Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts und die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten [1 ed.] 9783428507931, 9783428107933

Die StPO gibt keine Auskunft darüber, wie zu verfahren ist, wenn der Beschuldigte in der ersten polizeilichen Vernehmung

114 19 31MB

German Pages 326 Year 2002

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts und die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten [1 ed.]
 9783428507931, 9783428107933

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

KATHARINA BECKEMPER

Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts und die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten

Schriften zum Prozessrecht Band 171

Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts und die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten Von

Katharina Beckemper

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Potsdam hat diese Arbeit im Jahre 2001/2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-10793-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Meinen Eltern Gerhard (t) und Anna Helena Beckemper

Vorwort Die Arbeit wurde im Wintersemester 2001/2002 von der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Potsdam als Dissertation angenommen. Soweit möglich, sind Rechtsprechung und Literatur bis Januar 2002 berücksichtigt worden. Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Uwe Hellmann, ohne dessen fachliche Begleitung und wohlwollende Kritik diese Arbeit nicht zu Stande gekommen wäre. Herrn Prof. Dr. Wolfgang Mitsch danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens und seine wertvollen Anregungen. Danken möchte ich außerdem meiner Mutter, Anna Helena Beckemper, für die Durchsicht des Manuskripts. Ihr und meinem verstorbenen Vater, Gerhard Beckemper, widme ich dieses Buch. Potsdam, im Mai 2002

Katharina Beckemper

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Erster Teil Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

33

§ 1 Bedeutung des Verteidigerbeistandes in der ersten polizeilichen Vernehmung . . . . .

33

1. Eingeschränkte Fähigkeit des Beschuldigten zur Selbstdefension . . . . . . . .

33

2. Einfluss der Ergebnisse der ersten Vernehmung auf das gesamte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

3. Unzulänglichkeiten des Vernehmungsprotokolls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

§ 2 Verteidigerkonsultationsrecht als Ausdruck des fairen Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

1. Ableitung des Verteidigerkonsultationsrechts aus dem Prinzip der fairen Verfahrensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

b) Anerkennung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

c) Erhobene Kritik am fair-trial-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

2. Rechtsnatur der Garantie auf faire Verfahrensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

§ 3 Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht in der ersten Vernehmung . . . . . .

45

1. Einführung der Belehrungsvorschrift in die StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

2. Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht bei bestehendem Mandatsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

10

Inhaltsverzeichnis

§ 4 Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten als Inhalt der Prozesssubjektivität . . . . .

49

1. Subjektsstellung des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

2. Eigenverantwortlichkeit als Inhalt der Subjektsstellung . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

§ 5 Verwertungsverbote als Folge der Pflichtverletzung der Vernehmenden in der ersten Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

I. Verwertungsverbot bei Verhinderung der Verteidigerkonsultation . . . . . . . . . . . .

53

1. Ungeklärte Funktion der Verwertungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

2. Theoretische Ansätze zur Bestimmung der Verwertungsverbote . . . . . . . . .

55

a) Rechtskreistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

b) Schutzzwecklehren . . .. .. . . .. . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . .. . . . .. .. . . .. .

56

c) Abwägungstheorie.. . .................. ..... ........... . .. .. ... .....

57

3. Verwertungsverbot als Folge der Verhinderung der Verteidigerkonsultation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

a) Verwertungsverbot bei schweren Beeinträchtigungen der Rechtsstellung des Beschuldigten . . .. . . .. . . . . . . . . . . .. .. . . .. . . . . . . . .. .. . . . . . .. .

59

b) Kein Verzicht auf Abwägung .. .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. . .. .. .

60

c) Erfordernis der Konkretisierung des Beweiserhebungsverbotes . . . . .

61

li. Verwertungsverbote bei fehlender Belehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

1. Schweigerecht . . .. . . . .. .. . . .. . . .. . . .. .. .. . .. .. . . . . . . . . .. . . . .. .. . .. . . . .. .

62

2. Verteidigerkonsultationsrecht . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . .. . .. .. . . . . . .

63

Zweiter Teil

BegritT der Beschuldigtenvernehmung

65

§ 6 Definition der Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

I. Formfreiheit der Vernehmung . . . . .. . . .. . .. . . . . . . . .. .. . . .. . . . .. . .. .. . . . .. . . . .

65

li. Veranlassung einer Äußerung durch ein offen auftretendes Strafverfolgungsorgan . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .

67

1. Verstoß gegen Schutzvorschriften durch heimliche Befragungen? . . . . . . .

67

Inhaltsverzeichnis

11

a) Keine Anwendbarkeit des § 136a StPO auf heimliche Befragungen

68

b) Umgehung der Belehrungsvorschrift durch heimliche Befragungen?

70

2. Reichweite des nemo-tenetur-Grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

3. Schutz der eigenverantwortlichen Entscheidung des Beschuldigten . . . . . .

74

a) Freiheit der Selbstbelastung als Ausdruck der Subjektsstellung des Beschuldigten . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . ..

74

b) Selbstbestinunung als Inhalt der Rechtssubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . .

75

4. Folgerungen aus dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit für die Zulässigkeit von heimlichen Befragungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

III. Das Merkmal der Innerprozessualität .. . . . .. . . .. . .. . . . . .. . .. . . . . .. . . . .. . . . . . .

79

IV. Merkmale der Vernehmung . . . . . .. . . . .. . . . .. .. . . .. . . . . .. . .. . . . . .. . . . .. . . . . . .

79

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung von der sog. informatorischen Anhörung . . . . . . . . . . .

80

I. Informatorische Befragungen als strafprozessuale Ennittlungsmaßnahme . . .

81

1. Abgrenzung der repressiven informatorsieben Befragungen von Orientierungsfragen . . .. . . . .. . . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . .. . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . .

81

2. Informatorische Befragungen als Befragungsform zwischen Orientierungsfragen und Vernehmung . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . .. . . . . . . . . . . .. . .

82

a) Begründungen für die Existenz der informatorischen Befragung . . . .

82

b) Bewertung der Zulässigkeil der informatorischen Befragung in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

3. Anerkannte Anwendungsbereiche der informatorischen Befragung . . . . . .

85

4. Grenzen der Zulässigkeil der informatorischen Befragung . . . . . . . . . . . . . . .

86

5. Voraussetzung für die Existenz der informatorischen Befragung . . . . . . . . .

87

II. Innerprozessualität der informatorischen Befragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

1. Anerkennung der Vorennittlungen durch die Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

2. Anfangsverdacht als Anlass der Ennittlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

a) Tatsachengrundlage des Anfangsverdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

b) Wahrscheinlichkeit einer verfolgbaren Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

12

Inhaltsverzeichnis c) Beurteilungsspielraum der Polizeibeamten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

d) Fehlender Anwendungsbereich eines Vorermittlungsverdachts . . . . . .

94

3. Unzulässigkeit von "Vorermittlungen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

4. Einleitung des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

a) Regelung des § 397 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

b) Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

c) Einleitung des Ermittlungsverfahrens durch sog. "informatorische Befragungen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

III. Die zur Aussage veranlasste Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

l. Verdächtiger als Auskunftsperson sui generis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

2. Informant als Auskunftsperson der informatorischen Befragung? . . . . . . . . 100 IV. Qualifizierung der informatorischen Befragung als Zeugenvernehmung . . . . . 101 1. Fehlende Belehrungspflicht als einziges Unterscheidungsmerkmal . . . . . . 101 2. Gleichsetzung von Zeugenvernehmungen und informatorischen Befragungen in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Schutzvorschriften der StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 V. Abgrenzung der Vernehmung von der Spontanäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 l. Fehlende Veranlassung zur Äußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

2. Beginn der Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 VI. Vorbesprechungen als Teil der Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 § 8 Begrundung der Beschuldigteneigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 l. Begriindung der Beschuldigteneigenschaft nach objektiven Kriterien . . . . 106

2. Abhängigkeit der Beschuldigteneigenschaft von einem Willensakt der Strafverfolgungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Rechtsgedanke des § 397 AO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 § 9 Zweck der Beschuldigtenvernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

I. Gewährleistung der Verteidigung als Zweck der Vernehmung nach der StPO

110

Inhaltsverzeichnis

13

1. Entstehungsgeschichte des § 136 Abs. 2 StPO

110

2. Die zwingend vorgeschriebene Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Nemo-tenetur-Grundsatz................................................ 112 II. Die abweichende Konzeption der herrschenden Meinung........... . ....... . 113 1. Vernehmung als Beweisaufnahme i.w.S .......

00.00

00.00.

00

••

00



••

00

••

00

113

2. § 136a StPO als Ausdruck der Funktion der Sachverhaltsaufklärung . . . . . 115 3. Erscheinenspflicht des Beschuldigten .

00

•••••

00



••••••••

00.00.

00

••

00....

115

III. Ermöglichung der Verteidigung als Zweck der Beschuldigtenvernehmung . . . 117 1. Entwicklung der Diskussion in der strafprozessualen Literatur . . . . . . . . . . 117 2. Mangelnde Überzeugungskraft der kriminalistischen Notwendigkeiten . . 119 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Dritter Teil

Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts

121

§ 10 Verbot der Verhinderung der Kontaktaufnahme zum Verteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I. Anerkennung des Verbots der Verweigerung des Verteidigerkonsultationsrechts in Rechtsprechung und Literatur.................................. . ... 121

II. Herleitung des Verbots der Verhinderung des Verteidigerkonsultationsrechts . 123 1. Faktische Durchsetzbarkeil als Inhalt der Belehrungspflicht?.... . ... . ... 123 2. Durchsetzbarkeil des Verteidigerbeistandsrechts als Voraussetzung der Belehrungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Herleitung des Verhinderungsverbots aus dem Verteidigerkonsultationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Verteidigerkonsultationsrecht in jeder Phase des Verfahrens . . . . . . . . . 126 b) Verteidigerkonsultationsrecht als Abwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) Verbot der Be- oder Verhinderung als Inhalt des Abwehrrechts . . . . . . 127 III. Verbot der Be- bzw. Verhinderung der Verteidigerkonsultation . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Bedeutung des Rechts auf Nichthinderung von Handlungen . . . . . . . . . . . . . 129

14

Inhaltsverzeichnis a) Definition der Be- bzw. Verhinderung aus der Sicht des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Definition der Be- bzw. Verhinderung in Abhängigkeit vom Erfolg . 130 c) Der klärungsbedürftige Begriff des Hindems der Ausübung des Verteidigerbeistandsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Verbot der Be- bzw. Verhinderung der Verteidigerkonsultation als Beweisgewinnungsverbot.. . .................. . ... . . ................. . . .. . . 131 a) Verfahrensvorschriften als Beweiserhebungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Erhebung eines Beweises als Voraussetzung eines Beweisgewinnungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Hinderungsgründe der Verteidigerkonsultation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) Absolute Hinderungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Relative Hinderungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . 135 IV. Das Verbot einer Verweigerung der Verteidigerkonsultation in der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Die Auffassung des 4. Strafsenats, BGHSt 38, 372 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Die Auffassung des 3. Strafsenats, BGH, NJW 1992,2903 . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Die unterschiedliche Rechtsauffassung der beiden Strafsenate . . . . . . . . . . . 140

§ 11 Freie Willensentschließung des Beschuldigten . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . 142 I. Maßstab des § 136a StPO . . . .. . . .. . .. . . . . . .. . . . . . .. . .. . . . . . .. .. . . . . . . . . . .. . . 142

1. Erheblichkeil der Einwirkungen i. S. d. § 136a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Verhältnis des§ 136a StPO zum Zweck der Vernehmung....... . . .. . .... 144 3. Unmöglichkeit der völlig freien Entscheidung als Prämisse des § 136a StPO .. ... . .............. .. .. . ... . ....... .. .. . .... . . . . .. .. ...... . ... . ... 145 II. Freiwilligkeit des Verzichts des Beschuldigten auf den Verteidigerbeistand . . 146 1. Psychologisierende Umschreibung der Freiwilligkeit...... . .. . . . .... . ... 147 2. Grundsätze der Bestimmung der Freiwilligkeit im Rahmen des § 24 StOB 148 a) Psychologisierende Beschreibung der Freiwilligkeit i. S. d. § 24 StOB ......... . .. . . ..................... .. ... .. ... . ..... .. .. . .... .. . 148 b) Normative Begriffsbestimmung der Freiwilligkeit i. S. d. § 24 StOB

149

Inhaltsverzeichnis

15

c) Übertragung des nonnativen Freiwilligkeitsbegriffs auf den freiwilligen Verteidigerverzicht................ . ... .. .............. . . . ... .. 150 111. Anwendung der Grundsätze der Einwilligung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Unbeachtlichkeit einer auf Drohung oder Zwang basierenden Einwilligung ................ . ... . ................ . ....... . ................ . . .... 153

2. Unbeachtlichkeit einer auf einem Irrtum basierenden Einwillgung

155

IV. Bestimmung der verbotenen Einwirkungen anband der Verbotsnorm . . . . . . . . 158 § 12 Das Merkmal der Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

I. Die Auflösung des sog. klassischen Grundrechtseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 II. Die Merkmale des sog. klassischen Eingriffbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Die Imperativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

a) Verzicht auf das Merkmal der Imperativität in der Grundrechtsdogmatik ....... . ... . . .. . ................. . ... . . . .. .... . ... . .. .. ... . .. . . 162 b) Anerkennung der Wirkungsweise geistigen Einflusses in der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 c) Grundrechtsrelevanz nicht-imperativer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . 166 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Rechtliche Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 3. Die Finalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Unbewusste Verhinderung der Rücksprache mit dem Verteidiger . . . . 171 b) Bewusste Verhinderung der Rücksprache mit dem Verteidiger . . . . . . 173 4. Unmittelbarkeit der Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 111. Beeinträchtigungserfolg als bestimmendes Merkmal der Grundrechtsbeeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Anerkennung der Zurechenbarkeit des Beeinträchtigungserfolges als maßgebliches Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2. Die Lehre vom Handlungsunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

16

Inhaltsverzeichnis

§ 13 Zurechenbarkeit der Aussage ohne Verteidiger zum Staatshandeln

180

I. Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1. Anwendung der strafrechtlichen Kausaltiätstheorie in der Grundrechtsdogmatik . . .. . . . .. . .. . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . .. . . . . .. . . .. . . . 181 a) Bestimmung der Kausalität nach der Äquivalenztheorie . . . . . . . . . . . . . 181 b) Keine Einschränkung der Kausalität durch Anwendung der Adäquanztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2. Ursachenzusammenhangtrotz der menschlichen Willensfreiheit . . . . . . . . 183 3. Kausalität der Einwirkungen auf den Beschuldigten für den Verteidigerverzicht . .. . . . .. . . .. . . .. . . . . .. . . .. . . .. . . .. . . . . .. .. . .. . . . .. . . . .. . . . .. . . .. . 186 4. Bestimmung des Ursachenzusammenhangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 5. Zusammenfassung . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 190 II. Kriterien der Zurechnung in der Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Ansätze zur Entwicklung spezifischer Zurechungskriterien . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Von der Wirkungsweise des Staatshandeins abhängige Kriterien . . . . . . . . 191 3. Anwendung der zivilrechtliehen Zurechnungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 111. Kriterien der Zurechnung bei selbstschädigendem Verhalten im Deliktsrecht

195

1. Einschränkung der Haftung aus Schutzbereichserwägungen . . . . . . . . . . . . . 195 2. Sonstige deliktsrechtliche Zurechnungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Zurechnungskriterium der Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 b) Abhängigkeit der Zurechnung von den Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 199 c) Unzulänglichkeit der zivilrechtliehen Kriterien zur Abgrenzung der Fremd- von der Selbstschädigung . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 200 3. Anwendung der strafrechtlichen Zurechnungskriterien im Deliktsrecht . . 201 IV. Prinzip der Eigenverantwortlichkeit in der strafrechtlichen Zurechnungslehre . . . .. .. . . .. . ....... .. .. . ... .. ............. . ... . .. . . . .. . ... . . . .... . . .. . .. 202 1. Prinzip der Eigenverantwortlichkeit als Zurechnungskriterium . . . . . . . . . . 202

2. Grenze der Eigenverantwortlichkeit . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. .. . 204

Inhaltsverzeichnis

17

V. Unzulänglichkeit der Zurechnungskriterien zur Bestimmung der verbotenen Hinderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 § 14 Vorschrift zum Schutz einer Selbstschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

I. Notwendigkeit des Mitwirkungsaktes des Opfers als Charakteristikum der Selbstschädigungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

1. Notwendiger Mitwirkungsakt des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2. Anerkennung der Eigenständigkeil der Selbstschädigungsdelikte im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3. Anwendung der strafrechtlichen Kriterien zur Bestimmung der verbotenen Hinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 II. Eingeschränkte Verantwortlichkeit als Voraussetzung eines Selbstschädigungsdelikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 l. Eingeschränkte Verantwortlichkeit in Strafrechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2. Eingeschränkte Verantwortlichkeit des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 § 15 Berücksichtigung der Opfennitverantwortung im materiellen Strafrecht . . . . . . . . . . 211

I. Der Ansatz der Viktimo-Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Anliegen der Viktimo-Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

2. Bedeutung des selbstschädigenden Charakters der Opfennitwirkung . . . . 213 3. Fehlende Schutzbedürftigkeit und-würdigkeitdes Opfers . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Verhältnis zwischen Schutzbedürftigkeit des Opfers und Strafbedürfnis... . .. .. .. .. .. ... .. .. . .. . .. .. . . . . .. . . .... . . .. .. .. .. ....... . . . .. .. . 214 b) Abgrenzung der Schutzbedürftigkeit von der Schutzwürdigkeit . . . . . 215 c) Verzichtbarkeil des Strafwürdigkeitsarguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4. Zumutbarkeit des Selbstschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 5. Anerkennung des viktimo-dogmatischen Ausgangspunktes . . . . . . . . . . . . . 220 II. Berücksichtigung der Opfennitverantwortung bei Selbstschädigungsdelikten 220 l. Relevanz des Selbstschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2. Opfennitverantwortung im Nötigungstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Opfermitverantwortung im Betrugstatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 2 Seckernper

18

Inhaltsverzeichnis 4. Tatbestandsausschluss durch die Mitwirkung des Opfers als allgemeines Problem der Selbstschädigungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

§ 16 Zurechnung des Erfolges bei Selbstschädigungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

I. Einschränkung der Beziehungsdelikte als Problem der Zurechnung . . . . . . . . . . 225 1. Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs durch die Übernahme der Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

2. Prinzip der Eigenverantwortlichkeit als Zurechnungsausschlussgrund . . . 227 a) Fehlende Schutzbedürftigkeit als Folge der Eigenverantwortlichkeit

227

b) Prinzip der Eigenverantwortlichkeit als Zurechnungsausschlussgrund bei den Fremdschädigungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs in der viktimo-dogmatischen Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 229 4. Allgemeine Anwendbarkeit der Zurechnungslösung............ ... ..... . 231 Il. Der im Bereich der Selbstschädigungsdelikte anzuwendende Maßstab . . . . . . . 232 l. Mitverschulden des Betrugsopfers und Schutzzweck der Norm . . . . . . . . . . 232 2. Das Selbstverantwortungsprinzips i. S. d. § 240 StGB als Zurechnungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3. Der im Rahmen des Selbstbehauptungsprinzips anzuwendende Maßstab

236

a) Subjektiver Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 b) Objektiver Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 c) Besonnener Durchschnittsmensch als Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 § 17 Übertragbarkeit des Gedankens des zurnutbaren Selbstschutzes in das Strafprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

I. Subsidiarität strafprozessualen Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

I. Vorrang des Selbstschutzes vor staatlichem Schutz als allgemeines Prinzip . . ....... . .............. .. ................ . .. . . ... . .......... . ...... . . 242 2. Vorrang des Selbstschutzes im Strafprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3. Vorrang des Selbstschutzes als Folge der Eigenverantwortlichkeit . . . . . . . 245

Inhaltsverzeichnis

19

li. Übertragbarkeit strafrechtlicher Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 III. Anwendung des Selbstbehauptungsprinzips im Strafprozessrecht . . . . . . . . . . . . 246 § 18 Anwendung des Selbstbehauptungsprinzips auf das Verbot der Hinderung der Verteidigerkonsultation . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . .. . . . 247 I. Zumutbarkeit des Selbstschutzes .. . . .. . . . . .. . . . . .. . . . .. .. .. .. . . .. .. .. .. . . . . . 247 1. Recht des Beschuldigten auf Verteidigung .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 248

2. Persönliche Situation des Beschuldigten . . . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 250 a) Besondere Disposition des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 b) Bildungsstand des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 c) Erfahrung im Umgang mit Strafverfolgungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . 253 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 li. Anwendung des Selbstbehauptungsprinzips auf typische Einwirkungen . . . . . 254 1. Vermittlung von Informationen .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 254

2. Zuredende Einwirkung auf den Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3. Weitere Einwirkungen in offenen Konfliktsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 4. Einwirkungen ohne eine offene Konfliktsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 5. Einwirkung durch Täuschung oder die Anwendung von List . . . . . . . . . . . . 261 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Vierter Teil

Hilfspflichten zur Durchsetzung des Verteidigerrechts

265

§ 19 Beeinträchtigung des Verteidigerkonsultationsrechts durch die Verweigerung von Unterstützungshandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 I. HUfspflichten in der Rechtsprechung . . .. . . .. . . . . . . . .. .. . . .. .. .. . .. . . .. .. . . . . 267

1. Ansicht des 5. Strafsenats, BGHSt 42, 15 .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 267

2. Ansicht des 1. Strafsenats, BGHSt 42, 170 .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 268 3. Von der Rechtsprechung ungeklärte Fragen . . .. . .. . . . . . .. . . .. .. .. .. .. .. . 269 2*

20

Inhaltsverzeichnis II. Verstoß gegen das Beeinträchtigungsverbot durch Verweigerung technischer Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 I. Grundrechtliche Freiheit zur Benutzung öffentlicher Einrichtungen . . . . . 270 2. Anwendung des Selbstbehauptungsprinzips auf die Verweigerung der technischen Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 III. Verteidigerkonsultationsrecht als Rechtsgrundlage weitergehender Hilfspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1. Verbot der Hinderung des Verteidigerkonsultationsrechts und das Unterlassen aktiver Hilfeleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2. Verteidigerkonsultationsrecht . . . . . .. . . . . . . . . . .. .. . .. . .. . . .. . . . . . . .. . . . . . 273 3. Belehrungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

§ 20 Fürsorgepflicht als Rechtsgrundlage der aktiven Hilfspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 I. Grundlagen der Fürsorgepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 1. Grund und Grenzen der Fürsorgepflicht .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 277 2. Grundsätzliche Anerkennung der Fürsorgepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 II. Fürsorgepflicht als Folge der Subjektverantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. Eigenverantwortlichkeit als Anknüpfungspunkt der Fürsorgepflicht . . . . . 280 2. Eigenverantwortlichkeit als Grenze der Fürsorgepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 III. Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten und Durchsetzung des Verteidigerkonsultationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

1. Abgrenzung der Verantwortungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 2. Auflösung des Widerspruchs in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 § 21 Pflicht zur erneuten Belehrung nach gescheiterter Kontaktaufnahme . . . . . . . . . . . . . 287 I. Notwendigkeit und Inhalt einer erneuten Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht . . . . . .. . . . .. . . .. . .. . . . . . . . . . .. . . .. . . .. . . . .. . . . . . . .. .. . 287

Inhaltsverzeichnis 2. Fürsorgepflicht als Rechtsgrundlage der erneuten Belehrung

21 288

3. Verwertungsverbot als Folge der unterlassenen erneuten Belehrung . . . . . 289 4. Keine Notwendigkeit eines ausdrücklichen Einverständnisses zur Fortsetzung der Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 5. Zusammenfassung . . .................... .. ... . ............... . ....... .. . 290 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Abkürzungsverzeichnis

A.A.

Anderer Ansicht

abgedr. abl. Abs.

abgedruckt ablehnend Absatz

Abschn.

Abschnitt

AcP

Archiv für die civilistische Praxis

AG AG StratR

Amtsgericht

AKGG AKStPO

Alternativkommentar zum Grundgesetz Alternativkommentar zur Strafprozessordnung

Alt. a.M.

Alternative Andere Meinung

Anm.

Anmerkung

AnwBl. AO

Anwaltsblatt Abgabenordnung

AöR ArchKrim

Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art.

Artikel

AT Az. Bad.-Württ.

Allgemeiner Teil Aktenzeichen

BayObLG

Bayerisches Oberstes Landesgericht

BayObLGSt.

Entscheidungen des Bayrischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen

BayVBl. BayVerfGH

Bayrische Verwaltungsblätter Entscheidungen des Bayrischen Verwaltungsgerichtshof mit Entscheidungen des Bayrischen Verfassungsgerichtshofs

Arbeitsgruppe Strafrecht

Archiv für Kriminologie

Baden-Württemberg

BB

Der Betriebsberater

Bd.

Band

begr.

Begründet

Beschl. BGB

Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl.

Bundesgesetzblatt

Abkürzungsverzeichnis BGH BGHSt

Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

BGHZ BK

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BKA BR-Drs.

Bundeskriminalamt Drucksache des Bundesrats Besonderer Teil

BT BT-Drs.

Bonner Kommentar zum Grundgesetz

Drucksache des Bundestags

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE BVerwG BVerwGE bzgl. bzw.

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts

DAR DAV

Deutsches Autorecht Deutscher Anwaltsverein

ders. d.h.

derselbe das heißt

dies.

dieselbe Dissertation

Diss. DJT DÖV DRiZ DVBI. Einl. EMRK EuGHMR EuGRZ evtl. f. ff.

bezüglich beziehungsweise

Deutscher Juristentag Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt Einleitung Europäische Menschenrechtskonvention Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Europäische Grundrechte-Zeitschrift eventuell folgende fortfolgende

Fn.

Fußnote

GA gern. GG

Goltdammer's Archiv für Strafrecht gemäß Grundgesetz

Halbs. HdBdStR

Halbsatz Handbuch des Staatsrechts

HdBdVerf

Handbuch des Verfassungsrechts

HKStPO h.L. h.M. i.E.

Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung herrschende Lehre herrschende Meinung im Ergebnis

23

24

Abkürzungsverzeichnis

i.e.S. i.S. i. s. d. i.V. i.V.m. i.w.S. JA JK JR jur. Jura JuS JW JZ

im engen Sinne im Sinne im Sinne des in Verbindung in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter Jura Kartei Juristische Rundschau juristisch(e) Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung

Kap. KG

Kapitel Kammergericht Kritische Justiz Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung Kleinknecht I Müller I Reitberger, Kommentar zur Strafprozessordnung

KJ KK

KMR

Krit. KritV LG LK LR MDR MRK MSchrKrim m.w.N.

NJW

Nr. NS NStZ NVwZ NZV OLG OVG Pkw Prot. Rdnr. RG

Kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Landgericht Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch LöweiRosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz Monatsschrift für Deutsches Recht Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nationalsozialismus Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Personenkraftwagen Protokolle Randnummer Reichsgericht

Abkürzungsverzeichnis RGSt

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

RiStBV

Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren

Sch!HA

Seite bzw. Satz Schleswig-Holsteinische Anzeigen

s.

SKStGB SKStPO sog.

25

Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch Systematischer Kommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz sogenannte(r)

Sten.Ber.

Stenographischer Bericht

Sten.Prot. StGB StPÄG

Stenographische Protokolle

StPO

Strafgesetzbuch Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung Strafprozessordnung

StR

Strafsenat

StrFo

Strafverteidiger Forum

StV

Strafverteidiger

u. a. u.U.

und andere bzw. unter anderem unter Umständen

V.

von, vom

VBlBW

Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg

Verf.

Verfasserio

VersR VerwArch VG

Versicherungsrecht Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht

VGH

Verwaltungsgerichtshof

vgl.

vergleiche

V-Leute(N)

Vertrauensleute(n)

Vorbern. VRS VVDStRL

Vorbemerkung(en) Verkehrsrechtssammlung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung

wistra

Zeitschrift für Wirtschaft-Steuer-Strafrecht

z.B. zfs

zum Beispiel Zeitschrift für Schadensrecht

Ziff.

Ziffer

zit.

zitiert

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

z.T. zugl.

zum Teil zugleich

zust.

zustimmend

Einleitung Das Recht auf einen Verteidiger in der ersten polizeilichen Vernehmung gehört - nicht zuletzt durch die Berichterstattung in den Medien - zu den auch in der Öffentlichkeit bekanntesten Rechten des Beschuldigten im Strafverfahren. Da die Bedeutung des Verteidigerkonsultationsrechts in der ersten polizeilichen Vernehmung heute zudem nicht mehr umstritten ist 1, mag es auf den ersten Blick erstaunen, diesem Recht und insbesondere seiner Durchsetzbarkeit eine monographische Arbeit zu widmen. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO schreibt die Belehrung über das Recht auf einen Verteidiger vor, und es ist allgemein anerkannt, dass die Vernehmung zu unterbrechen ist, wenn der Beschuldigte die Hinzuziehung eines Verteidigers wünscht2 • Daneben wird - zumeist im Zusammenhang mit der Belehrungspflicht - darauf verwiesen, die Vernehmungsbeamten hätten dem Beschuldigten auch die technischen Möglichkeiten - Diensttelefon, Faxgerät, Telefonbuch - zur Kontaktaufnahme zur Verfügung zu stellen 3 .

Es besteht also scheinbar sowohl über das Recht auf einen Verteidiger als auch über die Pflicht, die faktische Durchsetzbarkeit des Rechts zu gewährleisten, Einigkeit. Aus diesem Grunde wurde auch das Urteil BGHSt 38, 372, in dem der 4. Senat ein Verwertungsverbot annahm, wenn die Ausübung des Verteidigerbeistandsrechts verweigert wird, einhellig begriißt4 • Der Grundsatz, die Durchsetzung des Rechts auf einen Verteidiger dürfe nicht verhindert werden, mutet so selbstverständlich an, dass er scheinbar weder einer Herleitung noch einer Konkretisierung bedarf. Es kann nämlich schwerlich überzeugen, dass die Vernehmungsbeamten den Beschuldigten zwar zunächst auf sein Recht hinweisen müssen, dann aber die Durchsetzung verhindem dürften. Hellmann, Strafprozessrecht, Teil JI, § 5 Rdnr. 13. BGH, Az. 5 StR 604/84 v. 02 .10. 1984 (LG Bremen), zit. in: Strate/Ventzke, StV 1986, 30 ff.; BGH, NJW 1992, 2903; BGHSt 38, 372; 42, 15; BGH, wistra 1999, 29; Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 14; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 566; Gundlach, in: AKStPO, § 136 Rdnr. 25; Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 29; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil li, § 5 Rdnr. 26; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 10; Kühne, Strafprozessrecht, Rdnr. 356; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 24; Müller; in: KMR, § 136 Rdnr. 11; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 37. 3 Vgl. die Nachweise in Fn. 2. 4 Beulke, NStZ 1996, 257; Hamm, NJW 1996, 2185 ff.; Herrmann, NStZ 1997, 209; Jung, JuS 1993, 428; Kaufmann, NStZ 1998, 474; Kiehl, NJW 1993, 501; Lesch, JA 1995, 157; Rieß, JR 1993, 334; Rogall, in: 2. Deutsch-ungarisches Kolloquium, S. 75, 94; Roxin, JZ 1993,426. I

2

28

Einleitung

Das ist wahrscheinlich der Grund, dass bislang weder dargelegt worden ist, woraus sich das Verbot der Verhinderung der faktischen Rechtsdurchsetzung ergibt, noch der Versuch unternommen wurde, zu klären, was unter der Verweigerung der Verteidigerkonsultation zu verstehen ist. Der Blick auf einige mögliche Verhinderungsmethoden zeigt jedoch, dass die Frage, was Verhinderung der Verteidigerkonsultation konkret bedeutet, nicht beantwortet werden kann, wenn kein Maßstab zur Beurteilung gefunden wird. Ist es beispielsweise eine Verweigerung, wenn der Vernehmungsbeamte auf den Wunsch des Beschuldigten, einen Verteidiger hinzuziehen zu wollen, mit der Bemerkung "Ein Unschuldiger braucht keinen Verteidiger" reagiert? Muss es schon als Verhinderung der faktischen Rechtsdurchsetzung gelten, wenn der Vernehmende den Beschuldigten darauf hinweist, dass man ohne Verteidiger in einer halben Stunde fertig sei oder die Hinzuziehung eines Beistandes nur für unnötige Öffentlichkeit sorgen würde? Diese Fragen sind deshalb so schwierig zu beantworten, weil der Beschuldigte auf die Inanspruchnahme seines Rechts auch jederzeit wieder verzichten kann. Der BGH5 versucht deshalb das Problem der Konkretisierung der Verweigerung zu lösen, indem er eine prozessordnungswidrige Verhinderung dann ablehnt, wenn der Beschuldigte "freiwillig" auf die Ausübung seines Verteidigerrechts verzichtet hat. Wie die Freiwilligkeit des Verzichts zu bestimmen ist, lässt der BGH dabei freilich offen. Wie die nähere Untersuchung zeigen wird, ist es auch nicht möglich, den freiwilligen Verzicht näher zu umschreiben, weil die Begriffe Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit nicht zuverlässig voneinander abzugrenzen sind. Was unter dem Verweigern der Verteidigerkonsultation zu verstehen ist, lässt sich nur beantworten, indem nicht auf den freiwilligen Verzicht des Beschuldigten abgestellt, sondern abstrakt bestimmt wird, welche Handlungen in das verfassungsrechtlich abgesicherte Verteidigerbeistandsrecht eingreifen. Das Recht auf einen Verteidiger ist nicht nur in der StPO einfachgesetzlich geregelt, es ist nach der Rechtsprechung des BVerfG ein dem Beschuldigten zustehendes Prozessgrundrecht6 , das in seiner Funktion als Abwehrrecht eine Verbotsnorm für staatliche Organe darstellt. Deshalb soll das Verbot der Verhinderung der Verteidigerkonsultation, das in eine öffentlich-rechtliche Handlungsbeschränkung umformuliert werden kann, mit Hilfe der grundrechtsdogmatischen Kriterien beschrieben werden, die abstrakt bestimmen, welche Handlungen dem Staat verboten sind. Die Feststellung, dass die Lösung nur unter Zugrundelegung grundrechtsdogmatischer Kriterien zu finden ist, weist zwar den richtigen Weg, sie kann aber allein nicht zum Ziel führen, weil es mit den grundrechtliehen Vorgaben nicht gelingt, die Verantwortung des Beschuldigten in die Bewertung einzubeziehen. Der BeBGHSt 38, 372; BGH, NJW 1992,2905. BVerfGE 38, 105, 1ll ; 39,238, 243; 46,202, 210; 63,380, 391; 64, 135, 149; 65, 171, 174; 66,313,318 f.; 68,237, 255; 70,297,322 f.; BVerfG, NStZ 1984, 176. 5

6

Einleitung

29

schuldigte hat es nämlich in der Hand, durch sein Schweigen die Möglichkeit der Konsultation zu erzwingen. Auf jeden Versuch der Vemehmungsbeamten, die Vernehmung ohne die Hinzuziehung eines Verteidigers durchzuführen, kann der Beschuldigte mit seinem Schweigen und der Ankündigung, ohne seinen Verteidiger keinerlei Angaben zu machen, reagieren. Es ist aber bislang nicht belegt worden, dass der Beschuldigte überhaupt darauf verwiesen werden kann, er hätte doch einfach schweigen können. Das Strafprozessrecht geht zwar von einem eigenverantwortlichen Beschuldigten aus, was die Annahme, der Beschuldigte müsse sich unter Umständen selbst schützen, nahe legt. Mehr als eine These kann diese Ansicht jedoch zunächst nicht sein. So finden sich in der Literatur7 auch Stellungnahmen, die so zu verstehen sind, dass jede Einwirkung auf den Beschuldigten verboten sei. Da ein Verbot jeglicher Einflussnahme mit der dem Strafprozessrecht zugrunde liegenden Eigenverantwortlichkeit kaum zu vereinbaren erscheint, ist Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung die These, dass nicht jede Einwirkung auf den Beschuldigten verboten ist und der Beschuldigte unter Umständen von seinem Schweigerecht Gebrauch machen muss. Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit ist aber zu konturenlos, als dass mit ihm diese These belegt werden könnte, weil aus der Eigenverantwortlichkeit alleine keine begründeten Ergebnisse hergeleitet werden können8 . Es ist daher nicht nur zu beweisen, dass nicht jeder Einfluss eine verbotene Verhinderung der Verteidigerkonsultation ist, sondern auch nach einem Rahmen zu suchen, in dem die Eigenverantwortlichkeit Berücksichtigung finden kann. Auf strafprozessuale Überlegungen kann dabei nicht zurückgegriffen werden. Im Zusammenhang mit den Beweisverboten wurde bislang fast ausschließlich der Frage Aufmerksamkeit gewidmet, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot ein Verwertungsverbot nach sich zieht. Wann überhaupt ein Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot zu bejahen ist, schien dagegen unproblematisch. Es ist aber- allerdings im Zusammenhang mit Beweisverwertungsverboten - in der neueren strafprozessualen Literatur9 darauf hingewiesen worden, dass sich sachgerechte Lösungen auch im Strafprozessrecht nur finden lassen, wenn die Kriterien der objektiven Zurechnung herangezogen werden. Diese Ansicht wird freilich nicht begründet und ist auch nicht unstrittig. Auch herrscht keine Einigkeit, ob strafrechtliche 10 oder zivilrechtliche 11 Kriterien herangezogen werden sollen. Der hier gewählte Lösungsweg wird zeigen, dass dieser Auffassung 7 Ransiek, Polizeivernehmung, S. 43 ff.; ders., StV 1994, 343, 344; Strate/Ventzke, StV 1986, 30, 31; krit. Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 69. Vgl. auch Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 565; Stree, JZ 1966, 593, 596. 8 So auch für das Strafrecht Amelung, ZStW 109 (1997), 490, 517; Reyes, ZStW 195 (1993), 108, 109. 9 Bauer; wistra 1993, 95, 101; Rogall, NStZ 1988, 385; Schlücher; JR 1984, 517, 519; Wolter; NStZ 1984, 276, 277. 10 Rogall, NStZ 1988, 385; Schlücher; JR 1984, 517; Wo lter; NStZ 1984, 276. II Bauer; wistra 1993,95, 101.

30

Einleitung

in der Grundaussage, auch im Strafprozessrecht seien Lösungen durch die Heranziehung der Kriterien der objektiven Zurechnung zu erreichen, zuzustimmen ist und sie sich auch dogmatisch belegen lässt. Der von dem grundrechtliehen Ansatz vorgegebene Ausgangspunkt macht es nämlich notwendig, die Frage nach einem öffentlich-rechtlichen Handlungsverbot mit Hilfe der objektiven Zurechnung zu beantworten. Bislang sind in der Grundrechtsdogmatik jedoch noch keine konsensfähigen Zurechnungskriterien entwickelt worden. Der Versuch - wie von der Grundrechtslehre vorgeschlagen 12 - zivilrechtliche Kriterien heranzuziehen, führt dabei nicht zu befriedigenden Ergebnissen. Da im Deliktsrecht zum Teil 13 auf strafrechtliche Kriterien verwiesen wird, soll versucht werden, diese für die Lösung fruchtbar zu machen. Aber auch die vom Strafrecht vorgegebenen Zurechnungskriterien können nicht zu überzeugenden Ergebnissen führen. Eine Lösung lässt sich nur finden, indem die Besonderheit des Verbotes- der notwendige Mitwirkungsakt des Beschuldigten - in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt wird. Das materielle Strafrecht bietet zwar keine Antwort auf die Frage, wie in den Tatbeständen, die einen Mitwirkungsakt des Opfers voraussetzen, die Zurechnungsfrage zu lösen ist. Es finden sich aber Ansatzpunkte, die Möglichkeit des Selbstschutzes bei der Tatbestandsauslegung zu berücksichtigen. Anband dieser Überlegungen ist es möglich, ein allgemeines Zurechnungsprinzip zu entwickeln, das den Selbstschutzmöglichkeiten Ausdruck verleiht und so das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit zu einem handhabbaren Kriterium macht. Diese im Strafrecht zu entwickelnde Lösung lässt sich auch in das Strafprozessrecht übertragen und dient so zur Beantwortung der Frage, was unter der Verhinderung der Verteidigerkonsultation zu verstehen ist. Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit muss auch bei der Beantwortung der sich anschließenden Frage, ob aktive Hilfspflichten der Vernehmungsbeamten bestehen, Beachtung finden. Der Hinweis auf das Verteidigerkonsultationsrecht und die Möglichkeit der tatsächlichen Durchsetzbarkeit reicht dem Beschuldigten dann nicht, wenn er keinen Verteidiger kennt und auch nicht weiß, wie er einen Rechtsanwalt finden soll. In einem neuerenUrteil befürwortet der BGH 14 die Pflicht der Vernehmungsbeamten, dem Beschuldigten bei der Suche nach einem Verteidiger behilflich zu sein. Bei einer Verletzung der Pflicht nimmt der 5. Strafsenat einen Verstoß gegen das Verbot, die Konsultation mit dem Verteidiger zu verhindern, an. Diese Entscheidung wurde in der Literatur zwar einhellig begrüßt15 . Es ist aber auch der StrafGrundlegend: Ramsauer; Faktische Beeinträchtigung. Hasse/blatt, Grenzziehung, S. 122; ebenso in Ansätzen: Niebaum, Deliktische Haftung, s. 66 ff. 14 BGHSt 42, 15. 15 Beulke, NStZ 1996, 257 ff.; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 568; Fahl, JA 1996, 747 ff.; Hamm, NJW 1996, 2185 f.; Hellmann, Strafpozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 29; Herrmann, NStZ 1997, 209; Jung, JuS 1996, 1037 f.; Kaiser; Beweisverbote, S. 156 ff.; Müller; StV 1996, 358 f.; Roxin, JZ 1997, 343 f.; Ventzke, StV 1996, 524 f. 12

13

Einleitung

31

rechtswissenschaft nicht gelungen, den Standpunkt des 5. Strafsenats hinreichend zu begründen. Vereinzelt wurde deshalb kritisch angemerkt, dass die Rechtsgrundlage für eine aktive Hilfspflicht der Vernehmungsbeamten bislang noch nicht dargelegt und es darüber hinaus auch offen geblieben sei, welche konkreten Pflichten unter die so benannten aktiven Hilfspflichten fallen 16 • Auch in der Rechtsprechung wird die Verpflichtung zu aktiver effektiver Hilfe nicht einhellig beurteilt. So zweifelte der 1. Senat 17 die vom 5. Strafsenat aufgestellten Grundsätze kurze Zeit später an. Aus dem Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger folge nicht das Verbot, einen aussagebereiten Beschuldigten ohne Verteidiger zu vernehmen, nur weil er zu einem früheren Zeitpunkt nach einem solchen verlangt habe. Die Zulässigkeit der weiteren Vernehmung hänge zudem nicht davon ab; dass die Vernehmungsbeamten den Beschuldigten bei der Suche nach einem Verteidiger in effektiver Weise geholfen hätten. Trotz der weitgehenden Anerkennung der vom 5. Strafsenat aufgestellten Grundsätze durch die Literatur ist damit keineswegs geklärt, ob eine aktive Hilfspflicht der Vernehmungsbeamten besteht. Da es grundsätzlich in den Verantwortungshereich des Beschuldigten fällt, sich einen geeigneten Verteidiger zu suchen 18 , bedarf es also schon einer besonderen Begründung, warum und gegebenenfalls in welchen Fällen und in welchem Umfang die Vernehmenden dem Beschuldigten die Verantwortung abnehmen müssen. Der Frage nach der Pflicht zur aktiven Hilfe wird im vierten Teil der vorliegenden Arbeit beantwortet. Bevor die Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts in der ersten polizeilichen Vernehmung untersucht werden kann, ist es notwendig, den Begriff der Vernehmung zu bestimmen. Während sich in späteren Verfahrensabschnitten, insbesondere in der Hauptverhandlung, aber auch bei Einvernahmen durch den Richter oder den Staatsanwalt im Vorverfahren keine größeren Probleme ergeben, das Vorliegen und den Beginn der Vernehmung zu bestimmen 19, kann es im Bereich der polizeilichen Befragung Abgrenzungsschwierigkeiten zu anderen Formen der Informationssammlung geben. Insbesondere die Abgrenzung der Vernehmung von der sog. informatorischen Befragung verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung. Auch der Zweck der Vernehmung ist weitgehend ungeklärt. In der Literatur20 wird überwiegend von einer Doppelfunktion der Vernehmung ausgegangen. Sie sei einerseits Mittel der Sachverhaltsaufklärung und andererseits Möglichkeit der Verteidigung. Umstritten ist lediglich die Gewichtung der beiden Ziele. Bei zutreffenSchneider. Jura 1997, 131 ff. BGHSt 42, 170. 18 Seelmann, NJW 1979, 1128, 1130. 19 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 4. 20 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 1; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 510; Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 35; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 14; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 1; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 7; Rothfuß, StrFo 1998, 289, 290; Wache, in: KK, § 163a Rdnr. 3; Wagner, ZStW 109 (1997), 545, 548. 16

17

32

Einleitung

dem Verständnis der Vorschriften der StPO kommt der Vernehmung jedoch kein doppelter, sondern ausschließlich der Zweck der Verteidigung zu. Zu beginnen ist jedoch mit einer Betrachtung der Grundlagen der Handlungspflichten der Vernehmungsbeamten. Dazu gehören die einfachgesetzlich geregelte Belehrungspflicht und die verfassungsrechtliche Absicherung des Verteidigerkonsultationsrechts. Eingeschränkt wird die Verpflichtung der Beamten durch die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten, die ebenfalls im ersten Teil erörtert wird. Außerdem bedarf es einer Antwort auf die Frage, ob Verstöße gegen die Handlungspflichten zu einem Verwertungsverbot der auf diese Art gewonnenen Beweise führen. Da die Annahme eines Verwertungsverbots im erheblichen Umfang von der Bedeutung des Verfahrensverstoßes für die rechtlich geschützte Sphäre des Betroffenen abhängt, ist zunächst die Bedeutung des Verteidigerkonsultationsrechts in der ersten Vernehmung herauszuarbeiten.

