte, auch der eigenen Schuldgeschichte; es verpflichtet auf einen (selbstkritischen) Dialog mit Gottes Wort und mit der Welt in ihrer Komplexität. Nur so kann die Kirche ihrer Rolle als Mittlerin, als Medium der universalen Gnade Gottes wirklich gerecht 237

Vgl. Alberigo, G., Die Rezeption der großen christlichen Überlieferung durch das Zweite Vatikanische Konzil, in: Löser/Lehmann/Lutz-Bachmann (Hg.), Dogmengeschichte, 303 –320, 304 f.: „In dieser Sicht wurde die Unterscheidung zwischen kirchlichen Traditionen, Hierarchie und Lehramt zunehmend konturlos.“ Die Ideologie einer in sich geschlossenen Gesellschaft bedingte eine „tiefgreifende Verschiebung des Traditionsverständnisses selbst. Die ursprünglich weite Überlieferung umfasste nun nur noch einen engen Zeitraum, war inhaltlich fest umschrieben und ihrer Dynamik beraubt. Auf diese Weise entstand ein Klima, in dem Berufung auf die Überlieferung immer mehr zum Argument und schließlich zur Waffe konservativer Gruppierungen wurde. Man versuchte also, einen starren Sinn von Tradition durchzusetzen, um sich jeder Veränderung und dem gefürchteten Fortschritt wirksam zu widersetzen. Dadurch verengte sich der Inhalt der Tradition auf doktrinelle Faktoren, während die lebendige Glaubenserfahrung der Kirche als Gemeinschaft davon ausgeschlossen blieb. Die Idee einer lebendigen Tradition verfinsterte sich zusehends.“ 238 Alberigo, Die Rezeption, 310.

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werden. „Das Konzil war zusammengerufen worden, um dem Glauben neue Dynamik zu geben, die Kirche zum Aufbruch zu bewegen und sie wieder auf den fruchtbaren Boden der Tradition zu führen, indem man sie befreite aus der kulturellen und konfessionellen Abwehrstellung. Es galt, die Kraft und die Substanz der Überlieferung wiederzuentdecken und die zahlreichen, engen Traditionen zu überwinden, die sich in den letzten Jahrhunderten als – mittlerweile absolute – zeitbedingte Reaktionen gebildet hatten.“239 Erneut stellte sich die Frage nach der Substanz des Glaubens. Und erneut wurde eine Antwort in Gott selbst und seinem universalen Heilswillen gefunden, der sich auch gegen jeden innerkirchlichen Widerstand durchsetzt. Weil die Kirche nicht exklusiv über Gott verfügt, sondern selbst Werkzeug seiner Gnade ist, kann sie nicht herrschaftlich bestimmen, wo Gottes Geist wirken darf oder nicht. Papst Franziskus hat dieses gnadentheologische Bewusstsein vehement verteidigt: „Wenn jemand Antworten auf alle Fragen hat, zeigt er damit, dass er sich nicht auf einem gesunden Weg befindet; möglicherweise ist er ein falscher Prophet, der die Religion zu seinem eigenen Vorteil nutzt und in den Dienst seiner psychologischen und geistigen sinnlosen Gedankenspiele stellt. Gott übersteigt uns unendlich, er ist immer eine Überraschung, und nicht wir bestimmen, unter welchen geschichtlichen Umständen wir auf ihn treffen, denn Zeit und Ort sowie Art und Weise der Begegnung hängen nicht von uns ab. Wer es ganz klar und deutlich haben will, beabsichtigt, die Transzendenz Gottes zu beherrschen. Genauso wenig kann man beanspruchen festzulegen, wo Gott nicht ist, weil er geheimnisvoll im Leben jeder Person anwesend ist, im Leben eines jeden, so, wie er will; wir können dies mit unseren vermeintlichen Gewissheiten nicht leugnen. Auch wenn jemandes Existenz eine Katastrophe gewesen sein sollte, auch wenn wir ihn von Lastern und Süchten zerstört sehen, ist Gott in seinem Leben da. Wenn wir uns mehr vom Geist als von unseren Überlegungen leiten lassen, können und müssen wir den Herrn in jedem menschlichen Leben suchen. Dies ist Teil des Mysteriums, das die gnostische Denkweise letztlich ablehnt, weil sie es nicht kontrollieren kann.“240

Das gilt ebenso für die Hl. Schrift, insofern die geschichtlich bedingte Artikulation des Wortes Gottes nicht verabsolutiert werden darf. Sie bleibt stets in einen Prozess der Neuauslegung und Aktualisierung eingebunden.241 Auch kirchliche Lehraussagen und Gottes Wort dürfen nicht dif239 240 241

Vgl. Alberigo, Die Rezeption, 313. Papst Franziskus, Gaudete et exsultate, Nr. 41 f. Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 116.

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ferenzlos identifiziert und durch Machtausübung fixiert werden.242 Das Dogma ist mit dem Wort Gottes bzw. mit dem Evangelium nicht identisch.243 Es drückt dieses in einer bestimmten Hinsicht und unter geschichtlichen Bedingungen, im bescheidenen Rahmen der menschlichen Möglichkeiten aus.244 Die in der Inkarnation begründete Geschichtlichkeit der Wahrheit führt dazu, dass Gottes Wort unter je aktuellen menschlichen Bedingungen artikuliert und nur zeitbedingt, perspektivisch festgehalten werden kann.245 Quidquid recipitur, recipitur ad mo242

Vgl. hierzu: Menke, K.-H., Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003, 203. Im Sinne Hans Urs von Balthasars und Maurice Blondels bleibt gegen jeden „Traditionalismus, Monarchismus, Juridismus, Armeegeist“ und Totalitarismus festzuhalten: „Die Wahrheit darf kein System von Lehrsätzen sein, das ohne Rücksicht auf das Verstehen und die freie Zustimmung ihrer Adressaten vermittelt wird.“ 243 Vgl. Kasper, W., Dogma unter dem Wort Gottes, in: Ders., Evangelium und Dogma, 43 –150, 148; Seewald, Der Anspruch, 80 f. 244 Vgl. Müller, Katholische Dogmatik, 81. Das Dogma unterliegt „den Bedingungen der endlichen Vernunft und den Grenzen menschlicher Erkenntnis, und es bewegt sich im Rahmen der Darstellungsmöglichkeiten menschlicher Sprache. Das Dogma bringt also nicht eine überzeitliche Wahrheit zum Ausdruck im Sinne der rationalistischen Metaphysik und einer unvermittelten Erkenntnis der Wesenswahrheit Gottes. Das Dogma folgt vielmehr der Selbstvermittlung Gottes im Akt seines geschichtlichen Kommens zu den Menschen.“ Es stehe im hermeneutischen Raum der Kirche als Glaubens- und Sprachgemeinschaft: „Die Kirche ist nicht absolut gebunden an einmal übernommene dogmatische Ausdrücke und Formeln […] In der Hermeneutik des Dogmas vollzieht sich eine geistige Dynamik in der Transzendenz der Formel auf den im Dogma angezielten je größeren gemeinten Inhalt.“ Vgl. ebd., 87 ff.: „Da das Dogma nicht eine unmittelbare Einsicht in das Wesen und Verhalten Gottes bietet, sondern weil auch das Dogma an das Grundgesetz der Vermittlung von Gotteswort im Menschenwort gebunden ist und darum selbst menschliches und kreatürliches Wort ist, bedarf es auch einer menschlichen Interpretation. […] Es stellt sich die Aufgabe, den bleibend gültigen Aussagewillen des Dogmas von den unabstreifbaren weltbildlichen Konnotationen abzuheben.“ Diese permanente „Übersetzung des eigentlichen Gehaltes des Dogmas“ muss dieses immer wieder in den „dynamischen Traditionsprozess“ der Kirche einfügen. Darum beschränkt sich die Bemühung um das Verständnis der Dogmen „nicht auf eine Verteidigung des Wahrheitsgehaltes der in der zurückliegenden Geschichte schon formulierten Glaubenssätze.“ Es „gehört vielmehr zum aktuellen Verkündigungsauftrag der Kirche und ist somit ein tragendes Element an der auf ihre eigene Zukunft hin offenen Dogmengeschichte.“ 245 So schon Rahner, K., Zur Frage der Dogmenentwicklung, in: Ders., Schriften zur Theologie I, 49 – 90, 55 f. Die sich wandelnde, geschichtlich kontingente Perspektive des Menschen sagt dieselbe Wirklichkeit (Gottes irreversible Selbstzusage im geschichtlichen Dialog mit den Menschen) je anders und neu aus. Es geht dabei nicht um ein quantitatives Plus, durch das die Kirche immer mehr über Gott wüsste, sondern um ein „Anderssehen derselben Wirklichkeit und Wahrheit, so wie es je gerade dieser

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dum recipientis. Die Vergewisserung anhand der heilsgeschichtlich konkreten, geschichtlich kontextualisierten Zeugnisse der Offenbarung als bleibendem Gegenüber ist dann wiederum verbunden mit einer aktiven Rezeption und Vermittlung innerhalb einer nach vorne hin offenen Glaubensgeschichte. Auch das Verhältnis zur geschichtlich begegnenden Wahrheit bleibt ein geschichtliches, dynamisches, persönliches, aber auch ein auf die Überlieferung und Kommunikationsgemeinschaft verwiesenes. 246 Daher ist eine dogmatische Aussage weder mit dem Wort Gottes noch mit den ursprünglichen Glaubensaussagen in den Zeugnissen der Hl. Schrift identisch, die selbst schon durch die theologische Reflexion auf das erfahrene Wort Gottes geprägt sind, aber nun ein normatives geschichtlich situiertes Gegenüber für die weitere Rezeption bilden.247 Das Dogma bleibt auf diese Glaubenszeugnisse und den (selbst)kritischen Dialog mit ihnen verwiesen. Es ist eine den Glauben zu seiner Zeit und unter seinen Bedingungen verbindlich artikulierende, richtungsweisende Momentaufnahme innerhalb eines dynamischen Überlieferungs- und Vermittlungsprozesses, der in der inkarnatorischen, sakramentalen Vergegenwärtigung der irreversiblen Selbstzusage Gottes gründet und durch die Verkündigung, Liturgie und Diakonie der Glaubensgemeinschaft auf den Glaubensvollzug in einer konkreten geschichtlichen Situation zielt.248 Zeit der Kirche entspricht, der Wandel im selben“ (56), der mit Gedächtnis verbunden sei und auf die heilsame Gegenwart Gottes verwiesen ist. Somit sind alte Glaubenssätze in ihrem Wahrheitsgehalt, gemessen an ihrer Zeit und Perspektive, nicht einfach falsch, aber sie können „überholt“ werden, weil sie nicht differenzlos mit Gottes Wahrheit zur Deckung kommen (vgl. 54). Andernfalls würde sich der Mensch „hinauflügen“ zu Gott selbst. 246 Vgl. Rahner, K., Was ist eine dogmatische Aussage?, in: Ders., Schriften zur Theologie V, 54 – 81, 66 f. Vgl. Wenzel, K., Kirche als lebendige Überlieferung, in: Prostmeier, F./Wenzel, K. (Hg.), Zukunft der Kirche – Kirche der Zukunft. Bestandaufnahmen – Modelle – Perspektiven, Regensburg 2004, 185 –210. 247 Vgl. Rahner, Was ist eine dogmatische Aussage, 75 f. 248 Vgl. Rahner, Was ist eine dogmatische Aussage, 80. Vgl. auch Wenzel, K., Die Identität der Glaubenswahrheit und die Transformationsprozesse der Moderne. Dogmenhermeneutische Sondierungen, in: Essen/Jansen (Hg.), Dogmatisierungsprozesse, 277–289, 288 f.: „Die gesamte Architektur des Dogmatischen, mit ihren Redeformen, ihren Instanzen des Geltendmachens, ihren Archiven, ihren Instrumenten der Sanktionierung, ihren Diskursen der Reflexivität, etc. gewinnt ihre Rechtfertigung einzig daraus, dass sie erschließen, verbreiten, begründen, sichern, geltend machen, identifizierbar sein lassen … will die Menschen vorbehaltlos zugedachte Verheißung heilvollen Lebens, als geschichtlich-menschlich sich präsent setzende Selbstzuwendung Gottes zu den Menschen. […] Im Kern der ‚Verobjektivierung‘ des Dogmatischen steht eine

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Insofern muss immer wieder neu eine Konkordanz zwischen Evangelium und Dogma gesucht werden.249 Diese Überlieferungsdynamik gründet in der Interpretationsbedürftigkeit und -offenheit geschichtlich und kulturell geprägter, kontingenter Glaubenszeugnisse. In einer derart dynamischen Dogmengeschichte, die nicht einfach linear verläuft, finden sich darum immer wieder „Sprünge und Überraschungen“.250 Mit dieser geschichtlichen Dimension des Glaubens, die man im Umfeld des II. Vatikanischen Konzils wiederentdeckt hatte, rückte auch die Relationalität des Glaubens, seine Beziehungsdynamik neu in den Fokus.251 Die Rezeption des Wortes Gottes unterliegt den geschichtlich und kulturell bedingten, biographisch geprägten theologischen Vorverständnissen oder Selbstverständlichkeiten, die von der individuellen wie gemeinsamen religiösen Sozialisation bestimmt sind und die sich nicht linear aus dem Kanon ergeben.252 Sie müssen mitreflektiert werden, damit die Leserschaft – zu der ja auch Vertreter des kirchlichen Lehramtes mit ihrer subjektiven Perspektive gehören – nicht nur die eigene „verengte Sicht mit Gottes inspirierender Eingebung verwechselt.“253

den Menschen in seinem ursprünglichen Seinkönnen – und das bedeutet: in seinem Subjektsein – ansprechende Adresse.“ 249 Vgl. Seewald, Der Anspruch, 81. 250 Kasper, Tradition auf dem Prüfstand, 481. Vgl. Ders., Tradition als Erkenntnisprinzip, 505. Schon das NT zeige, „wie die Kirche schon in apostolischer Zeit ihre Botschaft und ihre Praxis jeweils entsprechend den sich wandelnden geschichtlichen Situationen gestaltete.“ 251 Vgl. Quisinsky, Geschichtlicher Glaube, 475. „Die Dogmatik kann in besonderer Weise die Relationalität und den Zusammenhang des Christlichen herausarbeiten, die die einzelnen geschichtlichen Stationen der Kirche, deren Wirkungsgeschichte und bleibende Bedeutung ernst nimmt, ohne den Glauben so an diese Stationen zu binden, dass er seiner Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft nicht mehr nachzukommen in der Lage ist. Nur wenn der Glaube heutig ist, ist er auch seiner Geschichte würdig, die immer zugleich Herkunft und Zukunft, Gabe und Aufgabe ist.“ 252 Nicklas, Die Kanonisierung, 93, verweist z. B. mit Blick auf die Rolle der Frau in der Kirche darauf, „dass kirchliche Lehre bzw. kirchliche Praxis und Kanon nicht einfach einlinig miteinander verbunden sind: Hier hat sich vielmehr die Deutehoheit der Textgemeinschaft so weit durchgesetzt, dass der Wortlaut des kanonischen Textes in der Praxis keine Rolle mehr spielt.“ Vgl. 92 f.: „Hier haben sich Forderungen eines kanonisch gewordenen Textes wie 1 Tim 2,12 (auch gegen andere Aussagen des Kanons, nach denen Frauen etwa als Prophetin [1 Kor 11,5] oder Apostolin [Röm 16,7] wirken) recht weitgehend durchgesetzt, während die wenig später folgenden Aussagen, dass der Bischof der ‚Mann einer Frau‘ – wie auch immer dies konkret zu deuten ist – sein soll (1 Tim 3,2), keine Rolle spielen.“ 253 Gabel, Engführungen, 166.

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Das II. Vaticanum fordert eine sensible Wahrnehmung der „Zeichen der Zeit“ (GS 4), die es zu erforschen gilt, um sie im Lichte des Evangeliums zu deuten, während umgekehrt die tradierten Auslegungsweisen des Evangeliums angesichts dieser Zeitzeichen je neu zu befragen sind.254 In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Lehre über die loci theologici in Erinnerung gerufen. Melchior Cano unterschied bekanntlich zwischen den loci proprii und loci alieni.255 Damit rückten seinerzeit die pluralen, diachronen und eben keineswegs nur auf den Binnenraum der Kirche begrenzenten Bezeugungsinstanzen der theologischen Erkenntnis und dogmatischen Argumentation in den Blick, die im Diskurs Geltung beanspruchen dürfen. Sie sind gleichsam „sedes argumentorum“ zur theologischen Vergewisserung, wobei der Hl. Schrift und mit ihr der apostolischen Überlieferung, deren Bestimmung256 vage bleibt, eine besondere Stellung zukommt. Auf sie sind dann z. B. Gesamtkirche, Kirchenväter etc. als kirchliche „loci proprii“ bezogen. Hinzu kommen als „loci alieni“ die Vernunft, Philosophie und Geschichte, die auch, obgleich nicht unmittelbar zur Kirche selbst gehörend, theologische Erkenntnisse liefern. Hier dürfte aber das Problem der klassischen LociLehre liegen. Es handelt sich – jedenfalls in der weiteren Rezeption dieser Lehre – um mehr oder weniger feststehende Belegstellen und Fundorte für dogmatische Argumente.257 Insofern ist das System der 254 Vgl. Hünermann, P. (Hg.), Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, Freiburg i. Br. 2006; Sander, H.-J., Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute. Gaudium et spes, in: HThKVatII, Bd. 4, 581– 886; Böttigheimer, C./Bruckmann, F. (Hg.), Glaubensverantwortung im Horizont der „Zeichen der Zeit“ (QD 248), Freiburg i. Br. 2012; Siebenrock, R. A. (Hg.), Kairologie – Zeichen der Zeit. Themenheft: ZKTh 136 (1–2/2014), 1–268. 255 Vgl. Körner, B., Melchior Cano. De locis theologicis. Ein Beitrag zur Theologischen Erkenntnislehre, Graz 1994; Körner, B., Orte des Glaubens – loci theologici. Studien zur theologischen Erkenntnislehre, Würzburg 2014; Seckler, M., Die ekklesiologische Bedeutung des Systems der loci theologici. Erkenntnistheoretische Katholizität und strukturale Weisheit, in: Baier, W./Horn, S. O., u. a. (Hg.), Weisheit Gottes – Weisheit der Welt. FS für Joseph Kardinal Ratzinger zum 60. Geburtstag, Bd. 1, St. Ottilien 1987, 37– 65; Seewald, M., Loci-theologici-Lehre, in: Dockter, C./Dürnberger, M./ Langenfeld, A. (Hg.), Theologische Grundbegriffe. Ein Handbuch, Paderborn 2021, 106 –107. 256 Insofern die Schrift selbst ein komplexes Traditionszeugnis ist, stellt sich die Frage, ob Schrift und apostolische Tradition einander so gegenübergestellt werden können, wie dies in der traditionellen Lehre von den loci theologici proprii geschah. Vgl. Hoping, Theologischer Kommentar, 814. 257 Das Lateinische unterscheidet im Plural übrigens zwischen loca und loci. Während loca primär Ortsangaben markieren, bezeichnen loci zunächst einmal Beweisquellen

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loci theologici wohl auch ein zentraler Faktor für die Ausbildung eines instruktionstheoretischen Offenbarungsparadigmas, das in seinen Erkenntnisquellen steinbruchartig auf Spurensuche geht, aber die Dynamik von Tradition und Rezeption (schon innerhalb der Schrift) nur bedingt berücksichtigt. Diese Topologie wirft nun – auch angesichts eines veränderten Offenbarungsverständnisses – in ihrer konkreten Gestaltung Fragen auf.258 Karl Lehmann hat mit Blick auf die Dogmengeschichte eine Topologie des Glaubens zur Beschreibung von Identität im Wandel ins Auge gefasst, die den geschichtlichen Standort und Kontext dogmatischer Aussagen wahrnimmt.259 Peter Hünermann260 sah sich (gut begründet) dazu gezwungen, die Lehre der loci gegenüber Cano zu erweitern: z. B. um die Liturgie, Kultur, Wissenschaften, Gesellschaft, Traditionen anderer Konfessionen und Religionen261 etc. Man könnte hier auch den Religionsunterricht nennen.262 Alex Stock entwarf eine Dogmatik aus poetischen Quellen.263 Letztlich erweisen sich aber all diese Topologien als ungenügend. Aktuell versuchen topologische Ansätze die Topographie theologischer Erkenntnisorte weiter zu entgrenzen.264 Es geht ihnen um die „prekäre und oft auch schmerzliche Konfrontationen mit Diskursen, die begründete Argumente vorbringen und denen nur zum eigenen Schaden oder mit ideologischer Verblendung auszuweichen ist.“265 Und es geht und Fundstellen in Büchern. Ob und inwieweit sich das nachklassische Theologenlatein dieser subtilen Differenzierung bewusst ist, ist eine andere Frage. 258 Vgl. Krienke, M., Dei Verbum und das Verhältnis von Schrift, Tradition und Lehramt. Reflexionen zur internationalen Tagung „Die loci theologici im Lichte von Dei Verbum“, Universität des Lateran, 24.–25. November 2005, in: ThGl 96 (2/2006), 203 –207, 204. Die Zeichen der Zeit seien „Orte“ der je neuen Offenbarung, insofern die loci „dynamisch als Felder der ständigen Erneuerung der Theologie“ zu verstehen sind. 259 Vgl. Lehmann, K., Dogmengeschichte als Topologie des Glaubens. Programmskizze für einen Neuansatz, in: Löser/Lehmann/Lutz-Bachmann (Hg.), Dogmengeschichte, 513 –528. 260 Vgl. Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre, 207–251. 261 Vgl. Stosch, K. v., Normativität und Geschichtlichkeit, in: Leder (Hg.), Schrift, 23 –32, 29 ff. 262 Vgl. Mette, N./Sellmann, M. (Hg.), Religionsunterricht als Ort der Theologie (QD 247), Freiburg i. Br. 2012. 263 Vgl. Stock, A., Poetische Dogmatik. 11 Bände, Paderborn 1995 –2016. 264 Vgl. Sander, H.-J., Glaubensräume – Topologische Dogmatik, Bd. I/1: Glaubensräumen nachgehen, Ostfildern 2019; Hoff, G. M., Glaubensräume – Topologische Fundamentaltheologie, Bd. II/1: Der theologische Raum der Gründe, Ostfildern 2021. 265 Sander, Glaubensräume, 18.