Erster Teil

Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten § 1 Bedeutung des Verteidigerbeistandes in der ersten polizeilichen Vernehmung Die Bedeutung des Verteidigerrechts in der ersten Vernehmung ergibt sich zum einen aus der eingeschränkten Fähigkeit des Beschuldigten zur Selbstdefension, zum anderen aus dem Einfluss der Ergebnisse der ersten Vernehmung auf das Verfahren. 1. Eingeschränkte Fähigkeit des Beschuldigten zur Selbstdefension

In keinem anderen Verfahrensabschnitt ist der Beschuldigte so wenig in der Lage zur Selbstverteidigung wie in der ersten Vernehmung. a) Die Ermittlungsvernehmung ist - abgesehen vom erfahrenen Vorbestraften für den Beschuldigten eine Kommunikationsform, deren Regeln ihm unbekannt sind 1 . Im Gegensatz zu anderen Beziehungen ist die Vernehmung dadurch gekennzeichnet, dass nur einer Seite ein Fragerecht zusteht und Informationen nur in eine Richtung abverlangt werden. Asymmetrische Beziehungen kommen zwar auch in anderen, dem Beschuldigten bekannten Situationen vor, wie z. B. zwischen Arzt und Patient. Trotz der Ähnlichkeit mit anderen asymmetrischen Beziehungen folgt die Vernehmung anderen Prinzipien und Grundsätzen. Die Vernehmung unterscheidet sich schon durch die mangelnde Vertraulichkeit der Informationen von anderen Kommunikationsformen 2 . Der Vernehmungsbeamte gibt die Informationen mit Sicherheit weiter, so dass der Beschuldigte es nicht mit einem Gesprächspartner zu tun hat, sondern mit einer Vielzahl von ,,Zuhörern", die unterschiedliche Funktionen und Interessen haben. Die Regeln der Kommunikation in einer Vernehmung sind dem Beschuldigten zwar auch in der Hauptverhandlung weitgehend unbekannr3. Im Unterschied zu der späteren Hauptverhandlung ist der Beschuldigte I Dahs, NJW 1965, 81, 95; Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 49; Müller; NJW 1981, 1801, 1804; Salditt, GA 1992, 51, 74; Schmitz /Plate, Kriminalistik 1978, 541, 542; Weihrauch, Verteidigung im Ermittlungsverfahren. Ausführlich zur Situation des Beschuldigten in der Vernehmung, Glatze/, StV 1992, 283, 284. z Glatze/, StV 1982, 283, 284.

3 Seckernper

34

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

in der Ermittlungsvernehmung jedoch oftmals völlig unvorbereitet und schon psychisch überfordert, steht dabei aber einem Kommunikationspartner gegenüber, der nicht nur in der Bewältigung der Situation geschult, sondern regelmäßig auch an der Überführung des Beschuldigten interessiert ist4 • Noch immer wird der Erfolg der Polizeiarbeit nach der Aufklärungsquote beurteilt5 . Das erzeugt einen enormen Druck, Fahndungserfolge möglichst schnell zu erzielen6 , und die Vernehmung wird als Gelegenheit verstanden, die Tat endgültig aufklären zu können7 . b) Deshalb nimmt die Schulung erfolgsversprechender Vernehmungstaktiken einen breiten Raum in der Ausbildung der Polizeibeamten ein8 . Nach der sog. "Überraschungstaktik" beispielsweise soll dem Beschuldigten ohne Umschweife in einer überraschenden Situation die Tat vorgeworfen werden mit dem Ziel, dass er so schnell keine Ausrede findet und die Tat zugibt. Bezeichnenderweise wird darauf hingewiesen, dass die Überraschungstechnik kaum mit der Belehrung zu vereinbaren ist9 . Eine andere Methode ist die sog. "Festlegebzw. Verstrickungstechnik". Dabei soll der Beschuldigte zunächst auf seine Aussage festgelegt werden, um sie dann aufgrund der vorliegenden Beweise nach und nach zu widerlegen und den Beschuldigten in sein "Lügengewirr zu verstricken" 10• Hierfür wird dann explizit empfohlen, Beweise zuerst zurückzuhalten, um sie später als nicht konform mit der Aussage zu präsentieren. Bei der "Verunsicherungstaktik" (auch "Zermürbungstaktik" genannt) sollen dem Beschuldigten durch Konfrontation mit der Realität die Aussichtslosigkeit des Leugnens vor Augen geführt und seine Widerstandsenergie abgebaut werden. Der Beschuldigte soll nach Möglichkeit über das Ermittlungsergebnis im Unklaren gelassen werden, und bekannt gegeben wird nur, was rechtlich und taktisch geboten ist. Eine besondere Variante innerhalb der Verunsicherungstechnik ist das sogenannte "Kreuzverhör", bei dem der Beschuldigte von mehreren Beamten abwechselnd in zügiger Reihenfolge befragt wird, wobei eine chronologische Abfolge der Fragen bewusst vermieden wird. Doch auch scheinbar freundschaftliche Vernehmungstechniken können zum 3 Deshalb weist Hammerstein, IR 1985, 140 ff. darauf hin, dass eine Selbstverteidigung in allen Verfahrensabschnitten eine unzureichende Verteidigung sei. 4 Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 732; Glatze/, StV 1982, 283, 284; Hassemer; ZRP 1980, 326, 327; Schmitz/Plate, Kriminalistik 1978,541,543. 5 Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 574; Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, s. 188. 6 Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 573. 7 Burghard, Kriminalistik 1991, 610, 612; Lange, Fehlerquellen im Ermittlungsverfahren, s. 188. s Vgl. zu den Vernehmungstaktiken die Darstellungen in den Lehrbüchern für Polizeibeamte: Geerds, Vernehmungstechnik, S. 79 ff.; Meyer/Wolf, Kriminalistisches Lehrbuch, S. 306 ff.; Schubert, Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 181 ff. Instruktiv außerdem: Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 594 ff.; Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 142 ff. 9 Schubert, Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 181. IO Schuber!, Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 185.

§ 1 Bedeutung des Verteidigerbeistandes

35

Erfolg führen. Die "Beichtvatertechnik" ("Gefühlstour") signalisiert Verständnis und Menschlichkeit des Vernehmenden und soll so zu einem Geständnis führen. Besonders empfohlen wird dabei die Kombination aus einem sog. harten Vernehmungsstil und der gefühlvollen Art. Nach der Verunsicherung des Beschuldigten soll ihm dann die verständnisvolle Hilfe bei der Erleichterung des Gewissens idealerweise durch einen anderen Vernehmungsbeamten - geboten werden, um ihn zu einem Geständnis zu motivieren. c) Der Beschuldigte, der mit diesen Vernehmungstaktiken nicht vertraut ist, kann sich im Regelfall schon aufgrund seiner Unkenntnis und Unerfahrenheit nicht ausreichend verteidigen. Die Bedeutung des Verteidigerbeistandsrechts ergibt sich jedoch erst aus der Kombination dieser Unfähigkeit zur Selbstdefension und dem Einfluss, die den Ergebnissen der ersten Vernehmung auf den Ausgang des Verfahrens zukommt.

2. Einfluss der Ergebnisse der ersten Vernehmung auf das gesamte Verfahren a) Einen direkten Eingang in die Hauptverhandlung durch eine Verlesung des Vernehmungsprotokolls zum Zwecke des Urkundenbeweises finden die Ergebnisse der ersten Vernehmung zwar nicht, insoweit begründet § 254 StPO ein Verwertungsverbot 11 . Nach Ansicht der Rechtsprechung 12 und der ganz h.A. in der Literatur13 ist aber eine Verlesung zum Vorhalt für die Klärung von Widersprüchen zulässig. Dabei soll nicht das Protokoll als solches Grundlage des Urteils werden, sondern die durch den Vorhalt herbeigeführte Einlassung des Angeklagten 14. Es ist schon zweifelhaft, ob eine solche Unterscheidung überhaupt möglich ist und ausgeschlossen werden kann, dass der Inhalt des verlesenen Protokolls die Überzeugungsbildung - insbesondere der Laienrichter - beeinflusst 15. Nicht zu vermeiden sind zumindest die negativen Auswirkungen, die abweichende Aussagen auf die Glaubwürdigkeitsbeurteilung des Angeklagten haben, denn die Beständigkeit einer Aussage wird im Allgemeinen als ein Indiz für ihren Wahrheitsgehalt gewertet und umgekehrt werden unterschiedliche Aussagen als Indiz für die Unwahrheit betrachtet 16. II A.A. Bohlander, NStZ 1998, 396 f., der ein polizeiliches Protokoll für verwertbar hält, wenn der Angeklagte zustimmt. 12 BGHSt 3, 281; 5, 278, 279; 11, 151; 14,310, 312; 21 , 285,287. 13 Diemer, in: KK, § 254 Rdnr. 10; Gollwitzer. in: LR, § 254 Rdnr. 85; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil IV, § 2 Rdnr. 29; Julius, in: HKStPO, § 254 Rdnr. 10; Kleinknecht I MeyerGoßner, § 254 Rdnr. 8; Kuckuck, Zulässigkeit von Vorhalten, S. 159 f.; Meier, in: AKStPO, § 254 Rdnr. 14. 14 BGHSt 14, 310, 312; 5, 278, 279; 21, 285, 287; Kuckuck, Zu1ässigkeit von Vorhalten, S. 159 f. 15 Dagegen: Niese, JZ 1953, 595, der die Unterscheidung für gekünselt und praktisch undurchführbar hält. Zustimmend Roxin, Strafverfahrensrecht, § 44 Rdnr. 18.

3*

36

I. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

Gegen die Zulässigkeit des Vorhalts aus dem polizeilichen Vernehmungsprotokoll werden daneben auch grundsätzliche Bedenken geltend gemacht. Der Gesetzgeber habe in § 254 StPO sein Mißtrauen gegenüber den Ergebnissen nicht-richterlicher Vernehmungen zum Ausdruck gebracht und den Beschuldigten vor dem Inhalt des Protokolls schützen wollen 17 . Inwieweit diesem Einwand zuzustimmen ist, kann im Rahmen dieser Arbeit offen bleiben. Für die Beurteilung der Bedeutung des Beistandes eines Verteidigers in der ersten Vernehmung reicht die Feststellung, dass der Vorhalt heute eine Vernehmungsmethode in einem Großteil der Hauptverhandlungen ist 18. b) Die Ergebnisse der ersten Vernehmung können nach Ansicht der Rechtsprechung19 und der h.M. in der Literatur20 zudem durch die Aussagen der Vernehmungsbeamten in die Hauptverhandlung eingebracht werden. Aus § 254 StPO folge nur ein Verlesungs-, nicht aber ein Verwertungsverbot, weshalb die Vernehmung der Verhörspersonen zulässig sei. Auch gegen diese Art der Verwertung der Erklärungen aus vorangegangenen nicht-richterlichen Vernehmungen werden jedoch gewichtige Einwände erhoben. Es widerspräche dem Sinn und Zweck des § 254 StPO, wenn die Ergebnisse nicht-richterlicher Vernehmungen mittelbar durch die Vernehmung der Verhörspersonen in die Hauptverhandlung eingeführt würden21 . Es sei zudem nicht zu erklären, warum das im Vergleich zur Zeugenaussage sichere Mittel des Urkundenbeweises verboten sein soll, wenn die Ergebnisse der Vernehmung mittelbar in der Hauptverhandlung verwertet werden können22• c) Die Rechtsprechung23 geht jedoch sogar noch darüber hinaus, indem sie den Vorhalt aus dem Vernehmungsprotokoll gegenüber der Verhörsperson für zulässig erachtet. Beweisgrundlage soll auch hier nicht das Vernehmungsprotokoll, sondern die Zeugenaussage des Polizeibeamten sein24. Nach Ansicht eines Teils der Literatur25 wird durch den Vorhalt die Grenze zwischen zulässigem Zeugenbeweis und unzulässigem Urkundenbeweis verwischt. Der Vernehmungsbeamte werde in den meisten Fällen die Angaben in dem Protokoll bestätigen, da er ansonsten eigene Prüfer, DRiZ 1977, 41, 42. Schroth, ZStW 87 (1975), 103, 130. 18 Richter /1, AnwBI. 1981, 337 f. 19 RGSt61, 72, 74; BGHSt 1, 337, 339; 3,149, 150; 14,310, 311; 22, 170, 171. 2o Hanack, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, S. 95; Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 254 Rdnr. 8; Pfeiffer. § 254 Rdnr. 1; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 44 Rdnr. 18. 21 Grünwald, JZ 1968,752, 754; Kuckuck, Zulässigkeil von Vorhalten, S. 196 f.; Meier. in: AKStPO, § 254 Rdnr. 14; wohl zust.: Julius, in: HKStPO, § 254 Rdnr. 10. 22 Kuckuck, Zulässigkeit von Vorhalten, S. 196 f.; Meier, in: AKStPO, § 254 Rdnr. 14. 23 BGHSt 22, 170, 172. 24 BGHSt 22, 170, 172, zust.: Fezer; JuS 1977, 520, 523. 25 Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 884; Grünwald, JZ 1968, 752, 754; Hanack, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, S. 95; ders., JZ 1972, 274; Julius, in: HKStPO, § 254 Rdnr. 11; Riegner. NJW 1961,63. 16 I7

§ 1 Bedeutung des Verteidigerbeistandes

37

Fehler eingestehe26. Der Vorhalt aus dem Protokoll, der vom Reichsgeriche7 noch als "unzulässige Reproduktion des Inhalts des Protokolls" gewertet wurde, ist heute entgegen der in Teilen der Literatur geäußerten Kritik aber vom BGH anerkannte Praxis. Der Beschuldigte muss also damit rechnen, dass der Inhalt des Vernehmungsprotokolls auf diese Weise mittelbar in die Hauptverhandlung eingeführt wird. d) Damit wird eine weitere wichtige Aufgabe des Verteidigers in der ersten polizeilichen Vernehmung deutlich: Da dem Vernehmungsprotokoll in der Hauptverhandlung eine erhebliche Bedeutung zukommt, bedarf der in der Regel unerfahrene Beschuldigte vor der Unterschrift unter das Protokoll der Beratung, zumal es bei polizeilichen Vernehmungsprotokollen häufig zu Protokollierungsfehlern kommt28. 3. Unzulänglichkeiten des Vernehmungsprotokolls

Das grundsätzlich formfreie Vernehmungsprotokoll kann die Vernehmung nur unzulänglich wiedergeben, weil es sich in der Regel nicht um ein Wortprotokoll, sondern um ein Inhaltsprotokoll handelt29. Das bedeutet, dass sich keine Angaben darüber finden, wie es zu einer Aussage gekommen ist30. Der Vernehmungsablauf, z. B. ob ein Vorgespräch stattgefunden hat, ist nicht ersichtlich. Festgehalten wird lediglich der Inhalt der Aussage des Beschuldigten, während der Grund oder der Anlass dieser Aussage nicht vermerkt wird. Die Formulierungen im Protokoll selbst stammen in der Regel von dem Vernehmenden31 , wobei Modifikationen häufig dann vorkommen, wenn das Sprachniveau des Vernehmenden und das des zu Vernehmenden sehr unterschiedlich sind32. Die Vernehmungsbeamten haben oftmals die Tendenz, ein Protokoll gut lesbar zu gestalten, was zur Folge hat, dass statt der Wortwahl des zu Vernehmenden die Ausdriicke des Vernehmungsbeamten Eingang in das Protokoll finden. So ist selbst bei äußerst ausdrucksschwachen Ta26 27

Riegner; NJW 1961, 63. RGSt 8, 122, 123; 35, 8.

28 Vgl. dazu die Untersuchungen von Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 223 ff.; Schmitz/Plate, Kriminalistik 1978, 541 ff.; Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, s. 478 ff. 29 Kühne, Strafprozessrecht, Rdnr. 364. 30 Hier sieht Deckers, NJW 1991, 1151, 1157 ein wichtiges Betätigungsfeld für den Verteidiger, der darauf zu achten habe, dass die Umstände der Vernehmung in einem Aktenvermerk aufgenommen werden. 31 Für die Protokollierung eines Geständnisses wird empfohlen, dass die Einzelheiten der Tat möglichst mit den eigenen Worten des Beschuldigten wiederzugeben sind. Nack, Kriminalistik 1995, 398, 400. 32 Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 71 ff.; Kube, Archiv für Kriminologie 1979, 175, 182; Kühne, Strafprozessrecht, Rdnr. 364; Schlüter; MschrKrim 1978, 192.

38

l. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

tern das Vernehmungsprotokoll zumeist in einem guten und flüssigen Deutsch abgefasst. Das Bestreben, ein Protokoll gut lesbar zu gestalten, umfasst auch die zeitliche Darstellung33 • Die Aussagen werden in einer zeitlich geordneten Tathergangschilderung dargestellt, aber eben so, wie sie der Vernehmungsbeamte verstanden hat34. Dabei muss eine unter Umständen mehrstündige Vernehmung in einem Vernehmungsprotokoll dargestellt werden, was eine Selektion nach der strafrechtlichen Relevanz notwendig macht. Eine selektive Wiedergabe birgt immer die Gefahr, dass wichtige Aussagen wegfallen oder der Zusammenhang nicht dargestellt wurde, wodurch das Gesagte verfälscht werden kann35 . Natürlich kann der Beschuldigte die Unterschrift unter ein nach seiner Ansicht fehlerhaftes Protokoll verweigern. Dafür muss er jedoch die Bedeutung der Abweichung des Protokolls von seinen Angaben verstanden haben. Da ein Beschuldigter - vor allem nach einer langen Vernehmung - das Protokoll häufig nur flüchtig durchliest, dürfte das nicht der Regelfall sein. Darüber hinaus scheuen viele Beschuldigte den Streit mit Vernehmungspersonen um Worte und Formulierungen, und manche mögen auch nur ungern Schriftliches korrigieren oder als falsch bezeichnen, um so mehr, wenn der Polizist über ein "schöneres Deutsch" verfügt36.

4. Resümee Angesichts der geschilderten Situation des Beschuldigten in der ersten Vernehmung und der Bedeutung des Protokolls für die späteren Verfahrensabschnitte ist es kaum verwunderlich, dass die Einstellungsquoten deutlich höher sind, wenn der Beschuldigte bereits in der ersten Vernehmung anwaltliehen Beistand hatte 37 . Das Recht auf einen Verteidiger in der ersten Vernehmung ist also nicht nur eines der bekanntesten Rechte des Beschuldigten, sondern es gehört auch zu den wichtigsten.

§ 2 Verteidigerkonsultationsrecht als Ausdruck des fairen Verfahrens Das Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger im gesamten Strafverfahren ist nicht nur in § 137 StPO einfachgesetzlich geregelt, sondern zudem auch grund33

Banscherus, Polizeiliche Vernehmung, S. 259.

Kube, ArchivfürKriminologie 1979,175,181. Kühne, Strafprozessrecht, Rdnr. 364. 36 Burghard, Polizeiliche Vernehmung, S. 81. 37 Vgl. die Untersuchungsergebnisse von Blankenburg I SessarI Steifen, Strafrechtliche Sozialkontrolle, S. 138. 34

35

§ 2 Verteidigerkonsultationsrecht

39

rechtlich abgesichert. Ein ausdrücklich geregeltes Recht auf einen Verteidiger im Strafverfahren findet sich im Grundgesetz zwar nicht. Dennoch ist ein solches Recht als Ausdruck des Anspruchs auf ein faires Verfahren inzwischen weitgehend anerkannt. 1. Ableitung des Verteidigerkonsultationsrechts aus dem Prinzip der fairen Veifahrensführung

a) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Das BVerfG leitet in ständiger Rechtsprechung einen Anspruch des Beschuldigten auf Beistand eines Verteidigers aus dem Prinzip der fairen Verfahrensführung ab38 . Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist ein noch relativ junges rechtsstaatliches Postulat. Eingeführt wurde das Prinzip der fairen Verfahrensführung zunächst in enger Anhindung an das Gebot des rechtlichen Gehörs im Strafverfahren39, es hat sich dann aber zu einem allgemeinen Grundsatz eines justizförmigen Verfahrens entwickelt. Das BVerfG folgert den Anspruch aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. dem allgemeinen Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. I GG40. Das sog. "fairtrial"-Prinzip sei im Rechtsstaatsprinzip verankert, da nur ein faires Verfahren den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit genügen könne. Durch die Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG wird dem Gebot der fairen Verfahrensdurchführung die Qualität eines subjektiven Rechts des Beschuldigten beigelegt, das gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG auf eine mögliche Verletzung hin überprüft werden kann. bb) Das Prinzip des fairen Verfahrens gibt dem Beschuldigten nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht nur bestimmte Abwehrrechte gegen Eingriffe in seine Rechtspositionen durch die Strafverfolgungsbehörden, sondern es soll auch den status activus des Beschuldigten in einem Strafverfahren absichern. Der Beschuldigte als Subjekt des Verfahrens muss durch ihm zustehende prozessuale Rechte und die Möglichkeit der selbständigen Wahrnehmung dieser Rechte mit der erforderlichen Sachkunde in die Lage versetzt werden, aktiv auf den Ablauf und damit das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen41 • Diese Komponente des "fairtrial"-Prinzips ist die Grundlage des Rechts auf einen Verteidiger. Durch den Beistand des Verteidigers soll der Beschuldigte unabhängig von der Fürsorge des Gerichtes oder der Unterstützung durch die Staatsanwaltschaft seine Rechte als selbständiger Verfahrensbeteiligter geltend machen können. Die Funktion des Ver38 BVerfGE 38, 105, 111; 39, 238, 243; 46, 202, 210; 63, 380, 391; 64, 135, 149; 65, 171, 174; 66, 313, 318 f.; 68,237, 255; 70,297, 322 f.; BVerfG, NStZ 1984, 176. 39 BVerfGE 26, 66, 71; 40, 95, 99; 41, 246, 249; 46, 202, 209. 40 In einigen Entscheidungen erwähnte das BVerfG das allgemeine Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. I GG nicht, sondern sah die Verteidigung "aus rechtsstaatliehen Gründen als geboten" (BVerfGE 34, 293, 302) oder als von einem "rechtsstaatlich geordneten Strafprozess verlangt" (BVerfGE 56, 185, 186) an.

40

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

teidigers ist es damit, den Beschuldigten als Subjekt im Verfahren zu unterstützen und dessen Autonomie zu wahren. Das Recht auf einen Verteidiger ist Teil der Subjektstellung des Beschuldigten, die fest im Prinzip auf ein faires Verfahren verankert ist. cc) Das BVerfG kommt demnach durch eine doppelte Konkretisierung zum verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Verteidiger. Aus dem Rechtsstaatsprinzip wird der Anspruch auf eine faire Verfahrensdurchführung hergeleitet, aus dem sich das Recht auf einen Verteidiger ergibt.

b) Anerkennung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Literatur Weite Teile der Literatur42 erkennen die Herleitung des Rechtes auf Verteidigerbeistand aus dem "fair-trial"-Prinzip an und beschränken sich oftmals auf eine sinngemäße oder wörtliche Wiederholung der Formeln des BVerfG, wonach der Verteidiger es dem Beschuldigten ermöglichen soll, unabhängig von der Fürsorge des Gerichtes auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Das Prinzip des fairen Verfahrens wird zum Teil nicht nur im Rechtsstaatsprinzip, sondern darüber hinaus im Sozialstaatsprinzip verankert43 oder auf die Rechtsgarantien des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK zurückgeführt44 . Die Rechtsprechung des BGH erwähnt das Prinzip des fairen Verfahrens aber vor allem im Zusammenhang mit Auslieferungsverfahren, in denen dem sprachunkundigen Beschuldigten die Hinzuziehung eines Beistandes gestattet werden muss45 . Das Recht auf einen Verteidiger wird ansonsten schlicht als Teil eines rechtsstaatliehen Verfahrens angesehen46. c) Erhobene Kritik am fair-trial-Prinzip aa) Zum Teil wird jedoch grundsätzliche Kritik an der Herleitung des Prinzips der fairen Verfahrensdurchführung aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V.m. dem allge41

BVerfG, StV 1993,313.

Heyde, in: HdbVerfR, § 33 Rdnr. 62; Knapp, AnwBI. 1975, 373, 374; Müller; StV 1981, 570, 572; Müller; NJW 1981, 1801, 1803 ff.; Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387, 428; Pfeiffer; in: KK, Einl. Rdnr. 64; Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 390; Rieß, StV 1981, 460, 462; Schäfer; in: LR, Einl. Kap. 6 Rdnr. 19; Schlothaue r; StV 1981, 443, 448; Schroeder; Strafprozessrecht, Rdnr. 54; Seelmann, NJW 1979, 1128, 1130, Tettinger; Fairness und Waffengleichheit, S. 8. 42

43 Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387, 404; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 11 Rdnr. 9; krit. Tettinger; Fairness und Waffengleichheit, S. 15. 44 EuGHMR, EuGRZ 1988, 390 ff.; Dörr; Faires Verfahren, S. 71 ff. 45 BGHSt 30, 182, 185; 32, 228 f. 46 BGHSt 8, 194, 198; 29, 99, 103.

§ 2 Verteidigerkonsultationsrecht

41

meinen Freiheitsrecht gern. Art. 2 Abs. 1 GG geübt. Das fair-trial-Prinzip als ein Grundsatz, der über die vorhandenen Vorschriften hinaus die Schöpfung neuer Normen zulasse, gerate mit der Formenstrenge des Strafprozessrechts in Konflikt47. Der Strafprozess stehe in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Aufklärungsinteresse des Staates und dem Freiheitsinteresse des Einzelnen. Zur Bewältigung dieses Spannungsverhältnisses bedürfe es konkreter Normen48 . Die Lösung aufkommender Probleme anband eines nicht näher zu bestimmenden Prinzips49 widerspräche der Formenstrenge und sei sogar gefährlich, da eine auf ein unbestimmtes Prozessprinzip aufgebaute Argumentation zu einer generellen Abwendung vom Gesetz führe. Eine Abkehr von den vorgegebenen Normen der Strafprozessordnung berge aber die Gefahr in sich, letztlich auch zu Lasten des Beschuldigten zu wirken50. Der Herleitung bestimmter Regeln des Strafprozesses aus dem "fair-trial"-Prinzip bedarf es aber nach Ansicht von dessen Gegnern auch gar nicht, da alle unter dem Stichwort des Prinzips der fairen Verfahrensführung dargestellten Fälle auch de lege lata anders hätten befriedigend gelöst werden können51 . Eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Gebot der fairen Verfahrensdurchführung soll im Rahmen dieser Arbeit nicht vorgenommen werden. Die vorgebrachte Kritik ist deshalb lediglich in Bezug auf den hier zu untersuchenden Aspekt des Verteidigerkonsultationsrechts zu untersuchen. bb) Die von Teilen der Literatur heraufbeschworene Gefahr einer dezisionistischen Rechtsprechung kann nur dann befürchtet werden, wenn das "fair-trial"Prinzip tatsächlich keine klaren Konturen aufweist und so die gesetzlichen Regelungen unter dem Vorwand der Einzelfallgerechtigkeit unterlaufen würde52. Nur wenn das Prinzip der fairen Verfahrensdurchführung konturenlos ist und sich sein Inhalt darin erschöpft, Fairness als Rechtsprinzip zu postulieren53, ist eine Aufweichung der Formenstrenge der StPO zu erwarten.

47 Heubel, Der "fair-trial", S. 145; Meyer; JR 1974, 173, 174; Tönnies, ZRP 1990, 292 ff.; Walder; Rechtliches Gehör, S. 10. 48 So Kühne, Strafprozessrecht, Rdnr. 293 im Zusammenhang mit dem Fürsorgeprinzip. 49 Dafür soll schon die nicht zu leistende Übersetzbarkeit des Begriffs "fair" sprechen, Heubel, Der "fair-trial", S. 63. Das spricht jedoch nicht gegen seine Verwendung, wenn das Prinzip trotzdem mit Inhalt gefüllt werden kann, Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand, S. 202; ähnlich auch Bottke, ZStW 96 (1984), 726,751. 50 Tönnies, ZRP 1990, 292; Walder; Rechtliches Gehör, S. 10. 51 Meyer, JR 1984, 173, 174; Walder; Rechtliches Gehör, S. 10, sieht in der Gewährung effektiven rechtlichen Gehörs und der Gewährleistung eines fairen Verfallrens deckungsgleiche Begriffe. Dagegen Wassennann, in: AKGG, Art. 103 Rdnr. 103, der zwar Überschneidungen anerkennt, jedoch zutreffend darauf hinweist, dass das Recht auf ein faires Verfahren weiter geht als der Anspruch aus Art. 103 Abs. 2 GG. 52 Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand, S. 202. 53 Vgl. zum Erfordernis eines Fairnessprinzips als Rechtsprinzip und der fehlenden Notwendigkeit und Machbarkeit einer abschließenden Inhaltsbestimmung, Berkemann, JR 1989, 281 ff.

42

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

Das BVerfG hat den Grundsatz des fairen Verfahrens indes mit Inhalt gefüllt. Nach seiner Rechtsprechung muss ein faires Verfahren zum einen prozessuale Rechte garantieren und zum anderen den Beschuldigten vor Übergriffen der Strafverfolgungsbehörden schützen54 . Der Gedanke des "fair-trial" soll einen Grundbestand von Beschuldigtenrechten verfassungsrechtlich garantieren, die das Rechtsstaatsprinzip dem Strafverfahren auferlegt. Nun ist der Rechtsstaatsbegriff aus sich heraus kaum zu definieren, so dass es in der Tat unmöglich erscheint, konkrete Maßstäbe zu gewinnen. Das Verständnis des Rechtsstaatsprinzips ergibt sich hingegen nicht nur aus sich selbst heraus, sondern es können die Vorverständnisse herangezogen werden, die aus einem rein formalen Rechtsstaatsbegriff- einem Staat, der nur dem Recht verpflichtet ist - einen materiellen Rechtsstaatsbegriff machen55. Ein wesentliches Merkmal des demokratischen Staates ist die Anerkennung eines reformierten Strafprozesses, der nicht nur den Rahmen zur Durchsetzung des materiellen Strafrechts bildet, sondern auch Schutz vor Eingriffen der anderen Strafverfahrensbeteiligten bieten soll56, indem der Beschuldigte mit bestimmten Abwehrrechten ausgestattet ist57. Des Weiteren ist der Beschuldigte nicht nur bloßes Objekt, sondern selbständiges Verfahrenssubjekt Diesen Maximen ist ein faires Verfahren verpflichtet58. Der von der Verfassung garantierte Grundbestand an Verfahrensrechten wird somit aus den Rechten gebildet, die unabdingbar sind, um einerseits den status negativus des Beschuldigten vor gesetzlich nicht geregelten Eingriffen zu schützen und andererseits die Subjektstellung des Beschuldigten zu sichern. Das "fair-trial"-Prinzips ist demnach keineswegs konturenlos, sondern es garantiert dem Beschuldigten einen Kernbestand verfahrensrechtlicher Normen zu seinem Schutz und die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards im Strafverfahren59. Das BVerfG übt damit keine Billigkeitsrechtsprechung aus, welche die Formenstrenge auflöst und die in der Konsequenz auch zuungunsten des Beschuldigten wirken kann. Zweck des fair-trial-Prinzips ist gerade die Sicherung der Rechtspositionen des Beschuldigten60, zu seinen Ungunsten darf nicht auf das Siehe oben § 2 1 a. Benda, in: HdbVerfR, § 17 Rdnr. 10 f.; Böckenförde, in: Festschrift für Amdt, S. 53 ff.; Heyde, in: HdbVerfR, § 33 Rdnr. 61. 56 Hellrrumn, Strafprozessrecht, Teil I, § 1 Rdnr. 6 ff. 57 Ausführlich dazu: Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand, S. 203 ff. 58 Hellmann, Strafprozessrecht, Teil I,§ 1 Rdnr. 9. 59 BVerfG, NStZ 1987,419 mit Anm. Gallandi. So ebenfalls Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 104; Tettinger, Fairness und Waffengleichheit, S. 13, 17, 62 ff.; Vollkommer, in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 195 ff. 60 Versuche, den Anspruch auf ein faires Verfahren auch anderen Verfahrensbeteiligten zuzugestehen, lassen sich nämlich mit der Zielsetzung des Prinzips nicht vereinbaren. Der vereinzelt gebliebene Versuch der Ableitung der Wahrheitspflicht des Verteidigers aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens (Bottke, ZStW 96 (1984), 726 ff.) kann nicht überzeugen. Das BVerfG gesteht aber Zeugen, die ebenfalls "Untersuchungsobjekt" im Verfahren sind, 54

55

§ 2 Verteidigerkonsultationsrecht

43

Prinzip der fairen Verfahrensführung zuriickgegriffen werden. Daneben trägt auch die vorgenommene Herausbildung von Fallgruppen zur Konkretisierung des "fairtrial"-Prinzips bei61 , so dass dem Vorwurf, es handele sich letztlich nur um eine leere Begriffshülse, nicht zugestimmt werden kann62 . In der Literatur63 wird zudem zum Teil Art. 6 Abs. 1 MRK zur Konkretisierung des fair-trial-Prinzips herangezogen. Grundsätzliche rechtsstaatliche Bedenken sprechen somit nicht gegen die Ableitung des "fair-trial"-Prinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG. Die Gefahr einer Flucht in verfassungsrechtliche Generalklauseln soll damit nicht geleugnet werden, und vor einer Lösung eines jeden Widerstreites gegensätzlicher Interessen im Strafverfahren durch die Heranziehung des Fairnessgebotes muss gewarnt werden. Das Verteidigerkonsultationsrecht gehört jedoch unstreitig zu dem Kernbestand der Rechte des Beschuldigten im reformierten Strafverfahren. Die Herleitung dieses Rechtes aus der Verfassung und dem Prinzip der fairen Verfahrensführung ist folglich anzuerkennen. cc) Das Recht auf Verteidigerbeistand ist im Übrigen auch einfachgesetzlich in der StPO geregelt. Damit scheint der Einwand, es bedürfe der Heranziehung des Prinzips der fairen Verfahrensführung zur Lösung strafprozessualer Probleme nicht, zumindest bezüglich dieses Rechts zuzutreffen. Die Herleitung des Verteidigerkonsultationsrechtes aus dem Rechtsstaatsprinzip sichert diese Rechtsposition allerdings verfassungsrechtlich ab. Der Beschuldigte hat so nicht nur einen einfachgesetzlichen, sondern einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf den Beistand eines Verteidigers. Den Bedeutungsunterschied ergibt aber erst die Betrachtung der Rechtsnatur des "fair-trial"-Prinzips.

2. Rechtsnatur der Garantie auffaire Verfahrensführung

Die Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip gibt noch keinen Aufschluss über die Rechtsnatur des "fair-trial"-Prinzips, da das Rechtsstaatsprinzip objektives Verfassungsrecht ist. Das Fairnessgebot ist zunächst lediglich ein Prozessgrundsatz, der vor allem Direktiven an den Gesetzgeber für die Ausgestaltung des Strafverfahrens enthält64• Aber auch der Richter hat das Prinzip bei der Auslegung des einfachen Rechtes zu beachten. Das positive Recht muss konform mit dem Fairnessgebot ausgelegt werden, und in Einzelfällen kann eine Ergänzung der bestehenden eine faire Behandlung aus dem Grundsatz der fairen Verfahrensführung zu, BVerfGE 38, 105. 61 Ausführliche Darstellung der Rechtsprechung bei: Dörr; Faires Verfahren, S. 147 ff. 62 Geppert, Jura 1992, 597, 599. 63 Dörr; Faires Verfahren, S. 147 ff. Ein neuerer Ansatz in der Literatur will das "fairtrial"-Prinzip nach arnerikanischern Vorbild konkretisieren, Steiner; Fairnessprinzip, S. 126. 64 Hili, in: HdBdStR VI,§ 156, Rdnr. 36.

44

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

Normen im Wege der Analogie erforderlich sein65 • Umstritten ist aber, ob das Prinzip der fairen Verfahrensführung auch ein subjektives Recht und somit eine Allspruchsgrundlage für den Beschuldigten ist. Das erscheint deshalb zweifelhaft, weil es ein mit der Verfassungsbeschwerde einklagbares Grundrecht auf Rechtsstaatlichkeit nicht gibt. a) Das BVerfG geht jedoch von einem Individualanspruch auf ein faires Verfahren aus. Es handele es sich um ein allgemeines Prozessgrundrecht, an dem alle Beschränkungen zu messen sind66 • Durch die Verbindung des Rechtsstaatsprinzips mit dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit gern. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG erstarkt der Anspruch auf ein faires Verfahren zu einem subjektiven Recht des Beschuldigten, das er notfalls mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann. Diese Rechtsprechung basiert auf einem weiten Verständnis der allgemeinen Handlungsfreiheit und steht damit in der Tradition des Elfes-Urteiles67 , wonach die allgemeine Handlungsfreiheit es auch verbürge, von rechtsstaatswidrigen, unfairen gerichtlichen Verfahren verschont zu bleiben. Danach ist jeder Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit daraufhin zu überprüfen, ob er mit der Verfassung, also insbesondere auch mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren ist. Dementsprechend muss jedes Strafverfahren rechtsstaatliehen Grundsätzen entsprechen, da der Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. I GG sonst nicht durch die verfassungsmäßige Ordnung gedeckt ist. b) Gegen die Subjektivierung rechtsstaatlicher Prinzipien mit Hilfe des Art. 2 Abs. 1 GG wird eingewandt, dass auf diese Weise ein Grundrecht auf Rechtsstaatlichkeit und ein Recht auf Eingriffsfreiheit schlechthin gewährt werde68 . Das BVerfG lasse durch die Anerkennung eines Grundrechts auf ein faires Verfahren die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips ausreichen, um einen Eingriff in die Rechte des Beschuldigten anzunehmen. Eine subjektive Beschwer des Beschuldigten werde allenfalls noch in der Zulässigkeit berücksichtigt, während die Begründetheit schon bei schlichten Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip zu bejahen sei, ohne dass eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG noch geprüft werde. Auch wenn das BVerfG nicht in jeder Entscheidung ausdrücklich die Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG darlegt, so versteht es doch nicht die freie Entfaltung der Persönlichkeit als allgemeine Eingriffsfreiheit, die bei jedem Verstoß gegen verfassungsmäßige Prinzipien verletzt ist. Es geht vielmehr stillschweigend von der zutreffenden Annahme aus, dass jedes Strafverfahren einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit darstellt69 . Das BVerfG verliert demnach nicht den Bezug zu

65 Berkemann, JR 1989, 221, 226; Nothhelfer, Selbstbezichtigungszwang, S. 47 ff.; Schumann, Bundesverlassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozess, S. 32 mit Fn. 124. 66 BVerlGE 57, 250, 274 f.; 70,308. 67 BVerlGE 6, 32. 68 Ausführlich dazu die Untersuchung von Hesse, Bindung des Gesetzgebers. 69 Ausführlich dazu: Scholz, AöR 100 (1975), 80 ff.

§ 3 Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht

45

Art. 2 Abs. 1 GG und behauptet keineswegs, es gebe ein subjektives Recht auf Rechtsstaatlichkeit. c) Der Beschuldigte hat damit ein subjektives Recht auf ein faires Strafverfahren im Rang eines allgemeinen Prozessgrundrechts70• Der Anspruch auf eine faire Verfahrensdurchführunghat-wie andere Prozessgrundrechte auch71 -eine Doppelnatur. Zunächst stellt er eine verfassungsrechtlich abgesicherte objektive Verfahrensnorm dar, welche die Gerichte und insbesondere den Gesetzgeber unmittelbar bindet. Durch die verfassungsrechtliche Absicherung hat sie an der Bestandsgarantie des Art. 79 GG teil72 und steht als ranghöhere Norm über dem einfachen Gesetz. Normen der StPO sind deshalb im Lichte der Garantie auf ein faires Verfahren auszulegen, und bei bestehenden Lücken kann das Fairnessgebot im Wege der Analogie zu einer Ergänzung des positiven Rechts führen. Vor allen Dingen hat der Beschuldigte aber einen subjektiven Anspruch auf Einhaltung der Verfahrensgarantie, den er im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann. Das Recht auf den Beistand eines Verteidigers ist damit nicht nur einfachgesetzlich in § 137 StPO geregelt, sondern ist dem Beschuldigten auch verfassungsrechtlich als Prozessgrundrecht gewährt und stellt ein subjektives Recht dar.

§ 3 Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht in der ersten Vernehmung Damit ist das Verteidigerkonsultationsrecht wie die Selbstbelastungsfreiheit73 ein subjektiv-öffentliches Recht im Range eines Grundrechts. Der Beschuldigte muss bei Vernehmungsbeginn gern. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO nicht nur über sein Schweigerecht, sondern auch über sein Recht auf Verteidigerbeistand belehrt werden.

70 Heyde, in: HdBdVerf, § 33 Rdnr. 61 f.; Nothhelfer, Selbstbezichtigungszwang, S. 48; Spaniol, Das Recht auf Verteidigerbeistand, S. 209; Tettinger, Fairness und Waffengleichheit, S. 58; Vollkommer, in: Gedächtnisschrift für Bruns, S. 195, 214. A.A. Schumann, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozess, S. 82. 7l Zur Doppelnatur des Anspruchs auf rechtliches Gehör: BVerfGE 55, 1; Amdt, NJW 1959, 6, 7; Bröll, Rechtliches Gehör, S. 103 ff.; Dahs, Rechtliches Gehör, S. 4 ff.; SchmidtAßmann, in: Maunz-Düring, Art. 103 Rdnr. 4; Heiss, NJW 1961, 1094, 1095; Kolb, Das rechtliche Gehör als verfassungsmäßiges Recht, S. 44; Rudolphi, JA 1979, I, 6; Rüping, in: BK, Art. 103 Rdnr. 18; Wassermann, in: AKGG, Art. 103 Rdnr. 8. 72 Für den Anspruch auf das rechtliche Gehör: Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Düring, Art. 103 Rdnr. 5. 73 BVerfGE 56, 37, 49; Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387, 422; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 135.

46

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

1. Einführung der Belehrungsvorschrift in die StPO

Die Belehrungsvorschrift ist im Gegensatz zu dem zugrundeliegenden Recht auf Beistand eines Verteidigers eine Errungenschaft des modernen Strafprozessrechts und erst 196474 in die StPO eingeführt worden75 . a) Bis dahin schrieb § 136 StPO a.F. lediglich vor, den Beschuldigten zu fragen, ob er etwas zu der Beschuldigung äußern wolle oder nicht76. Ein Hinweis auf das Verteidigerkonsultationsrecht fehlte ganz. Der Gesetzgeber verzichtete bewusst auf die Pflicht zur Belehrung über das Recht auf einen Verteidiger, weil seiner Ansicht nach eine ausdrückliche gesetzliche Belehrung den Anschein erwecke, als solle auch die sittliche Pflicht zur Angabe der Wahrheit verneint werden77 . b) Die Einführung der Belehrungspflicht in die StPO war nicht unbestritten. aa) Der Regierungsentwurf sah sie ursprünglich nicht vor . Sie wurde erst in der dritten Lesung auch für die erste polizeiliche Vernehmung eingeführt78 • Der Bundesrat versuchte die Streichung der Belehrungspflicht durch die Anrufung des Verrnittlungsausschusses zu erreichen, weil seiner Meinung nach der Hinweis auf das Recht zur Verteidigerkonsultation zu einer empfindlichen Beeinträchtigung der Strafverfolgung führen könne79• Die Belehrungspflicht der Polizeibeamten wurde vor allem deshalb abgelehnt, weil im Vordergrund der Polizeiarbeit die Ermittlungstätigkeit stehe und auch die erste Vernehmung in erster Linie der Sachverhaltsaufklärung diene. Verteidigen könne sich der Beschuldigte dann immer noch in der Hauptverhandlung, in der die Verteidigung ihr Schwergewicht besitze. Da bei der ersten Vernehmung die Ermittlung des Sachverhalts Priorität haben müsse, sei den Strafverfolgungsbehörden ein kleiner Vorsprung zuzubilligen80. Die gegen die Belehrung vorgebrachten Argumente verdeutlichen nicht nur ein bis heute nachwirkendes Verständnis von dem Zweck der Vernehmung81 , sondern sie zeigen auch, dass es keineswegs ausreichend ist, dem Beschuldigten Rechte zu gewähren. Es muss darüber hinaus auch Regeln über die Durchsetzbarkeit geben. Der Bundesrat wies nämlich ausdrücklich darauf hin, der Beschuldigte habe selbstverständlich in jedem Verfahrensabschnitt das Recht auf einen Verteidiger. Die Ge74 Gesetz zur Änderung der Strafprozessrecht und des Gerichtsverfassungsgesetz v. 19.12. 1964 (BGBI. I S. 1068). 75 Vgl. zur Rechtsänderung durch die Neufassung des § 136 StPO Bauer, Schweigerecht, S. 88 ff. 76 Hanack, in: LR § 136 Rdnr. 21. 77 Hahn/Stegemann, Gesamte Materialien, S. 138. 78 Vgl. zur Gesetzgebungsgeschichte v. Gerlach, in: Festschrift für Hanack, S. 117, 136 ff.; Kleinknecht, JZ 1965, 153, 156; ausführliche Darstellung bei Kroth, Belehrung des Beschuldigten, S. 214 ff. 79 BT-Drs. IV /2459 S. 2; BR-Drs. 326/64 S. 3. 80 Schlee, BT-Drs. IV, 132. Sitzung Sten.Prot. 6449. 81 Vgl. zum Vernehmungszweck § 9.