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um die Zumutung, eine „fixierte Überzeugung anders zu sehen als gewohnt.“266 Hans-Joachim Sander liest die „Zeichen der Zeit“ im Sinne eines topologischen Ansatzes.267 Doch letztlich liegt der Fokus auch hier auf „Fundstellen für Argumente, die für die Darstellung Gottes wichtig sind.“268 Ist die Geschichte ein „locus theologicus“, der durch den pastoralen Terminus der Zeichen der Zeit konkretisiert wird?269 Es geht dabei nicht um steinbruchartige „Fundstellen“ für theologische Argumente, sondern – und dafür ist Sander sehr aufmerksam – um Momente der Begegnung oder aber des „Vermissens“270 jener Wirklichkeit, die wir Gott nennen, die sich nicht einfach an einem Ort auffinden oder vermissen lässt, sondern immer aus einer Situation ergibt. Aber wird die räumliche Verortung den Zeichen der Zeit gerecht? Die unverfügbare und nicht begrenzbare Eigendynamik Gottes wird biblisch als ein Geschehen in der Zeit dargestellt, ein Vorübergang (Pascha), der erst im Rückblick gedeutet und in seiner Bedeutung erfasst wird. Dieses Geschehen wird zwar an bestimmten Orten situiert, die selten den Hotspots der Macht entsprechen, aber es lebt von unseren Beziehungen in der Zeit.271 Die „Begegnungsstätten zwischen Gott und Menschen, in denen ein Raum der Differenz von Heil und Unheil angelegt ist“ verweisen auf Or266

Sander, Glaubensräume, 19. Sander, H.-J., Vom religionsgemeinschaftlichen Urbi et Orbi zu pastoralgemeinschaftlichen Heterotopien. Eine Topologie Gottes in den Zeichen der Zeit, in: Böttigheimer (Hg.), Zweites Vatikanisches Konzil, 157–179, 170, beschreibt einen „Wechsel von der Topographie einer zentralisierten Kirche zur Topologie einer Kirche in der heutigen Welt“. Dieser sei von drei Merkmalen gekennzeichnet: a) Der Glaube habe es prinzipiell mit allen Menschen zu tun; dies führe b) zu einem Dialog mit offenem Ausgang; man müsse sich c) mit „den Gegenwartsfragen der Menschen befassen und nicht mit den kirchlichen Zukunftsängsten oder Vergangenheitstriumphen, was zur Betrachtung der Zeichen der Zeit nötigt.“ So werde der Glaube zu „einer Lebensressource heute“, die alle Menschen betrifft, mit Hilfe der Stärken anderer auch die eigenen Schwächen bearbeitet und so neue Entdeckungen macht (vgl. ebd.). 268 Sander, Eine Topologie, 175. 269 Vgl. Sander, H.-J., Das singuläre Geschichtshandeln Gottes – eine Frage der pluralen Topologie der Zeichen der Zeit, in: HThKVatII, Bd. 5, 134 –144, 137. 270 Vgl. Metz, Memoria Passionis, 28 –34. Er fordert einen „Zeitindex“ ein (22 f.; vgl. 123 –142) und spricht von der „Gefahr der Entzeitlichung“ (151), die sich früh in die Seele des Christentums gefressen habe. Vgl. auch Metz, J. B., Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Freiburg i. Br. 22011, 24 –31. 271 Vgl. Appel, K./Dirscherl, E. (Hg.), Das Testament der Zeit. Die Apokalyptik und ihre gegenwärtige Rezeption (QD 278), Freiburg i. Br. 2016; Dirscherl, Das menschliche Wort Gottes, 162 ff. 267

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te, wo Menschen um ihre Würde ringen und wo sich echte „Perspektiven zum Widerstand gegen die Mächte und Gewalten, die diese Würde antasten und verletzen“, ergeben.272 Der von Sander intendierte „spatial turn“ erweist seine Stärke darin, dass er auch auf die (mit Foucault als „Heterotopien“ bezeichneten) Andersorte – positiver wie negativer Art – aufmerksam macht.273 Für die Dogmatik ergibt sich angesichts dieser Heterotopien aber auch das Problem eines Anachronismus: Sprache und Haltung ihrer Theologie sind dann vielleicht nicht einfach nur fehl am Platz, sondern in einer bestimmten Situation schlichtweg nicht (mehr) angemessen. Die Missbrauchsskandale und das Verhalten einiger Amtsträger, die durch ihre Verteidigung systemischer Faktoren und ihr juridisches Auftreten die Betroffenen erneut verletzen und vor den Kopf stoßen, zeigen dies ebenso deutlich wie der Umgang mit Menschen, deren Lebensentwürfe durch die aktuelle Lehre der Kirche pauschal verurteilt und aus der Distanz heraus als sündig deklariert werden, obwohl humanwissenschaftliche Kenntnisse eine solche Sicht vielleicht kaum noch legitimieren. Die „Zeichen der Zeit“ gibt es aber immer nur im Plural, wie Sander hervorhebt.274 Er legt den Fokus auf die räumliche Diversität.275 Zur selben Zeit können an verschiedenen Orten verschiedene Fragen auftauchen, die auch andere Orte betreffen. Aber auch umgekehrt können die Zeichen der Zeit am selben Ort heute andere sein als vor wenigen Jahren. Der „spatial turn“ liefert hier also nur einen Erkenntnisgewinn, wenn er die raum-zeitliche, inkarnierte, damit auch kulturell bedingte Diversität wahrnimmt. Das Problem der Katholizität ist heute wohl weniger die räumliche Pluralität, denn diese lässt sich inzwischen gut überbrücken. 272

Sander, Eine Topologie, 176. Vgl. Sander, Eine Topologie, 177 f. 274 Vgl. Sander, Das singuläre Geschichtshandeln, 140. „Mit dem pastoralen Charakter der Zeichen der Zeit zieht ein Pluralisierungsfaktor in die theologische Auseinandersetzung mit der Geschichte ein. Das ist durchaus eine Zumutung für die Sprache über Gott.“ 275 Vgl. Sander, Das singuläre Geschichtshandeln, 140: „Zeichen der Zeit treten lokal auf, aber machen etwas zum Thema, was Menschen auch an anderen Lokalitäten angeht.“ Die von ihm exemplarisch genannte Frage nach der Stellung der Frau ist sicher auch eine regional auftretende Frage. Sie ist in ihrer geschichtlichen Bedeutung aber primär eine Frage der Zeit. Sie zeigt kein heterotopes, sondern ein anachronistisches Verständnis in der Rollenbewertung der Frau, ein Geschlechterverständnis, das sich früher wie heute – verschieden – verorten lässt, aber in der Relecture auch damals schon aus der Zeit gefallen scheint, weil es plötzlich als „nicht mehr“ relevant galt (vgl. Gal 3,28). 273

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Heterotopien stehen uns heute vor Augen. Die größere Herausforderung liegt für die katholische Kirche aber in einer Ungleichzeitigkeit, da sie gleichzeitig verschiedene Qualitäten von Lebenszeit umfassen muss: Während die einen lachen und feiern, können am selben Ort andere Menschen bitter leiden und verzweifeln. Was für dieselbe Gemeinde früher unhinterfragt gültig war, wird für sie heute zum Problem. Die Zeichen der Zeit bleiben also – und das sollte angesichts der Formulierung doch eigentlich selbstverständlich sein – primär keine räumliche, sondern eben eine zeitliche Herausforderung. Und diese besteht darin, eine entsprechend angemessene Ausdrucksform und verständliche Artikulation des Wortes Gottes zu gegebener Zeit zu suchen. Denn alles hat seine Zeit (vgl. Koh 3,1– 8). Es ist nicht (nur) die Pluralität der Räume, sondern die Pluralität und Diversität des menschlichen Lebens selbst, das mit der Selbstzusage Gottes konfrontiert ist und die kirchliche Sendung zwingt, ihre Verkündigung auf eine komplexe und heterogene Situation hin auszurichten, in der sich der Glaube bewahrheiten muss. Dies haben Hans-Joachim Sander und Gregor Maria Hoff im Blick. Ihr Ziel ist es daher, die theologische Komplexität zu steigern, um der Wirklichkeit gerecht zu werden.276 Doch wie weit kann diese „Komplexitätssteigerung“ getrieben werden? Ob die „Vernetzung zu Variablen in komplexen Differentialgleichungen“277 in infinitum steigerbar ist, ob sie für die komplexe Lebens- und Arbeitspraxis von Priestern, pastoralen Mitarbeiterinnen oder Lehrkräften damit eine praktikable Orientierungshilfe darstellt oder in ihrer diversifizierten Fülle für die Rezeption nicht vielleicht eher überfordernd ist, darf hier offen bleiben. Bei der weiteren Entwicklung und der Durchführung des topologischen Ansatzes wird diese Frage wohl eine gewichtige Rolle spielen. Eine komplexitätssteigernde Differenzierung, die das II. Vaticanum mit seiner Öffnung für die Zeichen der Zeit und in seiner pastoralen Ausrichtung initiiert hat, war diesem immerhin nur möglich auf der Grundlage seiner soteriologisch motivierten reductio in mysterium, die zuvor in der Offenbarungskonstitution vollzogen wird.278 Sie bleibt die entscheidende Grundlage und der normierende Maßstab für jede sensible Wahrnehmung und Un276 Vgl. Sander, H.-J., Komplexität steigern. Glaubenszeugnisse jenseits der Verlustängste der kirchlichen Lehre, in: Slunitschek/Bremer (Hg.), Der Glaubenssinn, 281–300. 277 Hoff, G. M./Sander, H.-J., Vorwort zur Reihe, in: Hoff, Glaubensräume, 11–14, 12. 278 Vgl. GS 22.

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terscheidung pluraler Lebens- und Glaubenswelten wie sie in GS oder auch NA gefordert ist. Misst man aber die topologischen Entwürfe an der Komplexität der Realität selbst, so bleiben diese in ihrem paradigmatischen Charakter – zwangsläufig – doch unterkomplex. Auch hier wird (methodisch reflektiert und gut begründet) immer noch reduziert, insofern man eben nach subjektiven Kriterien auswählt.279 Hierin stößt jeder topologische Ansatz an Grenzen, die auch dem Raum des literarisch Darstellbaren und theologisch Systematisierbaren geschuldet sind. Damit stellt sich die kritische Frage, bis zu welchem Grad die Zeichen der Zeit tatsächlich durch die Systematische Theologie abbildbar sind und inwiefern solche Zeitzeichen vielleicht besser vor Ort verarbeitet werden – vor der theologischen Reflexion, die nachträglich diese lebendigen Rezeptions- und Dialogprozesse in den Blick nimmt. Karl Rahners kritische Anfrage an die Erkenntnis bzw. Unterscheidung der Zeichen der Zeit steht damit wohl immer noch – dieses Wortspiel sei gestattet – im Raum.280 Die Verteilung theologischer Erkenntnisse auf konkrete loci, welche die Theologie auswer279 Vgl. Beck, W., Orte und Räume theologischer Erkenntnis (4.9.2021, online: https:// www.feinschwarz.net/orte-und-raeume-theologischer-erkenntnis/): „Es ist die Frage, ob die Auswahl von Orten mit breiter öffentlicher Wahrnehmung nicht durch die kleinen Orte der einzelnen Menschen mit ihren Gelebten Theologien zu erweitern wäre. Dabei kämen die ‚schwachen‘, leicht zu übersehenen Glaubensräume in den Blick, in denen Menschen zu allen Zeiten in ihren Alltagsvollzügen Glauben und Existenzfragen miteinander in Bezug setzen. Mit der Wahrnehmung und Einbindung dieser ‚schwachen Orte‘ stünde das Projekt der topologischen Theologie vor der Herausforderung seiner entscheidenden Komplexitätssteigerung: von der Auswahl markanter Glaubensräume hin zur Unübersichtlichkeit übersehener Glaubensräume.“ 280 Vgl. Rahner, K., Zur theologischen Problematik einer „Pastoralkonstitution“, in: Ders., Schriften zur Theologie VIII, 613 – 636, 629 ff., wo Rahner auf das Problem einer „ekklesialen Erkenntnistheorie“ verweist, die auch heutige Reformdebatten überlagert. Die „Zeichen der Zeit“ werden von verschiedenen kirchenpolitischen Lagern nämlich unterschiedlich bestimmt und gedeutet. Vgl. Sander, Theologischer Kommentar, 651– 654 und 847 ff. Zur Debatte stand für Rahner aber primär nicht die Wechselwirkung des Evangeliums mit den Fragen der Zeit, auch nicht eine Gegenüberstellung von Innen- und Außenperspektive, sondern die berechtigte Frage nach einer belastbaren theologischen Kriteriologie der Unterscheidung und der Möglichkeit des Lehramts, darauf allgemein zu antworten. Vgl. auch Ruggieri, G., Zeichen der Zeit. Herkunft und Bedeutung einer christlich-hermeneutischen Chiffre der Geschichte, in: Hünermann (Hg.), Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen, 61–70, 68. Fraglich sei, ob die Bestimmung der Zeichen der Zeit zur Aufgabe der Theologie selbst gehört, oder zu den Dialogprozessen und der „theologalen Erfahrung der Gemeinde. Die Theologie kann eine solche Erfahrung nur begleiten, aber nicht ersetzen.“ Vgl. Damberg, W., Die „Lehrmeisterin des Lebens“ – Kirchengeschichte und Innovation im Kon-

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tet, steht in einer gewissen Spannung zum Frei-Raum der Kirchen und den verantwortlichen Subjekten vor Ort. Das Konzil ringt mit der Spannung, programmatische und paradigmatische, damit aber auch vorläufige Richtlinien und Weisungen vorzugeben, die das pastorale Sehen, Urteilen und Handeln nicht abstrahieren oder ersetzen. Weder das Lehramt noch die Theologie, sondern das Glaubenssensorium der Gläubigen und der Seelsorger/innen vor Ort vermag als kompetenteste Instanz zu unterscheiden, wo und wie eine kirchliche Lehre sich im Alltag bewährt, wo Probleme und neue Fragen entstehen und wo eine Revision und Aktualisierung (heils-)notwendig ist. Vertraut man auf den sensus281 der Gläubigen, werden mündige Subjekte des Glaubens vor Ort die Zeichen ihrer Zeit wahrnehmen, ihrem Gewissen nach urteilen und handeln. Dies geschieht im offenen und lebendigen Dialog mit ihrer Umwelt, sodass die räumliche Logik von Innen oder Außen hier gar nicht relevant ist. Wäre z. B. die digitale Vernetzung des Menschen heute richtig erfasst, wenn man sie nur als begrenzten „Raum“ eines Cyberspace begreift? Was ist mit kairologischen Erfahrungen aus Spiritualität oder Musik, die sich nur schwer an bestimmte Orte binden lassen?282 Jedenfalls sind die Erkenntnisquellen heutiger Theologie keine Fundoder fertigen Belegstellen mehr, sondern dynamische und kontingente Erfahrungen, in denen die Menschen untereinander und mit der lebendigen Wirklichkeit Gottes neu in Kontakt kommen, wobei sie unterscheiden und im Dialog miteinander entscheiden müssen, wo jene Wirklichkeit, von der die Schrift und Tradition zeugen, in ihrem Lebensalltag gegenwärtig oder aber auch schmerzvoll vermisst wird. Die Topologie ist auf diese Lebenswirklichkeit der einzelnen Menschen offen, universal ent-

text des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Damberg/Sellmann (Hg.), Die Theologie, 81–110, 102. 281 Knapp, M., Der „Ort“ des Glaubenssinns. Melchior Cano und das 2. Vatikanische Konzil, in: Söding (Hg.), Der Spürsinn, 213 –232, 223, stellt fest, der sensus fidei sei kein theologischer Ort, sondern verweist vielmehr auf den Glaubensvollzug. „Ohne dieses Vermögen des Sensus fidei drohen die loci theologici steril zu werden, zur Argumentationsressource einer intellektualistisch deformierten Theologie, die ihren existentiellen Erfahrungsbezug gekappt hat und infolge dessen für den persönlichen wie den kirchlichen Glaubensvollzug irrelevant wird.“ (224) Damit ist der sensus eine eigenständige Instanz jenseits einer objektivierbaren topologischen Verortung. 282 Vgl. Hörmann, C., Begegnung mit dem Unaussprechlichen. Musik-Erfahrung und kairologische Rationalität, Ostfildern 2010; Wenzel, K., „Dance Me To the End Of Love“ – Apokalypsen der Liebe. Zwischen Popkultur und Religion, in: Appel/Dirscherl (Hg.), Das Testament der Zeit, 266 –281.

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grenzt, zugunsten einer pastoralen Sensibilität, die jeder Theoriebildung vorausgeht und aus dem gesellschaftlichen und ekklesialen – synodalen283 – Diskurs heraus theologisch rezipiert und kritisch begleitet werden kann. Nicht Theologie oder Lehramt bestimmen oder deuten also die Zeichen der Zeit, sondern die Glaubensgemeinschaft in ihrer Bereitschaft, möglichst allen Menschen Gehör zu schenken, einen offenen und selbstkritischen Dialog mit allen Menschen zu führen und sich auf ihre Nöte, Bedürfnisse und Fragen einzulassen. Der Blick auf „reale Probleme“ ist dennoch ein herausragender Vorzug eines topologischen Ansatzes, der darum bemüht ist, die „relativierende Dynamik gesellschaftlicher Heterotopien“ einzufangen.284 Das Evangelium wird dabei als „ein transformativer Prozess“ verstanden, der „Theologie erst in den vielfältigen Außenperspektiven der loci alieni zu sich selbst (und zu Bewusstsein) kommen lässt.“285 Es handelt sich hier um Perspektiven, die der Theologie – aber nicht unbedingt den Gemeinden oder pastoral Tätigen – fremd und neu sind. Der Ansatz arbeitet mit einer abduktiven Methodik, „die der Erfahrung einer unbegrenzten schöpferischen Lebensmacht Gottes Raum gibt“ und den Blick dabei auf „die kreativen Potentiale einer Wirklichkeit Gottes“ richtet, die „das Evangelium Jesu Christi performativ generiert.“286 Der dabei entstehende topologische Diskurs ist also vor dem Missverständnis zu schützen, sich auf eine Auswertung statischer loci zu beschränken. Er zielt auf Ereignisse und Begegnungen, deren Grundlage eine topologische Entgrenzung ist, die auch die vermeintlich hermetischen Grenzen von heilig und profan durchlässig werden lässt. Das Bewusstsein um den „zeitlichen Ereignischarakter“ bleibt darum auf die topographische Entgrenzung verwiesen.287 Es handelt sich um eine Theo283 Vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität, Nr. 113: „Die Ausübung der Unterscheidung steht im Zentrum der synodalen Prozesse und Ereignisse. So ist es im synodalen Leben der Kirche immer gewesen.“ Die Unterscheidung der Zeichen der Zeit findet gemeinschaftlich statt. „Es geht darum, als Kirche durch die theologische Interpretation der Zeichen der Zeit unter der Führung des Heiligen Geistes zu erkennen und voranzuschreiten auf dem Weg im Dienste des Planes Gottes, der eschatologisch in Christus erfüllt ist, der sich in jedem kairós [!] der Geschichte verwirklichen will. Die gemeinschaftliche Unterscheidung erlaubt es, einen Ruf zu entdecken, den Gott in einer bestimmten historischen Situation hören lässt.“ 284 Hoff/Sander, Vorwort zur Reihe, 12. 285 Hoff/Sander, Vorwort zur Reihe, 13. 286 Hoff/Sander, Vorwort zur Reihe, 13. 287 Vgl. Hoff, Glaubensräume, 59; 140.

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logie, die auch in der Diaspora trägt, die den Weltraum ebenso im Blick haben kann wie Tiefpunkte der Menschheit in Hiroshima und Nagasaki. Doch es bleibt dabei, dass es primär nicht um Räume geht, sondern um „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (GS 1). „Es geht um die Rettung der menschlichen Person“ und damit um das Heil der Menschen „mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen“ (GS 3). Es sind konkrete Menschen im Blick, die sich zunehmend bewusst werden, dass es nicht exklusiv um ihr Seelenheil geht, sondern um die Bewahrung, Rettung und Vollendung der gesamten Schöpfung, deren Teil sie sind.288 Die Wirklichkeit Gottes wird niemals nur an einem einzigen Ort und zu einer bestimmten Zeit erfahrbar, sondern sie beansprucht Gültigkeit über Raum und Zeit hinweg, sie offenbart sich in der Vielfalt des Lebens. Das schließt offenbarungstheologische Singularitäten – wie sie in der Person Jesu in eschatologischer und inkommensurabler Bedeutung gegeben ist – natürlich nicht aus. Im Gegenteil. Was ein für alle Mal geschehen ist, hat ein ums andere Mal Bedeutung.289 Aber auf verschiedene Weise. Indem die Kirche sich und ihr Evangelium in der Welt verortet und kontextualisiert, sakralisiert sie nicht eine bestehende Ordnung, sondern sie wird zu einer prophetischen Kraft der Veränderung und des kreativen Wandels, „durch die Wiederaufnahme der alttestamentlichen messianischen Sendung und durch das Erbe des Wirkens Christi […]. Die Kirche entdeckt dort, wo sich ihr Evangelium mit ihrem geschichtlichen Engagement berührt, ihre ursprüngliche Wahrheit wieder, noch vor allem Dogmatischen, Moralischen und Institutionellen.“290 Die dynamische Herrschaft Gottes, die im Zentrum der Verkündigung Jesu steht, richtet sich primär auf den rechten kair{j – auf erfüllte Zeit (vgl. Mk 1,15) bzw. die Zeit hoffnungsvoller Erwartung, die das Schreien nach Gott und Zeiten vermeintlicher Gottverlassenheit aber 288 Nach der sozialen Frage, die mit der Industrialisierung verbunden war und zur Ausbildung einer katholischen Soziallehre führte, entspricht es der Rezeption der Zeichen der Zeit heute, die ökologische Frage aufzugreifen, die viele junge Menschen umtreibt und auf die Straßen treibt. Dieses Bewusstsein findet seinen Weg inzwischen auch in die Theologie und die Äußerungen des kirchlichen Lehramts. Vgl. Papst Franziskus, Enzyklika Laudato si‘ über die Sorge für das gemeinsame Haus, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 202), Bonn 42018. 289 Vgl. Nicklas, Zeit, 368; Kasper, Tradition als theologisches Erkenntnisprinzip, 530. 290 Chenu, M.-D., Ein prophetisches Konzil, in: Klinger/Wittstadt (Hg.), Glaube im Prozess, 16 –21, 20.

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nicht totschweigt. In der Geschichte des Heils stehen primär das Timing und das Setting zur Debatte, das rechte Wort zur rechten Zeit, nicht die Bindung an eine bestimmte Location, die sich im Laufe der Zeit und kirchlichen Mission auch immer wieder wandelt. Der krampfhafte Versuch, die quasi sakramentalen Zeit-Zeichen eines ganz konkret verortbaren Kairos in eine statisch-topologische Systematik zurück zu zwängen, könnte daher nur scheitern. Papst Franziskus setzt jedenfalls wie das II. Vaticanum nicht mehr auf statische loci zur Gewinnung theologischer Argumente, sondern auf eine zeitliche Dynamik. Denn die Zeit sei mehr wert als der Raum: „Indem ich daran erinnere, dass die Zeit mehr wert ist als der Raum, möchte ich erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen. Selbstverständlich ist in der Kirche eine Einheit der Lehre und der Praxis notwendig; das ist aber kein Hindernis dafür, dass verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen. Dies wird so lange geschehen, bis der Geist uns in die ganze Wahrheit führt (vgl. Joh 16,13), das heißt bis er uns vollkommen in das Geheimnis Christi einführt und wir alles mit seinem Blick sehen können. Außerdem können in jedem Land oder jeder Region besser inkulturierte Lösungen gesucht werden, welche die örtlichen Traditionen und Herausforderungen berücksichtigen.“291

Lehre und Leben der Kirche kommen also nicht ohne Differenzen zur Deckung! Es ist die Zeit, die offen ist für die Zukunft und für Begegnung mit dem Anderen; sie eröffnet einen „Horizont, der sich immer wieder neu vor uns auftut. Zugleich ist der aktuelle Augenblick ein Ausdruck für die Beschränkung, die man in einem begrenzten Raum lebt.“292 Damit rückt die „Dynamik der Wirklichkeit“ in den Blick.293 Sie wird sich, wenn sie durch sensibles Zuhören und durch synodale Dialogprozesse eingefangen wird, auch auf die Gestaltung der Lehre auswirken. Diese Dynamik der Wirklichkeit ergibt sich stets aus der Spannung zwischen göttlicher Fülle und menschlicher Beschränkung, die auch für die Lehre der Kirche gilt. Sie spiegelt die Spannung von Transzendenz und Immanenz, die Sakramentales vom götzenhaft Sakralen unterscheidet. Franziskus warnt also zurecht davor, sich nur auf den Raum zu fixieren und 291 Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris Laetitia über die Liebe in der Familie, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 204), Bonn 2016, Nr. 3. Vgl. Ders., EG, Nr. 222–225. 292 Papst Franziskus, EG, Nr. 222. 293 Papst Franziskus, EG, Nr. 223.

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Räume besetzen zu wollen, weil damit „Prozesse eingefroren“ werden: „Man beansprucht, sie aufzuhalten.“294 Die dogmatische Definition ist als Grenzziehung die sprachliche Festlegung295 innerhalb einer Dynamik, deren Richtung markiert werden muss, die in ihrer Lebendigkeit aber nicht einfach unterbunden werden darf. Andernfalls verstellt man die Offenheit für das Ereignis des Geistes Gottes, der sich regt, wo Er will. Die Fixierung auf die Definition allein verwehrt den Blick auf die je aktuellen Erfordernisse. Demgegenüber muss eine Dynamik erzeugt werden, die „ohne Ängstlichkeit“ alle Menschen und gesellschaftlichen Gruppen einbezieht. 296 Hierfür nennt der Papst mit Romano Guardini297 ein Kriterium: „Der Maßstab, an welchem eine Zeit allein gerecht gemessen werden kann, ist die Frage, wie weit in ihr, nach ihrer Eigenart und Möglichkeit, die Fülle der menschlichen Existenz sich entfaltet und zu echter Sinngebung gelangt“.298 Die freie Entfaltungsmöglichkeit des erfüllten menschlichen Lebens hat eine eminent soteriologische Bedeutung, in der Gottes Wirklichkeit performativ erfahrbar und neu spürbar wird – als unverfügbare Gnade zu gegebener Zeit. Die Zeichen der Zeit zwingen angesichts einer neuen Situation zur Unterscheidung: Wann und wo steht wirklich die spürbare und heilsame Nähe Gottes im Mittelpunkt – und wo eine Lehre über ihn, die seine Wirklichkeit zur Geltung bringen will, obwohl es ihr unter neuen Umständen vielleicht nicht mehr adäquat gelingt? Haben Neuerungen der kirchlichen Lehre und Praxis die soteriologische Qualität, Gott hier und heute erfahrbar werden zu lassen (z. B. durch Ämter, andere Zulassungsbedingungen für Sakramente, andere Vollzüge, Strukturen, Ausgestaltungen des Glaubens und Lebens) und falls dies nach Auffassung der betroffenen Gemeinden und zahlreicher Bischöfe der Fall ist, warum werden dann solche Neuerungen im Sinne einer effektiven Vermittlung der Selbstzusage Gottes nicht umgehend als Erneuerungspotential im Sinne des Evangeliums realisiert? Um aber ein Gespür dafür zu entwickeln, wo und wie Gott wirklich erfahrbar wird und inwiefern er von alten Strukturen und Systematiken eines vergangenen Zeitgeistes verdunkelt wird, bedarf es des offenen und kritischen Dialogs. Es geht darum, immer wieder neu zu lernen, auf welche Weise und mit welchen Mitteln 294 295 296 297 298

Papst Franziskus, EG, Nr. 223. Vgl. Rahner, K., Dogma, in: SM I, 909 – 917, 911. Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 223. Guardini, R., Das Ende der Neuzeit, Würzburg 91965, 30 f. Papst Franziskus, EG, Nr. 224.

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man das vermitteln kann, was biblische Zeugnisse als Ursprung und Ziel ihrer Weltdeutung intendieren: JHWH und seine unbeirrbare Liebe zum Menschen. Dabei darf man nicht vergessen: Auch wer nichts verändert, handelt, und macht sich so vielleicht der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. „Neben der möglichen und tatsächlichen richtigen Entsprechung zur jeweiligen Stunde gibt es in der Kirchengeschichte die nicht zu leugnenden Verweigerungen, Versäumnisse und das Versagen der Kirche, die Tradition als Verrat.“299

Erst mit der Zeit wurde offenbar, was die Jünger/innen Jesu noch nicht verstanden hatten oder verstehen konnten.300 Ihre Existenz als Wanderprediger, die an die Nomadenexistenz Israels ebenso erinnert wie an das Idealbild einer Kirche, die sich als Pilgerin durch die Zeit versteht, ist offen für Gottes Wirken – an jedem beliebigen Ort. Eine Konzentration auf den Raum hat die Kirche hingegen immer wieder dazu verführt, sich auf statische Denkmodelle einzulassen, die – wie der Kirchenstaat – mittels eigener Deutungshoheit eingegrenzt, besetzt und verteidigt werden mussten. Es war die Zeit, die diese Bastionen geschliffen hat.301 Räumlicher Imperialismus hat ein gewaltsames Missionsverständnis bis in die letzten Winkel der Erde getragen und sogar die sogenannten Heterotopien der Menschheitsgeschichte wurden noch systematisch-theologisch mit analytischen Deutungsversuchen vom Schreibtisch aus okkupiert, um Standpunkte eines theologischen Systems zu verteidigen.302 Die Gefahr ist immerhin groß, dass durch den allzu emphatischen Lobpreis der Loci-Lehre auch eine gewisse Rückkehr zur theologischen Erkenntnis de fontibus re299 Wiederkehr, Das Prinzip Überlieferung, 73. Ähnlich auch Chenu, Ein prophetisches Konzil, 21: „Man sagt zuweilen: Das ganze Konzil, nichts als das Konzil. Das ist Verrat am Konzil! Seine Eigenart bleibt unter allen anderen Konzilien diese: Erneuerung der Wirksamkeit des Wortes Gottes durch seine ihm innewohnende Kraft, mit den Umwandlungen der gegenwärtigen Geschichte in Verbindung zu bleiben. Und das ist genau die Definition der Prophetie.“ 300 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 225. 301 Anders sieht es Sander, Glaubensräume, 30. Seine „Faustformel“ lautet: „Ohnmacht ist räumlich, Macht zeitlich geprägt.“ Diese Sichtweise vermag nicht zu überzeugen. Macht lässt keinen Frei-Raum, sie verdrängt. Es ist die Zeit, die dem Menschen seine Vergänglichkeit und damit seine radikalste Ohnmacht überhaupt vor Augen führt. Die Zeit begrenzt jede Form von Macht und limitiert jede menschliche Allmachtsphantasie. 302 Vgl. Metz, Memoria Passionis, 15 f.; 59; 165; 179. Im Prozess der Theologiewerdung habe das Christentum teilweise seine „Leidempfindlichkeit“ bzw. „TheodizeeEmpfindlichkeit“ verloren (73).

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velationis vollzogen wird, wobei die Erkenntnisorte nur breiter platziert und „komplexer“ verteilt sind. Bei einer solchen – freilich missverstandenen – Topologie handelte es sich wieder nur um Fundstellen, die sich schon verändert haben, sobald sie subjektiv festgestellt, gedeutet und zu Papier gebracht werden. Mit den „Zeichen der Zeit“ ist die Theologie aber auf die Geschichte in ihrer ganzen Pluralität und Diversität verwiesen. Diese Geschichte ist auch als sakramentale Wirklichkeit303 verstehbar, in der das Mysterium auf verschiedene Weise erfahrbar wird – und sei es auch im Modus seiner Abwesenheit, als mysterium iniquitatis, im Schrei nach Gerechtigkeit. Eine solche sakramentale Dimension eignet auch den Armen und Leidenden, deren Stimme in der Kirche seit dem Konzil304 nur sehr zögerlich und sparsam vernommen wurde. Auch hier zeigte sich eine gewisse Ungleichzeitigkeit zwischen der eurozentrischen Theologie und einer lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, deren Zeit und Autorität in der Weltkirche erst im Pontifikat von Papst Franziskus angebrochen ist. Dies führt zur Unterbrechung des selbstverständlich gewordenen Traditionskontinuums, das sich zugunsten einer tieferen Kontinuität zu seinem Ursprung erneuern und befragen lässt.305 Darin liegt, wie Johann Baptist Metz meinte, das Wesen der Religion im Unterschied zur profanen Geschichtsschreibung. Die Selbstzusage Gottes ist aufgrund ihrer inkarnatorischen Struktur geschichtlich und kulturell verortet, aber sie ist in ihrer universalen Geltung durch Zeit, Raum und Kultur transportierbar und jeweils neu kontextualisierbar. Zugleich ist sie kontextualisierungsbedürftig. Sebastian Pittl weist auf die „konstitutive Geschichtlichkeit und Kontextualität jeder Theologie“ hin, die oft verdrängt wird, aber „in der geschichtlichen Struktur der Offenbarung sowie in der Geschichtlichkeit ihrer normativen Bezeugungsinstanzen“ gründet.306 Interkulturelle und postkoloniale Ansätze zielen darauf, „die komplexen Wechselbeziehungen zwischen 303

Vgl. Weißer, Mysterium und Medium, 117–127. Vgl. Appel, K./Pittl, S., Das Konzil am Grab. Das Grabmal Pauls VI. und der „Pakt der Katakomben“ als Verständnishilfen für den ästhetischen Perspektivenwechsel des Konzils, in: Tück (Hg.), Erinnerung, 371–384. 305 Fuchs, O., „Zwischen Tradition und Innovation“ in der Perspektive der Pastoraltheologie, in: Loiero/Amherdt (Hg.), Theologie, 181–221, spricht von einem „Innovationsrecht der Gegenwart“, das sich schon innerbiblisch artikuliert und im Sinne Walter Benjamins auch eine „Kontinuität der Unterdrückung“ und der Siegergeschichte unterbrechen könne. 306 Vgl. Pittl, S., Interkulturalität und Postkolonialität als methodische Herausforderung Systematischer Theologie, in: ThQ 200 (3/2020), 246 –267, 252. 304

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theologischem Diskurs, kirchlicher Praxis, Politik, Ökonomie und Gesellschaft in den Blick zu bekommen.“307 Die Rede von einer Inkulturation des Evangeliums wäre falsch verstanden, wenn sie als lineare, einbahnige Neueinkleidung einer statischen, überzeitlichen und extrakulturellen Größe gedacht würde.308 Aber der Begriff der Inkulturation scheint auch für interkulturelle Theologien tragfähig, wenn es sachlich darum geht, die zeitlich und kulturell geprägte Vorgegebenheit des normativen Überlieferungsinhalts hervorzuheben, der – interkulturell und in unhintergehbarer Kontextualisierung – neu rezipiert wird. Die konstitutiven „Übersetzungsprozesse zwischen unterschiedlichen kulturellen Bedeutungssystemen“309 haben, wie jede Übersetzung, eine Ausgangssprache und materiale Grundlage, auf der eine diskursive Verständigung möglich ist. Die interkulturellen Transformationsprozesse310 sind daher die performative Verwirklichung eines je neuen und pluralen Inkulturationsprozesses eines vorgegebenen, überlieferten Wortes, das unterschiedlich gehört, gedeutet und angeeignet wird. Die Ausgestaltungen dieser angeeigneten Überlieferung geschehen „im Modus einer topologischen Entgrenzung“.311 Eine „topologische Dialogik“ vermag dann Raum, Zeit und Kultur in eine dynamische Hermeneutik einzubeziehen, wie Thomas Schärtl deutlich macht.312 Hierbei 307

Pittl, Interkulturalität, 253. Vgl. Essen, Die Geschichte, 188. 309 Vgl. Gruber, J., Theologie nach dem Cultural Turn. Interkulturalität als theologische Ressource, Stuttgart 2013, 79. 310 Vgl. Hoff, G. M., Fundamentaltheologische Inversionen – im Zeichen der Cultural turns, in: Gruber, J. (Hg.), Theologie im Cultural Turn. Erkenntnistheoretische Erkundungen in einem veränderten Paradigma (Salzburger interdisziplinäre Diskurse 4), Frankfurt a. M. 2013, 9 –20, 14: „Die dialogische Grundausrichtung des Konzils wird selbst zu einem komplexen Übersetzungsprozess, der sich zwischen der eigenen Tradition und den modernen Kulturen abspielt.“ Vgl. auch Hoff, G. M., Tradition und Innovation? Ekklesiologische Erwägungen zur Rezeptionsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Knapp/Söding (Hg.), Glaube in Gemeinschaft, 357–371; Knapp, M., Innovation durch Tradition? Fundamentaltheologische Überlegungen zur Erneuerung von Glaube und Kirche, in: Damberg/Sellmann (Hg.), Die Theologie, 218 –235, 227 ff. 311 Hoff, Fundamentaltheologische Inversionen, 16. 312 Vgl. Schärtl, T., Dogmenhermeneutik als dialogischer Prozess, in: Prostmeier/Wenzel (Hg.), Zukunft der Kirche, 145 –165. Schärtl denkt dabei realsymbolisch und will zugleich die Logik einer linearen Fortschrittsgeschichte vermeiden. Vgl. 147: „Mit welchem Recht sollten wir sagen können, dass wir den Glauben besser verstehen als frühere Generationen?“ Das muss eine reflektierte und traditionskritische Differenzierung nicht ausschließen. Aber damit wird eine Wertung der Verstehensprozesse vermieden. 308

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stellt sich die Frage nach der „Differenz von Artikulation und Artikuliertem“ und „wie durch einen Spalt öffnet sich mit dieser Differenz die Aussicht auf ein sich artikulierendes Subjekt“313 und intersubjektive Kommunikation. Papst Franziskus erinnert daran, „dass in der Kirche unterschiedliche Arten und Weisen der Interpretation vieler Aspekte der Lehre und des christlichen Lebens berechtigterweise koexistieren, die in ihrer Vielfalt ‚helfen, den äußerst reichen Schatz des Wortes besser deutlich zu machen‘.“314 Insofern die konkreten Kontexte und Bewährungsfelder des Glaubens plural sind, gilt dies bis zu einem gewissen Grad auch vom „Sinn“ des Wortes Gottes und seiner Selbstoffenbarung in ihrer Bedeutung für die jeweiligen Adressaten, denn kein Text oder Kontext bringt den „vollen“ Sinn als „Vollsinn“ erschöpfend zum Ausdruck. Es gibt, wie wir bereits sehen konnten, keinen eindeutigen „sensus plenior“, sondern allenfalls „sensus pleniores“ als einen soteriologischen Sinnüberschuss im pneumatischen Plural der interkulturellen Auslegungen, die bereits bei den verschiedenen Gemeinden hinter den vier Evangelien beginnen. Hinter dem Sinnüberschuss315 steht auch eine „Sensibilität für die komplexen Übersetzungs- und Inkulturationsprozesse […], die sowohl die Entstehung der biblischen Texte wie die Traditionsbildung begleitet haben.“316 Interkulturelle Verständigungsprozesse werden also nicht von außen auf einen fertigen oder eindeutigen Inhalt angewandt, sondern sie reichen vielmehr in die Genese und Tradierung der christlichen Identität hinein.317 Für unsere Untersuchung zentral ist dabei eine Einsicht, die auch die hier entfaltete Dogmenhermeneutik bestätigt: Der biblische Kanon318 rückt „als ein geradezu paradigmatisches Modell einer polyphonen Verhandlung christlicher (und israelitischer) Identität in interkulturellen 313 Vgl. Wenzel, K., Die Theologie und der Cultural Turn, in: Gruber (Hg.), Theologie im Cultural Turn, 213 –229, 222. 314 Papst Franziskus, Gaudete et exsultate, Nr. 43. 315 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation, 119. „Als geschriebenes Wort Gottes hat die Bibel einen Sinnreichtum, der nicht voll und ganz ausschöpfbar ist und in keiner systematischen Theologie adäquat eingeschlossen werden kann. Eine der hauptsächlichen Funktionen der Bibel ist es, die theologischen Systeme herauszufordern und die Existenz wichtiger Aspekte der göttlichen Offenbarung und der menschlichen Realität beständig in Erinnerung zu rufen, die in der systematischen Reflexion manchmal vergessen oder vernachlässigt wurden.“ 316 Pittl, Interkulturalität, 253. 317 Vgl. Pittl, Interkulturalität, 254. 318 Vgl. hierzu: Gruber, Theologie nach dem Cultural Turn, 209 –226.

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Übersetzungsprozessen in den Blick […], das einerseits verbindliche Grenzen festlegt, ohne dabei die Vielfalt, Differenzen und sogar Brüche im eigenen Inneren auszublenden.“319 Dies gilt analog für die Entfaltung der Glaubensbekenntnisse. „Die Einsicht in die Bedeutung, die interkulturellen Übersetzungs- und Aushandlungsprozessen bereits in der Genese des Eigenen zukommt, verschiebt auf fruchtbare Weise die Perspektiven auf den Umgang mit kulturellen und religiösen Differenzen in der Gegenwart.“320 Dies führt zu einer „Überschreitung des traditionellen europäischen Deutungsrahmens“ und zu einer Relativierung des Eurozentrismus, zur „Anerkennung unterschiedlicher Rationalitätsformen, die auch poetische, ästhetische, rituelle und symbolische Ausdrucksformen stärker berücksichtigen und die einseitige Privilegierung begrifflichen Wissens überwinden.“321 Postkoloniale Studien decken dabei einen mehr oder weniger impliziten Kulturimperialismus auf, der heute verstärkt ins Bewusstsein tritt.322 Man wird kritisch hinterfragen müssen, ob der Imperialismus des römischen Reiches nicht auch auf die zentralistische und imperialistische Dogmatik der lateinischen Kirche abgefärbt hat, die dann ihre ambivalente römische Prägung bis heute zu wenig reflektiert.323 Man operiert kaum übersehbar nach dem von Vergil im römischen Nationalepos formulierten Geschichtsbild: Tu regere imperio populos, Romane, memento (hae tibi erunt artes), pacique imponere morem, parcere subiectis et debellare superbos.324 Denn gemäß göttlicher Verheißung und Prädestination weiß sich Rom berufen zu einem imperium sine fine, um allen anderen Sittlichkeit und Moral zu bringen. Lässt sich leugnen, dass die christliche Sendung mit ihrer Verkündigung der Frohen Botschaft in der römischen Kultur ganz andere, machtpolitische Assoziationen weckte? Kann man ausschließen, dass eine sich im lateinischen Kulturraum notwendig artikulierende Dogmatik von dieser imperialistischen Ideologie unberührt blieb?

319

Pittl, Interkulturalität, 254. Pittl, Interkulturalität, 254. 321 Pittl, Interkulturalität, 255. 322 Vgl. Pittl, Interkulturalität, 255. 323 Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 647– 652. 324 P. Vergili Maronis Opera, recognovit brevique adnotatione critica instruxit R. A. B. Mynors, Oxford 1969, Aen. VI, 851 ff. „Du, Römer, sollst – dessen sei dir bewusst – die Völker durch deine Herrschaft lenken (das wird dein Talent sein) und Sitten auferlegen dem Frieden; die Unterworfenen schonen und die Hochmütigen bis zum bitteren Ende bekämpfen.“ 320

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Die Dogmatik kann aber, wenn sie die Geschichtlichkeit und Personalität des inkarnatorischen Denkens wirklich ernst nimmt, nicht mehr aus einer vermeintlich neutralen Vogelperspektive als überzeitliche philosophia perennis oder mit analytisch zwingender (und Zwang ausübender) Logik betrieben werden, welche die „irreduzible Vielfalt an Perspektiven“ vernachlässigt.325 Ausgangpunkt des Dialogs sind geschichtlich und kulturell verortete und geprägte Zeugnisse, die auf eine „Zielperspektive“ hin unterwegs sind.326 Im Mittelpunkt steht das gemeinsame Zeugnis für jene Hoffnung, die mit der Herrschaft Gottes verbunden ist und die es „auf rational verantwortete Weise in die Welt, und hierbei vor allem in die Kontexte von Armut und Marginalisierung, einzuschreiben gilt.“327 Darin liegt die dialogische und „kenotische Struktur“328 des Wortes Gottes, das durch seine Inkarnation mit allen Menschen und allen Kulturen aller Zeiten verbunden ist. Sie liegt nicht in Selbstbehauptung, sondern in Selbsttranszendenz und in einer Selbstentäußerung aus Liebe, die auf Freiheit und niemals auf Zwang zielt. Angesichts einer „Geschichte von Leid uns Missachtung“ ist die Bitte um Vergebung und die Umkehr im kirchlichen Denken und Handeln der Anfang einer notwendigen Erneuerung.329 In diesem Sinne hat die Kirchengeschichte in besonderer Weise die Aufgabe, den Überlieferungsprozess kritisch zu durchleuchten und mit einer konstruktiven Kirchen- und Theologiekritik zu verbinden.330 Der Name des Herrn und die Durchsetzung JHWHs wurden und werden immer wieder missbraucht. Doch bedarf die unermessliche Macht der Liebe nie der Durchsetzungskraft fanatischer Eiferer, die glauben, ihre Vorstellung von Gott – als einen Götzen – gegen alle Widerstände gewaltsam durchsetzen zu müssen. Davon zeugt der biblische Kanon ebenso wie die Schuldgeschichte der Kirche und der Theologie.331 Diese 325

Vgl. Pittl, Interkulturalität, 256. Vgl. Pittl, Interkulturalität, 256. 327 Vgl. Pittl, Interkulturalität, 257. 328 Vgl. Pittl, Interkulturalität, 257. 329 Vgl. Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Querida Amazonia, hg. v. Sekretariat der DBK (VAS 222), Bonn 2020, Nr. 15 –19. 330 Vgl. Delgado, M., Kirchengeschichte als memoria innovans, in: Loiero, S./Amherdt, F.-X. (Hg.), Theologie zwischen Tradition und Innovation. Interdisziplinäre Gespräche/La théologie entre tradition et innovation. Echanges interdisciplinaires, Basel 2019, 47–59. 331 Vgl. Baukham, R., Reading Scripture as a Coherent Story, in: Davis/Hays (eds.), The Art of Reading Scripture, 38 –53, 51 f.: „The tragic irony of Christian history has 326

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muss daher die Ambivalenz der Begriffe Mission und Evangelisierung kritisch in Erinnerung rufen. Ihr ist jede Form von psychischer und physischer Gewalt verboten, insofern Gottes eigene Selbstzusage auf Freiheit, Kreativität und Vielfalt zielt. Der Widerspruch JHWHs wird hingegen gerade dort deutlich, wo Er selbst sich gegen totalitäre oder gewaltsame Theologien auf seine Weise durchsetzt – nämlich im Modus der unbeirrbaren Liebe, die kulturell verschieden artikuliert wird, aber als anthropologische Grunderfahrung und transkulturelle Konstante die wesentliche Essenz des Wortes Gottes markiert, die übersetzt und interkulturell inkulturiert werden kann, wie sich schon an Pfingsten zeigt.

2.4. Kontingenz – Unterscheidung – Entschiedenheit Auch die innerkirchlichen Auseinandersetzungen und Konflikte in der Suche nach Wahrheit gründen in der Geschichtlichkeit dieser Wahrheit und ihrer menschlichen Erkenntnis.332 Verbindliche Entscheidungen und neue Glaubenseinsichten aufgrund neuer Erfahrungen dürfen darum nicht rückblickend einfach so verstanden werden, als seien diese Unterscheidungen und Festlegungen eigentlich immer schon selbstverständlich und eindeutig gewesen, sodass abweichende Positionen nachträglich verketzert, verurteilt oder als boshaft diffamiert werden können. Das beginnt, wie Karl Rahner erkennt, schon im Neuen Testament.333 Die „Anerkennung und Respektierung der Würde des subjektiven Wahrheitsgewissens, das nie eliminiert werden kann, und die im Zweiten Vatikanum ihre deutlichste Markierung – wieder unter nicht unerheblichen Kämpfen – gefunden hat, wird aber hoffentlich mehr als früher den Stil solcher Auseinandersetzungen […] bestimmen müssen.“334 Dieser „neue“ – dem Evangelium selbst entsprechende – Stil des offenen und um Verständnis bemühten Dialogs trägt auch der Multiperspektivität und der Diversität der Lebens- und Glaubenssituationen Rechnung. Dabei könnte es auch in Zukunft durchaus zu „erheblicher Revision früherer kirchenlehramtlicher (authentischer) Erklärungen“ kommen.335 Die been that so often Christian empires have taken over the symbol of the kingdom of God to justify the same kind of rule as that of the empires it was forged to oppose.“ 332 Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 15 ff. 333 Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 16. 334 Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 17. 335 Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 17.

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Dogmen- und Theologiegeschichte verläuft nicht immer, wie oft insinuiert wird, „vom Unklareren zum Klareren, vom Globaleren zum Artikulierten“, sie ist nicht nur „schöne und ungestörte ‚Entfaltung‘ der ursprünglichen Glaubenssubstanz“.336 Obwohl es im Bereich der „Dogmen im strengsten Sinn“ in gewisser Hinsicht einbahnige Entwicklungen gebe – welche die Kirche nicht einfach umkehren oder vergessen könne, weil diese Entscheidungen wesentlich zur Geschichte ihres Glaubens gehören und daher nicht völlig als Irrtum verworfen werden können, auch wenn ihre Deutung nach vorne hin offen bleibt – so sei damit nicht gesagt, dass die Entwicklung des Glaubens nur eine reibungslose Entfaltung sei.337 „Dieser Entwicklungsweg ist vielmehr sehr oft auch durch lehramtliche Fehlentscheidungen markiert, Fehlentscheidungen, die zu dem notwendig mit der Geschichtlichkeit der Wahrheit immer gegebenen Reibungsmoment ein weiteres hinzufügen, die geschichtliche Entwicklung stören und auch menschlich schwerer und bitterer machen.“338 Man wird hier wohl von Machtmechanismen, menschlicher Trägheit und sündhafter Rundung in sich selbst sprechen müssen, die analog auch für theologische Systeme und kirchliche Strukturen gelten. „In der Praxis des kirchlichen Lehramtes wird nicht selten so getan, als ob authentische, aber im Grunde noch revidierbare (also irrig sein könnende) Lehräußerungen des Amtes für immer zu respektierende Größen seien.“339 Der selbstreferentielle Verweis des ordentlichen Lehramtes auf frühere Entscheidungen ohne absoluten Verbindlichkeitsgrad gebe diesen Lehraussagen aber kein größeres Gewicht, denn das Alter einer authentischen Lehre sage noch nichts über ihre sachliche Richtigkeit aus, wie genügend Beispiele zeigen.340 Damit stellt sich die Frage nach dem jeweiligen Verbindlichkeitsgrad lehramtlicher Aussagen, die heute aus eher „fragwürdigen“ Gründen in den Hintergrund gerückt ist, während man nun auch bei authentischen – durchaus fehlbaren – Entscheidungen „insinuiert, es sei selbstverständlich, dass solche Erklärungen nicht revidierbar seien, und gar nicht an den Fall gedacht werden könne, dass sie sich später als irrig herausstellen“ können.341 Damit stellt sich auch die Frage, wie Respekt vor dem Lehramt und berechtigte sachliche Kritik ohne ver336 337 338 339 340 341

Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 17. Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 17 f. Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 18. Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 18. Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 18. Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 19.