§ 3 Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht

47

fahr für die funktionierende Strafverfolgung wurde offensichtlich nicht in dem Recht selbst gesehen, sondern in der durch die Belehrung geschaffenen Verbesserung der Durchsetzbarkeit. Anders sind die angeführten Begründungen gegen eine Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht nicht zu verstehen. Gegen eine Belehrungspflicht in der ersten Vernehmung wurde eingewandt, der Hinweis auf das Verteidigerkonsultationsrecht sei für den Fortgang des Ermittlungsverfahrens nicht nur hinderlich, sondern sogar schädlich, da die Gefahr bestehe, dass der Beschuldigte die Unterbrechung der Vernehmung zur Ermöglichung der Verteidigerkonsultation nutze, um Zeugen zu beeinflussen und Beweismittel zu vernichten. Diese Gefahr bestehe insbesondere, da zu befürchten sei, dass sich nicht der wirklich unschuldige Bürger, auf den einmal der Verdacht fallt, sondern der erfahrene Kriminelle auf dieses Recht beruft mit dem Ziel, eine Verdunklung durch Verzögerung der Ermittlungsarbeit herbeizuführen. bb) Wer so argumentiert, stellt nicht die Normierung der Belehrungsvorschrift in Frage, sondern das Verteidigerkonsultationsrecht selbst. Es wurde also nur scheinbar die Hinweispflicht angegriffen, während doch eigentlich besorgt wurde, der Beschuldigte werde von seinen Rechten tatsächlich Gebrauch machen. Die Gegner der Hinweispflicht waren also offensichtlich der Meinung, man könne dem Beschuldigten zwar Rechte zugestehen, es sei aber für den Gang des weiteren Verfahrens hinderlich, wenn diese Rechte auch durchsetzbar seien. Die Einwände sind nämlich nur so zu verstehen, dass erwartet wurde, der Beschuldigte werde wegen seiner Unkenntnis das Verteidigerrecht nicht in Anspruch nehmen82. cc) Da die vorgebrachten Argumente im Grunde auf die Erschwerung der Ermittlungen durch das Verteidigerkonsultationsrecht, nicht dagegen durch die Hinweispflicht abzielen, ist ihnen jede Schlüssigkeit abzusprechen. Wie bereits in den Beratungen zutreffend bemerkt wurde, hat die Belehrung gerade das Ziel, den unschuldigen und unerfahrenen Beschuldigten zu schützen83 . Da die erfahrenen Kriminellen ihre Rechte ohnehin kennen, ginge es hier um eine Gleichstellung von rechtsunkundigen Bürgern und prozesserfahrenen Mehrfachtätern. Die Diskussion bei der Einführung der Belehrungsvorschrift scheint nur noch rechtsgeschichtlich von Bedeutung zu sein. Das gilt auch für den damals in der Literatur84 erhobenen Einwand, der Hinweis wirke auf den Beschuldigten wie eine Einladung, erst einmal nach Hause zu gehen und sich einen Verteidiger zu suchen, um sich mit ihm zu beraten. Dies schaffe dem Beschuldigten die Möglichkeit, sich einer unangenehmen Situation zu entziehen, auch wenn er eine Verteidigerkonsultation gar nicht plane. Der Widerstand, der sich gegen die Einführung einer Pflicht zur Belehrung erhoben hat, führt aber deutlich vor Augen, dass die Einigkeit über bestehende Rechte dem Beschuldigten wenig nützt, wenn die faktische Durchsetzv. Gerlach, in: Festschrift für Hanack, S. 117, 138. Diemer-Nicolaus, BT-Drs. IV, 132. Sitzung Sten.Prot. 6450. 84 Fischer, Vernehmung des Beschuldigten, S. 40; Kleinknecht, JZ 1965, 153, 156; krit. Dahs, NJW 1965, 81, 84. 82 83

48

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

barkeit weder gewährleistet noch allgemein als erstrebenswert eingeschätzt wird85 . Die Normierung von Rechten ist dann nicht ausreichend, wenn kein Konsens darüber besteht, dass und wie diese Rechte durchgesetzt werden können.

2. Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht bei bestehendem Mandatsverhältnis

Um sein Recht durchzusetzen, bedarf der Beschuldigte zunächst der Kenntnis über die Existenz seiner Befugnisse. Dieses erste Erfordernis zur Durchsetzung des Verteidigerkonsultationsrechts ist heute unstreitig 86. a) Umstritten ist aber nach wie vor, ob der bereits vertretene Beschuldigte über sein Recht auf einen Verteidiger belehrt werden muss.§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO sieht eine Belehrung darüber vor, dass es dem Beschuldigten freistehe, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Die h.M. 87 liest das als "noch zu wählenden Verteidiger" und hält deshalb eine Belehrung dann nicht für erforderlich, wenn der Beschuldigte keinen Verteidiger mehr wählen muss, weil er bereits einen hat. Uneinigkeit herrscht allerdings darüber, ob das bereits bestehende Mandatsverhältnis im Hinblick auf dieselbe Sache geschlossen worden sein muss. Während nach einem Teil der Literatur88 auch Mandatsverhältnisse ausreichen, die wegen einer anderen Straftat oder Ordnungswidrigkeit begründet worden sind, halten andere89 nur ein Mandatsverhältnis für ausreichend, das sich auf das laufende Ermittlungsverfahren bezieht. b) Dass der Hinweis grundsätzlich entfallen könnte, wenn der Beschuldigte bereits einen Verteidiger beauftragt hat, kann jedoch nicht überzeugen. Zustimmung würde diese Auffassung nur verdienen, wenn die dahinter stehende Annahme, der Verteidiger habe den Beschuldigten über seine Rechte informiert, zuträfe. Davon kann aber nicht ausgegangen werden90. Es ist nämlich keineswegs gewährleistet, dass der Verteidiger den Beschuldigten über dieses Recht informiert hat oder der Beschuldigte bereits die Zeit hatte, sich überhaupt oder eingehend mit dem Verteidiger zu beraten. Ein Hinweis auf das Verteidigerkonsultationsrecht ist nach zutreffender Auffassung91 nur entbehrlich, wenn nach außen hin sichtbare Anhaltspunkte erkennbar sind, dass der Beschuldigte sein Verteidigerbeistandsrecht kennt. Müller, StV 1996, 358, 359. Vgl. nur den Überblick über die Auswirkungen des StPÄG 1964 bei Rieß, in: Festschrift für Kleinknecht, S. 355, 366. 87 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 14; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 10; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 33; Müller, in: KMR, § 136 Rdnr. 11; Pfeiffer, § 136 Rdnr. 5. 88 Müller, in: KMR, § 136 Rdnr. 11; Pfeiffer, § 136 Rdnr. 5. 89 Kleinknecht I Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 10. 90 Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 29. 91 Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 29; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 23; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 36; Roxin, JZ 1993, 426. 85

86

§ 4 Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten

49

§ 4 Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten als Inhalt der Prozesssubjektivität Die Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht ist notwendig, um dem Beschuldigten eine eigenverantwortliche Entscheidung über die Inanspruchnahme dieses Rechts zu ermöglichen92• Eine selbstbestimmte Entscheidung über die Inanspruchnahme eines prozessualen Rechts setzt nämlich zunächst die Kenntnis über das Recht voraus93 . Der Gesetzgeber ging also von der Vermutung aus, dass der Beschuldigte regelmäßig prozessual unerfahren und rechtsunkundig ist und deshalb keine selbstbestimmte Entscheidung über die Hinzuziehung eines Verteidigers treffen kann94 • Hier müssen die Strafverfolgungsorgane helfend eingreifen und so die Voraussetzungen für ein selbstverantwortetes Handeln des Beschuldigten schaffen. Damit prägt die Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten die Belehrungspflicht und auch dessen konkrete Ausführung maßgeblich. Das macht es erforderlich, den Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit näher zu betrachten. 1. Subjektsstellung des Beschuldigten

Im modernen Strafprozess ist der Beschuldigte nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt des Verfahrens95 . a) Als Prozesssubjekt muss der Beschuldigte in der Lage sein, aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Es ist also anerkannt, dass er das Verfahren mitgestaltet, auch wenn der Prozessstoff selbst seiner Dispositionsbefugnis entzogen ist. Die Mitwirkungsrechte sind zum Teil in der StPO einfachgesetzlich aufgeführt, wie beispielsweise die Befugnis, die Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung zu verlangen(§§ 217 Abs. 2, 228 Abs. 1, 246 Abs. 2, 265 Abs. 3 und 4 StPO) oder Beweisanträge zu stellen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist darüber hinaus verfassungsrechtlich abgesichert (Art. 103 Abs. 1 GG). Auch in der ersten Vernehmung hat der Beschuldigte ein Recht darauf, sich verteidigen zu können und so auf die Ergebnisse Einfluss zu nehmen. Im Gegensatz zum Inquisitionsprozess ist der Beschuldigte damit nicht passives Objekt des Verfahrens, sondern aktives Prozesssubjekt, das sich am gesamten Verfahren beteiligen und gestalterisch Einfluss ausüben kann. 92 Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 637; Müssig, GA 1999, 117, 127; Plötz, Fürsorgepflicht, S. 155 ff. ; Scham, MDR 1966, 321, 322. 93 BVerfG, NJW 1975, 103; Eh. Schmidt, NJW 1968, 1209. 94 Plötz, Fürsorgepflicht, S. 156; Schmid, Verwirkung, S. 360; Eh. Schmidt, NJW 1968, 1209, 1215. 95 BVerfGE 9, 89, 95; 26, 66, 71 ; 38, 105, 111; 57, 250, 275; 63, 45, 61; 63, 380, 390; 64, 135, 145; 65, 171, 175; 66, 313, 318; BVerfG, StV 1993, 313; Bennecke/Beling, ReichsStrafprozessrecht, § 74 III (S. 279); Kahlo, in: Festschrift für E.A. Wolff, S. 153, 157 ff.; v. Sterten, Einsatz Verdeckter Ennitt1er, S. 121. 4 Seckernper

50

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

b) Gemeinsames Merkmal der Mitwirkungsrechte ist die Möglichkeit der Beteiligung. Der Beschuldigte ist keineswegs verpflichtet, die Chance auf die Beeinflussung des Verfahrens zu nutzen; es steht vielmehr in seinem Belieben, ob und wie er die Gelegenheit zur Verteidigung und Mitgestaltung des Verfahrens nutzt96. Da die Art der Verteidigung weitgehend in seine Disposition gestellt ist, kann der Beschuldigte das Verfahren auch schweigend über sich ergehen lassen97 • Eine Pflicht zur effektiven Verteidigung und Wahrnehmung seiner eigenen Interessen kennt die StPO nicht. Der Grundsatz der freien Wahl der- nach der Vorstellung des Beschuldigten - zweckmäßigsten Verteidigungsstrategie gilt auch in der ersten Vernehmung: Der Beschuldigte kann entscheiden, ob er zur Sache aussagen möchte oder ob er es vorzieht zu schweigen, bzw. ob er von seinem Recht auf einen Verteidiger Gebrauch macht. Diese Entscheidungen hat der Beschuldigte nach seinem freien Willen und seiner Ansicht über die Zweckmäßigkeit und Effektivität der Art der Verteidigung zu treffen. c) Es bleibt also dem Beschuldigten überlassen, ob und in welchem Umfang er von seinen Rechten Gebrauch macht98 . Gerade in dieser Möglichkeit, prozessuale Rechte nicht wahrzunehmen, zeigt sich die Subjektsstellung des Beschuldigten. Während dem Angeschuldigten im Inquisitionsprozess nicht zugetraut wurde, die Folgen seines Handeins zu überblicken, setzt das moderne Strafprozessrecht einen kompetenten Verfahrensbeteiligten voraus99. Die Möglichkeit, über die Inanspruchnahme eines Rechts zu entscheiden, passte nicht in einen Inquisitionsprozess, der die Stellung des Beschuldigten als Verfahrenssubjekt leugnete 100. Die Anerkennung als Prozesssubjekt brachte es dagegen mit sich, dass dem Beschuldigten eine eigene Entscheidung nicht nur zugetraut, sondern auch von ihm erwartet wird 101 . Eine Bevormundung des Beschuldigten, dass und gegebenenfalls wie er seine prozessualen Befugnisse zu nutzen hat, widerspräche seiner Stellung als Prozesssubjekt und würde ihn wiederum zum Verfahrensobjekt degradieren. Das der Prozesssubjektivität verpflichtete Strafprozessrecht geht deshalb von einem grundsätzlich mündigen Bürger aus, der in der Lage ist, die für ihn richtige Entscheidung über die Verfahrensbeteiligung zu treffen.

96 Dahs, Rechtliches Gehör, S. 45; Kunig, in: v. Münch, Art. 103, Rdnr. 9; Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 637; Müller; in: Recht und Gesetz im Dialog II, S. 123, 127; Rüping, Rechtliches Gehör, S. 145; ders., JR 1974, 135, 137. 97 Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 387. 98 BVerfGE 3, 359, 365. 99 Maiwald, in: Festschrift für Lange, S. 745, 756; Müller; in: Recht und Gesetz im Dialog II, S. 123, 127; Schmid, Verwirkung, S. 8. 100 v. Ger/ach, in: Festschrift für Hanack, S. 117, 132. 101 Röhl, NJW 1958, 1268, 1272; ders., NJW 1964, 272, 276 spricht sogar von einer Mitwirkungspflicht.

§ 4 Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten

51

2. Eigenverantwortlichkeit als Inhalt der Subjektsstellung

a) Kehrseite dieser prozessualen Freiheiten ist die prozessuale Last, Verantwortung tragen zu müssen 102. Aus der Subjektsstellung folgt also nicht nur, dass der Beschuldigte frei über seine Beteiligung entscheiden kann. Die Prozesssubjektivität führt außerdem zur Prozessverantwortung des Beschuldigten 103. Die Würde des Individuums umfasst nämlich nicht nur die Freiheit zum Handeln, sondern auch die Verantwortung für sein Handeln 104. Verantwortung zu haben bedeutet eben auch, gewisse Risiken selbst tragen zu müssen 105 • aa) Das gilt zunächst für die Folgen der Prozessbeteiligung des Beschuldigten. Dem Beschuldigten werden die Konsequenzen seines Handeins zugerechnet. Das bezieht sich natürlich sowohl auf die positiven als auch auf die negativen Auswirkungen der von ihm gewählten Verteidigungsstrategie 106. Verteidigt sich der Beschuldigte zweckmäßig und macht er sachkundigen Gebrauch von seinen prozessualen Befugnissen, kommt ihm in der Folge ein mildes Urteil oder gegebenenfalls ein Freispruch zugute. Ist die vom Beschuldigten gewählte Verteidigungsstrategie jedoch nicht sachgerecht, sondern wirkt sie sogar zuungunsten des Beschuldigten, so werden ihm diese Folgen ebenfalls zugerechnet. Der Grundsatz der Prozessverantwortlichkeit bedeutet für den Beschuldigten also auch, dass er für gewisse Irrtümer selbst einzustehen hat. Selbst wenn die Strafverfolgungsorgane erkennen, dass der Beschuldigte eine unzweckmäßige Verteidigung verfolgt, sind sie nicht verpflichtet, fürsorgerisch einzugreifen 107. Zwar erscheint es auf den ersten Blick wenig "gerecht", den unerfahrenen Beschuldigten sehenden Auges eine ungeschickte Verteidigungsstrategie verfolgen zu lassen. Eingriffe in die Verteidigung des Beschuldigten sind aber nur in einem prozessualen Wohlfahrtsstaat geboten, in dem der Beschuldigte im Prozess fürsorgerisch beraten wird. Ein der Achtung der Menschenwürde verpflichteter Rechtsstaat kennt eine solche Fürsorge hingegen nicht, weil sie der Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten widersprechen würde108. Daraus folgt zwingend, dass der Beschuldigte das Risiko unsachgemäßer Prozesshandlungen selbst zu tragen hat. 102 Plötz, Fürsorgepflicht, S. 106; Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 637; Röhl, NJW 1958, 1268, 1272; ders., NJW 1964, 272, 276; Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig, Art. 103 Abs. 1 GG Rdnr. 5; Schneider, Jura 1997, 131, 137. 103 Bröll, Rechtliches Gehör, S. 159; Kielwein, Fürsorgepflicht, S. 134; Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 637; Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig, Art. 19 Abs. 4 GG, Rdnr. 8. 104 Otto, in: Festschrift für E.A. Wolff, S. 395, 400; Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig, Art. 19 Abs. 4 GG, Rdnr. 8. 105 Bottke, Jura 1987, 356, 361; Plötz, Fürsorgepflicht, S. 107; Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 388; See/mann, NJW 1979, 1128, 1130; Schneider, Jura 1997, 131, 137. 106 Maiwald, in: Festschrift für Lange, S. 745, 756. 107 Maiwald, in: Festschrift für Lange, S. 745, 756; Marczak, Faimessgebot, S. 98; Müller, NJW 1981, 1801, 1804. 108 Hanack, JZ 1966,43, 45; Rüping, Rechtliches Gehör, S. 146.

4*

52

I. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

bb) Dem Beschuldigten wird auch keine Fürsorge gewährt, wenn er zu einer optimalen Verteidigung gar nicht in der Lage ist, weil ihm das erforderliche Geschick fehlt. Das dem Strafprozessrecht zugrunde liegende Prinzip der Eigenverantwortlichkeit schreibt nämlich auch vor, dass dem Beschuldigten seine Handlungsinkompetenz zugerechnet wird. Der Gebrauch der prozessualen Rechte ist grundsätzlich der Aktivität, Intelligenz und Handlungskompetenz des Beschuldigten überlassen. Die Kenntnis der dem Beschuldigten zustehenden Rechte und die Kompetenz, von diesen Rechten auch Gebrauch zu machen, fällt grundsätzlich in den Verantwortungsbereich des Beschuldigten. Von einem eigenverantwortlich handelnden Beschuldigten wird also erwartet, dass er sich rechtskundig auf ein Verfahren vorbereitet und in der Lage ist, seine Befugnisse sachgerecht zu nutzen 109 • Er muss deshalb nicht nur dafür sorgen, dass er die ihm zustehenden Rechte nutzt, es liegt auch in seiner Verantwortung, dass er diese Rechte überhaupt nutzen kann 110. b) Es ist dem Gesetzgeber aber freigestellt, die Verantwortung des Beschuldigten zu beschränken und einzelne Bereiche der Dispositionsbefugnis des Beschuldigten zu entziehen. So ist etwa die notwendige Verteidigung Ausdruck der Begrenzung der Verantwortlichkeit des Beschuldigten, indem eine Entscheidung für ihn zu seinem Wohle getroffen wird. Auch die Belehrungsvorschrift des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO überträgt dem Vernehmenden einen Teil des Verantwortungsbereiches des Beschuldigten. Grundsätzlich ist die Kenntnis des Rechts, auf Grund derer ein Beschuldigter erst in der Lage ist, seine Rechte auszuüben, Sache des Beschuldigten 111 . Rechtskenntnisse und das Risiko einer falschen anwaltliehen Beratung112 werden im Allgemeinen dem Verantwortungsbereich des Beschuldigten zugeschrieben 113 • Indem der Gesetzgeber die Pflicht zur Belehrung normiert hat, entlastet er den Beschuldigten aber von seiner Verantwortung und rechnet die Kenntnis über das Recht dem Verantwortungsbereich der Vernehmenden zu. c) Besteht dagegen keine Vorschrift, durch die ein Übergang der Verantwortung bewirkt wird, ist der Beschuldigte für seine Entscheidungen und sein Handeln selbst verantwortlich. Außerhalb der anerkannten Verfahrensgrundsätze 114 und der Einschränkungen des Eigenverantwortlichkeitsprinzips durch einfachgesetzliche Regelungen zur Verteilung der Verantwortlichkeit bleibt im Strafprozessrecht ein breiter Anwendungsbereich für das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit Diese eingeschränkte Subjektverantwortlichkeit ist im Strafprozess auch allgemein anerkannt115. Sie ist Grundlage für die Möglichkeit des Gesetzgebers, den Gebrauch 109

Bräll, Rechtliches Gehör, S. 156; Jagusch, NJW 1962, 1645, 1648.

uo Bräll, Rechtliches Gehör, S. 159; Dahs, Rechtliches Gehör, S. 21 ; Plätz, Fürsorgepflicht, S. 108; Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Düring, Art. 103 Abs. 1 GG, Rdnr. 5.

Plätz, Fürsorgepflicht, S. 156; Schom, MDR 1966, 639, 640. Vgl. dazu: OLG Saarbrücken, NJW 1974, 327; Marczak, Fairnessgebot, S. 98 ff. m Plätz, Fürsorgepflicht, S. 108. 114 Ein Übergang der Verantwortung kann insbesondere aus der Fürsorgepflicht folgen. Dazu unten § 20. 111

112

§ 5 Verwertungsverbote als Folge der Pflichtverletzung

53

von Rechten von bestimmten Bedingungen - z. B. der Einhaltung von Fristen abhängig zu machen und es dem Richter zu ermöglichen, im Einzelfall dem Verzicht auf Rechte, Verfahrensrügen oder Rechtsmittel des Beschuldigten stattzugeben116. Die Beachtung der Subjektsrolle führt also auch im Strafprozess dazu, die Inanspruchnahme von Rechten grundsätzlich der Aktivität des Beschuldigten zu überlassen 117• Versäumt der Beschuldigte, seine prozessualen Befugnisse wahrzunehmen oder macht er einen für ihn unvorteilhaften Gebrauch von ihnen, fallen die Konsequenzen in seinen Verantwortungsbereich, der ihm als Folge seiner Stellung als Prozesssubjekt zusteht.

§ 5 Verwertungsverbote als Folge der Pflichtverletzung der Vernehmenden in der ersten Vernehmung Für die Frage, durch welche Handlungen die Vernehmungsbeamten gegen das Verbot der Verhinderung der Verteidigerkonsultation verstoßen, ist der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit, nach dem der Beschuldigte für Versäumnisse in der Prozessführung in einem gewissen Umfang selbst einzustehen hat, von entscheidender Bedeutung. Bevor die Grenzen des Verfahrensverstoßes näher umschrieben werden, ist bereits an dieser Stelle die Frage zu beantworten, ob aus dem Verstoß gegen das Verhinderungsverbot ein Beweisverwertungsverbot folgt. In welchen Fällen ein Verstoß gegen ein Verfahrensgebot vorliegt, ist nämlich vor allem dann interessant, wenn das Beweiserhebungsverbot ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht.

I. Verwertungsverbot bei der Verhinderung der Verteidigerkonsultation Auf den ersten Blick herrscht über die Unverwertbarkeit von Beweisen, die nach einem Verstoß gegen das Verbot der Verhinderung der Verteidigerkonsultation erlangt worden sind, Einigkeit: Die Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH118, die Verweigerung der Verteidigerkonsultation ziehe ein Verwertungsverbot nach sich, ist in der Literatur 119 nämlich -soweit ersichtlich -auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. 115 Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 388; Sandermann, Waffengleichheit, S. 165m. w. N.; Schmid, Verwirkung, S. 91. 116 Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Düring, Art. 19 Abs. 4 GG Rdnr. 8. 117 Bröll, Rechtliches Gehör, S. 158 ff.; Rüping, Rechtliches Gehör, S. 183. 11s BGHSt 38, 373, 374. 119 Beulke, NStZ 1996, 257; Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 14; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 568, Hamm, NJW 1996, 2185; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 26; Kiehl, NJW 1993, 501; Lesch, JA 1995, 157; Müller, StV 1996, 358; Pfeiffer, § 136 Rdnr. 5;

54

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

1. Ungeklärte Funktion der Verwertungsverbote

Die allgemeine Anerkennung des Verwertungsverbotes ist angesichts der Unklarheiten im Bereich der Beweisverwertungsverbote nicht selbstverständlich. In welchen Fällen ein Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot zu einem Verwertungsverbot führt, gehört nach wie vor zu den umstrittensten Fragen des Beweisrechts. Diese Unsicherheiten über die Verwertbarkeit rechtswidrig gewonnener Beweise beruhen schon darauf, dass über die Funktion der Verwertungsverbote bislang keine Einigkeit erzielt wurde. Den Beweisverwertungsverboten sind zahlreiche zum Teil stark voneinander abweichende Funktionen zugeschrieben worden, wie etwa die Disziplinierungsfunktion 120, der Schutz der Wahrheitstindung vor unsicheren Beweismitteln121 oder der Gewährleistung der sittlichen Integrität des Staates 122 • Davon abweichende Ansätze sehen die Funktion der Beweisverbote in der Sicherung der Akzeptanz der Strafe, weil sich der durch rechtswidrig erlangte Beweise überführte Angeklagte als Opfer der Justiz fühlen 123 bzw. die Bevölkerung an der Autorität des Staates zweifeln könnte 124. Keine der angeführten Begründungen für das Entstehen eines Verwertungsverbotes ist unstreitig. Als am ehesten konsensfcihig erscheinen die Auffassungen, nach denen Ziel der Beweisverwertungsverbote allein die Gewährleistung des fairen Verfahrens 125 und die Sicherung der individuellen Rechte der Beschuldigten 126 ist. Aber selbst wenn diese Rieß, JR 1993, 334; Rogall, in: 2. Deutsch-ungarisches Kolloquium, S. 75, 94, Roxin, JZ 1993,426. 12o OLG Celle, NStZ 1991, 403, 404; Baumann, GA 1959, 33, 36; Nüse, JR 1966, 281, 285; Spende/, NJW 1966, 1102, 1108; ders., JuS 1964,465,471. In Deutschland ist diese Ansicht auf heftige Kritik gestoßen, Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 17 ff.; ders., NJW 1991, 2533, 2534; Dalakouras, Beweisverbote, S. 114; Dencker, Verwertungsverbote, S. 54; Rogall, ZStW 91 (1979), 1, 15; Stönner, Verwertungsverbote, S. 198. In den USA herrscht diese Auffassung jedoch vor und wird auch vom Supreme Court vertreten. Nachweise aus der amerikanischen Rechtsprechung bei Herrmann, in: Festschrift für Jescheck, s. 1291, 1299 ff. 121 Eh. Schmidt, JZ 1958, 596, 599; Schönebom, MDR 1971, 713, 715. Auf die Funktion des Wahrheitsschutzes stellen zumindest auch Grünwald, JZ 1966,489, 493; Rudolphi, MDR 1970, 93, 98 ab. Kritisch zu diesem Ansatz: Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 14 ff.; ders., NJW 1991, 2533, 2534; Dalakouras, Beweisverbote, S. 115; Dencker, Verwertungsverbote, S. 40. 122 Hajjke, GA 1973, 65, 72; krit. Otto, GA 1970, 289, 290; Pelz, Beweisverwertungverbote, S. llO. 123 So der spezialpräventive Ansatz von Osmer, Beweisverwertungsverbot nach § 136a, S. 10 ff.; Otto, GA 1970,289, 290; krit. Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 112 f. 124 Eher diesen generalpräventiven Aspekt betont Dencker, Verwertungsverbote, S. 59 ff.; krit. Pelz, Beweisverwertungsverhote, S. 115 ff. 125 Beulke, ZStW 103 (1991), 657, 664; Küpper, JZ 1990, 416, 417; Kramer; Jura 1988, 520,524. 126 Amelung, NJW 1991, 2533, 2534; Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 454; Dalakouras, Beweisverbote, S. 122; Koriath, Beweisverbote, S. 46; Rogall, ZStW 91 (1979), 1, 21, Rudolphi, MDR 1970,93, 98; Stönner; Verwertungsverbote, S. 204.

§ 5 Verwertungsverbote als Folge der Pflichtverletzung

55

Auffassung der Funktion der Verwertungsverbote zugrunde gelegt wird, lässt sich nicht eindeutig klären, in welchen Fällen aus einem Beweiserhebungsverbot ein Verwertungsverbot folgt; das Problem wird lediglich auf die Bestimmung der Reichweite des Schutzes verlagert. Eine konsensfähige Regel, die verbindliche Abgrenzungskriterien bieten würde, wann ein Verwertungsverbot vorliegt, ist angesichts dieser abweichenden Verständnisse von der Funktion der Beweisverwertungsverbote nur schwer zu finden. Weitgehende Einigkeit besteht lediglich dariiber, dass nicht jeder Verfahrensverstoß zu einem Verwertungsverbot führt 127• 2. Theoretische Ansätze zur Bestimmung der Verwertungsverbote

In der Literatur sind verschiedene Ansätze entwickelt worden, die jedoch überwiegend auf Kritik gestoßen sind. So wurde versucht, die Problematik der Verwertungsverbote durch eine Trennung von prozess- und materiellrechtlicher Betrachtungsweise zu lösen 128 oder das Entstehen eines Verwertungsverbotes alleine von der Schwere des verbotenen Eingriffs abhängig zu machen 129• Nach einer vereinzelt vertretenen Auffassung soll die Bewertung der Folgen eines Beweiserhebungsverbotes unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten vorzunehmen sein 130• Ein neuerer Ansatz 131 will ein Verwertungsverbot von der Verletzung von "lnformationsbeherrschungsrechten" abhängig machen. Die Rechtsfolge des Verwertungsverbotes ergibt sich nach diesem Lösungsweg aus einem Anspruch auf "informationelle Folgenbeseitigung'" 32 bzw. aus einem Unterlassungsanspruch 133 • Diese Sicht kann jedoch keine generelle Gültigkeit beanspruchen, insbesondere bei der Verletzung von Mitwirkungspflichten passt der Ansatz nicht 134.

127 BGHSt 19, 325, 331; 38, 372, 373; Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 457; Gold, JA 1995, 411, 412; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil IV,§ 3 Rdnr. 82; Julius, in: HKStPO, § 261 Rdnr. 11; Rogall, NStZ 1988, 385, 386 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rdnr. 19. A.A. Gössel, NStZ 1998, 126, 130, der die Unterscheidung zwischen Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten aufheben will. 128 Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen; ders., ZStW 63 (1951), 199, 216; krit. Bockemühl, Private Ennittlungen, S. 93; Dalakouras, Beweisverbote, S. 126 f.; Dencker, Verwertungsverbote, S. 22 ff.; Grünwald, JZ 1966,489,495. 129 Vgl. dazu Wolter, in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 199m. w. N. 130 Gössel, NJW 1981, 2217 ff.; ders., GA 1991, 483, 511 ; ders., in: LR, Ein!. Abschn. K Rdnr. 151. 131 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte; ders., NJW 1991, 2533, 2535. 132 Amelung, Informationsbeherrschungsrechte, S. 45. 133 So der Lösungsweg von Störmer, Verwertungsverbote, S. 223 ff.; ders., Jura 1994, 621. 134 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rdnr. 22; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 103; Schroth, JuS 1998, 969, 973; Störmer, Verwertungsverbote, S. 211. Das gesteht auch Amelung, in: Festschrift für Bemmann, S. 505, 515 ff., seinen Kritikern zu.

56

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

Weitergehende Bedeutung haben lediglich drei Lösungswege erlangt: die Rechtskreistheorie der Rechtsprechung, die sog. Schutzzwecklehren und die heute von der h.M. angewandte Abwägungslehre. a) Rechtskreistheorie Nach der zum Teil von der Rechtsprechung 135 herangezogenen Rechtskreistheorie ist bei jeder Vorschrift zu priifen, ob ihre Verletzung den Rechtskreis des Beschuldigten wesentlich beriihrt. In der Literatur ist diese Theorie auf massive Kritik gestoßen, wobei insbesondere auf die Unbestimmtheit des Begriffs "Rechtskreis" und die daraus folgenden willkürlichen Ergebnisse hingewiesen worden ist136. Dem gegen die Rechtskreistheorie erhobenen Einwand, es könne sich bei der Rechtskreistheorie um kein allgemein geltendes Prinzip handeln 137, würde die Rechtsprechung wohl aber auch nicht entgegentreten. Zur Anwendung kam der Gedanke des Rechtskreises nämlich nur in bestimmten Fallkonstellationen 138, namentlich bei der Aussage eines unbelehrten Zeugen 139 bzw. Mitbeschuldigten 140 und er dient in diesen Fällen dazu, ein Verwertungsverbot zugunsten des Beschuldigten mangels Beeinträchtigung seines "Rechtskreises" abzulehnen. Eine Verletzung der Rechte hat dagegen nicht generell ein Verwertungsverbot zur Folge. Folgerichtig hat der BGH in anderen Entscheidungen den Rechtskreisgedanken nicht aufgegriffen, sondern die Frage nach einem Verwertungsverbot durch Abwägung beantwortet 141 . Eine Auseinandersetzung mit dem Kriterium des Rechtskreises kann deshalb im Rahmen dieser Arbeit unterbleiben. b) Schutzzwecklehren Unter der Bezeichnung Schutzzwecklehren werden die Ansätze beschrieben, die das Vorliegen eines Verwertungsverbotes vom Schutzzweck der verletzten Norm abhängig machen 142. Trotz dieses gemeinsamen Ausgangspunktes unterscheiden 135 BGHSt II, 213, 215; 17,245 ff.; BGH, NJW 1952, 151; BGH, NJW 1994,3364, 3366; BGH, StV 1995, 231; BayObLG, StV 1995, 237. 136 Eb. Schmidt, JZ 1958, 596, 597; zust. Dencker, Verwertungsverbote, S. 29; Gössel, GA 1991,483, 498. 137 Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 459; Dalakouras, Beweisverbote, S. 124; Dencker, StV 1995, 232 ff. 138 So zutreffend Gössel, GA 1991,483,510. 139 BGHSt 11, 213; 17, 245; BGH, NJW 1994, 3364,3366. 140 BGH, StV 1995, 231; BayObLG, StV 1995,237. 141 Deshalb wurde zum Teil bis zu den Entscheidungen BGH, NJW 1994, 3364, 3366; StV 1995, 231; BayObLG, StV 1995, 237, vermutet, die Rechtsprechung habe die Rechtskreistheorie aufgegeben. So Dalakouras, Beweisverbote, S. 125; Kaiser, Beweisverbote, S. 21 ; Kühne, in: AKStPO, Vorbem. § 48 Rdnr. 52; Rogall, ZStW 91 (1979), I, 26.

§ 5 Verwertungsverbote als Folge der Pflichtverletzung

57

sich die Auffassungen allerdings erheblich 143 . Welcher Schutzzweck einer Norm zukommt, hängt entscheidend davon ab, welche Funktion den Beweisverboten zugeschrieben wird. Da die einzelnen Lösungsvorschläge, die auf den Sinn und Zweck der Norm abstellen, zum Teil von einem abweichenden Verständnis ausgehen, ist es kaum erstaunlich, dass es nicht gelungen ist, Einigkeit über den Schutzzweck einzelner Beweiserhebungsverbote zu erzielen 144. Deshalb wird auch diesen Lehren die Fähigkeit, allgemeingültige Lösungen zu finden, abgesprochen 145 . c) Abwägungstheorie aa) Das bedeutet freilich nicht, dass der Gesichtspunkt des Schutzzwecks der Norm unbeachtet bleiben könnte. Nach der heute h.M. 146 ist der Schutzzweck eines Verwertungsverbotes ein wichtiges Kriterium im Rahmen der Abwägung, durch die ein Verwertungsverbot festgestellt werden müsse. Nach der sog. Abwägungslehre soll in einer Einzelfallpriifung ermittelt werden, ob die Verletzung einer Beweiserhebungsnorm zu einem Verwertungsverbot führt. In die Waagschale werden dabei auf der einen Seite das Individualinteresse des Bürgers und auf der anderen Seite das Strafverfolgungsinteresse des Staates gelegt. bb) Gegen die Abwägungslehre sind erhebliche Bedenken geltend gemacht worden. Die Einwände, es sei nicht Aufgabe des Richters, eine solche Abwägung vorzunehmen, weil die Strafjustiz durch diese Priifung überfordert sei, sind in der Literatur147 überzeugend entkräftet worden, so dass es an dieser Stelle keiner Replik bedarf. Schwerwiegender ist jedoch der Einwand, die Abwägungslehre führe zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit 148. Durch die Abwägung würden die Ergebnisse 142 Beulke, ZStW 103 (1991), 657, 663; Frisch, in: Symposium für Rudo1phi, S. 173, 182 ff.; Grünwald, JZ 1966, 492; Petry, Beweisverbote, S. 28, Rudolphi, MDR 1970, 93, 97. 143 Vgl. die Zusammenstellung bei Bienert, Private Ermittlungen, S. 18 f.; Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 97 ff.; Dalakouras, Beweisverbote, S. 128 f.; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 80 ff.; Schroth, JuS 1998, 969, 973; Störmer; Jura 1994, 621, 626. 144 Rogall, in: Festschrift für Grünwald, S. 523, 528. 145 Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 111; Dalakouras, Beweisverbote, S. 128 f.; Dencker; Verwertungsverbote, S. 47 ff.; Wolter; in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 200. 146 BVerfG 34, 238, 248; BGHSt 19, 325, 329; 24, 125, 130; 27, 355, 357; 31, 304, 307; 35, 32, 34; 37, 30, 32; OLG Frankfurt, NJW 1997, 2963, 2964; Gold, JA 1995, 411, 412; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil IV, § 3 Rdnr. 84; Julius, in: HKStPO, § 261 Rdnr. 12; Lesch, JA 1995, 157, 161; Rogall, NStZ 1988, 385, 391 ff.; ders., in: Symposium für Rudolphi, S. 113, 139 ff.; ders., in: Festschrift für Grünwald, S. 523, 528; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rdnr. 23; Widmeier; in: Wahrheitstindung und ihre Schranken, S. 29, 31. 147 Kohlhaas, DRiZ 1966, 286, 287. 148 So Kaiser; Beweisverbote, S. 33; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 99; Schröder; Beweisverwertungsverbote, S. 48; Störmer; Verwertungsverbote, S. 190. Überzeugend gegen diesen Einwand Rogall, in: Symposium für Rudolphi, S. 113, 156.

58

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

beliebig und der Betroffene könne sich nicht auf klare Regeln stützen, da die Gesarntabwägung in jedem Einzelfall anders ausfallen könne 149. Der Vorwurf der letztlich willkürlichen Entscheidung ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn die Ausfüllung der Abwägungskriterien dem Richter einen Beurteilungsspielraum lässt. Welche konkreten Kriterien innerhalb der Abwägung der beiden gegensätzlichen Interessen zu beachten sind, ist weitgehend ungeklärt 150. In der Literatur 151 wird zuweilen eine Vielzahl von Kriterien genannt, die eher zur Verwirrung als zur Klärung beitragen 152 . Die Rechtsprechung 153 stellt lediglich auf das Gewicht des Verfahrensverstoßes und die Bedeutung für die rechtlich geschützte Sphäre des Betroffenen ab und hält dem die aus der Annahme des Verwertungsverbots folgende Beeinträchtigung der Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung entgegen. Da die Strafverfolgung in den Fällen schwerer Kriminalität besonders betroffen ist, soll nach der vom BVerfG154 entwickelten Wechselwirkungstheorie ein Verwertungsverbot in den Fällen schwerer Kriminalität in der Regel abzulehnen sein. Abzustellen sei dabei nicht auf den abstrakten Deliktscharakter, sondern auf das konkrete Tatunrecht 155• Dieses Abwägungskriterium ist zu Recht heftig kritisiert worden. Das Abstellen auf das konkrete Tatunrecht würde das Verwertungsverbot tatsächlich zu einer variablen Größe machen. Das hätte zur Folge, dass der gleiche Verstoß bei dem Gehilfen zu einem Verwertungsverbot und beim Täter zur Verwertbarkeit führen könnte 156• Aber selbst wenn nicht das konkrete Tatunrecht, sondern der abstrakte Deliktscharakter in die Abwägung einfließt 157 , müssen Grenzen gezogen werden, innerhalb derer die Tatschwere beachtet werden darf. Eine Abwägungslehre, welche die Gewichtung der Tatschwere uneingeschränkt zulässt, würde zu der Konsequenz führen, dass die Strafverfolgungsbehörden bei der Verfolgung schwerer Straftaten auch gravierende Verfahrensverstöße begehen dürften 158 . Die Gefahr, dass die Polizeibeamten in Fällen schwerer Kriminalität beinahe schrankenlos handeln könnten, wird insbesondere durch die Schwierigkeit einer konkreten BestimBeulke, ZStW 103 (1991), 657, 664. Rogall, in: SKStPO, § 136a Rdnr. 94. 151 Gropp, StV 1989, 216, 222; Wolter, NStZ 1984, 276, 278. 152 Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 95; ders., in: Symposium für Rudolphi, S. 143, 156. 153 BGHSt 38,219, 220; 42, 170. 154 BVerfGE 34, 238, 250. 155 BGHSt 19, 325, 332. Vgl. auch Knoll, Fernwirkungen, S. 83 ff., der auf den im Einzelfall in Frage kommenden Rechtsfolgenausspruch abstellen will. 156 Dencker, Verwertungsverbote, S. 97; Kaiser, Beweisverbote, S. 34. 157 Dalakouras, Beweisverbote, S. 132; Rogall, ZStW 91 (1976), l, 34, befürworten die Heranziehung des Straftatenkataloges des§ lOOa StPO. Dagegen schlägt Wolter, NStZ 1984, 276, 278, eine differenzierte Anwendung des§ 140 StGB vor. Nach Schröder, Beweisverwertungsverbote, S. 60 ff., soll der Katalog des § 139 Abs. 3 Satz l StGB als oberste Grenze dienen. 158 Fezer, StV 1989,290, 294; Pelz, Beweisverwertungsverbote, S. 97. 149

150

§ 5 Verwertungsverbote als Folge der Pflichtverletzung

59

mung des Begriffs der schweren Kriminalität verstärkt 159 • Die Notwendigkeit dieser Grenzziehung ist in der neueren Rechtsprechung 160 anerkannt. Danach soll die Abwägung zwischen dem Gewicht des Verfahrensverstoßes und der Bedeutung des Verstoßes für die rechtliche geschützte Sphäre des Beschuldigten und dem Interesse des Staates an der Wahrheitsermittlung grundsätzlich zu dem Ergebnis eines Verwertungsverbots führen, wenn die verletzte Vorschrift dazu bestimmt ist, die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten zu sichern. Die Abwägungslehre, die zwar eine Einzelfallentscheidung trifft, orientiert sich bei gravierenden Verstößen also lediglich am überragenden Schutzzweck 161 • Da auf diese Weise Schutzzwecklehren und Abwägungstheorie vereinigt werden, erübrigt sich zumindest in den Fällen schwerwiegender Verstöße eine Auseinandersetzung mit der Diskussion 162•

3. Verwertungsverbot als Folge der Verhinderung der Verteidigerkonsultation a) Verwertungsverbot bei schweren Beeinträchtigungen der Rechtsstellung des Beschuldigten Da es bei Verstößen gegen Vorschriften, welche die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten sichern sollen, nicht auf den Einzelfall ankommt, nimmt die heute fast einhellige Meinung bei einer Verletzung der Pflicht zur Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht ohne Prüfung des konkreten Falles ein Verwertungsverbot an 163 • Wegen der Bedeutung des Verteidigerrechts des Beschuldigten, das ebenso wie das Aussageverweigerungsrecht nicht nur in Art. 6 MRK, sondern auch verfassungsrechtlich abgesichert ist, muss Gleiches auch für die Verhinderung der Verteidigerkonsultation gelten. Es entspricht damit der Linie der Rechtsprechung, wenn der 4. Strafsenat des BGH 164 ein Verwertungsverbot immer bejahen will, wenn der Wunsch des Beschuldigten auf Hinzuziehung eines Verteidigers wirksam unterlaufen und auf diese Weise die Stellung des Beschuldigten immer schwer beeinträchtigt werde 165 • Bei der Verletzung des Rechts auf Zugang zum Verteidiger könne nicht nach Umständen und der Gewichtigkeit der einzelnen Fälle unterschieden werden. Das sei zum einen schon aus Gründen der Rechtssicherheit als auch wegen der Bedeutung des Verteidigerrechts für ein faires VerfahHarris, StV 1991, 313, 321. BGHSt 38, 215, 219; 38, 372, 374. 16 1 Rogall, ZStW 91 (1976), 1, 36. 162 Zum Teil werden die Schutzzwecklehren und die Abwägungslehren grundsätzlich miteinander kombiniert, Schröder; Beweisverwertungsverbote, S. 53 ff.; Wolter; in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 197. 163 Näher dazu unten,§ 5 II l. 164 BGHSt 38, 372, 374. 165 BGHSt 38, 214, 219; 38, 372, 374; 42, 15, 21. 159

160

60

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

ren abzulehnen. Die Verweigerung der Konsultation des Verteidigers führt danach grundsätzlich zu einem Verwertungsverbot, ohne dass die konkrete Art und Weise der Beeinträchtigung Berücksichtigung finden müsse. Die Annahme eines Verwertungsverbots stützt sich danach allein auf die Bedeutung des Verteidigerrechts für die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten. b) Kein Verzicht auf Abwägung aa) Dagegen wendet der 1. Strafsenat166 allerdings ein, auf diese Weise werde das Erfordernis der Abwägung unterlaufen. Das einseitige Abstellen auf die Bestimmung der verletzten Verfahrensvorschrift für die verfahrensrechtliche Stellung des Beschuldigten führe im Ergebnis dazu, dass keine Abwägung mehr vorgenommen werde 167. An dem Abwägungserfordernis sei aber festzuhalten, deshalb sei auch bei der Verweigerung der Verteidigerkonsultation zwischen Rechtsverstößen unterschiedlicher Schwere zu differenzieren. bb) Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass durch die Regel, nach der bei Verstößen gegen Vorschriften, welche die Grundlagen der verfahrensrechtlichen Stellung des Beschuldigten sichern, keineswegs auf das Abwägungserfordernis verzichtet wird. Diese Regel ist vielmehr das Ergebnis eines Abwägungsvorganges. Um ein Verwertungsverbot festzustellen, muss das Prinzip der Punktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gegen das Prinzip des Schutzes des Beschuldigten abgewogen werden. Prinzipien haben im Gegensatz zu Regeln kein vorgegebenes Vorrangverhältnis168, sondern im Prinzipienkonflikt ist im Einzelfall zu ermitteln, welches Prinzip dem anderen vorgeht 169. Die Aufgabe des Rechtsanwenders ist es, die Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht. Nichts anderes wird durch die von der Rechtsprechung entwickelte Regel beschrieben: Unter der Bedingung, dass der Verfahrensverstoß die grundrechtlich gesicherte Position des Beschuldigten trifft, geht in der Abwägung das Prinzip des Schutzes des Beschuldigten vor dem Prinzip der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege vor. Indem bei schweren Verfahrensverstößen grundsätzlich ein Verwertungsverbot angenommen wird, verzichtet die Rechtsprechung daher nicht auf eine Abwägung. Innerhalb der Abwägung wird lediglich eine Regel angewandt, deren Tatbestand die Bedingung "schwerer Verfahrensverstoß" und deren Rechtsfolge das Verwertungsverbot ist 170. Wenn der l. Senat fordert, an dem Abwägungserfordernis müsse festgehalten werden, geht dieser Einwand ins Leere: Die An166

BGHSt42, 170, 174.

167 So interpretiert auch Roxin, JZ 1997, 343, 345, die Entscheidung des 1. Strafsenats

(BGHSt 42, 15), stimmt dem Urteil im Ergebnis aber zu. 168 Grundlegend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78; zust. Lorenz, JZ 1992, 1000, 1004. 169 Ale.xy, Theorie der Grundrechte, S. 78; Rogall, in: Festschrift für Hanack, S. 293, 298. 170 Nach Ale.xy, Theorie der Grundrechte, S. 84, handelt es sich bei solchen Regeln um Kollisionsgesetze.

§ 5 Verwertungsverbote als Folge der Pflichtverletzung

61

wendung einer Abwägungsregel belegt, dass eine Abwägung gerade vorgenommen worden ist. cc) Das legt den Schluss nahe, der 1. Senat greife im Grunde die Abwägungsregel an. Indem der Senat auf der Notwendigkeit einer Einzelfallabwägung besteht, stellt er scheinbar die innerhalb der Abwägung angewandte Regel und nicht das Fehlen einer Abwägung überhaupt in Frage. Die dem zugrunde liegende These, Abwägungen führen zu Einzelfallentscheidungen, ist aber zumindest missverständlich 171 • Abwägung im Einzelfall und Generalisierbarkeit des Abwägungsergebnisses gehen nämlich regelmäßig einher. Zwar ergehen Abwägungsentscheidungen zu konkreten Einzelfällen. Anband der Abwägungsentscheidung lässt sich aber stets eine Regel formulieren 172, wie hier die Regel, nach der die Interessen der Strafverfolgung in Fällen eines schweren Verfahrensverstoßes zurücktreten. Dass vom 1. Senat der Inhalt dieser Regel wahrscheinlich nicht angezweifelt wird, wird anband seiner Forderung deutlich, bei einer Abwägung sei mitentscheidend, ob ein schwerwiegender Rechtsverstoß vorliegt und ein Beschuldigter im besonderen Maße des Schutzes bedürfe 173 . Das entspricht aber der genannten Abwägungsregel. Es kann aber kaum zweifelhaft sein, dass die Verhinderung der Verteidigerkonsultation ein schwerwiegender Rechtsverstoß ist, vor dem der Beschuldigte geschützt werden muss.

c) Erfordernis der Konkretisierung des Beweiserhebungsverbotes aa) Wenn mit der Schwere des Rechtsverstoßes und der Schutzbedürftigkeit des Beschuldigten argumentiert wird, so bedeutet das nichts anderes, als dass der Senat nicht in jeder Beeinflussung eine Verweigerung der Konsultation sieht. Er will also zwischen drastischen und subtilen Mitteln zur Herbeiführung des Verteidigerverzichts unterscheiden. Diese Differenzierung hat aber nichts mit der Feststellung eines Verwertungsverbotes zu tun. Wenn der I. Senat der Art und Weise der Beeinträchtigung Beachtung schenken will, so geht es nicht darum, ein Beweisverwertungsverbot zu begründen, sondern um die Frage, ob überhaupt eine Verweigerung der Verteidigerkonsultation vorliegt. Der Entscheidung ist darum Recht zu geben, dass nicht jedes Mittel, durch das die Polizei eine Vernehmung ohne die Anwesenheit eines Verteidigers erreicht, ein Verwertungsverbot nach sich zieht. Das lässt sich allerdings nicht durch die Abwägung zur Feststellung eines Beweisverwertungsverbotes begründen, sondern betrifft bereits die Frage, ob durch die Anwendung der Maßnahme im konkreten Fall die Konsultation mit dem Verteidiger tatsächlich verweigert wurde oder die Aus-

171

172 173

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152. BGHSt 42, 170, 172.

62

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

sage ohne Verteidiger dem selbstverantwortlichen Beschuldigten zuzuschreiben ist. bb) Entscheidende Bedeutung hat damit die Konkretisierung des Verbotes, dem Beschuldigten die Konsultation mit dem Verteidiger zu verweigern. Dass auf einen Verstoß gegen dieses Verbot ein Verwertungsverbot folgt, ist dagegen unzweifelhaft. Wenn eine Verweigerung der Verteidigerkonsultation unter Beachtung der Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten bejaht werden muss, kann es keine Ausnahme von dem Grundsatz geben, dass dieser Verstoß gegen die Pflicht, die faktische Rechtsdurchsetzung zu gewähren, zu einem Verwertungsverbot führt. Die Möglichkeit des Beschuldigten, sich des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen, gehört zu den wichtigsten Rechten des Beschuldigten und ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. Eine Verhinderung der Ausübung dieses Rechts trifft den Beschuldigten damit in den Grundlagen seiner verfahrensrechtlichen Stellung. Die Beeinträchtigung dieses verfassungsrechtlich und durch die MRK abgesicherten Rechts kann durch das Interesse des Staates an der Strafverfolgung nicht aufgewogen werden, so dass ein Verstoß gegen das Verweigerungsverbot generell ein Verwertungsverbot nach sich zieht. II. Verwertungsverbote bei fehlender Belehrung

Ob dieser Grundsatz auch für die fehlende Belehrung über das Recht auf einen Verteidiger besteht, bedarf jedoch einer eigenen Betrachtung. Inzwischen anerkannt ist aber ein Verwertungsverbot als Folge einer fehlenden Belehrung über das Schweigerecht

1. Schweigerecht Seine frühere Rechtsprechung, nach der die Verletzung der Belehrungspflicht über das Aussageverweigerungsrecht nur dann ein Verwertungsverbot auslöse, wenn der Vernehmungsbeamte den Beschuldigten bewusst nicht belehrt hatte, um seine Unkenntnis auszunutzen 174, hat der BGH 175 inzwischen aufgegeben. Er hat damit die Bedeutung, die der Kenntnis über das Schweigerecht zukommt, anerkannt und sich der in der Literatur 176 allgemein vertretenen Ansicht angeschlossen. BGHSt 22, 170, 173; 31,395, 398 ff. BGHSt 38, 214, 220 ff.; ebenso OLG Celle, NStZ 1991, 403, 404; OLG Celle, NJW 1993,545 f.; OLG 01denburg, NStZ 1995,412. 176 Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 117; Bohlander, NStZ 1992, 504; Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 26 ff.; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 568; Fezer; JR 1992, 385; Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 55; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 25; Kiehl, NJW 1993, 501, 502; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 20; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 33; Pfeiffer, § 136 Rdnr. 9; Ransiek, StV 1994, 343; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rdnr. 24; ders., JZ 1992, 923. 174 175

§ 5 Verwertungsverbote als Folge der Pflichtverletzung

63

Folglich löst eine Verletzung der Pflicht, den Beschuldigten auf sein Schweigerecht hinzuweisen, nach einhelliger Meinung ein Verwertungsverbot der auf diese Weise erlangten Aussagen aus. 2. Verteidigerkonsultationsrecht

a) Aus dem bereits erwähnten Urteil des BGH 177, nach dem die Verweigerung der Verteidigerkonsultation zu einem Verwertungsverbot führt, folgert die wohl überwiegende Auffassung in der Literatur 178, dass schon die fehlende Belehrung über das Recht auf einen Verteidiger ein Verwertungsverbot nach sich ziehe. Da die Verweigerung der Verteidigerkonsultation aber auch dann zu einem Verwertungsverbot führt, wenn der Beschuldigte vorher über sein Recht belehrt worden ist179, wird dem allerdings entgegengehalten, die Frage des Verwertungsverbotes als Folge einer unterlassenen Belehrung über das Verteidigerrecht sei keineswegs geklärt 180. Mit einem Verstoß gegen § 136 Abs. I S. 2 StPO habe die Verweigerung des Verteidigerkonsultationsrechts jedenfalls nichts zu tun. b) Dieser Argumentation ist insoweit zuzustimmen, als dass aus dem Grundsatz, eine Aussage dürfe nicht verwertet werden, wenn die Kontaktaufnahme zum Verteidiger verweigert worden ist, nicht notwendigerweise ein Verwertungsverbot bei der Verletzung der Belehrungspflicht folgt. Wie noch näher darzulegen sein wird 181 , begründet die Verweigerung der Verteidigerkonsultation tatsächlich keinen Verstoß gegen§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO. Ein Verwertungsverbot als Folge einer Verletzung der Belehrungspflicht über das Verteidigerrecht lässt sich also nicht mit dem Urteil BGHSt 38, 372 begründen. c) Das Beweisverwertungsverbot ergibt sich vielmehr aus den Überlegungen des 5. Strafsenats 182 zum Verwertungsverbot bei dem Verstoß gegen die Belehrungspflicht über das Aussageverweigerungsrecht Der Senat betont, das Gesetz gehe davon aus, dass ein Hinweis nach§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten notwendig sei. Durch das Unterbleiben des Hinweises werde der Zweck der Vorschrift vereitelt und damit das dahinterstehende Recht selbst verkürzt183. Nach nunmehr einhelliger Auffassung wird dadurch der Beschuldigte, der in der ersten Vernehmung besonders schutzbedürftig ist, nachhaltig in seiner m BGHSt 38, 214.

178 Hemnann, NStZ 1997, 209 f.; Kaiser; Beweisverbote, S. 155; Roxin, JZ 1993, 426 f. ;

ders., Strafverfahrensrecht, § 24 Rdnr. 29; Ventzke, StV 1996, 524. 179 BGHSt 38, 372; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 55. 180 Müller; in: KMR, § 136 Rdnr. 11; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 55; ders., in: 2. Deutsch-ungarisches Kolloquium, S. 75, 84; zweifelnd auch: BGH, NStZ 1997, 609; krit. Kaufmann, NStZ 1998, 474. 181 § 10 II 1. 182 BGHSt 38, 214. 183 BGHSt 38, 214, 221.

64

1. Teil: Grundlagen der Handlungspflicht der Vernehmungsbeamten

Rechtsstellung betroffen, wenn er nicht über sein Schweigerecht belehrt wird. Diese Argumentation gilt aber für die Belehrungspflicht auf das Verteidigerrecht im gleichen Maße. Das Verwertungsverbot bei einem Verstoß gegen die Hinweispflicht auf das Verteidigerrecht ergibt sich also aus der Grundsatzentscheidung BGHSt 38, 214 184• Das Recht auf einen Verteidiger ist für den Beschuldigten in der ersten Vernehmung von mindestens gleichrangiger Bedeutung wie das Schweigerecht 185 . Das Gesetz geht bei beiden Rechten gleichermaßen davon aus, dass ohne den Hinweis deren Durchsetzbarkeit nicht hinreichend gesichert ist. Deshalb muss die unterlassene Belehrung über das Verteidigerkonsultationsrecht ebenso zu einem Verwertungsverbot führen wie der unterlassene Hinweis auf das Aussageverweigerungsrecht

184 185

So wohl auch Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 68. Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 568; Lesch, JA 1995, 157, 163; Müller, StV 1996, 358.

Zweiter Teil

Begriff der Beschuldigtenvernehmung § 6 Definition der Vernehmung Die Belehrungspflichten aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO, insbesondere auch die Pflicht, den Beschuldigten auf das Recht zur Konsultation eines Verteidigers hinzuweisen, sind an den Begriff der Vernehmung gebunden 1. Der Vernehmungsbegriff ist allerdings weitgehend ungeklärt2 • Eine Abgrenzung zu anderen Befragungsformen wird insbesondere dadurch erschwert, dass es keine vorgeschriebenen Formen der Vernehmung gibt, die konstitutive Wirkung haben. I. Formfreiheit der Vernehmung

a) Im Einzelfall kann aber schon anhand der Art der Durchführung der Befragung das Vorliegen einer Vernehmung angenommen werden. Wird der Beschuldigte etwa dem Richter vorgeführt und durch diesen nach der vorgeschriebenen Belehrung befragt, ergibt sich schon aufgrund der Art der Durchführung der Befragung das Vorliegen einer Vernehmung. Auch im Rahmen polizeilicher Vernehmungen kann bereits die Form der Befragung den Vernehmungscharakter belegen, beispielsweise wenn der zu Vernehmende geladen wurde und daraufhin förmlich vernommen wird. Daraus folgt allerdings nicht, dass nur unter diesen Voraussetzungen eine Vernehmung begrifflich vorliegen kann. b) Das gilt auch für die in den §§ 133-136a StPO enthaltenen Regeln für die Durchführung der Vernehmung. Auf die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung sind nach§ 163a Abs. 4 S. 2 StPO nur die§§ 136 Abs. 1 S. 2 bis 4, Abs. 2, Abs. 3 und 136a StPO anwendbar. Dariiber hinaus ist die Pflicht konstituiert, dem Beschuldigten die ihm vorgeworfene Tat zu eröffnen(§ l63a Abs. 4 S. 1 StPül Damit schreibt das Gesetz für die Vernehmung die Beachtung bestimmter Schutzvorschriften gegenüber dem Beschuldigten vor, schweigt aber dazu, wann diese Schutzvorschriften gelten. Statt vieler: Achenbach, in: AKStPO § 163a Rdnr. 21 . Fincke, ZStW 95 (1983), 918, 948. 3 Eine Benennung der in Frage kommenden Strafvorschriflen ist demgegenüber nicht vorgeschrieben, es ist der Polizei aber eine Bezeichnung nicht versagt, vgl. Rieß, in: LR, § 163a Rdnr. 79. I

2

5 Reckernper

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

66

Das gleiche Bild ergibt sich für die Zeugenvernehmung. § 52 Abs. 3 StPO bzw. § 55 Abs. 2 StPO schreiben den Polizeibeamten vor, den Zeugen zu belehren; eine Bestimmung des Zeitpunktes, wann diese Belehrung stattzufinden hat, findet sich im Gesetz hingegen nicht. Dass die Einhaltung dieser Zulässigkeitsvorschriften nicht konstitutiv für den Vernehmungsbegriff ist, belegt schon die Diskussion um die Verwertbarkeit einer belehrungsfreien Vernehmung4 • Die Missachtung der Vorschriften in der StPO kann eine Vernehmung möglicherweise unzulässig machen, sie ändert aber nichts an deren Natur5 . c) Da die Ergebnisse einer Vernehmung regelmäßig in einem Protokoll festgehalten werden, um sie so mittelbar in die Hauptverhandlung einführen zu können, liegt der Gedanke nicht fern, den Vernehmungsbegriff von der Anfertigung eines Protokoll abhängig zu machen. aa) Aus welcher Vorschrift die Pflicht zur Protokollierung resultiert, ist umstritten. Die StPO schreibt nur die Protokollierung richterlicher Vernehmungen zwingend vor(§ I68 Abs. I StPO), für die Staatsanwaltschaft gilt die Sollvorschrift des § I68 Abs. 2 StPO. Von Teilen der Literatur wird eine entsprechende Anwendung des § I68 Abs. 2 StPO auch auf die Vernehmung durch die Polizei befürwortet6 . Andere ziehen den allgemeinen Ermittlungsgrundsatz des§ I68 Abs. I StPO- das Prinzip der Aktenvollständigkeit- heran7 • Danach gilt der Grundsatz der Schriftlichkeit des Ermittlungsverfahrens8 auch für die Ermittlungshandlungen der Polizei9. Um dem nachzukommen, seien sämtliche Beweiserhebungen und Ermittlungshandlungen aktenkundig zu machen und Vernehmungen von Beschuldigten und Zeugen- entsprechend der Form des§ I68a StPO- zu protokollieren 10. Zum Teil wird die Protokollierungspflicht aus der den Strafverfolgungsorganen obliegenden Fürsorgepflicht gefolgert, welche die Beamten verpflichtet, ein Verfahren pfleglich und justizförmig zu führen, wozu auch die Beweismittelsicherung zähle 11 • Die Pflicht zur Protokollführung läßt sich auch schon aus § I63 Abs. 2 StPO folgern. Die Vorschrift soll sicherstellen, dass die Polizeibeamten in der Lage sind, die Ergebnisse der Untersuchungen an die Staatsanwaltschaft zu übermitteln. Auch das Recht des Verteidigers auf Akteneinsicht (§ I47 StPO) kann nur ausgeübt werden, wenn die Ergebnisse der Vernehmung schriftlich niedergelegt sind.

Siehe dazu oben § 5 II 1. s Fincke, ZStW 95 (1983), 918,950. 6 Kleinknecht I Meyer-Goßner; § 163a Rdnr. 31; krit. Rieß, in: LR, § 168b Rdnr. 2. 7 Rieß, in: LR, § 168b Rdnr. 1, Wache, in: KK, § 168 Rdnr. 1. 8 Kleinknecht/Meyer-Goßner. Ein!. Rdnr. 62. 9 Rieß, in: LR, § 168b Rdnr. 2. 10 Krehl, in: HKStPO, § 163 Rdnr. 14. II Krause, Die Polizei, 1978, 306. 4

§ 6 Definition der Vernehmung

67

bb) Die Protokollierung der Aussage ist jedoch nicht konstitutiv für die Vernehmung. Das ergibt sich nicht nur aus den allgemeinen Bedenken, die Einhaltung von Formvorschriften zur Konkretisierung des Vernehmungsbegriffes heranzuziehen und es damit in die Hand der Verhörspersonen zu legen, über das Vorliegen bestimmter Untersuchungshandlungen zu entscheiden, sondern vor allem daraus, dass die Protokollierungspflicht lediglich eine Folge, nicht dagegen ein Merkmal der Vernehmung ist12, so diiSS ein Umkehrschluss, ohne das Vorliegen eines Protokolls sei die Befragung keine Vernehmung, nicht möglich ist 13 . d) Da die gesetzlichen Vorschriften über die Art der Durchführung und die Zulässigkeit nicht die Aufgabe haben, die Existenz der Vernehmung zu vermitteln, kann eine Vernehmung auch völlig formlos abgehalten 14 und können Befragungen von Vernehmungen nicht anhand der Durchführung unterschieden werden. Das Vorliegen der Vernehmung kann folglich nur mit Hilfe von inhaltlichen Merkmalen bestimmt werden. II. Veranlassung einer Äußerung durch ein offen auftretendes Strafverfolgungsorgan

Da es Ziel der Vernehmung ist, eine Aussage zu bewirken, ist erstes allgemeines Merkmal der Vernehmung die Veranlassung des Befragten zu einer Aussage. 1. Verstoß gegen die Schutzvorschriften durch heimliche Befragungen?

Umstritten ist aber, ob die Person, die auf die Äußerung hinwirkt, einem Strafverfolgungsorgan angehören und in dieser Funktion auftreten muss. Es geht dabei um die Bewertung der Zulässigkeit von Ermittlungsmaßnahmen, bei denen ein Polizeibeamter eine Privatperson veranlasst, den Beschuldigten beispielsweise am Telefon zu befragen, und der Beamte das Gespräch rnithört 15 oder ein "Polizeispitzel" in die Zelle eingeschleust wird, um den Beschuldigten auszuhorchen 16• Aber auch die Fälle, in denen ein Polizeibeamter unter Verheirnlichung seiner Stellung eine Aussage bewirkt, gehören zu den heimlichen Befragungen, die zum Teil als vernehmungsähnliche Situationen 17 bezeichnet werden. Die Einordnung dieser Fincke, ZStW 95 (1983), 918,949. BGHSt 29, 230, 232. 14 BGHSt 29, 230, 232; LG Stuttgart, NStZ 1985, 568; Fincke, ZStW 95 (1983), 918, 949; Neuhaus, Kriminalistik 1995, 786, 787. 1s Vgl. zu diesem Fall: BGH, NStZ 1995, 410- Anfragebeschluss-; BGH, NStZ 1996, 200- Vorlagebeschluss- ; BGHSt (GS) 42, 139. 16 Vgl. den Fall bei BGHSt 34, 362. 17 BGH, NStZ 1995, 410, 411 - Anfragebeschluss -; NStZ 1996, 200, 201 -Vorlagebeschluss-; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 57la, 636; Kudlich, JuS 1997, 696, 698; Kühne, 12

13

5*

68

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

Maßnahmen hat weitreichende Konsequenzen. Handelt es sich um Vernehmungen, so muss der Beschuldigte nach§ 136 Abs. 1 StPO belehrt werden. Diese Verpflichtung hätte zur Folge, dass heimliche Befragungen unzulässig wären, weil eine Belehrung der Heimlichkeit der Ausforschung notwendigerweise ein Ende bereitet. a) Keine Anwendbarkeit des § 136a StPO auf heimliche Befragungen Die Einordnung dieser Situation als Vernehmung bzw. vernehmungsgleiche Befragung mit der Folge einer Belehrungspflicht wäre aber überflüssig, wenn die Befragung eines Beschuldigten unter Verschleierung der Funktion der Privatperson oder des Beamten unabhängig von der Qualifikation als Vernehmung gegen§ 136a StPO verstieße und so grundsätzlich unzulässig wäre. aa) § 136a StPO gilt zwar seiner Stellung in der Strafprozessordnung nach nur für Vernehmungen 18, er wird aber von der Rechtsprechung 19 zum Teil analog angewandt. Nach Ansicht des 5. Strafsenats des BGH liegt in der von den Strafverfolgungsorganen veranlassten Aushorchung eines Beschuldigten durch einen Mitgefangenen ein Verstoß gegen das Zwangsmittelverbot des § 136a StPO. Diese Entscheidung ist in der Literatur20 zwar nicht wegen des Ergebnisses, aber wegen der Begründung auf Kritik gestoßen. Der Verstoß gegen § 136a StPO folge nicht aus der verbotenen Anwendung von Zwang, sondern aus der Verletzung des Täuschungsverbots21. Der Kritik ist insoweit zuzustimmen, als die Annahme des BGH, hier sei unzulässiger Zwang angewendet worden, weil die Untersuchungshaft prozessordnungswidrig dazu missbraucht worden sei, das Aussageverhalten des Beschuldigten zu beeinflussen, nicht zutrifft. Der Beschuldigte ist nicht durch die unzulässige Anwendung der Untersuchungshaft zur Aussage gebracht worden, weil die ordnungsgemäße Haft als solche nicht als Beugemittel eingesetzt wurde, sondern nur die Rahmenbedingung für die Täuschung w~2 . Zweifelhaft ist aber die Annahme der Kritiker des BGH, die Aushorchung habe das Täuschungsverbot des § 136a StPO verletzt. Voraussetzung für die Unzulässigkeil einer heimlichen Befragung wegen in: AKStPO, § 136a Rdnr. 5; Kühl, StV 1986, 187, 188; Rogall, in: SKStPO, § 136a Rdnr. 21; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 5. ts Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 628; Hanack, in: LR, § 136a Rdnr. 6; Kleinknecht/ Meyer-Goßner; § 136a Rdnr. 2; Kramer; Jura 1988, 520, 521 f. 19 BGHSt 34, 362; LG Hannover, StV 1986, 521; LG Darmstadt, StV 1990, 104. 20 Beulke, StV 1990, 180, 183; Fezer, IZ 1987, 937; Grünwald, StV 1987, 470; Kramer, Jura 1988, 520, 524; Lindner; Tauschungen in der Vernehmung, S. 188; Rogall, in: SKStPO, § 136a Rdnr. 56; Seebade, IR 1988, 427; Weiler; GA 1996, 101, 115; Wagner, NStZ 1989, 34.; vgl. aber auch Salditt, GA 1992, 51, 70, der einem faktischen Zwangsbegrifffolgen will. 21 Auf das Verbot der Tauschung hatte im konkreten Fall auch die Strafkammer abgestellt, LG Hannover, StV 1986, 521; vgl. auch LG Darmstadt, StV 1990, 104. 22 Grünwald, StV 1987,470,471.

§ 6 Definition der Vernehmung

69

eines Verstoßes gegen das Täuschungsverbot des § 136a StPO ist die Anwendbarkeit der Vorschrift auf Befragungen, die nicht von einem offen in seiner Funktion auftretenden Strafverfolgungsorgan vorgenommen werden. (1) Zum Teil wird eine differenzierende Behandlung dieser Fälle befürwortet. Danach ist nicht jede gezielte Verleitung zur Selbstbelastung durch Einschaltung einer- vermeintlichen- Privatperson wegen eines Verstoßes gegen § 136a StPO unzulässig; verboten seien nur Befragungen, die in einer "vernehmungsähnlichen Situation" stattfinden23 . Was im Einzelnen unter einer vernehmungsähnlichen Situation zu verstehen ist, bleibt dabei freilich unklar. Im Allgemeinen werden jedoch zwei Merkmale mit der sog. vernehmungsähnlichen Situation verbunden. Bejaht wird eine der Vernehmung gleichende Situation, wenn sich der Beschuldigte der Situation nicht ohne weiteres entziehen kann24 oder wenn die heimliche Befragung die förmliche Vernehmung ersetzen soll25 . Die Anwendung dieser Merkmale führt dazu, dass zwar das Aushorchen des Beschuldigten durch einen Zellengenossen als vernehmungsähnliche Situation unter§ 136a StPO fällt26, nicht aber das Mithören eines Telefonats zwischen einer Privatperson und dem Beschuldigten27.

(2) In Teilen der Literatur28 wird die Anwendbarkeit des § 136a StPO dagegen nicht auf vernehmungsähnliche Situationen beschränkt, sondern auf andere Bereiche des Strafverfahrens ausgedehnt. Das Täuschungsverbot sei ein allgemein gültiger Grundsatz, der auch außerhalb von Vernehmungen Geltung beanspruche. Seine Reichweite ergebe sich aus der Intention des Gesetzgebers, als Reaktion auf die Auswüchse in der NS-Zeit die Wahrheitsfindung grundsätzlich und nicht nur situativ zu beschränken29. § 136a StPO ist nach dieser Ansicht deshalb eine einfachgesetzliche Ausformung des Grundrechts auf Menschenwürde30. Da die Menschenwürde durch verbotene Methoden aber immer und nicht nur in förmlichen Vernehmungen betroffen sei, könne das Täuschungsverbot nicht auf Vernehmungen 23 BGH, NStZ 1995, 410, 411 - Anfragebeschluss -; NStZ 1996, 200, 201 - Vorlagebeschluss-; LG Stuttgart, NStZ 1985, 568; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 636; Lindner, Täuschungen in der Vernehmung, S. 89; Kudlich, JuS 1997, 696, 698; Kühne, in: AKStPO, § 136a Rdnr. 5; Kühl, StV 1986, 187, 188; Rogall, in: SKStPO, § 136a Rdnr. 21; Weiler, GA 1996, 101, 114. 24 Dahle, Kriminalistik 1990, 431 ; Kudlich, JuS 1997, 696, 698; Kühne, in: AKStPO, § 136a Rdnr. 5. 25 BGH, NStZ 1995, 410, 411 - Anfragebeschluss - ; NStZ 1996, 200, 201 - Vorlagebeschluss - ; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 636; Rogall, in: SKStPO, § 136a Rdnr. 21. 26 Kühl, StV 1986, 187, 188; Rogall, in: SKStPO, § 136a Rdnr. 21. 27 Rogall, in: SKStPO, § 136a Rdnr. 21. Anders in dem Fall, der BGH, NStZ 1995, 410;Anfragebeschluss -; NStZ 1996, 200 - Vorlagebeschluss -, zugrunde lag. Hier sollte nach Ansicht des Senats die förmliche Vernehmung umgangen werden. 28 Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 163, Popp, NStZ 1998,95. 29 Greve, in der BT-Debatte arn 26. 7. 1950 StenoBer., 1. Wahlperiode, S. 2882. 30 BVerfG, NStZ 1984, 82; Hanack, in: LR § 136a Rdnr. 2 f., Rogall, in: SKStPO § 136a Rdnr. 3.

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

70

beschränkt werden31 . Text undratiodes § 136a StPO sprächen vielmehr für eine über den Gesetzeswortlaut hinausgehende Reichweite des§ 136a StPO. Die Unzulässigkeit von heimlichen Befragungen ergibt sich nach diesem Ansatz dann, wenn die durch die Täuschung hervorgerufene Vorstellung des Beschuldigten, sein Gesprächspartner handele nicht im Auftrag der Behörden, als spürbare Einflussnahme auf die Willensentschließungsfreiheit empfunden werde. Da der Beschuldigte nicht ausgesagt hätte, wenn diese Fehlvorstellung nicht in ihm geweckt worden wäre, sei im Regelfall von der Unzulässigkeit einer heimlichen Befragung auszugehen32. bb) Eine Auseinandersetzung mit dem Anwendungsbereich des § 136a StPO außerhalb von Vernehmungen erübrigt sich aber, da es sich bei heimlichen Befragungen nicht um relevante Täuschungen i. S. d. § l36a StPO handelt. Eine solche liegt nämlich nur vor, wenn durch die Fehlvorstellung die freie Willensentschließung und -betätigung beeinträchtigt wird. Den Vernehmungsbeamten ist es damit untersagt, auf die Äußerungsfreiheit einzuwirken, indem sie Irrtümer hervorrufen, die eine freie Entscheidung über das Aussageverhalten beeinträchtigen. Daran fehlt es aber, wenn dem Beschuldigten lediglich verborgen bleibt, dass seine Äußerungen zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden kornmen33 . Dieser Irrtum engt den Entscheidungsspielraum des Beschuldigten nicht ein; es liegt allein an ihm, Aussagen zu machen oder nicht34• Da der Beschuldigte, der nicht weiß, dass er es mit einer Strafverfolgungsbehörde zu tun hat, keinem Mitteilungsdruck ausgesetzt ist, der die freie Willensentschließung beeinträchtigt, wird das Täuschungsverbot durch schlichte Heimlichkeit nicht verletzt. Der Irrtum war zwar ursächlich dafür, dass der Beschuldigte an seinem Entschluss festgehalten und sich nicht entgegen seiner ursprünglichen Absicht gegen eine Äußerung entschieden hat; diese Fehlvorstellung schließt die Eigenverantwortlichkeit aber nicht aus 35 . Eine Befragung durch- vermeintliche- Privatpersonen ist daher nicht schon wegen eines Verstoßes gegen § 136a StPO unzulässig. b) Umgehung der Belehrungsvorschrift durch heimliche Befragungen? Damit hängt die Zulässigkeit der staatlich veranlassten Selbstbelastung durch nicht offen auftretende Strafverfolgungsorgane von der Qualifizierung dieser BeDürig, in: Maunz/Dürig, Art. 2 I Rdnr. 34. Lammer; Verdeckte Ermittlungen, S. 165; Popp, NStZ 1998,95. 33 BGHSt (GS) 42, 139, 140; BGH, NStZ 1995, 410, 411 - Anfragebeschluss - ; NStZ 1996, 200, 201 - Vorlagebeschluss -; Beulke, StV 1990, 180, 183; Kudlich, JuS 1997, 696, 698; Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen, S. 77; Reiche, Täuschungsverbot, S. 139; Roxin, NStZ 1995, 465; ders., NStZ 1997, 18; a.A. Laux, SchlHA 1951, 39, 40; Lindner; Täuschungen in der Vernehmung, S. 190. 34 Roxin, NStZ 1995,465. 35 Beulke, StV 1990, 180, 183. 31

32

§ 6 Definition der Vernehmung

71

fragungen als Vernehmungen ab. Sind auch Hörfallen oder andere heimliche Befragungen als Vernehmungen oder vernehmungsähnliche Situationen zu bewerten, so liegt in ihnen eine Umgehung des§ 136 StPO. aa) Aussagen, die zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar durch die Einschaltung einer Privatperson von einem Organ der Strafverfolgungsbehörden herbeigeführt worden sind, sollen nach Ansicht der Vertreter eines funktionalen Vernehmungsbegriffs36 als Vernehmungsergebnisse gelten. Zu demselben Ergebnis kommen diejenigen, die zwar an dem formellen Vernehmungsbegriff festhalten, die Vorschriften über die Vernehmung aber analog anwenden37. Der Beschuldigte wisse zwar nicht, dass er sich in einer Vernehmungssituation befinde, auf dieses Wissen käme es aber gar nicht an, wenn diese Situation amtlich geschaffen worden sei. Es handele sich letztlich um ein Staatshandeln mit dem Ziel, dem Verdächtigen prozessrelevante Informationen abzugewinnen, auch wenn der eigentliche kommunikative Akt durch eine Privatperson vorgenommen werde. Urheber und damit Veranlasser der Äußerungen bleibe die Strafverfolgungsbehörde, die so das Vorliegen einer Vernehmungssituation und die Entäußerung von Informationen (mittelbar) bewirke38 . An diesem Ergebnis ändere auch die mangelnde Offenheit der Umstände der Befragung nichts, da es nicht in der Definitionsmacht des Vernehmungsbeamten liege zu bestimmen, wann eine Befragung als Vernehmung zu qualifizieren sei39. Als Begrundung für dieses Verständnis der Vernehmung wird auf den Sinn und Zweck der zu beachtenden Schutzvorschriften und das Schutzbedürfnis des Befragten, das eher höher sei, wenn er sich nicht einem Organ der Strafverfolgungsbehörde gegenüber sieht, abgestellt40 • Der nemo-tenetur-Grundsatz solle nicht nur vor der Anwendung von Zwang, sondern grundsätzlich auch vor irrtumsbedingter Selbstbelastung schützen41 . Um diese These zu beweisen, wird insbesondere auf die Belehrungspflicht über das Recht zur Verteidigerkonsultation verwiesen: Die Pflicht, den Beschuldigten über das Recht auf die Hinzuziehung eines Verteidigers zu belehren, sei nur erklärbar, wenn § 136 StPO den Zweck verfolge, den Beschuldigten vor irrtumsbedingter Selbstbelastung zu schützen42• Da der Beschuldigte bereits durch die Belehrung über sein Aussageverweigerungsrecht 36 Bockemühl, Private Ennittlungen, S. 22 f.; Dencker, StV 1994, 667, 675; Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 9; Neuhaus, Kriminalistik 1995, 787, 790; Seebode, JR 1988, 427; Weiler, GA 1996, 101, 113; Wolter, ZStW 107 (1994), 753,794. 37 Bemsmann, StV 1997, 116, 117; Derksen, JR 1997, 167, 168; Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen, S. 85 f.; Roxin, NStZ 1995, 465, 466; ders., NStZ 1997, 18 ff. ; v. Stetten, Einsatz Verdeckter Ennittler, S. 130. 38 Dencker, StV 1994,667, 674; Neuhaus, Kriminalistik 1995, 167 ff. 39 Dencker, StV 1994,667, 674. 40 Meyer; JR 1987, 215, 216; Seebode, JR 1988, 427; Wolter; ZStW 107 (1995), 793, 794. 41 Kahlo, in: Festschrift für Wolff, S. 153, 186; Renzikowski, JZ 1997, 714; Rothfuß, StrFo 1998, 289, 293; Roxin, NStZ 1995,465, 466; ders., NStZ 1997, 18 ff.; v. Stetten, Einsatz Verdeckter Ennittler, S. 125 ff.; Weiler; GA 1996, 101, 106; so wohl auch: Bemsmann, StV 1997, 116, 117; Derksen, JR 1997, 116, 117; einschränkend: Rieß, NStZ 1996,505. 42 Rothfuß, StrFo 1998, 289, 293; Roxin, NStZ 1997, 18.

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

72

wisse, dass er nicht zu einer Aussage verpflichtet sei, könne der Hinweis auf das Verteidigerkonsultationsrecht nur bedeuten, dass ein weitergehender Schutz vor irrtümlichen Selbstbelastungen bestehe. Der nemo-tenetur-Satz erstrecke sich somit auf jede von den Strafverfolgungsbehörden veranlasste Selbstbelastung43 . Daraus folge, dass die Belehrungsvorschriften den Sinn haben, den Beschuldigten vor jeder selbstbelastenden Aussage zu bewahren, die auf einer Fehlvorstellung beruht. bb) Dieser Ausgangspunkt wird von der Gegenauffassung44 allerdings bestritten45. Der Sinn der Belehrungsvorschriften bestehe lediglich darin, den Beschuldigten vor dem Irrtum zu bewahren, er sei verpflichtet, vor den Strafverfolgungsbehörden auszusagen46. Wenn eine Privatperson mit dem Beschuldigten in Kontakt trete, wisse dieser, dass er nicht zu einer Äußerung verpflichtet sei47. Seine Fehlvorstellung beziehe sich lediglich auf die Vertrauenswürdigkeit der Person, gegenüber der er sich äußere. Das Risiko, sich selbst zu belasten, indem man der falschen Person vertraue, sei aber vom Beschuldigten zu tragen und werde ihm vom Strafprozessrecht nicht abgenommen48. cc) Die Anwendbarkeit des § 136 StPO auch auf Befragungen, die von- vermeintlichen -Privatpersonen durchgeführt werden, und die daraus folgende Unzulässigkeit heimlicher Veranlassungen einer Aussage insgesamt, hängen damit von dem Sinn der Belehrungsvorschriften ab. Der Zweck der Belehrung kann aber nur bestimmt werden, wenn es gelingt, die Frage zu beantworten, inwieweit der Beschuldigte vor irrtumsbedingter Selbstbelastung geschützt ist. Entscheidend ist damit die inhaltliche Reichweite der Selbstbelastungsfreiheit

2. Reichweite des nemo-tenetur-Grundsatzes

Nach dem nemo-tenetur-se-ipsum-accusare-Grundsatz darf der Beschuldigte jedenfalls nicht gezwungen werden, sich selbst aktiv zu belasten. Über diesen Inhalt des nemo-tenetur-Satzes -das Verbot der Anwendung von Zwang- besteht Einigkeit. Fezer, NStZ 1996, 289, 290. BGHSt 39, 335, 347; 40, 211, 215; 42, 139, 142; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 516; Haas, GA 1995, 230, 235; Hel/mann, Strafprozessrecht, Teil Il, § 5 Rdnr. 18; Kudlich, JuS 1997, 696, 699; Pfeiffer, § 136 Rdnr. 1, § 163a Rdnr. l; Seitz, NStZ 1995, 519; StembergLieben, Jura 1995, 299, 308; Verrel, NStZ 1997, 415 ff. 45 Das BVerfG hat über diese Frage nicht entschieden, weil es zwei Verfassungsbeschwerden, die sich darauf beriefen, die StPO schütze auch vor irrtumsbedingten Selbstbelastungen wegen Begriindungsmangel abgelehnt hat, NStZ 2000, 488,489. 46 Verrel, NStZ 1997, 415,416. 47 Hel/mann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 18. 48 Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 18; Seitz, NStZ 1995, 519; StembergLieben, Jura 1995, 299, 308. 43

44

§ 6 Definition der Vernehmung

73

Umstritten ist allerdings, ob sich der Gehalt des Selbstbezichtigungsprivilegs in dem Verbot, eine Selbstbelastung durch ein bestimmtes Mittel - nämlich Zwang herbeizuführen, erschöpft. a) Nach althergebrachter Auffassung49 schützt der nemo-tenetur-Grundsatz nur vor der Anwendung von Zwang zur Herbeiführung einer selbstbelastenden Aussage. Es gebe kein Schweigerecht im weiteren Sinne, das einen völligen Schutz gegen jede unbewusste Selbstbelastung oder jede Verleitung zur Selbstbelastung gewährleiste50. Das folge aus dem Verhältnis von Selbstbelastungsfreiheit und Enschließungsfreiheit51 • Diese Rechte des Beschuldigten seien nämlich nicht deckungsgleich. Durch den nemo-tenetur-Grundsatz sei lediglich die Nötigung, durch eigene Äußerungen seine Strafbarkeit zu offenbaren, erfasst, während die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Entscheidung nur durch § 136a StPO geschützt sei52. Inhalt der Selbstbelastungsfreiheit ist danach nicht der Schutz der allgemeinen Entschließungsfreiheit, sondern die Abwehr finaler Zwangsausübung. Aus dieser Beschränkung des nemo-tenetur-Satzes folgt, dass ein allgemeines Täuschungsverbot nicht aus ihm hergeleitet werden kann, da sich Täuschungen und Heimlichkeit nur gegen die freie Willensentschließung richten. Ein derart weitgehender Schutz vor unbewussten Selbstbelastungen werde von der Selbstbezichtigungsfreiheit nicht gewährleistet, die nicht die Entschließungsfreiheit umfasse, sondern nur ein Verbot der Zwangsanwendung zur Herbeiführung einer Selbstbezichtigung53 . b) In der neueren Literatur54 setzt sich hingegen zunehmend eine weitergehende Interpretation des nemo-tenetur-Grundsatzes durch. Mit dem Selbstbelastungsprivileg vereinbar sei eine Aussage ausschließlich dann, wenn sie das Ergebnis einer eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Entscheidung ist, weil der nemo-teneturSatz nicht nur vor finaler Zwangsausübung, sondern auch vor der Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit schütze. Unerheblich ist nach dieser Auffassung, wie der Beschuldigte zu einer Selbstbelastung veranlasst worden ist, wenn seine Eigenverantwortlichkeit beeinträchtigt worden ist. Zur Begründung wird darauf verwie49 Dingeldey, JA 1984, 407, 409; Frister, ZStW 106 (1994), 303, 319; Grosjean, Beschuldigteneigenschaft, S. 58; Grünwald, JZ 1981, 423, 428; Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 139 f.; Stürmer, NJW 1981, 1757 f.; Verrel, NStZ 1997, 415 ff. 50 !.Ammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 160; Reiche, Tauschungsverbot, S. 32; Verrel, NStZ 1997,415. 51 Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 137; ders., JZ 1987, 847, 851. 52 Nach Lorenz, JZ 1992, 1000, 1006, ist es ein Charakteristikum des nemo-tenetur-Satzes, dass Rechte zum Schutz der Umgehung der Selbstbelastungsfreiheit einfachgesetzlicher Natur sind. 53 Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 139. 54 Kahlo, in: Festschrift für Wolff, S. 153, 186; Keller, Provokation von Straftaten, S. 135; Kühl, StV 1986, 190; Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 638; Makrutzki, Verdeckte Ermittlungen, S. 87 ff.; Ransiek, Polizeivemehmung, S. 48 ff.; Rothfuß, StrFo 1998, 289, 293; Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 387 f.; Salditt, GA 1992, 51, 66 f.; Wolfs/ast, NStZ 1987, 103; Wollweber, NStZ 1998,311.

74

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

sen, dass die Voraussetzungen des § 136a StPO nicht erklärt werden könnten, wenn es nur um das Verbot von Zwang ginge55 . Darüber hinaus lasse die Ansicht, der Beschuldigte sei nur vor der zwangsweisen Beeinträchtigung der Selbstbelastungsfreiheit geschützt, die Frage offen, warum Zwang zur Selbstbelastung verboten sei und welche Freiheiten das Verbot schütze. Ein Verbot könne aber nicht aus sich heraus begründet werden, sondern bedürfe der Bestimmung der dadurch geschützten lnteressen56. Die Beschränkung des Verbots auf die Anwendung von Zwang zur Herbeiführung einer selbstbelastenden Aussage lässt nach dieser Auffassung die Frage, was durch das Verbot geschützt werde, erst aufkommen57 • Auch der von der Gegenauffassung üblicherweise verwendete Hinweis auf die Unzumutbarkeit des Konflikts, sich entweder selbst zu belasten oder den Zwang hinnehmen zu müssen58, könne zu einer Erklärung nichts beitragen 59• Eine solche Wahlsituation zwischen zwei Übeln sei im Alltag nichts Besonderes und vermöge das nemo-tenetur-Prinzip nicht zu erklären60•

3. Schutz der eigenverantwortlichen Entscheidung des Beschuldigten Welcher Auffassung zuzustimmen und ob der nemo-tenetur-Grundsatz Ausdruck der Eigenverantwortlichkeit im Strafprozeßrecht ist, lässt sich nur durch die Herkunft der Selbstbelastungsfreiheit beantworten.

a) Freiheit der Selbstbelastung als Ausdruck der Subjektsstellung des Beschuldigten Das BVerfG stellt im Gemeinschuldner-Beschluss61 fest, dass jeder Zwang zur Selbstbezichtigung als Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit sowie als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zu beurteilen ist. Zugleich spricht es aber auch von einer Unvereinbarkeit der erzwungenen Selbstbelastung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG62. Die Heranziehung der MenschenwürRansiek, Polizeivernehmung, S. 48. Ransiek. Polizeivemehmung, S. 49. 57 Ransiek. Polizeivemehmung, S. 48. 58 BVerfGE 56, 37, 41; Grünwald, JZ 1981, 428; Puppe, GA 1978, 289,299. 59 Weßlau, ZStW 110, (1998), 1, 26. 60 Ransiek, Polizeivemehmung, S. 52. 6t BVerfGE 56, 49. 62 In der Literatur wird die Herleitung des nemo-tenetur-Grundsatzes aus der Menschenwürdegarantie zum Teil bestritten: Günther, GA 1978, 193, 195; Nothhelfer, Selbstbezichtigungszwang, S. 63 ff. Dem BVerfG folgend: Eser, in: Deutsch-ungarisches Kolloquium S. 147, 150; Gold, JA 1995, 411 , 412; Grünwald, StV 1987, 453, 457; Lammer, Verdeckte Ermittlungen, S. 159; Niemöller/Schuppert, AöR 107 (1982), 387, 428; Rogall, in: SKStPO, 55

56

§ 6 Definition der Vernehmung

75

degarantie zeigt, dass der Eingriff in die Rechte des Beschuldigten als eine Verachtung der Würde des Menschen erscheinen muss. Die Behandlung als Objekt genügt für sich aber nicht, um eine solche Verletzung zu begründen63 . Der Beschuldigte ist nämlich durchaus Objekt des Strafverfahrens, wie die umfangreichen Ermittlungsbefugnisse der Ermittlungsorgane zeigen64• Zur Begründung des nemo-tenetur-Satzes reicht die Objektformel danach nicht aus65 . Die Eingriffsbefugnisse verpflichten den Beschuldigten aber lediglich zur passiven Duldung, während die Pflicht, gegen sich selbst auszusagen, eine aktive Mitwirkung des Beschuldigten erforderte. Eine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung widerspricht aber nicht nur der Objektformel, sondern auch der Rolle des Beschuldigten als Prozesssubjekt66. Die Gewährleistung von Handlungsfreiheit und Menschenwürde verbürgt nämlich nicht nur, dass der Beschuldigte nicht als Objekt behandelt wird, sondern darüber hinaus die Anerkennung seiner Stellung als Prozesssubjekt67 • Wie die Herleitung des nemo-tenetur-Grundsatzes aus der Handlungsfreiheit und der Menschenwürde zeigt, handelt es sich bei der Freiheit der Selbstbelastung also um eine Ausprägung der Subjektsstellung des Beschuldigten68 . Im Gegensatz zum lnquisitionsprozess, in dem der Beschuldigte ausschließlich Objekt des Verfahrens war, soll der Beschuldigte im modernen Strafprozess nicht zu seiner Überführung beitragen müssen, weil er als Subjekt als Träger von Rechten anerkannt ist69. Mit der Subjektsstellung des Beschuldigten wäre es aber unvereinbar, wenn der Staat sich die notwendigen Informationen durch den Beschuldigten selbst besorgen würde, indem er eine Verpflichtung zur Selbstbelastung anerkennt. Der Grundsatz, dass der Beschuldigte nur freiwillig an seiner Überführung mitwirken darf, folgt also aus der Anerkennung des Beschuldigten als eigenverantwortliches Prozesssubjekt b) Selbstbestimmung als Inhalt der Rechtssubjektivität Mit der Erkenntnis, dass die Objektformel nicht ausreicht, um den nemo-tenetur-Satz zu begründen, sind die weiteren Vorgaben für die Auslegung der Selbstbelastungsfreiheit gestellt: Es kann nicht nur darum gehen, den Beschuldigten von Vorbem. § 133 Rdnr. 132; Rüping, JR 1974, 135, 136; Stünner; NJW 1981, 1757; Wolter; in: Gedächtnisschrift für Meyer, S. 493, 514. 63 BVerfGE 30, 1, 26. 64 Vgl. die körperliche Untersuchung(§ 81a StPO), die Beschlagnahme(§§ 94 ff. StPO), die Überwachung des Brief- und Fernmeldeverkehrs (§§ 99 ff. StPO), die Durchsuchung, (§§ 102 ff. StPO), die Anordnung der Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO), die vorläufige Festnahme(§§ 127 ff. StPO), zwangsweise Vorführung des Beschuldigten(§ 134 StPO). 65 Günther; GA 1978, 193, 194; Rogall, Der Beschuldigte, S. 141; Saiger; Schweigerecht, S. 13; Verrel, NStZ 1997,415, 417. 66 Rüping, JR 1974, 135, 139. 67 Eser, in: Deutsch-ungarisches Kolloquium, S. 147, 148. 68 Ransiek, Polizeivernehmung, S. 53; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 59. 69 Rieß, JA 1980, 293; Rüping, JR 1974, 135 ff.