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bindliche synodale Strukturen vereinbart werden sollen. Zugleich enthalten auch die absolut verbindlichen Lehrentscheidungen mitüberlieferte Vorstellungen und Deutungen, die zeitlich und kulturell bedingt oder sogar falsch sind.342 Rahner spricht von „Amalgamen“, die zwar nicht zum eigentlichen Inhalt des Dogmas gehören, „aber in einer bestimmten Geschichtsepoche von diesem Satz durch die traditionelle Theologie und auch durch das kirchliche Lehramt nicht reflex abgeschieden worden sind und aus geschichtlichen Gründen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch nicht abgeschieden werden konnten.“343 Solche Entscheidungsprozesse – die extrem schwierig sind – wird es auch in Zukunft geben. Zur Debatte steht hier, was „zur wirklich gemeinten Sache selbst gehört oder nur ein epochal bedingtes Interpretament dieses eigentlich Gemeinten ist, das in einer neuen Epoche ausgeschieden werden kann.“344 Diese Prozesse der Vergewisserung und Aktualisierung waren stets notwendig und begegnen bereits zur Geburtsstunde des Christentums, als dieses die Weisung der Tora angesichts neuer kultureller und geschichtlicher Kontexte reinterpretieren muss. Letztlich wird aber jedes verbindliche Glaubenszeugnis immer als solches im historischen Kontext, im Kontext der gesamten Glaubenszeugnisse und angesichts des lebensweltlichen Kontextes heute gedeutet werden müssen. Um im Bild zu bleiben: Die Auflösung des Amalgams ist kaum möglich, sondern es bedarf einer neuen Füllung, um seine inhaltliche Lücke zu schließen. Eine lupenreine Trennung von Inhalt und Ausdrucksgestalt wäre problematisch. Als kritische Instanz zur Unterscheidung könnte im Zweifelsfall, so Rahner, der Rückgriff auf die Offenbarungsmitte gelten, die nicht additiv oder subjektiv konstituiert wird, sondern in der Selbstmitteilung Gottes besteht, die als „Grundsubstanz“ aller 342

Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 19 f. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 20. Er weiß um die Grenze des Begriffs „Amalgam“, will aber die damit verbundene Schwierigkeit andeuten. „Nicht alles, was in einer bestimmten Zeit faktisch und unreflektiert zur Verdeutlichung des Sinnes eines Glaubenssatzes mitgedacht wurde, gehört also wirklich prinzipiell unlösbar zu diesem Glaubenssatz selbst.“ Als Beispiel ließen sich die Implikationen der Erbsündenlehre von Augustinus nennen, die rückblickend von der Bedeutung der Ursündenlehre an sich zu unterscheiden wären. Dennoch konnte eine gemeinte Sache in einer bestimmten Situation nur unter dem (rückblickend falschen) Kenntnisstand formuliert werden, sodass hier – was nicht anachronistisch beurteilt werden darf – die Wahrheit schlichtweg „unter anderen Vorstellungsmodellen von epochaler Bedingtheit“ formuliert wurde (25), die nach heutigen Kenntnisstand einfach grundsätzlich anders formuliert werden muss. 344 Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 23. 343

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Glaubenssätze zu verstehen und im Sinne der analogia fidei auch schon auf die Hl. Schrift anwendbar ist.345 In diesem Zusammenhang fordert Rahner auch, die Regeln der biblischen Hermeneutik auf die Dogmenhermeneutik anzuwenden, weil im biblischen Kanon grundsätzlich die gleichen Fragen wie in der Dogmengeschichte gegeben seien, welche sich schon im Alten und Neuen Testament ereignet habe.346 Ohne Orientierung am Ursprung und Ziel aller theologischen bzw. dogmatischen Aussagen, ohne Vergewisserung am überlieferten Material und dessen Aktualisierung in neuen Kontexten, ohne ergebnisoffene Dialogprozesse bleibt jedoch eine Unterscheidung, worin das erlösende Wort Gottes wirklich zur Geltung kommt und inwiefern es verdunkelt wird, wohl unmöglich. Immerhin könne es, so überlegt Rahner, kirchengeschichtliche Perioden geben, in denen die „Berechtigung oder auch Nichtberechtigung einer solchen Ausscheidung nicht feststehen“ und in denen eine eindeutige Entscheidung nicht einfach erzwungen werden kann.347 Irgendwann wird sich vielleicht eine klare Richtung durchsetzen, in die sich solche Juxtapositionen auflösen lassen. Vielleicht bleiben sie aber auch gleichberechtigt und legitim nebeneinander bestehen – weil keine synchronisierende Eindeutigkeit zu erzielen ist? Hier hilft ein exegetisches Bewusstsein dafür, welch kreative Verstehensprozesse sich in der Genese des biblischen Kanons, insbesondere in den urchristlichen Gemeinden abspielten und wie aus diesen ein „echter Sinnzuwachs entstand“.348 Die Berücksichtigung rekonstruierbarer Entwicklungen ist „konstitutiv für die Rezeption und schöpferische Weiter345

Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 27 f. Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 33 –36. Vgl. 36: „Allgemein gesprochen: wenn einerseits lehramtliche Aussagen nur biblische Aussagen weiter zu tradieren und somit für ihren genaueren Sinn und dessen Grenzen nur auf diese biblischen Aussagen zurückzuverweisen scheinen, und wenn wir andererseits heute exegetisch den wirklich glaubensverbindlichen Sinn dieser biblischen Aussagen (etwa bezüglich der Stellung der Frau gegenüber dem Mann bei Paulus) näher bestimmen und begrenzen, kann man dann diese begrenzende Bestimmung nicht auch auf die späteren lehramtlichen Erklärungen übertragen? […] Hier sind doch wohl Fragen gegeben, die, weil unbeantwortet, selber noch nicht einmal klar formuliert und differenziert werden können. Die ungeheuren Schwierigkeiten, die die katholische biblische Hermeneutik durchstehen musste, aber heute im großen und ganzen überwunden hat mit Resultaten, die auch lehramtlich (wenigstens stillschweigend) anerkannt sind, sollten davor warnen, eine solche ebenso genaue Hermeneutik lehramtlicher Aussagen bloß deshalb für undurchführbar zu erachten, weil sie auf große Schwierigkeiten stoßen wird.“ 347 Vgl. Rahner, Dogmen- und Theologiegeschichte, 23. 348 Theobald, C., Tradition als kreativer Prozess. Eine fundamentaltheologische He346

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gabe von Tradition und damit für ein aktuelles Hören der ‚Stimme‘ Gottes“, denn die kritische Rücksicht auf das Gewordene erhellt die „konstitutive Bindung an den jeweiligen historischen Kontext“, die hier und heute neu herausgefordert ist.349 Wie Theobald mit Blick auf AG 22 und GS 44 deutlich macht, ist die facultas exprimendi, also die „Fähigkeit, die Botschaft Christi auf eigene Weise auszudrücken“ angesichts der Zeichen der Zeit stets gebunden an einen „schöpferischen Lernprozess“ der in einer Wechselbeziehung mit aktuellen Sprachen und Lebensbedingungen zur Unterscheidung führen muss, wo in den vielfältigen Zeichen der Zeit das Wort Gottes begegnet und wie umgekehrt dieses Wort unter den je aktuellen Bedingungen zu verstehen ist.350 Daraus ergibt sich ein dynamisches Verständnis von Überlieferung, die als kreativer Prozess schon das Entstehen neuer Schriften (des NT) legitimierte, die eine normativ gültige Erinnerung „auf die Erfahrung der Gegenwart durchsichtig gemacht“ und plural ausgestaltet haben.351 Mit Karl Rahner352 richtet Christoph Theobald den Blick auf irreversible Entscheidungen der Kirche, die in ihrer Geschichte auf der Grundlage der göttlichen Selbstoffenbarung und der wachsenden menschlichen Einsicht verbindliche Festlegungen treffen könne.353 Rahner differenziert hier zwischen wesensnotwendigen und wesensgemäßen Entscheidungen, die als solche aber mit einem Anspruch auf Irreversibilität hin getroffen werden und im Nachhinein zwar als „notwendig“ erscheinen, aber kontingent, also von der historischen, kulturellen und zeitlichen Konstellation abhängig sind.354 Dies trifft sich mit der exegetischen Sicht, die Theobald mit seinem Bruder Michael einspielt, und die dabei umgekehrt

rausforderung, in: Eisele/Schaefer/Weidemann (Hg.), Aneignung durch Transformation, 483 –508, 488. 349 Vgl. Theobald, Tradition als kreativer Prozess, 490. 350 Vgl. Theobald, Tradition als kreativer Prozess, 492. 351 Vgl. Theobald, Tradition als kreativer Prozess, 495. 352 Rahner, K., Über den Begriff des „ius divinum“ im katholischen Verständnis, in: Ders., Schriften zur Theologie V, 249 –277. 353 Vgl. hierzu: Seewald, Was gilt, 150 –153. Dahinter stehe ein legitimatorisches Interesse Rahners im Bereich der (vor allem neuzeitlichen) Dogmenentwicklung. 354 Vgl. Theobald, Tradition als kreativer Prozess, 497 f. „Durch die Unterscheidung zwischen ‚wesensgemäß‘ und ‚wesensnotwendig‘, gelingt es dieser genialen Argumentation [Rahners] Kontingenz und Irreversiblität im Offenbarungsgeschehen zu verbinden und so das ‚Wesen des Christentums‘ selbst – im Raum des Urchristentums – an einen aposteriorischen und historisch-kritisch zu beschreibenden Entdeckungszusammenhang zu binden.“

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vorgeht, wenn von der kontingenten Genese des biblischen Kanons mit seinen Spannungen und Potentialen auf die essentiellen Entscheidungen des christlichen Glaubens geblickt wird.355 Das, was durch Prozesse der Unterscheidung in bestimmten Kontexten erkannt und bewusst entschieden wurde, bleibt historisch kontingent und muss nicht zur einzig möglichen und exklusiven Gestalt des Glaubens erklärt werden.356 Und dennoch können manche Entscheidungen rückblickend gleichsam notwendig und durch ihre Antwort auf die Umstände ihrer Zeit letztlich unumkehrbar für den weiteren Verlauf der Überlieferung sein. Die Sprache der Notwendigkeit begegnet schon im biblischen Rückblick, wenn es heißt: „Musste nicht der Messias das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen?“ (Lk 24,26) Aus Sicht der spannungsvollen alttestamentlichen Theologien lautet die Antwort klar: Nein. Doch wird irreversibel und scheinbar zwangsläufig ein Messias-Verständnis verwirklicht, das unter den gegebenen Umständen wohl gar nicht anders aussehen konnte. Gleiches gilt für das verstockte Herz des Pharao, aus dem sich – rückblickend notwendig – die Geschichte des Exodus entfaltet. Diese Sprachform357 zieht sich bis in das Exsultet der Osternacht: O certe necessarium [!] Adae peccatum, quod Christi morte deletum est. In all diesen Fällen liegt zwar eine kontingente Freiheitsgeschichte zugrunde, die in der retrospektiven Deutung der Überlieferung aber geradezu als prädestiniert erscheint. Die Verwirklichung von Möglichkeiten schafft irreversible Fakten, auf der die Geschichte des Heils und ihre Überlieferung nachhaltig gründen. Es gibt angesichts pluraler Optionen der Überlieferung doch Feststellungen in der Tradition, die identitätskonstitutiv und nicht mehr umkehrbar sind. Spannend ist jedoch: Diese Entscheidungen wurden (in wiederum rezeptionsoffener Deutung) kanonisiert und damit als verbindliche apostolische Glaubensnorm für die Rezeption festgelegt. Es handelt sich z. B. um eine bewusste Entscheidung der Kirche, zugunsten der Hei355 Vgl. Theobald, Tradition als kreativer Prozess, 498. „Ausgehend von der historischen Architektur des Kanons, seiner synchronen Struktur, die sich jeglicher Einlinigkeit, Ausschließlichkeitsansprüchen (Markion) wie auch Harmonisierungen (Tatian) widersetzt, und seiner diachronen Orientierung, deren ‚heilsgeschichtlicher Spannungsbogen‘ nicht zu ‚einer einlinigen Offenbarungs- und Glaubensgeschichte führen darf‘, bringt [die Exegese; M. W.] […] solche Möglichkeiten, Spannungen, Konflikte und Polaritäten aus dem Raum des Neuen Testaments in die theologische Debatte, die im Prozess ‚irreversibler Entscheidungen‘ ausgeblendet wurden oder später den als ‚wesensnotwendig‘ erklärten Gestalten des kirchlichen Glaubens zum Opfer fielen.“ 356 Vgl. Essen, Die Geschichte, 176 f. 357 Vgl. Dirscherl, Grundriss, 156 ff.

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denmission auf die Einhaltung der Speisegebote oder auf die Beschneidung zu verzichten. Sie ist für die Kirche faktisch gar nicht umkehrbar.358 Gleiches gilt für das Bekenntnis zu Jesus als Christus, das fortan für jede christliche Überlieferung unumkehrbar ist, auch wenn die Frage nach der konkreten Bedeutung dieses Kerygmas zunächst offen bleiben konnte und vom kontingenten Kairos eines offenen Dialogs mit der damaligen Umwelt nachhaltig geprägt wurde. Ein fertiges Programm, das als linearer Prozess nur expliziert werden musste, war dies aber, entgegen der Denkform der Neuscholastik, definitiv nicht. Die Geschichtlichkeit der Wahrheit, die in der inkarnatorischen bzw. sakramentalen Struktur des christlichen Glaubens begründet ist, lässt sich nie verleugnen. Für Rahner sind auch in der nachapostolischen Zeit irreversible Entscheidungen der Kirche als unumkehrbare Wahl359 aus mehreren wesensgemäßen Optionen grundsätzlich denkbar. Diese irreversible, wesensgemäße Auswahl einer Möglichkeit wäre dann jedoch in einem gleichsam kanonischen, synchron betrachteten Gesamtzusammenhang der Überlieferung womöglich ihrer Alternativlosigkeit bzw. Zwangsläufigkeit entkleidet. Ein Leben nach den Weisungen der Tora wäre z. B. weiter eine legitime Möglichkeit. Der eigenständige Heilsweg des Judentums versandet ja auch nicht einfach mit der Entscheidung zugunsten des neuen Weges. Analoges gilt für die Dogmengeschichte: War der Begriff „homoousios“ die einzig mögliche Formulierung? Sicherlich nicht. Sie war eine Reaktion auf konkrete Anfragen. Gab es nach der Formulierung die Möglichkeit, zur ursprünglichen Offenheit und Multiperspektivität biblischer Christologien zurückzukehren und im wesentlichen Einklang zur definierten Entscheidung von Nizäa eine Christologie auch anders zu formulieren, wobei andere Nuancen und Implikationen wieder zur Geltung kommen konnten, wie z. B. das wahre Menschsein Jesu Christi? Offensichtlich schon. In einer gleichsam synchronen Betrachtung der Dogmengeschichte liegen neben der berechtigten Betonung der Bedeutung des Papstes z. B. immer noch Aussagen des Konzils von Konstanz auf dem Tisch, die quasi in Juxtaposition den Wert und die Notwendigkeit regelmäßig geübter Synodalität vor Augen führen.360 Auch wenn 358 Vgl. Seewald, Reform, 114, der mit Blick auf die Heidenmission feststellt, dass eine Rückkehr hier faktisch gar nicht mehr möglich, geschweige denn gewünscht wäre. 359 Hier klingt sicher auch die ignatianische Prägung Rahners an. Vgl. Rahner, K., Die Logik der existentiellen Erkenntnis bei Ignatius v. Loyola, in: Ders., Das Dynamische, 74 –148. 360 Vgl. Wolf, Krypta, 75 – 92.

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man das I. Vaticanum nicht mehr verwerfen kann, muss es durch das synodale Prinzip bereichert und in einen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden. Mit Thomas Marschler lässt sich festhalten: „Indem Dogmengeschichte die christliche Lehrtradition möglichst umfassend im lebendigen Bewusstsein der Dogmatik erhält, begründet sie nicht nur den Status quo der Glaubenshermeneutik, sondern bereichert die Diskussion, indem sie aus der Geschichte auf Alternativen, nicht realisierte Möglichkeiten und unberücksichtigt gebliebene Argumente hinweist.“361 Johanna Rahner fordert die „Wiederentdeckung der Dogmengeschichte als Innovationspool und zur Erhöhung der Ambiguitätstoleranz“.362 Dabei müsse das Bewusstsein für verdeckte und verdrängte theologiegeschichtliche Alternativen geschärft werden, um „das Spektrum der Möglichkeiten“ zu erweitern und „Wege der Selbstkritik und Autokorrektur“ zu eröffnen.363 Jedenfalls dort, wo Tradition einseitig und toxisch geworden ist. Die Möglichkeit zur Korrektur oder Ergänzung gilt aber auch angesichts neuer Fragen, auf die es eben keine alten Antworten gibt. Darauf hat Michael Seewald hingewiesen: „Von der Geschichte Handlungsanweisungen für die Gegenwart zu erwarten und den Raum dessen, was getan und geglaubt werden darf, auf das zu limitieren, was schon einmal in der Vergangenheit getan oder geglaubt wurde, würde die Geschichte und die mit ihr befasste Geschichtswissenschaft überfordern.“364 361 Marschler, T., Zur Bedeutung der Dogmengeschichte innerhalb der Dogmatik, in: Dürnberger/Langenfeld/Lerch/Wurst (Hg.), Stile der Theologie, 143 –168, 167. Die Dogmengeschichte weite „den Blick für die Pluralität theologischen Denkens“ und „dogmengeschichtliche Analyse kann dann eine Anregung zur Rückführung des durch Explikation Differenzierten und Verkomplizierten auf einfachere, ursprünglichere, implikationsreichere Basisaussagen werden. […] Der Blick zurück kann also die Gegenwart von Lasten der Vergangenheit befreien, indem erstarrte Formeln durch Freilegung ihres ursprünglichen sachlichen Kerns verlebendigt und so Lösungsvorschläge für verfahrene Debatten bereitgestellt werden.“ Vgl. auch Rahner/Lehmann, Geschichtlichkeit, 779 –782. 362 Vgl. Rahner, J., Weil Veränderung geschieht … Warum Tradition und Innovation unaufgebbare Grundmodi kirchlicher Lehre sind und wie die Dogmatik dazu beitragen kann, beides für eine Reform der Kirche präsent zu halten, in: Kopp (Hg.), Kirche im Wandel, 159 –196, 173. Auch sie verweist auf T. Marschler. Im Anschluss an Essen, Die Geschichte, 184, und seine Beschreibung der Geschichte als „retrospektive Konstruktion“ bezeichnet sie die Tradition als „konstruierte Kontinuität“. Vielleicht müsste man im Falle der Glaubenstradition und ihrem Gegenwartsbezug aber eher von einer gelebten (und darum auch polymorphen) Kontinuität sprechen? 363 Vgl. Rahner, J., Weil Veränderung, 173. 364 Seewald, Reform, 118. Das gilt auch für die Hl. Schrift. Vgl. Söding, Beraten und

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Dieser Satz könnte auch von Joseph Ratzinger stammen, insofern er die Dynamik der Tradition und die pneumatologische Kompetenz der Überlieferungsgemeinschaft stark macht. Dahinter steht das Bewusstsein, dass weder die Hl. Schriften noch die dogmatischen Lehrentscheidungen zeitlos sind und dass der Geist der Schrift mehr ist als seine Fixierung durch den Buchstaben. Die Rezeptions- und Lernprozesse des Glaubens sind aber auf Prozesse des Dialogs verwiesen, die einerseits um Kontingenz365 und Kontextualität jeder menschlichen (auch der ekklesialen) Glaubensartikulation wissen, die Gottes Wort in menschlichen Worten und Taten zu vermitteln versucht; andererseits besteht auch die Notwendigkeit zur Kontextualisierung in einer polyzentrischen Weltkirche, die auf produktive Weise mit der Pluralität der Überlieferung umzugehen vermag.366 Kirchliche Lehrentscheidungen versuchen, aus der Vielstimmigkeit und Mehrdeutigkeit sichere Wege zu bahnen, die allerdings andere, neue, vielleicht ja sogar zugänglichere Wege nicht a priori ausschließen müssen. Indem problematische Einseitigkeiten und Versuche der Vereindeutigung abgelehnt werden, entstehen jedoch oft „reaktive Vereindeutigungen“367 und Ausschlussmechanismen, die es immer wieder selbstkritisch zu reflektieren gilt. Dies beginnt bereits mit dem biblischen Kanon. Aber auch wenn hier Grenzen definiert wurden, musste dies andere (später „apokryph“ gewordene) Schriften nicht a priori hermetisch ausschließen. Darum blieben die Kanongrenzen auch lange fließend. Die „reaktive Eindeutigkeit“, von der Seewald spricht, war hier zunächst noch eine relative Absicherung des Verbindlichen im Rahmen einer weiterhin legitimen Vielstimmigkeit. Bei Karl Rahners Argumentation, die wesensgemäße aber nicht wesensnotwendige irreversible Entscheidungen mit Blick auf das gottmenschliche Gesetz unterscheidet, stellt sich die Frage, ob das menschliche Element nicht nur epistemologisch unentbehrlich ist, sondern ob entscheiden, 48: „Die Bibel taugt nicht als Leitfaden für die Umsetzung aktueller Reformagenden, aber als Quelle für die Gewinnung von Kriterien, die Kontinuität und Innovation, Wesen und Wandel miteinander vermitteln.“ 365 Zu einem dynamisierten Verständnis der Moderne mit ihrem gestiegenen Kontingenzbewusstsein und dem dadurch gesteigerten Entscheidungsdruck auf das kirchliche Lehramt, das darauf mit einer Ausdehnung seiner Kompetenz reagierte vgl. Seewald, M., Antimoderne Modernität. Versuche über die Kirche als Modus der Welt, in: Rahner, J./Söding, T. (Hg.), Kirche und Welt – ein notwendiger Dialog. Stimmen katholischer Theologie (QD 300), Freiburg i. Br. 2019, 184 –196. 366 Vgl. Rahner, J., Weil Veränderung, 194 f. 367 Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 93.

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ihm nicht eine „sachkonstitutive Rolle zukommt, indem es aus mehreren nicht determinierten, prinzipiell möglichen Alternativen die eine Möglichkeit auswählt, die zur ekklesialen Wirklichkeit werden soll“.368 Seewald stellt die Frage, ob „nicht auch ein umgekehrter Vorgang möglich [wäre], bei dem die Kirche durch menschliches Nachdenken, Entscheiden und Handeln zu dem Ergebnis gelangt, dass manche ihrer Setzungen, die sie zu ius divinum positivum erklärt (oder in die Nähe dieses Rechts gerückt) hat, doch anders zu bewerten sind?“369 Mit Judith Hahn370 betont er die „geschichtliche und kulturelle Bedingtheit“ göttlichen Rechts und verbindlicher Glaubensnormen, eine Bedingtheit, die geschichtlich begründet ist und sachliche Korrekturen von menschlicher Seite zulässt.371 So stehen wir wieder vor dem Problem der Unterscheidung. Die biblische Hermeneutik des göttlichen Gesetzes und das im Kanon zum Ausdruck gebrachte Selbstverständnis des Rechts als einer lebendigen Größe arbeitet hier, wie wir sehen konnten, mit einer dynamischen Hermeneutik, die sich im Namen JHWHs immer wieder gegen einen plumpen Rechtspositivismus durchzusetzen vermag. Dadurch gelingt es, extreme Tendenzen und Einseitigkeiten, die der Grundintention der Weisung Gottes zuwiderlaufen, zu korrigieren, indem starre Normen durch Relecture und Reinterpretation wieder neu verflüssigt werden. Das entscheidende Kriterium war hier immer eine theozentrische Rückbindung und soteriologische Zielsetzung, die in der gelingenden Beziehung zwischen Gott und den Menschen wie auch der Menschen untereinander besteht. Insofern das kirchliche Recht wie auch die Dogmen als verbindlich definierte Ausdrucksform kirchlichen Glaubens diesem Ziel dienen wollen, ist auf sie dieselbe dynamische Hermeneutik anzuwenden, die schon der Kanon, der in seiner dialogischen Struktur selbst zur Traditions- und Selbstkritik fähig ist, eindrucksvoll demonstriert. Durch den „Vereindeutigungszwang“ eines verengten Traditionsverständnisses, das erst im 19. Jh. mit Hilfe des instruktionstheoretischen Offenbarungsmodells „eine ideologiedurchtränkte Konstruktion von 368 Vgl. Seewald, Was gilt, 152; Ders., Reform, 47: Eine solche „doktrinale Kontingenzbewältigung“ durch das kirchliche Lehramt bedeute nicht, dass das Mögliche, das nicht realisiert wurde, automatisch unmöglich würde. 369 Seewald, Was gilt, 152. 370 Vgl. Hahn, J., Church Law in Modernity. Toward a Theory of Canon Law Between Nature and Culture (Cambridge Studies in Law and Christianity), Cambridge 2019, 243; vgl. Dies., Recht neu, 314. 371 Vgl. Seewald, Was gilt, 152.

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Tradition“372 bietet und, die eigene Innovation verschleiernd, „Geschichtspolitik“373 betreibt, wird „Freiheit, Pluralität, Geschichtlichkeit oder gar Veränderlichkeit zu Ab- und Ausgrenzungsbegriffen gegenüber einer dem Eindeutigen, ja Identitären zugeneigten katholischen Selbstdefinition“.374 Der kritische Blick auf die Genese und Polyphonie des Kanons kann „einseitige Fixierungen“ der Theologie auf blanke Lehrformulierungen (doctrina) und ihre Verrechtlichung überwinden, denn er sensibilisiert für die Dynamik und Multiperspektivität, die auch in der Rezeption auf neue Weise gefordert ist.375 Dabei ist die Notwendigkeit gemeinsamer Unterscheidung sowie lehramtlicher Entscheidungen und Abgrenzungen völlig unbestritten. Wie gezeigt: auch der Kanon kennt Grenzen. Doch wird die Dogmatik durch eine biblisch sensibilisierte Hermeneutik vor der stets aktuellen Gefahr bewahrt, die aus der Schrift übernommene Vielfalt der Stile und Ausdrucksformen „auf eine einzige Form des systematischen Lehrtraktates zu reduzieren, ohne sich der soziologisch-ekklesiologischen Voraussetzungen dieser Ausdrucksform bewusst zu sein.“376 Die pneumatische Dynamik und Offenheit der Glaubenskommunikation führt – schon in der Urkirche – zu einem kreativen, schöpferischen Überlieferungsprozess, der auch heute durch den biblischen Kanon autorisiert ist. „Die Kanonizität der Schrift ist somit die inspirierende Autorisation von Kreativität, allerdings innerhalb ihrer Grenzen, in dem Sinne, dass die Schrift selbst – um mit Rahner zu sprechen – die ‚materiale Unterscheidung zwischen Wesen und konkreter Gestalt der Wesensverwirklichung‘ zu einer ‚immer neu zu stellende(n) und zu erfüllende(n) Aufgabe‘ macht. Dieser Auftrag ist seit dem zweiten vatikanischen Konzil auch auf katholischer Seite ökumenisch zu verstehen und verlangt, dass nach dem biblisch-altkirchlichen Konsensprinzip, das […] nicht die geringste Gewalt zulässt, Einheit aus dem Geist in allen Gesprächspartnern und dem Lern- und Hörvermögen eines je372 Vgl. Rahner, J., Weil Veränderung, 163; Essen, Die Geschichte, 191. Dieses verengte Verständnis von Tradition darf nicht mit der Tradition per se gleichgesetzt werden, indem dieser eine generelle Ambiguitätsintoleranz unterstellt wird. Der biblische Kanon ist in seiner Polyphonie ein Paradigma der Ambiguitätstoleranz und Innovationstoleranz einer pluralitätsfähigen Tradition – die freilich auch gewisse Grenzen haben darf und muss. 373 Vgl. Seewald, Reform, 66. Hinter der „Fassade eines Konservativismus“ wird das eigene Entscheidungshandeln getarnt und cachiert. 374 Rahner, J., Weil Veränderung, 164. Vgl. auch Rahner, J., Theologiegeschichte – Dogmengeschichte – Dogmenhermeneutik, in: ThQ 200 (3/2020), 217–245. 375 Vgl. Theobald, Tradition als kreativer Prozess, 499. 376 Theobald, Tradition als kreativer Prozess, 500.

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den von ihnen erwächst. Eine so inspirierte gemeinsame Suche nach voller Einheit impliziert, dass die als ‚irreversibel‘ und zu einem gewissen Zeitpunkt als ‚wesensnotwendig‘ rezipierten Entscheidungen der Vergangenheit eventuell einer gemeinsamen ‚Neu-Rezeption‘ (Alois Grillmeier) unterzogen werden, die sie mit dem einzig irreversiblen Ereignis der Geschichte, dem mit, durch und in Jesus ankommenden Gottesreich, konfrontiert und auf dessen gegenwärtiges Kommen ausrichtet.“377

In Konzentration auf die Herrschaft Gottes – die heilsame Präsenz und Selbstzusage Gottes – fühlten sich die Jünger/innen dazu befreit und legitimiert, im Sinne Jesu und geleitet von seinem Geist, der ihnen nach Ostern beisteht, aktiv und kreativ tätig zu werden und das Wort Gottes in eigenen Worten und Taten zu so vermitteln, dass es bei den jeweiligen Adressaten auf- und angenommen werden kann. Es bedarf angesichts eines solchen Vermittlungsprozesses jedoch des personalen und glaubwürdigen Zeugnisses sowie eines regulativen (durch das Charisma des Amtes verbürgten) Dienstes am Wort Gottes (vgl. DV 10), der neben Schrift und Tradition den authentischen Zusammenhang von geschichtlicher Herkunft und innovativer Zukunft verbürgt. Der Dienst des lebendigen Zeugnisses und der authentischen Verkündigung – der erst später auf ein „Lehramt“ mit juridischen Urteilen reduziert wird – bleibt organisch in eine Gemeinde eingebunden, die als Ganze den Überlieferungsprozess trägt und ihn kreativ mitgestaltet. Diese Überlieferung ist missionarisch orientiert, d. h. sie zielt auf die Vermittlung der Selbstmitteilung Gottes, die adressatensensibel und kontextbezogen zu transportieren ist – durch menschliche Worte und Taten, aber nicht als Lehrstücke einer juristisch perfektionierten Doktrin. Dies sperrt sich gegen „alle autoritären Pastoralstrategien, die sich nicht auf die tatsächlich einer Gemeinde und einer Gesellschaft vom Geist geschenkten Charismen und Zeichen stützen.“378 Christoph Theobalds Ansatz, den wir im Kapitel zum sensus fidelium mit dem soteriologischen Sinnüberschuss der Hl. Schrift angesichts der Rezeption durch die Adressaten des Evangeliums verbunden hatten, hat das pastorale Prinzip des II. Vatikanischen Konzils durch den Stil-Begriff 377 Theobald, Tradition als kreativer Prozess, 501. „Das heißt nicht, dass das, was einmal richtig war, nunmehr falsch würde; wohl aber, dass – nach gemeinsamer Prüfung – frühere Entscheide in einem bestimmten kulturellen Horizont ihr historisches Recht behalten, heute jedoch in einem völlig anderen Kontext und mit anderen Gesprächspartnern relativiert werden müssen oder auf dem Weg gemeinsamer Umkehr nicht mehr als ‚Heilswahrheit‘ erfahren werden können. Gerade solches Vorgehen wird vom biblischen Kanon selbst maßgebend vorgeführt.“ 378 Theobald, Das Christliche als Lebensstil, 212.

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verinnerlicht. Dieser stilistische Ansatz „muss heute explizit in die Wesensbestimmung des Christlichen eingetragen werden, weil die uns drohende gegenkulturelle Redoktrinalisierung des christlichen Glaubensgutes deutlich zeigt, dass die zentrale pastorale Orientierung des Konzils nicht allgemein rezipiert ist.“379 Die Adressaten müssen zum Ausgangspunkt der Glaubenskommunikation und -tradierung gemacht werden, sofern Dogmatik nicht ihren Zweck verfehlen will. Es handelt sich um eine essentiell notwendige, fundamentaltheologische Einsicht, die sich auch nachhaltig auf die Dogmenhermeneutik auswirkt. Doch die Adressaten bleiben eine potentielle Hörerschaft, die mit einer Botschaft konfrontiert werden soll. Diese gilt es aber zuerst einmal in ihrem historischen und kulturell geprägten Kontext zu rekonstruieren – um überhaupt eine Korrelation auf der Basis der jeweiligen Situation initiieren zu können. Die Reflexion auf die in Schrift und Tradition transportierte Botschaft zwingt die Dogmatik zu einem methodischen Brückenschlag zwischen historisch-kritischer und pastoral-praktischer Theologie. Dogmatik hat beides gleichermaßen zu berücksichtigen und sie muss beide Perspektiven zusammenführen und systematisch zueinander vermitteln. Sie ist angesichts dieser beiden Polaritäten immer der Versuchung ausgesetzt, sich stärker in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Aber sie hat die geschichtliche Vorgegebenheit der Überlieferung ebenso zu schützen wie ihre existentielle Vergegenwärtigung und Rezeptionsoffenheit. Sie kann eine solche kommunikative Vermittlung nur durch offenen Dialog und eine theofinal-soteriologische Konzentration auf das Mysterium bewältigen, in dem sich Gott und Mensch unvermischt und untrennbar begegnen.380 Diesem Mysterium und seiner soteriologischen Bedeutung „für uns“ gilt die oberste Priorität kirchlicher Lehre. Diese Priorität markiert zugleich ein Apriori: Es ist die Bedingung der Möglichkeit einer zusammenhängenden Heilsgeschichte, die bei allem Wandel und trotz aller Umwege ihren Ursprung und ihr Ziel sucht: JHWH. Seine Bundestreue, die immer wieder erneuert wurde und deren Endgültigkeit je neu erinnert und vergegenwärtigt wird, hat selbst eine Geschichte.381 Diese reicht vom 379

Theobald, Das Christliche als Lebensstil, 212. Vgl. Backhaus, K., Dial¤gesqai. Zu einem aktuellen Programmwort der Apostelgeschichte, in: Brünenberg-Bußwolder/Münch/Sigismund u. a. (Hg.), Neues Testament, 13 –33, 31. Das lukanische dial¤gesqai bedeute, „das Evangelium als transformierendes Heilsgeschehen in das kulturell lernbereite Gespräch zu bringen“ (im Original kursiv). 381 Vgl. Dirscherl, E., Der ungekündigte Bund Gottes mit der Welt. Juden und Christen 380

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Polytheismus über die Monolatrie bis hin zu einem schöpfungstheologisch sensiblen, reflektierten Monotheismus, der schon im Alten Testament auf alle Welt hin geöffnet wird und traditionskritisch eine Umkehr und Erneuerung des Subjekts einfordert. Bedenkt man außerdem, dass von der Urkirche diese universale Selbstzusage Gottes in ihrer eschatologischen Endgültigkeit und Tragweite mit Jesus als Christus unmittelbar in Verbindung gebracht wird, da in ihm das göttliche Wort und die menschliche Antwort in ein und derselben Person irreversibel verbunden sind, so erklärt sich, warum aus Sicht des frühen Christentums gerade hierin ein – dogmatisch substantieller – Anker für alle weiteren theologischen Innovationen gesehen wurde. Er gründet im theofinalen Glaubenszentrum, das es neu zu vermitteln galt. Richard Schaeffler hat diese kommunikative Vermittlungsstruktur skizziert. Einerseits handelt es sich um das „Hören auf ein Wort, das der Hörer sich nicht selber sagen könnte“, andererseits muss dieses Wort auch in eigener Erfahrung begriffen werden.382 Die Wechselwirkung von äußerem Wort und innerer Erfahrung ermöglicht eine Kenntnis nicht nur „vom Hörensagen“, sondern aus eigener Einsicht, die das Denken verändert, die frohe Botschaft verinnerlicht und sich responsorisch aneignet.383 „Dadurch entsteht zwischen unseren Erfahrungen (unserem Dialog mit der Weltwirklichkeit und ihrem Anspruch) und unseren Akten des Hörens (unserem Dialog mit den Mitmenschen und ihren Worten) eine Wechselbeziehung. Die Erfahrung, auch die religiöse, bewährt ihre objektive Geltung im Unterschied zu bloßen Subjektivität des Erlebens dadurch, dass sie zum Inhalt eines intersubjektiven Dialogs werden kann: Was, als Erfahrungsinhalt, objektiv gilt, kann nicht nur für mich gültig sein und muss sich daher im intersubjektiven Dialog bewähren. Und das Hören, das immer schon ein Antworten einschließt, bewährt seine Bedeutung für den Sprecher wie den Hörer dadurch, dass es zu neuen Weisen des Erfahrens fähig macht. Das bedeutsame Wort teilt nicht nur bestimmte, partikuläre Inhalte mit, sondern verändert die Weise, wie der Hörer künftig im Anschauen und Denken den Anspruch des Wirklichen vernimmt und beantwortet.“384 als Zeugen einer Hoffnung für alle, in: Rahner/Söding (Hg.), Kirche und Welt, 415 – 426. 382 Vgl. Schaeffler, R., Die Kirche als Erzähl- und Überlieferungsgemeinschaft, in: Geerlings/Seckler (Hg.), Kirche sein, 201–219, 201 ff. Es gehe um die Vermittlung der „Subjekt-Objekt-Antithese“, denn das „Bewusstsein weiß und begreift nichts, als was in seiner Erfahrung ist“ (Hegel). 383 Vgl. Schaeffler, Die Kirche, 203 f. 384 Schaeffler, Die Kirche, 204.

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Die für den Glauben und seine Erfahrung charakteristische Wechselbeziehung von Wort und Hörenden dieses Wortes erfordert dabei eine ganz bestimmte Art des intersubjektiven Dialogs, nämlich „den Dialog innerhalb einer Erzähl- und Überlieferungsgemeinschaft“.385 Hier ist die religiöse Erfahrung in ihrer Transzendentalität herausgefordert und auf einen entzogenen Ursprung der Wirklichkeit verwiesen, der einen Geschichts- und Erzählzusammenhang eröffnet, sodass für Schaeffler primär die Erzählung die angemessene Sprachform religiöser Rede ist.386 „Kirche entsteht, indem ihre Glieder in der Unterschiedlichkeit ihrer Erfahrungen von der ‚Öffnung der Augen‘ die gleiche Wirklichkeit wiedererkennen, die sie gemeinsam in Anspruch nimmt und unter ihre Zusage stellt.“387 Dabei gibt es aber auch Inhalte der Überlieferung, die für die religiöse Kommunikationsgemeinschaft „normative Kraft“ besitzen. Die „Bezugnahme auf normative Inhalte“ sei für die Ausbildung einer religiösen Überlieferungsgemeinschaft konstitutiv. Auch die Jünger hatten „Mose und die 385 Vgl. Schaeffler, Die Kirche, 205. Auch G. Essen, Die Geschichte, 182 f., verweist auf die „anamnetisch-narrative Struktur“ der Glaubensüberlieferung. 386 Vgl. Schaeffler, Die Kirche, 208. „Die religiöse Erfahrung ist insofern die je gegenwärtige Begegnung mit jener Willensmacht, die ‚im Anfang‘ gewirkt hat und der Welt die offene Alternative von Zugänglichkeit und Verweigerung eingestiftet hat und in jeder neuen Phase unseres versuchten Dialogs mit der Welt diese Alternative entscheidet. In diesem Sinne fordert die religiöse Erfahrung immer wieder die ‚protologische Auslegung‘ heraus, das heißt die Auslegung durch ein Sprechen von dem, was ‚im Anfang‘ geschah.“ 387 Schaeffler, Die Kirche, 210. Er illustriert diesen Zusammenhang anhand der Emmauserzählung im NT. „Im Austausch der Berichte von der Unterschiedlichkeit der Erfahrungen, die die verschiedenen Jüngergruppen gemacht haben, entdecken sie die Identität der erfahrenen Wirklichkeit. Es war der eine und gleiche Herr, der sich ihnen auf so verschiedene Weise gezeigt hat. Und dieses Wiedererkennen der identischen Wirklichkeit des Auferstandenen in der Differenz der Erfahrungsweisen gibt dem, was die Einzelnen und Teilgruppen sagen, gerade in der Besonderheit des Gesagten erst seine Bedeutung für alle. Weil jeder sagt, was kein anderer an seiner Stelle sagen könnte, und weil gleichwohl von der gleichen Wirklichkeit die Rede ist, die von allen bezeugt wird, bekommt jeder etwas zu hören, was ihn in seiner Erfahrung betrifft und was dieser seiner eigenen Erfahrung doch erst als die Bewährungsprobe ihrer Objektivität dienen kann. Er hat, in seiner besonderen Weise des Anschauens und Denkens, einem Anspruch entsprochen, der nicht nur an ihn gerichtet war, und wird gerade dadurch fähig, diesen Anspruch auf eine Weise zu bezeugen, die so nur ihm aufgetragen ist. Auf diese Weise kommt es zum Aufbau einer Kommunikationsgemeinschaft solcher Art, dass der Dialog nicht auf das Ziel gerichtet ist, am Ende sollten […] alle das Gleiche sagen. Das Ziel dieses Dialogs besteht darin, dass alle, in der Diversität ihrer Aussagen, entdecken, dass sie vom Gleichen sprechen, aber so, dass sie einander an die Identität eines Anspruchs erinnern, den sie auf unverwechselbar eigene Weise zu beantworten haben.“

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Propheten“ und konnten ihre Erfahrung damit innerhalb eines vorgegebenen „Überlieferungs- und Auslegungszusammenhangs“ verorten: „Und diese normative Kraft zeigt sich darin, dass neue Erfahrungen nur dann als objektiv gültig anerkannt und von verführerischen Trugbildern unterschieden werden können, wenn es gelingt, sie in ein hermeneutisches Wechselverhältnis zu diesen Überlieferungsinhalten zu bringen.“388 Der Nachweis der Concordantia, des Gleichklangs und Einklangs des Christuszeugnisses mit den Schriften Israels, sei ein wesentliches Anliegen frühchristlicher Überlieferung gewesen, aus der sich das Neue Testament ausgebildet habe, so Schaeffler. Dies sei die „Bewährungsprobe“ gewesen, damit die Christusverkündigung sich im Überlieferungszusammenhang auch als „objektiv gültig“ bzw. legitim ausweisen konnte.389 Und diese Hermeneutik gelte auch für spätere Innovationen im Überlieferungsprozess: „Selbst die radikalste Neuheit der religiösen Erfahrung ist daran zu messen, ob es ihr gelingt, in ein hermeneutisches Wechselverhältnis mit der Überlieferung einzutreten und so den ‚Gleichklang‘ von überliefertem Wort und eigener Erfahrung nachzuweisen. Es ist […] keine ‚Halbherzigkeit‘ von Reformkonzilien, wenn sie bei aller Bemühung um ein Neuverständnis des Glaubens und eine Neuordnung des kirchlichen Lebens ihre Übereinstimmung mit früheren Konzilien betonen. Wenn schon die Verkündigung der ersten christlichen Glaubenszeugen und mit ihr das Gesamtcorpus neutestamentlicher Schriften sich in der Concordantia Veteris et Novi Testamenti bewähren musste, dann kann ein kirchliches Organ wie ein Konzil noch weit weniger für sich Maßgeblichkeit beanspruchen, ohne seine Concordantia mit der Überlieferung nachzuweisen. Es ist nicht schwer aufzuzeigen, dass die Prediger der ersten christlichen Gemeinden, die Verfasser neutestamentlicher Schriften, ihre Ausleger und diejenigen, die in der Kirche Lehr- und Leitungsämter ausgeübt haben und noch heute ausüben, sich an dieser Aufgabenstellung orientiert haben. Hier aber geht es nicht um den Nachweis, dass dies faktisch immer so geschehen sei, sondern um die Frage nach dem Grund, der ein solches Verhalten notwendig und sein Gelingen zu einer Bewährungsprobe der Verkündigung macht.“390

Damit steht fest: Die Vergewisserung am vorgegebenen, objektiven Material der Überlieferung und seine Aktualisierung anhand neuer, subjektiver Erfahrungen geschieht durch synchronen wie diachronen, intersubjektiven Dialog – der das Traditionssubjekt Kirche erst konstituiert – in Bezug auf dieselbe Wirklichkeit des einen und einzigen Gottes, die diese 388 389 390

Schaeffler, Die Kirche, 211. Vgl. Schaeffler, Die Kirche, 212. Schaeffler, Die Kirche, 212.

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Kommunikations- und Überlieferungsgemeinschaft von ihrem gemeinsamen Ursprung her391 anspricht, sie als Ziel beansprucht und vereint, aber auf den Dialog mit allen Menschen hin öffnet. Der biblische Kanon aus Altem und Neuen Testament ist insofern das normative Paradigma eines lebendigen Überlieferungsprozesses – und das Paradebeispiel einer dogmatischen Verhältnisbestimmung von Alt und Neu, Kontinuität und Diskontinuität, Verbindlichkeit und Freiheit. Je mehr sich die Kirche ihrem Ursprung verpflichtet weiß, um so freier ist sie, um ihm heute zu entsprechen. Immerhin handelt es sich um die „Begegnung mit einer Freiheitsmacht, die die Welt von ihren Anfängen her bestimmt“, nach einer „protologischen Auslegung“ verlangt und eine „freiheitsstiftende Freiheit“ transportiert.392 Diese „befreiende Freiheit“ hat soteriologischen Charakter – wie auch Christus als Prototyp ihrer vollkommenen Verwirklichung, auf den sich christliche Tradition beruft.393 Dass aber die Bindung an diesen göttlichen Ursprung zugleich die eigene Freiheit und Kreativität freisetzt, weil für jedes Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf gilt, dass „die Verfügtheit und die Selbstmacht der Kreatur nicht im umgekehrten, sondern im selben Maße wachsen“, war von Karl Rahner immer wieder betont worden.394 Es handelt sich um eine Freiheit, die 391 Dies meint auch den entzogenen Ursprung des Wortes, das von Gott herkommt, uns anspricht und beansprucht. Das impliziert eine Asymmetrie. Vgl. Dirscherl, Die Frage, 32: „Hier ist von einer Vergangenheit die Rede, die sich meiner Erinnerungsmöglichkeit entzieht. Eine unvordenkliche Vergangenheit, an die ich nicht bruchlos herankomme, eine unbegreifliche Vergangenheit, in der ein Ursprung zu mir sprach. Der Ursprung hat mir im Sprechen seines Wortes den Anderen anbefohlen, an dem ich nicht vorbeikomme, wenn ich nach dem Wort Gottes frage […] Die Stimme Gottes geschieht im menschlichen Sprechen, das öffnet den Raum unserer Freiheit und unserer Antwort, jenseits einer Eindeutigkeit, die jene Spannung stillstellen will.“ Vgl. auch Dirscherl, Grundriss, 49 –55; 255–260; Wohlmuth, J., Theologie als Zeit-Ansage, Paderborn 22016, 17 ff. 392 Schaeffler, Die Kirche, 213. 393 Vgl. Schaeffler, Die Kirche, 214. „Er ist der Prototypos, an dem urbildhaft offenbar geworden ist, dass die Welt im Urbeginn nach diesem Bilde, dem Bilde dessen, der sich in den Tod dahingab und zum Leben erweckt worden ist, geschaffen wurde und dass darum alle Inhalte der religiösen Erfahrung, in denen der Mensch sich selbst genommen und in verwandelter Gestalt wiedergeschenkt wird, als Abbild-Ereignisse dieses Urbild-Ereignisses verstanden werden müssen. Und in der Tat haben immer neue Generationen von Christen alle Erfahrungen ihres Lebens, Erfahrungen der Not und Gottverlassenheit nicht weniger als Erfahrungen der Rettung und der Freude am Heil, dadurch verstehen gelernt, dass sie darin Möglichkeiten der ‚Gestaltgemeinschaft‘ (Symmorphia) mit Christus zu entdecken lernten (vgl. Phil 3,21).“ 394 Vgl. Rahner, K., Zur Theologie der Menschwerdung, in: Ders., Schriften zur Theologie IV, 137–155, 151. Zur pneumatologischen Fundierung vgl. Langenfeld, A., Frei

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sich allein in der Liebe selbst begreift und sich im Überlieferungsprozess dieser Liebe selbst überschreitet, wenn sie ihrem gnadenhaften Ursprung entsprechen und ihn allen Menschen aller Zeiten vermitteln will, indem sie ihn glaubwürdig und plausibel zu übersetzen versucht.395 Thomas Pröpper hat auf die Vorgegebenheit einer „Grundwahrheit“ verwiesen, die „als faktisches Apriori die dogmatische Arbeit in jedem Fall leitet und sonst eben unbesehen wirksam sein würde.“396 Es handelt sich um „ein organisierendes Zentrum ihrer Aussagen, […] eine Wesensbestimmung ihres Gegenstandes“397, den wir als soteriologischen Sinnhorizont bereits als die transzendentale Bedingung der Möglichkeit für die Verbindung des biblischen Kanons gekennzeichnet hatten. Es handelt sich um die polyphon bezeugte Selbstoffenbarung JHWHs als Heiliges Mysterium bedingungsloser Liebe, deren geschichtliche Dynamik, Dramatik und erlösende Tragweite sich in einem eschatologischen Maßstab verdichtet, der rückblickend als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis dieser Dynamik betrachtet werden kann, ohne aber die Vielfalt und den Eigenwert ihrer geschichtlich kontingenten Manifestationen zu verdrängen oder zu ersetzen: Jesus Christus.398 Die an ihm orientierte Unterscheidung drängt zur Entscheidung und zu einem entschiedenen Einsatz399 des persönlichen wie auch des kirchlichen Lebens für den universalen Heilswillen Gottes, für die Verbundenim Geist. Studien zum Begriff direkter Proportionalität in pneumatologischer Absicht (ITS 98), Innsbruck 2021, bes. 333 –339. 395 Vgl. Pröpper, T., Freiheit als philosophisches Prinzip der Dogmatik. Systematische Reflexionen im Anschluss an Walter Kaspers Konzeption der Dogmatik, in: Schockenhoff/Walter (Hg.), Dogma, 165 –192. 396 Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip, 177. 397 Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip, 173. 398 Vgl. Pröpper, Freiheit als philosophisches Prinzip, 177 f. Voraussetzung ist, dass Gottes Offenbarung nicht mehr instruktionstheoretisch „als bloß formale Quelle von ihr verschiedener Wahrheiten beansprucht, sondern – auf der Linie des II. Vatikanums – streng als das Geschehen gefasst wird, das in eins Offenbarungs- und Heilshandeln ist: als das geschichtliche Ereignis, in dem geschieht, was offenbar wird, und auch nur, weil es geschieht, offenbar werden kann – eben Gottes unbedingt für die Menschen entschiedene Liebe, in der Gott selbst anwesend ist und sich mitteilt.“ Was Pröpper gelegentlich übersieht, ist, dass Gottes bedingungslos zuvorkommende Liebe nicht erst mit der Verkündigung Jesu beginnt. Vgl. Pröpper, T., Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 21988, 69. Rahner ist hierfür sensibler. Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 40; 202–205, Anm. 318. Eine weiterführende Auseinandersetzung mit Pröpper bietet: Lerch, Selbstmitteilung. 399 Vgl. Deselaers, P., „Prüft die Geister, ob sie aus Gott sind“ (1 Joh 4,1). Spiritualität als Bemühung zur Unterscheidung der Geister, in: JBTh 24 (2011), 341–368.