76

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

Zwang freizuhalten, sondern darüber hinaus muss er als Prozesssubjekt selbstbestimmt über seine eigene Mitwirkung an der Überführung entscheiden können70. aa) Die Erzwingung der Selbstbelastung macht den Beschuldigten unter Verletzung des Verfahrensgrundsatzes der Prozesssubjektivität zum Objekt. Deshalb stellt das Verbot der Anwendung von Zwang zur Herbeiführung der Selbstbezichtigung sicher, dass der Beschuldigte nicht zum Objekt staatlicher Ermittlungstätigkeit wird. Das Verbot der Anwendung von Zwang macht den Beschuldigten aber noch nicht zum Prozesssubjekt Der Schwerpunkt der Interpretation des nemotenetur-Grundsatzes muss aber auf der Sicherung der Subjektsqualität liegen. Inhalt eines nemo-tenetur-Grundsatzes, der die Subjektsstellung des Beschuldigten zum Ausdruck bringt, kann nur sein, dass der Beschuldigte selbstverantwortet und selbstbestimmt darüber entscheiden kann, ob er zu seiner Überführung beiträgt oder nicht71 . Da die Zuschreibung der Subjektsrolle für den Beschuldigten bedeutet, dass ihm eigenverantwortliche Entscheidungen zugetraut, aber auch zugemutet werden, muss auch das Schweigerecht als Bestandteil der Subjektsstellung der Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten verpflichtet sein72 . Wenn also die Entscheidung des Beschuldigen, sich aktiv zu beteiligen und von seinen Rechten Gebrauch zu machen, nach seinen Vorstellungen von der Richtigkeit zu treffen ist, dann muss der Inhalt des nemo-tenetur-Grundsatzes darin bestehen, daß der Beschuldigte eigenverantwortlich und selbstbestimmt darüber entscheiden kann, ob er sich selbst belastet73 . Es reicht nicht aus, den Beschuldigten vor Zwang zur Herbeiführung einer selbstbelastenden Aussage zu schützen, sondern es muss darüber hinaus die Möglichkeit einer selbstbestimmten Entscheidung über die Verfahrensbeteiligung abgesichert werden. Das wird auch im anerkannten Inhalt des nemotenetur-Grundsatzes deutlich, nach dem sich der Beschuldigte nicht nur über das Ob der Aussage frei entscheiden kann, sondern auch über das Was und WievieL Dass der Beschuldigte nicht nur ein Aussageverweigerungsrecht, sondern darüber hinausgehend das Recht besitzt, sich nach seinem Verständnis von der richtigen Verteidigungsstrategie über die Ausübung seines Schweigerechts umfassend zu entscheiden, belegt bereits, dass es nicht nur um das Verbot von Zwang geht, sondern um die Stellung des Beschuldigten als Prozesssubjekt, das eigenverantwortlich seine Chance zur Verfahrensbeeinflussung wahrnimmt. Ein Schweigerecht, das Ausdruck der Subjektsstellung ist, kann damit nur zum Inhalt haben, dass der Beschuldigte das Recht hat, eigenverantwortlich und selbstbestimmt darüber zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er sich äußert oder ob er es vorzieht zu schweigen74 . Rzeplw, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 387. Keller, Provokation von Straftaten, S. 134; Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 638; ders., GA 2000,355, 362; Weßlau, ZStW 110 (1998), 1, 26. 72 Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 638; ders., GA 2000, 355, 362; Rzeplw, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 387. 73 Salditt, GA 1992, 41, 66. 70 71

§ 6 Definition der Vernehmung

77

bb) Dagegen kann auch nicht eingewandt werden, dass die Entschließungsfreiheit nicht über die grundrechtlich abgesicherte Subjektsstellung, sondern einfachgesetzlich durch § 136a StPO geschützt seC5 . Diese Ansicht würde zu einer Bindung der Freiheit, sich selbstverantwortlich am Verfahren zu beteiligen, an das grundsätzlich wandelbare einfache Recht führen 76• Die Freiheit, nur selbstbestimmt am Verfahren teilzunehmen, kommt zwar durch die Regelung des § 136a StPO einfachgesetzlich konkretisiert zum Ausdruck. Die Möglichkeit, Prozesshandlungen als freie Persönlichkeit vorzunehmen, ist aber darüber hinaus bereits Teil der grundrechtlich garantierten Subjektsstellung77• Das Selbstbelastungsprivileg als fundamentaler Bestandteil der Anerkennung der Rechtssubjektivität soll damit über das Verbot der Anwendung von Zwang hinaus gewährleisten, dass der Beschuldigte Herr seiner Entschlüsse ist und sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann78 . 4. Folgerungen aus dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit für die Zulässigkeif von heimlichen Befragungen

Das Ergebnis, dass neben der Freiheit von Zwang auch die Entschließungsfreiheit geschützt ist, bedeutet jedoch nicht, dass es ein Schweigerecht im weiteren Sinne gibt, das einen Schutz gegen jede unbewusste Selbstbelastung garantiert79. Die mit der Subjektsstellung einhergehende Eigenverantwortlichkeit des Beschuldigten bedeutet nämlich auch, dass das Strafprozessrecht vor bestimmten eigenverantwortlich eingegangenen Risiken gerade nicht schützt80. a) Zwar scheint die Anerkennung eines Schutzes der freien Entschließung für die Ansicht zu sprechen, der Beschuldigte sei vor jeder irrtumsbedingten Selbstbelastung geschützt und heimliche Befragungen seien verboten. Deshalb wird von Teilen der Literatur81 angenommen, der Beschuldigte könne sich nicht eigenverantwortlich entscheiden, ob er sich selbst belasten will, wenn er darüber getäuscht werde, dass die - vermeintliche - Privatperson von den Strafverfolgungsbehörden eingesetzt worden ist. Diese Auffassung ist jedoch schon inkonsequent, wenn es Salditt, GA 1992, 51, 66. So: Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 137. 76 Kahlo, KritV 1997, 183, 192; Rüping, JR 1974, 135, 136. 77 Rüping, JR 1974, 135, 136. 78 BVerfGE 49, 286, 298; 56, 37, 43. Mit ausdrücklichem Bezug zum Selbstbelastungszwang: BVerfGE 65, 1, 42. Boujong, in: KK, § 136a Rdnr. 1; Nothhelfer, Selbstbezichtigungszwang, S. 82. 79 So: Kahlo, in: Festschrift für Wolff, S. 153, 186; Kühl, StV 1986, 187, 190; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 62; Wolfs/ast, NStZ 1987, 103 ff. 80 Bottke, Jura 1987, 356, 361; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 843; Schmidt-Aßmann, in: Maunz-Dürig, Art. 103 Abs. 1 GG Rdnr. 5. 81 Keller, Provokation von Straftaten, S. 135; Ransiek, Polizeivernehmung, S. 62. 74

75

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

78

um die Beurteilung von selbstbelastenden Äußerungen gegenüber Dritten geht, die sich im Anschluss an das Gespräch der Polizei anvertrauen. In diesen Fällen soll es in den Verantwortungsbereich des Beschuldigten fallen, wenn die Vertrauensperson die Information weitergibt82 . Der Unterschied zu den Hörfallen liegt nach dieser Ansicht darin, dass der Beschuldigte nicht zu einer Aussage verleitet werde und die Selbstbelastung ihm deshalb selbst zuzurechnen sei. b) Diese Auffassung missachtet jedoch die Bedeutung des Eigenverantwortlichkeitsprinzips. Die Forderung nach einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Entscheidung kann nämlich nicht bedeuten, dass der Beschuldigte alle für seine Entscheidung relevanten Tatsachen gekannt haben muss 83 . Trotz des Irrtums über einen für die Entscheidung relevanten Umstand ist die Entscheidung zur Aussage dann eigenverantwortlich, wenn der Irrtum in den Verantwortungsbereich des Beschuldigten fallt 84. Der Irrtum über die Eigenschaften bzw. Vertrauenswürdigkeit der Person, der sich der Beschuldigte anvertraut, fallt aber in seinen Verantwortungsbereich. Der Beschuldigte verfügt nämlich über alle relevanten Informationen, die für eine selbstbestimmte Aussage notwendig sind. Er weiß, dass er sich gegenüber einer - vermeintlichen - Privatperson belastet und damit eine Information unbeherrschbar in die Außenwelt entläßt. Der Irrtum bezieht sich lediglich auf die Vertrauenswürdigkeit der Person, der gegenüber die Äußerungen gemacht werden. Dieser Irrtum hat aber keinen Ausschluss der Eigenverantwortlichkeit zur Folge, da es gerade in den Verantwortungsbereich des Beschuldigten fallt, keine selbstbelastende Informationen an Dritte weiterzugeben85 • Ob der Dritte von den Strafverfolgungsbehörden bestimmt worden ist, den Beschuldigten zu befragen oder sich erst im Ausschluss an die Kenntnisnahme belastender Umstände an die Polizei wendet, ist dabei unerheblich. Belastet sich der Beschuldigte bewusst gegenüber einem privaten Dritten, so ist diese Entscheidung eigenverantwortlich86 . c) Die Behauptung, das Strafprozessrecht schütze vor einer irrtumsbedingten Selbstbelastung, ist also in dieser Generalität nicht zu halten. Dass das Risiko einer Mitwirkung vom Beschuldigten zu tragen ist, ergibt sich schon aus der fehlenden Verpflichtung, bei der Beweisführung die möglichen Schlüsse aufzudecken, die aus der Aussage gezogen werden können. Der Beschuldigte darf also im Unklaren gelassen werden, welche genaue Bedeutung seine Aussage hat, wenn er darüber belehrt worden ist, dass seine Einlassung grundsätzlich im Prozess verwertet werden kann 87 • Vor einem Irrtum, der zur Selbstbelastung führt, ist der Beschuldigte also nicht grundsätzlich geschützt. Da ein Schutz vor jeder irrtumsbedingten

83

Ransiek, Polizeivernehrnung, S. 62. Lammer; Verdeckte Ermittlungen, S. 158.

84

Lesch, GA 2000, 355, 362.

82

Bottke, Jura 1987,356, 357. 86 Lammer; Verdeckte Ermittlungen, S. 159. Im Ergebnis auch Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 638; GA 2000, 362 f. 87 Dencker; StV 1994, 667, 674. 85

§ 6 Definition der Vernehmung

79

Selbstbelastung in der Konsequenz hieße, den Beschuldigten nicht als selbstbestimmtes Subjekt, sondern als unmündigen Bürger zu behandeln, ist diese Auffassung mit dem Prinzip der Eigenverantwortlichkeit nicht zu vereinbaren. Der Beschuldigte ist im modernen Strafprozess deshalb nur vor Irrtümern zu schützen, die seine Eigenverantwortlichkeit ausschließen. Die Belehrung verfolgt demnach nur das Ziel, den Beschuldigten über seine Rechte in Kenntnis zu setzen, damit er selbstbestimmt am Verfahren teilnehmen kann. Das heißt in diesem Zusammenhang, der Beschuldigte muss darüber aufgeklärt werden, dass er nicht verpflichtet ist, vor den Strafverfolgungsbehörden auszusagen, und dass es ihm freisteht, einen Verteidiger hinzuzuziehen. Es ist aber keineswegs Ziel der Belehrung, den Beschuldigten umfassend vor irrtumsbedingter Selbstbelastung zu schützen, weil nicht jeder Irrtum die Eigenverantwortlichkeit ausschließt. Die Belehrungspflichten entstehen demnach nicht bei Befragungen, in denen die Strafverfolgungsbehörden dem Betroffenen nicht in ihrer Funktion entgegentreten. Befragungen von vermeintlichen - Privatpersonen sind also keine Vernehmungen oder vernehmungsähnliche Auskunftsersuchen, sondern entscheidendes Merkmal der Vernehmung ist, dass die Aussage durch ein offen operierendes Strafverfolgungsorgan veranlasst wurde. 111. Das Merkmal der Innerprozessualität Die heimlich durchgeführte Befragung wäre im Übrigen nur dann eine Vernehmung, wenn sie im Rahmen eines bereits eingeleiteten Strafverfahrens stattfindet. Die Angaben, die ein Zeuge machen kann, sollen die Ermittlung einer Straftat fördern88, die des Beschuldigten seiner Verteidigung dienen89. Die veranlassten Aussagen beziehen sich auf den "Gegenstand der Untersuchung" (§ 69 Abs. 1 S. 2 StPO) oder auf die "Beschuldigung" (§ 136 Abs. l S. 2 StPO). Die entäußerten Informationen stehen also in einem konkreten Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren. Damit ist der Vernehmung das Merkmal der "lnnerprozessualität" immanent90• Äußerungen, die im Vorfeld eines Ermittlungsverfahrens gemacht worden sind, können schon begrifflich nicht aus einer Vernehmung stammen. IV. Merkmale der Vernehmung Die Vernehmung zeichnet sich demnach durch die Merkmale "Veranlassen einer Aussage durch ein offen operierendes Strafverfolgungsorgan" und der "lnnerprozessualität" aus. Die Vernehmung ist deshalb zu definieren: Die Veranlassung einer Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 48 Rdnr. 157. Ausführlich dazu unter§ 9. 90 Fincke, ZStW 95 (1983), 918, 948; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 48 Rdnr. 156, § 136, Rdnr. 6. 88 89

80

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

Person, durch Äußerungen sach- oder prozessrelevante Informationen abzugeben, wenn der Veranlasser Strafverfolgungsorgan ist und als solches tätig wird91 .

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung von der sog. informatorischen Anhörung Besondere Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung der Vernehmung von der sogenannten informatorischen Befragung. Die Grenzziehung wird insbesondere dadurch erschwert, dass der Begriff der informatorischen Befragung weitgehend ungeklärt ist. Mit dem Begriff der informatorischen Befragung werden unterschiedliche Arten der Erhebung von Informationen durch die Strafverfolgungsbehörden belegt. Ausgeschieden werden können bereits an dieser Stelle die Vorbesprechungen mit dem zu Vernehmenden innerhalb der Vernehmung, deren Ziel es ist, den Ablauf der Vernehmung zu besprechen92 • In der polizeilichen Praxis werden diese Vorgespräche zum Teil mit der informatorischen Befragung gleichgesetzt93. Von den informatorischen Befragungen sind außerdem die Spontanäußerungen, die jemand ohne äußere Veranlassung durch die Strafverfolgungsbehörde macht, zu unterscheiden. Beide Arten der Informationsgewinnung werden bisweilen unter den Begriff der informatorischen Anhörung zusammengefaßt94, der von anderen Autoren als Bezeichnung für die informatorischen Befragung verwendet wird95 . Die hier zu untersuchenden informatorischen Befragungen werden im Allgemeinen als ein "Herumfragen" im Stadium der Vorermittlungen beschrieben, das dazu dient, bereits im Vorfeld der Ermittlungen ein grobes Bild darüber zu gewinnen, ob wirklich der Verdacht einer Straftat besteht96 (was den ersten Zugriff zur Folge hätte) oder ob die betreffende Person als Zeuge oder Beschuldigter zu vernehmen ist97.

91 Ähnlich: Fincke, ZStW 95 (1983), 918, 948; Geyer, Pflicht zur Belehrung, S. 17; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 48 Rdnr. 155; § 136 Rdnr. 6. 92 Krause, Die Polizei 1978, 305, 306. 93 Wulf, Polizeiliche Beschuldigtenvernehmung, S. 143, 161. 94 Geppert, in: Festschrift für Oehler, S. 323. 95 Moormann, Informatorische Anhörung; Lüder gen Lühr, Die Polizei 1985, 43, 44. 96 Häufig wird im diesem Zusammenhang auf die Definition von Riegel, BayVBL 1977, 682, 683 verwiesen: "Es handelt sich noch nicht um den konkreten Anfangsverdacht, sondern um das Herumstochern im Nebel". 97 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 4 ; Geppert, in: Festschrift für Oehler, S. 323; Haas, GA 1995, 230, 232; Kleinknecht, Kriminalistik 1965, 449, 451; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 163 Rdnr. 9; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 42; ders., MDR 1977, 978; Wache, in: KK, § 163 Rdnr. 8; Weßlau, Vorfelderrnittlungen, S. 80.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

81

I. Informatorische Befragungen als strafprozessuale Ermittlungsmaßnahme

Durch diese vage Funktionsbeschreibung ist die informatorische Befragung aber nicht hinreichend beschrieben. Unklar bleibt bei dieser Beschreibung insbesondere, ob es sich überhaupt um eine repressive Maßnahme handelt. 1. Abgrenzung der repressiven informatorischen Befragungen von Orientierungsfragen

a) Das ergibt eine Gegenüberstellung von informatorischen Befragungen mit den hier sogenannten Orientierungsfragen98 . Als Orientierungsfragen werden Befragungen, die durchgeführt werden, bevor ein Verdacht besteht, bezeichnet. Es handelt sich bei den Orientierungsfragen um klassische Maßnahmen in einem Verfahrensstadium, in denen der Polizeibeamte noch nicht abschätzen kann, ob ein strafrechtlich relevantes Geschehen vorliegt oder präventive Maßnahmen ergriffen werden müssen. Gerade im Stadium des ersten Zugriffs können polizeiliche Maßnahmen neben der Aufklärung der geschehenen Tat zugleich der Verhinderung weiterer Gefahren dienen. Nur Befragungen, die in diesem Stadium stattfinden, können als Orientierungsfragen bezeichnet werden. Es handelt sich beispielsweise um Orientierungsfragen, wenn ein Polizeibeamter ein verunfalltes Auto im Straßengraben entdeckt und die Anwesenden fragt, was geschehen sei. Diese Frage dient der Klärung, ob überhaupt ein strafrechtlich relevantes Geschehen vorliegt oder lediglich präventive Maßnahmen (Veranlassen der Sicherung der Unfallstelle und Abschleppen des verunfallten Wagens) ergriffen werden müssen. Der Begriff der Orientierungsfragen ist dabei eng zu verstehen. Der Anwendungsbereich beschränkt sich also auf Fallgestaltungen, in denen die Polizei noch nicht ausschließlich repressiv tätig wird, sondern sich erst einen Überblick über das Geschehen verschafft. Dagegen handelt es sich nicht mehr um Orientierungsfragen, wenn der Polizeibeamte repressiv zur Aufdeckung einer Straftat tätig wird. Bemerkt der Polizeibeamte in obigen Beispiel nach der ersten Antwort des mutmaßlichen Fahrers des verunfallten Pkws, dass der Fahrer offensichtlich angetrunken ist, so ist eine weitere Befragung nicht mehr unter den Begriff der Orientierungsfragen zu fassen. Stellt der Polizeibeamte weitere Fragen, so haben diese repressiven Charakter. Um Orientierungsfragen handelt es sich also nur, wenn noch unklar ist, ob überhaupt ein strafrechtlich relevantes Geschehen vorliegt. b) Auf den ersten Blick scheinen die so umschriebenen Orientierungsfragen dem Anwendungsbereich der informatorischen Befragung zu entsprechen. Dies gilt zumindest für den ersten Teil der üblicherweise vorgebrachten Funktionsbe98 Terminologie in Anlehnung an Achenbach, in: AKStPO, § 163a Rdnr. 23; ihm folgend: Hel/mann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 19, die aber bezüglich des Anwendungsbereiches der Orientierungsfragen zumindest missverständlich sind.

6 Seckernper

82

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

schreibung der informatorischen Befragung, nämlich der Klärung, ob überhaupt der Verdacht einer Straftat besteht. Die informatorischen Befragungen wären aber nur dann mit den Orientierungsfragen identisch, wenn mit der Formulierung, die informatorischen Befragung diene der Aufklärung im Vorfeld der Ermittlung, das Stadium gemeint ist, in dem noch kein Verdacht besteht. Von den Orientierungsfragen zu unterscheiden sind die informatorischen Befragungen dagegen dann, wenn mit der Aufdeckung des Verdachts im Vorfeld der Ermittlungen ein dem Ermittlungsverfahren vorgeschaltetes repressives Vorverfahren umschrieben werden soll. 2. Informatorische Befragungen als Befragungsform zwischen Orientierungsfragen und Vernehmung Die Frage, ob die von der Rechtsprechung und Literatur anerkannte Maßnahme der informatorischen Befragung mit den hier so genannten Orientierungsfragen deckungsgleich ist, kann nur beantwortet werden, indem die Begründungsversuche und die Zulässigkeitsgrenzen der informatorischen Befragung herangezogen werden. a) Begründungen für die Existenz der informatorischen Befragung aa) Die Zielsetzung der informatorischen Befragung scheint zwar auf den ersten Blick dafür zu sprechen, dass der Anwendungsbereich der beiden Befragungen deckungsgleich ist. Die nähere Betrachtung zeigt indes, dass keineswegs die Situation umschrieben wird, in der die Polizeibeamten noch nicht wissen, ob überhaupt ein strafrechtlich relevantes Geschehen vorliegt. Die informatorische Befragung wird - wie dargestellt - üblicherweise als ein "Herumfragen" im Vorfeld der Ermittlungen umschrieben. Die informatorische Befragung wird als die klassische Maßnahme innerhalb der strafprozessualen Vorermittlungen angesehen99. Schon diese Zuordnung zum Stadium der Vorermittlungen verdeutlicht das Verständnis von der repressiven Natur der informatorischen Befragung. Auch Vorermittlungen sind Maßnahmen zur Klärung eines Verdachts, der lediglich - angeblich - geringer sei als der für die Einleitung eines regulären Ermittlungsverfahrens notwendige Anfangsverdacht Ermittlungsmaßnahmen im Stadium der sog. Vorermittlungen sind damit notwendigerweise repressiv. Auch die Funktion, die der informatorischen Befragung zugeschrieben wird, belegt deren repressiven Charakter. Ziel der Befragung soll sein, sich einen ersten Überblick über das Tatgeschehen zu machen100 und die Möglichkeit zu fördern, den befragten Personen alsbald eine Prozessrolle zuschreiben zu können 101 . Mit dieser Formulierung wird bereits ausgeRogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 42; Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 80. wo Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 113; Geyer, Pflicht zur Belehrung, S. 20; Ranft, Strafprozessrecht, Rdnr. 299. 99

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

83

drückt, dass von dem Vorliegen eines Tatgeschehens, also einer strafrechtlich relevanten Sachlage, ausgegangen wird. Auch die Formulierung, die Zuschreibung einer Prozessrolle solle ermöglicht werden, kann nur bedeuten, dass die Polizeibeamten bereits zur Aufklärung eines - möglicherweise noch vagen - Verdachts tätig werden. bb) Deutlicher wird der Eindruck, dass es sich bei der informatorischen Befragung um eine repressive Maßnahme handelt, wenn die Begründungen für die Existenz dieser in der StPO nicht geregelten Ermittlungsmaßnahme analysiert werden. Die informatorische Befragung wird überwiegend auf kriminalpolitische Erwägungen gestützt 102• Für die ermittelnden Beamten im ersten Zugriff gäben die vorhandenen Informationen oftmals nicht genügend Aufschluss über die Beweislage, die in Frage kommenden Täter und die erfolgsversprechenden Maßnahmen. In dieser Situation sei die informatorische Befragung das geeignete Mittel, um die benötigten Informationen zusammenzutragen. Es wird zwar besonders betont, dass die Polizei noch nicht mit dem Ziel der Überführung des Täters tätig werde, sondern zur Aufklärung des Geschehens im Allgemeinen, um eine strafrechtliche Bewertung überhaupt möglich zu machen 103 . Die Umschreibung, die Beamten hätten im ersten Zugriff(!) oftmals noch nicht genügend Anhaltspunkte, weil die Beweislage noch ungeklärt sei und die Befragung dazu diene, die strafrechtliche(!) Bewertung zu ermöglichen, zeigt indes, dass es sich offensichtlich um eine repressive Maßnahme zur weiteren Klärung eines - wenn auch geringen - Anfangsverdachts handelt. cc) Die informatorische Befragung ist demnach nicht mit den hier so genannten Orientierungsfragen gleich zu setzen, die lediglich der Klärung dienen, ob überhaupt repressiv gehandelt werden muss. Während es sich bei den Orientierungsfragen um Maßnahmen handelt, die es nicht zum Ziel haben, einen Tatverdacht zu klären, sondern die Bewertung einer Sachlage erst möglich machen sollen, stellen informatorische Befragungen Maßnahmen zur Aufklärung eines vagen Verdachts dar. Orientierungsfragen sind im Gegensatz zu informatorischen Befragungen keine Maßnahmen im repressiven Stadium der sog. Vorfeldermittlungen und Anlass ist nicht der Verdacht einer Straftat. Dagegen werden informatorische Befragungen offensichtlich als nicht geregelte Ermittlungsmaßnahmen für die Aufklärung eines noch nicht konkreten Tatverdachts verstanden.

Kleinknecht, Kriminalistik 1965, 449, 451; Rieß, JA 1980,293,298. Vgl. die sich gleichenden Begründungen bei Bringewat, JZ 1981, 289, 294; Geppert, in: Festschrift für Oehler, S. 323; Gerling, Informatorische Befragung, S. 13; Kohlhaas, NJW 1965, 1254, 1255; Krause, Die Polizei 1978, 305; Lüder gen Lühr, Die Polizei 1985, 43; Rieß, JA 1980, 293, 298. 103 Lüder gen Lühr, Die Polizei 1985, 43, 44. 101

102

6*

84

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

b) Bewertung der Zulässigkeit der informatorischen Befragung in Rechtsprechung und Literatur Diese Einschätzung wird durch die Betrachtung der Erwägungen zur Zulässigkeit der informatorischen Befragung bestätigt. aa) Über die grundsätzliche Zulässigkeit herrscht in Rechtsprechung 104 und Literatur105 weitgehende Einigkeit. Eine tragfähige Begründung für diesen Standpunkt findet sich indes nicht. Zumeist wird lediglich auf die Notwendigkeit eines Instrumentariums, das es ermöglicht, vor der eigentlichen Ermittlungstätigkeit das Tatgeschehen bereits überblicken zu können, verwiesen 106. Die Polizei brauche die informatorischen Befragungen, weil es das Ende jeglichen Versuchs der Sachaufklärung bedeuten würde, wenn die im ersten Zugriff tätigen Ermittlungsbeamten gehalten wären, jede am Tatort anwesende Person, an die sie zu ihrer eigenen Information eine Frage richten, erst einmal zu belehren 107 . Der Vorteil der informatorischen Befragung gegenüber der Vernehmung wird also in der fehlenden Belehrungspflicht gesehen 108. Die Furcht vor der Ineffizienz der Verbrechensbekämpung lässt dabei die Frage nach der Natur und der Zulässigkeit der informatorischen Befragung gar nicht aufkommen. Grund und Rechtfertigung der informatorischen Befragung ist allein der kriminalistische Erfolg 109 . bb) Eine so begründete informatorische Befragung, die ihre Existenzberechtigung aus der Verpflichtung der Polizei, Straftaten auszuforschen, herleitet, kann nur als repressive Maßnahme verstanden werden, die nicht mit der oben beschriebenen Maßnahme der Orientierungsfrage identisch ist. Die informatorische Befragung ist - folgt man den dargelegten Begründungen - zeitlich zwischen den Orientierungsfragen, bei denen noch kein strafrechtlicher Verdacht vorliegt, und der förmlichen Vernehmung, einer Maßnahme in einem eingeleiteten Ermittlungsverfahren, anzusiedeln. 104 BGHSt 38, 214, 227; BGH, NJW 1968, 1390; BGH, StV 1983, 265; OLG Stuttgart, MDR 1977, 70; AG Tiergarten, StV 1983,277. Umfassend zur Zulässigkeilsbewertung in der Rechtsprechung: Moormann, Informatorische Anhörung, S. 38 ff. 105 Artzt, Kriminalistik 1970, 379, 384; Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 113; ders., StV 1990, 180, 181; Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 4; Bruns, in: Festschrift für Schmidt-Leicher, S. 1, 3; Bringewat, JZ 1981, 289, 294; Fincke, NJW 1969, 1014, 1015; Fischer; Vernehmung des Beschuldigten, S. 11; Geppert, in: Gedächtnisschrift für Kar1heinz Meyer, S. 92, 109; v. Gerlach, NJW 1969, 776; Geyer; Pflicht zur Belehrung, S. 20; Haas, GA 1996, 230, 232; Kleinknecht, Kriminalistik, 1965, 449, 451; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Ein!. Rdnr. 77; Kohlhaas, NJW 1965, 1254, 1255; Lesch, JA 1995, 157, 160; Ranft, Strafprozessrecht, Rdnr. 299; Rieß, JA 1980, 193, 298; Rogall, MDR 1977, 978; Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 94; ter Veen, StV 1983, 293 ff.; Weßlau, Vorfeldennittlungen, S. 80. 106 Bringewat, JZ 1981,289, 294; Fincke, NJW 1969, 1014, 1015; v. Gerlach, NJW 1969, 776; Kohlhaas, NJW 1965, 1254, 1255, 107 BGH, NJW 1968, 77; OLG Stuttgart, MDR 1977, 77. 108 Reitberger; Kriminalistik, 1966, 169, 172; Rieß, JA 1980, 293,298. 109 Reitberger; Kriminalistik, 1966, 169, 172; ter Veen, StV 1993,293,295.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

85

3. Anerkannte Anwendungsbereiche der informatorischen Befragung

Die Einschätzung, dass unter den Begriff der informatorischen Befragung im Allgemeinen gerade nicht die beschriebenen Orientierungsfragen fallen, die der Klärung dienen, ob überhaupt eine repressive Maßnahme ergriffen werden soll, bestätigen auch die Fallgestaltungen, in denen von der Rechtsprechung und der Literatur eine informatorische Befragung bejaht worden ist. Wie die Betrachtung dieser Fälle zeigt, dienen die Befragungen bereits einem repressiven Zweck, nämlich den Tatverdacht weiter aufzuklären. a) Besondere Bedeutung hat die Abgrenzung von Orientierungsfragen und informatorischer Befragung im Bereich des Straßenverkehrs. Ein "klassischer" Sachverhalt liegt einem Urteil des BayObLG 110 zugrunde. Der Angeklagte war infolge überhöhter Geschwindigkeit mit seinem Pkw auf die Gegenfahrbahn geraten, hatte dort einen ihm ordnungsgemäß entgegenkommenden Pkw gestreift. Obwohl der Angeklagte erkannt hatte, dass erheblicher Fremdschaden entstanden war, setzte er die Fahrt fort und verließ die Unfallstelle, um sich sämtlichen Feststellungen zu entziehen. Der Angeklagte erstattete noch am gleichen Tag Anzeige gegen Unbekannt. Er gab an, sein geparktes Fahrzeug sei von einem unbekannten Verkehrsteilnehmer beschädigt worden. Die Polizeibeamten stellten einige Gegenstände, insbesondere den Kotflügel des Pkws des Angeklagten sicher. Offensichtlich glaubten sie den Ausführungen des A nicht, weil sie ihn noch einmal auf die Dienststelle baten und ihn mit dem Kotflügel konfrontierten. Auf Befragungen des Polizeibeamten entgegnete A ,,Jetzt wird's gefährlich. Ich sag' nichts mehr!". Das BayObLG hatte darüber zu entscheiden, ob diese Äußerung des A in der Hauptverhandlung verwertet werden durfte. Es ließ dabei offen, ob es sich bei der Befragung des A um eine Vernehmung oder um eine informatorische Befragung handelte, hielt Letzteres aber offensichtlich für nicht unwahrscheinlich. Damit ergibt sich, dass es sich bei der informatorischen Befragung nach Auffassung des BayObLG nicht um Orientierungsfragen handeln kann, denn im Zeitpunkt der Befragung hatten die Vernehmungsbeamten schon einen Verdacht und wollten diesem nachgehen. Die Äußerung des A ist nämlich nur verständlich, wenn die Polizeibeamten ihm bereits konkrete Vorhalte gemacht hatten. Keineswegs handelte es sich aber um eine Situation, in der erst geklärt wurde, ob überhaupt repressive Maßnahmen ergriffen werden müssen. b) Auch der BGH 111 geht davon aus, dass es sich bei der informatorischen Befragung um eine repressive Maßnahme handelt. Der Polizeimeister W hatte die damals 12 Jahre alte Marina M. nachts gegen 1.20 Uhr aufgegriffen. Auf die Frage, "was sie um diese Zeit in der Innenstadt von H. zu suchen habe", gab Man, dass sie von zu Hause weggelaufen sei, weil sie sich fürchte, von ihrem betrunkenen Vater geschlagen zu werden. Um sich Klarheit zu verschaffen, wie mit M zu ver110 111

BayObLG, VRS 58 (1980), 422. BGHSt 29, 230.

86

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

fahren sei, fragte W sie daraufhin erneut, was geschehen sei. M antwortete darauf nur, dass ihr Vater sie schlage und so. Auf weitere Nachfrage, was sie mit dem Ausdruck "und so" meine, sagte M sinngemäß, dass ihr Vater sie sexuell belästige. Der Vater wurde sodann festgenommen. Die erste Frage des Beamten ist eine Orientierungsfrage in einer Situation, in der geklärt werden muss, welche Maßnahmen zu ergreifen sind. Als M dem W jedoch mitteilte, "dass ihr Vater sie schlage und so", war der Verdacht einer Straftat bereits gegeben. Indem W die M weiter befragte und auf eine Erläuterung ihrer zunächst unbestimmten Angaben hinwirkte, wurde W auf dem Gebiet der Strafverfolgung tätig. Das bestätigt auch der BGH, indem er feststellt, es habe sich auch bei der weiteren Befragung zwar lediglich um eine informatorische Befragung gehandelt. Diese informatorische Befragung hätte aber der gesetzlichen Aufgabe der Polizei entsprochen, Straftaten zu erforschen, und im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gestanden 112. Diese Feststellung des BGH zeigt, dass unter der informatorischen Befragung nicht die hier so genannten Orientierungsfragen verstanden werden. Informatorische Befragungen sind - anders als Orientierungsfragen - danach repressive Maßnahmen zur Aufklärung eines Verdachts. c) Die Rechtsprechung und die Literatur verstehen unter der informatorischen Befragung demnach nicht nur das "Herumfragen" der Polizeibeamten, bevor ein Verdacht überhaupt besteht, sondern auch eine Befragung, die zur Aufklärung einer Straftat dient, bevor ein förmliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist. 4. Grenzen der Zulässigkeif der informatorischen Befragung

Die informatorische Befragung wird gleichwohl überwiegend mit den Orientierungsfragen gleichgesetzt. Nach h.M. gibt es demnach das "Herumfragen" im Vorfeld der Ermittlungen und die Vernehmung. Das hat zur Konsequenz, dass die Grenzen der Zulässigkeit in zeitlicher Hinsicht nur zur Vernehmung hin bestimmt werden. Trotz der Einigkeit über die grundsätzliche Zulässigkeit einer Ermittlungsmaßnahme vor der Vernehmung sind die Grenzen der Zulässigkeit umstritten. Zum Teil 11 3 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die informatorische Befragung einer Person, die bereits beschuldigt ist, nicht zulässig sei. Diese Zulässigkeitsgrenze dürfe auch nicht dadurch überschritten werden, dass am Rande der Vernehmung auf diese Befragungsform zurückgegriffen werde 114. In Teilen der Literatur115 wird deshalb eine Vernehmung dann gefordert, wenn das Verfahren aufgrund BGHSt 29, 230, 232. AG Gelnshausen, StV 1990, 206; Geppert, in: Gedächtnisschrift für Meyer, S. 93, 110; Geyer, Pflicht zur Belehrung, S. 22. 114 AG München, StV 1990, 104. 112

113

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

87

einer Anzeige in Gang gebracht worden ist. Bedenklich weit geht dagegen der BGH 116, wenn er die informatorische Befragung eines bereits Verdächtigen für "nicht unzulässig" hält. Die Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem die befragte Person vernommen, also auch belehrt werden muss, gehört zu den strittigsten Fragen im Zusammenhang mit der informatorischen Befragung. 5. Voraussetzungen für die Existenz der informatorischen Befragung

Die K.larstellung, dass es zwar ein "Herumfragen" im "Vorfeld" der Ermittlungen gibt, dieses aber nicht mit der informatorischen Befragung identisch ist, lässt es allerdings als zweifelhaft erscheinen, ob überhaupt ein Anwendungsbereich für die informatorische Befragung verbleibt und sich die Frage nach den Grenzen der Zulässigkeil überhaupt stellt. Von den Orientierungsfragen unterscheidet sich die informatorische Befragung - wie dargelegt - durch ihren repressiven Charakter. Voraussetzung für die Anerkennung der informatorischen Befragung ist aber, dass sich ein Merkmal finden lässt, durch das sie von der Vernehmung abzugrenzen ist. a) Sowohl in der Vernehmung als auch in der informatorischen Befragung wird eine Person zu einer Aussage bzw. Äußerung veranlasst. Der BGH 117 weist richtigerweise darauf hin, dass es nicht auf die Bezeichnung als Aussage ankommen kann. Also auch wenn die Einlassung außerhalb einer förmlichen Vernehmung als Äußerung bezeichnet wird, handelt es sich um eine Aussage im Sinne einer Angabe in der Vernehmung. b) Die informatorische Befragung lässt sich demnach von der Vernehmung nur abgrenzen, wenn das Merkmal der Innerprozessualität bei der informatorischen Befragung im Gegensatz zur Vernehmung nicht vorliegt. Nach allgemeinem Verständnis ist die informatorische Befragung als ,,klassische" Maßnahme innerhalb der sog. "Vorermittlungen" dem Ermittlungsverfahren vorgelagert 118• Folgt man diesem Verständnis, so ist die Abgrenzungsfrage durch das Abstellen auf die Innerprozessualität geklärt. Befragungen, die innerhalb eines Ermittlungsverfahrens durchgeführt werden, wären Vernehmungen; solche außerhalb dieses Verfahrens informatorische Befragungen. Damit hängt die Existenz der informatorischen Be-

115 Heydebreck, Beschuldigteneigenschaft, S. 58; so wohl auch: Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 13. 116 BGH, NStZ 1983, 86; BGHSt 38, 227; zust.: Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 4, der allerdings darauf hinweist, dass die informatorische Befragung nicht zu einer Umgehung des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO führen dürfe. 111 BGHSt 29,230, 232. 118 Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 113; Haas, GA 1996, 230, 232; Kleinknecht/MeyerGoßner; Ein!. Rdnr. 79, § 163 Rdnr. 9, § 163a Rdnr. 24; Lüder gen Lühr; Die Polizei 1985,43, 44; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 43, Wache, in: KK, § 163 Rdnr. 8, Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 80.

88

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

fragung von der Anerkennung eines Verfahrensstadiums ab, das üblicherweise als Vorermittlungen bezeichnet wird. c) Das Ziel der informatorischen Befragung, die Zuschreibung der Zeugen- oder Beschuldigtenrolle zu ermöglichen, weist aber auf einen zweiten möglichen Unterschied zwischen Vernehmung und informatorischer Befragung hin. Die StPO regelt nur die Vernehmung von Zeugen oder Beschuldigten. Da die Rollenzuschreibung erst ermöglicht werden soll, kann es sich folglich bei dem informatorisch Befragten weder um einen Zeugen noch um einen Beschuldigten handeln. Die genannte Funktionsbeschreibung geht offensichtlich davon aus, dass es neben dem Zeugen und Beschuldigten noch eine davon zu unterscheidende Auskunftsperson gibt. Träfe diese Annahme zu, könnte die Vernehmung anband der befragten Person von der informatorischen Befragung unterschieden werden. d) Die Existenz der repressiven Maßnahme der informatorischen Befragung hängt demnach von der Anerkennung eines Stadiums der Vorermittlungen oder einer von dem Zeugen oder Beschuldigten zu unterscheidenden Auskunftsperson ab.

II. Innerprozessualität der informatorischen Befragung 1. Anerkennung der Vorermittlungen durch die Rechtsprechung und Literatur

Obwohl ein dem Ermittlungsverfahren vorgelagertes "Vorermittlungsverfahren" in der StPO keine Erwähnung findet, erkennen weite Teile der Rechtsprechung und der Literatur 119 ein gesetzlich ungeregeltes Stadium der "Vorermittlungen" oder auch "Initiativerrnittlungen" 120 an. Die informatorischen Befragungen werden diesem Stadium zugeordnet und sollen dieses maßgeblich mitgestalten. Sie gelten sogar als die "Standardmaßnahme" innerhalb der Vorermittlungen 121 oder werden mit diesen gleichgesetzt 122 . a) Die Befürworter der Vorermittlungen verweisen dabei zumeist auf die - vermeintliche - Notwendigkeit von Ermittlungshandlungen vor dem eigentlichen Er119 Bringewat, JZ 1981, 289, 290, Bruns, in: Festschrift für Schrnidt-Leichner, S. I, 3; Cratz, in: Leise/Dietz/Cratz, § 397 AO Rdnr. 23; Fincke, NJW 1969, 1014, 1015; Keller/ Griesbaum, NStZ 1990, 416, 417; Klos, wistra 1996, 176, 177; Lisken, ZRP 1994, 264, 265; Lüder gen Lühr, Die Polizei 1985, 43, 44; Maiwald, NJW 1978, 561 , 562; Ranft, Strafprozessrecht, Rdnr. 299; Reitberger, Kriminalistik 1966, 169, 172; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 42; ders., Informationseingriff, S. 80; ders., in: 2. Deutsch-ungarisches Kolloquium, S. 75, 89; Scheurmann-Kettner, in: Koch/Scholtz, § 397 AO Rdnr. 7; Wache, in: KK, § 163 Rdnr. 8; Wendeborn, Steuerfahndung, S. 89; Wö/f. JuS 2001, 479 ff.; Wolter, in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 156a. 120 Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 42; Schroeder, Strafprozessrecht, Rdnr. 85. 121 Lüder gen Lühr, Die Polizei 1985, 43, 44; Rogall, Informationseingriff, S. 87; Weßlau, Vorfeldermittlungen, S. 80. 122 Ranft, Strafprozessrecht, Rdnr. 299; Wache, in: KK, § 163 Rdnr. 8.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

89

mittlungsverfahren. Die Polizeibeamten befänden sich häufig in Situationen, in denen es zwar Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat gebe, diese Anhaltspunkte aber noch nicht die Einleitung eines förmlichen Ermittlungsverfahrens rechtfertigen. In diesen Situationen seien die Staatsanwaltschaft gemäߧ 152 Abs. 2 StPO und die Polizei gemäß § 163 StPO nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet123, Nachforschungen anzustellen, um nach weiterer Sachverhaltsaufklärung darüber entscheiden zu können, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist124. Die Polizei müsse in einem verdächtig erscheinenden Umfeld die Anhaltspunkte daraufhin überprüfen, ob sich aus ihnen ein mehr oder weniger deutlicher Anfangsverdacht ergibt125 • Aus dieser Funktion - der näheren Prüfung von Anhaltspunkten vor Bejahung des Anfangsverdachts - stammt auch die Bezeichnung des dem Ermittlungsverfahren vorgeschalteten "Verdachtsprüfungsverfahrens'" 26. b) Auf eine Begründung der Zulässigkeit des in der StPO nicht geregelten Verfahrensstadiums wird zum Teil ganz verzichtet und statt dessen die Zulässigkeit für unstreitig gehalten 127 . Es wird schlicht darauf verwiesen, dass es Vorermittlungen gebe und deren Zulässigkeit nicht in Zweifel gezogen oder in Frage gestellt werden sollte 128. c) Für einen Teil der Literatur dagegen ergibt sich die Zulässigkeit der Vorermittlungen trotz mangelnder gesetzlicher Regelungen aus dem Gesetz. Die StPO selbst gehe von der Existenz dieses Verfahrensstadiums aus, nenne es nur nicht. Zum Beweis wird § 159 StPO herangezogen, dessen Normzweck es sei, die Staatsanwaltschaft durch Anzeige in die Lage zu versetzen, Nachforschungen anzustellen und möglichst frühzeitig darüber zu befinden, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten sei 129. Daraus lasse sich der allgemein gültige Gedanke ableiten, die Staatsanwaltschaft habe bei noch nicht zureichenden Anhaltspunkten das Vorliegen eines Anfangsverdachts durch Vorermittlungen aufzuklären 130. Nach dieser 123 Keller/Griesbaum, NStZ 1990, 416, 417; Wolter, in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 156a. 124 Geyer, Pflicht zur Belehrung, S. 20; Keller/Griesbaum, NStZ 1990, 416, 417; Klos, wistra 1996, 176, 177; Kuhlmann, NStZ 1983, 130, 131; Lisken, ZRP 1994,264, 265; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 42; Schroeder, Strafprozessrecht, Rdnr. 77; Wache, in: KK, § 163 Rdnr. 8; Wendebom, Steuerfahndung, S. 89; Wolter, in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 156a. 125 Fischer, Vernehmung des Beschuldigten, S. 11; Lüder gen Lühr, Die Polizei 1985, 43, 44; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 42. 126 Cratz, in: Leise/Dietz/Cratz, § 397 AO Rdnr. 23; Klos, wistra 1996, 177. 127 Blesinger, wistra 1994,48,49, Krehl, in: HKStPO, § 159 Rdnr. 8; Wache, in: KK, § 163 Rdnr. 8. 128 Bringewat, JZ 1981,289, 290, Bruns, in: Festschrift für Schrnidt-Leichner, S. 1, 3. 129 Keller!Griesbaum, NStZ 1990, 416, 417; Krehl, in: HKStPO, § 159 Rdnr. 1; Lohner, Tatverdacht, S. 79 ff.; Wolter, in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 156a. no Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 16; Keller/Griesbaum, NStZ 1990, 416, 417; Lohner, Tatverdacht, S. 81; Maiwald, NJW 1978, 561 , 562; Rogall, Informationseingriff, S. 80; Wolter, in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 156a.