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heit von Gott und Mensch und für eine schöpferische Liebe, der all jene verpflichtet sind, die dem Weg des Lebens folgen wollen. Die universale Barmherzigkeit Gottes, die in der Verkündigung der Gottesherrschaft durch Christus und dessen soteriologische Hermeneutik in der Tradition Israels zum Ausdruck kommt, ist ein ebenso einfaches wie klares Kriterium dieser Unterscheidung. Es denkt nicht mehr in einer Logik von Exklusivismus oder Inklusivismus, Drinnen und Draußen, weil es nicht über das Heil anderer entscheidet, sondern selbst entschieden für einen Maßstab eintritt, der Pluralität, aber keinen beliebigen Pluralismus bedeutet. Dieser Maßstab ist der offene Universalismus400 der Liebe Gottes, die verraten hätte, wer sie anderen Menschen abspricht. Das II. Vaticanum weiß sich dem offenen Universalismus der Gnade Christi verpflichtet, formuliert darum keine Anathemata und stellt überzeugt fest, dass die Kirche trotz ihres Maßstabs und Ziels, das in Jesus als Christus personifiziert und absolut unverhandelbar benannt ist, selbst kein Urteil über das Heil der anderen spricht (vgl. NA 2) – weil sie die Aufgabe hat, als Zeichen und Werkzeug der Selbstzusage Gottes zu dienen, nicht an seiner Stelle zu urteilen. Die juridische Verengung der Theo-Logie hat dieses Konzil hinter sich gelassen und es folgt darin der Logik des christlichen Kanons und seinem vielstimmigen Zeugnis dafür, dass Gottes Wort und Gnade alle partikularen Grenzen religiöser Empirie immer wieder durchbricht. Mag es auch andere, apokryph gewordene, verdrängte oder nicht weiter rezipierte Schriften geben, die inspirierend oder inspiriert sind; mag es Philosophien, Lebensentwürfe oder Religionen geben, welche die Wahrheit enthalten und auch Wege des Heils, die nur Gott kennt, eröffnen. Das Zeugnis vom Wort Gottes und seiner Geschichte schließt sie nicht a priori aus – aber sie haben sich an der Norm universaler Gnade und am Maßstab der Wahrheit zu messen, auf deren Dynamik der Kanon aus Altem und Neuem Testament verweist.

400

Vgl. Weißer, Der Heilige Horizont, 741–755, bes. 746 f. Dieser offene Universalismus der Gnade artikuliert sich primär nicht in Konditionalsätzen oder Imperativen, sondern als narrativer und sakramentaler Indikativ zur Vermittlung der Selbstzusage Gottes, die in der pluralistisch unbestimmten Vielfalt möglicher Lebensentwürfe immer noch als konkret unterscheidbarer Inhalt identifizierbar, aber gerade so für alle Menschen offen ist, ohne aus der Warte sakraler Überlegenheit zur Sprache von Exklusion oder Inklusion greifen zu müssen.

488 3. Fazit und Ausblick: Ein Paradigmenwechsel hin zum Kommunikationsprozess Eine aus dem biblischen Kanon heraus entfaltete Glaubens- und Dogmenhermeneutik hat den Vorteil, dass sie der geschichtlichen Dynamik und exegetischen Erkenntnissen Rechnung trägt. Sie entfaltet keine systematische Entwicklungstheorie, sondern eine dogmatische Prinzipienlehre, die sich immerhin auf die Autorität und Normativität der Hl. Schrift in ihrer Genese und bleibenden Verbindlichkeit für die kirchliche Überlieferung stützen kann. Zugleich ist eine so begründete Hermeneutik sensibel für die Problematik der Biblischen Theologie, insofern sie die kritischen Anfragen aus dem jüdisch-christlichen Dialog berücksichtigt. Sie vermag sogar diverse historische Gestalten, textkritische Variationen und fließende Grenzen „des“ biblischen Kanons zu integrieren – Befunde, die dogmatisch bislang kaum konsequent rezipiert wurden. Rückblickend können wir festhalten, dass der hier verfolgte methodische Neuansatz bei der innerbiblischen Rezeptionsgeschichte des Alten Testaments in seiner Dynamik und Polyphonie sowie der spannungsvollen Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament hermeneutische Prinzipien liefert, die auch für eine theologische Verhältnisbestimmung von Kontinuität und Diskontinuität im Rahmen der Dogmenhermeneutik wegweisend sind. Diese Prinzipien sind in der Struktur und Genese des christlichen Kanons nachweisbar und finden auch darüber hinaus Anwendung, wobei der Kanon als das normative Paradigma einer lebendigen Überlieferung verstanden werden kann, die mit der Kanonisierung nicht einfach zum Stillstand kommt. Die ebenso dynamischen wie vielfältigen Rezeptionsprozesse jenseits des Kanons wie eben auch die Dogmengeschichte zeigen, dass der Kanon als ein pneumatisches, lebendiges Produkt der Rezeption zu verstehen ist, das einen unerschöpflichen, selbst inspirierten wie inspirierenden Sinnüberschuss aufweist, der in seiner soteriologischen Performanz je neu und je verschieden abgerufen und artikuliert wird und sich in einem pneumatischen Plural der Auslegungen manifestiert. Geschichtlich-kulturelle Kontingenzen und normierende Prozesse einer verbindlichen Entscheidung, die im kirchlichen Glauben korrelieren, begegnen schon im kanonischen Prozess und in einer Abgrenzung und Ausgrenzung kanonischer bzw. apokryph gewordener Schriften. Der Kanon verwischt nicht die Spuren seiner Genese oder die damit verbundenen theologischen Spannungen – er legt sie eher offen, präsentiert Juxtapositionen, die auch Spielraum für eine Relecture, für neue, alternative Rezeptionswege eröffnen und Traditionskritik bereits

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innerhalb der Hl. Schrift legitimieren und demonstrieren. Weder Entschiedenheit noch Einheit lassen sich „kanonisch“ begründen, ohne eine bleibende Polysemie und Vielfalt zu respektieren. Aus den hermeneutischen Prinzipien des zwei-einen christlichen Kanons ergeben sich damit folgende Kriterien für dogmatische Entscheidungsprozesse: Prinzipien auf Basis des Kanons

Theozentrische Kontinuität in Ursprung und Ziel

Diskontinuität durch Innovation und neue Erfahrungen

Dialogische Pluralität, Multiperspektivität und Ambiguität in Tradition/ Rezeption

Kriterien dogmatischer Entscheidung

Theofinal-soteriologische Priorisierung und Konzentrierung

Vergewisserung und Aktualisierung angesichts der Zeichen der Zeit

Synodale Suche nach Einheit und Konsens im synchronen wie diachronen Diskurs

Im synodalen Diskurs einer um synchronen wie auch diachronen Konsens bemühten Glaubensgemeinschaft bedarf es einer dreifachen Dialogebene zur Vergewisserung und Aktualisierung des Glaubens, ganz analog zur biblischen Exegese, die eine a) historisch-kritische, b) synchron-kanonische und c) lebensweltlich-praktische Kontextualisierung der jeweiligen Überlieferung zu berücksichtigen hat. Dabei wird immer neu hinterfragt, inwiefern der soteriologische, d. h. lebensdienliche, befreiende, erlösende, hoffnungs- und trostspendende, vielleicht auch heilsam korrigierende Horizont der Hl. Schriften und ihrer Rezeption wirklich zur Geltung kommt – und wo dies nicht der Fall ist, weil manchmal etablierte oder missbräuchlich instrumentalisierte Auslegungsmuster, unreflektierte Deutungshoheiten oder zeitlich und kulturell bedingte Engführungen die im Alten und Neuen Testament artikulierte Selbstzusage Gottes verstellen oder entstellen. Dem kirchlichen Lehramt kommt hier, wie wir sahen, eine entscheidende Rolle zu. Es dient der Einheit in der Vielfalt der Rezeptionswege und der Kommunikation der Kirche, da Gottes Wort persönlich und glaubwürdig vorgelebt, nicht nur vorgelegt werden muss. Dieser performative, vergegenwärtigende Dienst führt zusammen. Dafür steht in besonderer Weise das Amt des Papstes auf weltkirchlicher Ebene. Die dem biblischen Kanon immanente Dynamik zeugt von der Lebendigkeit und Wandlungsfähigkeit, auch von einer Lern- und Kritikfähig-

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keit des Glaubens an einen Gott, der nicht nur in der Vergangenheit gesprochen hat, sondern uns immer wieder neu anspricht und beansprucht. Die konservativen Beharrungskräfte innerhalb der Kirche, die sich auf ein geschlossenes Lehrsystem fixieren, zeugen eher von einem deistischen Gottesbild und nicht vom Gott der Bibel. Der Paradigmenwechsel im Offenbarungsverständnis des II. Vatikanischen Konzils hatte für die Überlieferung kriteriologische Konsequenzen, die sich mit der hier rekonstruierten Hermeneutik auf der Basis des biblischen Kanons decken und in letzter Konsequenz soteriologisch finalisiert sind.401 Die dogmatische Tragweite dieses vom Konzil zurückgewonnen Offenbarungsverständnisses, das sich in seiner sakramentalen und kommunikationstheoretischen, d. h. medialen Ausrichtung grundsätzlich wieder an den biblischen Überlieferungen – im Plural und in ihrer dialogischen, responsorischen wie auch heilsgeschichtlich entfalteten Struktur – orientiert, wurde bis heute nicht konsequent erfasst. Die dogmatische Fundierung des II. Vatikanischen Konzils wurde und wird durch juridische Kategorien erneut verdrängt, wenn Glaube in theoretischer Abstraktheit nicht mehr als personal zu verantwortende und gemeinschaftlich zu vollziehende Rezeption und Antwort auf das geschichtlich bezeugte und überlieferte Wort Gottes verstanden wird; wenn im formalen Rekurs auf die letztlich doch wieder als theologische Quellen missverstandenen „loci“ von Schrift und Tradition einzelne Lehrinhalte herausdestilliert und mittels „Schriftbeweis“ als zulässig oder aber ungültig qualifiziert werden oder – gut gnostisch – in vermeintlich logischer Konsequenz deduziert und rechtlich eindeutig definiert werden sollen. Mit anderen Worten: Noch immer werden Hl. Schrift und Tradition in neuscholastischer Manier vor allem als Codex zur Dekodierung gesammelter, abgeschlossener Satzoffenbarungen gelesen, als ein Steinbruch für lehramtliche Positionen, für etablierte Argumentationen und vorgefer401

Vgl. Pottmeyer, H. J., Normen, Kriterien und Strukturen der Überlieferung, in: HFTh 4 (22000), 85 –108, 95. Das Offenbarungsverständnis des II. Vatikanischen Konzils sei theozentrisch, geschichtlich-sakramental, kommunikativ-dialogisch. Bereits bei Paulus sei die notwendige Interpretation des Wortes Gottes als ein fortlaufender Prozess „Ausdruck und Auswirkung dessen, dass der Herr lebt und in jeder Zeit unmittelbar gegenwärtig ist und in ihr neu bezeugt werden will.“ (ebd., 87) Dieser Prozess habe eine dezidiert „soteriologische Zielrichtung. Das Evangelium bleibt nur dann Frohbotschaft, wenn es als Heil für die jeweiligen Hörer verstanden, ausgelegt und verkündigt wird und als befreiend erfahren werden kann. […] Im übrigen verfährt Paulus nicht anders als Jesus, dessen Traditionsrezeption und -kritik die synoptischen Evangelien wiedergeben.“

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tigte Schemata, denen – wie beim I. und II. Vaticanum jeweils von der Kurie gewollt402 – ja nur noch zuzustimmen ist, weil sie formal anhand eines vorliegenden Bestandes von Quellentexten legitimiert worden seien und „Gehorsam“ verlangten, nicht etwa Überzeugung und Einsicht. Der Kanon wird allzu häufig nicht als die Richtschnur und der paradigmatische Maßstab des freien Glaubensvollzug verstanden, sondern als eine fertige Sammlung autoritativer Texte, die letztlich doch nur von amtlichen Sachwaltern ausgelegt werden können – jenseits der entscheidenden Frage, welche existentielle Relevanz oder Bedeutung ihre Deutungen für jene haben, die sie in ihrem Lebensalltag doch unmittelbar betreffen. Eine statische und geschichtsfeindliche Hermeneutik, die seit dem II. Vaticanum endgültig aus Exegese und Dogmatik verbannt sein sollte, hat sich auf das Spielfeld des Kirchenrechts zurückgezogen und versucht durch Fragen nach der vermeintlichen Unzulässigkeit, fehlenden Legitimation oder Vollmacht den soteriologischen Sinnüberschuss eines dynamischen wie pluralitätsfähigen Überlieferungsprozesses zugunsten einer zentralistischen und selektiven Deutungshoheit zu sedieren.403 Eine angemessene Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition bzw. Rezeption, die an der Hermeneutik des biblischen Kanons selbst Maß nimmt, vermag diese Verengung aufzubrechen, die Schrift und Überlieferung als statischen Codex und sakrale Betriebsanleitung des Erlaubten oder von Gott angeblich nicht Gewollten diskreditiert. Demgegenüber sind die vielstimmigen Zeugnisse der Hl. Schrift als reichhaltiges Depot unerschöpflicher Sinnhorizonte, als Reservoir des Glaubens und der Hoffnung zu verstehen, in dem sich das Wort Gottes durch menschliche Erfahrungen und Erzählungen verbindlich manifestiert hat, um je neu aufgenommen zu werden. Seine soteriologische Performanz als wirksames Wort für die Menschen kann zu verschiedenen Zeiten und Orten durch je neue Lektüre je anders aktiviert werden, da in der Relecture 402

Schon auf dem I. Vaticanum war das vorbereitete Schema de fide catholica derart zerpflückt worden, dass es (erfolgreich) non ad corrigendum sed ad sepeliendum zurückgewiesen wurde – es sollte nicht einmal korrigiert, sondern direkt „beerdigt“ werden. Vgl. Suenens, Die Mitverantwortung, 12 ff. Kein gutes Zeugnis für die Selbstverständlichkeit des ordentlichen Lehramts. 403 Fragen zur Erlaubtheit und Gültigkeit konkreter Ausgestaltungen von Sakramenten oder sakramentalen Vollzügen zielen auf juridische und nicht auf soteriologische Kategorien. Auch auf der Ebene des Kirchenrechts bleibt ein solcher Griff „zur Keule des Kirchlichen Gesetzbuches“ aber ungenügend. Vgl. Demel, S., (Un-)veränderbar?! Die Vollmacht der Kirche über die Sakramente, in: Dirscherl/Weißer (Hg.), Wirksame Zeichen, 173 –187.

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der alten Texte das Wort, in dem Gott selbst sich aussagt und zusagt, für hier und heute, für verschiedene Kontexte und Kulturen vernehmbar wird. Dabei ging es aber niemals um eine Ansammlung unveränderbarer Lehren oder um einen Katalog einzelner Wahrheiten. Es geht vielmehr um die Bewahrheitung404 der treuen Selbstzusage JHWHs, die in geschichtlich-kultureller Situiertheit vermittelt, gehört, neu gedeutet, aktiv überliefert und kreativ nach- und mitvollzogen wird. Im Vertrauen auf die Treue Gottes wird sein Wort in Leben und geisterfülltes Handeln übersetzt, es wird je neu Tradition, um rezipiert und in dieser Rezeption erfahrbar zu werden.405 Wer aber meint, Fragen der Amtstheologie oder kirchlicher Strukturen, differenzierte Details der Sexualität oder Empfängnisverhütung, der Natur- oder Humanwissenschaften, der digitalen Technologie etc. anachronistisch mittels einzelner, isolierter – vielleicht sogar noch allegorisch zurechtgebogener – Versatzstücke der Hl. Schrift eindeutig beantworten zu können, weil Gott oder Jesus dieses oder jenes ja angeblich so (nicht) gewollt hätten und man über das vom Herrn Gesagte oder Getane hinaus keine Eigeninitiative zeigen dürfe, der hat nicht nur die immanente Hermeneutik des biblischen Kanons nicht verstanden, sondern bleibt hinter der soteriologisch motivierten Hermeneutik Jesu und der Apostel zurück; der beansprucht für sich im Zweifelsfall ein Wissen, das durch den Kanon so weder gedeckt noch intendiert ist, während die potentiellen Rezeptionsschwierigkeiten etablierter Auslegungen im Lebensalltag vieler Menschen sensibel zu berücksichtigen und diskursiv zu hinterfragen wären, wenn sie den Zugang zum lebendigen Evangelium verbauen statt zu ermöglichen. Jürgen Werbick stellt darum fest: „Die Vorstellung einer additiven Übermittlung und Sicherstellung oder gar Ergänzung eines Ensembles heilsnotwendiger Wahrheiten ist weder für das Schriftverständnis noch für das Verständnis kirchlicher Tradition hermeneutisch hilfreich. Es bedarf […] einer Reformulierung des Schrift- wie des Traditionsverständnisses im Sinne eines kommunikativen Überlieferungsprozesses, in dem sich die Gemeinschaft der Zeugen der Glauben stiftenden 404 Vgl. Kasper, Dogma unter dem Wort, 90 –105. Das Wahrheitsverständnis der Schrift sei „geschichtlich, dynamisch und prophetisch“ (105). 405 Vgl. Böhnke, M., Vertrauensgewissheit. Traditionsbildung als epikletisches Geschehen, in: IKaZ 46 (2017), 268 –275, 270. „Lebendige Tradition ist Vergegenwärtigung der Wahrheit im Handeln, sei es durch Verkündigung, Tun oder Erzählung. Verfestigung und Verflüssigung der Glaubenswahrheit stehen im Tradierungsprozess in einem Spannungsverhältnis zueinander. Dieses Spannungsverhältnis ist historisch nicht auflösbar. Es bestimmt den Überlieferungsprozess insgesamt.“

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Bedeutung der von ihr als normativ festgehaltenen Gottesoffenbarung je neu vergewissert.“406

Die Hl. Schrift liefert keine fertigen Lösungsansätze oder Lehrsätze und lässt sich darum auch nicht im Sinne eines „Vollständigkeits-Paradigmas“ lesen, schon gar nicht vor dem Hintergrund der bekannten Dogmengeschichte.407 Werbick weist angesichts der Bibel Israels auf die Gefahr dieser Denkform hin. In einem instruktionstheoretisch verengten Offenbarungsverständnis vervollständigte erst das Neue Testament die eben nur als Teilwahrheiten verstandenen Inhalte des Alten Testaments, dessen Qualität als Offenbarung in dieser Lesart als unvollständig gelten musste.408 Diese Hermeneutik, die mit dem Barnabasbrief409 ansetze, schreibt das AT exklusiv dem Christentum zu, das allein es in seinem vollumfänglichen Sinnreichtum verstehe und in rechter Weise lesen könne, weil vorher ja Entscheidendes gefehlt habe. War aber Gott durch sein Wort nicht auch zuvor heilswirksam in der Geschichte Israels als er selbst präsent und erfahrbar, auch wenn die eschatologische Tragweite seiner Treue noch nicht voll absehbar war? Die Problematik hinter dieser Hermeneutik muss nicht erneut erläutert werden, sie wurde ja in der dogmengeschichtlichen Exkursion noch einmal deutlich. Es geht nicht um eine Ergänzung, sondern um sakramentale Vermittlung, um einen eschatologischen Mittler, der die inkarnierte Präsenz jenes Logos ist, durch den Gott selbst immer schon und immer wieder den Menschen nahe kommt, um ihr Leben in seiner Liebe zu verwandeln. Diese sakramentale Vermittlungsstruktur, ihre Bezeugung und Transponierung in neue Kontexte, kennzeichnet die christliche Überlieferung. Werbick, der dafür sensibilisiert ist, empfiehlt den Christen bei den Rabbinen in die Schule zu gehen, um deren Verständnis von Überlieferung und Schrift kennenzulernen:

406 Werbick, J., Heilige Schrift und kirchliche Tradition – Identifikationsorte christlichen Glaubens, in: Grundmann/Kattan (Hg.), Jenseits der Tradition, 171–182, 174. 407 Vgl. Werbick, Heilige Schrift, 174 f. „Verweist die Kategorie der ‚Vollständigkeit‘ nicht deutlich auf ein additiv-lehrhaftes Offenbarungs- und Traditionsverständnis und die Vorstellung einer sukzessiven Übermittlung von heilsnotwendigen Wahrheiten, deren Vollständigkeit heilsrelevant ist und deshalb von einer diese Vollständigkeit lehrenden und überliefernden Kirche geschützt werden muss?“ 408 Vgl. Werbick, Heilige Schrift, 175. 409 Epistola Barnabae. Ad Diognetum. Barnabasbrief. An Diognet. Griechisch – Deutsch, eingeleitet, kritisch editiert und übersetzt v. F. Prostmeier (Fontes Christiani 72), Freiburg i. Br. 2018.

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„Dabei könnten sie lernen: die Überlieferung, die dann zu den Schriften der Gottesoffenbarung wird, ist das spannungsreiche Geschehen, in dem von JHWH – seiner Ruach – Ergriffene darum ringen, authentisch und für hier und jetzt zu bezeugen, was ihnen von JHWH her widerfahren ist, was sie gesehen haben und deshalb sagen müssen. Nicht um das sukzessive Aneinanderfügen von ‚Wahrheiten‘ ging es dabei vorrangig, nicht um bloße Aktualisierung, sondern um Anknüpfen an Gesagtes, um Widerspruch gegen Verkürzungen, die man zu sehen meinte, um neue Erfahrungen mit Jahwe, die bezeugt werden ‚mussten‘, auch um ein ‚Um-Lernen‘, zu dem geschichtliche Widerfahrnisse zwangen. Zeugen-Kommunikation bedeutet Weiter-Schreiben, Überschreiben, Ineinander-Schreiben, es neu und anders zu sagen, weil man es jetzt nicht mehr so sagen kann. In all dem ist die Zuversicht, dass diese Vielstimmigkeit, Ihn bezeugt, dass die vielen Stimmen auch da gehört und bewahrt bleiben müssen, wo einzelne von ihnen vielleicht jetzt nicht mehr gut verstanden werden können, wo man ihnen widersprechen möchte. Sie alle zusammen, die dann den Kanon ausmachen, sind zusammengehalten – im Zusammenhang wie in mancher Dissonanz; die vielen Stimmen, die nicht nur eine sukzessiv sich entfaltende Botschaft ‚abliefern‘, sondern den Raum offen halten, in dem Er immer wieder neu widerfährt und bezeugt werden will.“410

In diesem offenen Raum werde Jesu Botschaft von der siegreichen Gottesherrschaft verkündet, wie später ebenso das Christus-Kerygma, in dem sich jedoch nicht sofort alles konzentrieren und von dem her sich nicht gleich alles zwingend erschließen muss. Auch wenn die Stimmen des NT die christliche Identität entscheidend konstituieren und finalisieren, so behalten doch die Stimmen des AT für das Christentum ihr eigenes Gewicht – für das Judentum ja ohnehin.411 In diesem Sinne bindet der christliche Kanon „eine Kommunikationsgemeinschaft von Zeugen zusammen, weil die Zeugen selbst aufeinander hörten, weil sie zusammengehören und jeder seine Stimme haben soll.“412 Auch das Judentum ist dabei „nicht das ‚Volk des Buches‘, wie der Islam es genannt hat. Es ist das ‚Volk der Deutungen des Buches.‘ Letztlich zählt für Juden nämlich die lebendige Auslegung und Interpretation in jede neue Lebenssituation hinein. Offenbarung ist etwas Dynamisches.“413 Auch das Evangelium 410

Werbick, Heilige Schrift, 175 f. Vgl. Werbick, Heilige Schrift, 176. Diese Stimmen sprechen „für sich“. 412 Werbick, Heilige Schrift, 176. „Die Kanonentscheidung war eine Entscheidung für ein Zusammengehören, das nicht durch eine lehrhafte Normierung und Identifizierung des darin bezeugten Gottesworts kontrolliert oder gar hervorgebracht wurde, sondern als Kommunikationszusammenhang geschützt werden sollte, weil sich in diesem spannungsreichen Kommunikationszusammenhang und nur in ihm der Gottesgeist mitteilt, der zum Zeugnis inspiriert und die Zeugnisse als solche erschließt.“ 413 Bollag, M./Rutishauser, C., Eine Jude und ein Jesuit im Gespräch über Religion in 411

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von Jesus dem Christus kann und konnte nur mit Hilfe dieser dynamischen Hermeneutik einer dialogischen Aktualisierung als unerschöpfliches Wort der erlösenden Selbstmitteilung Gottes in das Leben aller Menschen hinein verstanden werden – sonst wäre es ein Narrativ unter vielen anderen geblieben. In diesem Sinne besteht christliche Tradition in der Kommunikation der Glaubensgemeinschaft mit einer überzeugenden Zeugnisgemeinschaft, sie besteht wesentlich in der Vergewisserung und Erinnerung des Zeugnisses, das aktualisiert wird.414 Darin konstituiert sich ein synchroner wie diachroner Kommunikationszusammenhang, eine communio et communicatio, welche die Kirche ist, wenn sie auf Gottes Wort und aufeinander hört. „In katholischer Überlieferung kommt dem hierarchischen Lehramt die spezifische Aufgabe zu, diesen Prozess des In-Erinnerung-Bringens gegen offenkundige Verfälschungen des ursprünglich Bezeugten zu schützen. Das ihm dafür zugesprochene ‚Charisma veritatis‘ macht es nicht zur Herrin des Traditionsprozesses, sondern zur Dienerin der Kommunikations- und Zeugnisgemeinschaft Kirche, die sich dem Wort Gottes hörbereit öffnet und Sorge trägt, dass nicht überhört oder ‚exkommuniziert‘ wird, was bzw. wer in die Kommunikationsgemeinschaft der Zeugen hinzugehört und angehört werden muss.“415

Dieses ursprünglich auch den Presbytern zugestandene Charisma kommunikativer Kompetenz dient der Verkündigung einer frohen und befreienden Botschaft. Erst sekundär und im Laufe der Zeit wird es konzentriert auf die lehramtliche Kompetenz, in Glaubensfragen untrügliche Entscheidungen treffen zu können, um verfälschte oder verkürzte turbulenter Zeit, Ostfildern 32017, 63 f. Michel Bollag (ebd., 48) beschreibt das rabbinische Verständnis der Offenbarung als Gabe der Tora, wohl auch im Sinne einer ethischen Gegebenheit und Begebenheit: „Es geht um den Einbruch eines Anderen in das Sein. Ein Anderer spricht mich an und zwar durch einen Text. Im Text erscheint etwas, das mich übersteigt. Ich kann es nicht greifen oder begreifen, mich des Wortes nicht bemächtigen. […] Ich berühre das Wort kaum, ich interpretiere, suche in ihm Bedeutung, nicht objektive Wahrheit. In der Offenbarung entsteht ein Dialog zwischen einem Anderen und mir, dem angesprochenen Du. Der Andere spricht mehr als ich vernehmen kann. Daher hat die Tora als uralter Text ein Potenzial, das immer wieder neu zu deuten ist. […] Das Wort Gottes, das der Mensch vernimmt, stellt dessen Sicherheiten in Frage.“ Um dem Sinnreichtum dieses Wortes annähernd gerecht werden und es je neu aktualisieren zu können, versteht sich das Judentum als dialogische Interpretationsgemeinschaft. 414 Vgl. Werbick, Heilige Schrift, 177. 415 Werbick, Heilige Schrift, 177.

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Aspekte der Überlieferung in Erinnerung zu rufen, wobei die Summe solcher Entscheidungen zu gesammelten Lehrformeln geronnen ist.416 Werbick sieht diese Tendenz vor allem seit dem Konzil von Trient gegeben. Doch auch das Tridentinum hatte sich noch von einem instruktionstheoretisch portionierbaren Lehrplan, der sich auf Schrift und Tradition (partim – partim417) verteilen ließe, zugunsten der lebendigen Geistdynamik distanziert, was in der neuscholastischen Rezeption freilich gekonnt ignoriert wurde. Die eine und einzige heilsame Wahrheit – Gottes erlösende Selbstmitteilung – findet sich als personale und performative Beziehungsdynamik unvermischt und ungetrennt in den Spuren menschlicher Heilsgeschichte; sie manifestiert sich in den Hl. Schriften als einer maßgeblichen Ur-Kunde der Erinnerung ebenso wie in den vielfältigen Traditionswegen ihrer Rezeption, in völlig neuen Ausdrucksgestalten und Kommunikationsformen. Diese Wahrheit des Glaubens – der Logos – ist eine personale, das Gewissen persönlich ansprechende Größe und darum auch nicht portionierbar oder auf einzelne Lehren oder Medien wie die Schriften oder lehramtliche Entscheide verteilbar und juristisch einklagbar; sie ist im biblischen Kanon vollkommen präsent („suffizient“ artikuliert, um den Weg zum Heil zu finden), jedoch in ihrer Bedeutung für uns hier und heute nicht auf diese Schriften allein zu reduzieren, sodass ein und dieselbe Wahrheit später in ganz anderen Kulturen nicht auch anders vernehmbar werden könnte oder nicht mit unerwarteten, veränderten Akzenten und neuer Sensibilität für andere Kontexte neu zur Erfahrung und zur Geltung gebracht werden müsste. Um die polyphonen und uneindeutigen Schriften für alle einheitlich zu erschließen, bedurfte es aus Sicht einer zentralistisch denkenden Neuscholastik der Jurisdiktion eines Lehramts, das die wahre Deutung vorlegt.418 Hier sieht Werbick eine analoge Argumentation wie im Barnabasbrief, der das NT für notwendig hielt, um die Schriften Israels zu 416

Vgl. Werbick, Heilige Schrift, 177 f. Trient sah die salutaris veritas enthalten „in libris scriptis et sine scripto traditionibus“, welche die Apostel von Christus selbst wie auch vom Heiligen Geist empfingen und die schließlich „ad nos usque pervenerunt“ (DH 1501). Vgl. Geiselmann, J. R., Das Konzil von Trient über das Verhältnis der Heiligen Schrift und der nicht geschriebenen Traditionen. Sein Missverständnis in der nachtridentinischen Theologie und die Überwindung dieses Missverständnisses, in: Schmaus, M. (Hg.), Die mündliche Überlieferung. Beiträge zum Begriff der Tradition, München 1957, 123 –206. Der ursprüngliche „geschichtlich-dynamische Traditionsbegriff“, den das II. Vaticanum wieder aufgreift, ist hier noch erkennbar (vgl. Hoping, Theologischer Kommentar, 710). 418 Vgl. Rahner, J., Theologiegeschichte, 225 ff. 417

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vereindeutigen – ein Gedanke, an den sich übrigens auch die historischkritische Exegese mit ihrem neuzeitlichen Ideal einer aufklärenden und Gewissheit schaffenden claritas anlehnen konnte, weil bereits das Lehramt sich als klarstellende Instanz der Auslegung verstand.419 Dieses Eindeutigkeitsideal stehe aber, wie Werbick ausführt, in einer gewissen Spannung „zum Beziehungsreichtum der um Zentralmetaphern sich ausbildenden biblischen Bekenntnissprache; in Spannung deshalb auch zu den vielfältigen kommunikativen Anknüpfungen, Relectures, Fortbildungen, Neubesetzungen und Aktualisierungen, die den Grundvorgang und die spannungsreiche Dynamik von Tradition ausmachen.“420 Eine Vergewisserung anhand der Hl. Schrift geschieht dann oftmals nur noch ex negativo, durch Ausschluss und Ablehnung, durch eine Reduktion auf den eigentlichen Sinn der Texte. Neue, positive Artikulationen auf die Zukunft hin sind so aber kaum möglich: „Dass Gottes Zusage- und Verheißungswort vor allem durch Abgrenzungen und Ablehnungen vergewissert wird, ist alles andere als plausibel.“421 Das hatte auch Johannes XXIII. erkannt, sodass er darum bemüht war, positive Anknüpfungspunkte für das Evangelium zu suchen.422 Dieselbe Methodik findet sich – für einen Jesuiten, der Gott in allen Dingen sucht und findet, wohl wenig überraschend – auch bei Papst Franziskus.423 Auch wenn in Extremfällen Klarstellungen und Abgrenzungen (als schützende De-Finitionen) der Frohen Botschaft berechtigt und notwendig sind, so haben diese einen sekundären und limitativen Charakter, der nur vor dem Hintergrund einer positiven Vergewisserung zu verstehen ist: „Die Heiligen Schriften sind nur authentisch verstanden, wenn sie so auf das Heil der Menschen bezogen werden und so auch das Ihre zur Identität des Christlichen sagen können.“424 Die kreative Lebensmacht und unendliche Sinnfülle des 419

Vgl. Werbick, Heilige Schrift, 178 f. Werbick, Heilige Schrift, 179. 421 Werbick, Heilige Schrift, 180. 422 Vgl. Galli, M. v., Prophetische Reden, 100. 423 Vgl. El Jesuita, 89: Wer nur das Negative, Trennende suche, sei kein guter Katholik. Gegen Jesu Willen wirke es abstoßend, verstümmle das Evangelium und zeige fehlende Bereitschaft, Dinge anzunehmen. „Christus nahm alles an. Und man kann nur das erlösen, was man angenommen hat. Wenn jemand nicht toleriert, dass es in einer Gesellschaft Menschen mit verschiedenen, auch den eigenen entgegengesetzten Wertmaßstäben gibt, und wenn wir diese Menschen nicht respektieren und für sie beten, werden wir sie in unseren Herzen nie erlösen.“ 424 Werbick, Heilige Schrift, 181. Vgl. auch Rahner, J., Lehramt und Glaubenssinn, 173 f.: „Das zu Tradierende selbst bestimmt das, was und wie Kirche sein soll. Tradi420

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Evangeliums transzendieren die lehramtlichen Definitionen und Formeln wie der göttliche Logos die menschliche Sprache, sodass die Einheit in Unterschiedenheit, die lebendige Beziehung und Fruchtbarkeit füreinander im kirchlichen Alltag immer wieder gewährleistet werden müssen. Dem Lehramt kommt die Rolle der Moderation im Kommunikationsprozess zu.425 Ein Instrument, um dabei Sprachmuster und Ergebnisse zu sichern, sind dogmatische Entscheidungen. Der Begriff Dogma schwankt heute zwischen einem juristisch verengtem und inflationärem Gebrauch.426 Dabei spielt der Dogmenbegriff in der Tradition lange Zeit gar keine tragende Rolle, weil seine Bedeutung bis in das 18./19. Jh. hinein kritisch bewertet wird und geradezu oszilliert.427 Es sei bezeichnend, so urteilt Walter Kasper, „dass der Terminus ‚Dogma‘ auf keinem der Konzilien vor dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) eine nennenswerte Rolle spielt.“428 Er ist für die Theologen des Mittelalters weitestgehend irrelevant429 und wird auch der Sache nach in seinem heutigen Verständnis erst sehr spät gebraucht.430 Darum existiert auch „kein amtliches Verzeichnis der kirchlichen Dogmen“ und die Frage, wie viele Dogmen es überhaupt gebe, ist „deshalb schlechterdings nicht zu beantworten.“431 Ursprünglich entspringt das neuzeitliche Dogmenverständnis dem Bemühen, durch eine eher minimale und limitative Definition dessen, was als höchst zentral und verbindlich für den

tion ist solchermaßen zu einem hermeneutischen Auslegungsbegriff geworden, das funktionale Prinzip der Vergegenwärtigung der Selbstmitteilung Gottes im Christusereignis durch den Hl. Geist im Leben der Gemeinschaft der Glaubenden, der Kirche, in seinem dreifachen Vollzug: Liturgie – Zeugnis – Dienst an der Welt (leiturgia – martyria – diakonia). Zusammen mit diesem ganzheitlichen – kommunial und kommunikationstheoretisch-partizipatorisch orientierten – Offenbarungs- und Glaubensverständnis entwickelt das II. Vatikanum ein anderes Verständnis von ‚Glaubenswahrheit‘. Maßstäblichkeit und Wahrheit bestimmen sich aus der Nähe zu ihrer christologischen Mitte. Aber nicht nur dieses: Aus der inhaltlichen Verschiebung folgt die Notwendigkeit einer kritischen Hinterfragung des Kommunikationsstils und mit dieser eine notwendige Revision ihrer strukturellen Bedingungen.“ 425 Vgl. Werbick, Heilige Schrift, 179. 426 Vgl. Seewald, Was gilt, 154. 427 Vgl. Kasper, Dogma unter dem Wort Gottes, 60 – 84. 428 Kasper, Dogma unter dem Wort, 62. 429 Vgl. Kasper, Dogma unter dem Wort, 65. 430 Vgl. Kasper, Dogma unter dem Wort, 68. Damit verbunden sind die „nicht unerheblichen Verschiebungen im sachlichen Verständnis dessen, was wir heute mit Dogma umschreiben.“ 431 Kasper, Dogma unter dem Wort, 70.

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Glauben gilt, einen Freiraum für Vielfalt und Entwicklung zu schaffen. Doch hatte diese Tendenz, einen objektiv fixierbaren Bestand von Kernsätzen zu definieren, ganz im Gegenteil zur Engführung des Glaubens auf diese vermeintlich eindeutigen, juridisch präzise bestimmbaren Lehrsätze geführt.432 Als aber mit der Rückbesinnung auf ein personales, dialogisches Offenbarungsverständnis nun auch die dogmatischen Qualifikationen und die Verbindlichkeitsgrade dieses alten Denkens nach dem II. Vaticanum in Vergessenheit gerieten, fehlte jede Kriteriologie für die Unterscheidung, was im nunmehr umfassend verstandenen Traditionsprozess als essentiell oder aber als sekundär zu gelten habe.433 Man legte die Differenzierung der Neuscholastik ab, behielt aber die juridische Logik und die Orientierung an Lehrsätzen bei. Plötzlich war alles, was das „ordentliche“ Lehramt vorlegte, scheinbar gleichwertig und gleich verbindlich. Eine Gewichtung innerhalb „der“ Lehre verschwamm. Fragen nach den Zulassungsbedingungen für Sakramente oder der Sexualmoral etc. werden heute formaliter auf eine Ebene mit der substantiellen Grundwahrheit des christlichen Glaubens gehoben: der Selbstoffenbarung Gottes.434 Theologische Kriterien für eine pastoral sensible Bestimmung, was mit der Selbstzusage Gottes „in einem notwendigen Zusammenhang“ steht (KKK 88), sucht man aber vergeblich – sie sind meist der subjektiven Lesart und Interpretation einzelner Theologen bzw. Amtsträger überantwortet. Entsprechend subjektiv wird entschieden, ob die Kirche in bestimmten Fragen Vollmacht zur pneumatisch motivierten Veränderung habe, oder ob sie an den Wortlaut des überlieferten Buchstabens gebunden sei und daher nichts an ihrer Lehre ändern könne.435 Mit der juridisch präzisen Fixierung auf konkrete Lehrsätze und ihre offizielle Vorlage kam es folglich zu einer Aufwertung des kirchlichen Lehramtes als Instanz der ordentlichen Lehre, die – anstelle eines persönlichen Zeugnisses – fortan rechtsverbindlichen Gesetzescharakter trägt und überwiegend Gehorsam statt Glauben einfordert. Das Verständnis und die Rezipierbarkeit des Inhalts rückten nun zugunsten einer verbindlichen Vorlage in den Hintergrund, die mit dem Terminus Dogma belegt wird. „Seine Verbindlichkeit für die Gläubigen – das ist entscheidend, um die Differenz zwischen altkirchlichem Lehren und modernem dogmati432

Vgl. Kasper, Dogma unter dem Wort, 69 –72. Vgl. Kasper, Das Verhältnis, 465 f. 434 Dies betrifft vor allem die Ausweitung des Dogmenbegriffs durch den Katechismus der Katholischen Kirche von 1992. Vgl. hierzu: Seewald, Dogma im Wandel, 45 –51. 435 Zur Problematik siehe oben: Kap. IV.1. 433

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schem Lehren zu verstehen – entfaltet das Dogma jedoch nur aufgrund seiner Vorlage durch die Kirche, das heißt allein durch lehramtliche Autorität.“436 Die amtliche Autorität steht über der Verständlichkeit und existentiellen Bedeutsamkeit der Wahrheit, die in einer Glaubens- und Kommunikationsgemeinschaft überliefert wird. Wenn ein Dogma aber immer nur „Stückwerk“437 menschlicher Sprache und eine orientierende Wegmarke im kirchlichen Rezeptionsprozess438 der vielfältigen Zeugnisse göttlicher Selbstoffenbarung ist, dann ist es jedoch auch integraler Bestandteil eines kirchlichen Diskurses, der prüfen muss, ob die durch das Dogma bezeichnete Wahrheit wirklich als solche bei den Menschen ankommt. Das Dogma ist nämlich nur eine Wegmarke, nicht selbst das Ziel des Glaubens. Es ist Mittel zum Zweck und dient einem Ziel: der Gemeinschaft mit Gott.439 Die Dogmen sind Teil eines kommunikativen Sprachgeschehens, sie sind selbst „wesentlich ein Sprachphänomen“, das somit einem „Prozess der Sprachgeschichte“ unterworfen ist, der auf Gemeinschaft verweist.440 Die Wahrheit des Glaubens ist dabei immer verwiesen auf ihre erfahrungsbezogene Kommunikabilität im Hier und Heute.441 Die affirmative Rede, die jedes Dogma als das Sprach- und Übersetzungsgeschehen442 einer zu 436

Seewald, Was gilt, 155. Vgl. Kasper, Dogma unter dem Wort, 149; Seewald, Was gilt, 157: „Daher ist es dem Disput ekklesialer Verständigung über das, was in der Kirche aus welchen Gründen und in welcher Form Geltung beanspruchen darf, nicht entzogen. Weil dieser Prozess autokorrektive Momente einschließt – was vor allem den Sekundärbereich des Dogmas betrifft, also jene Lehren, die als mit der Offenbarung ‚verbunden‘, aber nicht als geoffenbart vorgetragen werden –, lässt er sich nicht abschließend rechtlich fixieren.“ 438 Vgl. Kasper, Dogma unter dem Wort, 133; 137 f.: „Das Dogma führt im Grunde nur mit anderen Mitteln und unter anderen Umständen den ständigen Interpretations- und Redaktionsprozess fort, der zur Bildung der heutigen biblischen Schriften und des Kanons der Schriften im Ganzen geführt hat. […] So wenig die Schrift eine starre Grenze darstellt, so wenig darf aber auch das Dogma fixistisch missverstanden werden.“ 439 Seewald, Was gilt, 157, unterscheidet zwischen dem „ordo finis“ und dem „ordo medii“ und stellt klar: „Die Gemeinschaft mit Gott bildet nach christlichem Verständnis das Ziel der Schöpfung.“ 440 Ratzinger, Zur Frage, 608. 441 Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre, 17 f., hebt dieses „Sprach- und Wahrheitsgeschehen“ hervor. Er verweist auch auf die selektive Funktion der Medien, die eine Herausforderung für die funktionale Spezialisierung der Theologie darstelle und eine Konzentration und Gewichtung der Inhalte erfordert (vgl. 193 –207). Die „Rückübersetzung“ theologischer Sprache in Glaubens- und Verkündigungssprache müsse die „Mediensprache“ berücksichtigen. 442 Vgl. Hünermann, P., Dogmatik – Sprachgeschehen im Glauben, in: Schockenhoff/ 437

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bezeugenden Wirklichkeit mit ihrem Geltungsanspruch wesentlich kennzeichnet, lebt aber – dies kann nicht stark genug betont werden – vom Prinzip der Analogie in ihrem Dreischritt der Affirmation, Negation und Eminenz. Die Dogmatik als wissenschaftliche Theologie weiß um die je größere Unähnlichkeit zwischen kirchlicher Lehre und Gottes Wort und versucht diese Spannung durch diskursive Prozesse der kritischen Relecture und Aktualisierung zu überbrücken, indem die performative Wirklichkeit angesichts neuer Informationen rekonfiguriert wird. Aber ist diese Analogie443 kirchlicher Sprach- und Denkformen und die unbedingte Notwendigkeit eines kontinuierlichen Aggiornamento auch allen Bischöfen als Vertretern des kirchlichen Lehramtes zu jeder Zeit bewusst? Sprache generiert Wirklichkeit. Gott selbst ist für uns erfahrbar als Logos, als bedingungslose Selbstzusage, die – nicht nur verbal – zur freien Antwort und zum offenen Dialog einlädt. Eine entsprechende Haltung der Gastfreundschaft, der Wertschätzung und Hörbereitschaft444 muss auch den Stil, die Sprache und den Inhalt der kirchlichen Lehrentscheidungen kennzeichnen, die im Zuhören neu und anders, vielleicht auch anderes zu sprechen lernen, um den einzig heilsbedeutsamen, absolut verbindlichen und untrüglichen Inhalt des christlichen Glaubens zur Geltung zu bringen: Gottes befreiendes und erlösendes Dasein für uns, das durch Jesus Christus eschatologisch verbürgt ist und in seinem Geist spürbar werden soll. Ihm dienen die Kirche und all ihr Sprechen und Handeln, das für Vertrauen, Hoffnung und Liebe wirbt. Die Dynamik der Dogmenhermeneutik, die sich bereits aus dem hermeneutischen Paradigma des biblischen Kanons ergibt, führt uns also im Walter (Hg.), Dogma, 130 –141, 132. Leider arbeitet Hünermann noch mit der „Überbietung jener mannigfachen Zeugnisse des Alten Bundes, in denen die Wahrheit sich ankündigte“ (131) und unterläuft damit seine eigene Kernthese, dass es der Dogmatik um die „Wahrheit und Wirklichkeit Gottes selbst“ geht, der sich zum Heil des Menschen offenbart – was bereits im AT der Fall ist. Die Dogmatik legt diese bekundete Wahrheit, die in normativen Glaubenszeugnissen überliefert und gedeutet wird, je aktuell aus, sie bringt sie zur Sprache und sichert dabei eine authentische und glaubwürdige Kommunikation in der Überlieferungsgemeinschaft. Die transzendentale Logik berücksichtigt dabei auch die „Vieldimensionalität und die Geschichtlichkeit der Wahrheitsvermittlung“ (138). „Dabei werden Pluralität wie kontextuelle Eingebundenheit der geschichtlichen Wahrheitsgestalten ebenso respektiert wie die Autonomie der einzelnen Sprachen, die allerdings keine Autarkie bedeutet.“ 443 Vgl. Rahner, K., Von der Unbegreiflichkeit Gottes. Erfahrungen eines katholischen Theologen, Freiburg i. Br. 42006. 444 Vgl. Theobald, Christentum als Stil, 58 – 63. Es gibt aber „keine wirkliche Gastfreundschaft ohne Offenheit für Überraschungen“ (331).

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Ergebnis zu der Dynamik einer dogmatischen Hermeneutik, die nicht auf dogmatische Sätze und eine propositionale Lehre beschränkt bleibt. Sie verweist auf einen lebendigen und vielstimmigen Prozess der Überlieferung, der mit Blick auf seine Herkunft die Zukunft zu gestalten versucht – im Bewusstsein um die Treue Gottes, dessen unbedingt für uns entschlossene Liebe die Freiheit und Kreativität der Kirche beseelt und sie permanent zur Selbstkritik und Erneuerung motiviert. Eine solche Hermeneutik bietet bewusst keine Theorie445 einer Dogmenentwicklung, sondern nur die retrospektive Suche nach theologischen Prinzipien, die für dogmatische Unterscheidung und Entscheidung leitend waren und die darum auch für heutige Traditionskritik und Unterscheidungsprozesse notwendig sind. Analog zum kanonischen Prozess lässt sich ein dogmatischer Prozess nachvollziehen, dessen Dynamik vom Weg der Dogmatisierung zu den Dogmen selbst und ihrer Rezeptionsgeschichte sich nicht einfach sistieren lässt, um einzelne Momente daraus zu isolieren. Die Übergänge zwischen theologischer Reflexion, dogmatischem Prozess, Dogmatisierung, Relecture, neuer Interpretation und aktualisierter Artikulation sind fließend446 – wie schon im biblischen Kanon, an dem sich dieser Traditionsstrom orientiert und normiert. Die dogmatische Aussage beansprucht dabei jedoch (trotz ihrer Deutungsbedürftigkeit, Ergänzungsbedürftigkeit und Entwicklungsfähigkeit innerhalb dieses dynamischen Überlieferungsprozesses), einen im Sachgehalt richtigen, unverzichtbaren Aspekt der allseits verbindlichen – insofern objektiven – Selbstzusage Gottes öffentlich festzuhalten.447 Die dogmatische Definition will aber nicht die „Subjektivität des Redenden objektivieren, sondern die Objektivität der gemeinten Wirklichkeit dem Hörenden nahebringen und in diesem Sinn subjektivieren.“448 Es bleibt jedoch eine Inadäquatheit der zweckmäßigen Artikulation gegenüber der gemeinten Sache bestehen. „Die geschichtlich bedingte, endliche Terminologie gibt der Glaubensaussage besonders in ihrer theo445 Zur Begründung vgl. Rahner, Zur Frage der Dogmenentwicklung, 50 ff.; Ders., Dogmen- und Theologiegeschichte, 42. „Die Geschichte des Dogmas und der Theologie bleibt Geschichte, d. h. im letzten unvorhersehbar und von den Menschen und vom Amt der Kirche nicht steuerbar.“ Sie bleibt Freiheitsgeschichte, die von Gnade getragen und damit nicht planbar und logisch deduzierbar ist. 446 Vgl. Rahner, Was ist eine dogmatische Aussage, 80. 447 Vgl. Wenzel, Die Identität, 289. 448 Rahner, Was ist eine dogmatische Aussage, 59.