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

90

Ansicht ist§ 159 StPO nur so zu verstehen, dass es Ermittlungsmaßnahmen gibt, die nicht in ein Ermittlungsverfahren eingebunden sind, weil es an dem erforderlichen Anfangsverdacht noch fehlt. Das Gesetz spreche sich auch in § 152 Abs. 2 StPO für die Existenz von Vorermittlungen aus. So könne die Wahl des "bedeutungsoffenen"131 Begriffes "zureichend" in § 152 Abs. 2 StPO nur so verstanden werden, dass es eine Vorermittlungspflicht gebe, die der Ermittlungspflicht vorausgehe.

2. Anfangsverdacht als Anlass der Ermittlungen Die Begründungsversuche für die Existenz eines dem Ermittlungsverfahren vorgeschalteten Verfahrens gehen davon aus, dass es ein Verfahrensstadium gebe, in dem erst vage Anhaltspunkte vorliegen, die für die Bejahung eines Anfangsverdachts nicht hinreichen 132• Damit unterscheiden sie Vorermittlungen von dem Ermittlungsverfahren nach dem Ermittlungsanlass, nämlich dem Anfangsverdacht, der eine Ermittlungspflicht auslöst, und einem "Vorverdacht" 133, der weitere Maßnahmen erforderlich mache. Zugrunde gelegt wird also, dass vor dem Anfangsverdacht ein "geringer oder noch vager Tatverdacht" existiert. Damit hängt die Beurteilung der Zulässigkeit von Vorermittlungen davon ab, ob tatsächlich zwischen dem Anfangsverdacht und dem Vorverdacht unterschieden werden kann. Zwar erscheint dieser Ausgangspunkt durchaus plausibel. Die Differenzierung von Verdachtsgraden und die Möglichkeit bei einem lediglich allgemeinen Verdacht formlos vorzuermitteln, während ein Ermittlungsverfahren nur bei schwerwiegenden Verdachtsmomenten eingeleitet werden darf, entspricht wahrscheinlich einer wohl weit verbreiteten Vorstellung in der Bevölkerung. Dieses Verständnis lässt sich aber mit dem normativen Begriff des Anfangsverdachts nicht vereinbaren.

a) Tatsachengrundlage des Anfangsverdachts Obwohl der Begriff des Anfangsverdachts umstritten ist, besteht doch Einigkeit über die Abhängigkeit des Anfangsverdachts von tatsächlichen Anhaltspunkten. Für die Annahme eines Anfangsverdachts bedarf es einer Tatsachengrundlage, die darauf hindeutet, dass der zu untersuchende Lebenssachverhalt eine Straftat enthält134. Das ergibt sich schon aus der Formulierung in § 152 Abs. 2 StPO, durch welche die Methode der Verdachtsgewinnung beschrieben wird 135 . "Zureichende, 131 Bottke, JuS 1990, 81, 83. 132

Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 113; Geyer, Pflicht zur Belehrung, S. 20.

133 Lohner; Tatverdacht, S. 81. 134 HansOLG Harnburg, GA 1984, 289; Gast-de Haan, in: Franzen/Gast/Joecks, § 397

AO Rdnr. 40; Geerds, GA 1965, 321, 327; Kaiser, NJW 1965, 2380; Lange, Vorerrnittlungen, S. 44; Lohner, Tatverdacht, S. 44; Solbach, JA 1995, 964,967.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

91

tatsächliche Anhaltspunkte" liegen vor, wenn konkrete Anhaltspunkte vorhanden sind, die es nach der kriminalistischen Erfahrung als möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgbare Straftat begangen worden ist 136. Ein Verdacht entsteht dabei durch Anwendung von Erfahrungssätzen auf bekannte Tatsachen, um so ein Wahrscheinlichkeitsurteil dar.über zu treffen, ob eine Straftat vorliegt 137 . Eine kriminalistische Hypothese als solche - sei sie im Ergebnis richtig oder nicht - begründet noch keinen Anfangsverdacht 138 . Damit scheiden Gerüchte, bloße Vermutungen oder Argwohn, die nicht auf Tatsachen beruhen, als Begründung für den Tatverdacht aus 139• b) Wahrscheinlichkeit einer verfolgbaren Straftat Zwar ist die Methode der Verdachtsgewinnung - die Anwendung von kriminalistischen Erfahrungssätzen auf bekannte Tatsachen - allgemein anerkannt. Es herrscht aber weitgehende Unklarheit über das Ergebnis dieser retrospektiven Prognose, das erforderlich ist, um einen Anfangsverdacht annehmen zu können. aa) Die Bewertung der vorliegenden Tatsachen kann in der Regel nur zu einem Wahrscheinlichkeitsurteil führen. Die Schlussfolgerung von bekannten auf unbekannte Tatsachen ist mit der Unsicherheit einer jeden Prognose belastet. Umstritten ist in diesem Zusammenhang, welcher Grad der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Anfangsverdachtes erforderlich ist. Die überwiegende Meinung 140 hält die Möglichkeit des Vorliegens einer verfolgbaren Straftat für ausreichend 141 . Da es nicht gelingen kann, näher zu bestimmen, wann die Möglichkeit einer Straftat noch zu bejahen oder schon zu verneinen ist, werden mit dieser Umschreibung lediglich ganz entfernte Anhaltspunkte- Ver135 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 250; ders., Strafprozessrecht, Teil li, § 1 Rdnr. 19. 136 BVerfG, NStZ 1981, 430; BVerfG, NJW 1994, 783; Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 111; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil li, § 1 Rdnr. 19; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37 Rdnr. 13. 137 Bruns, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, S. 1, 3; Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 250; Kühne, Strafprozessrecht, Rdnr. 327 ff; Kühne, NJW 1979, 617, 619; Lange, Vorermittlungen, S. 46; Lohner, Tatverdacht, S. 44. 138 Geerds, GA 1965, 321, 328. 139 Cratz, in: Leise/Dietz/Cratz, § 397 Rdnr. 32. 140 BGH NJW 1989, 97; Blesinger, wistra 1994, 48, 49; Dahs, NJW 1985, 1113, 1114; Geerds, GA 1965, 321, 327; v. Hindte, Verdachtsgrade, S. 81; Hund, ZRP 1991, 463, 464; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 152 Rdnr. 4; Kuhlmann, NStZ 1983, 130, 131; Krehl, in: HKStPO, § 152 Rdnr. 8; Lange, Vorermitt1ungen, S. 46; Lüttger, GA 1957, 193, 194; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37 Rdnr. 13. 141 Scheinbar enger Scheurmann-Kettner, in: Koch/ Scho1tz, § 397 AO Rdnr. 13, der fordert, es müsse aufgrund der Lebenserfahrung auf das Vorliegen einer Straftat geschlossen werden können.

92

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

mutungen oder Hypothesen - ausgeschieden 142• Um den Schwierigkeiten der Bestimmung der Möglichkeit zu begegnen, wird zum Teil auf den Begriff der Wahrscheinlichkeit ausgewichen, indem für die Annahme des Anfangsverdachtes gefordert wird, das Vorliegen einer Straftat müsse eher wahrscheinlich erscheinen 143 . Anderen reicht eine gewisse, wenn auch geringe Wahrscheinlichkeit 144 • Diese Formulierungen lassen jedoch offen, wie die Möglichkeit von der gewissen oder erheblichen Wahrscheinlichkeit des Vorliegens einer Straftat abzugrenzen ist. bb) Trotz der terminologischen Uneinheitlichkeit herrscht aber über das Ergebnis mehr Übereinstimmung als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. So besteht Konsens darüber, dass das richtige Ergebnis zwischen der hundertprozentigen Sicherheit und den reinen Zufallstreffern zu finden ist. Die abweichenden Formulierungen sind insofern nur terminologischer Natur. Nimmt man die beiden Eckpunkte "ausgeschlossen" und "sicher", dann liegt die Möglichkeit in einem Bereich dazwischen. Genau in diesem Bereich ist aber auch die Wahrscheinlichkeit angesiedelt 145 . Möglich ist also alles, was eine Wahrscheinlichkeit von über Null hat. Die bloße Möglichkeit bezeichnet damit nichts anderes als die bloße Wahrscheinlichkeit. Unterschiedliche Punkte auf der Skala werden durch diese Begriffe nicht bezeichnet. Auch die scheinbaren Abweichungen des geforderten Grades der Wahrscheinlichkeit ergeben der Sache nach keinen Unterschied. Die Formulierungen, es müsse eine "gewisse, wenn auch geringe" oder eine "hinreichende" Wahrscheinlichkeit bestehen, täuschen lediglich vor, es gebe eine feststehende Größe des erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrades 146. Einen solchen bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad gibt es indes nicht. Es ist nämlich nur in Ausnahmefällen möglich, die Wahrscheinlichkeit kriminalistischer Schlussfolgerungen zu benennen, wie es z. B. bei der die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen identische Fingerabdrücke aufweisen 147, der Fall ist. Im Regelfall lässt sich der Grad der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Straftat hingegen nicht benennen, weil es Charakteristikum jeder Prognose ist, dass ihre Verlässlichkeit von der Zuverlässigkeit des Erfahrungssatzes abhängt. Die auf Anhaltspunkte angewendeten Erfahrungssätze kriminalistischer Ermittlungstätigkeit weisen aber nur ausnahmsweise einen zu beziffernden Grad der Wahrscheinlichkeit auf. In der Literatur 148 ist deshalb überzeugend dargelegt worden, dass es wenig sinnvoll erscheint, eine scheinbar feststehende Grenze der notwendigen Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eiHund, ZRP 1991,463, 464; Krehl, in: HKStPO, § 152 Rdnr. 8. Cratz, in Leise/Dietz /Cratz, § 397 AO Rdnr. 32. 144 Gast-de Haan, in: Franzen/Gast/Joecks, § 397 Rdnr. 38; v. Gundlach, NJW 1969, 778; Kohlmann, § 397 AO Rdnr. 2; Kaiser; NJW 1965, 2380; Rieß, in: LR, § 152 Rdnr. 23; So/bach, JA 1995, 964, 966. 145 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, S. 122. 146 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile, S. 124. 147 Beispiel von Hellmann, Neben-Strafverfahrenrecht, S. 251. 148 Kühne, Strafprozessrecht, Rdnr. 327 ff; Kühne, NJW 1979, 617, 619; dem folgend: Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 250; ders., Strafprozessrecht, Teil II, § 1 Rdnr. 19. 142 143

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

93

ner Straftat zu fordern. Da sich der Wahrscheinlichkeitsgrad nicht beziffern ließe, müsse eine überzufällige Wahrscheinlichkeit ausreichen, um den Anfangsverdacht zu bejahen. Das Erfordernis der Überzufälligkeit stellt dabei sicher, dass es sich nicht um bloße Vermutungen, sondern um überprüfbare Erfahrungsgrundsätze handelt. Die Unmöglichkeit einer irgendwie gearteten Qualifikation des Anfangsverdachts149 belegt, dass die Forderung nach der Möglichkeit oder der wie auch immer bezifferten Wahrscheinlichkeit im Grunde nichts voneinander zu unterscheidendes umreißen. Da es nicht möglich ist, die Wahrscheinlichkeit zu quantifizieren, kann es nicht zu abweichenden Ergebnissen führen, wenn eine gewisse oder geringe Wahrscheinlichkeit oder aber die Möglichkeit des Vorliegens einer Straftat gefordert wird. Da der Begriff der überzufälligen Wahrscheinlichkeit nicht vortäuscht, es gäbe einen zu beziffernden Grad der Wahrscheinlichkeit, ist er den genannten Formulierungen vorzuziehen. Von einem Anfangsverdacht ist damit dann auszugehen, wenn die retrospektive Prognose eine überzufällige Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Straftat ergibt 150. c) Beurteilungsspielraum der Polizeibeamten Charakteristikum einer jeden Prognose ist jedoch der Einfluss von subjektiven Wertungen auf das Ergebnis. Die zur Entscheidung über das Vorliegen des Anfangsverdachts berufenen Strafverfolgungsorgane können also bei der von ihnen vorgenommenen retrospektivischen Prognose durchaus zu abweichenden Ergebnissen kommen 151 . Da der Begriff des Anfangsverdachts ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, haben die Polizeibeamten einen Beurteilungsspielraum bei der Entscheidung, ob die bekannten Tatsachen einen Anfangsverdacht begründen oder nicht 152. Dadurch wird das Ergebnis der Beurteilung der Sachlage aber nicht beliebig. Den Polizeibeamten steht nämlich keineswegs ein Ermessen bei ihrer Entscheidung über das Vorliegen eines Anfangsverdachtes zu 153 • Sie muss für einen Dritten immer nachvollziehbar bleiben, auch wenn er bei Anwendung des gleichen Erfahrungssatzes zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. So im Ergebnis auch Schlüchter; Strafverfahren, Rdnr. 393.2 f. Hel/mann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 250; ders., Strafprozessrecht, Teil II, § Rdnr. 19; Kühne, Strafprozessrecht, Rdnr. 327 ff.; Kühne, NJW 1979, 617, 619. 151 Gast-de Haan, in: Franzen/Gast/ Joecks, § 397 Rdnr. 39; Hel/mann, Strafprozessrecht, Teil II, § l Rdnr. 22. 152 BVerfG, NJW 1984, 1451 ; BGHSt 37, 48, 51 f.; 38, 214, 228; BGH, wistra 1992, 187; OLG München, NStZ 1985, 249; Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 111; Bottke, StV 1986, 120, 121; Grosjean, Beschuldigteneigenschaft, S. 12 ff.; Hel/mann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 252; ders., Strafprozessrecht, Teil II, § 1 Rdnr. 22; Kuhlmann, NStZ 1983, 130, 131, Kröpil, JuS 1993, 142, 143; Rogall, in: 2. Deutsch-ungarisches Kolloquium, S. 75, 88; So/bach, JA 1995, 964, 966; krit. Störmer; ZStW 108 (1996), 495, 512 ff. ; ders. , StV 1995, 653,657. 153 Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 1 Rdnr. 22. 149

150

94

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

d) Fehlender Anwendungsbereich eines Vorermittlungsverdachts Wenn für die Annahme des Anfangsverdachtes bereits eine Wahrscheinlichkeit genügt, die lediglich über der Zufallsquote liegt, so stellt sich die Frage nach den Verdachtsmomenten, die zwar die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens noch nicht rechtfertigen, die Staatsanwaltschaft und die Polizei aber berechtigen oder sogar verpflichten sollen, (Vor-)Ermittlungen anzustellen. aa) Die nähere Betrachtung führt zu dem Ergebnis, dass es diese nicht geben kann. Liegt eine nur geringe, aber überzufallige Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Straftat vor, so muss ein Anfangsverdacht bejaht werden. Liegt die Wahrscheinlichkeit dagegen nicht über der des Zufalls, so fehlen jegliche Anhaltspunkte für das Einschreiten der Ermittlungsbeamten. Die Einschätzung des Lebenssachverhaltes beruht dann auf Vermutungen, die ein Tatigwerden der Strafverfolgungsbehörden nicht rechtfertigen. Das Erfordernis des Anfangsverdachts hat die Funktion, das Einschreiten auch der Polizeibeamten im ersten Zugriff zu begrenzen 154• Liegt ein Tatverdacht offensichtlich nicht vor, sind Ermittlungsmaßnahmen nicht gestattet, selbst wenn sie keinen Eingriffscharakter haben 155 . Die Begrenzungsfunktion des§ 152 Abs. 2 StPO ist rechtsstaatlich bedeutsam, denn sie schützt den Einzelnen davor, zum Objekt der Ausforschung zu werden, wenn dazu keinerlei Anlass besteht 156. Diese Begrenzungsfunktion darf nicht dadurch umgangen werden, dass dem Ermittlungsverfahren ein Verfahren vorgeschaltet wird, für das diese Begrenzungsfunktion nicht gilt. Liegen dagegen Anhaltspunkte vor, welche die überzufällige Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Straftat begriinden, liegt ein Anfangsverdacht vor, auch wenn die strafrechtliche Relevanz des Geschehens noch zweifelhaft erscheint. Da somit der Anfangsverdacht erst bei einem erheblichen Übergewicht der Unschuldsvermutung gegeben ist157 , verbleibt für die Annahme eines Ermittlungsanlasses unterhalb der Schwelle des Anfangsverdachtes kein Raum. bb) An diesem Ergebnis ändert entgegen der oben genannten 158 Auffassung auch § 159 Abs. 1 StPO nichts. Bei richtiger Betrachtungsweise handelt es sich bei § 159 Abs. 1 StPO um eine ausdrückliche Regelung des Anfangsverdachtes im Bereich der Tötungsdelikte 159 . Sind nämlich Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass jemand eines nicht natürlichen Todes gestorben ist, so liegt auch eine überzufällige Wahrscheinlichkeit für ein Tötungsdelikt vor. Im Grunde wird das auch von der 154 Bottke, JuS 1990, 81, 83; Geerds, Sch!HA 1964, 57, 60; Hund, ZRP 1991, 463; a.A. Lange, Vorennittlungen, S. 41 ff., die § 152 Abs. 2 StPO dahin auslegt, dass Vermutungen Vorennittlungen rechtfertigen. ISS Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 414. 156 Hund, ZRP 1991,463. 157 Kühne, NJW 1979, 617, 619. 15& § 7 II 1 c. IS9 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 261 Fn. 44.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

95

Gegenauffassung anerkannt. Wer behauptet, § 159 Abs. 1 StPO habe den Zweck, den Staatsanwalt bei Bekanntwerden noch nicht zureichender Anhaltspunkte durch Vorermittlungen zur weiteren Aufklärung des Anfangsverdachts zu verpflichten160, geht davon aus, dass ein Anfangsverdacht besteht. Die Staatsanwaltschaft ist in diesen Fällen jedenfalls in der Regel schon nach §§ 152 Abs. 2, 160 Abs. 1 StPO zur Aufklärung verpflichtet. Das Gesetz normiert damit keineswegs einen Verdacht unterhalb der Schwelle des Anfangsverdachts. Vielmehr wird die niedrige Schwelle des Anfangsverdachts für einen Bereich der Straftaten - die Tötungsdelikte- ausdrucklieh festgeschrieben. § 159 Abs. 1 StPO beweist damit nichts anderes, als dass für den Anfangsverdacht keine hohe Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Straftat erforderlich ist. 3. Unzulässigkeif von "Vorennittlungen" a) Die Annahme von Verdachtsmomenten, die Ermittlungen zu rechtfertigen vermögen, nicht aber über die Schwelle des Anfangsverdachtes hinausgehen, ist nach all dem nicht aufrecht zu erhalten. Damit wird den sog. "Vorermittlungen" die Begrundung entzogen, die auf einem von dem Anfangsverdacht zu unterscheidenden Ermittlungsanlass aufbaut. Wenn die Vorermittlungen als Tätigkeit mit strafprozessualer Zwecksetzung verstanden werden, die aber dem eigentlichen Ermittlungsverfahren vorgeschaltet sind, so beruht diese Sicht auf der unzutreffenden Prämisse, dass es zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens eines mehr als überzufälligen Anfangsverdachts bedürfe und geringere Verdachtsgrade erst weiter aufgeklärt werden müssen. Diese Annahme ist jedoch fehlerhaft, weil ein Anfangsverdacht bereits dann zu bejahen ist, wenn ein überprufbarer Erfahrungssatz für die Wahrscheinlichkeit einer Straftat streitet. b) Damit ist die Behauptung, es gäbe ein dem Ermittlungsverfahren vorgelagertes Verfahrensstadium, unzutreffend. Dieses Ergebnis hat für die informatorischen Befragungen die Konsequenz, dass sie diesem Stadium nicht zugerechnet werden können, und somit der von der überwiegenden Ansicht vorgenommene Qualifizierung der informatorischen Befragung als Vorermittlungsmaßnahme die Grundlage fehlt. 4. Einleitung des Ennittlungsverfahrens Die sog. informatorischen Befragungen können demnach nicht einem eigenen Verfahrensabschnitt zugeordnet werden, sondern sie sind Teil des Ermittlungsverfahrens. Das ergibt sich im Übrigen zudem daraus, dass durch repressive Auskunftsersuchen, zu denen auch die informatorischen Befragungen gehören, das Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. 160

So Keller/Griesbaum, NStZ 1990,416,417.

96

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

a) Regelung des § 397 AO aa) Die StPO selbst gibt keine Auskunft darüber, wie ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird. Eingeleitet ist ein Verfahren spätestens, wenn eine Js-Akte angelegt wird. Das kann aber nicht bedeuten, dass der Beginn des Ermittlungsverfahrens davon abhängig wäre, denn sonst hätten die Strafverfolgungsorgane es in der Hand, das Ermittlungsverfahren beliebig lange herauszuzögem. Das widerspräche aber dem Ergebnis, dass es ein Stadium der Vorermittlungen nicht gibt. Das Ermittlungsverfahren muss mangels eines Verfahrensabschnittes der Vorermittlungen dann beginnen, wenn die Strafverfolgungsorgane anfangen zu ermitteln, also repressive Maßnahmen ergreifen. Dem entspricht die Regelung des § 397 AO, der zwar ausdrücklich nur den Beginn des Steuerstrafverfahrens festlegt, nach zutreffender Auffassung aber auch im allgemeinen Strafverfahren anwendbar ist 161 . bb) Danach leitet jede Maßnahme das Verfahren ein, die erkennbar auf die Straftaterforschung abzielt. Da der Maßnahmebegriff des § 397 Abs. 1 AO nicht auf Verwaltungsakte oder die spezialgesetzlich geregelten Ermittlungsmaßnahmen beschränkt ist, kann grundsätzlich jede Tätigkeit der Polizeibeamten eine Maßnahme i. S. d. § 397 Abs. 1 AO darstellen 162. Das Gesetz schreibt also weder eine besondere Art noch eine bestimmte Form der Tätigkeit vor, ausreichend ist vielmehr der repressive Charakter der ergriffenen Maßnahme. Den Strafverfolgungsbehörden kommt dabei keine Dispositionsbefugnis über den Charakter der Maßnahme zu. Ob eine Maßnahme darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Straftat zu ermitteln, ist von der Vorstellung des jeweils tätigen Strafverfolgungsorganes unabhängig. Da es ausreichend ist, dass die Maßnahme - objektiv - erkennbar repressiven Charakter hat, kommt es nicht darauf an, ob der Beamte bei der Vomahme der Maßnahme den Willen hatte, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten 163 . cc) Im Einzelfall kann die Feststellung, ob eine Maßnahme objektiv erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Straftat vorzugehen, zwar problematisch sein. Die Zielsetzung einer Befragung ergibt sich aber regelmäßig aus deren Inhalt, der im Zusammenhang mit den Umständen des konkreten Falles zu bewerten ist 164• Hat die Frage erkennbar zu Inhalt, den Tatverdacht aufzuklären, handelt es sich um eine Maßnahme i. S. d. § 397 Abs. 1 A0 165 . Es wird demnach bereits 161 BGHSt 38, 214, 228; BGH, NJW 1997, 1591; Achenbach, in: AKStPO, § 163a Rdnr. 20; Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. II2; Gundlach, in: AKStPO, § 136 Rdnr. 3 ff.; Grosjean, Beschuldigteneigenschaft, S. 6 ff.; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. I f.; Lesch, JA 1995, 157, 158 ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25 Rdnr. 11. Ausführlich zur Zulässigkeil der Hinzuziehung der AO Rogall, Der Beschuldigte, S. 30. 162 v. Ger/ach, NJW 1969, 776, 777; Hübner; in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 397 Rdnr. 12; Kohlmann, § 397 Rdnr. 11. 163 Hübner; in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 397 Rdnr. 16; Mösbauer; Steuerstrafrecht, S. !50; Scheurmann-Kettner; in: Koch/ Scholtz, § 397 Rdnr. 3. 164 Lohner; Tatverdacht, S. 21. 165 Gast-de Haan, in: Franzen/Gast/Joecks, § 397 Rdnr. 77.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

97

durch diese Frage das Ermittlungsverfahren eingeleitet. Beispielhaft zeigt dies der dem Urteil BGHSt 38, 214 zugrunde liegende Sachverhalt: Der spätere Angeklagte hatte in seinem verunfallten Fahrzeug seinen Führerschein liegen gelassen. Auf Befragen, ob er die in dem Führerschein bezeichnete Person sei, gab der Angeklagte zunächst einen falschen Namen an. Nach Ansicht des OLG Celle markiert die folgende Frage des Beamten, ob der Angeklagte das Fahrzeug geführt habe, den Beginn des Ermittlungsverfahrens. Das ergebe sich daraus, dass der Angeklagte "auf den Verkehrsunfall angesprochen" sogleich bestritten habe, der Fahrer gewesen zu sein. Angesichts der vorausgegangenen Ereignisse und des einleitenden Gesprächs sei diese Frage nur so zu interpretieren gewesen, der Vernehmungsbeamte habe gegen den Beschuldigten ermittelt 166• Auch in dem oben erwähnten vom BGH 167 entschiedenen Fall ist durch die zweite Frage bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Indem der Polizeimeister die M weiter befragt hat, was sie mit "und so" meine, sollte ein Tatverdacht gegen den Vater weiter aufgeklärt werden. Die Frage hatte also erkennbar zum Ziel, gegen jemanden - den Vater - wegen einer Straftat zu ermitteln, weshalb bereits durch diese Frage des Polizeimeisters das Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist 168 . b) Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt Fraglich ist aber, ob ein Ermittlungsverfahren auch dann eingeleitet wird, wenn zwar bekannt ist, dass eine Straftat begangen worden ist, aber keine Anhaltspunkte für die Beteiligung einer bestimmten Person vorliegen. aa) Nach einer in Teilen der Literatur 169 vertretenen Auffassung wird das Ermittlungsverfahren nur dann eingeleitet, wenn Maßnahmen ergriffen werden, die darauf abzielen, die Täterschaft oder Beteiligung einer namentlich bekannten Person zu ermitteln. Das ergebe sich aus dem Wortlaut des § 397 Abs. I AO, nach dem es erforderlich ist, dass die Maßnahmen erkennen lassen, es werde "gegen jemanden" wegen einer (Steuer-) Straftat ermittelt. Durch diese Formulierung sei der Anwendungsbereich der Vorschrift auf Ermittlungsmaßnahmen gegen bekannte Personen beschränkt worden, weshalb ein Strafverfahren auch durch erkennbar repressive Maßnahmen nicht eingeleitet werde, wenn es sich um Ermittlungen gegen Unbekannt handele. bb) Diese Auslegung des § 397 Abs. 1 AO kann schon deshalb nicht überzeugen, weil Ermittlungshandlungen immer gegen eine natürliche Person gerichtet sind, ohne dass daraus gefolgert werden könnte, der Name der Person müsse bereits bekannt sein 170. Da es ein Strafverfahren gegen niemanden nicht geben kann, 166

167 168 169

BGHSt 38, 214, 218. BGHSt 29, 230. So auch Gundlach, NJW 1980,2142. Rogall, Der Beschuldigte, S. 28; Wendeborn, Steuerfahndung, S. 89.

7 Heckernper

98

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

wird schon begriffsnotwendig "gegen jemanden" ermittelt. Das gilt aber auch, wenn es eine konkret individualisierbare Person noch nicht gibt 171 • Etwas anderes kommt auch durch die Worte "gegen jemanden" in § 397 Abs. 1 AO nicht zum Ausdruck. Durch diese Formulierung bekommt die Vorschrift nämlich keinen neuen Inhalt, da das Erfordernis der Ermittlungen gegen eine natürliche Person bereits in den Begriffen des "Strafverfahrens" und des "strafrechtlichen Vorgehens" enthalten ist. Die Einfügung des Zusatzes "gegen jemanden" hat also lediglich sprachliche Gründe 172. § 397 Abs. 1 AO kommt also auch dann zur Anwendung, wenn das Verfahren mangels einer konkret beschuldigten Person gegen Unbekannt geführt wird. c) Einleitung des Ermittlungsverfahrens durch sog. "informatorische Befragungen" Daraus folgt aber, dass die hier von den Orientierungsfragen abgegrenzten informatorischen Befragungen, die repressiven Charakter haben, in jedem Fall Teil des Ermittlungsverfahrens sind. Ist ein Strafverfahren bereits eingeleitet, sind die "informatorischen Befragungen" denknotwendigerweise dem Ermittlungsverfahren zuzuordnen. Hat dagegen in der Situation des ersten Zugriffs ein Verfahren noch nicht begonnen, stellen die informatorischen Befragungen selbst den Beginn des Ermittlungsverfahrens dar. Das in der Literatur häufig herangezogene Merkmal der Innerprozessualität kann also nicht dazu dienen, die informatorischen Befragungen von der Vernehmung abzugrenzen. Die Ansicht, diese Formen des Personalbeweises ließen sich auf diese Weise voneinander unterscheiden, missachtet, dass durch eine Befragung zur Klärung des Tatverdachts ein Ermittlungsverfahren bereits eingeleitet wird. Offensichtlich wird davon ausgegangen, es gebe ein förmlich eingeleitetes Ermittlungsverfahren und daneben nicht geregelte Vorermittlungen zur unförmlichen Aufklärung eines noch geringen Tatverdachtes. Diese Vorstellung der strafrechtlichen Ermittlungen entspricht jedoch nicht der gesetzlichen Lage. Ein Ermittlungsverfahren muss keineswegs förmlich oder auch nur willentlich durch eine "offene Kriegserklärung" eingeleitet werden. Den Beginn des Strafverfahrens stellen vielmehr alle Maßnahmen dar, die objektiv erkennbar zum Ziel haben, gegen jemanden zu ermitteln. Da die informatorischen Befragungen zwangsläufig Teil des Ermittlungsverfahrens sind, kann das Merkmal der Innerprozessualität nicht dazu dienen, die Vernehmung von den informatorischen Befragungen abzugrenzen. 170 Gast-de Haan, in: Franzen I Gast/ Joecks, § 397 AO Rdnr. 42; Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 260; Hübner, in: Hübschmann I Hepp I Spitaler, § 397 AO Rdnr. 27. 171 Einschränkend Cratz, in: Leise/Dietz/Cratz, § 397 AO Rdnr. 38, der fordert, das Verfahren müsse sich gegen eine individualisierbare Person richten, dessen Name aber nicht bekannt sein müsse. 172 Hellmann, Neben-Strafverfahrensrecht, S. 260.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

99

111. Die zur Aussage veranlasste Person

Eine Abgrenzung lässt sich aber unter Umständen anhand der zur Aussage veranlassten Person durchführen. Die Strafverfahrensordnung regelt nämlich nur die Vernehmung eines Beschuldigten oder Zeugen. Die Befragung einer Person, die weder Zeuge noch Beschuldigter ist, kann damit keine Vernehmung sein. Nur wenn es gelänge, eine nicht geregelte Auskunftsperson zu etablieren, könnten die informatorischen Befragungen anhand der zur Aussage veranlassten Person von der Vernehmung abgegrenzt werden. 1. Verdächtiger als Auskunftsperson sui generis?

a) Ein Teil der Literatur 173 beschreitet diesen Weg, indem sie behauptet, es gebe eine Auskunftsperson sui generis, nämlich den Verdächtigen. Die Anerkennung einer in der StPO nicht geregelten Auskunftsperson sei erforderlich, um ein Abgrenzungskriterium für die informatorischen Befragungen zu schaffen. Die Argumentation verlief dabei allerdings in entgegengesetzter Richtung. Es wurde nämlich nicht versucht, die Zulässigkeit der informatorischen Befragung mit der Existenz der Auskunftsperson sui generis zu belegen, sondern die Kategorie des Verdächtigen als eigenständige Auskunftsperson wird umgekehrt daraus hergeleitet, dass es von Vernehmungen zu unterscheidende informatorische Befragungen gebe. Die Anerkennung der Figur des Verdächtigen als Auskunftsperson sui generis sei notwendig, wenn von der Existenz der informatorischen Befragung ausgegangen wird 174• Da die Zulässigkeit der informatorischen Befragungen kaum zweifelhaft sein könne, folge daraus zwangsläufig, dass auch die Kategorie des Verdächtigen anzuerkennen sei 175 . Der Ausgangspunkt dieser Ansicht geht zwar zutreffend von der Abhängigkeit der Anerkennung einer in der StPO nicht geregelten Auskunftsperson von der Existenz der informatorischen Befragungen aus. Diese Abhängigkeit besteht aber auch in die andere Richtung. Da sich nämlich die informatorischen Befragungen nicht durch andere Kriterien von der Vernehmung abgrenzen lassen, ist diese Form des Personalbeweises von der Anerkennung einer Auskunftsperson sui generis abhängig. b) In der Literatur 176 ist diesem Ansatz jedoch entgegengehalten worden, dass nach den§§ 55 Abs. 1, 60 Abs. 1 Nr. 2 StPO auch eine Person, gegen die ein VerBringewat, JZ 1981, 289; Bruns, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, S. 1, 3. Bringewat, JZ 1981, 289; Bruns, in: Festschrift für Schmidt-Leichner, S. I, 3. 175 Ähnlich Fincke, NJW 1969, 1014, 1015. 176 Artzt, Kriminalistik 1970, 379; v. Gerlach, NJW 1969, 776; Moormann, Informatorische Anhörung, S. 50; Rogall, MDR 1977, 978; ders., NJW 1978, 2535; Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 94. 173

174

7*

100

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

dacht der Tatbeteiligung besteht, weiterhin den Zeugenstatus innehat. Das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 Abs. 1 StPO und das Vereidigungsverbot des § 60 Abs. 1 StPO sind nur so zu verstehen, dass ein Verdächtiger als Zeuge vernommen werden kann. Entgegen der Ansicht, die dem Verdächtigen eine eigene Prozessrolle zuschreiben will, ist mit diesen Regelungen eine Statusregelung des Verdächtigen getroffen worden. Es ist zwar richtig, dass nicht alle Verdächtigen Zeugen sind, daraus kann aber nicht gefolgert werden, der Verdächtige sei eine Auskunftsperson sui generis. §§ 55 Abs. 1, 60 Abs. I StPO belegen, dass sich der Gesetzgeber bei der Schaffung dieser Vorschriften bewusst gegen eine eigenständige Regelung der Kategorie des Verdächtigen entschieden hat. Nach dem numerus clausus der Personalbeweise der StPO ist der Verdächtige demnach - solange er nicht Beschuldigter ist- nichts anderes als ein Zeuge 177 . c) Die überwiegende Auffassung in der Literatur lehnt deshalb den Verdächtigen als Auskunftsperson sui generis zu Recht ab. Übersehen wird dabei allerdings die Konsequenz, die eine Ablehnung einer ungeregelten Auskunftsperson für die informatorischen Befragungen hat. Wegen der Abhängigkeit der informatorischen Befragungen von der Existenz einer Auskunftsperson sui generis, folgt daraus nämlich, dass es auch die informatorischen Befragungen nicht geben kann. Das gilt allerdings nur dann, wenn es auch nicht gelingt, eine andere Auskunftsperson zu etablieren. 2. Informant als Auskunftsperson der informatorischen Befragung ?

a) Ein anderer Teil der Literatur 178 behauptet, "Informanten" seien Auskunftspersonen sui generis. Ausgangspunkt dieser Ansicht ist wiederum die Erkenntnis, dass der Unterschied zwischen Vernehmung und informatorischer Befragung nur in der befragten Person zu finden sein kann. Da der Befragte aber nicht notwendigerweise verdächtig sein muss, könne es nicht um die Anerkennung des Verdächtigen als Auskunftsperson sui generis gehen, der "Informant" sei aber eine solchei79.

m Artzt, Kriminalistik 1970, 379; Geppert, Jura 1991, 80, 84; v Ger/ach, NJW 1969, 776; Lüder gen Lühr, Die Polizei 1985, 43, 44; Rogall, NJW 1978, 2535; ders., in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 13. 178 Bauer, Schweigerecht, S. 19; Fischer, Vernehmung des Beschuldigten, S. 11 ; Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 17; ders., NJW 1980, 2142; Moormann, Informatorische Anhörung, S. 49 ff.; Reitberger, Kriminalistik 1966, 169, 172. Vgl. auch Gerling, Informatorische Befragung, S. 90 ff., der anerkennt, dass es keine Auskunftsperson sui generis gibt, dem informatorisch Befragten aber einen Quasi-Zeugenstatus zuschreibt. Er unterscheidet - nicht nachvollziehbar - zwischen dem normalen Zeugen und dem informatorisch Befragten, auf den die Regeln für die Zeugen analog anzuwenden seien. 179 Gerling, Informatorische Befragung, S. 47.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

101

b) Diese Auffassung erkennt also zutreffend die Abhängigkeit der informatorischen Befragung von der Anerkennung einer Auskunftsperson sui generis. Es gelingt aber auch dieser Ansicht nicht, die Existenz des sog. "Informanten" als eigenständige Auskunftsperson der informatorischen Befragungen überzeugend zu belegen. Unterschieden werden soll nach diesem Ansatz zwischen dem materiellen und dem formellen Zeugen 180. Danach ist der informatorisch Befragte ein formellrechtlicher Zeuge, während eine Zeugenstellung materiell-rechtlicher Natur erst einsetze, wenn der Befragte Auskunft über Tatsachen geben kann. Zeuge i. S. d. StPO soll offenbar nur derjenige sein, der tatsächlich Angaben zum Tatgeschehen machen kann. Diese Sicht beachtet jedoch nicht, dass ein Zeuge seine Wahrnehmungen über Tatsachen durch Aussage kundgeben soll und diese Wahrnehmungen auch darin bestehen können, eben nichts zur Aufklärung des Tatgeschehens beitragen zu können. Ein Zeuge, der nichts Sachdienliches mitteilen kann, hört deshalb nicht auf, Zeuge zu sein. Eine Unterscheidung zwischen dem Zeugen und dem Informanten kann somit nicht darauf gestützt werden, ob der Befragte tatsächlich etwas zur Sachverhaltsaufklärung beitragen kann oder nicht. c) Zeuge ist vielmehr jeder, der in einem - nicht gegen sich selbst gerichteten Strafverfahren Auskunft über Wahrnehmungen gibt oder doch geben soll 181 . Diese Definition trifft aber auf den informatorisch Befragten zu, weil er innerhalb eines Strafverfahrens Angaben über das Tatgeschehen machen soll. Damit ist er nichts anderes als ein Zeuge i. S. d. StP0 182 . IV. Qualifizierung der informatorischen Befragung als Zeugenvernehmung 1. Fehlende Belehrungspjlicht als einziges Unterscheidungsmerkmal

Die informatorische Befragung unterscheidet sich damit von der Vernehmung offensichtlich nur durch ein Merkmal: die fehlende Belehrungspflicht 183 . Daraus folgt aber gleichzeitig die Unzulässigkeil der informatorischen Befragung: Die vom Gesetz bei der Vomahme einer Ermittlungsmaßnahme zwingend vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass eine ErmittlungsMoormann, Informatorische Anhörung, S. 49 ff. RGSt 52, 289; BGHSt 22, 347, 348; Dahs, in: LR, Vorbem. § 48 Rdnr. 2, Geppert, Jura 1991, 80, 81; Grünwald, Beweisrecht, S. 13; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vorbem. § 48 Rdnr. 1; Schlüchter, Strafverfahrensrecht, Rdnr. 477. 182 v. Gerlach, NJW 1969, 776, 777; Kleinknecht/Meyer-Goßner; Ein!. Rdnr. 79; Rogall, MDR 1977,978, 979; NJW 1978,2535,2537. 183 So auch Grosjean, Beschuldigteneigenschaft, S. 93, der zwar das "Rechtsinstitut" der informatorischen Befragung aufgeben will und infolgedessen eine Belehrung folgert. Gleichzeitig will er aber am Begriff der informatorischen Befragung festhalten und verzichtet auf eine weitere Definition. 180

181

102

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

maßnahmeschlicht anders benannt wird184. Die informatorischen Befragungen unterscheiden sich aber von Zeugenvernehmungen durch kein Merkmal 185 . Die Bezeichnung als informatorische Befragung ist damit nichts weiter als ein Etikettenschwindel. 2. Gleichsetzung von Zeugenvernehmungen und informatorischen Befragungen in der Rechtsprechung

a) In bestimmten Fallkonstellationen wird dieses Ergebnis auch von der Rechtsprechung186 anerkannt. Die informatorisch Befragung sei dann mit der Vernehmung gleich zu setzen, wenn ein Zeuge befragt wird, der sich erst später auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft. Ein Zeuge ist danach i. S. d. § 252 StPO auch dann vernommen worden, wenn die Polizei ihn formlos (informatorisch) befragt habe. Dieses weite Verständnis des Vernehmungsbegriffs in § 252 StPO ist in der Literatur 187 auf weitgehende Zustimmung gestoßen. Die Schutzbedürftigkeit des Zeugen gebiete die Gleichsetzung der informatorischen Befragung mit der Vernehmung i. S. d. § 252 StPO, da der Befragte gerade zu Beginn der Ermittlungen oftmals noch keinen Überblick über die Tragweite seiner Äußerungen habe, was insbesondere dann gelte, wenn er scheinbar noch gar nicht vernommen wird 188. Die Konfliktlage des Zeugen, zu der Überführung eines Angehörigen beigetragen zu haben, müsse nach Möglichkeit vermieden werden, indem die Verwertbarkeit früherer Aussagen - oftmals ohne Kenntnis des Zeugnisverweigerungsrechts abgegeben - unabhängig von der Art der Befragung ausgeschlossen werde. b) Dieser Argumentation ist zwar grundsätzlich zuzustimmen. Indem die Gleichsetzung der informatorischen Befragung und der Vernehmung mit der Schutzbedürftigkeit des Zeugen begründet wird, verbleibt jedoch Raum für Wertungen, die es erlauben, in anderen Zusammenhängen von einem Unterschied zwischen den beiden Befragungsformen auszugehen. So kann die Frage, aus welchem Grunde der Begriff der Vernehmung in § 252 StPO anders auszulegen sein sollte als in anderen Zusammenhängen, also insbesondere bei Befragungen einer Person, die erst später zum Beschuldigten wird, mit dem Hinweis auf die Wertungen der StPO beantwortet werden, nämlich damit, dass es eine § 252 StPO entsprechende SchutzKrit. auch Bohlander, NStZ 1992, 504,506. v. Gerlach, NJW 1969, 776, 777 ff.; zu diesem Ergebnis kommen auch Gerling, Informatorische Befragung, S. 92; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 509, freilich ohne eine tragfähige Begründung zu geben oder die Konsequenzen aus diesem Ergebnis zu ziehen. 186 BGH 29, 230; BayübLG, VRS 59 (1980), 205 = StV 1981, 82; BayübLG, VRS 59 (1980), 268; MDR 1983, 427 = NJW, 1983, 1132 = StV 1983, 142; VRS 65 (1983), 290 = StV 1983, 452; OLG Stuttgart, VRS 63 (1982), 52. 187 Geppert, in: Festschrift für Oehler, S. 323; Gerling, Informatorische Befragung, S. 90; Gundlach, NJW 1980, 2142; Haubrich, NJW 1981, 803; Lüder gen Lühr, Die Polizei 1985, 43, 47; Rengier, Jura 1981, 299, 301. 188 Geppert, in: Festschrift für Oehler, S. 323, 333. 184

185

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

103

vorschrift für den Beschuldigten nicht gebe 189. Den Schutz, an seiner früheren Aussagen nicht festgehalten zu werden, genieße der Beschuldigte im Gegensatz zum Zeugen gerade nicht. Die früheren Aussagen des Beschuldigten könnten diesen - wie z. B. § 254 StPO belege - in der anschließenden Hauptverhandlung durchaus belasten. Aus dieser Wertentscheidung des Gesetzgebers soll damit das unterschiedliche Verständnis des Begriffs der Vernehmung folgen. c) Es kann an dieser Stelle darauf verzichtet werden, diese Wertung zu hinterfragen und die Schutzbedürftigkeit des Zeugen und des Beschuldigten miteinander zu vergleichen. Das Ergebnis, dass informatorische Befragungen nichts anderes als Zeugenvernehmungen bzw. bei Vorliegen eines Tatverdachts Beschuldigtenvernehmungen sind, ergibt sich nämlich schlicht aus deren mangelnder Unterscheidbarkeit. Erstaunlich ist allerdings, dass die wohl h.M. die informatorische Befragung in bestimmten Konstellationen mit der Vernehmung offensichtlich gleichsetzt, ohne eindeutig zu belegen, warum der Inhalt des Begriffs der Vernehmung abhängig vom Zusammenhang bestimmt wird. 3. Schutzvorschriften der StPO

a) Es gibt also keine belehrungsfreien Befragungen, sondern nur belehrungspflichtige Zeugen- bzw. Beschuldigtenvernehmungen. Das führt aber keineswegs zu der in der Literatur 190 zum Teil heraufbeschworenen Gefahr der völligen Unmöglichkeit effektiver Sachaufklärung. So soll die Pflicht zur Belehrung zur Folge haben, dass z. B. der wegen einer Schlägerei in ein Wirtshaus gerufene Polizist beim Betreten des Raumes erst einmal alle Anwesenden darauf hinweisen müsse, er habe jetzt ein paar Fragen, aber jeder könne die Aussage verweigern und einen Anwalt hinzuziehen. b) Diese Situation ist jedoch erheblich überzeichnet. Die Belehrung nach

§ 55 Abs. 2 StPO ist nämlich nicht grundsätzlich vor jeder Zeugenvernehmung

durchzuführen, sondern erst, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die Beantwortung der Fragen den Zeugen selbst oder einen Angehörigen in die Gefahr bringt, straf- oder ordnungsrechtlich verfolgt zu werden. Die Belehrungspflicht gern. § 136 Abs. 2 StPO hängt sogar von engeren Voraussetzungen, nämlich der Beschuldigteneigenschaft ab. Existieren aber Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen der Belehrungspflichten erfüllt sind, so kann nicht darauf verwiesen werden, die Befolgung dieser Pflichten lege das Verfahren lahm. Das liefe im Grunde auf die Argumentation hinaus, die Schutzvorschriften der StPO behinderten die Arbeit der Polizei.