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logischen Gestalt selbst eine geschichtliche Endlichkeit, Konkretheit und Kontingenz.“449 „Zu dieser grundsätzlichen Inadäquatheit von Glaubensformel und Glaubensinhalt kommt die Geschichtlichkeit der Traditionszeugnisse. Die Traditionszeugnisse sprechen die Sprache ihrer Zeit und nehmen damit an den immer begrenzten Aussagemöglichkeiten einer bestimmten Kultur teil. Sie sind außerdem mitbestimmt durch geschichtliche Interessen und Kontroversen. Nicht zuletzt können sie mitgeprägt sein von der Tatsache, dass die Kirche eine Kirche der Sünder ist, deren Erkenntnis durch die Sünde verdunkelt ist.“450

Die Dogmen lassen sich daher eben nicht – wie in der neuzeitlich enggeführten Definition451 suggeriert wird – auf propositionale Lehrsätze einer magisterialen Jurisdiktion reduzieren.452 Auch angesichts des Befundes, dass man in der Dogmengeschichte lange Zeit durchaus ohne einen eng gefassten Dogmenbegriff auskam, hat Joseph Ratzinger sicher recht: Ein „Dogma“ ist primär kein doktrinelles Gesetz, das sakral überhöht würde, sondern es „besteht in dem die Schrift erschließenden und auslegenden Glauben der Kirche.“453 Schon der biblische Kanon schließe ein „dynamisches Element“ ein, „denn Schrift bedarf immer der Auslegung, und der Glaube, der sie aufschließt, ist immer mehr als bloße Formel.“454 Es handelt sich insofern um verbindlich gewordene, identitätsstiftende Sprachmuster im Rahmen der kirchlichen Glaubens- und Kommunikationsgemeinschaft, die hierin als Rezeptionsgemeinschaft455 ihren Glauben artikuliert und angesichts der Zeichen der Zeit näher bestimmt, 449 Rahner, Was ist eine dogmatische Aussage, 68 f. Hier greift wiederum das Prinzip der Analogie (vgl. 74). 450 Kasper, Tradition als theologisches Erkenntnisprinzip, 535. „Das alles gilt selbst von den dogmatischen Lehräußerungen der Kirche. Auch sie können einseitig, voreilig und oberflächlich sein; sie können sich sogar vorstellungsmäßiger und begrifflicher Mittel bedienen, die sich als solche später als irrig erweisen. Sie können jedoch nicht in dem Sinne irrig sein, dass sie in keiner Weise mehr vergegenwärtigendes Zeichen für die Wahrheit Jesu Christi sind.“ 451 Vgl. hierzu: Seewald, Dogma im Wandel, 271–275; Filser, H., Dogma, Dogmen, Dogmatik. Eine Untersuchung zur Begründung und zur Entstehungsgeschichte einer theologischen Disziplin von der Reformation bis zur Spätaufklärung, Münster 2001. 452 Bei dieser isolierten Betrachtung besteht „die Gefahr eines Dogmenpositivismus“. Vgl. Internationale Theologische Kommission, Die Interpretation der Dogmen, 1990, B.III.3. (https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/cti_documents/rc_cti_ 1989_interpretazione-dogmi_ge.html#_ftn1). 453 Ratzinger, Das Problem, 569. 454 Ratzinger, Das Problem, 569. 455 Für O. H. Pesch (Schriftauslegung, 287) ist Rezeption ein „kommunikationstheoretischer Name für den theologischen Sachgehalt ‚Tradition‘.“

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ohne aus der Geschichte dieses Glaubens und seinen pluralen Perspektiven jemals aussteigen zu können. Die Dogmen bilden eine Grundlage ekklesialer Glaubenskommunikation und eine Wegweisung. Bei diesen aus dem lebendigen Glaubensvollzug der Kirche hervorgegangenen Wegmarken der Tradition und aneignenden Rezeption, die analog zum Kanon selbst verbindlich geworden sind, handelt es sich um geschichtlich bedingte „Leitplanken“456 der Überlieferung, die der kirchliche Glaube auf seinem Pilgerweg durch die Zeit aufgerichtet hat, um die steinigen Wege des Glaubens und seiner Erkenntnis gegen extreme Klippen und gefährlich abschüssiges Gelände zu sichern. Die Kirche kann sich jederzeit an diesen Leitplanken orientieren und im Zweifelsfall festhalten, wenn sie ins Straucheln gerät – aber wie jedes Geländer sollte man sie auch immer wieder mutig loslassen, wenn man seinen Weg weiter beschreiten will. Wo unbekanntes Terrain erkundet wird, bedarf es vielleicht einer neuen Wegsicherung, die von Pionieren vorzubereiten ist. Diese neue Wegleitung muss einerseits an den vorherigen Weg anknüpfen und ihn doch auf echtes Neuland weiterführen. Eine ausgewogene Wegführung ist hierbei entscheidend, denn sie muss Leichtsinnige, die sich überschätzen, rechtzeitig ausbremsen und zugleich für Ängstliche zumutbar sein, die dem Weg selbst kaum trauen und lieber dort verharren, wo sie gerade stehen. Diese Dogmen sind als gesicherte Wegmarken in kritischer Relecture und fortwährender Ausdifferenzierung durch neue Wegweiser mit der Landkarte des Kanons in Einklang zu bringen und gegebenenfalls zu präziseren. Manche solcher Wegmarken sind im Laufe der Zeit nahezu unleserlich geworden, andere bezeichnen Wege, die heute gar nicht mehr gangbar sind, weil sie vom Geröll der Geschichte längst verschüttet wurden; wiederum andere müssten längst erneuert werden, weil ihre Sprache die Symbolkraft verloren hat; einige bieten zwar grobe Orientierung, sind aber allein nicht zielführend; viele weisen zwar in die richtige Richtung, solange man nicht unterwegs doch noch falsch abbiegt und in einer Sackgasse landet; einige führen vielleicht auch auf Wege, die mit einem Dickicht kulturell geprägter Denkmuster verwuchert sind, bei dem man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht und sich womöglich fragt, wo und wie es überhaupt weitergeht, während manch inoffi-

456 Vgl. Beinert, W., Glaube – Einführung in die Dogmatik, in: Beinert, W./Kühn, U., Ökumenische Dogmatik, Leipzig 2013, 1–30, 24. Auch Ratzinger, Das Problem, 575, sieht mit Rekurs auf Karl Rahner die dogmatische Formel als „Wegweisung“, in der sich die Sache selbst nie erschöpft.

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zielle Schleichwege hier durchaus zielführend sein könnten. Doch ist die Kirche davon überzeugt: Wenn sie sich gemeinsam auf den Weg macht, um am überlieferten Koordinatensystem der alten Wegmarken entlang behutsam voranzuschreiten, dann wird sie (im Hören auf die Glaubenszeugnisse der Hl. Schrift, auf deren Rezeptionsgeschichte, eine ortskundige, zeitsensible Theologie und die gesamte Pilgergruppe in ihrer unterschiedlichen Kondition und ihrem Orientierungssinn) nie völlig in die Irre gehen und auf ihrer Mission nicht völlig versagen.457 Diese Unbeirrbarkeit der Gesamtkirche in ihrem Glauben an die Treue Gottes kann durch das kirchliche Lehramt bei verschiedenen Anlässen verbindlich artikuliert und konkret definiert werden; sie darf aber nicht einfach nur auf zeitlose und unfehlbare Lehrsätze reduziert werden, sofern das kommunikationstheoretische, personale Offenbarungsverständnis denn wirklich verstanden und ernst genommen wird. Wer auf dem gemeinsamen Weg – sÅnodoj – des Glaubens möglichst allen einen Weg bahnen will, muss darum miteinander kommunizieren, um die Wegfindung wirklich voranzutreiben. Bei den kirchlichen Dogmen handelt sich um das Produkt von Kommunikationsprozessen, die sich von der Hl. Schrift inspirieren lassen, indem sie sich deren soteriologischen Sinngehalt aneignen, sich der Texte je neu vergewissern, um sie in veränderten Kontexten und angesichts völlig neuer Fragehorizonte zu aktualisieren. Als wesentliche Identitätsmarker des christlichen Glaubens auf seinem Weg durch Raum, Zeit und Kultur entstehen solche Dogmen im Dialog – und im Dialog haben sie sich immer wieder neu zu bewähren, wenn sie tatsächlich tragfähige Formulierungen des kirchlichen Glaubens darstellen wollen. Denn jedes Dogma hat schon von seiner Funktion im Traditionsprozess her wesentlich „dialogischen Charakter. Es ist Teil eines Kommunikationsprozesses.“458 Dieser Dialogprozess reicht auch weit über die innerkirchliche Verständigung hinaus. Er zielt auf die erfahrungsbezogene Kommunikabilität des Glaubens auf seinem Weg ins Hier und Heute.

457 Eine solche infallibilitas und indefectibilitas ecclesiae darf nicht mit einer irreformabilitas sententiarum verwechselt werden. Vgl. Seewald, Reform, 139 ff.; Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre, 259. 458 Beinert, Glaube, 24.

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Insofern kann man nun festhalten: Ein Dogma ist gleichsam ein Fixpunkt, eine Art Backup im dynamischen Prozess kirchlicher Tradition und Rezeption, die auf eine adäquate Übersetzung der Selbstmitteilung Gottes in ihrer befreienden und erlösenden Performanz zielt. Es wird stets in geschichtlich bedingter Sprache artikuliert und muss sich daher permanent selbst auf die je größere Wirklichkeit des im Glaubensakt intendierten Zieles transzendieren, sodass in seinem soteriologischen Sinnhorizont das Heil der Menschen – Gott selbst – gesucht wird. Der theofinale Glaube der Kirche und ihr Glaubenskonsens bilden die substantielle Grundlage ihrer Überlieferung, die sich ihrer Herkunft vergewissert, um ihre Zukunft gestalten zu können. Dem Suchen und Finden dieses Konsenses dient das Lehramt, das mit Hilfe eines Dogmas den gemeinsamen, verbindenden und verbindlichen Glaubensweg markiert und sichtbar macht. Joseph Ratzinger sah im Auftakt der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung – explizit in Analogie zur Exegese – die „relecture der entsprechenden Texte von Vaticanum I und Trient […], in der das Damalige auf heutige Weise gelesen und damit zugleich auf sein Wesentliches wie auf sein Ungenügendes hin neu interpretiert wird.“459 Das entspricht der Anwendung der in der vorliegenden Arbeit rekonstruierten, im biblischen Kanon gründenden Hermeneutik, die Tradition und Rezeption wie auch Traditionskritik und Fortschreibung der Lehre durch eine Vergewisserung und Aktualisierung im diachronen wie synchronen, offenen Dialog vermittelt, indem sie sich auf die sensible Unterscheidung des Wesentlichen vom Sekundären konzentriert. In einer solchen Hermeneutik begegnet uns geradezu „ein Anschauungsbeispiel dogmatischer Entwick459

Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 505. Wenn das II. Vaticanum die Aussagen des Vorgängerkonzils (z. B. in Bezug auf die Stellung des Papstes) im Rahmen einer erneuerten Ekklesiologie übernahm, so stellte es diese Aussagen als authentische Stimme einer vergangenen Epoche in einen neuen Kontext und praktizierte damit – analog zum Kanon der Hl. Schriften – eine Art geprägte Fortschreibung dieser Texte, die in ein neues Sinngefüge eingefügt, im Gesamtzusammenhang relativiert, in ihrer situationsbedingten Aussagekraft zwar verstanden, aber in ihrer potentiellen Einseitigkeit auch korrigiert werden. Vgl. Pottmeyer, Kontinuität und Innovation, 92: „Ein veränderter Kontext verändert den Inhalt auch bei unveränderter Formulierung.“ Pottmeyer verweist darauf, dass beide vatikanischen Konzilien (wie alle Konzilien?) eine Innovation darstellten, wobei gerade darin eine tiefere Kontinuität wirksam sei.

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lung, der inneren relecture des Dogmas in der Dogmengeschichte“, die jedoch mit einer pastoralen, soteriologischen Zielsetzung verbunden ist.460 Für Ratzinger selbst wurde darin das „Dilemma“ des Konzils ersichtlich, das in einer Spannung zwischen kerygmatischer bzw. pastoraler Intention und einer doktrinellen Aufgabe bestehe.461 Blickt man jedoch auf DV 1, so ist die Darlegung der ursprünglichen Lehre (doctrina genuina) von der Selbstoffenbarung Gottes mittels eines Finalsatzes ganz bewusst auf ihr ultimatives Ziel ausgerichtet – die universale Vermittlung einer vertrauenswürdigen Botschaft vom Heil, die in der Zuversicht des Glaubens zur Liebe befreien will: ut salutis praeconio mundus universus audiendo credat, credendo speret, sperando amet. Somit ist das Dogma – als eine gesicherte Bestimmung des kirchlichen Glaubensweges – seiner ursprünglichen Intention untergeordnet: Es ist ein funktionales Mittel zum Zweck462 und dient dem Heil der Menschen, das sich nie in satzhaften Wahrheiten oder in propositionalen Lehren erschöpft, weil es in der gelebten Beziehung zum lebendigen Gott selbst besteht. Das christliche Verständnis von Erlösung, das den Dreh- und Angelpunkt der christlichen Dogmatik markiert, gründet nämlich in keinem Katechismus oder Katalog des kanonischen Rechts. Erlösung, wie das Christentum sie versteht, ist kein kognitiver – gnostischer – Gehalt objektivierbarer Lehren, kein fertiger und vorzeigbarer Zustand, sondern eine unverfügbare, sich in Gnade je persönlich zueignende, befreiende und ermutigende Dynamik, auf die man sich auch persönlich einlassen muss, um sich darin selbst immer wieder gelassen loslassen zu können.463 Es 460

Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 505. Vgl. Ratzinger, Dogmatische Konstitution, 505 f. Für Helmut Hoping (Theologischer Kommentar, 739) ist hingegen „in der Verbindung von Dogma (Lehre) und Pastoral (Verkündigung) gerade der spezifische Charakter des Konzils zu sehen.“ 462 Für Kasper, Dogma unter dem Wort Gottes, 124, ist es ein „dynamischer Funktionsbegriff: Ergebnis bisheriger Erfahrung der Kirche im Umgang mit dem Evangelium und Antizipation künftiger Erfahrung, für die sich die Kirche offen halten muss. Aber diese Zukunft ist für den christlichen Glauben seit Ostern nicht mehr eine leere Offenheit, sondern entschiedene Zukunft.“ Zugleich bleibe diese Zukunft das je größere Geheimnis Gottes. Vgl. Seewald, Dogma im Wandel, 262–269; Kasper, W., Geschichtlichkeit der Dogmen?, in: Ders., Evangelium und Dogma, 623 – 644, 642 f. Die Rückführung auf das „Zentrum“ des Glaubens, der Dienst an der „ekklesialen Liebe“ und Verständigung und eine Ermöglichung des Glaubens unter je aktuellen Bedingungen stellen für Kasper entscheidende Kriterien für eine Reformulierung der Dogmen dar, die sich nahe an unseren kanonisch rekonstruierten Kriterien bewegen. 463 So wehrt sich Papst Franziskus (Gaudete et exsultate, Nr. 35 – 62) gegen jede Form von Gnostizismus und einen „neopelagianischen“ Individualismus. Vgl. Kongregation 461

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geht um eine Haltung, die man nicht einfach „hat“ oder sich durch eigene Anstrengung erwirbt, sondern der man sich selbst existenziell anvertrauen muss.464 Was für einzelne Gläubige gilt, gilt aber auch für die Überlieferungsgemeinschaft der Kirche und die Artikulation ihres Glaubens: Sie muss in einer Art Exodus aus sich herausgehen, sich der unkontrollierbaren Transzendenz nicht nur im Wort, sondern in der Tat anvertrauen und in sich selbst gerundete Gewohnheiten hinter sich lassen – ein Opfer alter Traditionen um der lebendigen Tradition des Wortes Gottes willen. Karl Rahner sprach hier von einem „Tutiorismus des Wagnisses“465 und man denkt sofort an Paulus: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,21). Das christliche Verständnis von Erlösung trägt dabei die Signatur der Hoffnung, es eröffnet einen Horizont, der sich nicht in ein starres Koordinatensystem analytischer Begriffe einpassen oder definieren lässt, insofern er sich dem begreifenden Zugriff entzieht. Aber, so würde Paulus sagen, wir wissen dennoch, worauf bzw. auf wem diese Hoffnung gründet. Es bleibt also eine begründete Hoffnung, die in der Ostererfahrung und in der festen Überzeugung wurzelt, dass die Macht der Liebe – jene Wirklichkeit, die wir staunend stammelnd „Gott“ nennen – in ihrer eschatologischen Tragweite letztlich stärker ist als Hass und Streit, Gewalt und Vernichtung, stärker sogar als der Tod. Dieser Zeugnis- und Traditionszusammenhang findet aus christlicher Sicht in der Person Jesu ihren irreversiblen Höhepunkt, weil Gott nicht „mehr“ aussagen und zusagen kann als sich selbst in absoluter Treue, bis zur äußersten Konsequenz – als Mensch gewordenes Wort, das als solches alle Menschen anspricht und für sich in Anspruch nimmt: einladend, verzeihend und dem ewigen Verstummen siegreich widerstehend. Eine kritische Ausrichtung der gesamten Dogmatik wie auch der kirchlichen Lehrverkündigung auf dieses lebendige Ziel des Glaubens deckt sich mit der prophetischen Prognose Rahners, die (heutige) Theologie der Zukunft werde „sich sehr entschlossen auf den Kern und die für die Glaubenslehre, Schreiben Placuit Deo. An die Bischöfe der Katholischen Kirche über einige Aspekte des christlichen Heils, 22.2.2018, Nr. 3 f. (http://press.vatican.va/ content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2018/03/01/0160/00317.html#de). Vgl. Weißer, M., Placuit Deo. Zur soteriologischen Akzentsetzung der Glaubenskongregation, in: ThG 61 (4/2018), 302–313. 464 Vgl. hierzu: Weißer, Der Heilige Horizont. 465 Rahner, K., Löscht den Geist nicht aus!, in: Ders., Schriften zur Theologie VII, Einsiedeln u. a. 1966, 77– 90, 85.

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letzten Grundfragen der christlichen Botschaft konzentrieren.“ Gemeint ist eine Konzentration auf das „Verständnis der ursprünglichsten und fundamentalsten Offenbarung Gottes, seiner Gnade, des einen Mittlers, der Verantwortung für die Welt und der eschatologischen Hoffnung.“466 Eine begründete reductio in Mysterium, die mit einer theologischen467, didaktischen und sicher auch lehramtlichen468 Reduktion einhergehen kann und im Zeitalter digitaler Kommunikation469 einhergehen muss, konzentriert sich dogmatisch begründet auf das soteriologische Zentrum und Ziel des Glaubens – auf den dreifaltigen Gott selbst – und seine adressatensensible Vermittlung, um auf dieser Basis jene Detailfragen in Angriff zu nehmen, die in einer global vernetzten Welt heute ein Höchstmaß an Differenzierung und Kontextualisierung erfordern, um das Evangelium und seine adaptability for life, die bereits die Genese des biblischen Kanons prägte, auf fruchtbare Weise zur Geltung zu bringen. 466

Rahner, K., Die Zukunft der Theologie, in: Ders., Schriften IX, 148 –157, 151. Vgl. Ders., Über künftige Wege der Theologie, in: Ders., Schriften X, 41– 69, 49; Ders., Dogmen- und Theologiegeschichte, 44 ff. 467 Vgl. Rahner, K., Überlegungen zur Dogmenentwicklung, in: Ders., Schriften zur Theologie IV, 11–50, 39 f.; Ders., Dogmen- und Theologiegeschichte, 33, wo er einen „Rückgriff auf die ursprüngliche Mitte des Glaubens“ fordert. Vgl. Kasper, Tradition auf dem Prüfstand, 481. „Nach einer langen Zeit der Explikation des Glaubens in seine verschiedenen Folgerungen und Aspekte hinein gehen wir heute wohl einer Zeit der Konzentration auf das Wesentliche und Grundlegende entgegen.“ Dieses Wesentliche ist für Kasper (ebd., 482) die Treue Gottes in seiner endgültigen Selbstzusage, sie „verbindet das Gestern und das Morgen. Sie könnte der Mut und die Kraft sein, das Gestrige zu lassen und das Morgen zu wählen, das im Gestern und Heute noch verborgen ist.“ 468 Vgl. Papst Franziskus, EG, Nr. 34 f.: „In der Welt von heute mit der Schnelligkeit der Kommunikation und der eigennützigen Auswahl der Inhalte durch die Medien ist die Botschaft, die wir verkünden, mehr denn je in Gefahr, verstümmelt und auf einige ihrer zweitrangigen Aspekte reduziert zu werden. Daraus folgt, dass einige Fragen, die zur Morallehre der Kirche gehören, aus dem Zusammenhang gerissen werden, der ihnen Sinn verleiht. Das größte Problem entsteht, wenn die Botschaft, die wir verkünden, dann mit diesen zweitrangigen Aspekten gleichgesetzt wird, die, obwohl sie relevant sind, für sich allein nicht das Eigentliche der Botschaft Jesu Christi ausdrücken. Es ist also besser, realistisch zu sein und nicht davon auszugehen, dass unsere Gesprächspartner den vollkommenen Hintergrund dessen kennen, was wir sagen, oder dass sie unsere Worte mit dem wesentlichen Kern des Evangeliums verbinden können, der ihnen Sinn, Schönheit und Anziehungskraft verleiht. Eine Seelsorge unter missionarischem Gesichtspunkt steht nicht unter dem Zwang der zusammenhanglosen Vermittlung einer Vielzahl von Lehren, die man durch unnachgiebige Beharrlichkeit aufzudrängen sucht.“ 469 Vgl. Weißer, M., Dogmatik im digitalen Zeitalter, in: Burke, A./Hiepel, L./Niggemeier, V./Zimmermann, B. (Hg.), Theologiestudium im digitalen Zeitalter, Stuttgart 2020, 277–288.

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Die Schulung eines pastoral und didaktisch sensiblen Unterscheidungsvermögens bedarf einer Dogmatik, deren Hermeneutik die Prinzipien solcher Unterscheidung und ein finales Kriterium der Glaubensentscheidung benennt: Wo immer sich eine Theologie oder eine mit verschiedenen Theologien operierende Kirchenpolitik im Geflecht ihrer Systematiken zu verlieren drohen, wo immer kirchliche Lehre den Kontakt zum Leben der Menschen verloren hat oder nicht mehr dem gelingenden Leben des Menschen in der rettenden Wirklichkeit Gottes dient, da wird sich im Herzen wahrhaft Gläubiger instinktiv ein energischer Widerstand regen – ein Widerspruch im Namen JHWHs, der sich im Heiligen Geist schöpferisch zu Wort meldet, sodass sein Wort, das in alten Texten von Menschen überliefert ist, auch hier und heute zur Geltung kommt, weil diese Texte in veränderten Kontexten anders und neu gelesen, neu verstanden und neu gelebt werden müssen und nur so ihre inspirative und manchmal geradezu subversive Kraft entfalten, ganz im Sinne des einen und einzigen Gottes des Lebens und seines universalen Heilswillens. Die selbstwirksame dÅnamij der Herrschaft Gottes, nicht die der Kirche oder der Theologie(n), zielt auf die Verbundenheit von Gott und Mensch wie auch der Menschen untereinander; sie zielt, wie die katholische Kirche letztlich irgendwie doch immer wusste, im Wesentlichen auf Einheit, im Zweifel auf Freiheit, in allem aber auf Liebe. „Habt ihr das alles verstanden? Sie antworteten ihm: Ja. Da sagte er zu ihnen: Deswegen gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.“ (Mt 13,51 f.)

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Literaturverzeichnis

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