189 190

Geppert, in: Festschrift für Oehler, S. 323, 343. Krause, Die Polizei 1985, 305.

104

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

c) Alle Befragungen durch ein offen auftretendes Strafverfolgungsorgan in einem Strafverfahren sind damit Vernehmungen, deren Zulässigkeitsvoraussetzungen sich aus der StPO ergeben. V. Abgrenzung der Vernehmung von der Spontanäußerung 1. Fehlende Veranlassung zur Äußerung

Im Gegensatz zu der sog. informatorischen Befragung ist die Spontanäußerung von der Vernehmung zu unterscheiden. Spontanäußerungen zeichnen sich durch das Fehlen eines Merkmales des Vernehmungsbegriffes - die Veranlassung der Aussage - aus, weil der sich spontan Äußernde eben nicht auf die Aktivität eines Organs der Strafverfolgungsbehörde reagiert, sondern von sich aus tätig wird 191 . Deshalb handelt es sich um eine Spontanäußerung und nicht um eine Vernehmung, wenn eine Person von sich aus an einen Polizeibeamten herantritt und eine Aussage macht. Kommt also etwa jemand unerwartet in die Dienststelle und macht dabei aus freien Stücken eine Aussage, ist diese entgegenzunehmen. Diese Spontanäußerungen sind von den Polizeibeamten im Rahmen ihrer Aufklärungspflicht aufzunehmen und für die weitere Ermittlungsarbeit auszuwerten. Auch Geständnisse des (späteren) Beschuldigten gehören dazu, wenn dieser sie aus freiem Entschluss abgibt192.

2. Beginn der Vernehmung

Zwar sind die Äußerungen, die unerwartet abgegeben und von den Beamten nicht motiviert wurden, unproblematisch den Spontanäußerungen zuzurechnen. Es ist aber umstritten, wann eine Veranlassung zur Aussage i.w.S. noch angenommen werden und die Aussage den Vernehmungsergebnissen zugerechnet werden muss. Es geht dabei um die Frage, wann eine Vernehmung anfängt und eine Spontanäußerung gar nicht mehr möglich ist 193 . a) Als Vernehmungsbeginn gilt sicher die erste Frage des Vernehmungsbeamten194. Das legt den Schluss nahe, dass die Vernehmung nur gleichzeitig mit der Befragung beginnen kann, und alle Angaben, die der später Befragte vor dieser ersten Frage macht, den Spontanäußerungen zuzurechnen sind. Das entspricht der 191 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 4; Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 113; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 509; Geyer, Pflicht zur Belehrung, S. 18; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 19; Neuhaus, Kriminalistik 1995,787, 788. 192 Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 113. 193 Fezer, StV 1990, 195. 194 So auch BGHSt 29, 230, 232 f.; BayOblG, StV 1983, 143; OLG Hamburg, StV 1990, 534.

§ 7 Abgrenzung der Vernehmung

105

Ansicht der Rechtsprechung 195 . Eine Aussage ist danach nur dann veranlasst, wenn sie Folge einer verbalen Aufforderung zu einer Äußerung ist. Das hat zur Folge, dass die Vernehmungsbeamten die erste Frage beliebig lange hinauszögern können und auf diese Weise den Beschuldigten dem Vernehmungsdruck schon vor dem Beginn der Vernehmung aussetzen können. Beispielhaft zeigt dies ein Sachverhalt, über den der BGH 196 zu entscheiden hatte: Die Beamten hatten den Beschuldigten zu einer Vernehmung geladen und dann eine Stunde(!) mit der Stellung der ersten Frage gewartet. Der BGH hat hier eine Spontanäußerung angenommen, weil der Beschuldigte nicht verbal zu einer Aussage veranlasst worden sei. b) Diese Auffassung engt das Merkmal des Veranlassens einer Aussage jedoch unangemessen ein 197 . Der Beschuldigte kann nämlich auch non-verbal durch die Gesamtumstände zu einer Äußerung veranlasst werden, indem er dem Druck der Situation ausgesetzt wird. Zum Teil wird dies auch von der Rechtsprechung 198 anerkannt, wenn es nämlich um die Abgrenzung einer Spontanäußerung von einer Vernehmung eines Zeugen geht. Wenn aber ein Zeuge möglicherweise schon durch die Gesamtumstände zu einer Aussage zurechenbar veranlasst worden ist, obwohl die erste Frage noch nicht gestellt wurde, so besteht kein Grund, das Merkmal des Veranlassens im Bereich der Beschuldigtenvernehmung anders auszulegen. Der Beschuldigte ist also sofort über sein Recht auf einen Verteidiger zu belehren, auch wenn mit der Befragung - aus welchem Grunde auch immer - noch nicht begonnen wird 199. VI. Vorbesprechungen als Teil der Vernehmung In der Praxis wird der eigentlichen Vernehmung häufig eine sog. Vorbesprechung oder ein Vorgespräch vorgeschaltet200• Die Vorbesprechung soll der Einleitung oder besseren Strukturierung der Vernehmung dienen, um einen zügigen und flüssigen Ablauf der eigentlichen Vernehmung zu ermöglichen201 • Obwohl zum Teil ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass es sich nicht um einen Teil der Vernehmung, sondern lediglich um Unterhaltungen in der Vernehmungssituation 195 BGHSt 29, 230, 232; BGH, StV 1990, 194 = wistra 1990, 66, BayObLG StV 1983, 143; OLG Hamburg, StV 1990, 534; AG München, StV 1990, 104. 196 BGH, StV 1990, 194. 197 Fezer, StV 1990, 195. 198 BayObLG, StV 1983, 143; OLG Hamburg, StV 1990,535. 199 Fezer, StV 1990, 195; Geyer, Pflicht zur Belehrung, S. 18. 200 Krause, Die Polizei 1978, 305, 306; Moormann, Informatorische Anhörung, S. 14; Wulf, Polizeiliche Beschuldigenvernehmung, S. 152 ff. 201 Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 580; Krause, Die Polizei 1978, 305, 306; Schmitz / Plate, Kriminalistik 1978, 541, 543 f.

106

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

handelt, gehören die Vorbesprechungen bereits zur Vemehrnung202. Jede Äußerung, die in einem solchen Vorgespräch gemacht wird, ist in der Vernehmung abgegeben worden, denn es kann dem Beamten nicht gestattet sein, den Zulässigkeitsvorschriften der StPO dadurch zu entgehen, dass er einzelne Fragen als nicht der eigentlichen Vernehmung zugehörig klassifiziert203 .

§ 8 Begründung der Beschuldigteneigenschaft Nicht nur der Begriff der Vernehmung, sondern auch die Begründung der Beschuldigteneigenschaft ist noch nicht abschließend geklärt. Unproblematisch sind auch hier förmliche Vernehmungen durch den Richter und zum Teil auch der Staatsanwaltschaft. Wird der Beschuldigte als solcher zur Vernehmung geladen, begründet schon die Ladung die Beschuldigteneigenschaft Problematisch ist die Bestimmung des Beginns der Beschuldigtenstellung dagegen bei Vernehmungen, die ohne förmliche Ladung durchgeführt werden. Die Frage nach dem Zeitpunkt der Begründung der Beschuldigteneigenschaft und einer daraus folgenden Belehrungspflicht ist zum einen relevant für die Zulässigkeit einer von vomherein als Zeugenvernehmung angelegten Befragung. Der Beginn der Beschuldigteneigenschaft ist also entscheidend dafür, ob jemand überhaupt von Anfang an als Zeuge vernommen werden darf. Zum anderen können sich aber auch erst während der Vernehmung Anhaltspunkte für die Beschuldigteneigenschaft ergeben, die es erfordern, dass von einer Zeugen- zu einer Beschuldigtenvernehmung übergegangen wird. 1. Begründung der Beschuldigteneigenschaft nach objektiven Kriterien

a) Ein Teil der Literatur204 hält das Vorliegen von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für ausreichend. Die Beschuldigteneigenschaft richte sich ausschließlich nach dem objektiven Kriterium des Tatverdachts. Da die Ermittlungsorgane bei Vorliegen von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten zum Einschreiten verpflichtet seien, hänge der Beschuldigtenbegriff davon ab, ob sich der Tatver202 Missverständlich die Formulierung des AG Delmenhorst, StV 1991, 254, ein Vorgespräch sei von anderer Qualität als die Vernehmung. Damit soll nicht die Eigenständigkeil eines Vorgesprächs belegt werden, sondern die Unverwertbarkeit von Aussagen, die in lockerer Atmosphäre von dem Beschuldigten in der Annahme, es handele sich noch nicht um die Vernehmung, gemacht werden. 203 Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 580; Geyer, Pflicht zur Belehrung, S: 23; Krause, Die Polizei 1978, 305, 306; Moormann, Informatorische Anhörung, S. 14. 204 Eb. Schmidt, LK, Nachtrag I, Vorbem. § 158 Rdnr. 2; v. Heydebreck, Beschuldigteneigenschaft, S. 72 ff.; Kohlhaas, NJW 1965, 1254, 1255; ähnlich: Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 14.

§ 8 Begründung der Beschuldigteneigenschaft

107

dacht auf eine oder mehrere Personen so konkretisiert hat, dass ihre Täterschaft wahrscheinlich ist. b) Die Beurteilung der Beschuldigteneigenschaft nach objektiven Kriterien bietet zwar den Vorteil, dass der Zeitpunkt der Rechts- und Pflichtenstellung nicht den Strafverfolgungsbehörden anheim gestellt wird205 . Die angestrebte Rechtssicherheit durch das Abstellen auf objektive Kriterien ist jedoch auch durch das scheinbare Außerachtlassen von subjektiven Elementen nicht zu erreichen. Dem einzelnen Beamten ist nämlich bei der Beurteilung der konkreten Anhaltspunkte durchaus ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Auch wenn die Entscheidung von einem Dritten nachzuvollziehen sein muss206, behält sie dennoch ihr subjektives Gepräge. Dem Versuch, die Beschuldigteneigenschaft ausschließlich nach objektiven Kriterien zu umschreiben, ist aber vor allem entgegengehalten worden, sie missachte, dass die Begründung der Beschuldigteneigenschaft das "Produkt eines Zuschreibungsprozesses"207 sei. Da niemand "automatisch" zum Beschuldigten werde, könne die Bestimmung der Beschuldigteneigenschaft nicht ausschließlich anhand von objektiven Kriterien durchgeführt werden 208 . 2. Abhängigkeit der Beschuldigteneigenschaft von einem Willensakt der Strafverfolgungsorgane

Die h.M.209 hält deshalb einen Willensakt der Strafverfolgungsbehörden für erforderlich. Das Abstellen auf einen Willensakt der Vernehmungsbeamten legt es aber ungerechtfertigterweise in ihre Hand, wann jemand zum Beschuldigten wird. Die Beamten wären in der Lage, nach Belieben den Tatverdächtigen in der Rolle des Zeugen zu vernehmen und den Zeitpunkt der Belehrung hinauszuzögern. Es ist zwar anerkannt, dass eine willkürliche Zuschreibung der Zeugenrolle dem Beschuldigten seine Rechte nicht nehmen kann210. Der Beurteilungsspielraum der Beamten wird jedoch allein durch das Willkürkriterium nicht ausreichend eingeBeulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 112. Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 1 Rdnr. 23. 201 Jung, Kronzeugen, S. 74. 208 Artzt, Kriminalistik 1970, 379, 381; Jung, Kronzeugen, S. 74; Rieß, JA 1980, 293, 298; Geppert, Jura 1991, 80, 83. 209 BGHSt 10, 8, 10; 17, 128, 130; 37, 48, 51; BayObLG, StV 1995, 237; LG Stuttgart, NStZ 1985, 568, 569; Artzt, Kriminalistik 1970, 379, 380; Beulke, StV 1990, 180, 181; Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 4; Bringewat, JZ 1981, 289, 292; Dingeldey, JA 1984, 407, 410; Fischer, Vernehmung des Beschuldigten, S. 12; Geppert, Jura 1991, 80, 83; v. Gerlach, NJW 1969, 776 ff.; Grosjean, Beschuldigteneigenschaft, S. 38; Kleinknecht, Kriminalistik 1965, 449, 451; Kleinknecht!Meyer-Goßner, Einl. Rdnr. 77; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 5; Ranft, Strafprozessrecht, Rdnr. 299; Rieß, JA 1980, 293, 298; Rogall, Der Beschuldigte, S. 24 ff.; Saiger, Schweigerecht, S. 50. 210 BGHSt 10, 8, 10; BGH, NStZ 1995, 410; Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 4; Geppert, Jura 1991, 80, 83. 205

206

108

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

schränke 11 • Der Beurteilungsspielraum soll nämlich erst dann überschritten sein, wenn die Beamten trotz eines starken Tatverdachts nicht von der Zeugenvernehmung zur Beschuldigtenvernehmung übergehen212. Dem Betroffenen kommt danach bei fehlendem Willensakt der Strafverfolgungsbehörden nur dann der Status des Beschuldigten zu, wenn sich der Tatverdacht so verdichtet hat, dass eine weitere Behandlung als Zeuge willkürlich erscheint21 3. Durch dieses Willkürlichkeitskriterium wird der Spielraum des Beamten aber kaum begrenzt. Es wäre z. B. nicht verboten, dem Verdächtigen konkrete Fragen über seine eventuelle Tatbeteiligung zu stellen, ohne dass ihm die Beschuldigtenrolle zukommen soll. 3. Rechtsgedanke des § 397 AO Es kann aber nicht darauf ankommen, ob die Vernehmungsbeamten den Betroffenen als Beschuldigten behandeln wollen, sondern ob sie ihn tatsächlich so behandeln. a) Mit einer im Vordringen befindlichen Auffassung214 ist deshalb jede Maßnahme, die erkennbar darauf abzielt, den Betroffenen einer Straftat zu überführen, als ausreichendes Kriterium für die Begrundung der Beschuldigteneigenschaft anzusehen. b) Dieser aus § 397 AO abgeleitete Rechtsgedanke vermeidet die Schwächen der objektiven und subjektiven Theorie, indem sie objektive und subjektive Merkmale kombiniert215 . Die Kombination subjektiver und objektiver Merkmale wird bisweilen dahingehend missverstanden, dass ein objektiver Tatverdacht gegen den Befragten vorliegen müsse und die Maßnahme der Strafverfolgungsbehörden subjektiv darauf gerichtet sein muss, den Befragten als möglichen Straftäter zu überführen216. Diese Interpretation des § 397 AO führt im Ergebnis zu der teilweise in der Rechtsprechung217 vertretenen Auffassung, es liege im Ermessen der Strafverfolgungsorgane, wann sie von der Zeugenvernehmung zur Beschuldigtenvernehmung übergehen und der Beurteilungsspielraum sei nur durch das Willkürkriterium Rogall, Der Beschuldigte, S. 26. BGHSt 37, 48, 53; BayObLG, StV 1995, 237; Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 4. 213 BGHSt 10, 8, 10; Saiger; Schweigerecht, S. 52. 214 BGHSt 38, 214, 228; BGH, StV 1985, 397, 398; BGH, NJW 1992, 1463, 1466; BGH, NJW 1997, 1591; Achenbach, in: AKStPO § 163a Rdnr. 20; Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 112; ders., StV 1990, 180, 181; Bottke, StV 1986, 120, 121 ; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 505; Gundlach, in: AKStPO, § 136 Rdnr. 3 ff.; Geyer, Pflicht zur Belehrung, S. 53; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. I ff.; ders., Neben-Strafverfahrensrecht, S. 259; Rogall, Der Beschuldigte, S. 27 ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 25 Rdnr. 11; Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, S. 383 ff. 215 Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 1 Rdnr. 29. 216 Saiger; Schweigerecht, S. 51. 217 BGHSt 37, 48; BayObLG, StV 1995, 237. 211

212

§ 9 Zweck der Beschuldigtenvernehmung

109

begrenzt. Als objektives Kriterium gilt nach dieser Interpretation des § 397 AO der Tatverdacht, der sich so verdichtet haben müsse, dass die vernommene Person ernstlich als Täter in Betracht kommt. c) Nach der in § 397 AO enthaltenen Regelung wird die Beschuldigteneigenschaft aber begründet, wenn der Beamte einen Tatverdacht hegt oder wenn das äußere Erscheinungsbild der Maßnahme belegt, dass der Beamte zur Aufklärung einer Straftat tätig wird218 . Ausreichend ist demnach bereits die Vomahme einer Maßnahme, die aufgrundihrer Natur oder der Art und Weise ihrer Durchführung belegt, dass die Strafverfolgungsbehörden im Strafverfahren ermitteln 219. d) Für Befragungen ergibt sich daraus, dass bereits die Art der Fragestellung oder die Umstände einer angeblichen Zeugenvernehmung dem Befragten die Beschuldigtenrolle zuweisen. Das Ziel der Strafverfolgung ist nämlich dann objektiv erkennbar, wenn die Fragen offensichtlich die Beteiligung des Betroffenen an der Straftat aufklären sollen oder die Umstände der Befragung, z. B. die Verheimlichung relevanter Tatsachen, zeigen, dass der Vernehmungsbeamte einen Verdacht gegenüber dem Befragten hegt220 . Dem Befragten kommt damit in dem Moment die Beschuldigtenrolle zu, in dem an ihn Fragen zur Aufklärung einer möglicherweise von ihm begangenen Tat gerichtet werden.

§ 9 Zweck der Beschuldigtenvernehmung Nach der Klärung, wann eine Beschuldigtenvernehmung vorliegt, muss die Frage, welchem Zweck die Beschuldigtenvernehmung dient, beantwortet werden, weil das Verteidigerkonsultationsrecht und dessen faktische Durchsetzbarkeil in einer Vernehmung, die der Verteidigung dient, einen höheren Stellenwert hat als in einer Vernehmung, die - zumindest auch - die Sachverhaltsaufklärung bezweckt. Welchen Zweck die Beschuldigtenvernehmung verfolgt, ist bislang weitgehend ungeklärt. Zumeist wird ihr eine Doppelfunktion zugeschrieben 221 . Die Vernehmung soll einerseits dem Beschuldigten die Gelegenheit geben, sich zu verteidigen, andererseits aber auch die Sachverhaltsaufklärung fördern. Streitig ist dabei lediglich die Gewichtung der beiden Aufgaben 222 . 218 Das erkennt auch der BGH, NJW 1992, 1463, 1466, an, der zwar die subjektive Komponente in dem Tatverdacht sieht, aber betont, es gäbe Verhaltensweisen, die schon nach ihrem äußeren Erscheinungsbild belegen, dass der Amtsträger im Strafverfahren ennittelt. 219 Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 1 Rdnr. 29. 22o Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 5. 221 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. I; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 510; Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 35; Kleinknecht, Kriminalistik 1966, 449, 451 ; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 14; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 1; Rieß , JA 1980, 293, 297; Rogall in: SKStPO, § 136 Rdnr. 7; Rothfuß, StrFo 1998, 289, 293; v. Stetten, Einsatz Verdeckter Ennittler, S. 121; Wache, in: KK, § 163a Rdnr. 3; Wagner, ZStW 109 (1997), 545, 548.

110

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

Nach § 136 Abs. 2 StPO besteht der Zweck der Vernehmung darin, dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. Trotz dieser Regelung wird die Möglichkeit zur Verteidigung allerdings allenfalls als primäre Aufgabe der Vernehmung anerkannt223, neben die aber die Überführung treten soll. Die nähere Betrachtung zeigt indes, dass der Gesetzgeber die Vernehmung als Möglichkeit zur Verteidigung ausgestaltet hat, während sich die Annahme der Funktion der Sachverhaltsaufklärung nicht belegen lässt und nur auf vermeintlichen - kriminalpolitischen Notwendigkeiten beruht. I. Gewährleistung der Verteidigung als Zweck der Vernehmung nach der StPO 1. Entstehungsgeschichte des § 136 Abs. 2 StPO

Die Entstehungsgeschichte des § 136 Abs. 2 StPO belegt, dass der Zweck der Vernehmung nach dem Willen des Gesetzgebers in der Verteidigung besteht224. a) Mit der Abkehr von Inquisitionsprozess entfiel die Verpflichtung des Beschuldigten, gegen sich selbst auszusagen und sich selbst zu überführen. Im modernen Strafprozess ist er lediglich berechtigt, selbstbelastende Angaben zu machen und Tatsachen vorzutragen, die seine Schuld beweisen. aa) Dieser Grundsatz beherrschte die Beratungen zur Konzeption der modernen StPO. So legte der Justizausschuss des Bundesrates 1874 dar, dass die Vernehmung, wenn und soweit der Beschuldigte geständig ist, als freiwillig dargebotenes (!) Untersuchungsmittel auch im heutigen Verfahren von größtem Wert sein wird225 . Es könne aber nicht gefordert werden, dass der Beschuldigte gegen seinen Willen zu seiner Überführung beitrage. Wolle er sich jedoch zu der Beschuldigung äußern, müsse auch ihm diese Möglichkeit gegeben werden. Da dem Beschuldigten rechtliches Gehör zu gewähren sei, müsse ihm die Vernehmung Gelegenheit zur Rechtfertigung und Beseitigung der gegen ihn sprechenden Verdachtsgründe geben. Ausdruck fand dieser Gedanke in§ 123 des Entwurfes der Strafprozessord222 Für ein Überwiegen des Verteidigungszweckes: Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 1; Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 36; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 510; Rieß, JA 1980, 293, 297; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 7; Roxin, JZ 1993, 426, 427; Wagner, ZStW 109 (1997), 545, 548. Eher das Moment der Sachverhaltsaufldärung betonend: Eb.Schmidt, Nachtrag I Rdnr. 12, 13; Eser, ZStW 79 (1967), 220; Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 1. Für die Kriminalisten stellt sich die Frage nach der möglichen Doppelfunktion der Vernehmung gar nicht. Die Vernehmung solle ausschließlich der Sachverhaltsaufldärung dienen; vgl. nur Groß/Geerds, Handbuch der Kriminalistik, Bd. II S. 141. 223 Roxin, JZ 1993, 426,427. 224 Eine genaue Schilderung der Entstehungsgeschichte bei Degener, GA 1992, 443, 456 ff. 225 Hahn/Stegemann, Gesamte Materialien, S. 138.

§ 9 Zweck der Beschuldigtenvernehmung

lll

nung, der im Wesentlichen der heutigen Fassung des § 136 Abs. 2 StPO entspricht226. bb) Später wurde erfolgreich ein Änderungsantrag gestellt, § 123 um die Regelung zu erweitern, dass dem Beschuldigten zu Beginn der Vernehmung die ihm zur Last gelegte strafbare Handlung anzugeben und er zu befragen ist, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle. Durch Einführung dieses Zusatzes sollte der "nemo-tenetur-Grundsatz" deutlicher zum Ausdruck gebracht werden227 . Die Konsequenz dieser Erweiterung des § 123 war, dass die Normierung des Vernehmungszwecks in den zweiten Absatz rutschte und bis heute in der wenig beachteten ,,Zweiten Reihe" steht228. Die Diskussionsbeiträge zu der Änderung belegen allerdings, dass eine Abwertung der für die Ausgestaltung der Vernehmung maßgebliche Vorschrift nicht bezweckt war229 . cc) Ein dariiber noch hinausgehender Reformvorschlag bestand darin, die Vernehmung des Beschuldigten mit Rücksicht auf dessen Subjektsstellung ganz zu untersagen. Diese Forderung wurde jedoch abgelehnt, allerdings nicht ohne den Hinweis, dass die Gefahren, die bei der Beibehaltung des früher üblichen Verhörs leicht entstehen könnten, nicht zu unterschätzen seien. Der Gedanke, die Vernehmung solle dem Beschuldigten zur Verteidigung dienen, habe als das die Vernehmung maßgeblich prägende Moment genügend Ausdruck in § 123 Abs. 2 gefunden. Zum Teil wurden jedoch auch Bedenken geäußert, ob der Gesetzestext wirklich so eindeutig sei, dass Zweifel am normierten Vernehmungszweck nicht aufkommen können230. Tatsächlich bietet die Formulierung "Es soll dem Beschuldigten die Möglichkeit zur Verteidigung gegeben werden" Raum für Interpretationen231. Die Warnung, die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift könne dazu führen, dass die Vernehmungspersonen den Zweck ihrer Befragung auch in der Erlangung eines Geständnisses sehen, wurde auch nach der Einführung des § 123 noch wiederholt232; nicht vermutet wurde allerdings, dass auch die Rechtswissenschaft die Vorschrift einmal so auslegt. b) Die Gesetzgebungsgeschichte dokumentiert mit besonderer Deutlichkeit, nach welchen Grundsätzen der Gesetzgeber die Vernehmung beurteilte 233. Er 226 § 123: ,,Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit zur Rechtfertigung und Beseitigung der gegen ihn sprechenden Verdachtsgründe geben". 227 Erläuterungen des Abgeordneten Herz, abgedr. in: Hahn/ Stegemann, Gesamte Materialien, S. 701. 228 Degener, GA 1992,443,457. 229 Vgl. die Diskussionsbeiträge von Herz, Hauck und Schwarze, abgedruckt in: Hahn/ Stegemann, Gesamte Materialien, S. 701; von Gneist und Hanauer, abgedruckt in: Hahn/ Stegemann, Gesamte Materialien, S. 702 und Wolffson, abgedruckt in: Hahn/ Stegemann, Gesamte Materialien, S. 703. 230 Woljfson, abgedruckt in: Hahn/Stegemann, Gesamte Materialien, S. 703. 23 1 Geppert spricht insofern von einer nebulösen Gesetzesformulierung, in: Festschrift für Meyer, S. 93, 97. 232 Rosenfeld, Gutachten zum 29. DJT, Bd. I, S. 12.

112

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

wollte erkennbar mit dem Inquisitionsprozess brechen und die Vernehmung nicht mehr als Verhör, sondern als Gewährung rechtlichen Gehörs gestalten. Dieser Gedanke hat durch § 136 Abs. 2 StPO eine Regelung gefunden, die der Sachverhaltsaufklärung und dem Wahrheitsermittlungsauftrag der Behörden keinerlei Beachtung mehr schenkt.

2. Die zwingend vorgeschriebene Vernehmung Das Gesetz bringt zudem an einer weiteren Stelle unmissverständlich zum Ausdruck, dass es die Vernehmung des Beschuldigten als Möglichkeit der Verteidigung betrachtet. a) Gemäß § 163a Abs. 1 StPO muss der Beschuldigte spätestens vor Abschluss des Emtittlungsverfahrens vernommen werden, wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. Diese Bestimmung stellt sicher, dass der Beschuldigte vor Anklageerhebung von dem gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahren erfährt und er die Gelegenheit bekommt, sich zu den Vorwürfen zu äußern234. Die Verpflichtung zur Vernehmung ist nur dann sinnvoll, wenn mit ihr die Gewährung rechtlichen Gehörs gesichert werden solf35 . b) Der dagegen gerichtete Einwand, die Pflicht zur Vernehmung solle auch der Vervollständigung der Sachverhaltsaufklärung dienen 236, überzeugt nicht, denn für eine Sachverhaltsaufklärung ist eine Vernehmung nicht grundsätzlich notwendig. Die Emtittlungsbeamten könnten nach Belieben auch darauf verzichten, wenn zur Tataufklärung eine Aussage des Beschuldigte nicht (mehr) notwendig oder bekannt ist, dass der Beschuldigte von seinem Schweigerecht Gebrauch machen wird. Der Verzicht auf die Gewährung rechtlichen Gehörs würde dem Beschuldigten hingegen die Möglichkeit nehmen, sich verteidigen zu können. Die Vernehmung muss deshalb vorgeschrieben sein, um zu verhindern, dass dem Beschuldigten diese Verteidigungsmöglichkeit versagt wird. § 163a Abs. l StPO hat somit ausschließlich die Aufgabe, den rechtlichen Anspruch auf Gehör zu gewährleisten237 .

3. Nemo-tenetur-Grundsatz Auch das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten spricht für den Verteidigungszweck der Vernehmung238 . Der nemo-tenetur-Grundsatz ist nur zu erklä233 234 235 236 237 238

Grünwald, StV 1987,453. Wache, in: KK, § 163a Rdnr. 2. Hanack, in: LR, § 136 Rndr. 35. Krehl, in: HKStPO, § 163a Rdnr. 1. Wache, in: KK, § 163a Rdnr. 1. Degener, GA 1992, 443, 462.

§ 9 Zweck der Beschuldigtenvernehmung

113

ren, wenn die Funktion der Vernehmung darin zu sehen ist, dem Beschuldigten die Möglichkeit der Verteidigung zu gewähren. Das Recht des Beschuldigten zu schweigen und frei darüber zu entscheiden, ob er aussagen will oder nicht, und wenn ja mit welchem Inhalt, widerspricht nämlich der Annahme, dass es Zweck der Beschuldigtenvernehmung sei, die Wahrheit zu erforschen. Wäre dem so, müsste folgerichtig eine Aussagepflicht bejaht werden. Diese Konsequenz ergäbe sich, weil der Beschuldigte nicht befugt ist, den Zweck einer Ermittlungsmaßnahme zu vereiteln. Eine solche Befugnis des Beschuldigten kennt die StPO nämlich nicht239• An keiner Stelle wird die Durchführung einer Maßnahme in das Belieben des Beschuldigten gestellt. Damit unvereinbar wäre es, wenn der Beschuldigte in seiner Vernehmung frei über deren Zweckerreichung disponieren könnte, indem er sich auf sein Aussageverweigerungsrecht beruft. Der nemo-tenetur-Grundsatz belegt damit, dass Zweck der Vernehmung nur die Gewährung rechtlichen Gehörs sein kann240• II. Die abweichende Konzeption der herrschenden Meinung

Die StPO bringt somit zum Ausdruck, dass die Vernehmung der Verteidigung des Beschuldigten dienen soll. Dagegen folgert die überwiegende Meinung in der Literatur241 aus anderen Vorschriften der StPO, dass der Beschuldigtenvernehmung eine Doppelfunktion zukomme. Die zum Beweis herangezogenen Vorschriften belegen jedoch keineswegs, dass die Beschuldigtenvernehmung - zumindest auch - den Zweck der Sachverhaltsaufklärung verfolgt. 1. Vernehmung als Beweisaufnahme i.w.S.

a) Aus der Subjektsstellung des Beschuldigten und dem Selbstbelastungsprivileg ergibt sich zwar, dass dieser nicht gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten. Es ist aber nicht zu verkennen, dass die Beschuldigtenvernehmung in der Praxis eine wichtige Rolle als Erkenntnisquelle des Gerichts darstellt242 • Das Gericht ist häufig auf die Einlassung des Angeklagten zur Aufklärung des Sachverhalts angewiesen und nicht einmal daran gehindert, die Aussagen des Beschuldigten zur alleinigen Grundlage seines Urteils zu machen 243• Insbesondere zur Feststellung Degener, GA 1992,443,462. Degener. GA 1992, 443, 462. 241 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 1; Eisenberg, Beweisrecht, Rdnr. 510; Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 35; Kleinknecht, Kriminalistik 1966, 449, 451; Kleinknecht I Meyer-Goßner. § 136 Rdnr. 14; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 1; Rieß, JA 1980, 293, 297; Ragall in: SKStPO, § 136 Rdnr. 7; Rothfuß, StrFo 1998, 289, 293; Wache, in: KK, § 163a Rdnr. 3; Wagner, ZStW 109 (1997), 545, 548. 242 Rogall, Der Beschuldigte, S. 31; v. Stetten, Einsatz Verdeckter Errnittler, S. 122. 243 BGHSt 1, 366, 368; 20,298, 300; Kleinknecht, JR 1966,270. 239

240

8 Heckernper

114

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

innerer Vorgänge (z. B. ob fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln vorliegt) kann die Aussage des Beschuldigten das einzig brauchbare Beweismittel sein244 . Bereits im Ermittlungsverfahren sind die Aussagen des Beschuldigten häufig Grundlage der Entscheidungen der Staatsanwaltschaft über die Vomahme weiterer Ermittlungshandlungen bzw. über die Anklageerhebung. Deshalb werden die Angaben des Beschuldigten der Kategorie der Beweismittel zugeordnet und auch der Beschuldigte selber als Beweismittel bezeichnet245 . Er ist zwar nicht Beweismittel im formellen 246, aber im materiellen Sinn247. Scheinbar zwangsläufig folgt daraus, dass die Vernehmung als Beweisaufnahme zumindest auch der Sachverhaltsaufklärung dient248. b) Dieser Schluss beruht indes auf der - unzutreffenden - Prämisse, die Prozesssubjektsstellung und die Stellung als Beweisobjekt stünden sich gegenüber249. Dies hätte die Konsequenz, dass der Beschuldigte, der sich zu einer Aussage entschließt, die Rolle des Prozesssubjekts verlieren und zum Objekt der Wahrheitserforschung würde250. Aber auch ein aussagender Beschuldigter bleibt Subjekt des Verfahrens und ist nicht zur Förderung der Sachverhaltsaufklärung verpflichtet251 • Die StPO trennt deutlich zwischen den Beweismitteln und der Vernehmung des Beschuldigten. Aus der Qualifizierung der Vernehmung als Beweisaufnahme i.w.S. folgt also lediglich, dass die Aussagen des Beschuldigten verwertet werden dürfen und die Vernehmung eine Überführungschance bietet252. Diese Chance zur Überführung darf aber nicht zu ihrem Zweck erhoben werden253 . Es ist demnach zwar möglich, dem Beschuldigten durch die Einvernahme seine Schuld nachzuweisen. Diese Möglichkeit zum Zweck der Vernehmung zu erklären, verkennt aber die Stellung des Beschuldigten.

Gundlach, Vernehmung des Beschuldigten, S. 1. BGHSt 20, 298, 300; Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 6; Rogall, Der Beschuldigte, S. 31. 246 Die StPO trennt klar zwischen der Vernehmung des Angeklagten und der Beweisaufnahme (§ 244 Abs. 1 StPO). Schon das Reichsgericht nahm an, dass die Vernehmung des Angeklagten keinen Teil der Beweisaufnahme bilde, der Angeklagte somit kein Beweismittel der StPO sei, RGSt 48, 247, 249. 247 Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 6; Rogall, Der Beschuldigte, S. 32; ders., in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 124; v. Stetten, Einsatz Verdeckter Ermittler, S. 122. 248 Lesch, ZStW 111 (1999), 624,635. 249 Grünwald, Beweisrecht, S. 60. 250 Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 7, der den Doppelcharakter aus der ambivalenten Stellung des Beschuldigten zuriickführt. 251 Grünwald, Beweisrecht, S. 60. 252 Degener; GA 1992, 443, 462. 253 Benneke I Beting, Reichs-Strafprozessrecht, § 91 S. 373 bezeichnen die Chance zur Sachverhaltsaufklärung als "Nebenwirkung". 244 245

§ 9 Zweck der Beschuldigtenvernehmung

115

2. § 136a StPO als Ausdruck der Funktion der Sachverhaltsaufklärung a) Den Vernehmungszweck der Sachverhaltsaufklärung scheint aber die Existenz des § 136a StPO zu belegen. So wird behauptet, dass der Gesetzgeber durch das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden die Funktion der Wahrheitsermittlung anerkenne, weil diese Schutzvorschrift für den Beschuldigten nur dann sinnvoll erscheine, wenn die Vernehmung auf die Sachverhaltsaufklärung ausgerichtet ist254. b) Diese Auffassung verkenntjedoch die Intention, die den Gesetzgeber zur Einführung des § 136a StPO veranlasste. Motiv für die Einführung waren die Auswüchse mit den polizeilichen Vernehmungsmethoden in der Zeit des Nationalsozialismus255. Der Gesetzgeber stand unter dem Einfluss der Erfahrung, dass die Polizeibeamten leicht dem Druck erliegen, Fahndungserfolge zu erzielen und die Vernehmung für die Überführung zu benutzen. Im Mittelpunkt der Diskussion stand also der Schutz des Beschuldigten vor falsch motivierten Beamten256. Der Gesetzgeber wollte mit§ 136a StPO also keineswegs den Zweck der Sachverhaltsaufklärung festschreiben. Er hat vielmehr die Gefahr gesehen, die daraus resultiert, dass die Vernehmung die Chance bietet, die Wahrheit zu ermitteln. Diese Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung sollte eingeschränkt werden und nicht zum Zweck der Vernehmung erhoben werden. c) Gegen eine Heranziehung des§ 136a StPO spricht im Übrigen schon ein Einwand grundsätzlicher Art. Das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden dient dem Schutz des Beschuldigten. Wird der Vernehmungszweck der Sachverhaltsaufklärung mit der Existenz des § 136a StPO begründet, heißt das in der Konsequenz, die Einschränkung einer Schutzvorschrift durch das Bestehen einer anderen zu begründen257. Es wäre aber ein geradezu absurdes Ergebnis, wenn die Einführung einer Schutzvorschrift letztlich zu einer Schwächung der Rechtsposition des Beschuldigten führen würde. 3. Erscheinenspjlicht des Beschuldigten

Auch die Pflicht des Beschuldigten, vor der Staatsanwaltschaft und dem Richter zu erscheinen, spricht nicht für die Annahme, die Beschuldigtenvernehmung bezwecke die Sachverhaltsaufklärung. a) Die Ladung des Beschuldigten zur Vernehmung kann gern.§ 133 Abs. 2 StPO mit der Androhung der Vorführung verbunden werden. Die Zulässigkeil der AnWalder, Vernehmung, S. 63. BGHSt 1, 387. 256 V gl. die insoweit eindeutige Stellungnahme des Abgeordneten Geve vor dem Plenum des Bundestages, BT-Drs. I Bd. IV, S. 2882. 257 Degener, GA 1992,443, 462; Grünwald, StV 1987,453, 454. 254 255

8*

116

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

drohung und Anwendung von Zwang legt die Vermutung nahe, die Vernehmung diene zumindest auch einem anderen Zweck, als dem Beschuldigten die Möglichkeit zur Verteidigung zu geben258 . Es wäre geradezu paradox, den Beschuldigten zu zwingen, seine Verteidigungsmöglichkeiten zu nutzen, die doch in seinem Interesse liegen. b) Der mögliche Einwand, eine Pflicht zu erscheinen gäbe es vor der Polizei nicht, vermag diesen zunächst plausiblen Gedankengang nicht zu entkräften. Der Zweck der Vernehmung kann nämlich nur einheitlich - unabhängig von der Verhörsperson- beurteilt werden259 . Wenn also § 133 Abs. 2 StPO belegen würde, dass der Vernehmungszweck der staatsanwaltschaftliehen und richterlichen Vernehmung zumindest auch in der Sachverhaltsaufklärung liegt, müsste dies auch für die polizeiliche Vernehmung gelten. c) Der Gesetzgeber hatte bei der Schaffung des § 133 Abs. 2 StPO aber keineswegs die Intention, durch die Vorführungsregelung einen Vernehmungszweck, der von dem in § 136 Abs. 2 StPO niedergelegten abweicht, festzuschreiben. Dies zeigt das in der Diskussion um die Einführung des§ 120 (der Vorläufervorschrift des § 133 StPO) vorgebrachte Argument, die Androhung der Vorführung für den Fall des Ausbleibens stünde eigentlich im Widerspruch zum Zweck der Vernehmung260. Die scheinbare Unvereinbarkeit der Gewährung rechtlichen Gehörs mit der Erzwingung des Erscheinens wurde also durchaus gesehen. Da aber über den Zweck der Vernehmung Einigkeit bestand, ging der Gesetzgeber offensichtlich davon aus, dass der Zweck des § 120 zutreffend erkannt würde. d) Der Sinn der zwangsweisen Vernehmung besteht nämlich in der Sicherung der Verteidigung, und zwar notfalls auch gegen den Willen des Beschuldigten. Es ist der StPO keineswegs fremd, zugunsten des Beschuldigten Pflichten zu normieren. So legt die StPO dem Beschuldigten - z. B. im Falle der aufgezwungenen Pflichtverteidigung- eine Duldungspflicht auf261 mit der Folge, dass der Beschuldigte sogar gegen seinen ausdruckliehen Willen von einem Pflichtverteidiger vertreten werden kann. Trotz der Verpflichtung des Beschuldigten, die Vertretung durch den aufgezwungenen Verteidiger hinzunehmen, dient die Pflichtverteidigerbestellung unzweifelhaft dem Schutz des Beschuldigten. Die StPO wendet demnach durchaus Zwang an, um dem Beschuldigten die Wahrnehmung seiner Rechte zu sichern. Die Androhung der Vorführung dient also eher dazu, es dem Beschuldigten zu versagen, sich dieser unangenehmen Situation zu entziehen und dadurch seine Verteidigungsmöglichkeiten ungenutzt zu lassen. Zutreffend stellte deshalb das Reichsgericht262 fest, das Erscheinen des Beschuldigten in der HauptverhandLesch, ZStW 111 (1999), 634,633. Grünwald, Beweisrecht, S. 76; Rieß, in: LR, § 163a Rdnr. 75. 260 Wolffson, abgedruckt in: Hahn/Stegemann, Gesamte Materialien, S. 693. 261 Zur restriktiven Auslegung des§ 140 StPO im Falle der aufgezwungenen Pflichtverteidigung, die durch das Autonomieprinzip nahegelegt wird: Lüderssen, in: LR, § 140 Rdnr. 7 ff. 262 RGSt 5, 784, 785. 258

259

§ 9 Zweck der Beschuldigtenvernehmung

117

Jung sei zwar erzwingbar, nicht aber seine Einlassung. Die Anwesenheit des Beschuldigten sei lediglich zu dem Zweck gefordert, um ihm fortgesetzt die Gelegenheit zu sichern, die gegen ihn zur Sprache kommenden Verdachtsgründe zu beseitigen und alle zu seinen Gunsten sprechende Umständen geltend zu machen(§§ 136, 243 StPO). e) Der Zweck der Erscheinenspflicht des Beschuldigten, nämlich die Möglichkeit der Verteidigung zu gewährleisten, wird auch dadurch belegt, dass die Androhung und Durchführung der Vorführung nicht als Zwangsmittel verwendet werden darf, um den Beschuldigten zu einer Aussage zu veranlassen263 . Eine Erscheinenspflicht, welche die Sachverhaltsaufklärung ermöglichen soll, müsste aber konsequenterweise auch als Druckmittel eingesetzt werden dürfen, um eine Aussage des Beschuldigten herbeizuführen. Die Erscheinenspflicht des Beschuldigten kann daher nicht herangezogen werden, um zu belegen, dass die Vernehmung der Sachverhaltsaufklärung dienen soll, sondern sie untermauert vielmehr die Funktion der Gewährung der Möglichkeit zur Verteidigung.

111. Ermöglichung der Verteidigung als Zweck der Beschuldigtenvernehmung Es lässt sich also nicht überzeugend begründen, dass der Vernehmung neben dem Zweck, dem Beschuldigten die Verteidigung zu ermöglichen, auch die Funktion zukäme, den Sachverhalt zu erforschen. Der Grund, der Vernehmung trotz der eindeutigen gesetzlichen Vorgaben einen doppelten Zweck zuzusprechen, liegt wohl in der Bedeutung der polizeilichen Vernehmung für die Sachverhaltsaufklärung264. Das Geständnis gilt als eines der verlässlichsten Beweismittel in der polizeilichen Ermittlungsarbeit265 , weshalb ein Ermittlungsverfahren, das mit einem Geständnis abgeschlossen werden kann, als erfolgreich durchgeführt gilt266.

1. Entwicklung der Diskussion in der strafprozessualen Literatur Die Einschränkung einer Schutzvorschrift nur auf kriminalpolitische bzw. kriminalistische Erwägungen zu stützen, kann aber kaum überzeugen. Umso überraschender erscheint die weitgehende Einigkeit in der rechtswissenschaftliehen Literatur über den doppelten Zweck der Vernehmung, zumal der historische Gesetzge263 Achenbach, in: AKStPO, § 163a Rdnr. 33; Hellrrumn, Strafprozessrecht, Teil II, § 3 Rdnr. 52. 264 Nach der Untersuchung von Steifen, Polizeiliche Errnittlungstätigkeit, werden 81% der Fälle von Betrug im Geschäftsverkehr und 98% der Ladendiebstähle durch das Geständnis aufgeklärt. 265 Honig, ZStW 79 (1967), -Beiheft-, 89, 100. 266 Dencker, ZStW 102 (1990), 51 ff.

118

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

ber diese Konzeption offenbar ablehnte, und sich außer den - vermeintlichen Sachzwängen auch keine tragfähige Begründung finden lässt. Ein Blick in die ältere strafprozessuale Literatur zeigt, dass die Annahme, die Beschuldigtenvernehmung bezwecke auch die Überführung des Täters, in der Zeit des Nationalsozialismus entwickelt wurde und sich bis heute gehalten hat. a) Ende des 19. Jahrhunderts bestand kein Zweifel darüber, dass Zweck der Vernehmung nur die Ermöglichung der Verteidigung des Beschuldigten ist. Es wird zwar bisweilen von einem doppelten Zweck gesprochen267 , damit ist aber - neben der Gewährung des rechtlichen Gehörs - nicht die Sachverhaltsaufklärung gemeint, sondern die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch den Beschuldigten, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn läuft268 . Der Wille des Gesetzgebers war nach Ansicht der Rechtswissenschaft der damaligen Zeit so eindeutig in § 136 Abs. 2 StPO zum Ausdruck gekommen, dass das Ausfragen und Ausforschen des zu Vernehmenden für nicht zulässig gehalten wurde, da es dem in § 136 Abs. 2 StPO erkennbar zugrunde liegenden Zweck offensichtlich entgegen stände269. b) In der Literatur galt bis in die zwanziger Jahre hinein die Ermöglichung des rechtlichen Gehörs als die einzige Funktion der Vernehmung270. Inquisitorische Befragungen, die auf ein Geständnis des Beschuldigten hinwirkten, wurden der fehlerhaften Praxis zugeschrieben, keinesfalls aber rechtswissenschaftlich anerkannt271. Welch grundlegender Meinungsumschwung danach eintrat, zeigt die Stellungnahme in einem Lehrbuch aus dem Jahre 1943: "Über den Zweck der Anhörung des Beschuldigten sagt das Gesetz (§ 136 Abs. 2 StPO), die Vernehmung solle dem Beschuldigten Gelegenheit zur Beseitigung der gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe und zur Geltendmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geben. Hieraus ist die Auffassung hergeleitet worden, die Vernehmung des Beschuldigten diene nur oder doch vorwiegend dem Verteidigungszweck. Im Gesetz ist aber lediglich in unvollständiger Weise einer der zu beachtenden Gesichtspunkte zum Ausdruck gekommen. In Wahrheit dient die Vernehmung einem umfassenderen Zweck: der Wahrheitstindung überhaupt. ( ... ) Insbesondere dient sie auch der Herbeiführung eines Geständnisses. " 272.

267 Da der Begriff der ,,Doppelfunktion" wie hier eine ganz andere Bedeutung haben kann, als die heute verstandene Bedeutung, ist der "doppelte Zweck" missverständlich, Degener, GA 1992, 443, 460 Fn. 85. 268 Geyer, Lehrbuch, S. 540. 269 Ortloff, Vorverfahren, S. 172; vgl. weiterhin Kries, Lehrbuch, S. 398, der deutlich auf den § 136 Abs. 2 StPO hinweist und aus ihm den einzig denkbaren Vernehmungszweck ableitet. 270 Bennecke/Beling, Reichs-Strafprozessrecht, § 91, S. 373; zu Dohna, Strafprozessrecht, S. 106; Mezger, ZStW 40 (1919), 152, 153. 271 So ausdrücklich: v. Lilientfwl, Strafprozessrecht, S. 24. 272 Henkel, Strafverfahren, S. 247.

§ 9 Zweck der Beschuldigtenvernehmung

119

Diese Kehrtwende überrascht im Zusammenhang mit der autoritären Staatsauffassung des Nationalsozialismus nicht273 . Erstaunlich erscheint lediglich, dass sich in der Nachkriegszeit weder die Rechtsprechung noch die rechtwissenschaftliche Literatur auf eine geschichtsbewusste Auslegung des § 136 Abs. 2 StPO besonnen haben. Die einseitige Zweckzuweisung, die sich in dem zitierten Lehrbuch widerspiegelt, wurde in der Folgezeit zwar aufgegeben. Der Gedanke, dass die Vernehmung der Sachverhaltsaufklärung dient, findet jedoch bis heute allgemeine Anerkennung. Dabei ist diese Ansicht niemals begründet worden; es wird lediglich auf den doppelten Zweck hingewiesen und dieser als unstreitig dargestellt.

2. Mangelnde Überzeugungskraft der kriminalistischen Notwendigkeiten Diese weitgehende Einigkeit beruht offensichtlich auf der Ansicht, es sei kriminalistisch notwendig, der Vernehmung den Zweck der Sachverhaltsaufklärung zuzuschreiben. Es ist schon im Grundsatz zweifelhaft, ob ein Bedürfnis der Praxis allein als Begründung ausreicht, die insoweit eindeutige Vorschrift des§ 136 Abs. 2 StPO zu ignorieren und der Vernehmung einen nicht gesetzlich geregelten Zweck zuzuweisen. Aber selbst die Prämisse, nach der die Polizeibeamten dieses Potential an Aufklärungmöglichkeiten dringend benötigten, ist verfehlt. Die technischen Ermittlungsmöglichkeiten werden nämlich nicht nur immer wichtiger für die effektive Straftataufklärung, sie erlauben auch weitreichende Eingriffe in die Rechte der Bürger274. Das bedingt zum einen, dass die Vernehmung und das Geständnis an Bedeutung für die Tatermittlung verlieren. Darin liegt kein Widerspruch zu der oben dargelegten Bedeutung der ersten Vernehmung. Die Vernehmung und deren Ergebnisse bleiben weiterhin von erheblicher Bedeutung für das weitere Ermittlungsverfahren und die Hauptverhandlung. Aber die Vernehmung muss nicht mehr unbedingt auf die Überführung des Taters hinarbeiten, wenn dies durch andere Ermittlungsarbeiten bereits geschehen ist. Kriminalistische Argumente erfordern es also keineswegs, den Zweck der Vernehmung entgegen der Vorschrift des § 136 Abs. 2 StPO als Möglichkeit der Sachverhaltsaufklärung zu definieren. Die aus dem Einsatz der technischen Ermittlungsmethoden resultierende Eingriffe in die Rechte des Bürgers erfordern sogar, dass bereits vorhandene Vorschriften beschuldigtenfreundlich ausgelegt werden. Werden auf der einen Seite die Handlungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsorgane erweitert, muss die Rechtsstellung des Beschuldigten auf der anderen Seite weiter gestärkt werden.

273 274

Degener, GA 1992, 443, 460. Frehsee, StV 1996, 222, 225.

120

2. Teil: Begriff der Beschuldigtenvernehmung

3. Ergebnis

Entgegen der h.M. besteht der Zweck der Vernehmung somit nicht - neben der Möglichkeit des Beschuldigten sich zu verteidigen - auch in der Sachverhaltsaufklärung. Eine geschichtsbewusste Auslegung, die sich - befreit vom nationalsozialistischen Gedankengut - auf die Wertvorstellungen des historischen Gesetzgebers beruft, kann nur zu dem Ergebnis führen, dass Zweck der Vernehmung allein die Gewährung rechtlichen Gehörs und die Ermöglichung der Verteidigung ist. Etwas anderes war- wie oben dargelegt- niemals im Sinne des§ 136 Abs. 2 StPO, und eine Rückbesinnung auf den der Norm zugewiesenen Regelungsinhalt kann nicht damit begründet werden, dass es kriminalistisch wünschenswert sei, die Sollvorschrift nicht zu eng zu begreifen.

Dritter Teil

Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts Dass der über sein Verteidigerkonsultationsrecht belehrte Beschuldigte sein Recht auch durchsetzen können muss, ist selbstverständliche Folge der Normierung des Rechts, denn es wäre sinnlos, dem Beschuldigten Rechte zuzugestehen, an deren Durchsetzung er gehindert wird. Diese Feststellung gilt uneingeschränkt aber nur für Hinderungsgründe, die im Verantwortungsbereich der Strafverfolgungsbehörden liegen. In welchem Umfang der Beschuldigte für Umstände aus seiner Sphäre, die der faktischen Rechtsdurchsetzung entgegenstehen, eigenverantwortlich einzustehen hat, oder ob die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet sind, helfend einzugreifen, wird im folgenden 4. Teil gesondert untersucht. Zunächst muss der Frage nachgegangen werden, was unter einer Verhinderung der Verteidigerkonsultation zu verstehen ist.

§ 10 Verbot der Verhinderung der Kontaktaufnahme zum Verteidiger I. Anerkennung des Verbots der Verweigerung des Verteidigerkonsultationsrechts in Rechtsprechung und Literatur

Was konkret unter Verhinderung der Verteidigerkonsultation zu verstehen ist, d. h., welche konkreten Handlungsweisen den Vernehmungsbeamten verboten sind, ist im Einzelnen ungeklärt. Oftmals wird nicht einmal diese Frage aufgeworfen. a) Dass diese Unklarheit nicht als problematisch empfunden wird 1, dürfte an der Einigkeit über die Existenz des Verhinderungsverbots liegen. Der Grundsatz, nach dem es den Vernehmungsbeamten verboten ist, die Konsultation zu verweigern, ist in Rechtsprechung2 und Literatur3 allgemein anerkannt. Erwähnt werden in diesem I Soweit ersichtlich weisen nur Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 69 und Kiehl, NJW 1993, 501, 504 auf diese Problematik hin. 2 BGH, 5 StR 604/84 v. 02. 10. 1984 (LG Bremen), zit. in: Strate/Ventzke, StV 1986, 30 ff; BGH, NJW 1992, 2903; BGHSt 38, 372; BGH, wistra 1999, 29. 3 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 14; Britz, JuS 1997, 146, 153; Eser, ZStW 79 (1969), 609; Gundlach, in: AKStPO, § 136 Rdnr. 25; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 26; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 10; Müller, in: KMR, § 136 Rdnr. 11; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1177, 1206; Ranft, Strafprozessrecht, Rdnr. 333; Ransiek, Polizeiverneh-

122

3. Teil: Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts

Zusammenhang so fundamentale Pflichten, wie die bereits erwähnte Gestattung der Benutzung des Diensttelefons4 , damit der Beschuldigte die tatsächliche Möglichkeit der Kontaktaufnahme hat. Einigkeit besteht auch über die Pflicht, die Vernehmung zu unterbrechen und einen neuen Vernehmungstermin anzuberaumen, wenn der Beschuldigte den Wunsch äußert, einen Verteidiger konsultieren zu wollen5. Klare Richtlinien bezüglich der Frist gibt es nicht. Sie soll so zu bestimmen sein, dass dem Beschuldigten eine sinnvolle Beratung mit dem Verteidiger möglich wird. Zur Vorbereitung einer effektiven Verteidigung, muss der Verteidiger jedenfalls in der Lage sein, sich mit dem Fall vertraut zu machen und eine Verteidigung auszuarbeiten. Für ausreichend wird dabei überwiegend eine Frist von einigen Tagen gehalten6 • Die Länge der erforderlichen Vernehmungsunterbrechung lässt sich jedoch abstrakt nicht bestimmen. Sie muss unter Berücksichtigung der Schwere des Tatvorwurfes und der Kompliziertheit des Falles bestimmt werden. So wird die Frist z. B. bei einem Diebstahlsvorwurf kürzer bemessen sein als in einem komplizierten Wirtschaftsstrafverfahren7 . Abgesehen von Schwierigkeiten, die Länge der erforderlichen Vernehmungsunterbrechung zu bestinunen, herrscht in der Literatur Einigkeit über die grundsätzliche Pflicht, die Vernehmung zu unterbrechen. b) Auch die Rechtsprechung8 ist der Auffassung, dass es nicht ausreiche, den Beschuldigten über seine Rechte zu belehren. Daneben müsse es ihm tatsächlich möglich sein, sich mit seinem Verteidiger in Verbindung zu setzen. Dieser Grundsatz ist in der Rechtsprechung keineswegs - wie einige Stellungnahmen in der Literatur9 den Eindruck erwecken - erst seit BGHSt 38, 372 anerkannt. Die Verpflichtung zur tatsächlichen Ermöglichung der Rücksprache wird bereits in früheren Entscheidungen nicht bestritten 10. Keine Einigkeit besteht in der Rechtspremung, S. 71; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 37; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rdnr. 29; ders., JZ 1993, 426; Strate!Ventzke, StV 1986,30, 31. 4 Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 29; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 10. Zur Bedeutung des Diensttelefons: Schubert, Vernehmung im Ermittlungsverfahren, S. 147. 5 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 14; Achenbach, in: AKStPO, § 163a Rdnr. 18a; Eser; ZStW 79 (1969), 609; Fischer, Vernehmung des Beschuldigten, S. 39; Gundlach, in: AKStPO, § 136 Rdnr. 25; Hel/mann, Strafprozessrecht, Teil II, § 5 Rdnr. 26; Kleinknecht/ Meyer-Goßner, § 136 Rdnr. 10; Müller, in: KMR, § 136 Rdnr. 11; Rieß, in: LR, § 163a Rdnr. 81; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 37; Strate/Ventzke, StV 1986, 30, 31. 6 Boujong, in: KK, Rdnr. 14; Gundlach, in: AKStPO, Rdnr. 25; Hanack, in: LR, Rdnr. 29; Kleinknecht!Meyer-Goßner,Rdnr. lO;jeweils zu§ 136. 7 Gundlach, in: AKStPO, § 136 Rdnr. 25. s BGH, Az. 5 StR 604 I 84 v. 02. 10. 1984 (LG Bremen), zit. in: Strate I Ventzke, StV 1986, 30 ff.; BGH, NJW 1992, 2905; BGHSt 38, 372; BGH, wistra 1999,29. 9 Vgl. z. B. Roxin, JZ 1993, 426, der die Entscheidung als "würdiges Gegenstück" zu BGHSt 38, 215 wertet, was einen Wandel in der Rechtsprechung vermuten lässt. IO So wird in den Urteilsbegründungen in BGH, 5 StR 604 I 84 v. 02. 10. 1984 (LG Bremen), zit. in: Strate/Ventzke, StV 1986, 30, 31, und BGH, NJW 1992, 2905 davon ausgegangen, dass ein solches Verbot existiert. Da die Senate jedoch zu dem Ergebnis kommen, ein Verstoß gegen dieses Verbot habe nicht vorgelegen, sind diese Urteile von der Literatur kaum beachtet worden.

§ 10 Verbot der Verhinderung der Kontaktaufnahme

123

chung allerdings darüber, durch welche Handlungsweisen die Vernehmungsbeamten gegen diese Pflicht verstoßen. Der Grundsatz, dass die faktische Rechtsdurchsetzung gewährleistet werden muss, war schon vor der Entscheidung BGHSt 38, 372 in der Rechtsprechung anerkannt; in der Entscheidung des 4. Strafsenats wurde lediglich zum ersten Mal ein Verstoß gegen diese Pflicht angenommen. Im Übrigen ist jedoch ungeklärt, welchen Inhalt das Verbot der Verhinderung der faktischen Rechtsdurchsetzung hat; Einigkeit besteht lediglich über dessen Existenz.

II. Herleitung des Verbots der Verhinderung des Verteidigerkonsultationsrechts

Eine ausdruckliehe Regelung, wie zu verfahren ist, wenn der Beschuldigte während der Vernehmung die Konsultation eines Verteidigers verlangt, enthält die Strafprozessordnung nicht. Die Einigkeit über die Verpflichtung der Vernehmungsbeamten, die faktische Durchsetzung der Konsultation auch zu ermöglichen, ist angesichts der mangelnden Erwähnung dieser Pflichten in der StPO keineswegs selbstverständlich. Insbesondere ist eine Vernehmungsunterbrechung, die allgemein gefordert wird, nicht zwingend vorgeschrieben. Die Herleitung der Pflicht, die Rücksprache mit dem Verteidiger auch tatsächlich zu ermöglichen, könnte sich aus gesetzlich nicht geregelten Grundsätzen ergeben, wie etwa dem fair-trial-Prinzipll, nach dem der Beschuldigte in die Lage versetzt werden muss, aktiv am Verfahren teilzunehmen. Denkbar ist auch der Hinweis auf den Zweck der Vernehmung, der- wie dargestellt 12 - in der Verteidigung des Beschuldigten besteht 13 . Dieser Überlegungen bedarf es allerdings nicht, weil die Pflicht, die faktische Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts zu gewähren, bereits in der StPO niedergelegt ist. 1. Faktische Durchsetzbarkeil als Inhalt der Belehrungspflicht?

a) In der Literatur wird die Pflicht zur Gewährung der faktischen Rechtsdurchsetzung und das Verbot der Verweigerung der Rücksprache mit dem Verteidiger überwiegend unmittelbar aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO gefolgert 14• Der Inhalt der So wohl BGH, wistra 1999, 29. § 9. 13 So: Strate/Ventzke, StV 1986,30, 32. 14 Boujong, in: KK, § 136 Rdnr. 14; Britz, JuS 1997, 146, 153 Fn. 90; Hamm, NJW 1996, 2185, 2186; Hanack, in: LR, § 136 Rdnr. 29; Jung, JuS 1993, 428; Lemke, in: HKStPO, § 136 Rdnr. 24; Müller; in: KMR, § 136 Rdnr. 11; Pfeiffer; § 136 Rdnr. 9; Rieß, JR 1993, 334; Rogall, in: SKStPO, § 136 Rdnr. 37; siehe aber auch: ders., in: SKStPO, § 136 Rdnr. 55; Schneider; Jura 1997, 131, 134. II

12

124

3. Teil: Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts

vorgeschriebenen Belehrung erschöpfe sich nicht in dem Hinweis auf das Verteidigerkonsultationsrecht, sondern die Vorschrift enthalte dariiber hinaus die Verpflichtung der Vernehmungsperson, die Konsultation auch tatsächlich zuzulassen. Ein Gesetz, das eine Belehrung über ein Recht des Beschuldigten vorschreibe, müsse auch die Möglichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme gewähren 15 , weil eine Belehrung über ein Recht, das nur rein theoretisch besteht, ihren Sinn verliere. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO werde seiner Zielsetzung nur gerecht, wenn die Vorschrift das Konsultationsrecht selbst enthalte und auch die Durchsetzbarkeit des Rechts in ihr niedergelegt sei 16 • Da die Pflicht zur Belehrung die logisch vorrangige Erklärung voraussetze, dass dieses Recht besteht 17 und in Anspruch genommen werden kann, sind danach die Vernehmungsbeamten aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO zur tatsächlichen Ermöglichung der Konsultation verpflichtet. b) Eine ausführliche Stellungnahme der Rechtsprechung zur faktischen Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts findet sich in dem bereits erwähnten Urteil BGHSt 38, 372. Der 4. Strafsenat sieht in Anlehnung an die Kommentarliteratur die Rechtsgrundlage für die Verpflichtung zur Ermöglichung der faktischen Rechtsdurchsetzung in der Belehrungspflicht. Die vom Senat vertretene Rechtsauffassung, die Möglichkeit der tatsächlichen Rechtsdurchsetzung ergebe sich aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO, scheint dabei in erster Linie dadurch motiviert zu sein, dass sich ein Verwertungsverbot bezüglich der erlangten Aussage nach verwehrter Verteidigerkonsultation leichter begrunden lässt. Daneben führt der BGH nämlich auch die Bedeutung des Rechtes auf einen Verteidiger an, um die Verpflichtung zur tatsächlichen Ermöglichung der Kontaktaufnahme als Rechtspflicht zu belegen. Die Verankerung der Pflichten sieht der Senat demnach offensichtlich in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO. Das Verwertungsverbot stützt er aber auf die besondere Bedeutung des Verteidigerkonsultationsrechts. Der Senat bezieht sich in seiner Begrundung zudem auf§ 137 StPO, in dem der Grundsatz, sich in jeder Lage des Verfahrens eines Verteidigers bedienen zu können, zum Ausdruck gekommen ist, sowie auf die in Art. 6 Abs. 3 c MRK niedergelegten tradierten Verfahrensgrundsätze, zu denen auch das Recht auf Verteidigerbeistand gehört. Unklar bleibt allerdings, weshalb es der Heranziehung des § 137 StPO und der Menschenrechtskonvention noch bedarf. Vermutlich wollte der Senat durch die Erwähnung der - zwar nicht formell 18 , aber in Konsensfähigkeit und Reputation höherrangigen- Norm Rieß, JR I993, 334; Roxin, JZ I993, 425; Schneider, Jura I997, I31, I34. So wird auch die Pflicht zur Belehrung über das Schweigerecht des Beschuldigten als Konkretisierung des "Fair-trial-Prinzips" bzw. des Verbots der Selbstbelastung angesehen. Rogall, Der Beschuldigte, S. I87 f.; ders., in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 110 f.; Schlüchter/Radbruch, NStZ I995, 354, 355 nach denen die Pflicht zur Belehrung aus dem in Art. I Abs. 1 GG beheimateten Prinzip "nemo-tenetur-se-ipsum-assusare" fließt. Nach Roxin, NStZ 1995, 465, 467, ist in § 136 Abs. I S. 2 StPO der "nemo-tenetur-Grundsatz" niedergelegt. Dieser Grundsatz werde durch das in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO enthaltene Gebot zum Hinweis auf das Konsultationsrecht umfassend zum Ausdruck gebracht. 17 Jung, JuS 1996, 1037, 1038; Müller, StV 1996, 358, 360; Roxin, JZ I993, 426; Schneider, Jura 1997, 131, 137. 15 16

§ 10 Verbot der Verhinderung der Kontaktaufnahme

125

des Art. 6 Abs. 3 c MRK keine inhaltlich veränderte Rechtsauffassung, sondern verfahrensrechtliche Grundsatztreue demonstrieren 19. 2. Durchsetzbarkeif des Verteidigerbeistandsrechts als Voraussetzung der Belehrungspflicht

Die Argumentation, eine Belehrung über ein nicht durchsetzbares Recht müsse inhaltslos bleiben, erscheint auf den ersten Blick überzeugend. Die nähere Betrachtung zeigt indes, dass diese in der Literatur verbreitete Auffassung die Voraussetzungen und den Inhalt der Belehrungspflichten nicht unterscheidet. a) Es ist zwar richtig, dass eine Belehrung nur dann Sinn macht, wenn das Recht, auf das hingewiesen wird, auch tatsächlich besteht. Daraus folgt aber lediglich, dass die Existenz des RechtS notwendige Voraussetzung einer Belehrungsvorschrift ist. Besteht dieses Recht nicht, so geht die Belehrungsvorschrift ins Leere, weil der Vorschrift die denknotwendige Basis fehlt. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, in einer gesetzlichen Normierung der Hinweispflicht sei auch das Recht selbst verankert20. Das würde in der Konsequenz bedeuten, dass der Gesetzgeber bei dem Erlass einer Belehrungsvorschrift das Recht, über das belehrt werden muss, im gleichen Augenblick quasi mitregelt Die Folgerung, die erforderliche Grundlage werde durch die Belehrungsvorschrift selbst geschaffen, ist aber unzulässig. Der Gesetzgeber hat kein Recht, sondern eine Pflicht zum Hinweis auf dieses Recht geschaffen. Notwendige Voraussetzung der Hinweispflicht des § 136 Abs. 1 S. 1 StPO ist zwar die Existenz und die mögliche Durchsetzbarkeit des Verteidigerkonsultationsrechts. Aus dieser Abhängigkeit kann aber nicht geschlossen werden, dass diese Vorbedingung in der Norm selbst enthalten ist. b) Die Belehrung verfolgt lediglich das Ziel, diesem Recht Effektivität zu verleihen, indem die Durchsetzbarkeit von dem ursprünglichen Kenntnisstand des Beschuldigten unabhängig gemacht wird21 . Der Beschuldigte bedarf nämlich zunächst der Kenntnis seiner Rechte, um eigenverantwortlich entscheiden zu können, ob er sie in Anspruch nimmt22. Aus der Funktion der Belehrung, eine selbstverantwortliche Entscheidung des Beschuldigten über die Art seiner Verteidigung zu ermöglichen, folgt aber entgegen der in der Literatur verbreiteten Meinung nicht automatisch, dass eine darüber hinausgehende Effektivität in Form der Basispflichten zur tatsächlichen Ermöglichung der Verteidigerkonsultation in der Belehrungsvor18 BVerfGE 10, 271, 274; 34, 384, 395; 41, 126, 149; 64, 135, 157. Zum Teil wird allerdings der Verfassungsrang der EMRK geltend gemacht, Echterhölter, JZ 1955, 689, 691; Guradze, DÖV 1960, 286, 287; v. Stackelberg, NJW 1960, 1265. 19 Kiehl, NJW 1993, 501, 504. 20 Lorenz, StV 1996, 172, 175. 21 Lorenz, StV 1996, 172, 175. 22 Lesch, ZStW 111 (1999), 624, 637; Müssig, GA 1999, 117, 127.

126

3. Teil: Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts

schrift enthalten ist23 . Ist der Beschuldigte über seine Rechte belehrt worden, ist dem Verteidigerkonsultationsrecht die vorgeschriebene Effektivität verliehen worden, weil die Durchsetzung nicht an der fehlenden Information scheitert. Der Beschuldigte kann sein Recht sofort nach Erhalt der Belehrung eigenverantwortlich und selbstbestimmt ausüben. Da die Polizeistationen aber keinen hauseigenen Anwalt haben, ist das Verteidigerbeistandsrecht grundsätzlich trotz der vorangegangenen Belehrung vorübergehend ineffektiv, bis der Beschuldigte einen Verteidiger beauftragt hat. Diese vorübergehende Ineffektivität ist aber nicht durch die mangelnde Kenntnis des Beschuldigten bedingt. Dieses Defizit kann und soll § 136 Abs. 1 S. 2 StPO nicht ausgleichen. Da die faktische Rechtsdurchsetzung aufgrund zusätzlicher Hindernisse, nicht aufgrund eines Informationsdefizits unmöglich ist, hat die Verhinderung der Konsultation mit§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO nichts zu tun24.

3. Herleitung des Verhinderungsverbotes aus dem Verteidigerkonsultationsrecht Eines Rückgriffs auf § 136 Abs. 1 S. 2 StPO für die Herleitung der Basispflichten bedarf es auch gar nicht, weil sich diese Pflichten bereits unmittelbar aus dem Recht des Beschuldigten auf einen Verteidiger ergeben25 .

a) Verteidigerkonsultationsrecht in jeder Phase des Verfahrens § 137 StPO gewährt dem Beschuldigten das subjektive Recht auf den Beistand seines Verteidigers in jeder Phase des Verfahrens, also auch im Ermittlungsverfahren und in der ersten polizeilichen Vernehmung. Entgegen der zum Teil in der Literatur26 geäußerten Meinung ist§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO keine Konkretisierung des Verteidigerbeistandsrechts schon in der ersten Vernehmung. Das Recht auf einen Verteidiger bereits in der ersten Vernehmung ergibt sich unmittelbar aus § 137 StPO, der insoweit keiner Konkretisierung bedarf. Die Formulierung, der Beschuldigte habe in jeder Verfahrenslage das Recht, sich eines Verteidigers als Beistand zu bedienen, ist eindeutig.

Lorenz, StV 1996, 172, 175. Gold, JA 1995, 411,414. 25 Dass sich das Recht bereits aus § 137 StPO ergibt, bestreiten auch diejenigen Autoren nicht, die § 136 Abs. 1 S. 2 StPO als Rechtsgrundlage für eine tatsächliche Durchsetzbarkeit heranziehen, Britz, JuS 1997, 146, 153; Jung, JuS 1993, 428; Kiehl, NJW 1993, 501, 504; Lesch, JA 1995, 157, 162; Roxin, JZ 1993, 426; Strate/Ventzke, StV 1986, 30, 31. Zum Teil wird der Regelungsgehalt des § 137 StPO ausdrücklich offen gelassen, Beulke, NStZ 1996, 257, 259; Rieß, JR 1993, 334; Roxin, JZ 1997, 343,344. 23

24

§ 10 Verbot der Verhinderung der Kontaktaufnahme

127

b) Verteidigerkonsultationsrecht als Abwehrrecht Wie die Selbstbelastungsfreiheit27 gewährt auch das Verteidigerkonsultationsrecht dem Beschuldigten ein subjektiv-öffentliches Recht im Range eines Grundrechts28, das als Abwehrrecht gegen den Staat zu verstehen ist29. Damit steht dem Beschuldigten nicht nur ein Anspruch darauf zu, sich eines Verteidigers zu bedienen, sondern die Vorschrift gewährt auch ein Recht zur Abwehr von Störungen dieses Rechts. Abwehrrechte sind Rechte auf negative Handlungen gegen den Staat30. Die Staatsorgane, d. h. in unserem Zusammenhang die Strafverfolgungsbehörden, sind verpflichtet, bestimmte Handlungen zu unterlassen. Eingriffe in ein Abwehrrecht sind Staatsorganen wegen des Vorbehalt des Gesetzes nur gestattet, wenn die beeinträchtigende Maßnahmen gesetzlich geregelt sind. Eingriffe in das Verteidigerbeistandsrecht gestatten §§ l38a ff., 148, 168c Abs. 5 StPO. Der Umkehrschluss aus diesen Vorschriften ergibt, dass Eingriffe in die Anwesenheits- und Verkehrsrechte des Verteidigers 31 und damit auch in die Verteidigungsrechte des Beschuldigten in anderen als den gesetzlich geregelten Fällen unzulässig sind32 . Fehlt es an einer solchen rechtlichen Regelung, schützt das als Abwehrrecht ausgestaltete Recht auf einen Verteidiger gegen Eingriffe durch die Strafverfolgungsbehörden. c) Verbot der Be- oder Verhinderung als Inhalt des Abwehrrechts Inhalt des Abwehrrechts ist das Recht, dass der Staat bestimmte Handlungen des Trägers des Rechts nicht ver- oder behindert33 . Welche Handlungen dem Staat dadurch untersagt werden, ergibt sich aus dem Inhalt des Abwehrrechts. Die Norm "Der Beschuldigte hat das Recht auf einen Verteidiger" lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie ein Recht gegen den Staat gewährt. Sie kann also umformuliert werden in "Der Beschuldigte hat gegenüber dem Staat das Recht auf die Hinzuziehung eines Verteidigers" bzw. genauer: "Der Beschuldigte hat das Recht auf die ungehinderte Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts". Der Beschuldigte Strate!Ventzke, StV 1986, 30, 31. Vgl. zur Rechtsnatur der Selbstbelastungsfreiheit: BVerfGE 56, 37, 49; Rogall, in: SKStPO, Vorbem. § 133 Rdnr. 135. 28 Ausführlich § 2. 29 BVerfGE 66, 313, 318; 26, 66, 71. 30 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174. 31 Der grundrechtliche Schutz der Strafverteidigung wird überwiegend im Zusammenhang mit der anwaltliehen Berufstätigkeit problematisiert. Demgegenüber tritt das Verteidigerkonsultationsrecht des Beschuldigten dagegen oftmals in den Hintergrund. Einen Überblick über den Grundrechtsschutz der Strafverteidigung aus der Sicht des Beschuldigten gibt Gusy, AnwBI. 1984,225 ff. 32 Strate/Ventzke, StV 1986, 30, 31. 33 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174 ff. 26

27

128

3. Teil: Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts

hat folglich das Recht, dass die Strafverfolgungsbehörden keine Handlung, durch die er sein Verteidigerkonsultationsrecht ausübt, be- oder verhindert dürfen. Aus dem Recht des Beschuldigten, sich eines Verteidigers zu bedienen, folgt damit: "Der Beschuldigte hat ein Recht gegenüber den Vernehrnungsbeamten, dass die Ausübung des Verteidigerrechts nicht be-oder verhindert wird".

Dem Recht des Beschuldigten steht eine entsprechende Pflicht des Vernehmenden gegenüber. Wenn jemand gegenüber einem Dritten den Anspruch auf Nichtvomahme einer Handlung hat, dann hat der Dritte die Pflicht, die Handlung zu unterlassen34. Dem Abwehrrecht auf Nichtbe- oder -Verhinderung einer Handlung des Bürgers korrespondiert damit die Pflicht des Staates, die Handlung nicht zu beoder verhindem35 . Die Vernehmungsbeamten sind somit aus dem Verteidigerrecht verpflichtet, die Inanspruchnahme des Rechts nicht zu be- oder verhindern. Die korrespondierende Pflicht lässt sich folgendennaßen formulieren: "Eingriffe in das Verteidigerkonsultationsrechts sind den Vernehmungsbeamten verboten" oder - konkret auf die Pflicht der Nichtbe- oder verhinderung bezogen - : "Die Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts ist den Vernehmungsbeamten verboten".

111. Verbot der Be- oder Verhinderung der Verteidigerkonsultation Damit ist aber nur die Rechtsgrundlage des Verhinderungsverbots gefunden. Nicht geklärt ist, was den Vernehmungsbeamten konkret verboten, d. h., was unter der Hinderung der Verteidigerkonsultation zu verstehen ist. Der Begriff der Hinderung wird im Folgenden als Oberbegriff für die Be- oder Verhinderung verwendee6. Zur Beantwortung der Frage, ob eine Behinderung der Verteidigerkonsultation den Vernehmungsbeamten untersagt ist oder ob nur eine Verhinderung von dem Verbot erfasst ist, bedarf es zunächst der Konkretisierung der Begriffe Bebzw. Verhinderung. Die Rechtsprechung kann zur Klärung des Begriffs der Hinderung nichts beitragen, weil sie zum Teil eine abweichende Terminologie verwendet, deren unterschiedlicher Bedeutungsgehalt jedoch nicht herausgestellt wird. In der Regel wird zwar von dem Verbot der Verweigerung oder Verwehrung der Verteidigerkonsultation gesprochen, in dem Urteil BGHSt 38, 372 findet sich aber die Formulierung, die faktische Rechtsdurchsetzung dürfe nicht verweigert oder erschwert werden. Auf den ersten Blick sind an die Erschwernis der Verteidigerkonsultation geringere 34

35 36

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 190. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 190, 192. Vgl. zum Begriff der Hinderung, Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 175.

§ 10 Verbot der Verhinderung der Kontaktaufnahme

129

Anforderungen zu stellen als an die Verweigerung. Der Begriff der Erschwernis legt nämlich den Schluss nahe, dass er auch Verhaltensweisen erfasst, die dem Beschuldigten zwar erhebliche Mühen auferlegt haben; es ihm aber unter Aufbringung erheblicher Anstrengungen doch gelungen ist, Kontakt mit dem Verteidiger aufzunehmen. Die Beantwortung der Frage, was den Vernehmungsbeamten verboten ist, kann also nur gelingen, wenn das verbotene Handeln näher konkretisiert wird.

1. Bedeutung des Rechts auf Nichthinderung von Handlungen

Der Inhalt der Begriffe Be- bzw. Verhinderung hängt davon ab, ob die Situation des Beschuldigten oder der Erfolg der Behinderungshandlung der Vernehmungsbeamten betrachtet wird. a) Definition der Be- bzw. Verhinderung aus der Sicht des Beschuldigten aa) Für die Abgrenzung der Behinderung von der Verhinderung aus der Perspektive des Inhabers des Abwehrrechts ist Folgendes maßgeblich: Um die Verhinderung einer Handlung durch den Staat handelt es sich, wenn er Umstände schafft, die es dem Berechtigten faktisch unmöglich machen, die Handlung vorzunehmen37 • Eine Verhinderung des Berufes liegt z. B. in dem Erlass einer Vorschrift, die ein Bedürfnis für die Berufszulassung verlangt und so objektive Zulassungsvoraussetzungen schafft38 . Dem Grundrechtsträger ist es faktisch unmöglich, seinen Beruf auszuüben, so dass die Ausübung der grundrechtlich geschützten Handlung aus seiner Sicht verhindert worden ist. Eine Behinderung der Handlung liegt dagegen vor, wenn der Staat Umstände schafft, die den Berechtigten davon abhalten können, die Handlung vorzunehmen39. Die Ausübung des geschützten Rechts wird also nicht unmöglich gemacht, sondern nur erschwert. Danach ist z. B. eine Bestimmung, die für die Ausübung eines Berufes bestimmte Befähigungs- oder Priifungsnachweise verlangt, nur eine Behinderung und keine Verhinderung der Berufsausübung. Dem Grundrechtsträger ist es nämlich durchaus möglich, die grundrechtlich geschützte Handlung auszuüben und den Beruf zu ergreifen. Die Ausübung ist aber unter Umständen nur mit größten Aufwand zu erreichen und somit behindert. bb) Aus der Sicht des Beschuldigten in der ersten Vernehmung ergibt sich daraus, dass die Konsultation mit dem Verteidiger dann verhindert worden ist, wenn Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174. Bekanntes Beispiel für eine solche Bedürfnisklausel ist die Zulassung von Apotheken, vgl. dazu BVerfGE 7, 377,413. 39 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174. 37 38

9 Seckernper

130

3. Teil: Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts

die Vernehmungsbeamten die Konsultation faktisch unmöglich machen. Eine Verhinderung liegt nach dieser Begriffsbestimmung z. B. in der Vorenthaltung der technischen Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme. Einem inhaftierten Beschuldigten ist es in solchen Fällen faktisch unmöglich, von seinem Verteidigerrecht Gebrauch zu machen. Als Behinderungen stellen sich dagegen insbesondere Einwirkungen auf den Beschuldigten dar. Schreien die Vernehmungsbeamten den Beschuldigten z. B. an oder überreden sie ihn zu einer Aussage ohne Verteidiger, machen sie eine Konsultation nicht faktisch unmöglich, sondern erschweren sie nur. Der Beschuldigte kann trotz des Einflusses von seinem Verteidigerrecht Gebrauch machen, er muss aber mehr Mühe aufwenden, als es ohne die Einwirkungen bedurft hätte. Aus seiner Sicht ist die Ausübung des Verteidigerrechts damit behindert worden. b) Definition der Be- bzw. Verhinderung in Abhängigkeit vom Erfolg aa) Bei einer Definition der Be- bzw. Verhinderung aus der Sicht des Beschuldigten hat der Erfolg der Hinderung - die Nichtvornahme der Handlung durch den Berechtigten, also hier der Verzicht des Beschuldigten auf die Hinzuziehung eines Verteidigers - keinen Einfluss auf die Begriffsbestimmung. Wird dagegen auf den Erfolg der Behinderungshandlung abgestellt, so liegt eine Verhinderung dann vor, wenn der Berechtigte die Handlung nicht vornimmt40 • Von diesem Standpunkt aus wäre z. B. eine Bestimmung, die für die Ausübung der Berufes bestimmte Befähigungs- oder Prüfungsnachweise einführt, eine Verhinderung der Berufsausübung, wenn sich der Grundrechtsträger wegen dieser Anforderungen entschließt, den Beruf nicht auszuüben. bb) Die Vernehmungsbeamten verhindern nach dieser Definition die Ausübung des Verteidigerbeistandrechts, wenn der Beschuldigte auf die Inanspruchnahme seines Rechts verzichtet. Wie sie den Verzicht herbeiführen, ist dabei unerheblich. Eine Verhinderung in diesem Sinn liegt auch in einer - aus der Sicht des Beschuldigten definierten - Behinderung, z. B. in einer subjektiven Einwirkung, wenn sich der Beschuldigte dadurch von der Verteidigerkonsultation abhalten lässt. c) Der klärungsbedürftige Begriff des Hinderns der Ausübung des Verteidigerbeistandsrechts Diese Begriffsbestimmungen ermöglichen es, die Fragestellung, welche Handlungsweisen von dem Hinderungsverbot erfasst sind, zu präzisieren. aa) An die Begriffsbestimmung aus der Sicht des Beschuldigten knüpft sich die Frage an, ob eine schlichte Behinderung, also die Schaffung von erschwerenden 40

Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174.

§ 10 Verbot der Verhinderung der Kontaktaufnahme

131

Umständen ausreichend ist und wenn ja, welchen Intensitätsgrad die Behinderung haben muss, um unter das Hinderungsverbot zu fallen. Es geht also um die Feststellung, welche Einwirkungen auf den Beschuldigten den Vernehmungsbeamten verboten sind. bb) Die Definition der Verhinderung in Abhängigkeit vom Erfolg führt zu der Frage, ob eine Verhinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts für die Tatbestandserfüllung notwendig ist. Konkret bedeutet dies, dass zu klären ist, ob die Vernehmungsbeamten gegen das Verbot der Hinderung der Verteidigerkonsultation nur verstoßen, wenn der Beschuldigte das Recht auf seinen Verteidiger nicht in Anspruch nimmt.

2. Verbot der Be- bzw. Verhinderung der Verteidigerkonsultation als Beweisgewinnungsverbot Die zweite Frage lässt sich anband der Natur des Verbotes beantworten. Das Verbot der Hinderung der Ausübung des Verteidigerbeistandsrechts regelt, auf welche Art eine Aussage, die einen Beweis im Strafprozess darstellt, nicht erhoben werden darf. Es handelt sich also um ein Beweiserhebungsverbot a) Verfahrensvorschriften als Beweiserhebungsverbote Mit einem Beweiserhebungsverbot ist die rechtswidrige Gewinnung eines Beweismittels umschrieben. aa) Unterschieden wird im Allgemeinen zwischen Beweisthemaverboten, die es den Strafverfolgungsbehörden untersagen, einen bestimmten Sachverhalt aufzuklären, Beweismittelverboten, welche die Heranziehung eines bestimmten Beweismittels verbieten, und Beweismethodenverboten, die eine bestimmte Art und Weise der Beweisgewinnung verbieten41 • Der Wahrheitserforschung der Strafverfolgungsbehörden sind also Grenzen gesetzt, die zumeist durch Rechtssätze festgeschrieben sind. Ein bereits erwähntes Beispiel ist § 136a StPO, der das Verbot enthält, die Freiheit der Willensentschließung zu beeinträchtigen. bb) Der Begriff des Beweisgewinnungsverbotes und die vom Gesetzgeber zum Teil vorgenommenen Regelungen einzelner Erhebungsverbote können zu der Auffassung verleiten, es handele sich bei Beweisgewinnungsverboten um eine besondere Kategorie von Rechtssätzen, die vorgeben, unter welchen Voraussetzungen die Erhebung eines Beweises unzulässig ist. Es kann indes jede Vorschrift, die eine Beweiserhebung regelt, in ein Beweisgewinnungsverbot umformuliert werden42 • 41 Einen Erkenntniswert bringt diese Einteilung jedoch nicht mit sich, Beulke, Strafprozessrecht, Rdnr. 455; Hellmann, Strafprozessrecht, Teil IV, § 3 Rdnr. 80. 42 Grünwald, Beweisrecht, S. 143; Rogall, ZStW 91 (1979), 1, 6.

9*

132

3. Teil: Hinderung der Ausübung des Verteidigerkonsultationsrechts

Legt also die Prozessordnung fest, eine Beweiserhebung sei nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, besteht im Umkehrschluss ein Beweiserhebungsverbot für die Ermittlung des Beweises, wenn diese Voraussetzungen im Einzelfall nicht gegeben sind43 . Ob der Gesetzgeber die Ermittlung eines Beweises durch Gebotssätze oder Verbotssätze regelt, steht in seinem Belieben44 • In der Sache ist damit das Gleiche gemeint, weil Normen, die Verbote erhalten, in Gebote umformuliert werden können45 . Die Regelung, der Beschuldigte müsse während seiner Aussage das Recht auf den Beistand eines Verteidigers haben, bedeutet also anders ausgedrückt, dass die Gewinnung des Beweises der Aussage des Beschuldigten prozessordnungswidrig ist, wenn das in § 137 StPO normierte Recht nicht gewährt wurde. Nach der eingangs beschriebenen Unterscheidung der Beweiserhebungsverbote, handelt es sich bei dem Verbot, die Konsultation mit dem Verteidiger nicht zu verhindern, um ein Beweismethodenverbot, weil es prozessordnungswidrig ist, den Beweis der Aussage des Beschuldigten auf eine bestimmte Art und Weise, nämlich mit der prozessordnungswidrig herbeigeführten Abwesenheit des Verteidigers, herbeizuführen. b) Erhebung eines Beweises als Voraussetzung eines Beweisgewinnungsverbots Aus der Natur als Beweisgewinnungsverbot ergibt sich, dass nur die Hinderung, die zu einem Verzicht des Beschuldigten auf die Ausübung seines Verteidigerrechts und einer Aussage ohne Verteidiger führt, von dem Verbot umfasst ist. aa) Ein Verstoß gegen das Hinderungsverbot kann schon vom Grundsatz her nur vorliegen, wenn ein Beweis überhaupt gewonnen worden ist. Der Versuch einer rechtswidrigen Beweiserlangung ist im Strafprozessrecht unerheblich. Bedeutung kann die prozessordnungswidrige Ermittlung eines Beweises immer nur dann erlangen, wenn ein Beweis tatsächlich ermittelt worden ist. Sagt der Beschuldigte trotz der Hinderung der Verteidigerkonsultation nicht aus, kann ein Beweisverbot also begriffsnotwendig nicht vorliegen. Zwar verstößt auch die Hinderung der faktischen Rechtsdurchsetzung, die keine Aussage zur Folge hat, gegen die Verpflichtung, die Ausübung des Rechts nicht zu hindern. Dieser Verstoß begründet jedoch kein Beweisverbot Das Strafprozessrecht sanktioniert kein Verhaltensunrecht der Strafverfolgungsbehörden46, so dass die versuchte Ermittlung eines Beweises auf rechtswidrige Art und Weise folgenlos bleibt. Etwas anderes behauptet auch die Auffassung, Beweisverbote dienten der Disziplinierung der Strafverfolgungsorgane47, nicht, da auch diese Ansicht voraussetzt, dass der Verstoß gegen Verfah43 44 45 46 47

Grünwald, Beweisrecht, S. 143. Koriath, Beweisverbote, S. 55; Rogall, ZStW 91 (1979), 1, 6. Koriath, Beweisverbote, S. 55. Wolter, in: SKStPO, Vorbem. § 151 Rdnr. 50. Schmidt, JZ 1958, 596, 599 f.

§ 10 Verbot der Verhinderung der Kontaktaufnahme

133

rensregeln überhaupt zu der Gewinnung eines Beweises geführt hat. Die These, die Vernehmungsbeamten sollten durch die Erfahrung, dass rechtswidrig erlangte Beweise im Prozess nicht verwertet werden können, diszipliniert werden, setzt ebenfalls die auf einem prozessordnungswidrigen Verhalten beruhende Beweisgewinnung voraus. Das mag den Einwand hervorrufen, auf diese Weise sei es in die Hände des Beschuldigten gelegt, ob ein Verstoß gegen das Hinderungsverbot vorliegt. Ein Verhalten der Vernehmungsbeamten, das zu keinem Verfahrensverstoß führt, wenn es sich um einen durchsetzungsfähigen Beschuldigten handelt, würde nämlich ein Beweisverbot auslösen, wenn der Beschuldigte mit einer Aussage ohne den Verteidiger reagiert. Die notwendige Abhängigkeit der Entstehung eines Verfahrensverstoßes von der Veranlagung und dem Charakter des Beschuldigten ist im Strafprozessrecht aber durchaus anerkannt. Auch die verbotenen Vernehmungsmethoden des § 136a StPO führen erst dann zu einem Beweisverbot, wenn der Beschuldigte auf die angewandte Maßnahme mit einer Aussage reagiert. Ob die verwendete Methode Motivation für eine Aussage ist, hängt dort ebenfalls in entscheidendem Maße von der Persönlichkeit des Beschuldigten ab. bb) Unerheblich ist allerdings, ob der Beschuldigte sich im Laufe der von den Vernehmenden veranlassten Aussage selbst belastet. Von praktischem Interesse sind zwar nur die Fälle, in denen es zu selbstbelastenden Äußerungen gekommen ist, weil die Frage nach einem Beweiserhebungsverbot sich regelmäßig stellt, um ein eventuelles Verwertungsverbot zu begründen. Ein Beweiserhebungsverbot ist aber auch zu bejahen, wenn der Beschuldigte sich durch seine Einlassungen in der prozessordnungswidrig herbeigeführten Aussage nicht belastet. Der zu verhindernde Erfolg liegt nicht in der Selbstbelastung, sondern in einer Aussage, die der Beschuldigte nach einem rechtswidrig herbeigeführten Verteidigerverzicht gemacht hat.

3. Hinderungsgründe der Verteidigerkonsultation

Das Hinderungsverbot erfasst danach jedenfalls Konstellationen, in denen die Ausübung des Verteidigerrechts endgültig verhindert wurde. Nicht geklärt ist aber, ob unter das Hinderungsverbot auch eine Behinderung, also die Erschwernis der Ausübung f